188 127 3MB
German Pages 462 [464] Year 2021
Studien und Texte zu Antike und Christentum Studies and Texts in Antiquity and Christianity Herausgegeber/Editors Christoph Markschies (Berlin) · Martin Wallraff (München) Christian Wildberg (Pittsburgh) Beirat/Advisory Board Peter Brown (Princeton) · Susanna Elm (Berkeley) Johannes Hahn (Münster) · Emanuela Prinzivalli (Rom) Jörg Rüpke (Erfurt)
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Susanne Barth
Tätige Nächstenliebe in Werk und Wirken Gregors des Großen
Mohr Siebeck
Susanne Barth, geboren 1985; 2005–2012 Studium der Ev. Theologie an der Kirchlichen Hochschule Bethel und der Georg-August-Universität Göttingen; 2017–2020 Vikariat an der St. Laurentius Kirchengemeinde Faßberg-Münden (Örtze); 2018 Promotion an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel; seit 2020 Pastorin der ev.-luth. Apostelkirchengemeinde Northeim. orcid.org/0000-0001-7291-6382
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. ISBN 978-3-16-156303-4 / eISBN 978-3-16-158950-8 DOI 10.1628/978-3-16-158950-8 ISSN 1436-3003 / eISSN 2568-7433 (Studien und Texte zu Antike und Christentum) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von epline in Böblingen aus der Minion gesetzt, von Laupp & Göbel in Gomaringen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden. Printed in Germany.
Für Katharina
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2017/2018 von der Theologischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel als Dissertation angenommen. Für die Drucklegung wurde sie geringfügig überarbeitet. Jetzt, da ich dieses Projekt nach vielen Mühen und langer Zeit erfolgreich zum Abschluss gebracht habe, bin ich vor die angenehme Aufgabe gestellt, Danke zu sagen. Ohne die Hilfe lieber Menschen hätte ich dieses Ziel nicht erreichen können. Zuallererst danke ich meinem Doktorvater Prof. Dr. Andreas Müller für die Betreuung meiner Arbeit, zu deren Gelingen er mit seinen Anregungen beigetragen hat. Zudem hat er mir neben meinen Tätigkeiten an seinem Lehrstuhl stets ausreichend Freiraum und Freiheit für die Forschung gewährt. Außerordentlich dankbar bin ich Prof. Dr. Tim Lorentzen dafür, dass er das Zweitgutachten spontan und in der zeitlichen Kürze erstellt hat. Dem kirchengeschichtlichen Doktorandenkolloquium in Kiel danke ich für den kollegialen Austausch und die anregenden Diskussionen. Ein besonderer Dank gebührt meinem lieben Kollegen Dr. Jan Lohrengel, dessen Tür und Ohr mir immer offenstanden. Unvergessen sind die gemeinsamen Lehrveranstaltungen und der Latte Macchiato nach dem Mittagessen. Ich danke den Studierenden für den zahlreichen und teilweise sehr treuen Besuch meiner Lehrveranstaltungen. Durch sie war die Lehre stets eine willkommene Abwechslung zur mitunter einsamen Forschungsarbeit am Schreibtisch. Für vielfältige Abwechslungen sorgten auch die beiden anderen Personen der susannitären Dreiheit an der Fakultät, PD Dr. Susanne Rudnig-Zelt und Susanne Witt. Die generationsübergreifende Lebensfreude hat meine Zeit in Kiel sehr bereichert. Besondere Unterstützung habe ich außerdem im privaten Bereich erfahren. Meine Tante Christel Carrère stand mir in Höhen und Tiefen zur Seite und sorgte dafür, dass mich der Mut nie verließ. Dazu trug ebenso meine liebe Freundin Iris Habersack bei mit ihrem Unverständnis über meine Zweifel und ihrem unerschütterlichen Vertrauen in meine Fähigkeiten. Ihr danke ich außerdem für die gründliche Lektüre. Durch ihr waches und scharfes Auge konnte ich noch manchen Tippfehler korrigieren. Für die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe „Studien und Texte zu Antike und Christentum“ danke ich den Herausgebern Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Christoph Markschies, Prof. Dr. Martin Wallraff und Prof. Christian Wildberg. Dem
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Vorwort
Verlag Mohr Siebeck danke ich für die Betreuung und Begleitung der Drucklegung, die durch die großzügigen Druckkostenzuschüsse der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, der EKD sowie der Geschwister Boehringer-Stiftung für Geisteswissenschaften ermöglicht wurde. Während ich die letzten Zeilen meiner Dissertationsschrift über die Nächstenliebe verfasste, kündigte sich meine Tochter an. Sie hat mir auf ganz neue Weise gezeigt, wie grenzenlos die Liebe zum Mitmenschen sein kann. Daher sei ihr diese Arbeit gewidmet. Northeim, am Sonntag Lätare 2021
Susanne Barth
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2 Der historische Kontext im ausgehenden 6. Jahrhundert . . . . . . . . 9 2.1 Die politische und soziale Lage Italiens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2.2 Die kirchliche Situation in Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
3 Leben und literarisches Werk Gregors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 3.1 Die Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 3.2 Ausbildung und weltliche Karriere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 3.3 Rückzug aus der Welt: Die Klostergründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 3.4 Beginn des kirchlichen Werdegangs: Diakonat und Apokrisiat . . . . . . . 29 3.5 Im Dienst für die Heimatkirche: Rückkehr und Papstwahl . . . . . . . . . . . 33 3.6 Das Pontifikat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
4 Tätige Nächstenliebe in der Spätantike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .41 4.1 Formen und Finanzierung der tätigen Nächstenliebe in der Spätantike 42 4.2 Theologische Begründungen tätiger Nächstenliebe in der Spätantike . 50 4.3 Spätantike Terminologie der Nächstenliebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 4.4 Tätige Nächstenliebe bei Augustin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
5 Das Ideal der tätigen Nächstenliebe im literarischen Werk Gregors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 5.1 Der Hoheliedkommentar – Der Weg zur mystischen Gottesschau . . . . 66 5.1.1 Die contemplatio Dei als höchstes Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 5.1.2 Die Ambivalenz irdischer Tugenden und Werke . . . . . . . . . . . . . . 69 5.1.3 Die Terminologie der Nächstenliebe im Hoheliedkommentar . . 75
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Inhalt
5.1.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 5.2 Die Regula Pastoralis – Der Dienst an Gott und dem Nächsten . . . . . . . 77 5.2.1 Formen tätiger Nächstenliebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 5.2.1.1 Pastorale Nächstenliebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 5.2.1.2 Allgemeine Nächstenliebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 5.2.2 Theologische Begründungen tätiger Nächstenliebe . . . . . . . . . . . . 86 5.2.2.1 Die Heilige Schrift als Stütze der Argumentation . . . . . . 86 5.2.2.2 Der Hirte als Leitfigur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 5.2.2.3 Die caritas als Mutter aller Tugenden . . . . . . . . . . . . . . . . 93 5.2.2.4 Der jenseitige Lohn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 5.2.3 Die Liebe als christliches Grundethos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 5.2.3.1 Das pastorale Ethos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 5.2.3.2 Das christliche Ethos für die Gläubigen . . . . . . . . . . . . . . 104 5.2.3.3 Der Spezialfall der Askese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 5.2.4 Die Terminologie der Nächstenliebe in der Regula Pastoralis . . . 108 5.2.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 5.3 Die Evangelienhomilien – Die Kirche als facettenreiche Gemeinschaft 112 5.3.1 Formen tätiger Nächstenliebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 5.3.1.1 „Almosen des Wortes“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 5.3.1.2 Almosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 5.3.1.3 Die Askese als Werk und ihre Alternativen . . . . . . . . . . . 122 5.3.1.4 Feindesliebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 5.3.1.5 Liturgische Formen der Nächstenliebe . . . . . . . . . . . . . . . 127 5.3.2 Theologische Begründungen tätiger Nächstenliebe . . . . . . . . . . . . 131 5.3.2.1 Grundtexte der tätigen Nächstenliebe . . . . . . . . . . . . . . . . 131 5.3.2.2 Das Jüngste Gericht als Fokus der tätigen Nächstenliebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 5.3.2.3 Anthropologische Begründungen der Nächstenliebe . . 140 5.3.3 Der Aspekt der christlichen Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 5.3.3.1 Die Gemeinde – ein bunter Mischwald . . . . . . . . . . . . . . . 143 5.3.3.2 Die intentio macht den Unterschied . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 5.3.3.3 Die Warmherzigkeit der tätigen Nächstenliebe . . . . . . . . 151 5.3.4 Die Terminologie der Nächstenliebe in den Evangelienhomilien 152 5.3.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 5.4 Die Dialoge – Herausragende Personen und solide Institutionen . . . . . 157 Exkurs: Die Diskussion um die Autorenschaft und den konkreten Anlass der Dialoge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 5.4.1 Die Täter der Nächstenliebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 5.4.2 Formen tätiger Nächstenliebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
Inhalt
XI
5.4.2.1 Wundertätige Nächstenliebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 5.4.2.2 Tätige Nächstenliebe im Kontext des Todes . . . . . . . . . . . 171 5.4.2.3 Institutionalisierte Nächstenliebe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 5.4.3 Diesseitige Werke und jenseitiges Ergehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 5.4.3.1 Die Relevanz der guten Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 5.4.3.2 Einflussmöglichkeiten nach dem Tod . . . . . . . . . . . . . . . . 181 5.4.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 5.5 Die Ezechielhomilien – Den Vorbildern nacheifern . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 5.5.1 Formen tätiger Nächstenliebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 5.5.1.1 Der Dienst des Klerus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 5.5.1.2 Die päpstlichen Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 5.5.1.3 Die Sorge um die Bedürftigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 5.5.1.4 Tätige Nächstenliebe im Kontext des Krieges . . . . . . . . . 196 5.5.2 Theologische Begründungen tätiger Nächstenliebe . . . . . . . . . . . . 199 5.5.2.1 Die imitatio sanctorum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 5.5.2.2 Gott als Ursprung guter Taten – zwischen Augustin und Pelagius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 5.5.2.3 Die zweifache Liebe als Grundlage allen Handelns . . . . 206 5.5.2.4 Trias oder Quartett? Gregors Verwendung von 1 Kor 13,13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 5.5.3 Vielfalt und Wert verschiedener Lebensführungen . . . . . . . . . . . . 213 5.5.3.1 Das Gegenüber von actio und contemplatio . . . . . . . . . . 213 5.5.3.2 Drei ordines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 5.5.4 Die Terminologie der Nächstenliebe in den Ezechielhomilien . . 220 5.5.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 5.6 Die Moralia in Iob – Dem Nächsten nutzen mit Herz und Hand . . . . . . 224 5.6.1 Redaktionsgeschichtliche Beobachtungen – ein Vergleich mit den Werken aus der Zeit des Pontifikats . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 5.6.2 Formen tätiger Nächstenliebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 5.6.2.1 Die Sorge um den Glauben und die Lebensweise des Nächsten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 5.6.2.2 Die compassio als Werk der Nächstenliebe . . . . . . . . . . . 246 5.6.3 Theologische Begründungen tätiger Nächstenliebe . . . . . . . . . . . . 251 5.6.3.1 Der Einfluss himmlischer Kräfte auf Tugenden und Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 5.6.3.2 Die Unsicherheit des Heils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 5.6.3.3 Die Einheit des Leibes Christi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 5.6.4 Die utilitas proximi als Motivation und Zielsetzung der tätigen Nächstenliebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 5.6.5 Die Terminologie der Nächstenliebe in den Moralia in Iob . . . . . 267
XII
Inhalt
5.6.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 5.7 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
6 Die Praxis der tätigen Nächstenliebe im Handeln Gregors des Großen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 6.1 Die Armenfürsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 6.1.1 Institutionen und Orte der Armenfürsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 6.1.2 Das Patrimonium Petri als Finanzquelle der Armenfürsorge . . . 288 6.1.3 Konkrete Fürsorge für personae miserae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 6.1.3.1 Arme, Waisen und Witwen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 6.1.3.2 Die oppressi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 6.1.3.3 Gefangene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 6.2 Die Sorge um den rechten Glauben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 6.2.1 Pastorale Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 6.2.2 Ausbreitung des rechten Glaubens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 6.2.2.1 Die Mission der Angelsachsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 6.2.2.2 Die Bekehrung der Juden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 6.2.2.3 Die Beseitigung paganer Riten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 6.2.3 Der Umgang mit christlichen Häresien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 6.2.4 Individuelle Seelsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 6.2.4.1 Trost für Kranke und Trauernde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 6.2.4.2 Mahnung zur rechten Lebensführung . . . . . . . . . . . . . . . . 335 6.2.5 Kollektive Seelsorge: Der Bußzug durch Rom . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 6.3 Engagement für Frieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 6.3.1 Die Friedensverhandlungen mit den Langobarden . . . . . . . . . . . . 340 6.3.2 Die Sorge für die Eintracht der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 6.3.2.1 Der Drei-Kapitel-Streit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 6.3.2.2 Die Auseinandersetzung um den Titel des ökumenischen Patriarchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 6.3.2.3 Der Palliumsstreit mit Ravenna . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 6.4 Die Asketen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 6.4.1 Die Sorge um die Asketen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 6.4.2 Die kirchliche Verpflichtung der Asketen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 6.5 Die Terminologie der Nächstenliebe im Briefregister . . . . . . . . . . . . . . . . 377 6.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378
Inhalt
XIII
7 Synthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 8 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 8.1 Abkürzungsverzeichnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 8.2 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 8.3 Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 8.4 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445
1 Einleitung Von einer weltlichen Karriere hatte sich Gregor der Große bereits verabschiedet und sich für ein Leben in Askese und Kontemplation entschieden. Fortan wollte er ausschließlich Dienst an Gott tun. Dennoch wurde er 590 – gegen seinen eigenen Wunsch – zum Papst gewählt und kam so zu umfassender Verantwortung für Kirche und Gesellschaft. Damit ist die in seinen literarischen Werken häufig angesprochene Problematik eines Ausgleichs zwischen einer vita contemplativa im Gebet und einer vita activa in der Sorge um die Mitmenschen auch biographisch nachvollziehbar.1 Die Frage nach der besten christlichen Lebensform verknüpfte der römische Bischof mit dem biblischen Doppelgebot: Die Liebe zu Gott ist ebenso wenig vom Dienst am Nächsten zu trennen wie umgekehrt. Nur in der Komplementarität beider Perspektiven ist ein gottgefälliges Leben und Wirken möglich. In dieser Überzeugung verfasste er einerseits seine exegetischen und homiletischen Werke, in denen er mit kunstvoller Allegorese zu mystischen Einsichten gelangte und die Theologie der nachfolgenden Jahrhunderte prägte. Andererseits übernahm er in den stürmischen Zeiten des ausgehenden 6. Jahrhunderts das Ruder der römischen Kirche und bewahrte durch eine äußerst geschickte Verwaltung die Güter des Patrimoniums Petri, deren Zweck er vornehmlich in der Versorgung der Bedürftigen sah. Ebenso rang er um Frieden im politischen und kirchlichen Kontext und sorgte mit verschiedenen Missionsunternehmungen für die Ausbreitung des christlichen Glaubens. Sein Ideal der vita mixta verstummte nicht nach seinem Tod im März 604, sondern blieb als Forderung an alle christlichen Führungspersonen in seiner Regula pastoralis erhalten, die er unmittelbar nach seinem Amtsantritt verfasst hatte und die als Handbuch die kirchlichen Amtsträger bis weit in die Frühe Neuzeit hinein prägte2 und auf das gregorianische Ideal verpflichtete. Diese beiden Aspekte Gregors, das spirituelle Denken auf der einen Seite und das tatkräftige Lenken der Kirche auf der anderen, sind in der Forschungsgeschichte nicht immer als Einheit betrachtet worden. Zwar betonten Frederick Homes Dudden und Erich Caspar, die beide umfangreiche Biographien Gregors 1 Vgl. Schambeck, Mirjam, Sich in Gott einwurzeln und so Welt gestalten. Zum Verständnis von contemplatio bei Gregor dem Großen, EuA78 (2002), 286–300. 2 Vgl. Floryszczak, Silke, Die Regula Pastoralis Gregors des Großen, STAC 26, Tübingen 2005, 1.
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verfassten,3 das breite Handlungsfeld und literarische Werk des Papstes, beurteilten sein theologisches Denken aber als Simplifizierung der geistigen Höhen der patristischen Väter, allen voran Augustins.4 Dieses vernichtende Urteil hatte unwidersprochen Bestand, bis Robert Gillet und Claude Dagens5 in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Originalität in den Schriften Gregors herausarbeiteten und ihn vornehmlich als mystischen Theologen präsentierten, der die menschliche Existenz zwischen den Gegensätzen von intériorité und extériorité verortete. Diesen Ansatz entwickelte Carole Straw mit ihrer insbesondere in der angelsächsischen Forschung breit rezipierten Monographie fort, in der sie weitere komplementäre Aspekte im Denken des römischen Bischofs herausarbeitete und diese im Opfergedanken kulminieren sah.6 Allerdings geriet in dieser Forschungslinie7 das administrative Handeln Gregors weitgehend aus dem Blick. Dies gilt ebenso für diverse monographische Arbeiten, die sich ausschließlich einer einzelnen Schrift Gregors8 oder seinem gesamten exegetischen Werk9 widmen. In das andere Extrem schlug das Pendel aus, sobald allein das umfangreiche Briefregister des Papstes untersucht wurde.10 Dadurch verengte sich die Perspektive wieder vornehmlich auf das praktische Handeln des römischen Bischofs in der Verwaltung der Kirche und ihrer Güter. 3 Vgl. Dudden, Frederick Homes, Gregory the Great. His Place in History and Thought, 2 Bde., London 1905; Caspar, Erich, Geschichte des Papsttums. Von den Anfängen bis zur Höhe der Weltherrschaft, Bd. 2: Das Papsttum unter byzantinischer Herrschaft, Tübingen 1933, 306–514. 4 Paradigmatisch ist die Formulierung Frederick Duddens: „He tones it down, multilating it on certain sides, and adapting it to vulgar intelligencies. The Augustinianism which Gregory passed over to the Middle Ages does not represent the true Augustine.“ Dudden, Place II, 294. 5 Vgl. u. a. Gillet, Robert, Introduction, in: ders. (Hg.), Grégoire le Grand. Morales sur Job, Livres 1 et 2, SC 32, Paris, 1952, 7–113; Dagens, Claude, Saint Grégoire le Grand. Culture et experience chrétiennes, Paris 1977. 6 Vgl. Straw, Carole, Gregory the Great. Perfection in Imperfection, Transformation of the Classical Heritage 14, Berkeley 1988. Zur Kritik an der Überbetonung des Opfergedankens vgl. Schambeck, Mirjam, Contemplatio als Missio. Zu einem Schlüsselphänomen bei Gregor dem Großen, StSSTh 25, Würzburg 1999, 12. 7 In dieser Reihe ist auch Mirjam Schambeck zu nennen, vgl. u. a. Schambeck, Missio. 8 Vgl. Kessler, Stephan, Gregor der Große als Exeget. Eine theologische Interpretation der Ezechielhomilien, IThS 43, Innsbruck/Wien 1995; Müller, Susanne, Fervorem Discamus Amoris. Das Hohelied und seine Auslegung bei Gregor dem Großen, Diss.T 46, St. Ottilien 1991. 9 Vgl. Fiedrowicz, Michael, Das Kirchenverständnis Gregors des Großen. Eine Untersuchung seiner exegetischen und homiletischen Werke, RQ.S 50, Freiburg 1993. 10 Vgl. Richards, Jeffrey, Gregor der Große. Sein Leben – seine Zeit, Graz/Wien/Köln 1983; Fraisse-Coué, Christiane, Gregor der Große und das wachsende Ansehen des Apostolischen Stuhls. Eine Untersuchung anhand seiner Briefe C. Gregor der Große und der Osten, in: Pietri, L. (Hg.), Der lateinische Westen und der byzantinische Osten (431–642), GCh 3, Freiburg/Basel/Wien 2001, 931–961; Pietri, Luce, Gregor der Große und das wachsende Ansehen des Apostolischen Stuhls. Eine Untersuchung anhand seiner Briefe B. Gregor der Große und der lateinische Westen, in: dies. (Hg.), Der lateinische Westen und der byzantinische Osten (431–642), GCh 3, Freiburg/Basel/Wien 2001, 902–931.
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Beide auf einen Aspekt verengten Forschungsperspektiven werden inzwischen weitgehend vermieden. Seit Robert Markus’ einflussreicher Studie von 199711 wird in zahlreichen neueren Arbeiten versucht, Gregor in seinem „Denken und Handeln“12 zu betrachten und in seinem historischen Kontext zu verorten.13 Diese Doppelperspektive wird auch in der vorliegenden Untersuchung eingenommen, die nach der tätigen Nächstenliebe fragt. Die Zuwendung zum Mitmenschen stellt eine zentrale Forderung des römischen Bischofs dar. Trotz seiner konsequenten Jenseitsorientierung14 und Absage an weltliche Dinge und Bindungen greift ein Verständnis Gregors als rein spiritueller Denker zu kurz. Denn stets ist ebenso die Sorge etwa um den geistlichen Fortschritt des Nächsten mit im Blick. Dieser Fokus findet sich deutlich sogar in den exegetischen Werken, die vornehmlich oder gar ausschließlich an ein asketisches Publikum gerichtet sind.15 In seinem ekklesiologischen Verständnis begreift der römische Bischof die christliche Gemeinde als reziproke Dienstgemeinschaft, in der sich die Menschen auf ihrem Weg zu Gott zwar auf unterschiedlichen Etappen befinden. Dennoch sind sie alle auf die tatkräftige Unterstützung untereinander angewiesen. Im Folgenden sollen sowohl die vielfältigen Formen der Hilfe am Mitmenschen herausgearbeitet werden, als auch deren theologische Begründungen. Um die Gefahr der Anachronismen und Eintragungen weitgehend zu vermeiden, gehe ich dabei streng induktiv vor, d. h. es wird kein vorab fixiertes Raster an Tätigkeitsbereichen zugrunde gelegt. Vielmehr wird ausgehend von 11 Vgl.
Markus, Robert A., Gregory the Great and His World, Cambridge 1997. So im Titel der Habilitationsschrift Barbara Müllers, vgl. Müller, Barbara, Führung im Denken und Handeln Gregors des Großen, STAC 57, Tübingen 2009. 13 Vgl. Müller, B., Führung; Demacopoulos, George E., Gregory the Great. Ascetic, Pastor, and First Man of Rome, Notre Dame 2015; Eich, Peter, Gregor der Große. Bischof von Rom zwischen Antike und Mittelalter, Paderborn 2016; vgl. auch bereits Modesto, Johannes, Gregor der Große. Nachfolger Petri und Universalprimat, STG 1, St. Ottilien 1989. Die methodisch explizit angestrebte Historisierung tritt im Laufe der Arbeiten aber leider oft wieder in den Hintergrund, vgl. Floryszczak, Regula; Greschat, Katharina, Die Moralia in Job Gregors des Großen. Ein christologisch-ekklesiologischer Kommentar, STAC 31, Tübingen 2005; Kisić, Rade, Patria Caelestis. Die eschatologische Dimension der Theologie Gregors des Großen, STAC 61, Tübingen 2011. Dass Gregor als Forschungsgegenstand seit ca. drei Jahrzehnten en vogue ist und aus unterschiedlichster Blickrichtung betrachtet wird, belegen drei Kolloquien und die daraus resultierenden Tagungsbände, vgl. Gregorio Magno e il suo Tempo, 2 Bde., SEAug 33+34, Rom 1991; Fontaine, J. et al. (Hgg.), Grégoire le Grand. Chantilly, Centre culturel Les Fontaines, 15–19 septembre 1982, Colloques Internationaux du CNRS, Paris 1986; Cavadini, J. (Hg.), Gregory the Great. A Symposium, Notre Dame Studies in Theology 2, Notre Dame et al. 2001. 14 Dies hat zuletzt Rade Kisić herausgearbeitet, vgl. Kisić, Patria; vgl. auch Baun, Jane, Gregory’s Eschatology, in: Neil, B./Dal Santo, M. (Hgg.), A Companion to Gregory the Great, Brills Companions to the Christian Tradition 47, Leiden 2013, 157–176, hier: 157. 15 Gemeint sind hier die Hoheliedauslegung, die Homilien zu Ezechiel sowie die Moralia in Iob. 12
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Gregors literarischen Werken16 sowie dem päpstlichen Briefregister danach gefragt, welche Tätigkeiten er in den Kontext der Nächstenliebe stellt. Einen ersten Ansatzpunkt stellen dafür biblische Kerntexte dieser Thematik17 dar. Diese sollen aber den Kanon der Taten keinesfalls abschließend festlegen, vielmehr wird in der vorliegenden Untersuchung als Werk „tätiger Nächstenliebe“ jegliche Handlung verstanden, die im Interesse und zum Nutzen des Mitmenschen geübt wird und sich auf ein christliches Selbst- und Weltbild gründet. Das erste Element des Begriffs der „tätigen Nächstenliebe“ unterstreicht dabei das aktive Moment: Aus der empathischen Anteilnahme resultiert nach Gregor stets eine konkrete Handlung. Eine ausschließlich innere Zurkenntnisnahme von Not ohne den Versuch der Linderung schließt er aus. Darauf weist auch seine paradigmatische Selbstbezeichnung als „Diener der Diener Gottes“18 hin. Das zweite Element des Begriffs soll die Termini der „Caritas“ und der „Diakonie“ umgehen und damit konfessionelle Festlegungen und Missverständnisse vermeiden. Beide wurden erst im Zuge des 19. Jahrhunderts als termini technici der institutionellen Nächstenliebe im Westen geprägt und dienen bis heute oftmals als identity marker der beiden großen christlichen Konfessionen.19 16 Berücksichtigt werden in folgender Reihenfolge der Hoheliedkommentar, die Regula Pastoralis, die Dialoge, die Evangelien- und die Ezechielhomilien sowie schließlich die Moralia in Iob. Zur Diskussion um die Authentizität der Dialoge vgl. Kap. 5.4.; zur vermutlich überraschenden Schlussstellung der Hiobvorträge vgl. Kap. 5.6. Der Kommentar zum ersten Samuelbuch (1 Reg) ist seit den Arbeiten von Adalbert de Vogüé inzwischen als Pseudepigraphie aus dem 12. Jahrhundert durch Petrus von Carva entlarvt, vgl. de Vogüé, Adalbert, L’auteur du commentaire des rois attribué à saint Grégoire: un moine de Cava?, RBen 106(1996), 319–331; de Vogüé, Adalbert, La Glossa Ordinaria et le commentaire des rois attribué à saint Grégoire, RBen 108 (1998), 58–60; dagegen: Clark, Francis, The Pseudo-Gregorian Dialogues, 2 Bde., SHCT 37; 38, Leiden 1987–1988, hier: Bd. 1, 200–221. 17 Allen voran sind das Doppelgebot der Liebe sowie die matthäische Gerichtsrede Mt 25,31–46 zu nennen, darüber hinaus aber auch die klassischen Texte zur Almosengabe. Die Bibelstellen beziehen sich in dieser Untersuchung auf die Vulgata, welche von Gregor zumeist als Bibelausgabe verwendet wurde, vgl. Gribomont, Jean, Le Texte Biblique de Grégoire, in: Fontaine, J. et al. (Hgg.), Grégoire le Grand. Chantilly, Centre culturel Les Fontaines, 15–19 septembre 1982, Colloques Internationaux du CNRS, Paris 1986, 467–475; Kessler, St., Exeget, 222–225. Die von mir verwendete Edition ist diejenige von Weber, Robert, Biblia sacra iuxta vulgatam versionem. Editionem quintam emendatam retractatam praeparavit Roger Gryson, Stuttgart5 2007. 18 „[…] seruus seruorum Dei“ Greg.‑M. Ep. I, 41 (CCSL 140, 47, 3).; vgl. auch Kap. 5.2.3.1. Alle Übersetzungen stammen von der Verfasserin. 19 Vgl. den Sammelband Collinet, Michaela (Hg.), Caritas, Barmherzigkeit, Diakonie. Studien zu Begriffen und Konzepten des Helfens in der Geschichte des Christentums vom Neuen Testament bis ins späte 20. Jahrhundert, Religion – Kultur – Gesellschaft 2, Berlin/Münster 2014, insbesondere die Beiträge Kuhn, Thomas, Barmherzigkeit, Fürsorge und Diakonie. Zum Wandel der sozialfürsorgerischen Semantiken im neuzeitlichen Protestantismus, in: Collinet, M. (Hg.), Caritas, Barmherzigkeit, Diakonie. Studien zu Begriffen und Konzepten des Helfens in der Geschichte des Christentums vom Neuen Testament bis ins späte 20. Jahrhundert, Religion – Kultur – Gesellschaft 2, Berlin/Münster 2014, 115–160 und Bräcker, Antje/Collinet, Michaela/Franz, Ingmar/Schröder, Christian, Vom Almosen zur Solidarität. Begriffe und Konzepte des Helfens im Katholizismus von der Aufklärung bis ins späte 20. Jahrhundert, in:
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Neben dieser Perspektive auf die konkrete Handlungsebene lege ich außerdem einen Fokus auf Gregors Semantik der Nächstenliebe: Welche Terminologie gebraucht er für die einzelnen Handlungen, womit benennt er die übergeordnete Kategorie, die hier als „tätige Nächstenliebe“ bezeichnet wird? Wo lässt sich in seiner Sprache Synonymität beobachten? Damit soll ein Beitrag zur Semantik der frühen Diakoniegeschichte geleistet werden.20 Nur am Rande können traditionsgeschichtliche Überlegungen angestellt werden. Eine grundlegende Untersuchung zum Verhältnis Gregors zum literarischen Werk Augustins stellt nach wie vor ein dringendes, aber sehr umfangreiches Forschungsdesiderat dar.21 An die Seite der theoretischen Überlegungen Gregors zur tätigen Nächstenliebe wird sodann ihre Umsetzung in der päpstlichen Praxis gestellt. Anhand der aus seinem Œuvre erarbeiteten Kriterien und Kategorien werden die Tätigkeiten des römischen Bischofs systematisch dargestellt und in Beziehung zu seinem Ideal gesetzt. Dabei ist keinesfalls die Benennung von Widersprüchen und Unzulänglichkeiten intendiert.22 Vielmehr sollen Entwicklungen und Reaktionen auf historische Umstände und Ereignisse offenbar werden. Insofern ergibt sich im Groben ein dreiteiliger Aufbau der vorliegenden Untersuchung: Nachdem der historische Kontext sowie die Theologie und Praxis tätiger Nächstenliebe in den Gregor vorangegangenen Jahrhunderten dargelegt Collinet, M. (Hg.), Caritas, Barmherzigkeit, Diakonie. Studien zu Begriffen und Konzepten des Helfens in der Geschichte des Christentums vom Neuen Testament bis ins späte 20. Jahrhundert, Religion – Kultur – Gesellschaft 2, Berlin/Münster 2014, 161–185 sowie Schneider, Bernhard, Konfessionen in den west- und mitteleuropäischen Sozialsystemen im langen 19. Jahrhundert. Ein edler Wettkampf der Barmherzigkeit? Einleitung und Zwischenbilanz, in: Maurer, M./ders. (Hgg.), Konfessionen in den west- und mitteleuropäischen Sozialsystemen im langen 19. Jahrhundert. Ein „edler Wettkampf der Barmherzigkeit?“, Religion – Kultur – Gesellschaft 1, Berlin/ Münster 2013, 13–37 und Schneider, Bernhard, Caritas. Begriffe und Konzepte des Helfens in der Geschichte des Christentums in Deutschland seit dem 16. Jahrhundert, in: Stiegemann, Chr. (Hg.), Caritas. Nächstenliebe von den frühen Christen bis zur Gegenwart, Katalog zur Ausstellung im Erzbischöflichen Diözesanmuseum Paderborn, Petersberg 2015, 74–87. 20 Dieser Aspekt ist in dem ohnehin noch überschaubaren Forschungsbereich bisher nicht ausreichend berücksichtigt worden. Zur Terminologie im 2. Jahrhundert in Nordafrika vgl. Hoffmann, Andreas, Kirchliche Strukturen und Römisches Recht bei Cyprian von Karthago, REWV Neue Folge 92, Paderborn et al. 2000, 264–286; zur Terminologie im Westen bis einschließlich Augustin vgl. Pétré, Hélène, Caritas. Étude sur le vocabulaire latin de la charité chrétienne, Spicilegium sacrum Lovaniense 22, Laouvain 1948; zum Caritas-Begriff vgl. Collinet, Caritas; zur institutionellen Terminologie vgl. Sternberg, Thomas, Orientalium more secutus. Räume und Institutionen der Caritas des 5. bis 7. Jahrhunderts in Gallien, JbAC.E 16, Münster 1991, 150–152; Boshof, Egon, Armenfürsorge im Frühmittelalter: Xenodochium, matricula, hospitale pauperum, VSWG 71 (1984), 153–174. 21 Vgl. Müller, B., Führung, 8. Erste Ansätze in Bezug auf die Moralia bietet Greschat, Moralia, 79–85; zu den Selbstaussagen Gregors zu seinem Verhältnis zu Augustin vgl. Greschat, Katharina, Feines Weizenmehl und ungenießbare Spelzen. Gregors des Großen Wertschätzung augustinischer Theologie, ZAC 11 (2007), 57–72. 22 Vgl. Müller, B., Führung, 7.
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sind (Kapitel 2–4), werden in chronologischer Reihenfolge seine literarischen Werke einzeln untersucht (Kapitel 5), bevor das Handeln Gregors in den Blick genommen wird (Kapitel 6). In der bisherigen Forschung rücken nur wenige Arbeiten das Thema der vorliegenden Untersuchung in den Fokus. Die Dissertation John Wilkinsons23 zum sozialen Wohlfahrtsprogramm des römischen Bischofs ist auf wenige Aspekte desselben begrenzt und berücksichtigt in keiner Weise deren religiöse Grundlegung, sondern listet lediglich die konkreten Handlungen auf. Einige Handlungsfelder des Papstes, die in der vorliegenden Untersuchung zu dem Bereich der tätigen Nächstenliebe gezählt werden, betrachtet auch Barbara Müller in ihrer Habilitationsschrift, allerdings unter der Perspektive der kirchlichen Führung.24 Ausschließlich die theologischen Argumentationen Gregors zur Nächstenliebe legt Patrick Catry in einem umfangreichen Aufsatz dar.25 Ansonsten finden sich in der Literatur nur sehr vereinzelt Hinweise auf Aspekte der christlichen Fürsorge im Werk Gregors des Großen.26 Die Untersuchung von Ideal und Praxis der tätigen Nächstenliebe bei Gregor dem Großen bietet zudem einen paradigmatischen Einblick in die Entwicklung der kirchlichen Wohlfahrt am Übergang von der Spätantike in das frühe Mittelalter. Bekanntermaßen ist das 6. Jahrhundert im Westen von einem massiven Rückgang des kaiserlichen Einflusses geprägt. Dafür fielen dem kirchlichen Amt Verantwortungsbereiche zu, die das Gebiet der Religion bei weitem überstiegen. Von diesen Zeiten des Umbruchs war zwangsläufig auch die Versorgung Bedürftiger betroffen. Um diese weiterhin bewerkstelligen zu können, transformierte der römische Bischof die überlieferten Traditionen. Insofern bezeugt sein Œuvre Praxisformen tätiger Nächstenliebe jüngst vergangener bzw. aktuell vergehender Zeiten. Ebenso verweist das Werk durch seinen prägenden Einfluss auf Institutionen und Theorien kirchlichen Handelns bereits in die folgenden Jahrhunderte. Beide Aspekte – Ideal und Praxis – sind in der Diakoniegeschichtsschreibung nur selten verknüpft betrachtet worden. Bisher liegt als einziger Gesamtentwurf das dreiteilige Werk von Gerhard Uhlhorn vor, das in seiner zweiten Auflage allerdings bereits aus dem Jahr 1895 stammt und durch unzureichende Quellenverweise und konfessionalistische Überzeichnungen den Ansprüchen gegenwärtiger Wissenschaftskultur nicht entspricht.27 Erste Einblicke in sein um23 Vgl. Wilkinson, John, The Social Welfare Program of Pope Gregory the Great, Diss. masch., New York 1973. 24 Vgl. Müller, B., Führung. Aus dieser Arbeit habe ich zudem wertvolle Anregungen zur Methodik gewonnen. 25 Vgl. Catry, Patrick, L’amour du prochain chez S. Grégoire le Grand, StMon 20 (1978), 287–344. 26 Vgl. Laudage, Marie-Luise, Caritas und Memoria mittelalterlicher Bischöfe, Münstersche Historische Forschungen 3, Köln et al. 1993, 29–59. 27 Vgl. Uhlhorn, Gerhard, Die christliche Liebesthätigkeit, Stuttgart2 1895. Inzwischen
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fangreich angelegtes Forschungsvorhaben einer Diakoniegeschichte der Alten Kirche bietet der Aufsatz von Andreas Müller zur Basilias in Caesarea, in dem nicht nur nach institutionellen Praxisformen, sondern dezidiert auch nach den theologischen Motiven christlicher Wohlfahrt gefragt wird.28 Viele Impulse bot 2015 die Ausstellung „Caritas. Nächstenliebe von den frühen Christen bis zur Gegenwart“ im Erzbischöflichen Diözesanmuseum Paderborn.29 Ansonsten wurden bisher einzelne Aspekte in den Blick genommen wie z. B. das Gesundheitswesen,30 das Diakonat,31 einzelne Werke der Nächstenliebe32 oder Institutionen der Armenfürsorge in Rom33 oder Gallien.34 Ebenso wie bei der Beschäftigung mit Gregor unterbleibt dabei bisher die dezidierte Verknüpfung von Theologie und Praxis, die aber nicht voneinander getrennt werden können. Christliche Existenz stand in der Geschichte stets im gemeinschaftlichen Kontext, nur äußerst selten und in Extremfällen wurde etwa Askese ausschließlich ist zudem von Bernhard Schneider eine Caritasgeschichte erschienen, die zumindest bis zum ausgehenden Mittelalter reicht, vgl. Schneider, Bernhard, Christliche Armenfürsorge von den Anfängen bis zum Ende des Mittelalters. Eine Geschichte des Helfens und seiner Grenzen, Freiburg/Basel/Wien 2017. Knappe Überblicke bieten Angenendt, Arnold, Die Geburt der christlichen Caritas, in: Stiegemann, Chr. (Hg.), Caritas. Nächstenliebe von den frühen Christen bis zur Gegenwart, Katalog zur Ausstellung im Erzbischöflichen Diözesanmuseum Paderborn, Petersberg 2015, 40–51 und Oexle, Otto Gerhard, Zwischen Armut und Arbeit. Epochen der Armenfürsorge im europäischen Westen, in: Stiegemann, Chr. (Hg.), Caritas. Nächstenliebe von den frühen Christen bis zur Gegenwart, Katalog zur Ausstellung im Erzbischöflichen Diözesanmuseum Paderborn, Petersberg 2015, 52–73. 28 Vgl. Müller, Andreas, „All das ist Zierde für den Ort …“ Das diakonisch-karitative Großprojekt des Basileios von Kaisarea, ZAC 13 (2009), 452–474. 29 Der Katalog ist von Christoph Stiegemann herausgegeben worden, vgl. Stiegemann, Christoph (Hg.), Caritas. Nächstenliebe von den frühen Christen bis zur Gegenwart, Petersberg 2015. 30 Vgl. Miller, Timothy, The Birth of the Hospital in the Byzantine Empire. With a new Introduction by the Author, Baltimore/London 21997; Constantelos, Demetrios, Byzantine Philanthropy and Social Welfare, Studies in the Social and Religious History of the Medieval Greek World 1, New Brunswick 21991; Volk, Robert, Gesundheitswesen und Wohltätigkeit im Spiegel der byzantinischen Klostertypika, München 1983; Schulze, Christian, Medizin und Christentum in Spätantike und frühem Mittelalter. Christliche Ärzte und ihr Wirken, STAC 27, Tübingen 2005. Einen Fokus auf theologische Begründungsmuster der Medizin bieten Hubertus Lutterbach und Michael Dörnemann, vgl. Lutterbach, Hubertus, Der Christus medicus und die Sancti medici. Das wechselvolle Verhältnis zweier Grundmotive christlicher Frömmigkeit zwischen Spätantike und Früher Neuzeit, Saec. 47 (1996), 239–281; Dörnemann, Michael, Krankheit und Heilung in der Theologie der frühen Kirchenväter, STAC 20, Tübingen 2003. 31 Vgl. Hammann, Gottfried, Geschichte der christlichen Diakonie. Praktizierte Nächstenliebe von der Antike bis zur Reformationszeit, Göttingen 2003. 32 Vgl. Puzicha, Michaela, Christus peregrinus. Die Fremdenaufnahme (Mt 25,35) als Werk der privaten Wohltätigkeit im Urteil der Alten Kirche, MBT 47, Münster 1980; Hiltbrunner, Otto, Gastfreundschaft in der Antike und im frühen Christentum, Darmstadt 2005. 33 Vgl. Hermes, Raimund, Die stadtrömischen Diakonien, RQ 91 (1996), 1–120; Müller, Andreas, Die Christianisierung staatlicher Wohlfahrtsinstitutionen im spätantiken Rom am Beispiel von S. Maria in Cosmedin, in: ZKG 120 (2009), 160–186. 34 Vgl. Sternberg, Orientalium.
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auf den eigenen geistlichen Gewinn ausgerichtet. Selbst Anachoreten wirkten durch Gebet und Lehre im Interesse und zum Nutzen der übrigen Christen.35 Freilich kann nach Gen 2,18 menschliche Existenz solitär gar nicht gelingen. Insofern lässt sich auch im paganen Kontext Wohlfahrtshandeln beobachten. Aber hier stand, wie etwa beim spätantiken Euergetismus-Gedanken,36 vornehmlich die innerweltliche Konsequenz im Fokus. Die Wohltaten des Patrons sicherten seine gesellschaftliche Stellung sowie die Anzahl seiner Unterstützer. Im Christentum hingegen ist das Handeln des Menschen in und an der Welt mit dem Doppelgebot der Liebe37 und Mt 25,31–4638 fundamental und untrennbar mit seiner Beziehung zu Gott verbunden. Diese doppelte Perspektive von karitativem Handeln am Nächsten und der theologischen Grundlegung ist in der Diakoniegeschichtsschreibung bisher zu kurz gekommen. In dieser Hinsicht soll die vorliegende Untersuchung einen Beitrag zu einer solchen multiperspektivischen Forschung leisten.
35 Vgl. Gemeinhardt, Peter, Antonius, der erste Mönch. Leben, Lehre, Legende, München 2013, 134 f.; Müller, Andreas, Weltflucht und Weltverantwortung im spätantiken Mönchtum nach der Historia Lausiaka des Palladios von Helenopolis, in: Nesselrath, H.‑G./ Rühl, M. (Hgg.), Der Mensch zwischen Weltflucht und Weltverantwortung. Lebensmodelle der paganen und der jüdisch-christlichen Antike, STAC 87, Tübingen 2014, 147–165, hier: 152–158. 36 Vgl. Leppin, Hartmut, Euergetismus – antike Wohltätigkeit, in: Stiegemann, Chr. (Hg.), Caritas. Nächstenliebe von den frühen Christen bis zur Gegenwart, Katalog zur Ausstellung im Erzbischöflichen Diözesanmuseum Paderborn, Petersberg 2015, 100–105; Frass, Stefan, Der Euergetismus als Kunst, es allen recht zu machen. Konflikte um die Gemeinsinnigkeit wohltätiger Leistungen, in: Jehne, M./Lundgreen, Chr. (Hgg.), Gemeinsinn und Gemeinwohl in der römischen Antike, Stuttgart 2013, 99–118. 37 Vgl. Kany, Roland, Art.: Nächstenliebe u. Gottesliebe, RAC 25 (2013), 652–720. 38 Zur altkirchlichen Auslegung dieser Textstelle vgl. Brändle, Rudolf, Matth. 25,31–46 im Werk des Johannes Chrysostomos. Ein Beitrag zur Auslegungsgeschichte und zur Erforschung der Ethik der griechischen Kirche um die Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert, BGBE 22, Tübingen 1979; Puzicha, Christus; Steidle, Basil, „Ich war krank, und ihr habt mich besucht“ (Mt 25,36), EuA 40 (1964), 443–458 und EuA 41 (1965), 36–46.99–113.189–206.
2 Der historische Kontext im ausgehenden 6. Jahrhundert 2.1 Die politische und soziale Lage Italiens Gregors Pontifikat im 6. Jahrhundert fiel in eine Zeit des Niedergangs Italiens.1 Während die Jahrzehnte unter der Herrschaft der Ostgoten vornehmlich politische Stabilität und ökonomische wie kulturelle Prosperität bedeutet hatten, erwies sich Justinians Plan der Rückeroberung der westlichen Gebiete als langwierig, verheerend und nur von kurzem Erfolg gekrönt. Der „ewige Friedensschluss“ mit den Persern2 gab dem Kaiser die Gelegenheit, sein Heer von der östlichen Grenze an das andere Ende des Reiches zu verlagern, um dort seine Idee der renovatio imperii in die Tat umzusetzen. Nachdem die Vandalen in Nordafrika in kürzester Zeit besiegt worden waren,3 wandten sich die kaiserlichen Truppen unter dem Kommando Belisars 536 gegen die ostgotischen Besatzer Italiens. Trotz anfänglicher Erfolge stagnierte die Eroberung und entwickelte sich zu einem zähen, fast zwei Jahrzehnte umfassenden Krieg. Zwar wurde Rom schon 536 von den kaiserlichen Truppen eingenommen, die Stadt litt in den Folgejahren aber unter diversen Belagerungen, insbesondere unter dem neu gewählten Gotenkönig Totila.4 Wegen der Belagerung durch die feindlichen Truppen konnte die Stadtbevölkerung nicht einmal mit dem Notwendigsten versorgt werden, sodass die Not sie an die Grenzen der Menschlichkeit führte: „Der Hunger in der Stadt Rom war derart [groß], dass sie [scil. die Römer] sogar ihre Kinder verspeisen wollten.“5 Als der Krieg 554 schließlich unter Narses gewonnen war und Rom sowie ganz Italien durch die Pragmatische Sanktion Justinians dem Reich wieder eingegliedert wurde, war die Stadt nur noch ein Schatten ihrer selbst.6 Rom bot 1
Zu den dennoch wahrnehmbaren Kontinuitäten vgl. Rouche, Michel, Grégoire le Grand face à la situation économique de son temps, in: Fontaine, J. et al. (Hgg.), Grégoire le Grand. Chantilly, Centre culturel Les Fontaines, 15–19 septembre 1982, Colloques Internationaux du CNRS, Paris 1986, 41–57; Eich, Bischof, 38 f.; Müller, B., Führung, 17–19. 2 Vgl. Kisić, Patria, 8, zum ersten Perserkrieg Justinians vgl. Leppin, Hartmut, Justinian. Das christliche Experiment, Stuttgart 2011, 127–137; Maraval, Pierre, Justinien. Le rêve d’un empire chrétien universel, Paris 2016, 185–192. 3 Vgl. Leppin, Justinian, 150–151; Maraval, Rêve, 204–214; Markus, World, 3. 4 Vgl. Richards, Leben, 14 f. 5 „[…] facta est famis [sic!] in civitate Romana ut etiam natos suos vellent comedere“ Lib. pont. 61, 7 (Duchesne 298, 12 f.), vgl. auch Proc. Bell. Goth. III, 17, 1–25 (Veh 544–550). 6 Vgl. Krautheimer, Richard, Rom. Schicksal einer Stadt 312–1308, München 1987, 75 f.;
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ein Bild der Zerstörung: Gebäude, Artefakte und Denkmäler, die durch Krieg, Naturkatastrophen oder schlicht den Zahn der Zeit Schaden genommen hatten, wurden nur notdürftig ausgebessert, bedeutende öffentliche Baumaßnahmen gab es seit der Aufstockung der Stadtmauer durch Honorius im Jahr 403 nicht mehr.7 Zu den verheerenden Kriegsfolgen wie Zerstörung und Entvölkerung war ab 542 mit der Schwarzen Pest eine neue Katastrophe ungekannten Ausmaßes zur ständigen Begleiterin Italiens geworden. Über die Seewege hatte die Epidemie auch auf den Westen übergegriffen und suchte die Bevölkerung über ca. 250 Jahre hinweg in steten Wellenbewegungen heim.8 Ein solcher Ausbruch, der zudem mit einer großen Überschwemmung des Tibers einherging, erreichte Rom im Winter 589/590. Dieser Epidemie fiel unter Tausenden anderen auch Gregors Vorgänger, Pelagius II. zum Opfer.9 Nach der Rückeroberung war das ehemalige Zentrum des römischen Reiches nunmehr eine Provinz unter anderen, die in Ravenna von Militärfunktionären verwaltet wurde.10 Die traditionelle Trennung zwischen Zivilverwaltung und Kriegswesen existierte nicht mehr. Die Kriegskosten wurden auf die wirtschaftlich ohnehin gebeutelte Bevölkerung Italiens umgelegt – Steuererleichterung für die Opfer des Krieges gab es keine.11 Die Zeit des Friedens währte obendrein nicht lange: 568 fielen die Langobarden, ein Elbgermanenvolk, in das Land ein12 und eroberten schnell Oberitalien Pietri, Charles, La Rome de Grégoire, in: Gregorio Magno e il suo Tempo, Bd. I: Studi storici, SEAug 33, Rom 1991, 9–32, hier: 11–21; Richards, Leben, 15 f.; Kisić, Patria, 39 f. 7 Vgl. Ward-Perkins, Bryan, Old and New Rome Compared. The Rise of Constantinople, in: Grig, L./Kelly, G. (Hgg.), Two Romes. Rome and Constantinople in Late Antiquity, Oxford et al. 2012, 53–78, hier: 62–71. Die einzigen Neubauprojekte waren Kirchen, vgl. ebd. 74–78. 8 Vgl. Richards, Leben, 22–25; zur Justinianischen Pest und ihren Deutungen vgl. Meier, Mischa, Das andere Zeitalter Justinians. Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung im 6. Jahrhundert n. Chr., Hyp. 147, Göttingen 22004, 373–387; Maraval, Rêve, 295–298. 9 Vgl. Greg.‑T. Hist. X,1 (FSGA.A 3, 320, 32–322, 7) und Greg.‑M. Dial. III, 19, 2 (SC 260, 346, 7–11). 10 Spätestens ab 584 erhält sie gar den Status eines Exarchats, also einer Grenzprovinz unter besonderer militärischer Aufsicht, vgl. Richards, Leben, 21; Kisić, Patria, 16 f. Grundlegend zur Geschichte Ravennas ist nach wie vor Diehl, Charles, Études sur l’administration byzantine dans l’exarchat de Ravenne (568–751), BEFAR 53, Paris 1888. Zur Aufwertung der Kirche von Ravenna durch Justinian vgl. Markus, Robert A., Carthage, Prima Justiniana, Ravenna. An aspect of Justinian’s Kirchenpolitik, Byz. 49 (1979), 277–306, hier: 292–299. 11 Vgl. Kisić, Patria, 40. 12 Zur aktuellen archäologischen Sicht auf die Langobarden vgl. Bierbrauer, Volker, Die Langobarden in Italien aus archäologischer Sicht, in: Landschaftsverband Rheinland (Hg.), Die Langobarden. Das Ende der Völkerwanderung; Katalog zur Ausstellung im Rheinischen LandesMuseum Bonn, 22.8.2008–11.1.2009, Darmstadt 2008, 108–151; Broglioro, Gian Pietro/Possenti, Elisa, Aktuelle Forschungen und Ansätze der langobardischen Archäologie in Italien, in: Bemmann, J./Schmauder, M. (Hgg.), Kulturwandel in Mitteleuropa. Langobarden – Awaren – Slawen; Akten der Internationalen Tagung in Bonn vom 25. bis 28. Februar 2008, Kolloquien zur Vor- und Frühgeschichte 11, Bonn 2008, 449–466. Zur in den letzten Jahren wieder auflebenden Langobardistik und ihrer Entwicklung in den letzten 70 Jahren vgl. Jarnut, Jörg, Zum Stand der Langobardenforschung, in: Pohl, W. (Hg.), Die Langobarden.
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und die Toskana mit den wichtigen Städten Mailand, Aquileia und Pavia, sowie 572 Benevent und Spoleto in Mittel- und Süditalien.13 Justin II., der Nachfolger des 565 verstorbenen Justinian, konnte der Invasion nichts entgegensetzen. Ohnehin richtete er seinen Blick und sein Heer vornehmlich nach Osten, wo die Kampfhandlungen an den persischen Grenzen wieder aufgeflammt waren.14 Der langobardische König Alboin überließ die einzelnen Eroberungen in Italien den zahlreichen Herzögen (duces) des Stammes.15 Er selbst erwählte sich Pavia als Residenz. Kurze Zeit später wurde er von seiner zweiten Ehefrau ermordet. Auch sein Nachfolger, König Cleph, fiel bereits 574 einer Palastintrige zum Opfer.16 In den folgenden zehn Jahren des Interregnums wählten die 36 langobardischen Herzöge keinen neuen König, sondern herrschten jeder für sich: „In diesen Tagen wurden viele der adligen Römer aus Geldgier getötet. Die übrigen aber wurden tributpflichtig gemacht und auf die Fremden aufgeteilt, dass sie ein Drittel ihrer Ernte den Langobarden zahlen mussten. Durch diese Herzöge der Langobarden wurden – im siebten Jahr nach der Ankunft Alboins und des ganzen Volkes – Kirchen geplündert, Priester getötet, Städte zerstört und die Bevölkerung ausgelöscht, die wie Saaten aufgekeimt waren, und Italien, mit Ausnahme der Regionen, die Alboin erobert hatte, zum größten Teil eingenommen und von den Langobarden unterjocht.“17 Herrschaft und Identität, Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 9, Wien 2005, 11–19. In der Langobardenforschung ist nach wie vor umstritten, warum die Langobarden die sehr günstigen Gegebenheiten Pannoniens so bald wieder verließen, nachdem sie sich erst gut vierzig Jahre zuvor dort niedergelassen hatten. István Boná vertritt die klassische These der Flucht vor den Awaren, vgl. Boná; Anbruch, 98–102; ähnlich auch Kisić, Patria, 10 f. und Menghin, Wilfried, Die Langobarden. Archäologie und Geschichte Stuttgart 1985, 94. Neil Christie hingegen sieht in der Legende, der entmachtete Narses hätte Italien aus Rache preisgegeben und die Langobarden eingeladen, einen historischen Kern: Narses soll den Germanenstamm, allerdings auf Befehl aus Byzanz, planmäßig dort angesiedelt haben, um die Bevölkerungsverluste durch Pest und Krieg zu kompensieren, vgl. Christie, Neil, The Lombards. The Ancient Longobards, The Peoples of Europe, Oxford 1995, 60–63; dagegen Priester, Karin, Geschichte der Langobarden. Gesellschaft – Kultur – Alltagsleben, Stuttgart 2004, 36 f.; Müller, B., Führung, 15 FN 31; Richards, Leben, 17. Zur Narseslegende vgl. P.‑Diac. Hist. Lang. II, 5 (Schwarz, 160–162). Zumindest war den Eroberern das Land nicht unbekannt, da sie teilweise im Krieg gegen die Ostgoten dem oströmischen Kaiser als Föderaten gedient hatten, vgl. Priester, Geschichte, 31–33; Menghin, Langobarden, 85. 13 Pavia hielt zwar für drei Jahre der Belagerung stand, musste sich aber letztendlich doch geschlagen geben, vgl. P.‑Diac. Hist. Lang. II, 8–26 (Schwarz 162–176); Priester, Geschichte, 41–46. 14 Vgl. Müller, B., Führung, 15. 15 Wie üblich bei den germanischen Stämmen war der Langobardenstamm eher dezentral strukturiert und ihr Wahlkönigtum war nicht mit absoluter Macht ausgestattet, vgl. Kisić, Patria, 10. 16 Vgl. P.‑Diac. Hist. Lang. II, 28.31 (Schwarz, 176–178.180); Priester, Geschichte, 46–50. 17 „His diebus multi nobilium Romanorum ob cupiditatem interfecti sunt. Reliqui vero per hospites divisi, ut tertiam partem suarum frugum Langobardis persolverent, tributarii efficiuntur. Per hos Langobardorum duces – septimo anno ab adventu Alboin et totius gentis –
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In der Hand des Kaiserreiches verblieben lediglich Rom und Ravenna sowie einzelne Küstenenklaven und die Inseln.18 Von dem Chaos der königslosen Zeit profitierten die Herzogtümer von Benevent und Spoleto, die auch in den folgenden Jahrzehnten einen machtvollen Gegenpol zum König in Pavia bildeten,19 so dass Gregor sie später in die Friedensverhandlungen miteinbezog.20 584 schickte Papst Pelagius II. eine Gesandtschaft samt seinem Apokrisiar Gregor an den Kaiserhof, um Mauricius, der seit 582 Kaiser war, um militärische Unterstützung und Schutz zu bitten.21 Tatsächlich gewann dieser durch Bestechungsgelder sowohl einige der langobardischen duces als Föderaten für das Reich, als auch die Franken für eine Koalition gegen die Langobarden. Letztere waren viele Male zu Raubzügen in gallische Gebiete eingefallen, so dass der dortige Herrscher, der austrasische König Childebert, nun zur Intervention bereit war.22 Dieses neue Bündnis drängte die Langobarden dazu, fortan wieder unter einer Königskrone vereint zu agieren.23 Die Wahl fiel auf Authari, den Sohn des ermordeten Cleph. Dieser stieß erste Maßnahmen zur Entwicklung einer einheitlichen Staatsorganisation sowie der Integration der einheimischen Bevölkerung an, die zuvor ausschließlich Ziel von Raubüberfällen gewesen war.24 Doch Authari starb im September 590, nur wenige Monate nach seiner Hochzeit mit der bairischen Prinzessin Theodelinde.25 Offensichtlich genoss diese im Volk und spoliatis ecclesiis, sacerdotibus interfectis, civitatibus subrutis populisque, qui more segetum excreverant, extinctis – exceptis his regionibus, quas Alboin ceperat – Italia ex maxima parte capta et a Langobardis subiugata est.“ P.‑Diac. Hist. Lang. II, 32 (Schwarz, 180–182), vgl. auch Greg.‑T. Hist. IV, 41 (FSGA.A 2, 252, 27–29) sowie Priester, Geschichte, 51–56. 18 Vgl. Kisić, Patria, 11 f. 19 So belagerte Faroald von Spoleto im Jahr 579 die Stadt Rom, allerdings ohne sie einnehmen zu können, vgl. Richards, Leben, 20. 20 Vgl. Kap. 6.3.1. 21 Vgl. Men. exc. gent. 62 (Dindorf, 120 f.), vgl. auch den Mahnbrief aus dem Jahr 584 von Papst Pelagius II. an seinen Apokrisiar Gregor, den Kaiser noch eindringlicher um Hilfe anzuflehen: Pelag. II. Ep. Greg. (MGH.Ep. 2, App. II 440 f.). 22 Vgl. Kisić, Patria, 17 f.; Richards, Leben, 19 f. Bereits 577 hatte die italische Bevölkerung mit einer stattlichen Summe von 216.000 solidi den Kaiser um militärische Unterstützung ersucht, welcher ablehnte und sie an die Franken verwies, was aber auch scheiterte. 23 In den Jahren 584, 587 und 588 wurden Angriffe gegen die Langobarden gestartet, die sich aber erfolgreich in ihre befestigten Städte zurückzogen. Auch der letzte große Vorstoß 590 hatte unter der Leitung des neuernannten Exarchen Romanus keinen Erfolg, da die Franken, ermattet von der Belagerung Pavias, schließlich mit Authari Frieden schlossen, vgl. Richards, Leben, 21 f. 24 Vgl. Priester, Geschichte, 56 f.; Kisić, Patria, 21 f. 25 Theodelinde hing, anders als die langobardischen Christen, nicht dem homöischen („arianischen“) Glauben an, sondern war nach mehrheitskirchlichem Ritus getauft worden. Auch aus diesem Grund stellte sie für Gregor eine wichtige Ansprechpartnerin am langobardischen Königshof dar. Zu ihrem Briefwechsel mit dem römischen Bischof vgl. Kap. 6.3.1 und 6.3.2.1, zu Theodelinde vgl. Balzaretti, Ross, Theodelinda, ‚Most Glorious Queen‘. Gender and Power in Lombard Italy, The Medieval History Journal 2 (1999), 183–207; Hofmann, Johannes, Frauen, die die Kirche prägten. Lebensbilder aus den ersten sechs Jahrhunderten, Extemporalia 16, St. Ottilien 1998, 127–153. Die Todesursache Autharis ist umstritten, erwogen
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bei den Herzögen großes Ansehen, denn sie heiratete auch den nachfolgenden König Agilulf.26 Dieser setzte die Konsolations- und Einheitspolitik Autharis fort, wobei die südlichen Herzogtümer Benevent und Spoleto weiterhin häufig eigene Wege gingen, zumal sie durch den oströmischen Korridor, der Rom und Ravenna verband, vom restlichen Königreich geographisch getrennt waren.27 In den Jahren des Pontifikats Gregors wurde Rom zwei weitere Male belagert: 592 durch den Herzog Ariulf von Spoleto und im Folgejahr durch König Agilulf.28 Politisch war Italien ein Flickenteppich aus kaiserlichen und langobardischen Gebieten. Die ehemals bestehende Einheit des Reiches, auch unter den Ostgoten, war vollkommen zerrissen und erschwerte die Verwaltung und Versorgung der einzelnen Städte. Gerade der für die Kommunikation mit der staatlichen Macht unverzichtbare Korridor zwischen Rom und Ravenna war nicht immer frei passierbar.29 Das Festland30 war durch Jahrzehnte der Kriege und der Naturkatastrophen an den Rand der Überlebensfähigkeit geraten. Zwar wurden die Bevölkerungsverluste rein zahlenmäßig von der großen Anzahl an Flüchtlingen, die in Rom Unterschlupf fanden,31 wohl ungefähr ausgeglichen.32 Dennoch hatte sich die Sozialstruktur enorm verschlechtert. Der alte senatorische Adel hatte Krieg und Pest nicht überlebt oder war nach Sizilien oder Konstantinopel emigriert.33 An seine Stelle waren nun Ströme von Hilfsbedürftigen getreten, die alle auf die staatliche bzw. die zunehmende kirchliche Unterstützung angewiesen waren. Die katastrophalen Umstände im Land und innerhalb Roms beschreibt Gregors vielzitierte „Leichenrede“34 in den Homilien zu Ezechiel: wird die Pest, vgl. Kisić, Patria, 21; Richards, Leben, 22, ebenso wie ein Giftmord, vgl. Priester, Geschichte, 56; Hofmann, J., Frauen, 136; Menghin, Langobarden, 116 f. 26 Vgl. P.‑Diac. Hist. Lang. III, 35 (Schwarz, 216–218). 27 Vgl. Pietri, L., Westen, 902 f. Rade Kisić spricht sogar von einer Spaltung der Macht, vgl. Kisić, Patria, 21. 28 Zu Gregors Bemühungen um Frieden mit den Langobarden vgl. Kap. 6.3.1. 29 Vgl. Greg.‑M. Ep. II, 20 (CCSL 140, 107, 2 f.); II, 25 (CCSL 140, 111, 16–25); II, 38 (CCSL 140, 123, 16–26) und Markus, World, 97 f. 30 Die Inseln, insbesondere Sizilien, waren vom Krieg weitgehend verschont geblieben und dienten weiterhin als prosperierende Kornkammer des Landes, vgl. Müller, B., Führung, 18 f.; Rouche, Situation, 45–47. 31 Gregor erwähnte im Jahr 597, dass in Rom unter den Flüchtlingen auch 3000 (!) geflohene Nonnen zu versorgen waren, vgl. Greg.‑M. Ep. VII, 23 (CCSL 140, 477, 86–98); allgemein zu Flüchtlingsströmen in Italien vgl. Greg.‑M. Ep. V, 30 (CCSL 140, 297 10–14), s. auch Jenal, Georg, Italia ascetica atque monastica. Das Asketen- und Mönchtum in Italien von den Anfängen bis zur Zeit der Langobarden (ca. 150/250–604), 2 Bde., MGMA 39, I/II, Stuttgart 1995, hier: I, 275. 32 Vgl. Rouche, Situation, 44; Müller, B., Führung, 16 f. 33 Vgl. Kisić, Patria, 40; Dal Santo, Matthew, Gregory the Great, the Empire and the Emperor, in: Neil, B./ Dal Santo, M. (Hgg.), A Companion to Gregory the Great, Brills Companions to the Christian Tradition 47, Leiden 2013, 57–81, hier: 60. 34 Gregorovius, Ferdinand, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter vom V. bis zum XVI. Jahrhundert, München 1978, hier: I, 259.
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„Überall erblicken wir Trauer, von allen Seiten hören wir Wehklagen. Städte sind zerstört, Festungen gefallen, Gebiete entvölkert, das Land ist in Einöde zurückgelassen. Kein Bauer ist auf den Feldern verblieben, fast kein Einwohner in den Städten; und dennoch werden diese wenigen Reste des Menschengeschlechts bis heute und ohne Nachlass geschlagen. […] Die einen sehen wir in Gefangenschaft geführt, andere verstümmelt, wieder andere getötet. Was also bleibt, meine Brüder, was in diesem Leben Gefallen bringt? Wenn wir auch solch eine Welt noch immer lieben, lieben wir nicht Freuden, sondern wir lieben Schmerzen. Ja, ihr seht, was von Rom selbst übriggeblieben ist, die einst als Herrin der Welt schien. Mit immensen Schmerzen vielfach gedemütigt: durch die Verödung der Bürger, durch das Eindringen der Feinde und die Vielzahl der Ruinen.“35
2.2 Die kirchliche Situation in Italien Vom politischen und sozialen Niedergang Roms war selbstverständlich auch das kirchliche Leben beeinflusst. Die katastrophalen Umstände und der Verlust politischer Stabilität ließen apokalyptische Erwartungen wachsen, die auch im sonstigen Mittelmeerraum zu beobachten sind.36 Die Aussicht auf das nahende Ende der Welt könnte das Aufblühen des Mönchtums in der Zeit erklären. Viele Menschen verließen wie Gregor ihr bisheriges Leben und wandten sich der Askese zu. Im 6. Jahrhundert ist im Westen ein deutlicher Zuwachs an monastischen Gemeinschaften sowie an religiösen Stiftungen zu beobachten.37 Der Boom des Mönchtums hatte allerdings Auswirkungen auf die christlichen Gemeinden: Das Verlassen der Welt bedeutete oftmals den Rückzug aus der Ortskirche, der so gewohnte, regelmäßige Summen von Almosen und Kollekten verloren gingen. In diesem Kontext ist das Konzept Gregors, die Asketen in die Kirche zu (re-)integrieren, zu betrachten. Immer wieder betonte er, dass auch die geistlich Fortgeschrittenen zum Dienst am Nächsten verpflichtet sind.38 Das kirchliche Leben war zudem stark geprägt und beeinflusst von der außergewöhnlich langen Regierungszeit Justinians und dessen religionspolitischer 35 „Vbique luctus aspicimus, undique gemitus audimus. Destructae urbes, euersa sunt castra, depopulati agri, in solitudine terra redacta est. Nullus in agris incola, pene nullus in urbibus habitator remansit; et tamen ipsae paruae generis humani reliquiae adhuc cotidie et sine cessatione feriuntur. […] Alios in captiuitatem duci, alios detruncari, alios interfici uidemus. Quid est ergo quod in hac uita libeat, fratres mei? Si et talem adhuc mundum diligimus, non iam gaudia, sed uulnera amamus. Ipsa autem quae aliquando mundi domina esse uidebatur qualis remanserit roma conspicitis. Immensis doloribus multipliciter attrita, desolatione ciuium, impressione hostium, frequentia ruinarum“ Greg.‑M. Hom. Ez. II, 6, 22 (CCSL 142, 310, 524–311, 537), vgl. auch Kap. 5.5. 36 Vgl. Meier, Zeitalter, 45–100. 37 Vgl. Biarne, Jacques, Der Aufschwung des abendländischen Mönchtums (430–610), in: Pietri, L. (Hg.), Der lateinische Westen und der byzantinische Osten (431–642), GCh 3, Freiburg/Basel/Wien 2001, 965–1010, hier: 972–975. Eine Auflistung aller Klöster in Italien bietet Jenal, Italia I+II. 38 Vgl. Kap. 5.5.1.1.
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Gesetzgebung. Seit Konstantin wuchsen Kaiserreich und Kirche immer enger zusammen, bis sie im 6. Jahrhundert fast zu einer Einheit verschmolzen. Für dieses Ziel beschäftigte sich Justinian in zahlreichen Gesetzen seiner Rechtssammlung, des Corpus Iuris Civilis, mit kirchlichen Themen.39 Die Legislative schützte durch Erbschaftsvorschriften den kirchlichen Besitz vor der Veräußerung und ermöglichte so die Entwicklung der Kirche zu einer der größten wirtschaftlichen Körperschaften.40 Darüber hinaus kam dem Klerus ein wachsender Einfluss auf die kommunale Verwaltung zu. Denn er übernahm zunehmend die Position und Aufgaben der bisherigen gesellschaftlichen Führungsschicht, allen voran des senatorischen Adels: Die Bischöfe standen an der Spitze des städtischen Finanzwesens41 und hatten die Aufsicht und auf Antrag der Kläger auch die Jurisdiktion über die Provinzadministration inne.42 Der Schutz diverser personae miserae wie Findelkinder, Waisen, Geisteskranke und alleinstehende Frauen gehörte fortan dank staatlicher Regelung zum episkopalen Pflicht- und Kompetenzbereich.43 Obendrein sollten die Kirchenführer die örtlichen Gefängnisse inspizieren und Missstände melden.44 Die bischöfliche Rechtsprechung gewann zunehmend an Bedeutung und wurde für Asketen und Kleriker gar obligatorisch. Bischöfe selbst genossen rechtliche Immunität, die nur vom Kaiser selbst aufgehoben werden konnte.45 Doch dieser Zuwachs an Macht und weltlichen Aufgaben ging einher mit einer starken staatlichen Einflussnahme in Angelegenheiten der Kirche. So wurde die kirchliche Gesetzgebung in die staatliche integriert und damit unter 39 Pierre Maraval zählt 90 der 500 Novellen Justinians in den ekklesialen Bereich, vgl. Maraval, Pierre, Die Religionspolitik unter Justinian I., in: Pietri, L. (Hg.), Der lateinische Westen und der byzantinische Osten (431–642), GCh 3, Freiburg/Basel/Wien 2001, 421–461, hier: 423. Zum Mönchtum in der justinianischen Gesetzgebung vgl. neuerdings Hasse-Ungeheuer, Alexandra, Das Mönchtum in der Religionspolitik Kaiser Justinians I. Die Engel des Himmels und der Stellvertreter auf Erden, Berlin/Boston 2016. 40 Vgl. u. a. C.‑Iust. I, 2, 19–25 (CIC I, 16–18). Zu diesen und den folgend genannten Vorschriften vgl. Maraval, Religionspolitik, 424; Noethlichs, Karl Leo, Materialien zum Bischofsbild aus den spätantiken Rechtsquellen, JAC 16 (1973), 28–59. Zu den Veränderungen der bischöflichen Arbeitsbereiche vgl. Liebeschuetz, John, The Decline and Fall of the Roman City, Oxford 2001, 137–169; Eich, Bischof, 49; Caspar, Geschichte II, 323–325; Floryszczak, Regula, 120–127. 41 Vgl. C.‑Iust. I, 4, 26 (CIC I, 42–44). 42 Vgl. C.‑Iust. I, 4, 33 (CIC I, 47); Iust. Nouell. 86, 2 (CIC III, 420, 26–35). 43 Vgl. C.‑Iust. I, 4, 22 (CIC I, 41 f.); I, 4, 27 f. (CIC I, 44 f.); I, 4, 30 f. (CIC I, 46). 44 Vgl. C.‑Iust. IX, 4, 6 (CIC I, 371 f.); IX, 5, 2 (CIC I, 372). 45 Vgl. Iust. Nouell. 79 (CIC III, 388, 1–390, 14); 83 (CIC III, 409, 1–411, 9); 123 (CIC III, 593, 1–625, 15). Zur Klostergesetzgebung Justinians vgl. Müller, Andreas, Das Konzept des geistlichen Gehorsams bei Johannes Sinaites. Zur Entwicklungsgeschichte eines Elements orthodoxer Konfessionskultur, STAC 37, Tübingen 2006, 111–127; Müller, Andreas, Εἰς συνέργειαν τῶν συμφερόντων. Zur Klosterpolitik Kaiser Justinians, in: van Oort, J./Hesse, O. (Hgg.), Christentum und Politik in der Alten Kirche, Studien der Patristischen Arbeitsgemeinschaft 8, Leuven et al. 2009, 35–59.
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die Kontrolle des Reiches gestellt.46 Die Lebensführung von Klerus und Asketen wurde ebenso geregelt wie die Bischofswahlen und die Voraussetzungen für ein solches Amt.47 Auch wurde in die Struktur und die innere Organisation der Kirche eingegriffen.48 Obendrein wollte Justinian parallel zu seinem Vorhaben der Rückeroberung der Westgebiete auch für kirchliche Einheit sorgen.49 Anstatt theologischer Eintracht stiftete er allerdings neuen Unfrieden, der unter dem Schlagwort des „Drei-Kapitel-Streits“ in die Geschichte einging. Dieser Konflikt forderte Gregor im Laufe seines Pontifikats ständig aufs Neue heraus. Zum einen suchte der Papst ihn auf kirchenpolitischer Ebene mit vielfältigsten Mitteln – von Waffengewalt bis zu weitreichender Toleranz – zu beenden.50 Zum anderen beschäftigte der Streit ihn in seinem theologischen Denken:51 Wie ist den Schismatikern zu begegnen? Soll man sie meiden oder aber an ihnen Nächstenliebe üben? Welche ekklesiologische Konsequenz hat die Realität der kirchlichen Spaltung?52 Das Konzil von Chalcedon war nicht überall auf Zustimmung gestoßen. Insbesondere in den östlichen Gegenden und in Ägypten hatten miaphysitische Gruppierungen53 Fuß gefasst und stellten mitunter sogar die Mehrheit.54 Auch am Kaiserhof war mit Kaiserin Theodora diese christologische Überzeugung prominent vertreten.55 Die Miaphysiten suchte Justinian mit „einer Mischung aus Gesprächsangeboten und Überzeugungsversuchen auf der einen und Zwangsmaßnahmen auf der anderen Seite“56 in die Reichskirche zu integrieren. Insbesondere die rigorosen Verfolgungen der späten 530er Jahre führten aber dazu, dass die 46 Vgl.
Caspar, Geschichte II, 324; Markus, World, 84. Vgl. C.‑Iust. I, 3, 41 (CIC I, 25–28); I, 4, 34 (CIC I, 47–50); Iust. Nouell. 123, 1, 2 (CIC III, 595, 26–30); 137, 2 (CIC III, 696, 1–697, 18). 48 Dies zeigt u. a. die Erhebung des Geburtsortes des Kaisers zum Bischofssitz Prima Iustiniana mit Metropolitanrechten, vgl. Maraval, Religionspolitik, 425. 49 Begründet war dieses Engagement in Justinians Selbstverständnis als von Gott eingesetzte Aufsicht über die imperiale Kirche. Das Recht und die Kompetenz wurden ihm aber dezidiert ebenso von kirchlicher Seite zugesprochen, vgl. Maraval, Religionspolitik, 421. 50 Vgl. u. a. Kap. 3.4 und 6.3.2.1. 51 Vgl. u. a. Kap. 5.2.2.3; 5.2.3.1 und 5.6.2.1. 52 An dieser Stelle kann der Verlauf des Konflikts nicht detailliert dargestellt werden, stattdessen sei auf Maraval, Religionspolitik, 432–462; Leppin, Justinian, 293–308; Sotinel, Claire, Das Dilemma des Westens: Der Drei-Kapitel-Streit, in: Pietri, L. (Hg.), Der lateinische Westen und der byzantinische Osten (431–642), GCh 3, Freiburg/Basel/Wien 2001, 463–490; Richards, Jeffrey, The Popes and the Papacy in the Early Middle Ages 476–752, London 1979, 139–161 sowie auf den Sammelband Chazelle, C./Cubitt, C. (Hgg.), The Crisis of the Oikoumene. The Three Chapters and the Failed Quest for Unity in the Sixth-Century Mediterranean, Studies in the Early Middle Ages 14, Turnhout 2007 verwiesen. 53 Unter den Non-Chalcedonensern gab es eine Vielfalt an theologischen Strömungen, vgl. Maraval, Religionspolitik, 433–436. 54 Vgl. Maraval, Religionspolitik, 442. 55 Vgl. Maraval, Religionspolitik, 433; Leppin, Justinian, 297. 56 Leppin, Justinian, 293. Zu den erfolglosen Kompromissversuchen Justinians, die im 47
2.2 Die kirchliche Situation in Italien
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unterdrückten Gruppierungen im Untergrund kirchliche Parallelstrukturen entwickelten, die ihre Selbstständigkeit und Unabhängigkeit im Fortgang des Konfliktes sicherten.57 Mit einem Erlass startete der Kaiser trotz des bisherigen Misserfolgs 544/545 einen erneuten Versuch der Integration. In diesem werden erstmalig die sogenannten „Drei Kapitel“ verurteilt, die von den Gegnern des Konzils von Chalcedon als nestorianisch gebrandmarkt wurden: Zu den drei capituli zählen Werk und Person Theodors von Mopsuestia, die Schriften Theodorets von Cyrus gegen Kyrill sowie der Brief des Ibas von Edessa an Mari, in dem die Verurteilung Theodorets abgelehnt wird. Die beiden letztgenannten der drei Theologen aus der antiochenischen Schule waren in Chalcedon dezidiert rehabilitiert worden. Daher wurde ihre Anathematisierung zugleich als Infragestellung dieses Konzils verstanden,58 das der Kaiser eigentlich „von jeglicher Kompromittierung durch den Nestorianismus reinwaschen“59 wollte. Obwohl der Erlass auch von den östlichen Patriarchen nur unter Druck angenommen wurde,60 gelang es dem Kaiser schließlich, ihn durch das Ökumenische Konzil von Konstantinopel 55361 bestätigen zu lassen. Der Westen hingegen zeigte deutlich ausdauernder Widerstand, da hier einerseits das Konzil von 451 eng mit dem erfolgreichen Agieren Leos des Großen verbunden wurde. Andererseits wurde nach westlichem Verständnis die Rechtgläubigkeit vornehmlich durch die Treue zu konziliaren Entscheidungen und der Tradition insgesamt garantiert.62 Erst nach langem Hin und Her und nur durch machtvolle Taktik und immense Gewaltandrohungen durch den Kaiserhof63 Vergleich zur Kirchenpolitik seines Vorgängers Justin deutlich weniger Druck auf die Gegner Chalcedons ausübten, vgl. Maraval, Religionspolitik, 436–440. 57 Vgl. Leppin, Justinian, 294; Maraval, Religionspolitik, 442 f. 58 Vgl. Leppin, Justinian, 295. 59 Maraval, Religionspolitik, 449. 60 Vgl. Leppin, Justinian, 295; Maraval, Religionspolitik, 449; Richards, Popes, 142. 61 Die westliche Kirche war zahlenmäßig kaum vertreten, auch der Papst nahm daran nicht teil, obwohl er in der Hauptstadt weilte, vgl. Maraval, Religionspolitik, 452 f.; Leppin, Justinian, 305; Markus, Robert A./Sotinel, Claire, Introduction, in: Chazelle, C./Cubitt (Hgg.), The Crisis of the Oikumene. The Three Chapters and the Failed Quest for Unity in the SixthCentury Mediterranean, Studies in the Early Middle Ages 14, Turnhout 2007, 1–14, hier: 4 f. 62 Vgl. Maraval, Religionspolitik, 449; Sotinel, Dilemma, 468; Eich, Bischof, 50. Zum Verhältnis des Drei-Kapitel-Streits zum Konzil von Chalcedon vgl. Price, Richard, The Three Chapters Controversy and the Council of Chalcedon, in: Chazelle, C./Cubitt, C. (Hgg.), The Crisis of the Oikoumene. The Three Chapters and the Failed Quest for Unity in the SixthCentury Mediterranean, Studies in the Early Middle Ages 14, Turnhout 2007, 17–37. 63 Die Quellen deuten bereits die Reise von Papst Vigilius 545 an den Bosporus unterschiedlich, während der Klerus sie als Entführung klassifiziert und anprangert, wird auch über heftigen Unmut des Volkes gegen den Papst berichtet, vgl. Ep. Leg. (PL 69, 115); Lib. pont. 61,4 (Duchesne I, 297, 12–14) sowie Leppin, Justinian, 296; Sotinel, Dilemma, 463. Dennoch ist der massive Druck, den Justinian auf den Papst ausübte, in keiner Weise zu leugnen, vgl. Richards, Popes, 142–154. Der Kaiser konnte insbesondere auch deshalb so stark auf Vigilius
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2 Der historische Kontext im ausgehenden 6. Jahrhundert
stimmte Papst Vigilius den Beschlüssen des Konzils von Konstantinopel und damit der Verurteilung der Drei Kapitel zu.64 Nach acht Jahren in Konstantinopel trat der Papst 555 die Heimreise nach Rom an. Das Ziel erreichte er nicht mehr, sondern verstarb auf Sizilien. So musste er immerhin nicht dem Zorn der strikten Gegner des neuen Konzils gegenübertreten, die in Italien deutlich die Mehrheit stellten.65 Dieser Herausforderung musste sich sein Nachfolger Pelagius I. stellen, der sein Amt nur durch die Zustimmung zum Konzil erlangt hatte.66 Da er zuvor, noch als römischer Diakon in Konstantinopel, zu den schärfsten Kritikern der Verdammung der Drei Kapitel gezählt hatte und diese nun aber befürwortete, wurde er nach seinem Amtsantritt scharf als Opportunist gescholten.67 Das Konzil von 553 ist in zweierlei Hinsicht erfolglos zu nennen: Die Miaphysiten konnten auch durch die Verurteilung der strittigen Drei Kapitel nicht in die Mehrheitskirche integriert werden, sondern bauten, durch die außenpolitische Schwäche des Kaiserreiches begünstigt,68 ihre Parallelstrukturen aus. Zum anderen hegte sich im Westen großer und beharrlicher Widerstand gegen die Verurteilung der Drei Kapitel. Die Tradition hatte bisher stets als Garantin für Rechtgläubigkeit gegolten, stand aber nun der Gemeinschaft mit dem römischen Stuhl entgegen, der in den Augen vieler westlicher Bischöfe Chalcedon verraten hatte.69 Auch die wiederholten Seitenwechsel des Papstes und insbesondere seines Nachfolgers Pelagius I. sorgten nachhaltig für einen Imageschaden und Autoritätsverlust des Pontifikats.70 Lediglich die Kirche von Ravenna stimmte – bedingt durch die enge Bindung an den Kaiserhof – der Verurteilung der Drei Kapitel sofort zu und lag zumindest in dieser Angelegenheit in keinem Konflikt mit Rom.71 In Nordafrika war die Opposition hingegen besonders stark, die Justinian mit Inhaftierung, Exil und sogar Waffengewalt mit bleibendem Erfolg bekämpfte.72 Das Illyricum stand dem Kaiser weitgehend treu zur Seite, allerdings sagte sich einwirken, weil Italien inzwischen wieder aus der ostgotischen Hand für das Reich zurückerobert und der Papst wieder ein Untertan Ostroms war, vgl. Leppin, Justinian, 306. 64 Vgl. Maraval, Religionspolitik, 453–456. 65 Vgl. Leppin, Justinian, 307. 66 Vgl. Maraval, Religionspolitik, 457; Richards, Popes, 157 f. Zur Praxis der kaiserlichen Bestätigung der Papstwahl vgl. Richards, Popes, 140. 67 Vgl. Richards, Popes, 157–159; Markus/Sotinel, Introduction, 5. 68 Vgl. Leppin, Justinian, 294; Maraval, Religionspolitik, 457. 69 Vgl. Sotinel, Dilemma, 466–468. 70 Vgl. Eich, Bischof, 51. Gerade mit dem Vorwurf der Inkonsequenz und des Opportunismus des Vigilius setzte sich Gregor später auseinander, vgl. Kap. 6.3.2.1. 71 Vgl. Richards, Popes, 156 f. Die von Konstantinopel aus geförderte Bedeutung der Stadt und auch der Kirche Ravennas führte in den folgenden Jahrzehnten aber zunehmend zu einer Konkurrenzsituation mit Rom, vgl. Kap. 6.3.2.3. 72 Vgl. Sotinel, Dilemma, 469; Maraval, Religionspolitik, 457 f.; Richards, Popes, 153; Markus/Sotinel, Introduction, 6.
2.2 Die kirchliche Situation in Italien
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der Bischof von Salona von Rom los. Obwohl er abgesetzt wurde, begehrte seine Kirche weiterhin und wiederholt auf.73 Auch in Spanien und Gallien musste Papst Pelagius I. um Anerkennung kämpfen.74 Am schwierigsten war die Situation aber direkt vor seiner Haustür in Italien: In Tuszien hatten sieben Bischöfe den Papst nicht in ihre Diptychen übernommen.75 In ähnlicher Weise verweigerten die Metropoliten von Mailand und Aquileia die Gemeinschaft mit Rom. Allerdings war die Ausgangssituation in diesem Fall deutlich komplexer, da beide Kirchen nicht in den Jurisdiktionsbereich Roms fielen und damit unabhängiger agieren konnten.76 Seit jeher vollzogen sie gegenseitig ihre Bischofsweihen. Zudem hatten die beiden Metropoliten 553 wegen einer Einmischung in ihre Bischofswahlen von Seiten Ravennas mit der kaiserlichen Partei und damit auch mit Rom gebrochen. Der Konflikt eskalierte 558, als Paulus von Aquileia das päpstliche Agieren auf dem Konzil von Konstantinopel 553 scharf kritisierte. Daraufhin erklärte Pelagius die Bischofsweihe des Paulus als unkanonisch.77 Des Weiteren forderte er die weltliche Macht auf, militärisch gegen diesen und weitere Gegner des Papstes vorzugehen, die er nun explizit als Schismatiker bezeichnete.78 Bedingt durch den Einfall der Langobarden ab 56879 wurden die beiden Bischofssitze von Mailand und Aquileia nach Genua bzw. Grado verlegt. Während der Mailänder Metropolit durch die damit einhergehende Isolation an Macht einbüßte und 573 schließlich wieder zur Einheit mit Rom zurückkehrte,80 konnte der Bischof von Aquileia den Kontakt mit den Gemeinden, sowohl in den kaiserlichen als auch in den langobardischen Gebieten aufrechterhalten und so seine Unabhängigkeit fortwährend ausbauen. Er war schließlich der letzte Metropolit, der die Drei Kapitel verteidigte.81 Das Schisma von Aquileia dauerte ca. 150 Jahre an und war weniger in einer dogmatischen Differenz begründet, als vornehmlich durch kirchenpolitische 73 Vgl.
Sotinel, Dilemma, 469 und Markus, World, 157–159. Sotinel, Dilemma, 473. 75 Vgl. Sotinel, Claire, The Three Chapters and the Transformations of Italy, in: Chazelle, C./Cubitt, C. (Hgg.), The Crisis of the Oikoumene. The Three Chapters and the Failed Quest for Unity in the Sixth-Century Mediterranean, Studies in the Early Middle Ages 14, Turnhout 2007, 85–120, hier: 97–99. 76 Vgl. Sotinel, Chapters, 87 f. 77 Vgl. Pelag. I. Ep. 24 (Gasso 73, 1–78, 74). 78 Vgl. Sotinel, Dilemma, 476 f.; Sotinel, Chapters, 100–103. Die politische Führung stellte sich allerdings nicht an die Seite des Papstes, weil sie sich damit auch von den Abtrünnigen Loyalität zum Kaiser sichern wollte. Zugunsten der staatlichen Einheit tolerierte die Reichsführung die religiöse Spaltung, vgl. Markus, World, 126. 79 Vgl. Kap. 2.1. 80 Vgl. Sotinel, Dilemma, 477 f.; Sotinel, Chapters, 111–114. Die freiwillige Unterordnung der Mailänder Kirche unter den römischen Stuhl hatte auch Gregor in seiner Funktion als Stadtpräfekt anerkannt, vgl. Greg.‑M. Ep. IV, 2 (CCSL 140, 218, 10 f.). 81 Vgl. Sotinel, Dilemma, 478–481. 74 Vgl.
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2 Der historische Kontext im ausgehenden 6. Jahrhundert
Fragen bedingt. Es wurde keine christologische Debatte über die Lehren der Drei Kapitel geführt, sondern die Rechtmäßigkeit des Konzils von Konstantinopel und die päpstliche Zustimmung zur strittigen Verdammung infrage gestellt.82 Überraschenderweise ließen die Päpste die Angelegenheit lange Zeit auf sich beruhen und tolerierten die Abtrünnigkeit des italischen Nordwestens. Erst als der Exarch Smaragdus 585 einen Friedensvertrag mit den Langobarden geschlossen hatte, wandte sich Pelagius II. in drei Briefen an die abtrünnigen Bischöfe in Istrien.83 Allerdings war diesem Vorstoß kein Erfolg beschieden, weshalb die Problematik des Drei-Kapitel-Schismas zur Zeit des Pontifikats Gregors noch immer und weit darüber hinaus fortbestand.84 Gregor übernahm 590 als Papst ein Amt, das in den vorangegangenen hundert Jahren einen enormen Gewinn an Macht und Einfluss, aber ebenso eine umfangreiche Erweiterung an Aufgaben erfahren hatte. Seine Klage über die durch weltliche, äußerliche Pflichten bedingte Ablenkung von dem eigentlichen episkopalen Kernbereich, der Seelsorge, gewinnt vor diesem Hintergrund an Konkretion. Der Bischof hatte inzwischen die Funktion eines kommunalen Verwalters übernommen und musste wie ein Schutzherr über das alltägliche Leben der Stadt wachen. Die Kirche insbesondere in Rom war zweifellos zur wichtigsten und einzigen stabilen Institution geworden. Vom ehemals ruhmreichen und verlässlichen Senat und anderen staatlicher Einrichtungen war kaum noch etwas übriggeblieben. Diese Lücke zu füllen, kam seit den Justinianischen Reformen den Bischöfen zu. Zugleich gerieten diese zunehmend unter staatliche Kontrolle und kaiserlichen Einfluss. Als dieser auch in die theologischen Lehrdebatten eingriff, belastete er die Kirche Italiens und insbesondere das Papstamt mit der schweren Hypothek des Drei-Kapitel-Streits.
82 Vgl.
Sotinel, Dilemma, 477. Vgl. Pelag. II. Ep. Episc. 3 (MGH.EP. 2 App. III, 442–467). Der dritte Brief wurde von seinem Diakon und späteren Nachfolger Gregor verfasst, vgl. Meyvaert, Paul, A Letter of Plagius II Composed by Gregory the Great, in: Cavadini, J. (Hg.), Gregory the Great. A Symposium, NDST 2, Notre Dame et al. 2001, 94–116 Straw, Carole, Much Ado About Nothing. Gregory the Great’s Apology to the Istrians, in: Chazelle, C./Cubitt (Hgg.), The Crisis of the Oikumene. The Three Chapters and the Failed Quest for Unity in the Sixth-Century Mediterranean, Studies in the Early Middle Ages 14, Turnhout 2007, 121–160. 84 Vgl. Kap. 6.3.2.1. 83
3 Leben1 und literarisches Werk Gregors In eine Zeit des Wandels und der Katastrophen hinein wurde Gregor als Nachkomme einer alten römischen2 Senatorenfamilie3 geboren, die – im Unterschied zu vielen anderen Familien des römischen Adels – auch nach den Gotenkriegen noch in Rom residierte. Sie besaß einen Palast auf dem Caelius und Landgüter im römischen Umland sowie auf Sizilien.4 Das genaue Geburtsjahr Gregors ist unbekannt,5 traditionell wird das Jahr 540 angegeben. Auch für die Ereignisse der folgenden ca. fünfzig Jahre bis zu seiner Bischofswahl fehlen verlässliche
1 Neben vereinzelten Angaben in Gregors eigenen Werken bieten als zeitgenössische Quellen lediglich die Geschichtsbücher Gregors von Tour (Greg.‑T. Hist. X, 1; FSGA.A 3, 320–329) und der wahrscheinlich schon kurz nach seinem Tod verfasste Eintrag im Liber Pontificalis (Lib. pont. 66; Duchesne I, 312) Informationen zur Biographie Gregors, zur Problematik des Liber Pontificalis und vergleichbaren Werken vgl. Herbers, Klaus, Zu frühmittelalterlichen Personenbeschreibungen im Liber Pontificalis und in römischen hagiographischen Texten, in: Laudage, J. (Hg.), Von Fakten und Fiktionen. Mittelalterliche Geschichtsdarstellungen und ihre kritische Aufarbeitung, Köln et al. 2003, 165–191. Soweit wir wissen, wurden dezidierte Viten frühestens ca. 100 Jahre nach seinem Tod verfasst. Überliefert sind das Werk eines anonymen Mönches aus Whitby aus dem frühen 8. Jahrhundert (Anon.Whitby Vit. Greg.; Colgrave 72–165), der Abschnitt zum Leben Gregors aus Bedas um 731 verfasster Kirchengeschichte (Bed. Hist. II,1; Crépin 268–288), die Vita von Paulus Diaconus aus der zweiten Hälfte desselben Jahrhunderts (P.‑Diac. Vit. Greg; Tuzzo) und aus dem 9. Jahrhundert die Vita des Johannes Diaconus (Joh.‑Diac. Vit. Greg; PL 75, 59–242) sowie die interpolierte Version der Vita des Paulus Diaconus (Ps.‑P.-Diac. Vit. Greg.; PL 75, 42–59). Zur Einschätzung dieser Quellen und ihrer literarischen Abhängigkeiten untereinander s. Stuhlfath, Walter, Gregor I. der Große. Sein Leben bis zu seiner Wahl zum Papste nebst einer Untersuchung der ältesten Viten, HAMNG 39, Heidelberg 1913, 63–89. 2 Der Liber Pontificalis gibt seine Herkunft als natione Romanus an, vgl. Lib. pont. 66 (Duchesne I, 312,1). 3 Vgl. Greg.‑T. Hist. X, 1: „de senatoribus primis“ (FSGA.A 3, 322, 10), ähnlich auch Paulus Diaconus: „de spectabili senatorum prosapia“, P.‑Diac. Vit. Greg. 1 (Tuzzo 3, 2) und Johannes Diaconus: „senatoria stirpe progenitus“, Joh.‑Diac. Vit. Greg. I, 1 (PL 75, 63). Allgemeiner bleibt die englische Vita: „nobilis secundum legem“, Anon.Whitby Vit. Greg. 1 (Colgrave 72). Für die Verbindung zu der gens Anicia, aus der neben Papst Agapet auch Boethius stammte, gibt es außer einer ominösen „alten Überlieferung“ keine Belege, Manselli, Raoul, Art.: Gregor V (Gregor der Große), RAC 12 (1983), 930–951, hier: 930, vgl. Müller, B., Führung 19 und Dudden, Place I, 4. 4 Vgl. Greg.‑T. Hist. X, 1 (FSGA.A 3, 322, 10–12) und Richards, Leben, 34. 5 Walter Stuhlfath gibt als sicheren Zeitraum die Jahre zwischen 537–548 an, wobei die Geburt eher früher als später angesetzt werden muss, vgl. Stuhlfath, Leben, 90–93.
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3 Leben und literarisches Werk Gregors
Quellen und exakte Angaben. Neben den wenigen bekannten Fakten gelangt die folgende Beschreibung oft nicht über Mutmaßungen hinaus.6
3.1 Die Familie Sein Vater hieß Gordianus,7 seine Mutter vielleicht Silvia.8 Weitere Namen aus seiner Familie bezeugt Gregor selbst: drei Schwestern seines Vaters mit Namen Tarsilla, Gordiana und Aemiliana, die sich alle drei für ein Leben als „gottgeweihte Jungfrauen“ entschieden hatten,9 eine weitere Tante namens Pateria10 sowie seinen atavus Felix, der ebenfalls Papst gewesen war.11 Unter den vorangegangenen Bischöfen von Rom kommen hierfür zwei infrage: Felix III. (483–492)12 und Felix IV. (526–530)13, wahrscheinlicher ist aber gegen das Zeugnis des Johannes Diaconus14 ersterer gemeint.15 Schließlich wurde häufig über einen oder zwei Brüder Gregors spekuliert – Germanus und/oder Palatinus. Der erste Name ist das Ergebnis eines logischen Fehlers: Gregor von Tours beschreibt in seinen Geschichtsbüchern, dass sein römischer Namensvetter gegen die gerade erfolgte Papstwahl aufbegehrte und einen Brief an Kaiser Mauricius sandte, in dem er bat, die Wahl nicht anzuerkennen. Dieser Brief wäre allerdings vom römischen Stadtpräfekten abgefangen und vernichtet worden.16 Der fragliche Satz lautet: „Sed praefectus urbis Romae Germanus eius anticipavit nuntium, et conpraehensum, disruptis epistulis, consensum, quod populus fecerat, imperatori direxit.“17 Für Schwierigkeiten sorgt indes die Doppeldeutigkeit des Begriffes „germanus“: Entweder ist er 6 Vgl. die Einschätzung Markus: „a truly biographical treatment, following the development of mind and personality, is not possible in Gregory’s case“, Markus, World, 2, ähnlich auch Jeffrey Richards: „Über das Leben Gregors, ehe er Papst wurde, wissen wir wenig“, Richards, Leben, 34. 7 S. Lib. pont. 66 (Duchesne I, 312,1). 8 Der Name wird erstmals in der Vita aus Whitby genannt, Anon.Whitby Vit. Greg. 1 (Colgrave 72). 9 S. Greg.‑M. Hom. eu. 38, 15 (CCSL 141, 374, 367), vgl. auch Greg.‑M. Dial. IV, 17, 1 (SC 265, 68, 3–5). 10 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 37 (CCSL 140, 44, 5 f.), vielleicht sind auch die anderen in diesem Brief erwähnten Frauen Verwandte Gregors, vgl. Markus, World, 8, Anm. 32. 11 „[…] atauus meus Felix huius romanae ecclesiae antistes“ Greg.‑M. Hom. eu. 38, 15 (CCSL 141, 375, 392), ähnlich Greg.‑M. Dial. IV, 17, 1 (SC 265, 68, 7). 12 Vgl. Lib. pont. 50 (Duchesne I, 252). 13 Vgl. Lib. pont. 56 (Duchesne I, 279). 14 Joh.‑Diac. Vit. Greg. I, 1 (PL 75, 63), ihm folgt Dudden, Place I, 4 f. 15 Stuhlfath führt als Argumente neben der chronologischen Wahrscheinlichkeit und den wiederkehrenden Namen mit dem Stamm Gordian- auch die differierende Abstammungsbezeichnung „natione Samnium“ für Felix IV. in Lib. pont. 56 (Duchesne 279) an, s. Stuhlfath, Leben, 93–95. 16 Vgl. Greg.‑T. Hist. X, 1 (FSGA.A 3, 322, 23–29). 17 „Aber der Stadtpräfekt Roms, Germanus, kam dessen [scil. Gregors] Boten zuvor und
3.2 Ausbildung und weltliche Karriere
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als nomen proprium zu lesen, dann hieß der Stadtpräfekt Germanus, eine verwandtschaftliche Beziehung trägt er dann aber in keiner Weise mehr aus. Oder aber das Wort ist als Verwandtschaftsbezeichnung zu deuten, auf die sich eius (scil. Gregor) bezieht. In diesem Falle ist der Stadtpräfekt tatsächlich als der Bruder des frisch gewählten Papstes beschrieben, dann aber fehlt eine Auskunft über seinen Namen. Da germanus entweder eine Information über den Eigennamen oder über die Familie beinhaltet, keinesfalls aber beides zugleich, kann aus diesem Text kein Bruder Gregors mit Namen Germanus abgeleitet werden.18 Wird germanus aber als Verwandtschaftsgrad verstanden, so könnte dieser Stadtpräfekt dann mit Palatinus identifiziert werden,19 den Gregor selbst als „meinen ruhmreichen Bruder Palatinus“20 vorstellt und der gemeinhin als sein biologischer Bruder angenommen wird.21 Träfe diese Lesart tatsächlich zu, so wäre dies ein Beleg für die hohe gesellschaftliche Stellung der Familie. Nach Gregor hätte dann auch sein jüngerer (?) Bruder das höchste Amt der Stadt22 innegehabt.23 Endgültige Klarheit ist in der Frage nach den Geschwistern wohl nicht zu erlangen, Einzelkind aber war Gregor sicher nicht, erwähnt er in seinen Briefen doch selbst einen Bruder, der Grund- und Sklavenbesitzer auf Sizilien war.24
3.2 Ausbildung und weltliche Karriere Als Sprössling einer Aristokratenfamilie genoss Gregor aller Wahrscheinlichkeit nach eine gehobene Bildung. Doch wie war das römische Bildungswesen in der Zeit aufgestellt? Gab es noch das klassische dreistufige Schulsystem aus ludus litterarius, schola grammatici und schola rhetoris?25 Sicherlich waren die besten schickte, nachdem dieser gefasst und die Briefe zerrissen waren, dem Kaiser den Konsens, den das Volk geschlossen hatte.“, Greg.‑T. Hist. X, 1 (FSGA.A 3, 322, 26 f.). 18 So z. B. Markus, World, 8. 19 Diese Möglichkeit deutet Müller an, vgl. Müller, B., Führung, 21, Anm. 76. 20 „Glorioso fratre meo Palatino“ Greg.‑M. Ep. XI, 4 (CCSL 140A, 862, 5). 21 So Richards, Leben, 35; dagegen Stuhlfath, Leben, 95 und Dudden, Place I, 8 f., Anm. 3. 22 Vgl. Sachers, Erich, Art.: Praefectus urbi, RE 22/2 (1954), 2502–2534, hier: 2525. Zu den Aufgaben des Stadtpräfekten s. Kap. 3.2. 23 Für wahrscheinlich halte ich das aber nicht, lägen zwischen den beiden Amtszeiten doch immerhin ca. 17 Jahre. Darüber hinaus erwähnt Gregor weder das Mitwirken des eigenen Bruders bei der unbeliebten Papstwahl noch verweist er sonst jemals auf den ihm nahestehenden Stadtpräfekten, obwohl er als Papst durchaus Kontakt zu diesem Amt pflegte, vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 117 (CCSL 140A, 670, 5–11); IX, 118 (CCSL 140A, 670, 2–4). Zu den fehlenden Verweisen auf seinen Bruder s. Stuhlfath, Leben, 97. 24 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 42 (CCSL 140, 53, 129 f.); IX, 201 (CCSL 140A, 759, 3 f.). 25 Zum antiken Schulwesen s. Marrou, Henri-Irénée, Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum, Freiburg/München 1957, 389–423. Peter Gemeinhardt relativiert diese
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3 Leben und literarisches Werk Gregors
Zeiten der antiken Bildungsinstitutionen Roms vergangen. Dennoch wird die gesellschaftliche Oberschicht, die auch in den Wirren der Gotenkriege in Italien ausgeharrt hatte, die Kultur, der sie sich eng verbunden wusste,26 nicht so schnell aufgegeben haben. Zumindest war Rom nur wenige Jahrzehnte vorher noch ein (Hoch-)Schulort, wohin man seine Kinder zur Ausbildung sandte27 und wo das ostgotische (!) Staatswesen Sorge für die Professorensaläre trug.28 Und auch Justinian, in dessen Regierungszeit Gregors Jugend fiel, sicherte in seiner Pragmatischen Sanktion von 554 das Fortbestehen der Professuren für Grammatik, Rhetorik, Medizin und Recht.29 Insofern scheint es nicht ganz falsch, wenn Gregors Zeitgenosse und Mitbischof Gregor von Tours ihn als „in den Wissenschaften der Grammatik, der Dialektik und der Rhetorik so gebildet, dass er selbst in der Stadt [scil. Rom] keinem unterlegen war“30, beschreibt. Ob er in Rom tatsächlich das Maß aller Dinge war, sei dahingestellt. Aber im Vergleich zum gleichnamigen gallischen Bischofskollegen ist sein Latein deutlich stilsicherer und auch grammatisch regelkonformer.31 Gregor muss also neben der offensichtlichen Kenntnis des reinen Schreibens und Lesens auch grammatische Fähigkeiten erworben haben. Seine Apologie für die Sprache der Moralia in Iob32, die nicht den Regeln des Donatus genüge, beweist, dass er das klassische Grammatiklehrbuch des 5. und 6. Jahrhunderts33 sehr wohl kannte.34 Zudem kündigt er im Prolog der Dialoge an, im folgenden starre Einteilung, hält aber grundsätzlich daran fest, s. Gemeinhardt, Peter, Das lateinische Christentum und die antike pagane Bildung, STAC 41, Tübingen 2007, 29–34. 26 Vgl. Marrou, Geschichte, 497 und Dudden, Place I, 69. 27 Vgl. Cass. Var. I, 39 (CCSL 96, 44, 6–12). 28 Vgl. Cass. Var. IX, 21 (CCSL 96, 371, 1–373, 63). 29 Vgl. Iust. Nouell. App. VII, 22 (CIC III, 802, 10–15). Barbara Müller bezweifelt aufgrund der Emigration zahlreicher Lehrer aus Rom den Realitätsgehalt dieser Anweisung, Müller, B., Führung 22. Gillian Evans hingegen sieht darin eine Maßnahme Justinians gegen die Abwanderung des Lehrpersonals, Evans, Gillian, The Thought of Gregory the Great, CSMLT 4. Serie 2, Cambridge 1986, 29. 30 „Litteris grammaticis dialecticisque ac rethoricis ita est institutus, ut nulli in Urbe ipsa putaretur esse secundus“ Greg.‑T. Hist. X, 1 (FSGA.A 3, 322, 19–21). 31 Vgl. Markus, World, 35 und im Vergleich Buchner, Rudolf, Einleitung, in: ders. (Hg.), Gregorii Episcopi Turonensis, Historiarum Libri Decem. Post Brunonem Krusch hoc opus iterum edendum curavit Rudolfus Buchner/Gregor von Tour, Zehn Bücher Geschichten. Auf Grund der Übersetzung W. Giesebrechts neubearbeitet von Rudolf Buchner, Bd. 1, FSGA.A 2, Darmstadt 1955, VII–XLVIII, hier: XXXVI–XLIII, und Banniard, Michel, „Iuxta uniusque qualitatem“. L’écriture médiatrice chez Grégoire le Grand, in: Fontaine, J. et al. (Hgg.), Grégoire le Grand. Chantilly, Centre culturel Les Fontaines, 15–19 septembre 1982, Colloques Internationaux du CNRS, Paris 1986, 477–488, hier: 483 f. Zum allgemeinen Zustand der Bildung in Gallien und Italien im 6. Jahrhundert s. Marrou, Geschichte, 496–501. 32 Greg.‑M. Mor. dedic. 5 (CCSL 143, 6, 183–7, 229). 33 Vgl. Gemeinhardt, Christentum, 43. 34 Mit Stephan Kessler ist dieser Abschnitt als gattungsgemäße captatio benevolentiae aufzufassen, Gregors Moralia bieten keinesfalls die grobe Sprache, für die er sich entschuldigt, Kessler, St., Exeget, 145–148.
3.2 Ausbildung und weltliche Karriere
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Werk das „in bäuerlicher Umgangssprache Überlieferte“35 in eine adäquate „Schriftsprache“36 zu übertragen. Zusammenfassend kann also von einer soliden Bildung Gregors ausgegangen werden, die sicherlich auch Rechtslehre, Naturwissenschaft und Philosophie umfasste.37 In welchem institutionellen Rahmen er sie erworben hat, ob sein Bildungsweg also tatsächlich noch durch den klassischen Dreischritt geprägt war oder er einem Privatlehrer lauschte, lässt sich freilich nicht mehr genau ergründen – zumal er an keiner Stelle von seiner Schulzeit berichtet.38 Die vieldiskutierte Frage nach Gregors Griechischkenntnissen, die mit der Frage nach der Schulbildung einhergeht, wird sich noch im Zusammenhang seines Aufenthaltes in Konstantinopel stellen.39 Über Gregors Tätigkeit nach dem Ende seiner Ausbildung sind wir nicht unterrichtet, vielleicht sammelte er auf den väterlichen Gütern erste Erfahrungen in der Verwaltung,40 auf die er später als Papst zurückgriff.41 Aus seiner weltlichen Karriere vor dem Klostereintritt ist uns nur ein einzelner Mosaikstein geblieben: Um das Jahr 573 herum war Gregor Stadtpräfekt Roms.42 Dieses Amt war das ranghöchste der Stadt und direkt dem Kaiser unterstellt.43 Ihm oblag neben der Polizeigewalt, der obersten Gerichtsbarkeit, der Steuerverwaltung, der Verteidigung der Stadt und dem Senatspräsidium auch die technische Durchführung der städtischen Lebensmittelversorgung, der annona.44 Gregor erwarb in seiner recht kurzen Amtszeit also diverse Fähigkeiten, die er später in seinem Pontifikat direkt anwenden konnte, da einige dieser Aufgaben inzwischen in den Zuständigkeitsbereich der Kirche übergangen waren.45 Ebenso lernte er bereits hier die Langobarden als Gefahr für Stadt und Land kennen, 35
„Haec rusticano usu prolata“ Greg.‑M. Dial.prol. 10 (SC 260, 18, 90). „Stilus scribentis“ Greg.‑M. Dial. I, prol. 10 (SC 260, 18, 90). 37 Vgl. Müller, B., Führung, 22. 38 Insofern finde ich die Schlussfolgerung Mansellis, dass Gregor eine „sehr gründliche Schulung besaß, bes[onders] in lat[einischer] Grammatik u[nd] Rhethorik, wie man sie nur durch ein planmäßiges u[nd] abgeschlossenes Studium erwerben kann“, doch in seiner Konkretion sehr gewagt, Manselli, Gregor, 931. 39 Vgl. Kap. 3.4. 40 So die Vermutung Jeffrey Richards, vgl. Richards, Leben, 38. 41 Vgl. Richards, Leben, 133–146. 42 Gregor selbst verweist in einem Brief an den Erzbischof von Mailand auf sein Agieren als Stadpräfekt im Drei-Kapitel-Streit: „Mit diesen unterschrieb damals auch ich, als ich zur gleichen Zeit die Stadtpräfektur ausübte.“ (Inter quos ego quoque tunc urbanam praefecturam gerens pariter subscripsi.) Greg.‑M. Ep. IV, 2 (CCSL 140, 218, 10 f.). Zur Diskussion der möglichen, aber inhaltlich wohl unwahrscheinlicheren Lesart praeturam s. Richards, Leben, 39 f. 43 Vgl. dazu und zum Folgenden ausführliche Chastagnol, André, La préfecture urbaine à Rome sous le Bas-Empire, Rome 1960 sowie Sachers, Praefectus, 2524–2532 und Dudden, Place I, 102–104. 44 Vgl. C.‑Th. XIII, 5, 38 (Mommsen I/2, 756, 1–757,13). 45 Vgl. Brown, Truesdell S., Gentlemen and Officers. Imperial Administration and Aristocratic Power in Byzantine Italy A. D. 554–800, London 1984, 35. 36
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3 Leben und literarisches Werk Gregors
mit denen er während seines gesamten Pontifikats um Frieden in Italien verhandelte.46 Darüber hinaus machte Gregor durch seine Zusammenarbeit mit Papst Johannes III. (561–574) erste Erfahrungen mit dem istrischen Schisma infolge des Drei-Kapitel-Streits, das ihn sowohl in seiner Zeit als Apokrisiar als auch in seinem Pontifikat weiterhin beschäftigen sollte.47
3.3 Rückzug aus der Welt: Die Klostergründung Schon nach kurzer Amtszeit von etwa einem Jahr48 legte Gregor sein Präfektenamt nieder, da er, wie er selbst schreibt, „die Gnade der Bekehrung schon [zu] lange abgewiesen“49 hatte. Er kehrte der Welt und der Karriere in ihr den Rücken und stiftete aus dem Erbe seines jüngst verstorbenen Vaters sechs Klöster auf Sizilien. In seinem Elternhaus auf dem clivus Scauri innerhalb der römischen Stadtmauern gründete er ein weiteres, in dem er sich selbst niederließ.50 Dieses Kloster lag „neben der Kirche der seligen Märtyrer Johannes und Paulus“51 in direkter Nachbarschaft zu der von Papst Agapet I. (535–536) eingerichteten Bibliothek52 und war dem Apostel Andreas geweiht.53 Wir wissen nicht genau, was der Auslöser zu dieser radikalen Wende im Leben war.54 In der Rückschau benennt er als Vorzüge der Klosterzeit vor allem die Freiheit von weltlichen Sorgen sowie die Ruhe für Gebet und Jenseitsori46 Vgl.
Richards, Leben, 188–201. Markus, World, 125–142 und Richards, Popes, 139–161. 48 In der Regel nimmt man für seinen Klostereintritt das Jahr 574 an, vgl. Dudden, Place I, 107; Evans, Thought, 4; Müller, B., Führung, 25.27. 49 „Diu longeque conuersionis gratiam distuli“ Greg.‑M. Mor. dedic. 1 (CCSL 143, 1.5 f.). 50 Vgl. Lib. pont. 66 (Duchesne 312, 11 f.) und Greg.‑T. Hist. X, 1 (FSGA.A 3, 322, 10–14). 51 „Iuxta beatorum martyrum Iohannis et Pauli ecclesiam situm est“, Greg.‑M. Hom. eu. 38, 16 (CCSL 141, 376, 436 f.), ebenso in 19, 7 (CCSL 141, 149, 162 f.), gemeint ist die Basilika Santi Giovanni e Paolo al Celio, der Nachfolgerbau des Klosters Gregors ist die Kirche Santi Andrea e Gregorio al Monte Celio. Auch sonst verweist Gregor in seinen Werken oft auf sein Kloster, vgl. z. B. Greg.‑M. Dial. III, 36, 1.2 (SC 260, 408, 3 f. 9); Ep. V, 4 (CCSL 140, 269, 9). 52 Zur Bibliothek s. Marrou, Henri-Irénée, Autour de la Bibliothèque du Pape Agapit, MAH 48, 1931, 124–169; zur geographischen Anlage s. die Karte, ebd. 133. 53 Zum Andreas-Patronat des Klosters und der Andreasverehrung im 6. Jahrhundert. s. Müller, B., Führung, 31–40. 54 Gregor selbst beschreibt, wenn auch erst ca. 20 Jahre später, einen Kampf zwischen der „Liebe zur Ewigkeit“ (amor aeternitatis) und der „gewohnten Sitte“ (consuetudo inolita), dem er dank göttlicher „Gnade“ (gratia) schließlich „entfloh“ (fugiens), Greg.‑M. Mor. dedic. 1 (CCSL 143, 1,5–15); zur Parallelität dieses autobiographischen Konversionsberichtes zu den Confessiones des Augustinus s. Dagens, Claude, La „Conversion“ de saint Grégoire le Grand, REAug 15, 1969, 149–162. Über diese spirituelle Perspektive hinaus vermutet Barbara Müller außerdem Taktieren angesichts der sinkenden Stellung des römischen Imperiums und der aufsteigenden Macht der Kirche, vgl. Müller, B., Führung, 25 f. Explizit karriereorientiertes Denken unterstellt Frederick Dudden, s. Dudden, Place I, 105 f. 47 Vgl.
3.3 Rückzug aus der Welt: Die Klostergründung
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entierung. Dinge, die er später im Amt immer wieder vermisste.55 Vor den Stürmen der weltlichen Sorgen durch die Klostermauern und die strikte Ordnung des monastischen Lebens56 vorerst beschützt, gab er sich der Kontemplation hin und richtete sein ganzes Sinnen auf die geistliche Welt aus. Damit hatte er das Thema gefunden, das ihn sein ganzes weiteres Leben begleiten und in Anbetracht der ihm auferlegten Verantwortung auch stets herausfordern würde. Hatte er sich nun vorerst für die vita contemplativa entschieden, so zeigte sich schon bald, dass er an der vita activa nicht vorbeikam. Auch wenn Gregor seine Zeit im Kloster als ruhigen und sicheren Hafen57 beschreibt, so weilte er weder in völliger Einsamkeit als Eremit noch in einer Mönchsgemeinschaft fernab des öffentlichen Lebens. Auf dem clivus Scauri lernte er Asketen aus anderen Regionen Italiens kennen, die ihn in seiner Frömmigkeit und seinem monastischem Ideal prägten.58 Ebenso schloss er hier Freundschaften mit anderen jungen Mönchen, die später in der kirchlichen Hierarchie aufgestiegen sind, z. T. durch sein Einwirken.59 Da das Kloster mitten in Rom lag, ist außerdem mit zahlreichen Besuchern zu rechnen, die über aktuelle (kirchen-)politische Ereignisse berichteten.60 Letztendlich knüpfte Gregor also hier über die kontemplative Ruhe hinaus zahlreiche Kontakte zu Personen, denen er später noch als Papst vertraute und sie an verantwortungsvoller Stelle in kirchliche Leitungsämter einsetzte. Die Übertragung wichtiger Aufgaben war ohne weitergehende Prüfung von Kompetenzen nur möglich, weil Gregor aus der Zeit des Zusammenlebens die jeweiligen Stärken der Mitbrüder kannte und sich darauf verlassen konnte, dass sie ein vergleichbares Ideal verfolgten wie er: eine schlichte asketische Lebensführung, die ausschließlich auf Gott und den Nächsten, nicht aber auf die eigenen Bedürfnisse ausgerichtet ist.
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Vgl. Greg.‑M. Dial. I, prol., 3 (SC 260, 12, 16–24). von Gregor selbst erwähnte Regel des Andreasklosters, vgl. Greg.‑M. Dial. IV, 57, 10 (SC 265, 188, 67 f.), war sicher eine lokale regula mixta und nicht die Regula Benedicti, vgl. Hallinger, Kassius, Papst Gregor der Große und der Hl. Benedikt, in: Steidle, B. (Hg.), Commentationes in Regulam S. Benedicti, StAns 42, Rom 1957, 231–319, auch wenn diese dem Mönchspapst zumindest vom Namen her bekannt war, vgl. Greg.‑M. Dial. II, 36 (SC 260, 242, 6–11), so noch Stuhlfath, Leben, 31 in der Nachfolge des Johannes Diaconus, vgl. Joh.‑Diac. Vit. Greg. IV, 80 (PL 75, 228). 57 Vgl. Greg.‑M. Dial. I, prol. 5 (SC 260, 12, 33–14,45). 58 Besonders die geflohenen Mönche aus der Provinz Valeria, vgl. Greg.‑M. Dial. IV, 22,1 (SC 265, 78, 1–4), die ihn mit der Lehre Equitius’ vertraut machten, vgl. Müller, B., Führung, 42–45 und Hallinger, Papst, 252–257. 59 So etwa Maximianus von Syracus, der ihn mit nach Konstantinopel begleitete, dann zum Abt vom Andreaskloster bestimmt und schließlich von Gregor zum Bischof von Syracus geweiht wurde, vgl. Greg.‑M. Dial. III, 36, 1 (SC 260, 408, 1–8); IV, 33, 1 (SC 265, 108, 1–110, 4) u. ö. 60 Vgl. Müller, B., Führung, 47–49. 56 Die
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3 Leben und literarisches Werk Gregors
Aus dieser Zeit im Kloster resultiert wahrscheinlich Gregors herausragende Kenntnis der biblischen Schriften. Neben dem Bibelstudium wird er sich aber auch der Väterlektüre gewidmet haben,61 wobei ihm die nahegelegene Bibliothek Agapets zugutekam. Über die persönliche Lektüre hinausgehend führte Gregor mit seinen Mitbrüdern auch theologische und exegetische Fachdiskussionen, bei denen im freien Wechsel die eigenen Auslegungen vorgetragen wurden: „Ein gewisser Bruder, der um das Studium der Heiligen Schrift sehr eifrig bemüht war [und] mich im Alter übertraf, lebte mit mir im Kloster und pflegte, mich mit Vielem, was ich nicht wusste, zu erbauen.“62 Auch Gregor referierte seine Studien und profitierte dabei von dem fachlichen Austausch: „Ich weiß nämlich, dass ich meistens Vieles in der Heiligen Schrift, das ich allein nicht verstehen konnte, vor meinen Brüdern stehend verstanden habe.“63 In diesem Rahmen entstand wahrscheinlich auch das früheste literarische Werk Gregors,64 das uns überliefert ist: der Hoheliedkommentar. Die mündlich vorgetragenen Auslegungen wurden stenographisch festgehalten65 und später von Claudius, Abt des Klosters Sancti Iohannis et Stephanis in Classis bei Ravenna,66 ausgearbeitet.67 61 Vgl. die Liste der explizit von Gregor genannten Autoren bei Müller, B., Führung, 22 f., Anm. 87. 62 „Frater quidam me cum est in monasterio conuersatus, in scriptura sancta studiosissimus, qui me aetate praeibat et ex multis quae nesciebam me aedificare consueuerat.“ Greg.‑M. Dial. III, 18, 1 (SC 260, 344, 1–4). 63 „Scio enim quia plerumque multa in sacro eloquio, quae solus intellegere non potui, coram fratribus meis positus intellexi.“ Greg.‑M. Hom. Ez. II, 2, 1 (CCSL 142, 225, 5–7). 64 Den Nachweis der inzwischen allgemein anerkannten Authentizität erbrachte Capelle, vgl. Capelle, Bernard, Les homélies de saint Grégoire sur le cantique, RBen 41 (1929), 204–217. Zur durchaus noch umstrittenen Datierungsfrage s. Müller, S., Fervorem, 11–26.234–238, die das Werk aus inhaltlichen Gründen und aufgrund der Tatsache, dass der päpstliche Notar Paterius keine Kenntnis davon gehabt zu haben scheint, in diese frühe Phase datiert. Ihr folgt Müller, B., Führung, 52–55, dagegen datieren de Vogüé, Adalbert, Les vues de Grégoire le Grand sur la vie religieuse dans son commentaire des Rois, StMon 20 (1978), 17–63, hier: 17–23, und Meyvaert, Paul, The Date of Gregory the Great’s Commentaries on the Canticle of Canticles and on I Kings, SE 23 (1978), 191–216, auf die Jahre 595–598, als Abt Claudius, der Redaktor des Kommentars, sich in Rom aufhielt, vgl. Greg.‑M. Ep. VIII, 18 (CCSL 140A, 538, 2–7). Meiner Meinung nach sind die inhaltliche Nähe zu den Moralia und die asketische Thematik der Kommentierung ernst zu nehmen, so dass auch ich von einer Entstehung des Werkes in den ersten Jahren im Andreaskloster ausgehe. 65 In diesem Sinne ist wohl in der Werküberschrift „exceda“ (CCSL 144, 3, 3) als scheda zu lesen, vgl. Capelle, Homélies, 214–216. 66 Vgl. Greg.‑M. Ep. VIII, 17 (CCSL 140A, 536, 4–6). 67 Vgl. Greg.‑M. Ep. XII, 6 (CCSL 140A, 975, 31–36). Gregor war mit der Arbeit allerdings nicht zufrieden und forderte alle Exemplare zurück, vgl. ebd. 975, 36–42. Welchen Anteil Claudius an dem uns überlieferten Text hatte, ist schwer zu sagen. Bernard Capelle geht von einem sehr geringen Umfang an Änderungen aus: „Cette main [scil. Claudius] fut discrète. La marque grégorienne se reconnaît, on l’a vu, à chaque ligne des deux homélies, jusqu’aux plus simples détails de pensée et d’expression.“, Capelle, Homélies, 216, Paul Meyvaert sieht in dem überlieferten Text sogar die reine Rohfassung ohne Einflussnahme des Claudius, vgl. Meyvaert, Date, 213.
3.4 Beginn des kirchlichen Werdegangs: Diakonat und Apokrisiat
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In seinem Kommentar legt Gregor nach einer ausführlichen Reflexion seiner exegetischen Methode die ersten acht Verse68 des Hoheliedes aus und stellt dabei die als Braut gedeutete Seele in den Mittelpunkt, die beständig nach Gott sucht.69
3.4 Beginn des kirchlichen Werdegangs: Diakonat und Apokrisiat Auch jenseits der Klostermauern blieben Gregors Begabungen nicht unentdeckt: Nach nur wenigen Jahren wurde Gregor 579 von Papst Benedikt I. (575–579) aus dem Kloster gerufen und zum Diakon geweiht.70 Kurze Zeit später verließ er das vertraute Rom, um in Konstantinopel als Apokrisiar am Hof des Tiberius die römische Kirche zu vertreten. Nach Beendigung des akakianischen Schismas haben die Päpste wieder regelmäßig und auf Dauer Diakone als diplomatische Repräsentanten an den Kaiserhof gesandt.71 Justinian hat Wert auf eine möglichst schnelle und direkte Kommunikation mit den Kirchenführern gelegt, ohne dabei die Würdenträger selbst in der Hauptstadt zu versammeln, was angesichts der Rivalität unter den Patriarchaten72 gut nachvollziehbar ist. Obendrein 68 Neben der Datierungsfrage ist auch umstritten, ob der Kommentar ursprünglich das gesamte Hohelied auslegte und lediglich unvollständig überliefert wurde, so u. a. Verbraken, Pierre-Patrick, Introduction, in: ders. (Hg.), Sancti Gregorii Magni Expositiones in canticum canticorum in librum primum regum. CCSL 144, Turnhout 1963, VII–XI, hier: VIII und Bélanger, Rodrigue, Introduction, in: ders. (Hg.), Grégoire le Grand, Commentaire sur le Cantique des Cantiques, SC 314, Paris 1984, 11–64, hier: 21 f., oder ob Gregor die Auslegung nach Hld 1,8 abbrach, weil er durch die Berufung nach Konstantinopel an der Fortführung gehindert wurde, oder sich die Thematik ohnehin bereits erschöpft hatte, so Müller, S., Fervorem, 230–237, die überzeugende text- und werkimmanente Argumente anführt. Wahrscheinlich ist also davon auszugehen, dass Gregor zwar ursprünglich eine vollständige Kommentierung geplant hatte, diese dann aber im Verlauf seiner Vorträge vorzeitig abbrach. 69 Vgl. Kap. 5.1. 70 Vgl. Greg.‑T. Hist. X, 1 (FSGA.A 3, 322, 16 f.); P.‑Diac. Vit. Greg. 7 (Tuzzo 10, 83–88); Joh.‑Diac. Vit. Greg. I, 25 (PL 75, 72). Den Namen des Papstes überliefert nur Johannes Diaconus, dessen historische Verlässlichkeit nicht groß ist. Insofern käme auch Pelagius II. (579– 590) infrage, der in seinem Pontifikat eng mit Gregor zusammenarbeitete. Dem Argument, dass Gregor und Paulus Diaconus das Diakonat und das Amt des Apokrisiar „sozusagen in einem Atemzug erwähn[en]“ (Müller, B., Führung, 66, ähnlich auch Richards, Leben, 45) kann ich nicht ganz folgen. Zwischen der ersten Erwähnung des kirchlichen Dienstes und dem Aufenthalt in Konstantinopel liegen im heutigen Druckbild immerhin 17 Zeilen (vgl. Greg.‑M. Mor. dedic. 1 [CCSL 143, 1, 17–2,32]) und Paulus Diaconus bestätigt selbst, dass Gregor „nicht viel später“ (nec multo post, P.‑Diac. Vit. Greg. 7 [Tuzzo 10, 83–88]), also gerade nicht im selben Zuge nach Ostrom geschickt wurde. Insofern sehe ich keinen zwingenden Grund, Johannes Diaconus keinen Glauben zu schenken, auch wenn völlige Sicherheit bei keiner der Alternativen gewonnen werden kann. 71 Vgl. Richards, Popes, 293. Otto Treitinger verknüpft die erneute dauerhafte Institution des päpstlichen Apokrisiars mit Justinian, vgl. Treitinger, Otto, Art.: Apocrisiarius, RAC 1 (1950), 501–504, hier: 502. 72 Das beweist u. a. der spätere universalis-Streit Gregors mit Johannes dem Faster, dem Patriarchen von Konstantinopel.
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3 Leben und literarisches Werk Gregors
stellte jede längere Abwesenheit eines Bischofs eine erhebliche Gefahr für die Sicherheit und Ordnung der Heimatdiözese dar.73 Die zentrale Aufgabe des römischen Apokrisiars war es, Informationen zwischen Kaiser und Papst zu übermitteln. Dafür war neben rhetorischen und diplomatischen Fähigkeiten auch eine theologische Kompetenz gefordert, denn die christologischen Debatten waren in Konstantinopel ebenso wie in Italien im Rahmen des Drei-Kapitel-Streits noch immer in vollem Gange. Die größte Umstellung bedeutete für Gregor aber sicherlich der Umgang am Hofe. Während in Rom kaum noch machtvolle Adelsfamilien zu finden waren, traf er in der neuen Hauptstadt auf einflussreiche Männer und Frauen, deren Hierarchien beachtet und Eitelkeiten bedient werden wollten. Auch die Lebensumstände in Rom und Konstantinopel konnten unterschiedlicher nicht sein.74 Rom war in den zurückliegenden zwei Jahrhunderten mehrfach von Völkern auf der Suche nach neuen Siedlungs- und Herrschaftsgebieten bedroht worden und war nun den Langobarden beinahe schutzlos ausgeliefert.75 Demgegenüber war Konstantinopel eine pulsierende Großstadt. Seit seiner Gründung im 4. Jahrhundert hatte es sich stets an der westlichen Schwester orientiert. In Sachen Einwohnerzahl, Gebäudegröße und auch politischer Bedeutung hatte es diese schließlich unter Justinian76 sogar überflügelt.77 Entsprechend prunkvoll gestaltete sich der Lebenswandel am Kaiserhof auch für die zahlreichen Diplomaten.78 Sieben Jahre lang lebte und wirkte Gregor am Bosporus und knüpfte dabei Kontakte mit Mächtigen in Staat und Kirche weit über den Bereich des Westreiches hinaus. In Konstantinopel war noch lange Zeit die lateinische Sprache verbreitet und insofern konnte er seine Muttersprache auch in der Ferne nutzen.79 Dennoch wurde in der Forschung häufig die Frage nach Gregors Griechischkenntnissen gestellt, die lange nicht verebben wollte.80 Inzwischen scheint sich folgender Konsens abzuzeichnen: Gregor beherrschte die griechische Sprache 73
Vgl. Iust. Nouell. 6, 2 (CIC III, 40, 6–41, 21). Zum Vergleich der beiden Städte vom 4. bis 6. Jahrhundert. s. Ward-Perkins, Rome. 75 Vgl. Kap. 2.1. 76 Zu bedeutenden Bauwerken in Konstantinopel zur Zeit Justinians s. Proc. Aed. I (Veh Bd. 5, 16–79). 77 Vgl. noch einmal Ward-Perkins, Rome. 78 Vgl. die malerische Beschreibung Konstantinopels zur Zeit des Aufenthaltes Gregors bei Dudden, Place I, 123–139. 79 Vgl. Petersmann, Hubert, Quid S. Gregorius Magnus Papa romanique eius aetatis de lingua sua senserint, in: Gregorio Magno e il suo Tempo, Bd. II: Questioni letterarie e dottrinali, SEAug 34, Rom 1991, 137–148, hier: 144 f. 80 Zur Kritik an der anachronistischen und zu isolierten Fragestellung vgl. Brown, Peter, Eastern and Western Christendom in Late Antiquity: A Parting of the Ways, in: Baker, D. (Hg.), The Orthodox Churches and the West. Papers Read at the Fourteenth Summer Meeting and the Fifteenth Winter Meeting of the Ecclesiastical History Society, Oxford 1976, 1–24, hier: 5 f. und Müller, B., Führung, 69. 74
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zumindest in Grundzügen, auch wenn er das Lateinische stets favorisierte.81 Die einschlägigen Bemerkungen aus seinem Briefwerk82, die die These der völligen Unkenntnis überhaupt erst aufkommen ließen,83 sind patriotisch-polemischer Natur84 oder können als „confessio humilitatis“85 in Anlehnung an seinen großen Lehrer Augustin86 verstanden werden. Unabhängig von der Frage nach der verwendeten Sprache ist aber sicherlich ein starker Austausch mit der östlichen Theologie und Kultur anzunehmen,87 zumal sich Osten und Westen noch lange nicht so stark auseinanderentwickelt hatten, wie oft angenommen wird.88 Am kaiserlichen Hof kam Gregor in Kontakt mit zahlreichen östlichen Bischöfen89, die ihn in Bezug auf seine zukünftigen Aufgaben als kirchliche Führungsperson prägten. Insbesondere ihre Verknüpfung vom Ideal des asketisch-kontemplativen Lebenswandels mit der Übernahme von Verantwortung in Politik und Kirche inspirierte ihn:90 Mit Eutychius von Konstantinopel (552–565; 577–582)91 und Eulogius von Alexandrien (581–607) traf er auf Bischöfe, die trotz ihres Amtes die monastische Lebensform beibehielten. Johannes der Faster, der Patriarch von Konstantinopel (582–595), war zwar kein Mönch, übte aber eine strenge Askese.92 In Domitian von Melitene (580–602) lernte der römische Apokrisiar einen in höchsten po81 Zu diesem Ergebnis kommen, obwohl jeweils unterschiedliche gute Sprachkenntnisse angenommen werden, Petersen, Joan, Did Gregory the Great know Greek, in: Baker, D. (Hg.), The Orthodox Churches and the West. Papers Read at the Fourteenth Summer Meeting and the Fifteenth Winter Meeting of the Ecclesiastical History Society, Oxford 1976, 121–134, hier: 133; Petersen, Joan, „Homo omnino Latinus“? The Theological and Cultural Background of Pope Gregory the Great, Spec. 62 (1982), 529–551, hier: 529; Petersmann, Lingua, 141 und Bartelink, Gerhard J. M., Pope Gregory the Great’s Knowledge of Greek, in: Cavadini, J. (Hg.), Gregory the Great. A Symposium, NDST 2, Notre Dame et al. 2001, 117–136, hier: 129. Kessler, St., Exeget, 158–166 und Müller, B., Führung, 68–74 fassen in ihren Exkursen zum Thema die bereits bekannten Argumente zusammen. 82 Greg.‑M. Ep. III, 63 (CCSL 140, 214, 20–22); Ep. VII, 29 (CCSL 140, 487, 6 f.); Ep. XI, 55 (CCSL 140A, 960, 24 f.). 83 Dies behauptete als erster Johannes Diaconus in seiner Gregorvita: „Denn dass er die griechische Sprache nicht kannte, bezeugt er selbst.“ (Siquidem quod Graecam linguam nescierit, ipse testator.) Joh.‑Diac. Vit. Greg IV, 81 (PL 75, 228). 84 So etwa die Weigerung Gregors, den griechischen Brief der römischen Dominica zu beantworten, Greg.‑M. Ep. III, 63 (CCSL 140, 214, 20–22). 85 Petersen, Greek, 127. 86 Aug. Conf. 1, 13 f. (CCSL 27, 11,1–13,20). 87 Eine umfassende Untersuchung der östlichen Einflüsse auf das Werk Gregors steht noch immer aus, in Bezug auf die Dialoge hat Joan Petersen in ihrer Dissertation Traditionen und Quellen herausgearbeitet, vgl. Petersen, Joan, The Dialogues of Gregory the Great in their Late Antique Cultural Backround, Toronto 1984. 88 Vgl. u. a. Brown, Christendom. 89 Zu den einzelnen Personen vgl. Müller, B., Führung, 79–99. 90 Vgl. Phot. Cod. nomoc. 230 (Henry V, 53, 37–54, 44) und Müller, B., Führung, 109. 91 Hier und im Folgenden ist jeweils der Zeitraum des Episkopats angegeben. 92 Gregor kritisierte diese später als übertrieben und demonstrativ, vgl. Greg.‑M. Ep. V, 41 (CCSL 140 323, 98–324, 115).
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litischen Ebenen agierenden Bischof kennen, der von großem missionarischem Eifer, aber auch realpolitischem Pragmatismus getrieben war. Neben den Kirchenführern des Ostens lernte Gregor während seines Aufenthaltes am Kaiserhof auch Leander von Sevilla (575–600) kennen, mit dem ihn bis zu dessen Tod eine enge Freundschaft verband.93 Dieser war ebenso mit der Bitte um militärische oder finanzielle Unterstützung für die krisengeschüttelte Heimat an den Kaiserhof gereist.94 Beide einte eine monastische Orientierung und das Interesse an asketisch-moralischer Exegese, wie Leanders Wunsch nach der Auslegung des Hiobbuches zeigt.95 Gregor behielt auch am kaiserlichen Hof seine monastisch-asketische Lebensform bei. Zu diesem Zweck begleiteten ihn einige Brüder aus dem Andreaskloster.96 Einzig Maximianus, der spätere Abt jenes Klosters und nachmalige Bischof von Syracus, ist uns namentlich bekannt.97 In diesem Kreis suchte Gregor Ausgleich von dem geschäftigen Treiben am Hofe. An Leander von Sevilla schreibt der Papst Jahre später, dass ihm die gemeinsame Zeit des Gebetes und des Schriftstudiums ein sicherer Hafen in den turbulenten Stürmen der weltlichen Arbeit gewesen sei.98 Tatsächlich ist die intensive Beschäftigung mit biblischen Schriften noch heute zu greifen, entstanden doch in diesem Rahmen die Vorträge, die die erste redaktionelle Stufe seiner Moralia in Iob darstellen.99 Seine Mitbrüder und gerade Leander, dem er das Werk widmete, hatten Gregor um eine Auslegung des Hiobbuches gebeten: „Damals gefiel es diesen Brüdern mit Dir als treibender Kraft, wie Du Dich selbst erinnerst, mich mit ungestümer Bitte anzutreiben, das Buch des seligen Hiob auszulegen, und ich tat ihnen, so wie die Wahrheit [mir] Kräfte einströmen ließ, die Geheimnisse so großer Tiefe kund.“100
93 Neben dem Widmungsschreiben der Moralia in Iob sind außerdem noch drei Briefe Gregors an Leander überliefert, in denen er stets sehr vertraut mit ihm spricht: Greg.‑M. Ep. I, 41(CCSL 140, 47–49); Ep. V, 53 (CCSL 140, 348); Ep. IX, 228 (CCSL 140A, 802–805). 94 Der zur großkirchlichen Orthodoxie konvertierte Königssohn der Westgoten, Hermenigild, ersuchte den römischen Kaiser um Unterstützung im Kampf gegen seinen arianischen Vater, König Leovigild, vgl. Greg.‑T. Hist. V, 38 (FSGA.A 2, 350,22–30). Gregor der Große stellt den Aufstand Hermenigilds als theologisch-missionarisch motiviert dar, vgl. Greg.‑M. Dial. III, 31, 2–4 (SC 260, 384, 7–386, 35). Die Intention mag aber wohl doch eher politischer Art gewesen sein, vgl. Markus, World, 166. 95 Vgl. Greg.‑M. Mor. dedic. 1 (CCSL 143, 2, 46–50). 96 Vgl. Greg.‑M. Mor. dedic. 1 (CCSL 143, 2, 33 f.). 97 Pelagius II. hatte ihn 584 vorzeitig nach Rom zurückberufen, um ihm die Leitung des Klosters zu übertragen, s. Pelag. II. Ep. Greg. (MGH.EP 2, App. II 441, 11–13), vgl. auch Greg.‑M. Hom. eu. 34, 18 (CCSL 141, 317, 476–478) und Dial. III, 36, 1 f. (SC 260, 408, 1–9). 98 Vgl. Greg.‑M. Mor. dedic. 1 (CCSL 143, 2, 34–43). 99 Zur Redaktiongeschichte des Werkes vgl. Kap. 5.6. und 5.6.1. 100 „Tunc eisdem fratribus etiam cogente te placuit, sicut ipse meministi, ut librum beati Iob exponere importuna me petitione compellerent et, prout ueritas uires infunderet, eis mysteria tantae profunditatis aperirem.“ Greg.‑M. Mor. dedic. 1 (CCSL 143, 2, 43–46).
3.5 Im Dienst für die Heimatkirche: Rückkehr und Papstwahl
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In seinem umfangreichsten Werk, das 35 Bücher in sechs Kodizes umfasst, legte Gregor seinem illustren Publikum101 das ganze Hiobbuch aus, wobei er auf Wunsch der Zuhörenden den Schwerpunkt auf den moralischen Sinn legte.102 Neben den Vorträgen über das Hiobbuch verfasste Gregor in seiner Zeit in Konstantinopel außerdem für Papst Pelagius II. ein christologisches Traktat, das die schismatischen Bischöfe in Istrien und Norditalien überzeugen sollte, in den Schoß der römischen Kirche zurückzukehren.103
3.5 Im Dienst für die Heimatkirche: Rückkehr und Papstwahl Gregor kehrte wohl erst um das Jahr 585104, gewiss aber vor 587,105 nach Rom zurück. Über die Zeit zwischen seiner Rückkehr nach Rom und seiner Papstwahl 590 ist sehr wenig bekannt. Er stand als Diakon weiterhin im Dienst von Pelagius II.106 Sicher war er nicht gleichzeitig Abt, wie Johannes Diaconus behauptet.107 Dieses Amt hatte nämlich von 584108 bis 590/1109 sein Mitbruder und Vertrauter Maximianus inne.110 590 hatte sich die Situation in Italien dramatisch verschlechtert: Nach dem Ende des Waffenstillstandes mit den Langobarden war der Krieg 587 wieder 101 Neben den mitgereisten Andreasmönchen und Leander zählten dazu wahrscheinlich noch Personen aus kirchlicher und höfischer Elite, vgl. Müller, B., Führung, 99–101 und Greschat, Moralia, 28–30. 102 Vgl. Greg.‑M. Mor. dedic. 1 (CCSL 143, 2, 46–50). 103 Paul Meyvaert hat mit einer sprachlichen Untersuchung den letzten der drei überlieferten Briefe Pelagius’ II. an die istrischen Bischöfe (Pelag. II. Ep. Episc., MGH.EP. 2, App. III, 442–467) Gregor zuordnen können, vgl. Meyvaert, Letter. 104 In diesem Jahr schloss Exarch Smaragdus eine dreijährige Waffenstille mit den Langobarden, vgl. P.‑Diac. Hist. Lang. 3, 18 (Schwarz 201 f.). Damit war Gregors Auftrag, den Kaiser um Schutz vor den Langobarden zu bitten, erfüllt oder hatte sich zumindest erledigt. Vielleicht stellte das die Gelegenheit zur Rückkehr für Gregor dar, der sich nach der klösterlichen Ruhe sehnte. 105 Vgl. die Schenkungsurkunde an das Andreaskloster im Dezember 587, Greg.‑M. Ep. App. 1 (MGH.Ep. II, 437–439). 106 Vgl. Greg.‑T. Hist. X, 1 (FSGA.A 3, 322, 9). 107 Vgl. Joh.‑Diac. Vit. Greg. I, 6 (PL 75, 65). Diese klassische Sichtweise hat Hans Suso Brechter widerlegt, vgl. Brechter, Hans Suso, War Gregor der Große Abt vor seiner Erhebung zum Papst?, SMGB 57 (1939), 209–224. Seine Schlussfolgerung, Gregor sei überhaupt nicht ins Kloster zurückgekehrt, sondern habe zum „Weltklerus“ gehört (vgl. Brechter, Abt, 220), legt eine unrealistisch strikte Trennung zugrunde. Immerhin hatte Gregor auch als Diakon und Apokrisiar in Konstantinopel in monastischer Gemeinschaft gelebt und bezeugte diese Lebensform auch noch als Papst, vgl. z. B. Greg.‑M. Ep. III, 50 (CCSL 140, 195, 2). 108 Vgl. Pelag. II. ep. (MGH.EP 2, App. II 441, 11–13). 109 Vgl. Greg.‑M. Ep. App. II (CCSL 140A, 1094, 2–4) und Ep. II,5 (CCSL 140, 93). 110 Dudden versucht auf abenteuerliche Weise, dennoch ein Abbatiat Gregors mit dieser Sachlage zu vereinen: „His predecessor, the Maximianus of the stormy voyage, doubtless resigned in his favour, feeling himself unfit to be the superior of one who in knowledge, practical ability, and personal sanctity was so far beyond him“, Dudden, Place I, 187.
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3 Leben und literarisches Werk Gregors
ausgebrochen. Neben dem fremden Volk fügte auch das kaiserliche Heer den Einheimischen erhebliches Leid zu, indem es den ausstehenden Sold durch Brandschatzungen direkt von der Bevölkerung stahl.111 Obendrein schien sich auch die Natur gegen Rom verschworen zu haben: Nach erheblichen Dürren mit daraus resultierenden Missernten folgte 589 eine große Überschwemmung, die die halbe Stadt unter Wasser setzte und auch die kirchlichen Getreidesilos zerstörte.112 Infolge der Überschwemmungen breitete sich erneut die Justinianische Pest aus, der am 7. Februar 590 auch Papst Pelagius II. (579–590) zum Opfer fiel.113 Als Nachfolger wurde Gregor auf die Cathedra von Rom erhoben, der in der Stadt als ehemaliger Präfekt und einer der aktuellen Diakone bestens bekannt war und sich als Apokrisiar am Kaiserhof bewährt hatte.114 Wie so häufig in der Kirchengeschichte wird auch von Gregor eine versuchte Amtsflucht berichtet:115 Gregor von Tours weiß von einem Brief Gregors an den Kaiser Mauricius mit der Bitte, die Papstwahl nicht zu bestätigen.116 Das Schreiben wurde allerdings vom Stadtpräfekten abgefangen.117 Die englische Vita aus Whitby schildert die buchstäbliche Flucht: Trotz konsequenter Bewachung der Stadttore gelang es Gregor, in einem Korb verborgen aus der Stadt geschmuggelt zu werden. Doch sein Versteck im Wald wurde durch eine gleißende Lichtsäule verraten, so dass er sich schlussendlich dem so eindrücklich bewiesenen Willen Gottes beugte.118 Sicherlich ist derart Legendarisches mit Vorsicht zu behandeln, dennoch finden sich im Gesamtwerk Gregors immer wieder Anhaltspunkte für seine anfängliche Amtsskepsis.119
111
Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 3 (CCSL 140, 4, 15–17). Greg.‑T. Hist. X, 1 (FSGA.A 3, 320, 32–322, 2) und Greg.‑M. Dial. III, 19, 2 (SC 260, 346, 7–11). 113 Vgl. Greg.‑T. Hist. X, 1 (FSGA.A 3, 322, 5–7). Zur Justinianischen Pest vgl. Meier, Zeitalter, 373–387. 114 In der Zeit war das Apokrisiariat eine übliche Sprosse der Karriereleiter zum Papstamt, vgl. Richards, Popes, 293 f. 115 Zum Topos der Amtsflucht vgl. Müller, Barbara, Antrittsvorlesung: Amtsflucht – eine Option?, Universität Hamburg, 14. Juni 2009, http://www.theologie.uni-hamburg.de/ikd/ mueller_antrittsvorlesung.pdf, Download 16.07.2013, 12:45Uhr. 116 Die Bestätigung der Papstwahl durch den Kaiser war in der Zeit üblich, Gregors Vorgänger Pelagius II. war eine Ausnahme, vgl. Lib. pont. 65 (Duchesne 309, 1 f.), vgl. Richards, Popes, 166 f. 117 Vgl. Greg.‑T. Hist. X, 1 (FSGA.A 3, 322, 29–35), zur Person des Stadtpräfekten s. o. Kap. 3.1. 118 Vgl. Anon.Whitby Vit. Greg. 7 (Colgrave 84–86). 119 Vgl. u. a. Greg.‑M. Ep. I, 3 (ChrSL 140, 3, 2–13); Ep. II, 40 (CCSL 140, 128, 26–51) und Dial. I, Prol. 1–6 (SC 260, 10,1–14,53). 112 Vgl.
3.6 Das Pontifikat
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3.6 Das Pontifikat Obwohl im täglichen Amtsgeschäft sein Geist „mit dem Staub irdischer Tätigkeiten besudelt [wurde]“120, fand Gregor dennoch in den ersten Jahren nach seiner Bischofsweihe am 3. September 590121 die Zeit zur literarischen Tätigkeit. Mit seiner zwischen September 590 und Februar 591122 verfassten Pastoralregel, einem Handbuch zur rechten Kirchenführung, antwortet er seinem Mitbischof Johannes II. von Ravenna123, der ihm vorgeworfen hatte, sich den kirchlichen Aufgaben entziehen zu wollen.124 Zur gleichen Zeit, von November 590 bis Februar 592, hielt Gregor außerdem „vor dem Volk“125 seine Evangelienhomilien. Die überarbeitete Fassung der zwei Bücher umfassenden Sammlung126 wurde einerseits Secundinus, dem Bischof von Taormina, übersandt. Andererseits wurde eine offizielle Ausgabe im päpstlichen Archiv verwahrt, da bereits unautorisierte und unkorrigierte Kopien im Umlauf waren,127 ein Problem, das Gregor auch an anderer Stelle beklagte.128 In den folgenden gut anderthalb Jahren verschärfte sich die Gefahr durch die Langobarden, die inzwischen den Korridor zwischen Ravenna und Rom erobert hatten. Da die kaiserlichen Truppen noch immer nicht ausreichend zur Verfügung standen und nicht gebührend versorgt wurden, trat Gregor in direkte 120
„terreni actus puluere foedatur“ Greg.‑M. Dial.I, Prol. 4 (SC 260, 12, 27). große Zeitspanne zwischen Wahl und Weihe ist bedingt durch die ausstehende Bestätigung durch den Kaiser, die aufgrund der Zeitumstände auf sich warten ließ. 122 Er selbst datiert das Werk in einem Brief aus dem Jahr 595 an Leander von Sevilla auf den Anfang seines Episkopats (in episcopatus mei exordio), Greg.‑M. Ep. V, 53 (CCSL 140, 348, 7). Seinem Synodalschreiben von Februar 591 liegt die Pastoralregel bereits als Quelle zugrunde, vgl. Judic, Bruno, Introduction, in: ders. et al. (Hgg.), Grégoire le Grand. Règle Pastorale I, SC 381, Paris 1992, 15–102, hier: 21 f. 123 Gregor nennt seinen Adressaten nur mit dem Vornamen: „reverentissimo et sanctissimo fratri Ioanni coepiscopo“ Greg.‑M. Past. Prol. (SC 381, 124, 1 f.). Die ebenso mögliche Identifikation mit Johannes IV. von Konstantinopel ist weniger wahrscheinlich, vgl. Müller, B., Führung 119–123. 124 Vgl. Greg.‑M. Past. Prol. (SC 381, 124, 3–9) und Past. IV (SC 382, 540, 86 f.). 125 „Coram publico“, Greg.‑M. Hom. eu. dedic. (CCSL 141, 1, 9). Da Gregor die Predigten in verschiedenen Kirchen hielt, sind die Adressatenschaften keinesfalls einheitlich. Nur hier und da gibt Gregor klare Hinweise auf seine Zuhörer, wie etwa in Homilie 17, die er an Bischöfe richtete, vgl. Greg.‑M. Hom. eu 17, 3 (CCSL 141, 118, 33). Vgl. auch Fiedrowicz, Michael, Einleitung, in: Gregor der Große, Homiliae in Evangelia/Evangelienhomilien. Übersetzt und eingeleitet von Michael Fiedrowicz, FC 28/I, Freiburg 1997, 1–43, hier: 28 f. 126 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. dedic. (CCSL 141, 1, 14–2, 34). Raymond Étaix geht von zwei Überarbeitungen des ersten Buches aus, vgl. Étaix, Raymond, Introduction, in: ders. (Hg.), Sancti Gregorii Magni Homiliae in Evangelia, CCSL 141, Turnhout 1999, I–LXXIV, hier: XIf. 127 Greg.‑M. Hom. eu. dedic. (CCSL 141, 1, 10–14). 128 Vgl. Greg.‑M. Ep. XI, 55 (CCSL 140A, 959, 18–960, 28) und Ep. XII, 6 (CCSL 140A, 975, 38–42.45- 976, 68) u. ö. 121 Die
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3 Leben und literarisches Werk Gregors
Verhandlungen mit Ariulf, dem langobardischen Herzog von Benevent.129 Durch die Zahlung einer stattlichen Summe gelang es dem Papst, die feindlichen Truppen von Rom abzuwenden. Allerdings reagierte der übergangene Exarch darauf mit dem Abzug der restlichen kaiserlichen Soldaten aus der Stadt und der Rückeroberung der Korridorgebiete. Daraufhin schaltete sich ab Sommer 593 der langobardische König Agilulf ein und zog von nun an die unterschiedlichen Stämme und ihre Truppen zusammen und koordinierte sie.130 Im Angesicht dieser Bedrohung widmete sich Gregor in seiner homiletischen Betätigung erneut einer einzelnen biblischen Person – dem Propheten Ezechiel. Die zwölf Homilien des ersten Buches über Ez 1,1–4,3 entstanden im Spätsommer 593, noch bevor Agilulf im Oktober oder November131 den Po überschritt und gegen Rom vorrückte. Dahingegen zeugen die zehn Predigten des zweiten Buches über Ez 40,1–47, allen voran die praefatio, schon deutlich von der akuten Gefahr.132 Die Auslegung der großen Tempelvision Ezechiels bricht Gregor letztendlich nach Ez 40,47 ab, da ihm angesichts der Kriegssituation andere Tätigkeiten dringlicher erschienen.133 Ähnlich wie bei der Auslegung des Hiobbuches wurde auch bei diesem Werk der auszulegende Text vom Publikum, vornehmlich den Andreasmönchen, gewünscht, vor denen Gregor den zweiten Zyklus hielt.134 Einem weiteren Wunsch der Mitmönche ging Gregor zur selben Zeit nach: Im Juli 593 bat er Maximianus, den Bischof von Syrakus, um Material für eine Sammlung von Wundern italischer Gottesmänner.135 Während das zweite Buch der Dialoge ausschließlich von Benedikt von Nursia berichtet, versammelt Gregor im ersten und dritten Buch Taten und Wunderberichte von unterschiedlichsten
129
Vgl. Greg.‑M. Ep. II, 38 (CCSL 140, 123, 10–15). Vgl. P.‑Diac. Hist. Lang. IV, 8 (Schwarz 226). 131 Vgl. Kessler, St., Exeget, 70. 132 „Weil es durch viele bedrückende Sorgen nicht möglich war, vor Eurer Liebe das Buch des Propheten Ezechiel gänzlich der Reihe nach zu untersuchen, gefiel es euren guten Wünschen zu verlangen, dass wenigstens seine letzte Vision […] ausgelegt werden müsste. Zwar ist es nötig, dass ich eurem Wunsch gehorche, aber es gibt zwei Dinge, die in dieser Sache meinen Geist stören: […] Zweitens, weil wir wissen, dass Agilulf, der König der Langobarden, zu unserer Belagerung in äußerster Eile den Po bereits überschritten hat.“ (Quia multis curis prementibus, Hiezechihelis prophetae librum coram caritate uestra totum per ordinem perscrutari non licuit, bonis uestris desideriis placuit petere ut saltem extrema eius uisio, […] exponi debuisset. Et quidem uoluntati uestrae me parere necesse est, sed duo sunt quae hac in re perturbant animum meum. […] Aliud, quod iam Agilulphum Langobardorum regem ad obsidionem nostram summopere festinantem Padum transisse cognouimus.) Greg.‑M. Hom. Ez. II, praef. (CCSL 142, 205, 1–12). 133 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez II, 10, 24 (CCSL 142, 397, 607–398, 630). 134 Vgl. die Anrede als fratres, Greg.‑M. Hom. Ez II, praef (CCSL 142, 205, 12); II, I, 18 (CCSL 142, 223, 572) u. ö. Mit Barbara Müller ist außerdem von weiteren Mönchen aus anderen Klöstern auszugehen, s. Müller, B., Führung, 255 f. 135 Vgl. Greg.‑M. Ep. III, 50 (CCSL 140, 195, 1–196, 11). 130
3.6 Das Pontifikat
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Personen. Das vierte Buch, das wohl den ältesten Kern des Werkes darstellt,136 ist ausschließlich eschatologischer Thematik gewidmet.137 Aus den weiteren Jahren seines Pontifikats sind keine literarischen Werke Gregors überliefert.138 Dies hat vielfältige Gründe: Einerseits hielten ihn die Alltagsgeschäfte in Kirchenleitung und Politik davon ab.139 Davon zeugt auch der Großteil der ca. 850 überlieferten Briefe Gregors, wovon allein 240 in seinem neunten Jahr im Amt entstanden.140 Zum anderen widmete er sich nun verstärkt der Redaktion seiner bisherigen Werke: So schickte er 595 die überarbeiteten Moralia in Iob an Leander nach Sevilla, wobei zwei der Kodizes noch immer zur Abschrift bei den Kopisten lagen.141 Nach eigenen Angaben redigierte er außerdem seine Evangelienhomilien und stellte sie nach ihrer Vortragsart zusammen.142 Seine Predigten über Ezechiel brachte er 601, also erst acht Jahre nach ihrer Entstehung in ihre Endfassung.143 Auch seinem Erstlingswerk, dem Hoheliedkommentar, und anderen exegetischen Werken144 wollte sich Gregor noch widmen. Ob er dieses Unterfangen wegen des unerwartet großen Arbeitsaufwandes145 gänzlich aufgab oder schlichtweg nicht mehr dazu kam, muss offenbleiben. Obendrein wurde Gregor auch durch seinen schlechten Gesundheitszustand in seiner Tatkraft eingeschränkt. Bereits zu Beginn seines Pontifikats hatte er über Magenprobleme geklagt,146 die ihn sogar an einer regelmäßigen Predigttätigkeit 136 Vgl. de Vogüé, Adalbert, Grégoire le Grand. Dialogues, Bd. 1: Introduction, Bibliographie et Cartes, SC 251, Paris 1978, 29 und Müller, B., Führung, 227. 137 Die These Francis Clarks, die Dialoge seien eine nachträgliche pseudepigraphische Zusammenstellung und Erweiterung von z. T. unveröffentlichten Texten Gregors, ist äußerst gewagt und durch die Quellen keinesfalls abgesichert. Insofern hat sie sich in der Forschung zu Recht nicht durchgesetzt hat, vgl. Clark, Dialogues I+II sowie u. a. Müller, B., Führung, 87 und Kessler, Stephan, Das Rätsel der Dialoge Gregors des Großen: Fälschung oder Bearbeitung? Zur Diskussion um ein Buch von Francis Clark, ThPh 65 (1990), 566–578. 138 Zur Frage nach der Autorenschaft des Kommentars zu 1 Sam s. o. Kap. 1. 139 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez II, praef. (CCSL 142, 205, 10–21). 140 Den äußerst günstigen Überlieferungsstand dieses Jahres legt Markus seiner Spekulation über die Menge von mind. 1380 nichtüberlieferten Briefen zugrunde, vgl. Markus, World, 206. 141 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 53 (CCSL 140, 348, 10–12). Spielt Greg.‑M. Mor. XXVII, 21 (CCSL 143B, 1346, 68–70) tatsächlich auf die seit 596 begonnene Angelsachsenmission an, scheint eine weitere Überarbeitung des Werkes wahrscheinlich, vgl. Müller, B., Führung 102 f. 142 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. dedic (CCSL 141, 1, 14–2, 11). Das Widmungsschreiben und damit der Zeitpunkt der Überarbeitung ist nicht genau zu datieren, der Adressat, Secundinus, war 591–603 Bischof in Taormina, vgl. Pietri, Charles/Pietri, Luce, Prosopographie Chrétienne du Bas-Empire, Bd. 2: Italie, 2 Teilbde., Rom 1999–2000, hier: 2/II, 2010–2014. 143 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, praef. (CCSL 142, 3, 3–8). 144 Vgl. Greg.‑M. Ep. XII, 6 (CCSL 140A, 975, 31–36). Neben dem Hoheliedkommentar werden hier außerdem Werke über das Proverbienbuch, die Prophetenbücher, die Königebücher und den Heptateuch genannt, die aber nicht überliefert sind. 145 Gregor findet den Sinn seiner Worte in der Arbeit des Claudius „bis zur Unbrauchbarkeit verändert“ (ualde inutilius fuisse permutatum), Greg.‑M. Ep. XII, 6 (CCSL 140A 975,37 f.). Zur ehemals vorgeschlagenen Konjektur in utilius s. Capelle, Homélies, 204 f. 146 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. 21, 1 (CCSL 141, 173, 15–174, 16); 22, 1 (CCSL 141, 181, 1–4);
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3 Leben und literarisches Werk Gregors
hinderten.147 Seit 598 litt er zusätzlich noch unter schwersten Gichtattacken,148 die ihn fast durchgängig ans Bett fesselten.149 Obwohl die über Jahrhunderte hinweg gültige Erklärung, die Leiden seien durch die strenge Askese bedingt,150 wohl zu revidieren ist,151 so war Gregor ohne jeden Zweifel während seiner gesamten Zeit als Papst von schwacher Gesundheit. Am 12. März 604 starb Gregor schließlich nach über dreizehn Jahren als Bischof von Rom und wurde bei der Petersbasilika bestattet.152 Die kurz nach seinem Tod gefertigte Grabinschrift verweist auf sein facettenreiches Wirken: „Nimm entgegen, Erde, den Leib, der von Deinem Leib genommen, den Du zurückzugeben vermagst, wenn Gott wieder lebendig macht! Der Geist strebt nach den Sternen, die Gesetze des Todes werden nicht schaden, dem der Tod vielmehr der Weg selbst zu einem anderen Leben ist. Die Glieder des höchsten Priesters sind in diesem Grab verschlossen, der durch unzählige gute Werke immer und überall lebt. Ep. III, 61 (CCSL 140, 209, 8–10); Mor. dedic. 5 (CCSL 143, 6, 187–192), vgl. auch bzgl. früherer Krankenzeiten Dial. III, 33, 7 (SC 260, 396, 52–398, 60) und Mor. XIV, 74 (CCSL 143A, 745, 77.81). 147 Seine stetig weiter schwindende Gesundheit scheint mir eine überzeugendere Erklärung für das Fehlen weiterer Predigten Gregors zu sein als eine mangelnde Identifikation mit dieser Aufgabe, wie es Müller vermutet, vgl. Müller, B., Führung, 147 f. 148 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 148 (CCSL 140A, 698, 10); 176 (CCSL 140A, 733, 20); 228 (CCSL 140A, 804, 55); 232 (CCSL 140A, 814, 7–10); Ep. X, 14 (CCSL 140A, 840, 5–841, 18); Ep. XI, 18 (CCSL 140A, 887, 3–5); 20 (CCSL 140A, 890, 8–16); 26 (CCSL 140A, 899, 26–36); Ep. XII, 16 (CCSL 140A, 990, 15 f.); Ep. XIII, 24 (CCSL 140A, 1025, 3–14); Ep. XIV, 12 (CCSL 140A, 1082, 20–1083, 24). 149 Zur Krankengeschichte Gregors siehe Hack, Achim Thomas, Gregor der Große und die Krankheit, PuP 41, Stuttgart 2012, 37–77. 150 Vgl. Greg.‑T. Hist. X, 1 (FSGA.A 3, 322, 17–19), diesen Hinweis schmückt Johannes Diaconus dann breit aus, vgl. Joh.‑Diac. Vit. Greg. I, 7–9 (PL 75, 65 f.). 151 Wie bereits in der Antike wird in der gegenwärtigen Medizin neben genetischer Prädisposition eine ungesunde, übermäßige Ernährung als Ursache für Gicht genannt, vgl. Hack, Krankheit, 72–74 und Müller, B., Führung, 49. Tatsächlich scheinen die Fastenregeln im Andreaskloster und später im Lateran nicht allzu strikt gewesen zu sein, wie ein exquisiter Weinwunsch Gregors an Eulogios von Alexandrien beweist, vgl. Greg.‑M. Ep. VII, 37 (CCSL 140, 502, 52–56). Obendrein war ihm die radikale, nach Bewunderung heischende Askese des Patriarchen Johannes IV. von Konstantinopel, der den Beinamen „der Faster“ trug, suspekt, vgl. Greg.‑M. Ep. V, 41 (CCSL 140 323, 98–324, 115). 152 Vgl. Lib. pont. 66 (Duchesne I, 312,11): „sepultus in basilica beati Petri apostoli, ante secretarium“. Zum secretarium als Ort der Bischofsgrablege s. Borgolte, Michael, Petrusnachfolge und Kaiserimitation. Die Grablege der Päpste, ihre Genese und Traditionsbildung, VMPIG 95, Göttingen 1989, 88–93. Allerdings wurde sein Leichnam im Laufe der Jahrhunderte noch mehrfach umgebettet: Papst Gregor IV. (827–844) überführte ihn in das Gotteshaus selbst, vgl. Lib. pont. 103 (Duchesne II, 74, 9–13) und Borgolte, Petrusnachfolge, 77. Papst Innozenz III. (1198–1216) ließ das Grab aus unbekannter Ursache öffnen, vgl. ebd. 186 f., Papst Pius II. (1458–1464) verlegte die Gebeine noch einmal innerhalb von Alt-St.Peter, um darüber ein Andreas-Ciborium zu errichten, vgl. ebd. 279. Seine bislang letzte Ruhestätte fand Gregor dann schließlich 1606 im neuen Petersdom, wohin Papst Paul V. (1605–1621) die als heilig verehrten Päpste überführen ließ, wohingegen die übrigen Päpste aus Alt-St. Peter in den Grotten bestattet wurden, vgl. ebd. 309 f.
3.6 Das Pontifikat
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Den Hunger überwand er mit Speisen, die Fröste mit Kleidung und die Seelen schützte er mit heiligen Ermahnungen vor dem Feind. Und er erfüllte im Handeln, was er in der Predigt lehrte, damit er mystische Worte sprechend ein Beispiel war. Zu Christus belehrte er die Angeln mit der Frömmigkeit als Lehrmeisterin Scharen des Glaubens gewann er mit dem neuen Volk. Diese Mühe, diesen Eifer, diese Sorge hast Du so als Hirte auf Dich genommen, damit Du dem Herrn zahlreichen Zugewinn der Herde darbrachtest. Und zum Konsul Gottes gemacht freue Dich über diese Triumphe: denn den Lohn der Werke hältst Du schon ohne Ende.“153
153 „Suscipe, terra, tuo corpus de corpore suptum, reddere quod ualeas uiuificante deo! spiritus astra petit, leti nil iura nocebunt, cui uite alterius mors magis ipsa uia est. pontificis summi hoc clauduntur membra sepulchro, qui innumeris semper uiuit ubique bonis. esuriem dapidus superauit, frigora ueste atque animas monitis texit ab hoste sacris. implebatque actu quidquid sermone docebat, esset ut exemplum mystica uerba loquens. ad Christum Anglos conuertit pietate magistra acquirens fidei agmina gente noua. hoc labor, hoc studium, haec tibi cura, hoc pastor agebas, ut domino offerres plurima lucra gregis. hisque dei consul factus letare triumphis: nam mercedem operum iam sine fine tenes.“ ILCV 990 (Diehl I, 187). Von der Inschrift sind nur noch drei kleine Fragmente erhalten, den Text überliefern aber Beda in seiner Kirchengeschichte und Johannes Diaconus in seiner Gregorvita fast identisch, vgl. Bed. Hist. II, 1 (Crépin 284) und Joh.‑Diac. Vit. Greg IV, 68 (PL 75, 59–221).
4 Tätige Nächstenliebe in der Spätantike Nachdem der historische Kontext im politischen, kirchlichen sowie im persönlichen Umfeld Gregors dargestellt ist, sollen nun die institutionellen und traditionsgeschichtlichen Voraussetzungen für die tätige Nächstenliebe in groben Zügen erörtert werden. Dabei beschränke ich mich weitgehend auf die Entwicklungen ab dem 4. Jahrhundert, da sich ab der sogenannten „Konstantinischen Wende“1 die Situation für die Kirche grundlegend verändert hatte. Bedingt durch das Ende der Verfolgungen und der neuen Stellung des Christentums im römischen Reich veränderte sich auch die konkrete Gestaltung der tätigen Nächstenliebe. In den folgenden zwei Jahrhunderten entwickelten und bewährten sich stabile Strukturen und Institutionen, auf die Gregor als Papst in Teilen aufbauen konnte. Partiell waren diese aber durch die Wirren des Gotenkriegs und der langobardischen Eroberungen auch bereits wieder am Erlöschen, so dass der römische Bischof Veränderungen und ganz neue Lösungen finden musste. Um diese Traditionsverläufe und Transformationen deutlich machen und mit Gregors Werk und Wirken vergleichen zu können, werden die Formen der kirchlichen Wohltätigkeit und deren finanziellen Strukturen dargestellt. Außerdem werden zentrale theologischen Begründungsmuster der tätigen Nächstenliebe sowie die dabei verwendete Terminologie erörtert. Das Kapitel schließt mit einem Exkurs zur tätigen Nächstenliebe im Werk Augustins. Wie kein anderer beeinflusste dieser Gregors theologisches Denken und Wirken. Zugleich setzte sich der römische Bischof in zentralen Punkten aber auch von dessen Argumentationen ab, wie die folgende Untersuchung zeigen wird. 1 Die Frage, ob die sogenannte „Konstantinische Wende“ tatsächlich ein abrupter Wechsel der kaiserlichen Politik aufgrund einer religiösen Bekehrung war, so vor allem Girardet, Klaus, Der Kaiser und sein Gott. Das Christentum im Denken und in der Religionspolitik Konstantins des Großen, Millennium-Studien 27, Berlin 2010; oder nicht viel eher ein schleichender Prozess, der bereits in der Tetrarchenzeit einsetzte und auch nach Konstantins Tod noch lange nicht abgeschlossen war, so etwa Piepenbrink, Karen, Konstantin der Große und seine Zeit, Geschichte kompakt – Antike, Darmstadt2 2007, soll hier nicht diskutiert werden. Zweifelsohne wandelte sich die christliche Kirche im 4. Jahrhundert von der kleinen, verfolgten Schar zu einer großen, staatlich anerkannten und solide strukturierten Religionsgemeinschaft, zu der sich Personen aus allen gesellschaftlichen und politischen Schichten bekannten, sodass Peter Gemeinhardt gar von einer „Volkskirche“ spricht, vgl. Gemeinhardt, Peter, Staatsreligion, Volkskirche oder Gemeinschaft der Heiligen? Das Christentum in der Spätantike: eine Standortbestimmung, ZAC 12 (2009), 453–476, hier: 454.
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4 Tätige Nächstenliebe in der Spätantike
4.1 Formen und Finanzierung der tätigen Nächstenliebe in der Spätantike Die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln war ab dem 3. Jahrhundert auf staatlicher Ebene organisiert. Seit Aurelian sorgte die cura annonae für ausreichend Getreide in den Großstädten des Reiches, das kostenlos oder zumindest zu stabil niedrigen Preisen an die Bevölkerung ausgegeben wurde.2 In Einzelfällen wurde die Verteilung dieser staatlichen Sozialleistung mithilfe der kirchlichen Organisationsstruktur vorgenommen.3 Hinzu kam seit Konstantin auch der panis gradilis bzw. sordidus, eine tägliche Brotration für die ärmere Bevölkerung in Konstantinopel und Rom.4 In besonderen Notsituationen, etwa durch Krieg oder Naturkatastrophen, konnten auch außer der Reihe Getreideschiffe aus Ägypten nach Italien geschickt werden.5 Kaiser Julian, der noch einmal den Wechsel des Kaiserhofs zum Christentum aufheben und in die pagane Tradition zurückkehren wollte, stellte die liberalitas, griechisch φιλανθρωπία, ins Zentrum seiner Ethik.6 In seinem Repaganisierungsprogramm knüpfte er an die kirchliche Nächstenliebe an, die er als prägendes Merkmal des Christentums wahrnahm.7 Diese sollte nun vom Heidentum übertroffen werden, dafür sollten staatlicherseits Sorge getragen und Finanzmittel bereitgestellt werden.8 Das war ein Novum: Der Staat sorgte finanziell für eine breite Sozialfürsorge, die religiös begründet war und die Bevölkerung durch Abgaben in die Pflicht nahm.9 2 Vgl. C.‑Th. XIIII, 17 (Mommsen I/2, 793–796), zur staatlichen Getreideversorgung s. Kalsbach, Adolf, Art.: Annona, RAC 1 (1950), 443–446; Kloft, Hans, Das Problem der Getreideversorgung in den antiken Städten. Das Beispiel Oxyrhynchos, in: ders. (Hg.), Sozialmaßnahmen und Fürsorge. Zur Eigenart antiker Sozialpolitik, GrB.S. 3, Graz 1988, 123–154. 3 Vgl. Ath. Apol. Sec. 18 (Opitz 100, 25–101,3) und Iust. Nouell. 7, 1 (CIC III, 51,1–52,40), vgl. auch Müller, A., Christianisierung, 182 f. 4 Vgl. Socr. H. e. II, 13, 4–6 (GCS.N. F. 1, 104,13–105,4); C‑Th. XIIII, 17, 5.7 (Mommsen I/2, 793 f.) und C.‑Iust. II, 24 f. (CIC II,435 f.). Zur Brotverteilung an die Bevölkerung und speziell an die Hausbesitzer vgl. Kübler, Bernhard, Art.: Panis civilis, RE XVIII, 3 (1949), 606–611. Zur konkreten Organisation der cura annona und des panis gradilis, s. Tengström, Emin, Bread for the People. Studies of the Corn-Supply of Rome during the Late Empire, SSIR.8°, XII, Stockholm 1974, der allerdings beides miteinander identifiziert. 5 Vgl. Lib. pont. 64 (Duchesne I, 308, 3–5). 6 „Vor allem ist nun die φιλανθρωπία zu üben!“ (Ἀσκητέα τοίνυν πρὸ πάντων ἡ φιλανθρωπία), Juln. Imp. Ep. 89b, 289a (Bidez 156, 16). 7 Vgl. Juln. Imp. Ep. 84a, 429d (Bidez 144, 12–16). 8 Vgl. Juln. Imp. Ep. 84a, 430c–d (Bidez 145, 8–20). 9 Vgl. Müller, Andreas, ‚Caritas‘ im Neuen Testament und in der Alten Kirche, in: Collinet, M. (Hg.), Caritas – Barmherzigkeit – Diakonie. Studien zu Begriffen und Konzepten des Helfens in der Geschichte des Christentums vom Neuen Testament bis ins späte 20. Jahrhundert, Religion – Kultur – Gesellschaft. Studien zur Kultur- und Sozialgeschichte des Christentums in Neuzeit und Moderne 2, Berlin 2014, 17–47, hier: 25–27. Das System einer fiskalischen Armenfürsorge wurde nach dem frühen Tod Julians allerdings nicht beibehalten, vgl. Chrys. Hom. in Mt. 66, 4 (PG 58, 630).
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Die Kirche wurde also bereits wenige Jahrzehnte nach ihrer Erhebung zur religio licita von außen als Ort bzw. Subjekt tätiger Nächstenliebe wahrgenommen. Da sie zeitgleich einen enormen Zuwachs verzeichnete, musste die ehemals sehr persönliche Armenfürsorge der früheren Zeit10 nun mehr und mehr institutionelle Formen annehmen.11 Als nunmehr staatlich anerkannte und zunehmend geförderte Religionsgemeinschaft übernahmen die einzelnen Gemeinden neben der Sorge für die Witwen und Waisen in ihren eigenen Reihen auch die Verantwortung für eine Armenfürsorge der ganzen Stadt.12 Hatte früher der Bischof das Kirchengut allein verwaltet und die Gaben – unterstützt von den Diakonen – selbst an Bedürftige verteilt, so etablierten sich nun größere Institutionen. Diese wurden zumeist vom kirchlichen Haushalt getragen und zählten damit zum direkten Verantwortungsbereich des Bischofs. Selbstständige Stiftungen oder Klöster wurden zwar durch eigenes Personal verwaltet, aber dennoch vom Bischof kontrolliert.13 Ebenso oblag es ihm, Rechtmäßigkeit und Vollstreckung von Testamenten und Stiftungen zu prüfen.14 Da die Aufgaben des Bischofs zunehmend vielfältiger und komplexer wurden, setzte es sich in den Gemeinden durch, die Verwaltung des Kirchengutes einem οἰκονόμος zu übertragen, was das Konzil von Chalcedon 451 schließlich verbindlich vorschrieb.15 Neben den Gemeinden ist als weitere Trägergruppe tätiger Nächstenliebe das koinobitische Mönchtum zu nennen. Bereits Pachomius als Vater der gemeinschaftlichen Askese sah in seinen Klosterregeln eine Krankenstation im 10 Vgl. z. B. Tert. Apol. 39, 6 (CCSL 1, 151,25–31), vgl. auch Klein, Richard, Pagane liberalitas oder christliche caritas? – Konstantins Sorge für die Bevölkerung des Reiches, in: ders., Zum Verhältnis von Staat und Kirche in der Spätantike, Tria Corda 3, Tübingen 2008, 43–80, hier: 50. 11 Vgl. Uhlhorn, Liebesthätigkeit, 239–265, der diesen Vorgang allerdings aufgrund der eschatologischen Heilswirksamkeit, die karitativen Taten seit dem 2. Jahrhundert zugesprochen wurde, sehr einseitig als Niedergang der ursprünglichen christlichen Liebe zeichnet. 12 Johannes Chrysostomus berichtet, dass zu seiner Zeit bereits über 3000 Personen auf den Armenmatrikeln Antiochiens verzeichnet waren, hinzu kam die Sorge für Gefangene, Kranke, Fremde und Bettler, vgl. Chrys. Hom in Mt. 66, 3 (PG 58, 630). 13 Vgl. Iust. Nouell. 120, 6 (CIC III, 581, 7–585, 3). 14 Vgl. C.‑Iust. I, 3, 28, 5 (CIC II, 22) und Iust. Nouell. CXXXI, 10, 2 (CIC III, 659, 5–13). Insofern hat das Bischofsamt über die Jahrhunderte einen enormen Aufgaben- und damit einhergehend auch einen Bedeutungszuwachs erfahren, vgl. Klein, Richard, Das soziale Wirken der Kirche in der Spätantike, in: ders., Zum Verhältnis von Staat und Kirche in der Spätantike, Tria Corda 3, Tübingen 2008, 81–121, hier: 116–119 und Flusin, Bernard, Bischöfe und Patriarchen. Die Struktur der Reichskirche, in: Pietri, L. (Hg.), Der lateinische Westen und der byzantinische Osten (431–642), GCh 3, Freiburg/Basel/Wien 2001, 521–583, hier: 522–531, der seine Ausführungen dezidiert auf den Osten des Reiches beschränkt. Dennoch lässt sich das Gesagte mit Blick auf die Stellung des Bischofs in der Stadt auch auf den Westen übertragen, zumal sie dort durch den Rückzug und Niedergang staatlicher Strukturen ungleich stärkere Bedeutung erlangte. 15 Vgl. C. Chalc. Can. 26 (Wohlmuth 99, 1–18).
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Kloster16 sowie die Versorgung von Gästen und Bedürftigen17 vor, was von nun an monastische Grundpflicht wurde.18 Der anfänglich wohl nur für die Versorgung kranker Mönche vorgesehene Krankenbereich19 entwickelte sich daher zu einer festen Einrichtung, in der auch die gemeine Bevölkerung Fürsorge erfuhr. In besonderer Weise ist dieses Ideal – monastisches Leben und Dienst an der Gesellschaft – in der Basileias in Caesarea umgesetzt.20 Basilius hatte als Bischof und Asket vor den Toren der Stadt eine umfassende Fürsorgeeinrichtung mit Pilger- und Reiseherbergen, Krankenstationen und einem Kloster erbaut.21 Die Basileias zeigt, dass Kloster und Ortsgemeinde in Bezug auf die karitative Versorgung durchaus symbiotisch zusammenarbeiteten: Das Kloster unterstützte die Einrichtung personell mit seinen Mönchen als Pflegern,22 wohingegen der Bischof für die Finanzierung23 und die Integration in Stadt und Gesellschaft sorgte.24 Nicht nur innerhalb der Basileias in Caesarea gab es eine Vielzahl unterschiedlicher karitativer Einrichtungen. Das ξενοδοχεῖον oder lat. hospitium bzw. hospitale, das christliche Pilger kostenfrei beherbergte, wurde ebenso von ortsansässigen Bedürftigen in Anspruch genommen. Hier wurden Kranke gepflegt, Witwen, Alte und Arme versorgt sowie Waisen und Findelkinder aufgenommen. In den großen Städten des Ostreiches entwickelten sich aus solchen Mischanstalten, die unterschiedlichste Fürsorge leisteten, dann spezialisierte Institutionen, die sich auf eine einzige Klientenschaft konzentrierten. So gab es neben den Herbergen für Pilger und Reisende auch Krankenhäuser (νοσοκομεῖα), Blindenheime (τυφλοκομεῖα), Leprosorien (λωβοτροφεῖα25), Armenhäuser (πτωχοτροφεῖα), Altenheime (γηροκομεῖα), Witwenheime (χηροτροφεῖα), Waisenhäuser (ὀρφανοτροφεῖα) und Säuglingsheime (βρεφοτροφεῖα). In kleineren 16
Vgl. Pach. Reg. Praec. 40–47 (Bacht 90–92) und Müller, A., Zierde, 460–463. Vgl. Pach. Reg. Praec. 50–52. (Bacht 93–94). 18 Vgl. Ben. Reg. 4, 14–19 (CSEL 75, 30) und Wacht, Manfred, Art.: Krankenfürsorge, RAC 21 (2006), 826–882, hier: 872. Zur Stellung der Krankenpflege in den ältesten Mönchsregeln s. Steidle, Ich war krank, 189–206. 19 Die Frage, ob in pachomianischen Klöstern die Versorgung auf die eigenen Mönche beschränkt war oder auch Außenstehenden offenstand, ist umstritten. Für ersteres votiert Müller, A., Zierde, 462, dagegen Wacht, Krankenfürsorge, 875. 20 Zum institutions- und ideengeschichtlichen Hintergrund der Basileias vgl. Müller, A., Zierde. 21 Gregor von Nazianz bezeichnet diese in der Gedächtnisrede auf seinen Freund gar als „καινὴν πόλιν“, Gr. Naz. Or. 43, 63 (SC 384,262 3). 22 Vgl. Müller, A., Zierde, 454 f. 23 Die genaue Finanzierung der Basileias ist nicht mehr zu klären, zweifelsfrei sammelte Basilius aber bei honorablen Privatpersonen Spenden, vgl. Koschorke, Klaus, Spuren der alten Liebe. Studien zum Kirchenbegriff des Basilius von Cäsarea, Par. 32, Freiburg 1991, 309 f. 24 Andreas Müller arbeitet heraus, dass die Innovation der Basileias in ihrer theologischen Verknüpfung mit der Stadt bestand, vgl. Müller, A., Zierde, 467–472 und Kap. 4.2. 25 Zur Mehrdeutigkeit des Begriffes λώβη s. Hiltbrunner, Otto, Art.: Krankenhaus, RAC 21 (2006), 882–914, hier: 893 f. 17
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Orten war eine solche Spezialisierung nicht möglich, sodass hier weiterhin ein oder zwei Einrichtungen die allgemeine Versorgung leisteten.26 Ländliche Gegenden wurden hauptsächlich durch die Krankenstationen und Herbergen der Klöster versorgt.27 Im Westen hingegen ist eine derartige Vielfalt nicht wahrzunehmen. Das Krankenhaus der Fabiola fiel bereits dem Gotensturm von 410 zum Opfer. Die politische Situation der folgenden zwei Jahrhunderte verhinderte eine ähnlich differenzierte Entwicklung des Hospitalwesens.28 Im Okzident sind weitgehend nur kleinere Einrichtungen belegt, in denen neben Reisenden auch Kranke und Arme verpflegt wurden.29 In Rom etwa gründete Papst Symmachus (498–514) drei Herbergen für die Armen, pauperibus habitacula. Mit St. Peter, St. Paul und St. Laurentius standen jeweils wichtige Kirchen in unmittelbarer Nähe.30 Pelagius II. (579–590) gründete in seinem Haus ein ptochium pauperum senum.31 Allen diesen Institutionen – ob hochspezialisiert oder universell, ob im Osten oder im Westen – war gemein, dass ihre Inanspruchnahme grundsätzlich kostenlos war. Im Hintergrund stand die allgemeine, schon pagane Praxis der Gastfreundschaft (φιλοξενία bzw. hospitalitas), die sich einerseits an private Gastfreunde und andererseits an staatliche und militärische Besucher richtete. Letzteren die Unterkunft im eigenen Haus zu gewähren, war eine bürgerliche Pflicht,32 von der nur einzelne Personengruppen wie etwa der christliche Klerus ausgenommen waren.33 Die vorchristliche Gastfreundschaft kam aber weniger Armen und Bedürftigen zugute, als vielmehr Mitgliedern des eigenen Standes oder eben politischen Gesandten.34 Hiervon setzte sich die christliche Praxis ab, neben reisenden Bischöfen und Pilgern dezidiert auch Bedürftige des Ortes zu versorgen, ohne dabei eine Gegengabe zu erwarten.35 26 Vgl. Flusin, Bischöfe, 539–541 und Hiltbrunner, Otto, Art.: Herberge, RAC 14 (1988), 602–626, hier: 617 f. Zur geschichtlichen Entwicklung des Krankenhauses s. Miller, Birth. 27 Vgl. Flusin, Bischöfe, 540. 28 Nach Timothy Miller entwickelte sich im Westen vor allem deshalb kein entsprechendes Hospitalwesen, weil bereits die antike römische Kultur – im Gegensatz zur griechischen – der Medizin keinen großen Stellenwert beimaß, vgl. Miller, Birth, 35–37. 29 Vgl. Hiltbrunner, Krankenhaus, 905–907 30 Vgl. Lib. pont. 53 (Duchesne I, 263, 2 f.). 31 Vgl. Lib. pont. 65 (Duchesne I, 309, 5). Da für den Westen keine vergleichbaren hochdifferenzierte Institutionen bezeugt sind, war diese Einrichtung wahrscheinlich nicht auf die Krankenversorgung älterer Bedürftiger spezialisiert, sondern stand vielmehr simultan sowohl Alten als auch Kranken und Armen offen. 32 Vgl. C.‑Iust. XII, 40 (CIC II, 475–477). 33 Vgl. C.‑Iust. I, 3, 1 (CIC II, 19). 34 Zur Bedeutung der Gastfreundschaft in der Antike vgl. Puzicha, Christus, 8 f. und Hiltbrunner, Otto/Gorce, Denys/Wehr, Hans, Art.: Gastfreundschaft, RAC 8 (1972), 1061–1123, hier: 1082–1103. 35 Vgl. Lact. Inst. VI, 12 (CSEL 19, 524, 13–525, 18) und Ambr. Luc. VI, 66 (CCSL 14, 197, 657–671).
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Zusätzlich zur Unterhaltung dieser Einrichtungen übte die Kirche in weiteren Bereichen tätige Nächstenliebe. So organisierte sie eine flächendeckende Armenspeisung. Die Stadt wurde dafür in Bezirke eingeteilt, in denen sich Bedürftige fest in Armenlisten, κατάλογοι bzw. matriculae, eintrugen.36 Auf diese Weise sollten die Armenversorgung geordnet und obendrein Missbrauch, etwa durch mehrfache Inanspruchnahme, verhindert werden.37 Im Gallien des 6. Jahrhunderts entwickelten sich aus dieser Praxis eigene Institutionsformen: Unter matriculae sind nun nicht mehr nur die Armenlisten an sich zu verstehen, sondern vielmehr die Unterkünfte, in denen Bedürftige in quasimonastischer Gemeinschaft lebten und versorgt wurden. Im Gegenzug leisteten sie regelmäßige Fürbitte.38 Ein weiterer Aufgabenbereich kirchlicher Nächstenliebe war die Sorge für bzw. der Loskauf von Gefangenen. In der Zeit der Verfolgungen des Christentums hatten sich die Gemeinden vor allem um Häftlinge kümmern müssen, die aufgrund ihres Glaubens inhaftiert waren. Nun waren es politische Gefangene bzw. Geiseln in Kriegsgebieten. Dafür wurden erhebliche Geldmengen aufgewendet, im Notfall wurde sogar Altargerät eingeschmolzen.39 Dieser Sonderfall wurde explizit aus dem kaiserlichen Verbot der Veräußerung kirchlichen Gutes ausgenommen.40 Die tätige Nächstenliebe in der Spätantike fand im Tod nicht ihr Ende, vielmehr stellten die Verstorbenen ganz selbstverständlich Empfänger christlicher Fürsorge dar. Die Bestattung oblag der Familie, sie trug Sorge dafür, dass der Tote ordnungsgemäß begraben wurde.41 Bis ins späte 5. Jahrhundert gab es dafür wohl keinen festen kirchlichen Ritus.42 Mitunter wurde die Anwesenheit des 36
Vgl. Chrys. Hom. in 1 Cor 21, 7 (PG 61, 179) und Hom. in Mt. 66, 3 (PG 58, 630). Auch Ambrosius mahnt zu einer kritischen Prüfung der Bedürftigkeit, vgl. Ambr. Off. II, 16, 76 (CCSL 15, 124, 1–12). 38 Vgl. Pietri, Luce, Die Kirche des Regnum Francorum, in: dies. (Hg.), Der lateinische Westen und der byzantinische Osten (431–642), GCh 3, Freiburg/Basel/Wien 2001, 794–850, hier: 839–843; Sternberg, Orientalium, 105–145. 39 Vgl. Ambr. Off. II, 28, 136–143 (CCSL 15, 146, 1–149, 81). In der Folgezeit wird dieses Vorgehen zum Paradigma des guten Bischofs, dabei ist aber wohl nicht automatisch von topischen Leerformeln ohne jeglichen historischen Bezugspunkt auszugehen, zumal die Veräußerung von Kirchengut weiterhin als Tabubruch empfunden wurde und lediglich als ultima ratio zur Diskussion stand, vgl. Sternberg, Thomas, „Aurum utile“. Zu einem Topos vom Vorrang der Caritas über Kirchenschätze seit Ambrosius, JbAC 39 (1996), 128–148. 40 Vgl. C.‑Iust. I, 2, 21 (CIC II, 16). 41 Vgl. Volp, Ulrich, Tod und Ritual in den christlichen Gemeinden der Spätantike, SVigChr 65, Leiden 2002, 242–247; Gessel, Wilhelm, Bestattung und Todesverständnis in der Alten Kirche, in: Becker, H. et al. (Hgg.), Im Angesicht des Todes. Ein interdisziplinäres Kompendium I, PiLi 3, St. Ottilien 1987, 535–568, hier: 536–553 und bereits Kötting, Bernhard, Der frühchristliche Reliquienkult und die Bestattung im Kirchengebäude, VAFLNW.G 123, Köln/Opladen 1965, 9. 42 Vgl. Gessel, Bestattung, 565 und Volp, Tod, 203. Die erste formularische Beschreibung einer kirchlichen Bestattung stammt aus der Feder des kaum sicher greifbaren Pseudo-Dionysius Areopagita, vgl. Dion. Ar. e.h VII (PTS 36, 120,13–132,6). 37
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Klerus bei der Beerdigung als etwas Außergewöhnliches empfunden.43 Konnte eine Familie die Bestattungskosten indes nicht tragen, so wurden diese aus der Gemeindekasse bestritten.44 Die Sorge für die Bestattung galt – in jüdischer Tradition45 – ebenso wie die Armenfürsorge als religiöse Pflicht.46 Neben der Sorge für den Leichnam47 kümmerten sich die Christen auch um das jenseitige Heil der Verstorbenen. Auf verschiedene Weisen wurde versucht, Einfluss auf das individuelle Urteil im Gericht zu nehmen. Zuerst sind hier die Fürbitten zu nennen, die als Fürsprache vor dem jenseitigen Richter verstanden wurden. Fürbitte leisten konnten nach spätantiker Vorstellung sowohl die noch Lebenden bei Besuchen des Grabes oder im Rahmen der Gottesdienste48 als auch diejenigen Toten, die bereits in die Gemeinschaft Gottes aufgenommen sind: Heilige und Märtyrer.49 Deren Beistand erhoffte man auf zweierlei Weise zu erwirken: Entweder legte man dem Grab Reliquien des entsprechenden Heiligen bei50 oder man wählte einen Grabplatz in unmittelbarer Nähe zum Heiligengrab.51 Als positiver Nebeneffekt wurde die Gemeinde durch die Bestattung ad sanctos stets wieder aufs Neue an ihre Verstorbenen erinnert und zur Fürbitte ermahnt, wann immer sie zum Grab des Heiligen kam.52 Obwohl in der Spätantike der Klerus an den Ritualen im Umfeld des Todes lange keine Rolle spielte,53 war vielen Bischöfen dennoch daran gelegen, die Bestattungsfeiern in einem mäßigen Rahmen zu halten. Die horrenden Ausgaben 43
Vgl. Hier. Ep. 108, 29 (CSEL 55, 348, 1–21) und Gessel, Bestattung, 449 f. Tert. Apol. 39, 6 (CCSL 1, 151, 27). Diese Tatsache wirkte dabei durchaus werbewirksam auf die pagane Umwelt, vgl. Juln. Imp. Ep. 84a, 429d (Bidez 144, 13–16) und von Harnack, Adolf, Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, 2 Bde., Leipzig 41924, hier: I, 190–192. Einen Sonderstatus nahm das Bestattungswesen in Konstantinopel ein, das seit Konstantin kostenfrei war. Finanziert wurde es durch Werkstätten, die anstatt von Steuern ihre Abgaben an die Kirche zahlten, vgl. Iust. Nouell. 43; 59 (CIC III, 269, 5–273, 17; 316, 17–324,34) und C.‑Iust. I, 2, 18 (CIC II, 16), s. dazu Flusin, Bischöfe, 541–544. 45 Vgl. Tob 1,18–20: „Lange danach aber, nach dem Tod des Königs Salmanassar, als sein Sohn Sanherib regierte, dem die Israeliten verhasst waren, ging Tobias wieder bei allen Israeliten umher und tröstete sie und gab ihnen von seinem Vermögen, soviel er konnte: die Hungrigen speiste er, die Nackten kleidete er, die Toten und Erschlagenen begrub er.“ 46 Vgl. Lact. Inst. VI, 12 (CSEL 19, 530, 5–10). 47 Die Fragen nach der zugrundeliegenden Leib-Seele-Dichotomie und der Vorstellung eines Interims zwischen Tod und Jüngstem Gericht sollen hier nicht diskutiert werden, verwiesen sei lediglich auf Gessel, Bestattung, 553–558 und Merkt, Andreas, Das Fegefeuer. Entstehung und Funktion einer Idee, Darmstadt 2005. 48 Vgl. Cyr. H. Catech. myst. V, 9 (SC 126, 158, 1–7). 49 Vgl. Ambr. Exc. 1,17 (CSEL 73, 218, 1–3). 50 Vgl. Thdt. H.rel. XXI, 30 (SC 257, 116, 18–22). 51 Vgl. ILCV 2126–2187 (Diehl I, 416–428) und Kötting, Reliquienkult, 24–28. Dass die Grabplätze ad sanctos regelrecht umkämpft waren, beweist eine römische Grabinschrift: „Was Viele begehren und Wenige empfangen“ (quod multi cupiun[t] et rari accipiun[t]), ICLV 2148 (Diehl I, 421). 52 Vgl. ICLV 3863 (Diehl II, 295). 53 Eine Ausnahme stellen hierbei Taufe und Abendmahl dar, die als Klinikertaufe und 44 Vgl.
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für Grabmal und Rituale hätten weniger Nutzen für den Toten, als vielmehr Schaden für die Lebenden. Die Mittel sollten vielmehr für Almosen verwendet werden, die den Bedürftigen in akuter Not halfen und dem Verstorbenen Fürbitten garantierten.54 Bereits mehrfach ist der kirchliche bzw. bischöfliche Haushalt angesprochen worden, aus dem die tätige Nächstenliebe bestritten wurden. Grundsätzlich galt seit dem Ausgang des 5. Jahrhunderts die Faustregel, dass sämtliche Einkünfte der Kirche zu gleichen Teilen für die Armenfürsorge, für bischöfliche Aufgaben, für den sonstigen Klerus und für den Bau bzw. Erhalt der Kirchgebäude verwendet wurden.55 Seit Konstantin war es der Kirche erlaubt zu erben und somit auch Grundbesitz anzuhäufen.56 Diesen sicherte Justinian zusätzlich durch das reichsweite Verbot der Veräußerung kirchlicher Güter.57 Innerhalb kurzer Zeit gelangte die Kirche so an zahlreiche und weitläufige Ländereien, mit denen sie auch ihre karitativen Tätigkeiten finanzierte.58 Dieser Zweck wurde durch den Staat noch zusätzlich durch die Gewährung weitreichender Privilegien gefördert: Die Kirche war von einigen Steuern befreit.59 Obendrein erhielt sie bestimmte Steuereinnahmen.60 Durch die kaiserlichen Sozialgesetze wurden die sozialen Aufgaben der christlichen Kirchen gefördert und finanziell abgesichert. Darüber hinaus erwiesen sich die Herrscher zudem als Stifter, die mit Ländereien, Gebäuden und Nahrungsmitteln die kirchlichen Fürsorgeinstitutionen unterstützten. Euseb von Caesarea berichtet, dass Konstantin persönlich bei zahllosen Gelegenheiten seine Großzügigkeit bewies.61 Diese Vorgehensweise ist nicht als staatliche Viaticum ab dem 4. Jahrhundert in unmittelbarer Todesgefahr verlangt wurden, vgl. Volp, Tod, 160–172. 54 Vgl. z. B. Chrys. Hom. in Ac. 21,4 (PG 60, 168–172) und Hom. in Io. 85, 5 (PG 59, 463 f.). 55 Von dieser Regel waren zweckgebundene Zuwendungen, etwa für spezifische Fürsorgeeinrichtungen, ausgenommen. Die letzte Entscheidung oblag aber stets dem Bischof, vgl. Klein, R., Wirken, 105 und Klingenberg, Georg, Art.: Kirchengut, RAC 20 (2004), 1023–1099, hier: 1089. 56 Vgl. C.‑Th. XVI, 2, 4 (Mommsen I/2, 836,1–5) = C.‑Iust. I, 2, 1 (CIC II, 12). 57 Vgl. Iust. Nouell. 7, 1 (CIC III, 51,1–52,40). 58 Vgl. Klein, R., Liberalitas, 74 f. und Klingenberg, Kirchengut, 1088 f. 59 Vgl. C.‑Iust. I, 2, 5 (CIC II, 12). Die Frage, ob C.‑Th. XI, 1, 1 (Mommsen I/2, 571, 1–10) als generelle Immunität von der Grundsteuer für kirchliche Gebäude verstanden werden muss, ist umstritten, zur Diskussion vgl. Klingenberg, Kirchengut, 1092 f. 60 Vgl. C.‑Iust. I, 2, 12 (CIC II, 13). So wurden etwa dem kirchlichen Bestattungswesen in Konstantinopel seit Konstantin die Steuern einer festen Anzahl von Werkstätten zugesprochen, vgl. Iust. Nouell. 43; 59 (CIC III, 269, 5–273, 17; 316, 17–324,34) und C.‑Iust. I, 2, 18 (CIC II, 16). 61 Vgl. Eus. v. C. I, 43 (GCS Eusebius 1/I, 38, 5–24); IV, 28 (GCS Eusebius 1/I, 130,20–27. Allerdings ist die Konstantinsvita als panegyrischer Text äußerst vorsichtig zu lesen. Der Bischof verfolgte damit das klare Ziel, den Kaiser nach dessen Tod als durchweg christlichen Herrscher zu präsentieren, vgl. Wallraff, Martin, Sonnenkönig der Spätantike. Die Religionspolitik Konstantins des Großen, Freiburg 2013, 35–51.
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Sozialpolitik zu verstehen, sondern als liberalitas, eine klassische, pagane Herrschertugend, mit der sich der Kaiser dem Volk milde und großzügig zeigte.62 Im 6. Jahrhundert trieb dann vor allem Justinian die kirchliche Wohlfahrtspflege voran, indem er Krankenhäuser und Armenherbergen errichtete.63 Neben den staatlichen Begünstigungen sicherten die Gemeinden die Finanzierung ihrer Fürsorge auf zwei weiteren Wegen: Einerseits sind die bereits angesprochenen Erbschaften und Stiftungen zu nennen. Privatpersonen vermachten der Kirche Teile ihres Besitzes als Erbe oder Schenkung, um gezielt karitative Zwecke zu ermöglichen. Gut bekannt sind die frommen Adelskreise um Hieronymus: So gründete etwa die Patrizierin Fabiola das erste Krankenhaus Roms.64 Andererseits wurden in den Gemeinden regelmäßig Kollekten gesammelt, davon zeugen zahllose Predigten aus dem 4. bis 6. Jahrhundert, die eine ermattete Spendenbereitschaft beklagen und mit eschatologisch-soteriologischen Argumenten zu großzügigeren Almosen mahnen.65 An der tätigen Nächstenliebe, der Sorge für Bedürftige in allen Lebensphasen, waren in der Spätantike alle Christen beteiligt – Laien, Klerus und Asketen. Dennoch zeigt sich deutlich die Tendenz zur Professionalisierung und Delegation. Damit ist keinesfalls ausgesagt, dass die „normalen“ Gemeindeglieder lediglich reine Geldgeber und nicht mehr selbst an der Fürsorge beteiligt gewesen wären. Die Predigten des Chrysostomus zeigen vielmehr, dass er seine Hörer sehr persönlich ansprach und zu ihrer eigenen Verantwortung ermahnte.66 Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass zumindest im Kontext des Todes die Fürsorge hauptsächlich im familiären Umfeld geleistet wurde. Es ist gut vorstellbar, dass noch in weiteren Bereichen, z. B. durch Fürbitten für Erkrankte und Notleidende oder die private Aufnahme von Fremden,67 individuelles Engagement gezeigt wurde.
62 Zur Verhältnisbestimmung der konstantinischen Wohlfahrt zwischen paganer liberalitas und christlicher caritas, vgl. Klein, R., Liberalitas; Müller, A., Konstantin. 63 Vgl. Proc. Aed. I, 2, 13–19; 11, 26 f. (Veh Bd. 5, 36; 78); C.‑Iust. VII, 37, 3, 3 (CIC II, 310), zur Bautätigkeit Justinians vgl. Leppin, Justinian, 191–202. 64 Vgl. Hier. Ep. 77, 6 (CSEL 55, 43, 1–3) und Ep. 66, 11 (CSEL 54, 661,3 f.). 65 Vgl. z. B. Bas. Div. 6 (PG 31, 296 f.); Gr. Naz. Or. 14 (PG 35,357–910); Chrys. Hom. in Mt. 85, 3 (PG 58, 760–762) und Caes.‑Arel. Serm. 13, 2 (CCSL 13, 65 f.); 14, 3 (CCSL 13, 71); 19, 2 (CCSL 13, 88) aber auch bereits Cypr. Eleem. Zur theologischen Begründung des Almosenwesens s. das folgende Kapitel. 66 Vgl. etwa Chrys. Ecl. 23 (PG 63, 720). 67 Vgl. dazu Puzicha, Christus, 36–40.57 f.
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4.2 Theologische Begründungen tätiger Nächstenliebe in der Spätantike Die staatlichen und gesellschaftlichen Umbrüche der Spätantike führten zu äußerst prekären sozialen Situationen, die nicht übersehen werden konnten.68 Die Notwendigkeit einer umfassenden Fürsorge war offensichtlich und benötigte keine weitere Begründung. Nichtsdestotrotz sicherten die Prediger ihre Mahnungen zur Freigebigkeit und tätigen Nächstenliebe durch ein breites Fundament ab, das ebenso allgemein anthropologische Begründungen umfasste wie auch dezidiert theologische Argumentationen.69 Die meisten Mahnungen zur tätigen Nächstenliebe greifen auf biblische Schriften zurück. Dabei erweisen sich die neutestamentlichen Erzählungen vom reichen Jüngling,70 dem reichen Mann und dem armen Lazarus71 sowie vor allem die matthäische Gerichtsrede Jesu72 als Grundtexte. Darüber hinaus werden Textstellen paränetischer Natur, die den Nutzen der Liebestätigkeit herausstellen,73 aber auch biblische Personen mit Vorbildcharakter herangezogen.74 Auf das Doppelgebot der Liebe,75 das die Nächstenliebe 68 In den überlieferten Predigten der Zeit wird zuhauf auf die alltäglichen Erfahrungen mit Armut und Bedürftigkeit rekuriert, vgl. Gr. Naz. Or. 14, 10–13 (PG 35, 869–873); Gr. Nyss. Paup. 1 (van Heck 96, 17–97, 8); Paup. 2 (van Heck 115, 29–119, 15). Zu der Thematik bei den Kappadokiern vgl. Holman, Susan, The Hungry are Dying. Beggars and Bishops in Roman Cappadocia, OSHT, Oxford 2001. 69 Eine vollständige Darstellung ist hier nicht zu leisten, ich beschränke mich vielmehr auf in den Quellen mehrfach begegnende Gedankengänge und auf ausgewählte Autoren. Im Kontext der Auslegung von Mt 25,35–40 vgl. Puzicha, Christus, 66–178. Die Auswahl geschah unter der Perspektive, welche Werke Gregor dem Großen sicher oder zumindest äußerst wahrscheinlich vorlagen oder bekannt waren. Während westliche Autoren des 4. bis 6. Jahrhunderts wie Leo und Caesarius dem römischen Bischof im päpstlichen Archiv ohne Zweifel zugänglich waren, ist aufgrund seines mehrjährigen Aufenthaltes in Konstantinopel auch ein erheblicher Einfluss der kappadokischen Väter (Gregor selbst verweist explizit auf Greg. Naz. Or. 2, vgl. Greg.‑M. Past. III prol. [SC 382, 258, 2 f.]) und Johannes Chrysostomus anzunehmen, wenn auch vor allem durch die Übersetzungen des Rufin, vgl. Floryszczak, Regula, 85–88; Kessler, St., Exeget, 160 f.; Judic, Introduction, 26–34; Straw, Perfection, 13–15; vorsichtig auch Fiedrowicz, Kirchenverständnis 360–362; dagegen Dudden, Place I, 229. Eine besondere Rolle spielten für Gregor den Großen die Schriften Augustins, weshalb dem Bischof von Hippo ein eigenes Kapitel gewidmet ist, vgl. Kap. 4.4. 70 Mk 10,17–27 parr. 71 Lk 16,19–31. 72 Mt 25,31–46. Die hier aufgezählten sechs Werke (Hungrige speisen, Durstige tränken, Fremde aufnehmen, Nackte kleiden, Kranke sowie Gefangene besuchen) bilden später, ergänzt durch die Bestattung Toter, den Kanon der sieben Werke der Barmherzigkeit. Zur Auslegung dieser Perikope im chrysostomischen Werk s. Brändle, Matth. 73 Z. B. Ps 41,2; Jes 58,7; Dan 4,24; Sir 3,33 f.; 29,15; Tob 4,7–11; 12,9; Mt 6,1–4; Lk 12,33; Apg 10,4.31; Röm 12,13–15; 2 Thess 3,13; 1 Tim 6,18 f. u. ö. 74 Z. B. Abraham als idealer Gastgeber in Gen 18,1–15. Zu weiteren biblischen Vorbildern vgl. Puzicha, Christus, 46, Anmerkung 257. 75 Mk 12,29–31 parr.
4.2 Theologische Begründungen tätiger Nächstenliebe in der Spätantike
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gemeinsam mit der Gottesliebe als das größte aller Gebote bezeichnet, wird hingegen im Kontext tätiger Fürsorge überraschend selten verwiesen.76 Ein anderer Argumentationskomplex widmet sich den natürlichen Eigenschaften des Menschen. Die Barmherzigkeit entspricht der Vernunft des Menschen,77 der seinem Wesen nach auf Gemeinschaft angelegt ist.78 Dabei werden alle Menschen, unabhängig von ihrer sozialen Situation oder gesellschaftlichen Stellung, als grundsätzlich gleich verstanden.79 Armut, Krankheit und Leid können jedermann treffen, auch der gesündeste Mensch kann ganz plötzlich elend erkranken und den Tod finden.80 Der Reichtum Weniger ist als Besitz der vielen Armen zu begreifen, der in Form von Almosen einen Ausgleich der Unterschiede schaffen kann und soll.81 Eine eher schöpfungstheologische Argumentation versteht die Unterschiede zwischen arm und reich, zwischen gesund und krank, zwischen Glück und Unglück als Folgen des Sündenfalls. Die unverdorbene Schöpfung kannte sie noch nicht,82 in ihr war der Mensch als imago Dei geschaffen.83 Durch tätige Nächstenliebe kann er sich dieser Bestimmung wieder annähern, ja sogar Gott ähnlich werden.84 Denn die Schöpfung, in der für alle und jeden gesorgt ist, ist als erstes Almosen aufzufassen:85 Gott als Schöpfer und Erhalter ist der „Erfinder der Wohltätigkeit“.86 In der Nachahmung dieser Barmherzigkeit kann sich der Mensch als dankbar erweisen.87 Dankbar muss der Mensch auch für seine Erlösung sein, die ihm durch Christus erworben wurde, indem dieser sich seiner Hoheit entäußerte88 und menschliche Gestalt annahm. Mit Mt 25,40.45 begegnet er dem Menschen in einem jeden Bedürftigen. Durch die Armen dieser Welt zeigt Gott seine Barm76 Vgl.
864).
77
aber Leo-M. Serm. 94, 4 (CCSL 138A, 580, 70–74) und Gr. Naz. Or. 14, 5 (PG 35,
Vgl. Chrys. Ecl. 23 (PG 63, 722); Ambr. Off. III, 3, 16–18 (CCSL 15, 158, 9–159, 33). Vgl. Bas. Hom. in Ps. 14, 6 (PG 29,262); Ambr. Off. I, 28, 134 (CCSL 15, 48, 28–36). 79 Vgl. Chrys. Hom. in Mt. 35, 3 (PG 57,409); Gr. Nyss. Paup. 1 (van Heck 103, 23 f.); Paup. 2 (van Heck 114,4 f.); Gr. Naz. Or. 14, 14 (PG 35, 876); Leo-M. Serm. 11, 1 (CCSL 138, 45, 30–46,31). 80 Vgl. Leo-M. Serm. 11, 1 (CCSL 138, 46, 31–33); Gr. Nyss. Paup 1 (van Heck 107, 15–108, 14). 81 Vgl. Gr. Nyss. Paup. 1 (van Heck 97, 11–14); Beat. 5 (Callahan 126, 11–14); Gr. Naz. Or. 14, 26 (PG 35, 891). 82 Vgl. Gr. Naz. Or. 14, 26 (PG 35, 891). 83 Vgl. Gr. Naz. Or. 14, 14 (PG 35, 876). Der menschliche Leib hat diese Würde auch noch nach dem Tod inne und sollte keinesfalls den wilden Tieren zum Fraß dienen, weshalb Laktanz die Bestattung als eine Pflicht der Barmherzigkeit versteht, vgl. Lact. Inst. VI, 12 (CSEL 19, 530, 5–10). 84 Vgl. Gr. Nyss. Paup. 1 (van Heck 102, 14–20); Beat. 5 (Callahan 124, 16–18). 85 Vgl. Gr. Nyss. Paup. 1 (van Heck 101, 18- 102, 13); Gr. Naz. Or. 14, 23 (PG 35, 888). 86 „Ὁ πρῶτος τῆς εὐποιίας εὑρετής“ Gr. Nyss. Paup. 1 (van Heck 102, 11 f.). 87 Vgl. Gr. Naz. Or. 14, 26 (PG 35, 892); Ambr. Off. I, 11, 38 (CCSL 15, 14, 20–27). 88 Vgl. Phil 2,8. 78
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4 Tätige Nächstenliebe in der Spätantike
herzigkeit,89 mit ihnen gibt er den Reichen gleich einen zweifachen Gewinn: Gewähren sie nämlich Almosen, so halten die Empfänger einerseits Fürbitte für die Geber.90 Andererseits werden durch die Liebeswerke Sünden getilgt,91 die nach der Taufe begangen wurden.92 Die Werke offenbaren die Liebe des Handelnden als höchste Tugend.93 Alle anderen Tugenden sind ohne die Werke sogar nutzlos.94 Maßgeblich an einem Werk wie dem Almosen ist dabei nicht sein Umfang, sondern allein die Gesinnung, aus der heraus es getan wird.95 Die Verdienstlichkeit der guten Werke und die so erlangte Tilgung von Sünden verweist über dieses Leben hinaus. Den Zielpunkt stellt das Jüngste Gericht dar, in dem Christus die Gerechten von den Ungerechten trennen wird.96 Geleistete gute Werke dienen als Wegzehrung97 und können das Urteil entscheidend beeinflussen.98 Insofern ist noch in diesem Leben vorzusorgen für das jenseitige. Ein Aufschub hingegen ist zu vermeiden, kommt doch der Tod mitunter plötzlich und unerwartet.99 Die „Böcke zur Linken“ empfangen ihr Urteil nach Mt 25,41–45 nicht wegen schwerer Sünden wie Diebstahl oder Ehebruch, sondern allein aufgrund von Hartherzigkeit.100 Dahingegen zahlen sich die guten Werke mit einem lohnenswerten Kurs aus: Irdische Güter, die zum Wohle anderer eingesetzt wurden, werden in ewige, himmlische eingetauscht.101 Gott, dem im Geringen gedient wurde, erstattet als Schuldner das Darlehen zurück102 – ja sogar mit wuchernden Zinsen.103 Die Armen dieser Welt dienen den Reichen gleichsam als „Schatz89
Vgl. Leo-M. Serm. 6 (CCSL 138, 27, 8 f.); Ambr. Off. II, 28, 140 (CCSL 15,148, 49–52). Vgl. Gr. Nyss. Beat. 5 (Callahan 134, 9–12); Leo-M. Serm. 10, 2 (CCSL 138, 44, 93–95). 91 Diese Vorstellung begegnet bereits im alten Ägypten, vgl. Schwer, Wilhelm, Art.: Armenpflege, RAC 1 (1950), 689–698, hier: 689 f., und durchzieht auch die alttestamentlichen und deuterokanonischen Schriften, vgl. Dan 4,24; Sir 3,33; Tob 12,9. 92 Vgl. Leo-M. Serm. 7 (CCSL 138, 29, 8–12). 93 Vgl. Gr. Naz. Or. 14, 4 f. (PG 35, 861–864); Gr. Nyss. Paup. 1 (van Heck 94, 12–95, 3). 94 Vgl. Chrys. Eleem. 3, 2 (PG 64,436); Bas. Div. 1.3 (PG 31, 287); Gr. Nyss. Paup. 1 (van Heck 95,11–22); Leo-M. Serm. 10, 2 (CCSL 138, 41, 43–43, 80). 95 Vgl. Gr. Naz. Beat. 5 (Callahan 126, 24–127, 5); Leo-M. Serm. 8 (CCSL 138, 31, 22–31);10, 2 (CCSL 138, 44, 86–89). Die Frage, ob die Gesinnung allein schon hinreichend ist oder ob die Tat zwangsläufig dazukommen muss, wird unterschiedlich beurteilt. Für ersteres votiert Gr. Naz. Beat. 5 (Callahan 127,10–16), für letzteres Gr. Nyss. Paup. 1 (van Heck 95, 4–98, 12). 96 Vgl. Mt 25,31–33. 97 Vgl. Bas. Div. 4 (PG 31, 289); Hilar. Psal. 14,17 (CCSL 61, 91, 6 f.). 98 Vgl. Leo-M. Serm. 9, 2 (CCSL 138, 34, 51–54). 99 Vgl. Gr. Naz. Or 14, 38 (PG 35, 908); Gr. Nyss. Paup. 1 (van Heck 107, 1–3). 100 Vgl. Gr. Naz. Or. 14, 39 (PG 35, 909); Bas. Hom. 5, 8 (PG 31, 277); Chrys. Ecl. 23 (PG 63, 719). 101 Vgl. Bas. Div. 1.3.6 (PG 31, 280.288.296 f.); Leo-M. Serm. 9,2 (CCSL 138, 35, 62–68). 102 Vgl. Bas. Hom. in Ps. 14, 6 (PG 29,264); Chrys. Eleem 3 (PG 64, 433); Gr. Nyss. Paup. 2 (van Heck 121, 28–122,3); Leo-M. Serm. 87, 4 (CCSL 138A, 544, 57–545, 77). 103 Vgl. Leo-M. Serm. 7 (CCSL 138, 29,15–17). 90
4.3 Spätantike Terminologie der Nächstenliebe
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meister“ und „Pförtner des Himmelreiches“104, sie werden selbst zum Schatz.105 Mit dieser Eschatologisierung der tätigen Nächstenliebe vertrösten die spätantiken Prediger nicht die Notleidenden auf das Jenseits. Sie sorgen vielmehr für deren Bedürfnisse im Hier und Jetzt, indem sie die Besitzenden in die Pflicht nehmen und die Perspektive auf das Kommende ausweiten.
4.3 Spätantike Terminologie der Nächstenliebe Das Christentum hatte in Antike und Spätantike noch keine feste Terminologie für das Ethos und die tatsächliche Ausübung der tätigen Nächstenliebe entwickelt. Adjektive wie „karitativ“ oder „diakonisch“, die in der heutigen Zeit Handlungen als kirchlich-institutionelle Unterstützung von Hilfsbedürftigen qualifizieren, sind Produkte des 19. Jahrhunderts, die freilich etymologisch auf das Griechisch der Bibel106 bzw. ihre lateinische Übersetzung zurückverweisen. Aber aus dem gegenwärtigen Vokabular kann nicht auf ein entsprechendes altkirchliches geschlossen werden. Die caritas hatte noch eine sehr breite Semantik, die einerseits die Liebe Gottes zu den Menschen, aber auch die Liebe der Menschen zu Gott bzw. zum Nächsten bezeichnete. Andererseits sind mit ihr die konkreten Handlungsweisen gemeint, die aus dieser Liebe heraus entstehen. Darüber hinaus kam dem Begriff der caritas keinesfalls eine Monopolstellung zu: Dilectio, amor, und pietas begegnen fast synonym.107 Als Sammelbegriffe für die Werke der Nächstenliebe begegnen u. a. opera caritatis108, dilectionis operationes109 oder auch schlicht das Verb facere.110 Eine Besonderheit stellt das Lehnwort eleemosyna dar:111 Die griechische ἐλεημοσύνη (Mitleid) dient in der Septuaginta als Übersetzung des hebräischen Begriffs der צדקה, die sowohl normgemäßes Verhalten als auch wohltätige Handlungen ausdrücken kann.112 Im NT bezeichnet ἐλεημοσύνη allerdings ausschließlich das Almosen, also die 104
„Αἱ ταμία […] οἱ θυρωροὶ τῆς βασιλείας“ Gr. Nyss. Paup. 1 (van Heck 99, 5 f.). Ambr. Off. II, 28, 140 (CCSL 15, 148, 48 f.). 106 Zur Kritik am Verständnis des neutestamentlichen Lexems διακονία als christlichen Liebesdienst vgl. Hentschel, Anni, Diakonia im Neuen Testament. Studien zur Semantik unter besonderer Berücksichtigung der Rolle von Frauen, WUNT 2. Reihe 226, Tübingen 2007 und Collins, John N., Diakonia. Reinterpreting the Ancient Sources, New York 1990. 107 Vgl. Müller, A., Caritas, 31 und Farges, Jacques/Viller, Marcel, Art.: La Charité chez les Pères, DSp 2,1 (1953), 523–569, hier: 529 f. Vgl. ebenso die umfassende Studie von Pétré, Caritas, besonders 96–98. 108 Z. B. Leo-M. Serm. 10 (CCSL 138, 42, 67). Im selben Text spricht er auch von opera misericordiae (Z. 1), opera beniuolentiae (Z. 51), officia caritatis (Z. 51) und opera bona (Z. 93). Inhaltlich sind dabei stets die in Mt 25,35 f. aufgezählten Handlungen gemeint. Zu den Komposita mit opus vgl. Pétré, Caritas, 240–266. 109 Z. B. Tert. Apol. 39,7 (CCSL 1, 151,32). 110 S. Mt 25,40 Vulgata bzw. ποιεῖν im Urtext, vgl. Müller, A., Caritas, 5. 111 Vgl. Pétré, Caritas, 222–239. 112 Vgl. Bultmann, Rudolf, Art.: ἐλεημοσύνη, ThWNT 2, 1935, 482 f., hier: 482. 105
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4 Tätige Nächstenliebe in der Spätantike
finanzielle Unterstützung Armer.113 In den lateinischen Übersetzungen des NT wurde der Begriff nicht mit einem lateinischen Wort übersetzt, sondern lediglich zu eleemosyna114 transkribiert.115 Die lateinischen altkirchlichen Autoren übernahmen diese Neuschöpfung in seiner engen Bedeutung. Sie verwendeten daneben synonym misericordia,116 die widerum eine breitere Semantik besitzt, insofern sie sich nicht nur auf die Linderung äußerer Not bezieht, sondern auch auf die Vergebung, also die Heilung im interpersonellen Bereich.117 Dieser Aspekt kann zunehmend auch mit eleemosyna ausgedrückt werden,118 sodass der Begriff in der Wechselwirkung mit misericordia über den engen neutestamentlichen Gebrauch hinaus eine erhebliche semantische Erweiterung erfahren bzw. zurückerlangt hat.
4.4 Tätige Nächstenliebe bei Augustin Kein spätantiker Autor hatte einen größeren Einfluss auf Gregor den Großen als Augustin. Durch unzählige Zeilen Gregors scheinen Gedanken und mitunter auch Formulierungen des Nordafrikaners durch.119 Insofern erscheint es angebracht, in einem eigenen Kapitel nach der tätigen Nächstenliebe in Augustins Schriften120 zu fragen, bevor die Untersuchung sich ganz auf Gregor konzentrieren wird. 113 Z. B.
Mt 6,2–4; Lk 11,41; 12,33; Apg 3,2 f.10; 9,36; 10,2.4.31; 24,17, vgl. Bultmann, ἐλεημοσύνη. 114 In den altkirchlichen Quellen begegnen neben dieser Schreibweise auch elemosyna und elimosyna, beide deutlich seltener. Die Vulgata liest stets mit einfachem e. 115 Vgl. Pétré, Caritas, 225 f. Sie deutet diese Beobachtung als Beweis dafür, dass der Begriff eleemosyna bereits früh im lateinischen Christentum verbreitet und allgemein verständlich war. 116 Vgl. Ambr. Off. II, 1, 3 (CCSL 15, 97, 21 f.): „misericordiam facere […] in abscondito“ in Bezug auf Mt 6,4: „ut sit elemosyna tua in abscondito“ (Vulgata). Auch wenn Ambrosius wohl noch nicht die Übersetzung des Hieronymus zur Hand hatte, so macht sein Zitat von Mt 6,2 in Ambr. Luc. I, 18 (CCSL 14, 16, 314–316) es äußerst wahrscheinlich, dass die ihm vorliegende Mt-Handschrift auch im übernächsten Vers elemosynam las, zumal Ambrosius ausschließlich in Bibelzitaten bzw. Paraphrasen biblischer Texte die Schreibweise mit einfachem e verwendet, bei eigenen Formulierungen schreibt er ein doppeltes. 117 Gemeint ist damit sowohl das Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen als auch unter den Menschen. 118 Vgl. Aug. s. 206, 2 (PL 38, 1041): „Diese zwei Arten von Almosen pflegen wir gnädig und brennend: zu geben und zu vergeben.“ (haec duo genera eleemosynarum, tribuendi et ignoscendi, clementer et feruenter operemur). 119 Die Mammutaufgabe, die gregorianischen Werke auf seine expliziten augustinischen Quellen zu untersuchen, ist leider noch immer ein Forschungsdesiderat, auch wenn die Bedeutung Augustins für Gregors Denken oft betont wurde, vgl. Kisić, Patria 256 f.; Dudden, Place II, 293 f.; Floryszczak, Regula, 100–108; Fiedrowicz, Kirchenverständnis, 364–367. 120 Die Frage nach tätiger Nächstenliebe im Wirken des Bischofs von Hippo ist zum einen aufgrund einer schlechteren Quellenlage weniger gut zu beantworten als bei Gregor, auch wenn
4.4 Tätige Nächstenliebe bei Augustin
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Im augustinischen Œuvre stellt die Liebe neben der Gnade Gottes einen zentralen Topos dar, wenngleich auch Augustin noch immer keine differenzierte Terminologie entwickelt hatte. Wie Dideberg in seinem dreiteiligen Artikel im Augustinus-Lexikon121 ausarbeitet, sind wie bei den anderen Schriftstellern der Spätantike auch beim Bischof von Hippo amor, caritas und dilectio semantisch kaum zu unterscheiden.122 Amor benennt indes häufiger als die beiden anderen Begriffe auch die negativ besetzte irdische Liebe und besitzt damit die breiteste Bedeutungsspanne.123 Grundsätzlich können aber alle drei Wörter die Liebe Gottes zu den Menschen umfassen wie auch die Liebe des Menschen zu Gott oder zum Nächsten. Darin sind auch dadurch motivierte Handlungen inbegriffen. Die konkreten Taten der Nächstenliebe bezeichnet Augustin zumeist aber als opera misericordiae124 oder schlicht als eleemosynae. Letzteren Begriff verwendet Augustin in bewusst doppelter Bedeutung: Zum einen lassen sich damit materielle Wohltaten bezeichnen, zum anderen wird damit die zwischenmenschliche und immaterielle Vergebung umfasst. Mithilfe dieser semantischen Doppeldeutigkeit spricht Augustin die Fähigkeit zu Liebestaten allen Gläubigen zu, unabhängig von ihren individuellen finanziellen Möglichkeiten. Reiche werden aufgefordert, ihren Besitz großzügig mit den Bedürftigen zu teilen. Aber auch die Armen sind in der Lage, gute Werke zu tun, indem sie Versöhnung üben und so die Einheit der Kirche fördern.125
gerade die von Johannes Divjak entdeckten Augustinbriefe über Details aus dem Bischofsalltag berichten, vgl. Aug. ep. 1*-29* (CSEL 88, 3, 1–138, 20) und Raikas, Kauko, Die sozialrechtliche Funktion des Bischofsamtes bei Augustin. Fünf Untersuchungen zur sozialen und rechtlichen Funktion Augustins in seinem Bischofsamt, University of Joensuu Publications in Theology 3, Joensuu 2001, 117–132. Zum anderen ist es unwahrscheinlich, dass das Handeln Augustins überhaupt Einfluss auf Gregor hatte. Dieser kannte sicher nur dessen literarischen Werke, nicht aber die kirchliche Praxis in Hippo. 121 Dideberg verband für das Augustinuslexikon die Lemmata amor, caritas und dilectio zu einem zusammenhängenden Artikel, vgl. Dideberg, Daniel, Art.: Amor, AugL 1 (1994), 294–300, hier: 294. 122 Vgl. Pétré, Caritas, 90–96. Ihr Fazit ist deutlich: „Il serait donc vain de chercher à distinguer par leur sens les mots caritas, dilectio, amor, dans le vocabulaire d’Augustine“, Pétré, Caritas 96 (Hervorhebungen im Original). Dies reflektiert Augustin auch selbst: „Was im Griechischen ἀγάπη genannt wird, hat nämlich bei den Lateinern zwei Namen [scil. caritas und dilectio].“ (Duo enim nomina habet apud Latinos, quae graece ἀγάπη dicitur), Aug. s. 349, 1 (PL 39, 1529), vgl. auch Aug. ciu. 14, 7 (CCSL 48, 421, 1–423, 63). 123 Vgl. Dideberg, Amor, 294–296. 124 Vgl. etwa Aug. ep. 122, 2 (CCSL 31B, 176, 34 f.). 125 Vgl. Swift, Louis, Giving and Forgiving: Augustine on Eleemosyna and Misericordia, AugStud 32 (2001), 25–36, hier: 25 f.; Fitzgerald, Allan, Almsgiving in the works of Saint Augustine, in: Zumkeller, A. (Hg.), Signum Pietatis. Festschrift Cornelius Petrus Mayer, Cass. 40, Würzburg 1989, 445–459, hier: 446; Kessler, Andreas, Art.: Eleemosyna I. Begriffsgeschichte und statistischer Befund III. Theologische Aspekte, AugL 2 (2002), 752–753.762–767, hier: 762 f. und Müller, A., Caritas, 21.
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4 Tätige Nächstenliebe in der Spätantike
Nach Augustin ist die Liebe das Grundprinzip christlichen Handelns, alle Gebote finden darin ihr „Ziel“ bzw. ihre „Vollendung“.126 Ebenso zielt jegliche Schriftauslegung auf die Liebe ab.127 Die Liebe kann also mit van Geest treffend als „Grundgesetz der Civitas Dei“128 beschrieben werden. Damit bewegt sich Augustin ganz in neutestamentlicher Tradition, die in der Liebe das höchste Gebot und die Erfüllung des Gesetzes sieht.129 Das Verhältnis von Gottes- und Nächstenliebe beschreibt der Bischof von Hippo anhand einer zweifachen Ordnung. Im ordo praecipiandi, der Nennung im Gebot, ist die Liebe zum Höchsten derjenigen zum Nächsten vorangestellt.130 Dies geht ebenso mit einer qualitativen Differenzierung einher: Werden Dinge und Personen um ihrer selbst willen geliebt, so werden sie genossen (frui). Steht hinter dem geliebten Objekt aber ein höheres Ziel, auf das es verweist, so wird das Objekt der Liebe nur gebraucht (uti), um zum Genuss des Höheren zu gelangen.131 Liebe ist dabei als Sehnen nach Glückseligkeit (beatitudo) zu verstehen.132 Verändert sich das geliebte Objekt aber, geht auch die Glückseligkeit verloren. Insofern kann und darf letztendlich nur das Ewige und Unveränderliche genossen werden, also Gott allein. Alles und jeder andere ist dem Wandel unterworfen und verweist als sterbliches Geschöpf lediglich auf seinen ewigen und unveränderlichen Schöpfer zurück.133 Mit dieser neuplatonisch inspirierten Perspektive rät Augustin, nur zu lieben, was sich nicht verändert und also auch nicht verloren werden kann.134 Qualitativ betrachtet ist die Nächstenliebe der Gottesliebe also nachgeordnet: „Jeder Mensch […] muss wegen Gott geliebt werden, Gott aber wegen seiner selbst.“135 Gott wird als Ewiger absolut genossen, wohingegen der Nächste stets auch auf Gott verweist und somit für die Gottesliebe gebraucht wird. Dieser ist somit das letzte Ziel allen Liebens.136 126
„Finis“, Aug. ench. 121 (CCSL 46, 113, 2), vgl. 1 Tim 1,5. Vgl. Aug. doctr. chr. 1, 35, 39 (CCSL 32, 28, 1–29, 12); cat. rud. 8 (CCSL 46, 128, 51–64); 50 (CCSL 46, 174, 14–18), vgl. dazu Dideberg, Daniel, Art.: Caritas, AugL 1 (1994), 730–743, hier: 730 f. 128 van Geest, Paul, Ethik, in: Drecoll, V. H. (Hg.), Augustin Handbuch, Tübingen 2007, 526–539, hier: 537. 129 Vgl. Mt 22,34–40 parr.; Röm 13,8–10; 1 Tim 1,5. 130 Vgl. Aug. Io. eu. tr. 17, 8 (CCSL 36, 174, 1–175, 33). 131 Vgl. Aug. doctr. chr. 1, 4 (CCSL 32, 8, 1–18). 132 Vgl. Mausbach, Joseph, Die Ethik des heiligen Augustinus, 2 Bde., Freiburg 1909, hier: I, 182–184. 133 Vgl. Aug. doctr. chr. 1, 20 (CCSL 32, 16, 1–8). 134 Zur Kritik dieses Liebesverständnisses s. Cary, Philipp, Love and Tears: Augustine’s Project of Loving Without Losing, in: de Paulo, C. et al. (Hgg.), Confessions of Love. The Ambiguities of Greek Eros and Latin Caritas, AmUStTR 310, New York et al. 2011, 39–54. 135 „Omnis homo […] diligendus est propter deum, deus uero propter se ipsum.“ Aug. doctr. chr. 1, 28 (CCSL 32, 22, 8 f.). 136 Vgl. Aug. doctr. chr. 1, 20–22 (CCSL 32, 16, 1–18, 13). 127
4.4 Tätige Nächstenliebe bei Augustin
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In der Praxis aber, dem ordo faciendi, geht die Nächstenliebe der Gottesliebe voran. Gott zu lieben, der unsichtbar ist, erweist sich als abstrakt und schwierig für den irdischen, menschlichen Geist. Daher soll die Liebe zum konkreten, irdischen Nächsten das geistige Auge auch für das Himmlische öffnen und zur Gottesliebe anleiten.137 Augustin argumentiert nicht ausschließlich als theoretischer Theologe, sondern ebenso als Seelsorger, der die Realität der Gläubigen kennt. Die beiden Ordnungen der Liebe, der ordo praecipiandi und der ordo faciendi sind keinesfalls zu trennen, sondern vielmehr die zwei Perspektiven der conditio humana bzw. christiana in diesem Äon: Theologisch gesehen ist die Gottesliebe der Nächstenliebe vorzuordnen, im praktischen Vollzug zeigt sich aber, dass die Lernfortschritte des Menschen umgekehrt verlaufen. Erst von der konkreten Nächstenliebe aus gelingt der Schritt zur abstrakteren Gottesliebe. Wer aber ist der Nächste? Grundsätzlich gilt als Nächster jeder Mensch, der auf Barmherzigkeit angewiesen ist bzw. der mir Barmherzigkeit zukommen lässt. Das Verhältnis ist also stets reziprok aufzufassen.138 Diese umfassende Definition schränkt Augustin für die praktische Umsetzung jedoch sogleich wieder ein: Obwohl alle Menschen in gleichem Maße zu lieben sind, kommt dem Näherstehenden doch ein Vorrang zu.139 Somit sind zuerst die eigenen Familienangehörigen zu versorgen, bevor die Armen der Stadt oder gar andere Gemeinden unterstützt werden. Dies bedeutet freilich nicht, dass Augustin von den Gläubigen keinerlei Solidarität mit Bedürftigen jenseits der eigenen Familie einfordert. Die Ausrede, die Versorgungspflicht den eigenen Kindern gegenüber ermögliche keine großzügigen Almosen, akzeptiert er nicht. Zumindest einen Kindesteil fordert er für Christus und damit für die Armen: „Hast du zwei Söhne, berechne jenem [scil. Christus] ein Drittel; hast du drei, soll ihm ein Viertel angerechnet werden; hast du fünf, wird ihm ein Sechstel gewidmet, hast du zehn, sei er der Elfte.“140 Die Liebe zum Nächsten ist nicht nur innerlich und ideell zu empfinden, sondern in konkreten Taten und Werken zu üben. Die Liebe drängt stets zur Tat, der tatenlose Glaube allein reicht nicht zum Heil.141 Dabei erfüllen gute 137
Vgl. Aug. Io. eu. tr. 17, 8 (CCSL 36, 174, 1–175, 33) und Aug. mor. 1, 48 (CSEL 90, 52, 19–53, 9), dieser Gedanke lehnt sich an 1 Joh 4,20 an. 138 Vgl. Aug. doctr. chr. 1, 31 (CCSL 32, 24, 8–27). 139 Vgl. Aug. doctr. chr. 1, 29 (CCSL 32, 22, 1–23, 12). 140 „Duos filios habes, tertium illum computa: tres habes, quartus numeretur: quintum habes, sextus dicatur: decem habes, undecimus sit.“ Aug. s. 86, 13 (PL 38, 529). Mit ähnlichen Argumenten Spendenunwilliger setzte sich bereits Cyprian auseinander, vgl. Cypr. Eleem 16–18 (CCSL 3A, 65, 308–67, 373). Zur Armenfürsorge bei Cyprian vgl. Dunn, Geoffrey, Cyprians Care for the Poor. The Evidence of De Opere et Eleemosynis, StPatr 42 (2006), 363–368; Dunn, Geoffrey, The White Crown of Works: Cyprian’s Early Pastoral Ministry of Almsgiving in Carthage, ChH 73 (2004), 715–740. 141 Vgl. Aug. ench. 67 (CCSL 46, 85, 1–86, 30) und Mausbach, Ethik I, 190–193.
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Werke unterschiedliche Zwecke. Auf der einen Seite haben sie wie das Gebet einen doxologischen Charakter: „Nicht allein deine Stimme erklingt zum Lobe Gottes, sondern deine Werke vereinen sich mit deiner Stimme.“142 Auf diese Weise ist das gesamte Leben als Gottesdienst zu verstehen.143 Zum anderen haben die Werke einen katechetisch-pädagogischen Wert: Sofern sie öffentlich geschehen, sollen sie die Mitmenschen zur Nachahmung anstiften und so ebenfalls zur Gottesliebe führen.144 Schließlich erkennt Augustin den guten Werken auch eine sühnende Funktion zu. Aber umgekehrt versteht er bereits die Unterlassung von Hilfe als Sünde.145 Dennoch macht er zwei bedeutende Einschränkungen bezüglich der sündentilgenden Wirkung von Werken: Zum einen kann das Almosen als konkretes Werk keinen „Freischein“ für zukünftige Schuld erwerben, sondern lediglich die Bußgebete für bereits begangene Sünden verstärken.146 Zum anderen darf die gute Tat nicht aus Hochmut heraus entstehen oder zu dieser führen. Die Liebe allein muss das Movens sein. Der Wert eines Werkes ist also nicht an ihm selbst, sondern an der Gesinnung zu messen, aus der heraus es geübt wird. In bewusster Abgrenzung vom Pelagianismus versteht Augustin letztendlich die Liebe als Gnadengabe Gottes.147 Nur wenn der Mensch die Gabe der Gottesliebe empfangen hat und aus ihr heraus handelt, sind seine Taten Gott wohlgefällig und gut. In letzter Konsequenz ist die Tat selbst irrelevant, solange die dahinterstehende Gesinnung die geschenkte und erwiderte Liebe ist: „Liebe und tu, was du willst.“148 Die Bindung der Werke an die ihnen zugrunde liegende Gesinnung offenbart die ekklesiologische Dimension der Liebe. Die Gemeinschaft der Kirche ist gegründet auf die Gabe des Heiligen Geistes.149 Er schenkt die Liebe und damit Einheit und Gemeinschaft.150 Ein Schisma wie das donatistische zeugt von fehlender Liebe: „Der Ursprung und Starrsinn des Schismas […] ist der Bruderhass.“151 Da die wahrhafte Liebe nur innerhalb der Kirche gegeben ist, 142 „Non solum vox tua sonet laudes Dei, sed opera tua concordent cum voce tua.“ Aug. en. Ps. 146, 2 (CCSL 40, 2122, 6–8). 143 Vgl. Mausbach, Ethik I, 197. 144 Vgl. Mausbach, Ethik I, 198 f. und Müller, A., Caritas, 20. 145 Vgl. Aug. mor. 1, 50 (CSEL 90, 54, 13–17), zur Sühnefunktion von Almosen bei Augustin vgl. Kessler, A., Eleemosyna, 763 f. 146 Vgl. Aug. ench. 76 f. (CCSL 46, 90, 1–92, 79) und Fitzgerald, Almsgiving, 457–459. 147 Vgl. Dideberg, Daniel, Art.: Dilectio, AugL 2 (2002), 435–453, hier: 439 und van Geest, Ethik, 532. 148 „Dilige, et quod vis fac.“ Aug. ep. Io. tr. 7, 8 (SC 75, 328). S. dazu auch Berrouard, Marie-François, Art.: Dilige et quod uis fac, AugL 2 (2002), 453–455. Vgl. ebenso Aug. ench. 21 (CCSL 46, 61, 1–62,67); Aug. ciu. 14, 6 (CCSL 48, 421, 1–23) und van Geest, Ethik, 531 f. 149 Vgl. 1 Kor 12,13. 150 Vgl. Aug. en. Ps. 30, 2 (CCSL 38, 192, 24 f.) und Dideberg, Dilectio, 442–445. 151 „[…] origo et pertinacia schismatis […] odium fratris“, Aug. bapt. 1, 16 (CSEL 51, 161, 26 f.).
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kann es außerhalb ihrer keine guten Werke geben. Der Wert der Werke und ihre Heilswirksamkeit sind strikt an die Gesinnung der Liebe und damit die Kirche gebunden.152 Obwohl die Liebe den einzigen Maßstab für Augustin darstellt, ist dennoch zu fragen, welche konkreten Werke der Barmherzigkeit er beschreibt und fordert. Dabei unterscheidet er in seiner frühen antimanichäischen Schrift De moribus ecclesiae catholicae et de moribus Manicheorum (388) grundsätzlich zwei Ebenen der tätigen Nächstenliebe: Die Sorge um den Leib, die er medicina nennt, und die Sorge um die Seele, die disciplina.153 Die medicina umfasst dabei ebenso die Versorgung von körperlichem Leiden, die durch „Fachpersonal“ verrichtet wird, wie auch die Befriedigung der Grundbedürfnisse, für die jeder Mensch Verantwortung übernehmen kann. Ganz klassisch zählt Augustin hierbei die Werke nach Mt 25,31–45 auf: Hungrige speisen, Durstige tränken, Fremde aufnehmen, Nackte kleiden, Kranke pflegen, Gefangene besuchen. Zusätzlich nennt er aber auch die Bestattung der Toten, die ebenfalls aus Liebe geschieht.154 Die disciplina, die Sorge um die Seele, umfasst hingegen Ermahnung und Erziehung, wobei wiederum für erstere „Fachpersonal“ erforderlich ist, letztere auch von Laien geübt werden kann.155 Es ist Augustin ein zentrales Anliegen, die Seelsorge in ihrem buchstäblichen Sinne ebenso zur tätigen Nächstenliebe zu zählen. So beschreibt er als eigentlichen Zweck der Nächstenliebe, dass sowohl der Liebende als auch der Geliebte zur Gottesliebe angeleitet werden sollen.156 Somit liegt der Sorge um den Nächsten stets ein missionarisches Moment inne. Darüber hinaus beschreibt Augustin an anderer Stelle dezidiert die Katechese als „Werk der Barmherzigkeit“157 und „geistiges Almosen“158, das sogar noch notwendiger sei als die Versorgung Hungernder mit Brot.159 Augustin wollte die tätige Nächstenliebe nicht nur auf lebende Mitmenschen beschränkt wissen, sondern forderte, dass „er [scil. der Christ] seine Menschlichkeit schließlich auf die Bestattung der Toten ausdehnt.“160 Diese Forderung bezeugt klar die antimanichäische Perspektive der frühen Schriften: Deutlich grenzt sich Augustin von der dualistischen Anthropologie und der damit einhergehenden Leibfeindlichkeit der Manichäer ab und fordert – die Einheit von Leib und Seele voraussetzend –161 Pflege auch noch für die sterblichen bzw. ge152
Vgl. Aug. Io. eu. tr. 13, 15 (CCSL 36, 139, 1–9). Vgl. Aug. mor. 1, 52 (CSEL 90, 56, 2 f.). 154 Vgl. Aug. mor. 1, 53 (CSEL 90, 57, 3 f.). 155 Vgl. Aug. mor. 1, 55 f. (CSEL 90, 57, 19–60, 7). 156 Vgl. Aug. mor. 1, 49 (CSEL 90, 53, 16–54, 3); Mausbach, Ehtik I, 199 und Müller, A., Caritas, 20. 157 „Misericordi op[us]“ Aug. cat. rud. 16 (CCSL 46, 140, 50). 158 „Pecunia […] spiritali“ Aug. cat. rud. 4 (CCSL 46, 124, 70). 159 Vgl. Aug. cat. rud. 22 (CCSL 46, 146, 64–67). 160 „Denique humanitatem suam usque ad sepulturam porrigit mortuorum“ Aug. mor. 1, 53 (CSEL 90, 57, 3 f.). 161 Augustin lehrt keinen unreflektierten Leib-Seele-Monismus, sondern weist im Kon153
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storbenen Überreste des Menschen. In seinem späteren Dienst in der Gemeinde sah sich der Nordafrikaner aber mit ganz anderen Konflikten und Diskussionen konfrontiert, sodass er bezüglich der Sorge um die Verstorbenen klare Grenzen setzte. Noch in seiner Zeit als Presbyter nahm Augustin den Kampf gegen die ausufernde Praxis der Totenmähler (convivia, refrigeria, laetitiae) auf.162 In Nordafrika kam es u. a. bei Märtyrerfesten zu ausschweifenden Trinkgelagen an den Gräbern und damit auch in den Kirchen, was gerade durch die Praxis der Naturalien-Opfergaben am Grab begünstigt wurde.163 Augustin forderte – besonders in Abgrenzung von den Donatisten –164 nur noch züchtige Gedenkfeiern für die Toten abzuhalten.165 Die überbordenden Totenmähler sind ein Zeugnis für den im spätantiken Nordafrika weit verbreiteten Märtyrerkult. Dieser zeigte sich – ebenso wie in anderen Gegenden der christlichen Oikumene – auch im zahlreich geäußerten Wunsch, die Verstorbenen ad sanctos, also in unmittelbarer Nähe zu einem Heiligen- oder Märtyrergrab166 zu bestatten. Eine theologische Einschätzung dieser Praxis bietet Augustin in seiner kleinen Schrift De cura pro mortuis gerenda (421). Die Bemühungen um ein rechtes Begräbnis können zwar sehr wohl als „officiosa pietatis“167 und „misericordiae“168 bezeichnet werden, primär nützen sie dem Toten aber nicht. Im Grab selbst liegt nur der tote Leib. Die Seele169 des Verstorbenen aber überdauert die Zeit bis zur Auferstehung an einem Ort fernab text der Auseinandersetzung mit den Manichäern auf die enge Verbindung beider Ebenen des Menschseins hin, vgl. Aug. mor. 1, 6 (CSEL 90, 8, 4–9, 11). 162 Vgl. Aug. ep. 22 und 29 (CCSL 31, 52, 1–57, 171; 98, 1–105, 244) sowie Gessel, Wilhelm, Reform von Märtyrerkult und Totengedächtnis. Die Bemühungen des Presbyters Augustinus gegen die ‚laetitia‘ und ‚parentalia‘ vom Jahre 395, in: Bäumer, R. (Hg.), Reformatio Ecclesiae. Beiträge zur kirchlichen Reformbemühungen von der Alten Kirche bis zur Neuzeit. Festschrift Erwin Iserloh, Paderborn et al. 1980, 63–73; Kotila, Heikki, Memoria mortuorum. Commemoration of the departed in Augustine, SEAug 38, Rom 1992, 62–77 und Volp, Tod, 234–239. Augustin war mit dem Problem seit seiner Zeit in Mailand vertraut, vgl. Aug. conf. 6, 2 (CCSL 27, 74, 17–25), und bekennt es auch gegenüber den Manichäern, vgl. Aug. mor. 1, 75 (CSEL 90, 80, 15–18). 163 Vgl. Aug. ep. 22, 6 (CCSL 31, 55, 91–103). 164 Vgl. Aug. ep. 29, 11 (CCSL 31, 104, 212–220). 165 Vgl. Aug. ep. 22, 4 (CCSL 31, 54, 71–73) und Aug. ep. 29, 2–11 (CCSL 31, 98, 11–105, 232). 166 Ab dem 4. Jahrhundert nahm, bedingt durch die grundlegend veränderte rechtliche Situation des Christentums, die Zahl der Martyrien schlagartig ab. An ihre Stelle trat das Ideal der heiligen Lebensführung. Zur Zeit Augustins überlappte sich also die Verehrung der „alten“ Märtyrer mit derjenigen der „neuen“ Heiligen. Vgl. dazu Gemeinhardt, Peter, Die Heiligen. Von den frühchristlichen Märtyrern bis zur Gegenwart, C. H.Beck Wissen 2498, München 2010, 25–29. 167 Aug. cura mort. 5 (CSEL 41, 627, 22–628,1). 168 Aug. cura mort. 11 (CSEL 41, 638, 10). 169 Augustin spricht hier stets von spiritus, vgl. Aug. cura mort. 16 (CSEL 41, 649, 9); Aug. ciu. 21, 26 (CCSL 48, 798, 106) und Kotila, Memoria, 92, Anm. 164.
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dieser Welt, ohne Kontakt oder Einfluss von den oder auf die Lebenden.170 Je nach den Verdiensten im Leben erleiden die Seelen dort Übles (mala patiantur) oder ruhen in Frieden (in pace requiescant).171 Zwei Einschränkungen muss Augustin in Bezug auf die hermetische Trennung von Lebenden und Verstorbenen dennoch machen: Zum einen hielt er an der traditionellen Praxis der Fürbitte für Verstorbene fest.172 Zum anderen leugnet er die Erfahrung unzähliger Zeitgenossen nicht,173 dass Märtyrer und Heilige sehr wohl aus dem Tod heraus Hilfe leisteten.174 Auf diese Hoffnung baute die Bestattungspraxis ad sanctos auf. Für Augustin war eine derartige Lokalisierung eine Möglichkeit, die Liebe zum Verstorbenen auszudrücken. Letztlich hat der Ort des Grabes aber keine direkte Auswirkung auf das Schicksal des Verstorbenen.175 Wirksam sind lediglich Almosen, Eucharistiefeiern176 und Fürbitten, gerade letztere erfahren aber durch die Nähe zum von den Hinterbliebenen häufig aufgesuchten Heiligengrab eine enorme Konzentration.177 Insofern hat die Bestattung ad sanctos indirekt doch eine 170
Vgl. Aug. cura mort. 16 (CSEL 41, 649, 9–11). Aug. cura mort. 13 (CSEL 41, 649, 13 f.). In seinem Großwerk De ciuitate Dei beschreibt Augustin vergleichbar, dass die gänzlich sündenfreien Seelen die Zeit bis zum Jüngsten Tag ohne jegliche Regung überdauern, wohingegen die schuldig gewordenen im Feuer Trübsal und Läuterung erfahren. Das endgültige Urteil aber wird erst im Jüngsten Gericht offenbar werden, vgl. Aug. ciu. 21, 26 (CCSL 48, 798, 103–799, 148), s. auch Aug. ench. 109–113 (CCSL 46, 108, 1–110, 77). 172 Er konstatiert, dass den Toten das nütze, „was wir für sie als Opfer des Altares, des Gebetes oder der Almosen feierlich darbringen.“ (Quod pro eis siue altaris siue orationum siue elemosynarum sacrificiis sollemniter supplicamus.) Aug. cura mort. 22 (CSEL 41, 658, 9–11). Diese Wirkung muss allerdings vom Verstorbenen noch zu Lebzeiten verdient worden sein, vgl. Aug. cura mort. 2 (CSEL 41, 622, 17–623, 14). Augustin selbst leistete Fürbitte nicht nur in seiner Funktion als Bischof, sondern auch in ganz persönlichem Kontext, z. B. für seine verstorbene Mutter, vgl. Aug. conf. 9, 34–37 (CCSL 27, 152, 1–154, 58). Zum Totengedenken in der Spätantike vgl. Kotila, Memoria, 35–57. 173 Zur Erfahrung von Wundern an Heiligengräbern vgl. Aug. ciu. 22, 8 (CCSL 48, 815, 1–827, 481). 174 Obwohl er hierfür gleich mehrere Erklärungen vorschlägt, muss er letztendlich vor dieser Frage kapitulieren: „Aber diese Frage übersteigt die Fähigkeiten meines Verstandes.“ (quamquam ista quaestio uires intellegentiae meae uincit.) Aug. cura mort. 20 (CSEL 41, 653, 16). 175 Ebenso macht es für Augustin keinen Unterschied, ob der Leichnam überhaupt bestattet werden kann oder nicht, vgl. Aug. cura mort. 3–6 (CSEL 41, 623, 15–631, 12). Diese Frage war für die Christen im frühen 5. Jahrhundert angesichts der Invasion germanischer Völker in den Mittelmeerraum äußerst virulent, vgl. Aug. ciu. 1, 12 f. (CCSL 47, 13, 1–15, 43). 176 Obwohl die Praxis der östlichen Kirche, in der Messliturgie die auf Diptycha verzeichneten Namen der Verstorbenen zu verlesen, erst ab dem 7. Jahrhundert auch im Westen nachzuweisen ist, vgl. Stegmüller, Otto, Art.: Diptychon, RAC 3 (1957), 1138–1149, hier: 1143–1148, scheint Augustin eine ähnliche Praxis vor Augen zu haben. Durch die namentliche Vergegenwärtigung wurde die den Tod überdauernde Gemeinschaft des Leibes Christi performativ ausgedrückt, vgl. Kotila, Memoria, 153–157. Eine vom Gemeindegottesdienst abgelöste Messfeier für Verstorbene vergleichbar mit den späteren Seelenmessen gab es offensichtlich noch nicht. 177 Vgl. Aug. cura mort. 6 f. (CSEL 41, 629, 18–633, 9). 171
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heilswirksame Bedeutung für die Verstorbenen: als Erinnerungsstütze für die Fürbittpraxis. Wenn aber die Bestattung keine greifbare Bedeutung für die Toten hat, warum sollten die Christen dieses officium pietatis dennoch üben? Hier benennt Augustin vier Gründe: Die Bestattung der Verstorbenen bedeutet Trost für die Hinterbliebenen,178 zumal sie hoffen können, dereinst ebenso umsorgt zu Grabe getragen zu werden.179 Außerdem bezeugt die Sorge für die Toten den Auferstehungsglauben.180 Zudem ist dem Leib gegenüber Respekt geboten, diente er im Leben doch als Werkzeug der Seele.181 Zuletzt verweist der Bischof von Hippo auf das biblische Zeugnis, das dem Werk am Verstorbenen einen Verdienst zusagt,182 wenn auch die irdischen Almosen ungleich reicher vergolten werden.183 Wodurch war Augustins zunehmende Vorsicht gegenüber einer überbordenden Fürsorge für die Toten bedingt? Hier lassen sich keine abschließenden Antworten finden, sondern lediglich Vermutungen anstellen. So begegnet Augustin in beiden Angelegenheiten weniger als theoretischer Dogmatiker184, sondern als Presbyter bzw. Bischof und damit im Gemeindedienst. Als Amtsträger der Kirche war ihm daran gelegen, deren Autorität zu festigen und auszubauen. Seine Reform des Totenkults – weg von der privaten Mahlfeier am Grab hin zu Fürbitten, Almosen und dem Gedenken in den Eucharistiefeiern – kann deutlich als Ausweitung des Kontroll- und Einflussbereichs der Kirche gewertet werden.185 Obendrein zeigt die Einforderung von kirchlich verwaltetem Almosen anstelle der üblichen Sachspenden186 einen karitativ und geradezu ökonomisch denkenden Bischof, dem daran gelegen ist, die Gaben in der Gemeinde möglichst nutzbringend einzusetzen. Die neutrale Beurteilung der Grablege ad sanctos scheint der kirchlichen Kontrolle vorerst zu widersprechen, da sie die Bestattung ja gerade wieder außerhalb der Kirchengebäude begünstigt. Auf den zweiten Blick stand Augustin als Bischof einerseits sicherlich auch vor dem Problem, dass die Nachfrage das Angebot an Grabplätzen bei den Märtyrern deutlich überstieg.187 Andererseits bindet er den Totenkult der Gläubigen durch die Beschränkung auf Fürbitten, 178
Vgl. Aug. cura mort. 4 (CSEL 41, 626, 13–16). Vgl. Aug. cura mort. 11. (CSEL 41, 638, 8–639, 11). 180 Vgl. Aug. cura mort. 5 (CSEL 41, 628, 11–14), hier zeigt sich also erneut der missionarisch-katechetische Charakter, den Augustin der tätigen Nächstenliebe zuspricht. 181 Vgl. Aug. cura mort. 5 (CSEL 41, 627, 13–22). 182 Vgl. Tob 12,12. 183 Vgl. Aug. cura mort. 5 (CSEL 41, 628, 14–18). 184 Auch wenn seine sich fortschreitend entwickelnde Prädestinationslehre durchaus in enger Verbindung zur Ablehnung der Heilswirksamkeit von Werken für Tote steht, vgl. dazu Kotila, Memoria, 160–166. 185 Vgl. Kotila, Memoria, 72–77. 186 Vgl. Aug. ep. 22, 6 (CCSL 31, 55, 95–103). 187 Vgl. Volp, Tod, 120. 179
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Almosen und der memoratio in den Eucharistiefeiern viel langfristiger und wirksamer an die Institution der Kirche als die reine Lokalisierung des Grabes. Augustin beschreibt die tätige Nächstenliebe grundsätzlich vor allem von ihrer Intention her, weniger in ihrer praktischen Ausübung. Maßgeblich für die Bewertung einer Handlung ist keinesfalls die Quantität wie etwa der Umfang eines gespendeten Almosens, sondern allein die Gesinnung des Gebers. Die Tat muss aus Liebe zum Nächsten und damit aus Liebe zu Gott geschehen, die stets das letzte Ziel des Christen ist. Die Grundlegung der Liebe lässt sich – zumindest in der Theorie – als Unterscheidungsmerkmal christlicher Nächstenliebe vom paganen Euergetismus begreifen, suchte dieser doch vor allem das Prestige des Gebers zu mehren.188 Dieses intentionale Verständnis von Nächstenliebe lässt Augustin aber auch die tatsächlichen Werke sehr breit definieren und so alle Gesellschaftsschichten der Gemeinde in die Verantwortung holen. Die Wohlhabenden schreckt er – im Gegensatz zu seinen pelagianischen Gegnern – nicht mit der rigoristischen Forderung ab, der gesamte Reichtum sei aufzugeben. Bei guter Gesinnung reiche schon eine kleine Gabe,189 die also auch weniger Reiche leisten können. Zudem können auch die wirklich Armen durch Vergebung Nächstenliebe üben. Auf diese Weise schafft es der Bischof von Hippo, die Gemeinschaft der Kirche auch in der Praxis der Nächstenliebe zu verwirklichen – Reiche und Arme sind gleichberechtigt und gegenseitig aufeinander angewiesen.190 Diese gemeingesellschaftliche Perspektive der tätigen Nächstenliebe nimmt Gregor später auf, entwickelt sie weiter und macht sie zum Zentrum seiner Ekklesiologie.191 In seiner Lehre von der tätigen Nächstenliebe ist Augustin zudem als realitätserfahrener Bischof wahrzunehmen. Trotz aller Spiritualisierung mahnt er stets zum konkreten Werk. Nur mit der tat- bzw. zahlungskräftigen Unterstützung der Gläubigen konnte er dem alltäglichen Leid in der Gemeinde begegnen. In diesem Sinn schränkte er die Werke für Verstorbene strikt auf Fürbitten, Almosen und das Gedenken im Rahmen der Eucharistiefeier ein. Die materiellen Möglichkeiten der Gemeinde sollten den Lebenden zugutekommen und nicht über den Gräbern in Schall und Rausch aufgehen.
188 Vgl. Krause, Jens-Uwe, Art.: Eleemosyna II. Sozialgeschichtliche Aspekte, AugL 2 (2002), 753–762, hier: 759–761; zum Zusammenhang vom antiken Euergetismus und den Wohltaten der Bischöfe s. Markschies, Christoph, Die politische Dimension des Bischofsamtes im vierten Jahrhundert, in: Mehlhausen, J. (Hg.), Recht – Macht – Gerechtigkeit, VWGTh 14, Gütersloh 1998, 438–469; zum antiken Euergetismus vgl. Frass, Euergetismus; Leppin, Euergetismus. 189 Vgl. Krause, Eleemosyna, 759. 190 Vgl. Aug. s. 389, 4 (Lambot 49, 152 f.): „Was sind die Armen, denen wir geben, wenn nicht unsere Lastenträger, mit deren Hilfe wir von der Erde in den Himmel ziehen?“ (Quid sunt pauperes quibus damus, nisi laturarii nostri, per quos in caelum de terra migremus?). 191 Vgl. Kap. 5.3.3; 5.5.3.2; 5.6.3.3; 6.4.2.
5 Das Ideal der tätigen Nächstenliebe im literarischen Werk Gregors Nachdem die verschiedenen historischen Kontexte, in denen Gregor stand, sowie Lehre und Praxis tätiger Nächstenliebe in der Spätantike herausgearbeitet wurden, soll nun das Ideal derselben in seinem literarischen Œuvre im Mittelpunkt stehen. Hierfür werden in chronologischer Reihenfolge die einzelnen Werke Gregors auf Aussagen über die tätige Nächstenliebe hin untersucht. Eine Besonderheit stellen hierbei die Moralia in Iob dar: Zwar liegen die Anfänge der Hiobauslegung in der Zeit Gregors als Apokrisiar in Konstantinopel, dennoch überarbeitete und ergänzte er die Vorträge erst später zu einem Gesamtwerk. Sowohl die zeitliche Einordnung der endgültigen Veröffentlichung1 als auch die Abgrenzung verschiedener literarischer Schichten2 wurden in der Forschung äußerst kontrovers und bisher noch nicht abschließend diskutiert. Die redaktionellen Arbeiten erweisen sich hingegen als so umfassend, dass das opus magnum des römischen Bischofs in seiner jetzigen Form durchaus als Spätwerk betrachtet werden kann und seine Untersuchung dementsprechend das vorliegende Kapitel beschließt.3 Als Leitfragen für die Untersuchung dienen wie auch in den vorangegangenen Kapiteln: Wie wird das Gebot zur aktiven Unterstützung der Mitmenschen theologisch begründet? Welche Formen tätiger Nächstenliebe werden beschrieben und gefordert? Inwiefern sind die jeweiligen Aussagen aus ihrem konkreten Kontext heraus zu verstehen? Mitunter soll hier auch die traditionsgeschicht1 Stephan Kessler und Katharina Greschat sprechen sich für einen frühzeitigen Abschluss des Werkes um 590/591 aus, vgl. Kessler, St., Exeget, 39 und Greschat, Moralia, 26, wohingegen Marcus Adriaen, der Herausgeber des Werkes im Corpus Christianorum nur sehr vage von „ante annum 600 uel certe 602“ spricht, vgl. Adriaen, Marcus, Prolegomena, in: ders. (Hg.), Sancti Gregorii Magni Moralia in Iob, CCSL 143, Turnhout 1979, V–XXIX, hier: V, vgl. auch Kap. 5.6. 2 Davon gehen Paul Meyvaert und Robert Markus aus, vgl. Meyvaert, Paul, Uncovering a Lost Work of Gregory the Great: Fragments of the Early Commentary on Job, Tr. 50 (1990), 55–74 und Markus, Robert A., Gregory the Great’s rector and his Genesis, in: Fontaine, J. et al. (Hgg.), Grégoire le Grand. Chantilly, Centre culturel Les Fontaines, 15–19 septembre 1982, Colloques Internationaux du CNRS, Paris 1986, 137–146, hier: 137–139, dagegen spricht sich aber Claude Dagens aus, vgl. Dagens, Culture, 13. 3 Zu den redaktionsgeschichtlichen Beobachtungen und den Argumenten für die Berücksichtigung der vorliegenden Endredaktion der Moralia in Iob vgl. Kap. 5.6.1.
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5 Das Ideal der tätigen Nächstenliebe im literarischen Werk Gregors
liche Fragestellung berücksichtigt werden: Welche Aspekte der Lehre von der tätigen Nächstenliebe rezipiert und/oder variiert Gregor aus der Tradition?
5.1 Der Hoheliedkommentar – Der Weg zur mystischen Gottesschau Das früheste Werk Gregors, das überliefert ist, ist der kurze Kommentar zum Hohelied. Er entstand aus Vorträgen, die Gregor kurz nach seinem Eintritt in das Andreaskloster hielt.4 Der Kommentar legt chronologisch die ersten acht Verse des biblischen Buches aus.5 Zuvor legt Gregor ausführlich seine hermeneutischen Prinzipien dar6 und trifft einleitende Aussagen zur kanonischen Stellung des Hohelieds im AT und den handelnden Personen.7 Er deutet in traditioneller Allegorese8 die Braut des Hohelieds sowohl allgemein als die gesamte Kirche als auch speziell als die einzelne Seele auf der Suche nach Gott.9 Als Erstlingswerk zeugt die Expositio in Canticum Canticorum von der persönlichen Situation des Verfassers kurz nach seiner conversio.10 Gerade mit der Interpretation der Braut als individueller Seele deutet Gregor den immensen Wandel in seinem Leben: Nachdem er die weltliche Karriere sowie den materiellen Besitz zurückgelassen und sich für eine monastische Lebensweise entschieden hat, will er sich nun ganz der inneren Kontemplation, der Gottsuche widmen. Dafür versucht er mit seiner Auslegung des Hohelieds eine Anleitung für alle „perfecti uiri“11 zu geben, die sich wie er bereits von allen irdischen Leidenschaften gelöst haben12 und sich ganz der spirituellen Sehnsucht hingeben. Dennoch ist Gregor auch in seinem Erstlingswerk bereits anzumerken, 4 Zur Redaktionsgeschichte und der Forschungsdiskussion um Entstehungszeit, Redaktion und Umfang des Werks vgl. Müller, S., Fervorem, 11–26.234–238 und Kap. 3.3. 5 Vgl. Greg.‑M. In Cant. 12–46 (CCSL 144, 14, 246–46, 896). 6 Vgl. Greg.‑M. In Cant. 1–5 (CCSL 144, 1, 1–8, 119). 7 Vgl. Greg.‑M. In Cant. 6–11 (CCSL 144, 8, 120–14, 245). 8 Diese Deutung übernimmt Gregor von Origenes, dessen Hoheliedauslegung ihm anhand der Übersetzung Rufins vorlag, vgl. Bélanger, Introduction, 43–49 und Petersen, Joan, The Influence of Origen upon Gregory the Great’s Exegesis of the Song of Songs, StPatr 18 (1985), 343–347. 9 Vgl. Greg.‑M. In Cant. 9 (CCSL 144, 13, 119–222). 10 Zur einschneidenden Wende in Gregors Leben vgl. Dagens, Conversion. 11 Greg.‑M. In Cant. 10 (CCSL 144, 13, 230). 12 Sicherlich darf die Form der Askese im römischen Andreaskloster nicht allzu rigoros bewertet werden, vgl. Müller, B., Führung, 47–52. Sie betont, dass die dortigen Fastenvorschriften wohl weniger radikal waren. Dennoch ist der Anspruch Gregors an sich und seine Brüder in der formulierten Radikalität zuerst einmal ernst zu nehmen, zumal die Vorträge über das Hohelied ursprünglich wahrscheinlich nur für das exklusive Publikum im Andreaskloster bestimmt waren und Gregor anfangs noch keine Überarbeitung und Veröffentlichung geplant hatte, vgl. Müller, S., Fervorem, 231 f. So ließe sich auch erklären, warum dies erst so spät geschah und von externer Seite, von Abt Claudius, induziert worden war.
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dass er mit einer reinen vita contemplativa nicht auskommen wird. Vielmehr sieht er, wie zu zeigen sein wird, auch die Asketen in der Verantwortung für die christliche Gemeinde in der Welt.
5.1.1 Die contemplatio Dei als höchstes Ziel In zahlreichen Variationen beschreibt Gregor in seiner Auslegung die contemplatio Dei als oberstes Ziel des asketischen Lebens, die Gott in diesem Leben allerdings nur punktuell schenkt. Die beständige Schau kann erst jenseitig erfahren werden.13 Auf dem Weg der kontemplativen Annäherung an Gott ist die Leidenschaftslosigkeit (impassibilitas) die grundlegende Voraussetzung: Der Myste muss zuerst seine irdischen Begierden ablegen und so die zukünftige Auferstehung des Leibes im Geist antizipieren.14 Erst dann kann und darf er die Heilige Schrift und ihren geistigen Sinn erforschen.15 Zur mystischen Gottesschau leitet Gregor in seinem Hoheliedkommentar in zweifacher Weise an, in einem Drei- und einem Vierschritt: Gleich einer „Leiter zur Kontemplation Gottes“16 beschreibt die kanonische Reihenfolge der Salomo zugeschriebenen Bücher Proverbien, Kohelet und das Hohelied den Fortschritt in der Lebensweise von der moralischen über die natürliche17 hin zur Vollendung in der kontemplativen.18 Im Kontext rationaler Erörterung und Formung der Lebensweise stellt die Ethik also lediglich den ersten Schritt der Spiritualität dar, dem die Beobachtung der Natur und ihrer Endlichkeit folgt, bevor dann schließlich Gott im Fokus steht. 13 Vgl.
Müller, S., Fervorem, 77.82 f. Greg.‑M. In Cant. 4 (CCSL 144, 6, 83–7, 92). Gregor vertritt hier in Anlehnung an Apk 21,4 eine stoisch anmutende Lehre: Der Auferstehungsleib wird impassibile sein, also weder Leiden noch Leidenschaften empfinden. Diese Vorstellung scheint er aber bald verändert zu haben: Im vierten Buch der Dialoge beschreibt er, dass die Gerechten am Jüngsten Tag die Freuden des Himmels auch leiblich erleben werden, wohingegen die Verdammten in der Hölle ihren Leib zurückerhalten, um die ewige Pein körperlich zu erleiden, vgl. Greg.‑M. Dial. IV, 26, 3 f. (SC 265, 84, 20–86, 36); 30, 5 (SC 265, 102, 38–43). 15 Vgl. Greg.‑M. In Cant. 5 (CCSL 144, 7, 93–8, 119). 16 „[…] ad contemplationem Dei scalam“ Greg.‑M. In Cant. 9 (CCSL 144, 13, 216). Das Bild der Leiter entwickelte sich im 6. Jahrhundert zur klassischen Metapher der Askese, vgl. Müller, A., Konzept, 147 f.; Ben. Reg. 7, 5–70 (CSEL 75, 40–52). Zu diesem Kapitel der Benediktsregel vgl. Neugeschwandtner, Peter, Das VII. Kapitel der Benediktusregel als innerer und äußerer Weg des Menschen zur Gottes- und Nächstenliebe, Kirchstetten 2003. 17 Gemeint ist damit die Erforschung alles Vergänglichen und zugleich die Kritik desselben. 18 Vgl. Greg.‑M. In Cant 9 (CCSL 144, 11, 190–13, 222), diese Deutung übernimmt Gregor von Ambrosius, vgl. Ambr. Abr. 2, 8, 54 (CSEL 32/1, 607, 1–608, 21) und Ambr. Luc. Prol. 2 (CCSL 14, 1, 7–2, 33), oder Origenes, vgl. Or. Cant. Prol. (GCS 33, 75, 2–76, 12), vgl. Kessler, St., Exeget, 153 f., der lediglich die zweite Textstelle nennt. Als weiteren Beleg für die Reihung der Lebensweisen führt Gregor die Erzväter an, Abraham steht durch seinen Gehorsam für die Moral, Isaak, der Brunnengräber, für die Naturbeobachtung, Jakob, der die Himmelsleiter träumte, schließlich für die Gottesschau. 14 Vgl.
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In Anlehnung an 1 Kor 13,13 beschreibt Gregor die Entwicklung, die innerhalb der Kirche durchlaufen werden kann, mit dem Bild eines Hauses:19 Wer zum Glauben gekommen ist, hat die Pforte des Hauses betreten und sich damit den Weg zu anderen Tugenden eröffnet. Wer zudem Hoffnung hat, dem wird das Herz wie bei einer Treppe emporgehoben zum Himmlischen. Die Liebe wiederum zeigt sich weit wie die Speisesäle, ja sie erstreckt sich sogar auf die Feinde. Die Vollendung der Liebe und damit aller Tugenden aber ist die „Kenntnis der Geheimnisse Gottes“20. In der Entwicklung des persönlichen Glaubens ist die Liebe also keinesfalls nur der Anfang, sondern bereits eine deutlich fortgeschrittene Stufe, auf die nur noch das oberste Ziel, die contemplatio Dei, folgen kann. Erreicht werden kann diese durch die Trennung von allem Irdischen und die Konzentration auf die geistige Durchdringung der Schrift. Obwohl Gregor mit den Vorträgen eine Gemeinschaft von Mönchen anspricht, so sind seine Auslegungen doch sehr auf die Einzelperson bezogen. Die Exegese der einzelnen Verse mit der Perspektive auf die gesamte Kirche als Braut tritt im Verlauf des Werkes immer weiter in den Hintergrund.21 Das zentrale Thema des Werks ist die Forderung der individuellen uneingeschränkten Gottesliebe. Schon zu Beginn in der Darlegung seiner Hermeneutik verdeutlicht Gregor, dass die im biblischen Text beschriebene erotische, zwischenmenschliche Liebe lediglich als Lernhilfe (machina) auf dem langen Weg zur Erkenntnis Gottes dient, keinesfalls aber wörtlich verstanden werden darf.22 Das bekannte Bild der irdischen Liebe holt den Menschen zwar in seiner alltäglichen Erfahrung ab, leitet ihn dann aber fort zu überirdischen Themen. Damit mutet Gregor seinen Zuhörern und später auch den Lesern Einiges zu: Wovon der biblische Text auf den ersten Blick berichtet, muss in einem tieferen, geistigen Sinn verstanden werden und erhält somit eine fast gegensätzliche Deutung. Vom Lob der körperlichen Liebe zwischen Braut und Bräutigam gelangt Gregor zur Verachtung derselben. Damit das Auditorium diesen allegorischen Ansatz sicher versteht und verinnerlicht, stellt der Exeget mit unterschiedlichen Attributspaaren die Liebe zu Gott derjenigen zum Mitmenschen diametral entgegen: infra – supra23, exterior – interior24, turpis – sacer.25 Durch die Fokussierung auf ein die Welt transzendierendes Ziel gerät die irdische Liebe automatisch an den Rand des Blickfelds und dient fortan vor allem als Negativfolie für die weitere Auslegung. 19
Vgl. zum Folgenden Greg.‑M. In Cant. 26 (CCSL 144, 27, 502–28, 531). „[…] cognitio[nem] secretorum Dei“ Greg.‑M. In Cant. 26 (CCSL 144, 28, 524). 21 Vgl. Müller, S., Fervorem, 232 f. 22 Vgl. Greg.‑M. In Cant. 4 (CCSL 144, 4, 38–5, 49). 23 Greg.‑M. In Cant. 3 (CCSL 144, 4, 26 f.). 24 Greg.‑M. In Cant. 4 (CCSL 144, 4, 42). 25 Greg.‑M. In Cant. 3 (CCSL 144, 4, 33 f.), zu den komplementären Strukturen, die in Gregors Denkweise häufig zu beobachten sind, vgl. Straw, Perfection. 20
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5.1.2 Die Ambivalenz irdischer Tugenden und Werke Da Gregor in asketischer Tradition die Liebe zu allem Irdischen durchweg negativ besetzt, wird der Nächste in der Auslegung des Hohelieds kaum in den Blick genommen. Liebe wird fast ausschließlich als Liebe zu Gott aufgefasst.26 Entsprechend werden auch menschliche Werke und Tugenden äußerst ambivalent bewertet. Jegliche weltliche Beschäftigung – und geschieht sie auch aus hehren Gründen – lenkt grundsätzlich von der Kontemplation, der eigentlichen Aufgabe, ab. „Daher fügt er [scil. Salomo] auch hinzu: ‚Sie haben mich als Wächter in die Weinberge gestellt, meinen Weinberg habe ich nicht bewacht.‘ (Hld 1,5) Die Weinberge sind nämlich die irdischen Tätigkeiten. Als wenn er sagte: ‚In irdische Tätigkeiten haben sie mich als Wächter gestellt.‘ Und was? ‚Meinen Weinberg, das ist meine Seele, mein Leben, meinen Geist, habe ich vernachlässigt zu bewachen: denn solange ich äußerlich in die Beschäftigung mit irdischen Dingen eingebunden bin, bin ich dem inneren Bewachen entglitten.‘“27
Die Konkurrenz zwischen der Verantwortung in der Welt und der persönlichen Zeit des Gebets, die Gregor während seines gesamten Pontifikats zu schaffen machte, beschreibt er bereits in seinem ersten Werk. Die vita contemplativa und die vita activa erscheinen ihm in dieser frühen Zeit gänzlich unvereinbar, die Möglichkeit einer vita mixta zieht er nicht in Betracht. Vielmehr gibt er der Kontemplation klar den Vorzug.28 Ein Schwachpunkt der Tugenden besteht darin, dass sie mit irdischem Ruhm verbunden sind und so leicht zu Hochmut führen können. Ohnehin muss bei allen vermeintlich guten Werken oder Lebensweisen die zugrundeliegende Intention beachtet werden: Wem sucht der Handelnde zu gefallen – den Menschen oder Gott?29 Gregor steht hier deutlich in augustinischer Tradition, der Beweggrund schafft erst den Wert einer Tat: „Deshalb sind dies keine Tugenden, weil 26 Eine Ausnahme stellt die bereits erläuterte Deutung der Trias Glaube – Hoffnung – Liebe dar, deren letztes Element explizit auch auf die Feindesliebe bezogen wird. Übertroffen und vollendet wird diese Liebe zum Mitmenschen aber von der Kontemplation Gottes, vgl. Greg.‑M. In Cant. 26 (CCSL 144, 27, 502–28, 531), zur Anwendung von 1 Kor 13,13 in den Ezechielhomilien vgl. Kap. 5.5.2.4. 27 „Vnde et subiungit: posvervnt me cvstodem in vineis, vineam meam non cvstodivi. Vineae enim sunt actiones terrenae. Ac si dicat: ‚In actionibus terrenis custodem me posuerunt.‘ Et quid? ‚Vineam meam, id est animam meam, uitam meam, mentem meam, custodire neglexi: quia, dum exterius in rerum terrenarum actione inuoluta sum, ab interna custodia elapsa sum.‘“ Greg.‑M. In Cant. 40 (CCSL 144, 39, 758–764), Hervorhebung im Original. Gregor meint hier nicht nur weltliche Lüste, sondern dezidiert die Übernahme weltlicher Aufgaben und Verantwortungen, da er die res terrenae nicht absolut verwendet, sondern sie zum Genitivattribut der actio macht. Wenig später spricht er gar von den exteriora ministeria, vgl. Greg.‑M. In Cant. 40 (CCSL 144, 40, 766 f.). 28 Vgl. dazu Müller, S., Fervorem, 124. 29 Vgl. Greg.‑M. In Cant. 17 (CCSL 144, 18, 334–19, 346).
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sie nicht danach streben, Gott zu gefallen“30 Doch selbst wenn eine Tat durch den Blick auf Himmlisches motiviert ist, so ist sie nicht per se als gut zu beschreiben. Denn der Gläubige könnte aus Furcht vor dem himmlischen Richter handeln und nicht aus reiner Liebe zu ihm. Erst diese macht aber den Menschen zum Gerechten: „Denn jeder, der gute Werke aus Furcht tut, ist, auch wenn er im Werk gerecht ist, nicht im Verlangen gerecht: Er wünschte nämlich, dass nicht sei, was er fürchtet, dann übte er keine guten Werke. Wer aber gute Werke aus Liebe tut, ist sowohl im Werk als auch im Verlangen gerecht.“31
Nach Gregor werden Tugenden und gute Taten also erst dann vor Gott als solche angesehen, wenn ihr Antrieb in der reinen Gottesliebe liegt, die irdischen Ruhm und die Furcht vor Gott hinter sich gelassen hat.32 Die Ablehnung des irdischen Ehrgeizes mag nicht weiter überraschen. Das Entkräften der Verknüpfung vom Handeln im Diesseits und dem Gericht im Jenseits hingegen steht den späteren Werken Gregors deutlich entgegen.33 In der frühen Phase im Andreaskloster aber spricht Gregor vor Mönchen, die er nicht erst zum gottgefälligen Leben auffordern muss. Sie haben als Asketen mit Blick auf ihr Urteil coram Deo den weltlichen Leidenschaften bereits entsagt. Ziel des Hoheliedkommentars ist es, die beim Publikum schon vorauszusetzende rechte Lebensweise zu einem noch Besseren zu formen – zur contemplatio Dei. Trotz der grundlegenden Skepsis gegenüber Tugenden und Werken äußert sich Gregor auch positiv über sie. So sind die Tugenden „Geschenke“34 des Bräutigams Christus und „Gaben des Geistes“35, sie werden also auf göttlichen Ursprung zurückgeführt; auch hier zeigt sich die stark augustinische Prägung Gregors.36 Zudem sind die Tugenden der Schatz und das Merkmal der Kirche, wodurch sie sich von den alten Irrwegen des Heidentums unterscheidet.37 30 „[…] quae idcirco uirtutes non sunt, quia deo placere non appetunt“ Greg.‑M. In Cant. 17 (CCSL 144, 19, 338 f.). Zur Rolle der Intention vgl. auch Kap. 5.3.3.2, 5.5.2.3 und 5.6.4, zur augustinischen Lehre vgl. Alici, Luigi, Art.: Intentio, AugL 3 (2010), 662–665. 31 „Omnis enim, qui bona opera pro timore agit, etsi in opere rectus est, in desiderio rectus non est: uellet enim non esse, quod timeret, et opera bona non faceret. Qui uero opera bona pro amore agit, et in opere et in desiderio rectus est“ Greg.‑M. In Cant. 31 (CCSL 144, 31, 596–600). 32 Zur Vorstellung des Progresses von Gottesfurcht zur Gottesliebe vgl. Greg.‑M. In Cant. 8 (CCSL 144, 10, 154–11, 169); 18 (CCSL 144, 19, 347–352), vgl. auch Greg.‑M. Mor. I, 37 (CCSL 143, 45, 1–21); IX, 64 (CCSL 143, 503, 13–25); XXXI, 27 (CCSL 143B, 1569, 11–14) und Kap. 5.6.3.1.1. 33 So lässt sich vor allem das vierte Buch der Dialoge mit seinen plastischen Beschreibungen jenseitiger Löhne und Strafen als bischöfliche Katechese mit dem Ziel der ethischen Formung seiner Gemeinde lesen, vgl. Kap. 5.4.3. Ein vergleichbarer Fortschrittsgedanke begegnet auch in Greg.‑M. Past. III, 13 (SC 382, 334, 4–336, 30); 23 (SC 382, 418, 73–80). 34 „[…] munera“ Greg.‑M. In Cant. 20 (CCSL 144, 22, 415). 35 „[…] spiritus dona“ Greg.‑M. In Cant. 14 (CCSL 144, 16, 292). 36 Vgl. dazu Kap. 5.5.2.2 und 5.6.3.1.1. 37 Vgl. Greg.‑M. In Cant. 20 (CCSL 144, 22, 402–407); 38 (CCSL 144, 37, 721–38, 738).
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Letztendlich werden aber auch alle gottgegebenen Tugenden übertroffen und vollendet in der „Salbung der Schau Gottes“38. Guten Werken schreibt Gregor indes die Möglichkeit zu, einen ersten, indirekten Kontakt mit Christus herzustellen. In gelungener Weise verknüpft der Exeget Lk 7,36–50 mit Mt 25,40: Der Pharisäer, der Christus zu Tisch bittet, ist das Paradigma für alle, die Hungrige speisen. Auch sie können nach Mt 25,40 darauf hoffen, Christus selbst zu dienen. Aber wie der Pharisäer überboten wird von der Frau, die den Herrn salbt und ihm die Füße küsst, so sind die Barmherzigen denen unterlegen, die Gott nicht nur äußere Güter übereignen, sondern auch den eigenen Geist, der gänzlich und unablässig von Gottesliebe angetrieben ist.39 Am Ende des Kommentars, das Susanne Müller als deutlich weniger durchdacht beschreibt,40 verstärkt Gregor die positive Bewertung guter Werke noch einmal und konstatiert, dass sie unverzichtbar zum Glauben gehören. Fehlen sie, ist die Seele nicht mit sich im Reinen – sie erkennt sich selbst nicht.41 So wie zuvor Werke ohne eine zugrundeliegende Gottesliebe gering geachtet werden, so gilt nun ebenso ein Glaube ohne Werke als oberflächlich.42 Doch je weiter Gregor seinen Gedanken ausführt und Glaube und Werke eng verknüpft, umso stärker werden auch seine Einschränkungen. Mit knappem Verweis auf eine Prädestinationsvorstellung augustinischer Couleur spricht er äußeren Werken schließlich ihre Aussagekraft über Inneres ab.43 Nachdem die allgemeinen Begriffe Tugenden und Werke (virtutes und opera) bisher ohne nähere Bestimmung verwendet wurden, ist zu fragen, was Gregor darunter jeweils versteht. Bezüglich der Tugenden bietet er im Hoheliedkommentar gleich vier Tugendkataloge nach paulinischem Vorbild.44 Die Listen sind nicht deckungsgleich und bilden jeweils einen anderen Fokus. Im 17. Kapitel des Kommentars werden Tugenden aufgezählt, die in der Welt geachtet sind: 38
„[…] unctio contemplationis Dei“ Greg.‑M. In Cant. 20 (CCSL 144, 22, 407 f.). Vgl. Greg.‑M. In Cant. 18 (CCSL 144, 20, 362–372). 40 „Hier tut sich Gregor sehr schwer, den Text für seine Hörer verständlich zu machen und verfällt dabei auf eine Deutung, die in Teilen seinen früheren Aussagen widerspricht.“ Müller, S., Fervorem, 233. 41 Vgl. Greg.‑M. In Cant. 44 (CCSL 144, 42, 821–823). 42 „Falls du aber Böcklein [scil. irdische Leidenschaften] weidest, weide neben den Zelten der Hirten, damit du [nur] nach dem christlichen Glauben genannt wirst und nicht nach den Werken, weil du [nur] durch den Glauben innerhalb [scil. der Zelte der Hirten] zu sein scheinst und nicht innerhalb durch Werke.“ (Si uero hedos pascis, iuxta tabernacula pastorum pasce; ut fide uoceris christiana et non operibus, quia intra uideris esse per fidem et non intra per opera.) Greg.‑M. In Cant. 44 (CCSL 43, 845–848), Hervorhebung durch die Verfasserin dieser Arbeit. 43 Vgl. Greg.‑M. In Cant. 45 f. (CCSL 144, 43, 850–46, 896). Auch in späteren Werken hält Gregor grundsätzlich an der Prädestinationslehre fest, ohne sie aber genauer auszuführen, vgl. Greg.‑M. Dial. I, 8, 5 (SC 260, 74, 39–45). Dennoch bleibt dieser Topos in seiner Theologie marginal, insofern er die Gläubigen beständig auf die Möglichkeiten hinweist, das individuelle Schicksal im Jenseits positiv zu beeinflussen. 44 Vgl. Gal 5,22; Phil, 4,8. Zu den möglichen Vorlagen Gregors, s. Müller, S., Fervorem, 76 f. 39
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„Denn du siehst, dass viele [scil. der Weisen der Welt] Liebe haben, Freundlichkeit bewahren, äußere Ehrbarkeit gegenüber allen üben.“45 Geschehen diese aber nicht um Gottes willen, sondern mit dem Wunsch nach irdischem Ruhm, sind sie den wahrhaften Tugenden klar unterlegen und werden von Gregor gar „erdachte […] Bilder“46 genannt. Drei Kapitel später zählt er dann die Vortrefflichkeiten auf, die der Kirche durch Gottes Gnaden geschenkt sind: Wissen (scientia), Keuschheit (castitas), Barmherzigkeit (misericordia), Demut (humilitas) und Liebe (caritas).47 Gregor offenbart hier eine doppelte Ekklesiologie:48 Zwar umfasst für ihn die Kirche die Gesamtheit aller Gläubigen,49 zum anderen üben lediglich die Asketen die genannten Tugenden der Kirche, nicht aber alle Christen.50 Anders als etwa im östlichen Mönchtum tritt hier eine klare Zweistufenethik zutage. Nur wenige sind zu vollkommen tugendhaftem Leben und letztendlich der Schau Gottes fähig. Die vielen übrigen Gläubigen aber, die „Kleinen“51, zu denen sich übrigens auch Gregor selbst zählt, können dennoch auf Gnade und die Vergebung der Sünden hoffen: „Denn während die Starken zur hohen Schau gelangen, wählen die Schwachen die Hoffnung auf die Vergebung der Sünden.“52 Der dritte Tugendkatalog des Hoheliedkommentars dient als Abgrenzung von diabolischen Lastern: „Alle, die der Genusssucht, dem Hochmut, der Habsucht, dem Neid, der Lüge dienen, sind noch vor den Wagen des Pharaos gespannt, […] das heißt unter der Herrschaft des Teufels. Jeder aber, der vor Demut, Keuschheit, rechter Lehre (doctrina), Liebe (caritas) glüht, […] hat schon Gott als Reiter.“53
Als Gregor im folgenden Kapitel die äußere Erkennbarkeit der göttlichen bzw. teuflischen Lenkung wieder einschränkt, führt er einen weiteren Tugend- und Lasterkatalog auf. Während die Lasterliste mit der eben zitierten fast identisch 45 „[…] uideas enim plerosque habere caritatem, seruare mansuetudinem, honestatem exteriorem in omnibus exercere“ Greg.‑M. In Cant 17 (CCSL 144, 18, 335–337). 46 „Fictas […] imagines“ Greg.‑M. In Cant. 17 (CCSL 144, 19, 345). 47 Vgl. Greg.‑M. In Cant. 20 (CCSL 144, 22, 403–405). 48 Vgl. dazu Müller, B., Führung, 60. 49 Vgl. Greg.‑M. In Cant. 10 (CCSL 144, 13, 231–233). 50 Vgl. Greg.‑M. In Cant. 20 (CCSL 144, 22, 402–415). Zur Kirche als corpus permixtum vgl. auch Greg.‑M. In Cant. 28 (CCSL 144, 29, 547–557) und Müller, S., Fervorem, 77 f.; Fiedrowicz, Kirchenverständnis, 182–185 sowie Kap. 5.3.3.1. 51 „[…] paruuli“ Greg.‑M. In Cant. 28 (CCSL 144, 29, 550). 52 „[…] quia, dum fortes ad sublimia contemplanda perueniunt, infirmi spem de uenia peccatorum sumunt.“ Greg.‑M. In Cant. 28 (CCSL 144, 29, 555–557). Zur Vorstellung einer Zweistufenethik bei Gregor vgl. Kisić, Patria, 138–141. 53 „Omnes, qui luxuriae, qui superbiae, qui auaritiae, qui inuidiae, qui fallaciae deseruiunt, adhuc sub curru pharaonis sunt, […] id est sub regimine diaboli. Omnis uero, qui in humilitate, in castitate, in doctrina, in caritate feruet, […] iam sessorem Deum habet.“ Greg.‑M. In Cant. 45 (CCSL 144, 43, 851–44, 857).
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ist,54 werden als vermeintliche Merkmale der Gottesherrschaft Keuschheit (castitas), Predigt (praedicatio), Weisheit (sapientia), Großzügigkeit (largitas) und Langmut (longanimitas) genannt.55 Es fällt auf, dass die beiden letzten Tugendkataloge mit der doctrina und der praedicatio neben klassischen Eigenschaften auch die christliche Glaubenslehre und deren Verbreitung in den Blick nehmen. Ein Vergleich aller vier Listen zeigt, dass einzig die caritas in drei der Aufzählungen genannt wird.56 In der Häufigkeit folgen die monastischen Grundtugenden humilitas und castitas, alle anderen Eigenschaften begegnen nur ein einziges Mal. Die Liebe erscheint als zentrale Tugend und allgemeiner Wert in allen drei beschriebenen Kontexten: vor der Welt, bei den asketisch Fortgeschrittenen und auch unter den Christen im Allgemeinen. Neben der caritas, die sowohl Gottesals auch Nächstenliebe bezeichnet, beschreiben auch die ebenso aufgezählten Tugenden misericordia und largitas die Zuwendung und Versorgung des Mitmenschen. Ihnen werden in beiden Lasterkatalogen avaritia und invidia gegenübergestellt, die beide eine zu enge Bindung an Materielles offenbaren. Insofern ist in Gregors Hoheliedauslegung trotz der grundsätzlichen Fokussierung auf die innere Kontemplation dennoch auch die Sorge für den Nächsten als christliche Pflicht inbegriffen. Als opera bona versteht Gregor jedoch nicht ausschließlich Werke am menschlichen Gegenüber. Vielmehr hat er vor allem die asketische Lebensweise und die Absage von weltlichen Freuden im Sinn.57 Als weiteres Beispiel nennt Gregor lediglich die Almosen (elemosinae).58 Neben diesen ausdrücklich genannten Werken findet sich implizit ein weiteres im Hoheliedkommentar: die Verkündigung des Wortes Gottes. Schon beim Vergleich der Tugendkataloge war aufgefallen, dass diese auch die rechte Lehre und deren Predigt verzeichneten. Und noch an weiteren Stellen macht Gregor in seiner Hoheliedauslegung deutlich, dass diese Form der Fürsorge eine zentrale kirchliche Aufgabe darstellt. Denn bevor sich die einzelne Seele selbstständig der Kontemplation hingeben kann, ist sie angewiesen auf die Verkündigung Gottes: 54
Es ist lediglich die fallacia ausgelassen, vgl. Greg.‑M. In Cant. 46 (CCSL 144, 45, 883 f.). Vgl. Greg.‑M. In Cant. 46 (CCSL 144, 45, 880–882). 56 Die caritas fehlt lediglich im letzten Katalog, der die nur vermeintlichen Kennzeichen der Gottesherrschaft aufzählt und offensichtlich eine Kritik am gegenwärtigen Klerus beinhaltet, vgl. Müller, B., Führung, 60–62. Es hat den Anschein, dass Gregor in diesem letzten Abschnitt, der dem vorherigen in Teilen widerspricht, aktuelle Erfahrungen einarbeitet, die ihn an der Heiligkeit des kirchlichen Personals zweifeln ließen. War der junge Mönch zu diesem Zeitpunkt vielleicht schon Diakon und hatte entlarvende Einblicke in die Gepflogenheiten im Kirchendienst gewonnen? Oder war er gar bereits als Apokrisiar am Kaiserhof in Konstantinopel und beobachtete dort, wie auch Geistliche dem höfischen Pomp verfallen waren und nur noch nach außen die fromme Fassade aufrechterhielten? Zum Zusammenhang von Abreise nach Konstantinopel und Abbruch der Hoheliedauslegung vgl. Müller, S., Fervorem, 237 und Müller, B., Führung, 55. 57 Vgl. Greg.‑M. In Cant. 44 (CCSL 144, 43, 838–842). 58 Vgl. Greg.‑M. In Cant. 18 (CCSL 144, 20, 366 f.). 55
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„Sie bedenkt, dass sie nichts erkennen kann außer durch die Worte der Prediger.“59 Anachronistisch in die Sprache lutherischer Dogmatik gekleidet: Zuerst muss das äußere Wort zum Menschen gelangen, bevor das innere wirken kann.60 Obwohl Gregor in seinen Hoheliedvorträgen als eigentliches Ziel die selbstversunkene, mystische Gottesschau beschreibt, so müssen ihr notwendigerweise Predigt und Katechese vorausgehen. Die Lehrer und Verkündiger ermöglichen den anderen Seelen überhaupt erst die ersten Schritte zur Gemeinschaft mit Gott. Die Christen, die noch am Beginn ihres spirituellen Weges zu Gott stehen – die adulescentulae im Hohelied –61 sind angewiesen auf die im Schriftstudium und im Glauben Fortgeschrittenen. Sie sind geistlich Hilfsbedürftige. Diese Konstellation birgt ein erhebliches Risiko, da die Schüler ihre Lehrer weder kritisch hinterfragen noch eventuelle Irrlehren erkennen können. Sie sind den Predigern gänzlich ausgeliefert.62 Damit spricht Gregor den Verkündigern eine enorme Verantwortung und Macht zu, die auch missbraucht werden kann, wie die Beispiele des Arius, des Sabellius und des Montanus belegen.63 Ebenso verhängnisvoll wie die falsche Lehre ist eine unpassende Lebensführung der Prediger, deren Vorbildfunktion stets zur Nachahmung motivieren soll.64 In diesem Kontext muss noch einmal die Adressatenschaft des Hoheliedkommentars in den Blick genommen werden. Nicht die auf Verkündigung angewiesenen Anfänger im Glauben werden angesprochen, sondern die schon weit fortgeschrittenen Mystiker. Diese nimmt Gregor als viri perfecti und doctores65 in die Pflicht und Verantwortung für ihre Mitchristen.66 Trotz der beständigen Mahnung zur weltentsagenden Askese fordert er also mitnichten eine absolute 59 „[…] quae nihil se intellegere nisiper uerba praedicatorum considerat“ Greg.‑M. In Cant. 15 (CCSL 144, 17, 310 f.). 60 Zu diesem Topos s. Beutel, Albrecht, In dem Anfang war das Wort. Studien zu Luthers Sprachverständnis, HUTh 27, Tübingen 2006, 372–406. 61 Vgl. Greg.‑M. In Cant. 10 (CCSL 144, 13, 226–228). 62 „Und meistens können sich fromme Seelen, solange sie am Wort Gottes haften, solange sie an den Lehrern lieben, wodurch sie Fortschritte machen, nicht hüten vor den Worten falscher Lehrer und sie gehen durch deren Mund zugrunde.“ (Et plerumque fideles animae, dum inherent uerbo Dei, dum amant in doctoribus unde proficiant, cauere nesciunt peruersorum uerba doctorum et ex ipsorum ore deficiunt.) Greg.‑M. In Cant. 42 (CCSL 144, 41, 789–792). 63 Vgl. Greg.‑M. In Cant. 42 (CCSL 144, 40, 787–41, 789). Die Gründe für gerade diese häresiologische Auswahl liegen weitestgehend im Dunkeln, wenn auch Arius durch die Goten und die Langobarden der römischen Gesellschaft des späten 6. Jahrhundert. ein Begriff war, vgl. Müller, S., Fervorem, 129 f. Wahrscheinlich benennt Gregor hier aber lediglich je einen markanten Irrlehrer aus dem 2. Bis 4. Jahrhundert. 64 Vgl. Greg.‑M. In Cant. 43 (CCSL 144, 41, 802–808). Dieser Gedanke bildet später einen Schwerpunkt der Amtstheologie Gregors, vgl. Greg.‑M. Past. II (SC 381, 174, 1–256, 55) und Kap. 5.2.2.2 sowie Fiedrowicz, Kirchenverständnis, 146–150; Müller, B., Führung, 61 f.; Müller, Barbara, Gregory the Great and Monasticism, in: Neil, B./ Dal Santo, M. (Hgg.), A Companion to Gregory the Great, Brills Companions to the Christian Tradition 47, Leiden 2013, 83–108, hier: 86. 65 Zur Führungsterminologie vgl. Müller, B., Führung, 57 f. 66 Vgl. Müller, B., Führung, 59–62.
5.1 Der Hoheliedkommentar – Der Weg zur mystischen Gottesschau
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Weltflucht. Vielmehr ruft er seine Mitmönche in den Dienst für die kirchliche Gemeinschaft. Dieses geschieht allerdings nicht67 explizit, sondern vorerst noch verhalten in Form von Kritik am aktuellen Kirchenpersonal.
5.1.3 Die Terminologie der Nächstenliebe im Hoheliedkommentar Wie auch bei Werken früherer Theologen lässt sich im Hoheliedkommentar Gregors keine ausgefeilte Terminologie für tätige Nächstenliebe feststellen. Zwar benutzt er zur Bezeichnung der Liebe am häufigsten amor bzw. das entsprechende Verb amare, selbst wenn der auszulegende Text (Hld 1,3 f.) eine Flexion von diligere vorgibt.68 Dennoch lässt sich keine klare semantische Differenzierung zwischen amor, caritas und dilectio erkennen, die alle die Liebe des Menschen sowohl zu Gott als auch zum Mitmenschen ausdrücken können. Am ehesten lässt sich für caritas, von der kein stammgleiches Verb existiert, die Spezialbedeutung der Tugend bzw. Eigenschaft der Liebe wahrnehmen.69 Die Synonymität der Begriffe nutzt Gregor vor allem für das Stilmittel der variatio: Die Metapher der glühenden Liebe formuliert er im Laufe der Auslegung als amoris ignis,70 caritatis ardor,71 feruor amoris72 und als feruor caritatis.73 Die Nächstenliebe74 stellt, wie beschrieben, in den Hoheliedvorträgen insgesamt nur ein marginales Thema dar. Sie wird zumeist mit dem Begriff der caritas beschrieben,75 wohingegen ihre Vollzüge exemplarisch als elemosinae76 oder kollektiv als bona opera77 oder bonae operationes78 bezeichnet werden. Für die Verkündigung als konkrete Form der Nächstenliebe verwendet Gregor die Begriffe doctrina79 oder praedicatio80. 67 In späterer Zeit formuliert Gregor seine Mahnung zum Dienst am Nächsten deutlicher und beruft als Papst auch wiederholt Asketen in den kirchlichen Dienst, vgl. Müller, B., Monasticism, 100 f. sowie Kap. 6.4.2. 68 Vgl. etwa Greg.‑M. In Cant. 22 (CCSL 144, 23, 434–24, 446); 31 (CCSL 144, 31, 595–600). 69 Wie beobachtet, wird dieser Begriff in drei der vier Tugendkatalogen genannt, im vierten gibt es keine Entsprechung, vgl. Kap. 5.1.2. 70 Vgl. Greg.‑M. In Cant. 5 (CCSL 144, 8, 108). 71 Vgl. Greg.‑M. In Cant. 5 (CCSL 144, 8, 116). 72 Vgl. Greg.‑M. In Cant. 10 (CCSL 144, 14, 242). 73 Vgl. Greg-M. In Cant. 41 (CCSL 144, 40, 778 f.); 43 (CCSL 144, 42, 812 f.). 74 Gemeint ist hiermit die christlich motivierte Haltung, nicht aber die zwischenmenschlich-erotische Liebe, die die Bildebene des Hohelieds darstellt. Diese wird von Gregor vor allem amor genannt. 75 Vgl. Greg.‑M. In Cant. 17 (CCSL 144, 18, 336). Auffällig ist Greg.‑M. In Cant. 26 (CCSL 144, 27, 510–512), da Gregor die allgemeine Liebe als caritas, die spezielle Feindesliebe aber als dilectio bezeichnet wird. Dies lässt sich mit den zugrundeliegenden Bibeltexten (1 Kor 13,13 und Mt 5,43–48par.) erklären, deren Vokabular übernommen wird. 76 Vgl. Greg.‑M. In Cant. 18 (CCSL 144, 20, 366). 77 Vgl. z. B. Greg.‑M. In Cant. 31 (CCSL 144, 31, 596). 78 Vgl. Greg.‑M. In Cant. 18 (CCSL 144, 20, 360). 79 Vgl. Greg.‑M. In Cant. 30 (CCSL 144, 30, 577). 80 Vgl. Greg.‑M. In Cant. 16 (CCSL 144, 18, 326).
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5.1.4 Zusammenfassung Die Untersuchung der Hoheliedvorträge zeigt, dass sich Gregor in der frühen Zeit im Kloster tatsächlich fast ausschließlich der Kontemplation widmete, wie er in dem Kommentar selbst fordert und auch später in der Rückschau immer wieder behauptet hat.81 Der bedürftige Mitmensch und die tätige Nächstenliebe waren noch nicht so sehr in seinen Blick getreten wie zu Zeiten seines Pontifikats. Das Doppelgebot der Liebe zeigte eine deutliche Schlagseite. Liebe versteht Gregor hier vor allem als Liebe zu Gott.82 Dennoch hatte sich der Senatorensprössling nicht für die radikale Weltflucht entschieden und forderte sie nicht von seinen Mitbrüdern. So wie das Andreaskloster inmitten der Stadt und damit des geschäftigen Lebens Roms seinen Ort hatte, so ist auch in Gregors mystischem Entwurf implizit das Pflichtgefühl der gesamten Kirche und dem Nächsten gegenüber wahrnehmbar. Die Asketen leben nicht allein für sich und ihre mystischen Fortschritte, sondern stehen in der Verantwortung für die Schwächeren, im Predigtamt besonders für die spirituell Schwächeren. Damit betritt Gregor asketisches Neuland. Den spirituellen Fortschritt bindet er nicht an die Inspiration eines geistlichen Vaters,83 sondern an die institutionelle Katechese der Kirche. Mönchtum und Kirche werden so reziprok miteinander verknüpft: Nicht nur die Mönche dienen, wie etwa in der Basilias in Caesarea, durch ihre karitativen Tätigkeiten der Kirche, sondern diese ermöglicht durch ihre Lehre den Asketen überhaupt erst die Kontemplation. Die tätige Nächstenliebe selbst erweist sich zum Vorteil nicht nur für die Bedürftigen, sondern auch für den Asketen bedeutet sie Fortschritt. Je nach Deutungskontext beschreibt Gregor die Liebe als erste oder vorletzte Stufe der Leiter zur Schau Gottes. Damit wird der Dienst am Nächsten nicht nur als gesellschaftliche Pflicht verstanden, sondern eben auch als spirituelle Übung. Durch diese Perspektive und Motivation bindet Gregor die Asketen in das Gesamtchristentum ein. Obwohl er in diesem Werk zweifellos die Kontemplation in das Zentrum stellt, ist unter der Oberfläche dennoch bereits eine gegenläufige Tendenz wahrzunehmen: Die ausschließliche vita contemplativa entspricht nicht seinem Ideal. Vielmehr sieht und benennt er die Verantwortung der erfahrenen Mysten für die übrigen Christen. Ihnen ist durch die Predigt das Wort Gottes nahezubringen und sie sind schrittweise auch zur Kontemplation anzuleiten. 81
Vgl. etwa Greg.‑M. Dial. Prol. 3 (SC 260, 12, 16–24). Die Gleichgewichtung beider Lieben, wie Susanne Müller sie sieht, kann ich nicht nachvollziehen, vgl. Müller, S., Fervorem, 103. Mitnichten sind im Hoheliedkommentar gute Werke mit der Nächstenliebe gleichzusetzen, Gregor versteht darunter vor allem asketische Leistungen, vgl. Kap. 5.1.2. 83 Zur Rolle der geistlichen Vaterschaft im Mönchtum insbesondere des Ostens, vgl. Müller, A., Konzept, 205–247, und Moschos, Dimitrios, Eschatologie im ägyptischen Mönchtum. Die Rolle christlicher eschatologischer Denkvarianten in der Geschichte des frühen ägyptischen Mönchtums und seiner sozialen Funktion, STAC 59, Tübingen 2010, 360–376. 82
5.2 Die Regula Pastoralis – Der Dienst an Gott und dem Nächsten
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Allerdings bleibt die Aufgabenbeschreibung noch unkonkret. Es ist unklar, wie die Asketen in der tatsächlichen Gemeindepraxis eingebunden werden sollen, ob sie z. B. an der Katechese beteiligt sind. Den noch spärlichen Faden einer Pädagogik der Erfahrung nimmt Gregor in seinen späteren Werken wieder auf. Insbesondere in den Ezechielhomilien spinnt er ihn zu einem kräftigen Tau,84 mit dem die Mönche fest in seine Ekklesiologie und das kirchliche Leben integriert werden.
5.2 Die Regula Pastoralis – Der Dienst an Gott und dem Nächsten Nachdem Gregor die Nachfolge des plötzlich verstorbenen Papstes Pelagius II. im September 59085 übernommen hatte, widmete er sich vor allem der Frage nach dem Amtsverständnis und der rechten Amtsführung. Auf praktischer Seite ließ er bei der großen Bußprozession in Rom anlässlich der aktuellen Pestepidemie dezidiert auch den Klerus als sündhaft und bußbedürftig um Gottes Gnade flehen.86 Ebenso versuchte er, durch Umbesetzungen der Bischofssitze und des Personals im Lateranpalast ein neues Ethos im Klerus durchzusetzen.87 Zeitgleich formulierte Gregor seine Vorstellungen und Ansprüche in literarischer Weise in der Regula Pastoralis:88 Im ersten der vier Bücher legt der neue 84
Vgl. Kap. 5.5.3.2. Die Wahl hatte zwar bereits im Februar desselben Jahres stattgefunden, die Weihe wurde aber, anders als diejenige des Pelagius II. elf Jahre zuvor, erst nach Eingang der kaiserlichen Bestätigung vollzogen, vgl. Kap. 3.5 sowie Müller, B., Führung, 113. 86 Vgl. P.‑Diac. Hist. Lang. III, 24 (Schwarz 206); Greg.‑T. Hist. 10,1 (FSGA.A 3, 324, 4–326, 25 bes. 326, 10 f.) und Greg.-M. Ep. App. IX (CCSL 140A, 1102, 1–1104, 55), wo die Predigt in der leicht differierenden Fassung aus dem Jahr 603 geboten wird, in dem Gregor die Bußlitanei wiederholte. Die Prozession fand noch vor der Bischofsweihe in der Zeit der Sedisvakanz, statt, vgl. Müller, B., Führung, 113–118. Zur Deutung des Bußzuges als Akt der Nächstenliebe vgl. Kap. 6.2.5, zum asketisch-monastischen Ideal für den Klerus vgl. Demacopoulos, George E., Gregory’s Model of Spiritual Direction in the Liber Regulae Pastoralis, in: Neil, B./ Dal Santo, M. (Hgg.), A Companion to Gregory the Great, Brills Companions to the Christian Tradition 47, Leiden 2013, 205–224, hier: 211–217. 87 Vgl. Gessel, Wilhelm, Reform am Haupt. Die Pastoralregel Gregors des Großen und die Besetzung von Bischofsstühlen, in: Weitlauff, M. et al. (Hgg.), Papsttum und Kirchenreform. Festschrift Georg Schwaiger, St. Ottilien 1990, 17–36; Richards, Leben, 147–187 und Müller, B., Führung, 175–182. 88 Erste Vorarbeiten dafür finden sich bereits in den Moralia in Iob, vor allem für das umfangreiche dritte Buch, vgl. Greg.‑M. Mor. XXX, 12 f. (CCSL 143B, 1499, 91–1500, 150), eine Liste der Parallelstellen bietet Judic, Introduction, 18 f. Abgeschlossen war das Werk wohl im Februar 591, da Gregor zu diesem Zeitpunkt Auszüge aus dem ersten und dritten Buch in seinem Synodalschreiben anlässlich seines Amtsantrittes an die Patriarchen im Osten sowie den abgesetzten Patriarchen Anastasius I. von Antiochien sandte, vgl. Greg.‑M. Ep. I, 24 (CCSL 140, 22, 1–32, 381). Zur Entstehungsgeschichte vgl. Hack, Krankheit, 106–113; Müller, B., Führung, 119–123. Als Vorlage für das Werk diente Gregor sicher die Oratio de fuga sua des Gregor von Nazianz (Gr. Naz. Or. 2, SC 247, 84–240), in der dieser seine Flucht vor der 85
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Papst dar, wie das geistliche Amt in rechter Weise angenommen wird (qualiter venire). Denn weder soll es ehrgeizig und hochmütig angestrebt werden noch soll der designierte Würdenträger sich renitent dem offensichtlichen Willen Gottes und der Gemeinde widersetzen. In den folgenden Teilen beschreibt Gregor das ideale Handeln des Hirten: Sein Leben soll mit der Lehre übereinstimmen (qualiter vivere – Buch II), die wiederum ihrem jeweiligen Adressaten angepasst werden muss (qualiter docere – Buch III). Das knappe abschließende Buch IV mahnt zu Demut und Gebet. Mit der Regula Pastoralis wendet sich Gregor vornehmlich an Bischöfe. Die Adressatenschaft ist aber keinesfalls auf diese beschränkt, sondern für andere Leitungsämter innerhalb und auch außerhalb der Kirche offen. Wie Barbara Müller herausgearbeitet hat, verwendet Gregor in dem Werk für die angesprochenen Führungspersonen nur auffällig zurückhaltend eine Terminologie, die eindeutig und ausschließlich auf den kirchlichen Kontext verweist.89 Den Zentralbegriff in Bezug auf den adressierten Personenkreis stellt vielmehr der rector dar. Damit wurden zur Zeit Gregors sowohl weltliche als auch kirchliche Leiter bezeichnet. Auch Gregor verwendet den Terminus sowohl für dezidiert kirchliche Verantwortungsträger, besonders die Bischöfe, als auch ganz allgemein und unspezifisch für Autoritätspersonen.90 Diese grundsätzliche Offenheit der Adressatenschaft ist im Gedächtnis zu behalten und mitzudenken, obwohl im Folgenden vor allem der Bischof im Gegenüber zur Gemeinde in den Blick genommen wird.
5.2.1 Formen tätiger Nächstenliebe Die Regula Pastoralis beschreibt, ihrer Intention entsprechend, vor allem pastorale Aufgaben der Gemeindeleiter. Neben den Pflichten dieser „direkten Adressaten“91 lassen sich den lebensnahen Beschreibungen der GemeindewirkPriesterweihe mit seinen hohen Ansprüchen für das kirchliche Amt rechtfertigt. Der römische Bischof verweist explizit auf die Rede seines Namensvetters im Prolog des dritten Buches, vgl. Greg.‑M. Past. III Prol. (SC 382, 258, 2–5), und zieht diese auch Jahre später noch dem eigenen Werk vor, vgl. Greg.‑M. Ep. XII, 6 (CCSL 140A, 976, 53–58). Vermutlich kannte er bei der Abfassung der Pastoralregel auch De sacerdotio von Johannes Chrysostomus (Chrys. Sac., SC 272), vgl. Judic, Introduction, 32–34; Floryszczak, Regula, 95–100 sowie Demacopoulos, Gregory’s Model, 205–209. Ebenso waren Gregor die augustinischen Werke De catechizandis rudibus (Aug. cat. rud., CCSL 46, 121–178) und De doctrina christiana (Aug. doctr. chr., CCSL 32, 1–167) gut bekannt, vgl. Judic, Introduction, 39–45. 89 Vgl. Müller, B., Führung, 123–129 und Demacopoulos, Gregory’s Model, 211; gegen Gessel, Haupt, 20 f. 90 Vgl. Markus, Rector, bes. 138–142; Floryszczak, Regula, 271; Brown, Peter, Die Entstehung des christlichen Europa. Aus dem Engl. übers. von Peter Hahlbrock, München 1996, 170. 91 Ich übernehme die Unterscheidung von direkten und indirekten Adressaten von Müller, B., Führung, 123.
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lichkeit ebenso allgemeine Formen der tätigen Nächstenliebe entnehmen, die Gregor von der Gesamtheit seiner Gemeinde fordert.
5.2.1.1 Pastorale Nächstenliebe Die Aufgaben des Bischofs bezeichnet Gregor treffend als „Seelenleitung“92. Sie umfassen vornehmlich die Sorge um die geistliche salus der Gemeindeglieder. In gut biblischer Tradition zeichnet der Papst den Bischof dabei als Hirten, der jedes einzelne Schaf, das auf Abwege geraten ist, wieder auf den rechten Pfad zurückführt.93 Dies wird besonders deutlich in der umfassenden Aufzählung von Eigenschaften94 und dem geeigneten seelsorglich-homiletischen Umgang mit ihnen, die fast das gesamte dritte Buch des Werkes umfasst. Seine Ermahnung soll der Seelsorger an dem jeweiligen Adressaten ausrichten. Eine allgemeine Predigt wird nur schwer allen gerecht95 und befreit nicht von der Verantwortung, die der Bischof für jedes einzelne Gemeindeglied trägt.96 Die Lehre stellt für Gregor deutlich das Zentrum der pastoralen Nächstenliebe dar. Sie stellt er sogar der Versorgung Hungernder in der Bewertung voran97 und bezeichnet sie als „Heilmittel des Lebens“98. Doch was sind die Inhalte, die der Bischof dem Einzelnen vermitteln muss? Zum einen soll er den rechten Glauben wecken; im Zentrum der gregorianischen Lehre steht dabei eine grundsätzliche Jenseitsorientierung.99 Der römische Bi92
„[…] regimen animarum“, Greg.‑M. Past. I, 1 (SC 381, 128, 4 f.). Vgl. Lk 15,1–7 und Greg.‑M. Past. III, 28 (SC 382, 466, 133–135). 94 Zur Schwierigkeit einer Kategorisierung der aufgelisteten Merkmale s. Müller, B., Führung 132 f. und Hack, Krankheit, 110. Hack weist zu Recht darauf hin, dass Gregor nicht der erste christliche Autor ist, der eine adressatenorientierte Seelsorge fordert, vgl. Hack, Krankheit, 110–113. Neben Gregor von Nazianz und Augustin müsste außerdem die Regula Benedicti genannt werden, die die Unterweisung durch den Abt am jeweils zu Ermahnenden ausgerichtet wissen will, vgl. Ben. Reg. 2, 23–34 (CSEL 75, 23–25). Auch wenn seit Kassius Hallinger die Abhängigkeit Gregors von der Benediktsregel deutlich in Frage gestellt ist, so ist von den beiden Erklärungsvarianten, die Hallinger aufzählt – Nichtkenntnis oder flexible Quellenverwendung – (vgl. Hallinger, Papst, 318), letzterer der Vorrang zu gewähren. Ich halte es für äußerst unwahrscheinlich, dass der monastisch geprägte und interessierte Papst, der nicht nur anhand von Wundererzählungen die Vita des Benedikt erzählt, sondern auch dessen Regel erwähnt, diese nicht zur Kenntnis genommen haben soll. Zutreffender ist vielmehr der Verweis Hallingers auf das Mischregelzeitalter, in dem die zahlreichen Einzelregularien noch sehr frei und flexibel verbunden wurden, vgl. auch Müller, B. Monasticism, 83–91. 95 Vgl. Greg.‑M. Past. III, 36 (SC 382, 518, 1–522, 38), zur Anpassung der Predigt an die Vielfalt der Gläubigen s. auch Fiedrowicz, Kirchenverständnis, 190 f. 96 „Aber obschon der Leiter alle diese Dinge [scil. die unterschiedlichen Sünden und die Wege, diese zu vermeiden] gründlich vermittelt, so bereitet er sich keine Lossprechung für immer, wenn er nicht mit dem Geist des Eifers gegen die Vergehen der Einzelnen brennt.“ (Sed cuncta haec licet subtiliter rector insinuet, nisi contra delicta singulorum aemulationis spiritu ferueat, nullam sibi in perpetuum absolutionem parat.) Greg.‑M. Past II, 10 (SC 381, 248, 153–155). 97 Vgl. Greg.‑M. Past. III, 25 (SC 382, 428, 8–14). 98 „[…] uitae remedia“ Greg.‑M. Past. III, 25 (SC 382, 428, 16). 99 Vgl. dazu Kisić, Patria, besonders 117–141. 93
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schof verbindet in seiner Theologie ein monastisch geprägtes Askeseideal mit einer eschatologisierenden Deutung der Gegenwart in der Welt, ohne aber zur anachoretischen Flucht aufzufordern. Im Gegenteil mahnt er zum Dienst in der Welt, ohne sich aber zu stark mit dieser zu identifizieren. Das eigentliche Ziel der Christen liegt jenseits dieses Lebens. In einer Zeit also, in der die politische Welt ins Wanken gerät und Not und Elend regieren, will Gregor den Blick auf die kommende Welt lenken: „Denn es ist die Pflicht des Leiters, den Ruhm der himmlischen Heimat durch die Stimme der Verkündigung aufzuzeigen, zu eröffnen, wo die Versuchungen des alten Feindes auf dem Weg dieses Lebens verborgen sind, und die Untaten der Untergebenen, die nicht milderweise geduldet werden dürfen, mit großer Schärfe des Eifers zu berichtigen.“100
Vernachlässigt der Prediger die Verkündigung des Jüngsten Gerichtes aber, so wird er zum „stummen Herold“,101 anstatt zu rechter Lebensführung anzuleiten. Diese besteht vor allem in dem Ablegen und der dauerhaften Vermeidung von Sünden sowie der Abkehr von diesseitigen Bindungen. Das jenseitige Heil ist zu suchen, denn irdischer Besitz und Ruhm sind vergänglich.102 Wenn Gregor die Lehre des Bischofs auf die unterschiedlichsten Personenkreise abstimmt, so ist die admonitio bzw. praedicatio weniger als homiletisches Geschehen im Gottesdienst,103 sondern als persönliches Seelsorgegespräch zu verstehen.104 Dabei werden im Wesentlichen zwei Unterrichtsformen beschrieben: Verständige Personen werden idealiter mit „Argumenten des Vernunftschlusses“105 überzeugt, wohingegen schlichte Gemüter am besten aus vorbildlichen „Beispielen“106 lernen. Hat sich ein Gemeindeglied zu schuldhaftem Verhalten verleiten lassen, so ist es der Auftrag des Bischofs, vermittelnd zwischen Gott und den Sünder zu treten (intercedendum).107 Die Aufgabe des Hirten besteht darin, eine liebevolle und diskrete Atmosphäre zu schaffen, damit der Sünder sich ihm wie einer Mutter 100 „Debitum quippe rectoris est supernae patriae gloriam per uocem praedicationis ostendere, quanta in huius uitae itinere temptamenta antiqui hostis lateant aperire, et subditorum mala quae tolerari leniter non debent, cum magna zeli asperitate corrigere“ Greg.‑M. Past. II, 10 (SC 381, 244, 103–108). 101 „[…] praeco mutus“ Greg.‑M. Past. II, 4 (SC 381, 190, 43). 102 Vgl. Greg.‑M. Past. III, 20 (SC 382, 392,146–162). 103 Gegen Judic, Bruno, Structure et fonction de la Regula Pastoralis, in: Fontaine, J. et al. (Hgg.), Grégoire le Grand. Chantilly, Centre culturel Les Fontaines, 15–19 septembre 1982, Colloques Internationaux du CNRS, Paris 1986, 409–417, hier: 414; aber mit Müller, B., Führung, 133 f. 104 Vgl. Gessel, Haupt, 35. Tatsächlich betrachtet Gregor die Unterweisung in Gruppen als Spezialfall, vgl. Greg.‑M. Past. III, 36 (SC 382, 518, 1–522,38). 105 „[…] ratiocinationis argumenta“ Greg.‑M. Past. III, 6 (SC 382, 286, 18 f.). 106 „[…] exempla“, Greg.‑M. Past. III, 6 (SC 382, 286,19 f.). 107 Vgl. Greg.‑M. Past. I, 10 (SC 381, 162, 23–165,39). Intercessio bzw. intercedere begegnet an dieser Stelle nicht als terminus technicus für die christliche Fürbitte, sondern entstammt als
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(quasi ad matris sinum) anvertrauen und die Schuld (pulsantis culpae sordibus) in Gebet und Reue tilgen kann (ac lacrimis orationis lauent).108 Bemerkenswert ist, dass hier das aktive Moment allein bei dem reuigen Sünder liegt.109 Das Ritual der Absolution durch den Geistlichen hat Gregor hier nicht im Blick. Vielmehr beschreibt er den Bischof als fürsorglichen Lehrer, der zu Einsicht, Reue und damit letztlich zur Selbsthilfe anleitet.110 Je nach Persönlichkeit des Gegenübers können sich für dieses Ziel sogar unlautere Einschmeicheleien als hilfreich erweisen.111 Neben der geistlichen Fürsorgepflicht muss der Bischof auch das leibliche Wohl der Gemeinde im Blick haben. Der Hirte „schuldet den Mitmenschen äußere Dinge“112 Zudem hat die Sorge für das leiblich Nötigste auch homiletische Gründe: Mangelt es den Menschen an grundlegenden Lebensnotwendigkeiten, so sind sie nicht für die geistige Unterweisung empfänglich. Mit knurrendem Magen kann man keiner Predigt folgen.113 Betrachtet man all diese Bestimmungen zusammenfassend, so wird deutlich, dass die pastoralen Taten der Nächstenliebe vor allem auf der geistlichen Ebene beheimatet sind.114 Der Bischof trägt die Verantwortung für die Seelen der Gemeinde, sie soll er durch Lehre, Predigt und Ermahnung „in die ewigen Heiligtümer führen“115. Insofern betreibt er im wörtlichen Sinn Seel-Sorge. Gregor stellt ihn in traditioneller Metaphorik116 dem Arzt gegenüber, der für das leibliche Wohl sorgt, wohingegen sich die „Seelenärzte“117 um die geistliche salus kümmern.118 In Ermangelung einer verlässlichen staatlichen Struktur verpflichtet Gregor die Bischöfe aber zusätzlich auf die Sorge für die grundlegenden leiblichen Bedürfnisse. Auffällig ist, dass die Pastoralregel in keiner Weise die liturgische Funktion der Bischöfe in den Blick nimmt. Hier ist ein deutlicher Unterschied „Fürsprache, Vermittlung“ dem politischen Kontext, mit dem Gregor explizit den Vergleich anstellt. 108 Vgl. Greg.‑M. Past. II, 5 (SC 381, 200, 63–68). 109 Vgl. ebenso Greg.‑M. Mor. XIII, 14 (CCSL 143A, 676, 2–677, 7). 110 Vgl. Kap. 5.3.1.5 sowie Ohst, Martin, Art.: Buße IV. Christentum 2. Kirchengeschichtlich, RGG4 1 (1998), 1910–1918, hier: 1913 f. 111 Vgl. Greg.‑M. Past. III, 17 (SC 382, 366, 70–368, 95). 112 „[…] foris debet proximis“ Greg.‑M. Past. II, 7 (SC 381, 218, 8). 113 Vgl. Greg.‑M. Past. II, 7 (SC 381, 226, 114–228, 133). 114 Vgl. Kisić, Patria, 98. 115 „Ad aeterna sacraria perducendas“ Greg.‑M. Past. II, 2 (SC 381, 176,9 f.). 116 Vgl. unter vielen anderen Ben. Reg. 27, 1 f. (CSEL 75, 82); Gr. Naz. Or. 2, 18 (SC 247, 114, 1–17) und auch Chrys. Hom. in Mt. 29, 3 (PG 57, 362), wo sogar jeder Christ als Arzt für die Seele dienen soll. Zur spätantiken Arzt-Metapher vgl. Lutterbach, Christus; Dörnemann, Krankheit und Hack, Krankheit, 143–149. 117 „[…] cordis […] medicin[i]“ bzw. „mentium medicini“ Greg.‑M. Past. I, 1 (SC 381, 128, 7 f.); III, 37 (SC 382, 524, 24). 118 Zur entsprechenden augustinischen Unterscheidung in medicina und disciplina vgl. Kap. 4.4.
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zur Oratio de fuga sua Gregors von Nazianz zu beobachten. Dieser begründet die ethischen Ansprüche an den Klerus mit dem zu leistenden Altardienst, der Reinheit erfordert. Demgegenüber argumentiert der Papst vor allem mit der Vorbildfunktion der Hirten.119 An dieser Stelle scheinen sich die bischöflichen Amtsvorstellungen seit dem 4. Jahrhundert deutlich verschoben zu haben. Während der Kappadokier eher die sakramental-priesterliche Funktion des Klerus120 unterstreicht, zielt Gregor mehr auf die pastoral-katechetische ab.121 Ein Vergleich mit anderen Quellen des Jahrhunderts, die ebenso Normen für Leitungsfunktionen aufstellen, zeigt den Papst als Kind seiner Zeit: Der Abtspiegel der Regula Benedicti überträgt dem Klostervorsteher die Verantwortung für das Verhalten der Mönche und ermahnt ihn, nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten zu lehren.122 Vergleichbar beschreibt Johannes Sinaites in seiner Climax die Aufgaben des Geronten, der für die geistliche Entwicklung des ihm anvertrauten Mönchs Sorge trägt.123 In ähnlicher Weise erinnert der Diakon Agapet in seinem Fürstenspiegel Justinian daran, dass ein Fehler eines Untertanen nur geringen Schaden anrichtet, ein Fehler aber des Kaisers sich auf den ganzen Staat auswirkt.124 Und Justinian selbst betrachtet in seiner Gesetzgebung die Bischöfe als Vorbilder und Erzieher der ganzen Gesellschaft.125 Im 6. Jahrhundert versuchte man offensichtlich, in einer Zeit der politischen Umbrüche die Gesellschaft von oben her zu formen und so für Stabilität und Ordnung zu sorgen. Neben dem politischen Kontext ist zusätzlich die gemeinsame monastisch-asketische Prägung der genannten Quellen zu berücksichtigen: Zeitgleich zu den politischen Umbrüchen erlebte das organisierte Mönchtum im gesamten römischen Reich eine Blütezeit. Daran hatte Gregor als erster Mönch auf der Sedes Petri großen Anteil, indem er die Bischöfe auf ein eher asketisches als priesterliches Leitungsideal verpflichtete.126
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Zum Bischof als Vorbild für die Gemeinde s. u. Kap. 5.2.2.2. werden muss, dass Gregor von Nazianz nicht vom Episkopat, sondern vom Presbyterat spricht, aber freilich oblagen auch ersterem liturgische Aufgaben. 121 Vgl. Speigl, Jakob, Die Pastoralregel Gregors des Großen, RQ 88 (1993), 59–76, hier: 75. 122 Vgl. Ben. Reg. 2, 6.12 f. 34.37–40 (CSEL 75, 20 f. 25–27). 123 Zur Rolle des Geronten beim Sinaiten s. Müller, A., Konzept, 205–247. Obwohl Gregors literarische Kenntnis der Climax nicht sicher ist, so kannte er zumindest die Gepflogenheiten des Dornbuschklosters, mit dem er Kontakt hielt, vgl. Greg.‑M. Ep. XI, 2 (CCSL 140A, 860, 1–25). Zur Datierung der Climax s. Müller, A., Konzept, 21–56. 124 Vgl. Agap. Cap. 10 (PG 86, 1167). 125 Vgl. Iust. Nouel. 6 (CIC III, 58 f.); 123, 12 (CIC III, 604); 137 (CIC III, 695–699). In seinen richterlichen und administrativen Entscheidungen beruft sich Gregor häufig auf diese Gesetze, vgl. u. a. Greg.‑M. Ep. XIII, 49 (CCSL 140A, 1058, 3–1064,136). 126 Vgl. dazu Müller, B., Führung, 142–144 und Demacopoulos, Gregory’s Model. 120 Beachtet
5.2 Die Regula Pastoralis – Der Dienst an Gott und dem Nächsten
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5.2.1.2 Allgemeine Nächstenliebe Im Zentrum der allgemeinen tätigen Nächstenliebe steht die Gabe von Almosen, der Gregor gleich zwei Kapitel im dritten Buch widmet.127 Durch seine Schöpfung versorgt Gott alle Menschen, die Ernteerträge sind als „gemeinsame Gabe Gottes“128 zu verstehen. Insofern sind die Almosengeber nicht als mildtätige Spender zu sehen, sondern vielmehr als Verwalter (dispensatores), denen Gott die Verantwortung für die Verteilung seiner Gaben aufgetragen hat.129 Mit diesem „Dienst“130 am Nächsten geht die besondere Gefahr einher, durch Hochmut oder falsches Wirtschaften vor Gott in Ungnade zu fallen. Die Verwalter werden im Vergleich zu den Empfängern besonders kritisch gerichtet: Keinesfalls sollten sie die Gaben als ihr persönliches Eigentum betrachten. Reichtum131 ist weniger individueller Besitz als Aufgabe und Chance zugleich: Zum Dienst des Nächsten muss er verwaltet werden, kann aber zugleich eine sühnende Wirkung für den Geber haben.132 Dennoch beinhaltet jeder Reichtum eine Gefahr, da er als „Köder“133 des Versuchers ins Verderben führen kann. Den Bedürftigen das Lebensnotwendige zukommen zu lassen, ist aus gleich drei Gründen eine Pflicht der Besitzenden: Zum einen handelt es sich bei den necessaria, die gespendet werden, ohnehin um den eigentlichen Besitz der Armen.134 Zum anderen ist die unterlassene Hilfe gleichbedeutend mit einer beabsichtigten Tötung,135 die nur noch durch Raub an Boshaftigkeit überboten wird.136 Zuletzt ist die Gabe von Almosen die einzig adäquate Antwort auf das 127
Vgl. Greg.‑M. Past. III, 20 f. (SC 382, 382, 1–400, 102). „[…] commune Dei munus“ Greg.‑M. Past III, 21 (SC 382, 394, 11), vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 16, 6 (CCSL 141, 115, 133 f.). 129 Vgl. Greg.‑M. Past. III, 20 (SC 382, 382, 9–24). Damit greift Gregor Argumente der Kappadokier auf, vgl. Kap. 4.2. 130 „[…] ministerio“ Greg.‑M. Past III, 20 (SC 382, 382, 21). 131 Es ist schwer zu entscheiden, welche Maßstäbe Gregor für Reichtum und Armut anlegt. In Past. III, 2 (SC 382, 266, 1–272,83) stellt er beides lediglich als Extreme gegenüber. Auch das übliche (spät-)antike Kriterium für Armut, die Notwendigkeit der Erwerbstätigkeit, erwähnt der römische Bischof nicht. Wenn er aber darauf verweist, dass Arme ohne Almosen verhungern würden, scheint er eine existentielle Form des Mangels vor Augen zu haben, vgl. Greg.‑M. Past. III, 21 (SC 382, 394,12–14). Zur Kategorie der Armut in Antike und Spätantike vgl. Sternberg, Orientalium, 48–51. 132 Vgl. Greg.‑M. Past. III, 20 (SC 382, 388, 89–99). 133 „[…] escam“ Greg.‑M. Past. III, 20 (SC 382, 392, 136). Zur Ambivalenz des Besitzes vgl. auch Greg.‑M. Past. III, 26 (SC 382, 442, 55–58); Greg.‑M. Hom. eu. II, 37, 1 (CCSL 141, 348, 3 f.). 134 Vgl. Greg.‑M. Past. III, 21 (SC 382, 15–17). Diesen Gedanken übernimmt Gregor bereits aus der Tradition, vgl. etwa Gr. Nyss. Paup. 1 (van Heck 97, 11–14); Beat. 5 (Callahan 126, 11–14); Gr. Naz. Or. 14, 26 (PG 35, 891). Dass er sich dieser Vorstellung zudem selbst zutiefst verpflichtet fühlt, wird darin deutlich, dass er in seinen Briefen die kirchlichen Besitztümer als res pauperum bezeichnet, vgl. z. B. Greg.‑M. Ep. VI, 56 (CCSL 140, 429, 13). 135 Vgl. Greg.‑M. Past. III, 21 (SC 382, 394, 12–14). Dasselbe Argument bietet auch Chrysostosmos mehrfach, vgl. dazu Brändle, Matth., 129 f. 136 Vgl. Greg.‑M. Past. III, 20 (SC 382, 388, 100–390, 115). 128
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zuvorkommende Gnadenhandeln Gottes. Bleibt sie aus, so ist die ewige Verdammnis das gerechte Urteil.137 Die Pflicht des Almosengebens ist selbstverständlich nicht mithilfe von unrechtmäßig erworbenem Besitz abzugelten. Damit rezipiert Gregor die alttestamentliche Kult- und Sozialkritik.138 Wohltaten, die erst durch Raub ermöglicht werden, sind bereits an ihrer Wurzel vergiftet. In Anlehnung an Lk 14,12–14 sollten Almosen grundsätzlich an Fremde verteilt werden und nicht an Freunde, um keine Erwartung auf Gegenleistungen zu schüren.139 Ebenso sind Sünder als Empfänger auszuschließen. Allerdings schränkt Gregor diese radikale biblische Forderung140 sogleich wieder ein: „Wer aber auch dem bedürftigen Sünder sein Brot austeilt, nicht weil er Sünder, sondern weil er ein Mensch ist, ernährt freilich keinen Sünder, sondern einen gerechten Armen, weil er an jenem nicht die Schuld, sondern die Natur liebt.“141 Diese Aussage ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: Zum einen übernimmt Gregor mit der Unterscheidung der Sündhaftigkeit des Menschen von seiner Natur einen Gedanken Augustins,142 der nicht so recht in die sonstige gregorianische Harmatiologie und Anthropologie zu passen scheint. Sie beschreibt sündhaftes Verhalten als freie Entscheidung des Menschen, das dieser ebenso gut vermeiden kann. Zum anderen ist zu beachten, dass der römische Bischof hier die Liebe zum Menschen (dilectio bzw. diligere) als Movens der Almosengabe identifiziert. Neben der Empfängerschaft sollen die Wohltäter sorgfältig auf das rechte Maß, den rechten Zeitpunkt und die rechte Intention achten.143 Trotz des wiederholten Verweises auf die Vergänglichkeit und Nichtigkeit irdischer Güter stellt Gregor keine radikale Armutsforderung. Vielmehr warnt er davor, sich durch übertriebene Großzügigkeit selbst in die Bedürftigkeit zu begeben.144 137 Vgl. Greg.‑M. Past. III, 26, (SC 382, 442, 68–444, 78), vgl. auch Greg.‑M. Past. III, 21 (SC 382, 396, 45–50), zur Rezeption und Variation der augustinischen Gnadenlehre vgl. Kap. 5.6.3.1.1. 138 Vgl. Greg.‑M. Past. III, 21 (SC 382, 398, 72–400, 102). 139 Vgl. Greg.‑M. Past. III, 20 (SC 382, 384, 48–386, 54). 140 Vgl. Sir 12,5 f. Vulg. und Tob 4,18. 141 „Qui uero indigenti etiam peccatori panem suum, non quia peccator, sed quia homo est, tribuit, nimirum non peccatorem, sed iustum pauperem nutrit, quia in illo non culpam, sed naturam diligit.“ Greg.‑M. Past. III, 20 (SC 382, 388, 85–88), vgl. auch Greg.‑M. Hom. eu. II, 33, 3 (CCSL 141, 290, 60–66); Mor. XXVI, 46 (CCSL 143B, 1301, 97–1302, 129); Ep. I, 33 (CCSL 140, 41, 5872). 142 Vgl. Aug. Simpl. 1, 2, 18 (CCSL 44, 45, 561–563). Ob Gregor neben De catechizandis rudibus und De doctrina christiana auch Augustins Schrift an Simplician tatsächlich vorliegen hatte, lässt sich freilich schwer beweisen. Dennoch halte ich dies für wahrscheinlich, da Gregor nicht nur dieselbe Unterscheidung beschreibt, sondern für diese auch die von Augustin an dieser Stelle genutzten Zentralbegriffe diligere, homo/peccator und culpa verwendet. 143 Vgl. Greg.‑M. Past. III, 20 (SC 382, 384, 24–35). 144 Vgl. Greg.‑M. Past. III, 20 (SC 382, 386, 61–73), s. auch Greg.‑M. Past. III, 21 (SC 382, 398, 59–72) und Greg.‑M. Hom. eu. I, 20, 11 (CCSL 141, 162, 207–219), aber auch gegensätzlich Greg.‑M. Mor. XX, 68 (CCSL 143A, 1053, 2–1054, 15).
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Abschließend mahnt der Papst mithilfe eines kunstvollen Wortspiels, dass „nicht Aufgeblasenheit (tumor) die Geister erhebe, sondern Furcht (timor) sie bedrücke.“145 Die verteilten Güter sind schließlich kein gespendetes Eigentum, sondern allgemeine Gnadengaben Gottes und auch die „Tugend der Freigebigkeit“146 ist letztlich Gott selbst zuzuschreiben.147 Die Suche nach irdischem Ruhm und Lob offenbart nur den Makel des Hochmuts und der Ruhmsucht.148 Neben dem großen Platz, den die Erörterung der Almosen einnimmt, werden in der Pastoralregel nur am Rande weitere Werke der allgemeinen Nächstenliebe genannt. So können Laien aus der Gemeinde die Aufgabe übernehmen, Mitmenschen wieder auf den rechten Pfad der Tugend zurückzuführen.149 Aber nur als äußerste Ausnahme sollen die Untergebenen den Vorgesetzten – im kirchlichen Bereich also den Bischof – tadeln.150 Im Regelfall hingegen sollen sie demütigen Gehorsam üben gegen den von Gott bestimmten rector.151 Ein weiteres Werk ist es, mitunter unangenehme Eigenschaften und Makel des anderen langmütig zu erdulden und die Gemeinschaft nicht leichtfertig zu lösen.152 In besonderer Weise gilt dies für Ehepartner, die im gemeinsamen Leben die eine oder andere Last des anderen mittragen müssen. Als hilfreich erweist sich dann, „dass ein jeder von ihnen weniger darauf achte, was er am anderen toleriere, als vielmehr auf die Dinge, die an ihm selbst geduldet werden.“153 Im Kontext der Ermahnung von Eheleuten erwähnt Gregor zum einzigen Mal in der Pastoralregel einen im weitesten Sinne liturgischen Akt der Nächstenliebe: die Fürbitte. Obwohl die Ehepartner nicht in Keuschheit leben, so können sie ihr Leben und ihre Seelen dennoch beschützen, indem sie „mit unablässigen Gebeten füreinander Fürbitte halten.“154 Die tätige Nächstenliebe erweist sich demnach ebenso auf der allgemeinen, gesamtgemeindlichen Ebene als Sorge um das seelische Heil, wenn auch das Almosen die zentrale Rolle im Wirken der Gemeinde innehat. Die umfassende und 145
„[…] mentes tumor subleuet, sed timor premat“ Greg.‑M. Past. III, 20 (SC 382, 382,23). „[…] uirtutem […] liberalitatis“ Greg.‑M. Past. III, 20 (SC 382, 384, 36). 147 Vgl. Kap. 5.6.3.1.1. 148 Vgl. Greg.‑M. Past. III, 20 (SC 382, 384,29–47). 149 Vgl. Greg.‑M. Past. III, 14 (SC 382, 342, 31–344, 63). 150 Vgl. Greg.‑M. Past. III, 4 (SC 382, 280, 72–282, 117). 151 Zu Gregors Hierarchieverständnis s. u. Kap. 5.2.2.2 sowie Evans, Gillian, Gregory the Great on Faith and Order, in: Gregorio Magno e il suo Tempo, Bd. II: Questioni letterarie e dottrinali, SEAug 34, Rom 1991, 161–168. 152 Vgl. Greg.‑M. Past. III, 9 (SC 382, 300, 54 f.). Freilich sind hier nicht Makel und Fehler in Bezug auf die rechte, gottgefällige Lebensführung im Blick. Auf diese soll der Nächste direkt hingewiesen werden, damit er sie ablegen kann. Zur Tugend der Geduld und Langmut vgl. Kap. 5.3.1.4 und 5.5.1.4.2. 153 „[…] ut eorum quisque non tam quae ab altero tolerat, quam quae ab ipso tolerantur attendat.“ Greg.‑M. Past. III, 27 (SC 382, 450, 51–53). 154 „[…] pro se assiduis deprecationibus intercedunt.“ Greg.‑M. Past. III, 27 (382, 454, 106 f.). 146
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detaillierte Erörterung in der Pastoralregel deutet darauf hin, dass diese Form der karitativen Tätigkeit die in der römischen Kirche gängige Praxis darstellte. Ähnlich wie im Antiochien und Konstantinopel des Johannes Chrysostomus155 leisteten die vermögenden Christen in Rom ihren Beitrag zur kirchlichen Armenfürsorge offenbar vor allem durch finanzielle Unterstützung. Ihrer Absicht als Handbuch für kirchliche Führungsaufgaben entsprechend beschreibt die Regula Pastoralis vor allem die episkopale Liebestätigkeit, deren zentrale Aufgabe in der Seelenleitung der Gemeinde besteht. Die Versorgung mit äußeren, lebensnotwendigen Dingen stellt nur einen Nebenaspekt der bischöflichen Nächstenliebe dar. Viel stärker betont Gregor die Sorge um das geistliche Wohl des einzelnen Christen, das als eigentliches Ziel des bischöflichen Handelns im Zentrum steht und das der Papst durch falsche Lehren sowie die Bindung an weltliche Dinge gefährdet sieht. Dagegen müssen die Gemeindeleiter ihrer Verantwortung gerecht werden und durch ihr gutes Beispiel, Unterweisung und beständige Ermahnungen den Weg zur rechten Lebensführung weisen.
5.2.2 Theologische Begründungen tätiger Nächstenliebe Nachdem die in der Pastoralregel vom Klerus und der Gemeinde geforderten Werke der Nächstenliebe beschrieben wurden, soll im Folgenden nach zentralen theologischen Argumentationen gefragt werden, aus denen Gregor seine Ansprüche ableitet. Zunächst aber soll die Rolle der biblischen Schriften in der Pastoralregel und speziell in den Ausführungen über die tätige Nächstenliebe untersucht werden.
5.2.2.1 Die Heilige Schrift als Stütze der Argumentation In der Forschung wurde Gregors Praxis der Schriftauslegung bereits mehrfach in den Blick genommen.156 Auf der Grundlage seiner methodologischen Aussagen im Widmungsbrief der Moralia in Iob157 wurde er dabei häufig als Vertreter eines 155 Vgl. Brändle, Matth., 103–114 und Tloka, Jutta, Griechische Christen – christliche Griechen. Plausibilisierungsstrategien des antiken Christentums bei Origenes und Johannes Chrysostomos, STAC 30, Tübingen 2005, 203 f. 156 Vgl. v. a. Hofmann, Dietram, Die geistige Auslegung der Schrift bei Gregor dem Großen, MüSt 6, Münsterschwarzach 1968; Wyrwa, Dietmar, Der persönliche Zugang in der Bibelauslegung Gregors des Großen, in: Schmid, H. et al. (Hgg.), Sola Scriptura. Das reformatorische Schriftprinzip in säkularer Welt, Gütersloh 1991, 262–278; Zinn, Grover, Exegesis and Spirituality in the Writings of Gregory the Great, in: Cavadini, J. (Hg.), Gregory the Great. A Symposium, NDST 2, Notre Dame et al. 2001, 168–180; DeGregorio, Scott, Gregory‘s Exegesis: Old and New Ways of Approaching the Scriptural Text, in: Neil, B./ Dal Santo, M. (Hgg.), A Companion to Gregory the Great, Brills Companions to the Christian Tradition 47, Leiden 2013, 269–290; mit einem Schwerpunkt auf die Ezechielhomilien: Kessler, St., Exeget, 191–257; auf die Moralia: Greschat, Moralia, 53–64; und auf die Pastoralregel: Floryszczak, Regula, 208–229. 157 Vgl. Greg.‑M. Mor. Dedic. 2–4 (CCSL 143, 3, 86–6, 182).
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drei- bzw. vierfachen Schriftsinns betrachtet. Dietram Hofmann hat hingegen überzeugend dargelegt, dass der römische Bischof entgegen seiner programmatischen Ankündigung in der Auslegungspraxis zumeist eine zweifache Unterscheidung vornimmt, nämlich diejenige zwischen dem historischen und dem geistigen Schriftsinn.158 Ersteren versteht er eng als Lexikalsinn, spricht ihm aber dennoch grundsätzlich eine hohe Relevanz zu. Nichtsdestotrotz kommt Gregor mitunter zu dem Schluss, dass nicht jeder Textstelle eine historische Bedeutung abzugewinnen ist,159 weshalb auf die geistige Deutung zurückgegriffen werden muss. Der geistige Schriftsinn lässt sich in Gregors Exegese in den moralischen Sinn in Bezug auf das Handeln der Christen und den typischen160 mit Blick auf Person und Werk Christi unterteilen.161 Hinsichtlich der tätigen Nächstenliebe soll nun Gregors Auswahl und Anwendung biblischer Texte in der Pastoralregel untersucht werden.162 Anders als in den exegetisch-homiletischen Werken steht nicht die biblische Textgrundlage, sondern die Thematik vorab fest. Gregor arbeitet zum geistlichen Amt und sucht völlig frei geeignete Belegstellen aus der Heiligen Schrift. Insofern zeigt sich, welche biblischen Texte er mit der Praxis der christlichen Nächstenliebe verbindet und – und das ist besonders auffällig – welche nicht. Gregor zieht in seinen Ausführungen biblische Texte auf zweierlei Weise hinzu: Einerseits nutzt er thematisch naheliegende Texte als schlagkräftige Belege seiner Thesen, ohne sie genauer auszulegen. Der biblische Text fügt keinen neuen Gedanken hinzu, sondern bestätigt mit der Autorität der Heiligen Schrift lediglich Gregors Aussagen. In diesen Fällen steht zumeist der historische Sinn im Vordergrund. Andererseits erweitert Gregor seinen Argumentationsgang assoziativ163 mit inhaltlich fernerliegenden Texten, die er mithilfe einer zuweilen äußerst phantasievollen Allegorese anbindet. Auf diese Weise fügt er seinen Gedanken oft neue Aspekte hinzu und schreitet in der Erörterung der Thematik fort. Als Beispiel für diese beiden Verwendungsmöglichkeiten kann Gregors Erläuterung zur Geduld dienen: „Solange diese [scil. die Ungeduldigen] ihre Aufregung in keiner Weise bekämpfen, vernichten sie die guten Werke, obschon sie diese aus ruhigem Geist heraus getan haben, 158 Vgl. Hofmann, D., Auslegung, 12–21, ihm folgen Kessler, St., Exeget, 191–216; Floryszczak, Regula, 222 f. und Wyrwa, Zugang, 262. 159 Vgl. Hofmann, D., Auslegung, 22–29, dort finden sich auch Belegstellen. 160 Gregor bezeichnet diesen Teilsinn variabel als allegoria, mysterium oder typus im Gegenüber zum einheitlichen Begriff der moralitas, vgl. Hofmann, D., Auslegung, 20. 161 Vgl. Hofmann, D., Auslegung, 15. 162 Vgl. zur Exegese in der Pastoralregel vgl. Judic, Bruno, La bible miroir des pasteurs dans la Règle pastorale de Grégoire le Grand, in: Fontaine, J. et al. (Hgg.), Le monde latin antique et la Bible, BiToTe 2, Paris, 1985, 455–473 und Floryszczak, Regula, 223–229. 163 Dietram Hofmann bezeichnet die häufig zu beobachtenden Stichwortverknüpfungen als „Merkworte“, vgl Hofmann, D., Auslegung, 36 f., vgl. ähnlich Floryszczak, Regula, 218.
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und zerstören durch einen unvorsichtigen Impuls, was auch immer sie vielleicht über lange Zeit mit vorsichtigem Eifer erbaut haben. Denn selbst die Tugend der Liebe, welche die Mutter und Hüterin aller Tugenden ist,164 geht durch das Laster der Ungeduld verloren. Es steht ja geschrieben: Liebe ist geduldig.165 Wenn also nicht die geringste Geduld gegeben ist, gibt es auch keine Liebe. […] Weil also, wenn die Geduld zurückgelassen wird, auch die übrigen guten Werke zerstört werden, die bereits vollbracht sind, wird zu Ezechiel zutreffend erzählt,166 dass auf dem Altar Gottes eine Furche167 sei, damit in dieser nämlich die dargebrachten Opfergaben geschützt werden. Wenn nämlich auf dem Altar keine Furche wäre, würde ein darüber wehender Windhauch alles, was sich als Opfer dort befindet, verstreuen. Was aber verstehen wir unter dem Altar Gottes, wenn nicht die Seele des Gerechten, die sich vor dessen [scil. Gottes] Augen so viele Opfergaben auferlegt, wie viele gute Taten sie geübt hat? Was aber ist die Furche des Altars anderes als die Geduld der Guten, die, wenn sie den Geist zur Erduldung von Unglücken demütigt, diesen nach der Weise eines Grabens ins Niederste gestellt zeigt? Die Furche wird also auf dem Altar gezogen, damit der Windhauch nicht das dargebrachte Opfer zerstreut; das bedeutet, dass der Geist der Erwählten die Geduld bewahrt, damit er nicht durch den Wind der Ungeduld in Aufruhr gebracht wird und das bewirkte Gute verliert. Es wird aber zurecht erwähnt, dass diese Furche eine einzige Elle beträgt, weil das Maß der Einheit natürlich geschützt wird, wenn die Geduld nicht fehlt.“168
Der Verweis auf 1 Kor 13,4 ist semantisch nachvollziehbar und sogleich einleuchtend: Die Liebe als langmütige Tugend ist durch die ihr entgegengesetzte Ungeduld gefährdet. Die allegorische Auslegung der Altarbeschreibung in der Tempelvision Ezechiels dagegen ist gewagter: Gregor deutet den Altar als Seele und die Opfergaben als gute Werke. Die Furche aber, welche die Erntegaben gegen den Wind schützt, versteht der römische Bischof als Geduld, die der Seele die guten Werke bewahrt, die durch Ungeduld leicht verwirkt würden. 164
Zur Formel der mater virtutum s. u. Kap. 5.2.2.3. 1 Kor 13,4, in ähnlicher Weise zitiert Gregor im Folgenden auch Prov 19,11 und Koh 7,8, die ebenso auf die Geduld verweisen. 166 Vgl. Ez 43,13. 167 Gregor fasst fossa altaris nicht als Längenmaß, sondern als Furche auf, vgl. FN 1 des Herausgebers (SC 382, 298). 168 „Qui dum perturbationi suae minime obsistunt, etiamsi qua a se tranquilla mente fuerant bene gesta confundunt, et improuiso impulsu destruunt, quidquid forsitan diu labore prouido construxerunt. Ipsa namque quae mater est omnium custosque uirtutum, per impatientiae uitium uirtus caritatis amittitur. Scriptum quippe est: Caritas patiens est. Igitur cum minime est patiens, caritas non est. […] Quia igitur cum patientia relinquitur, etiam bona reliqua quae iam gesta sunt destruuntur, recte ad ezechielum esse in altari Dei fossa perhibetur, ut in ea uidelicet superposita holocausta seruentur. Si enim in altari fossa non esset, omne quod in eo sacrificium reperiret, superueniens aura dispergeret. Quid uero accipimus altare dei, nisi animam iusti, quae quot bona egerit, tot super se ante eius oculos sacrificia imponit? Quid autem est altaris fossa, nisi bonorum patientia, quae dum mentem ad aduersa toleranda humiliat, quasi more foueae hanc in imo positam demonstrat? Fossa ergo in altari fiat, ne superpositum sacrificium aura dispergat; id est, electorum mens patientiam custodiat, ne commota uento impatientiae, et hoc quod bene operata est amittat. Bene autem haec eadem fossa unius cubiti esse memoratur; quia nimirum si patientia non deseritur, unitatis mensura seruatur.“ Greg.‑M. Past. III, 9 (SC 382, 296, 11–300, 52), die Hervorhebungen entstammen dem Original. 165 Vgl.
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Soweit findet Gregor seine schon vorher getätigten Aussagen in der biblischen Erzählung bestätigt. Zusätzlich gewinnt er durch die geistige Deutung aber außerdem die Perspektive der Demut. Ebenso wie die Furche eine Vertiefung im Altar darstellt, leitet die Geduld auch zur Demut, also zur Erniedrigung der Seele an. Damit wird auf das klassische Askeseideal und einen zentralen Topos in der Theologie Gregors verwiesen. Die biblischen Texte, die Gregor thematisch mit der tätigen Nächstenliebe verbindet, zeigen eine relativ breite Streuung. Es lässt sich keine klare Präferenz feststellen, weder für ein biblisches Buch noch für eine bestimmte Gattung. Gregor stellt – wie im vorangegangenen Zitat – prophetische Texte gleichberechtigt neben Verse aus den Episteln, bei denen er im Übrigen die (deutero-) paulinischen und die katholischen nicht unterschiedlich gewichtet. Ebenso greift er auf narrative Elemente aus den alttestamentlichen Geschichtsbüchern oder den Evangelien zurück. Auch Gebote und andere paränetische Formulierungen nimmt er auf, sei es aus der Weisheitsliteratur, der Jesustradition oder den Episteln. Grundsätzlich wird kein Teil der Heiligen Schrift einem anderen vorgezogen, da Gregor die ganze Bibel als Wort Gottes versteht. Die göttliche Wahrheit spricht nicht nur in Jesus Christus selbst, sondern auch durch alle biblischen Personen und Autoren, so dass jedem biblischen Text die allerhöchste Autorität zukommt. Insofern lässt sich eine relative Gleichwertigkeit der biblischen Bücher beobachten. Weder erweist sich durch häufige Nutzung ein biblisches Buch als „Lieblingslektüre“ des Papstes, noch scheint er mit dem Thema der tätigen Nächstenliebe einen bestimmten Text in besonderer Weise zu verbinden, so dass er ihn mehrere Male anführt. Das ist umso erstaunlicher, als sich bei christlichen Schriftstellern vor ihm bereits einige Bibelstellen zu zentralen Texten der tätigen Nächstenliebe entwickelt hatten.169 Diese Texte führt zwar auch Gregor in Bezug auf das Thema an, allerdings verwendet er sie oftmals nicht in naheliegender Weise: Mit der Erzählung vom barmherzigen Samariter etwa mahnt der römische Bischof nicht zur Krankenpflege, Versorgung von Gewaltopfern oder auch ganz allgemein zur Nächstenliebe170, sondern versteht sie allegorisch als Paradebeispiel für das gute Gleichgewicht aus Milde und Strenge.171 So wie der Samariter die Wunden des Ausgeraubten mit scharfem Wein wusch und mildem Öl versorgte, muss auch die bischöfliche Ermahnung beiden Tugenden gerecht werden.172 169
Vgl. Kap. 4.2. Erzählung dient in Lk 10,29–36 bekanntlich als Auslegung des Doppelgebots der Liebe und definiert den Nächsten als denjenigen, der Hilfe bedarf. 171 Zum Gegenüber von mansuetudo und severitas vgl. auch Greg.‑M. Hom. eu. I, 17, 12 (CCSL 141, 126, 240–261). 172 Vgl. Greg.‑M. Past. II, 6 (SC 381, 214, 176–216, 197). 170 Die
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Auch der Grundtext für christliche Wohltätigkeit schlechthin, Mt 25,34–46, wird von Gregor zu Rate gezogen, allerdings nicht, um zu den darin genannten Werken der Barmherzigkeit aufzufordern.173 Vielmehr nutzt er die dortige Kritik an der Untätigkeit,174 um die noch größere Schuld des Diebstahls zu verurteilen: „Siehe, sie [scil. die Böcke zur Linken] hören keineswegs, dass sie Diebstähle oder irgendeine andere Gewalttat geübt hätten, und dennoch werden sie den ewigen Feuern der Hölle übergeben. Daraus ist also zu schließen, mit welch großer Verdammnis diejenigen zu bestrafen sind, die andere ausrauben, wenn [selbst] diejenigen mit solch großer Strafe belegt werden, die [lediglich] ihren Besitz unklug behalten.“175
Die biblische Frage nach dem höchsten Gebot und das darauf antwortende Doppelgebot der Liebe werden in der Pastoralregel an keiner Stelle explizit als Referenztext verwendet. Hier folgt Gregor also seinen Vorgängern, die diesem Text in ihren Werken zur Nächstenliebe zumeist nur ein Schattendasein zugestanden hatten.176 Nichtsdestotrotz verweist der römische Bischof in der Pastoralregel an diversen Stellen implizit auf das Doppelgebot und scheint es als Grundgebot vorauszusetzen.177 Die Forderung an die Bischöfe, sowohl geistlich Gottesliebe als auch helfend Nächstenliebe zu üben, verweist in der Sache zweifelsfrei auf diese Perikope. Gregor begründet die Forderung dann aber mit einem ganz anderen biblischen Text: In den Bestimmungen zum hohepriesterlichen Gewand178 deutet er das Material des zweifach gefärbten Scharlachs (coccum bis tinctum)179 als die doppelte Anforderung an den Klerus.180 Die Heilige Schrift stellt für Gregors zweifelsfrei die zentrale Referenzgröße seines theologischen Schaffens dar. Dennoch nimmt seine Gedankenführung im themenbasierten Werk der Pastoralregel nur äußerst selten im biblischen Text ihren Anfang. Er entlehnt aus diesem nur gelegentlich eine zusätzliche Idee, 173 Für diesen Zweck zieht Gregor an anderer Stelle aber die Erzählung vom reichen Mann und armen Lazarus (Lk 16,19–31) heran, vgl. Greg.‑M. Past. III, 21 (SC 382, 396, 35–44) und Greg.‑M. Hom. eu. II, 40, 3–10 (CCSL 141, 398, 112–407, 356). 174 Vgl. Mt 25,41–46. 175 „Ecce nequaquam audiunt, quia rapinas uel quaelibet alia uiolenta comiserant, et tamen aeternis gehennae ignibus mancipantur. Hinc ergo colligendum est quanta damnatione plectendi sunt qui aliena rapiunt, si tanta animaduersione feriuntur, qui sua indiscrete tenuerunt.“ Greg.‑M. Past. III, 20 (SC 382, 390, 107–112). 176 Vgl. Kap. 4.2. 177 Vgl. Greg.‑M. Past. I, 5 (SC 381, 146, 42–148, 46); I, 7 (SC 381, 150, 15 f.); II, 3 (SC 381, 186, 63–75); III, 14 (SC 382, 342, 39–344, 49); III, 23 (SC 382, 414, 33–416, 39); III, 35 (SC 382, 514, 37–516, 51). Bruno Judic führt diese Tradition fort und verweist in seiner Edition an keiner dieser Stellen im Apparat auf die biblische Quelle, auch wenn sie mitunter sehr deutlich durchscheint. 178 Vgl. Ex 28,4–8. 179 Ex 28,5.6.8. 180 Vgl. Greg.‑M. Past. II, 3 (SC 381, 186, 63–75), vgl. auch Greg.‑M. Hom. eu. I, 17, 11 (CCSL 141, 125, 234–239); II, 38, 10 (CCSL 141, 369, 258–370, 275); Greg.‑M. Hom. Ez. II, 4, 3 (CCSL 142, 259, 62–260, 134); Greg.‑M. Mor. VI, 56 (CCSL 143, 326, 46–51); XXX, 24 (CCSL 143B, 1507, 54–57).
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die er nicht bereits im Vorhinein schon ausgeführt hatte. Der Nutzen der Bibel liegt für Gregor vor allem in ihrer Autorität als göttlichem Wort. Er nutzt sie für seine eigenen Darlegungen, indem er diese mit biblischen Belegen absichert und unterfüttert. Für das Thema der Nächstenliebe greift Gregor dabei auch auf diejenigen Texte zurück, mit denen Theologen der vergangenen Jahrhunderte zu wohltätigen Werken aufriefen. Gregors außergewöhnliche Deutungen von klassischen Texten zur Barmherzigkeit lassen aber darauf schließen, dass im 6. Jahrhundert noch kein konkreter Textkanon zur Thematik verbreitet war, da sonst eine traditionellere Auslegung zu erwarten gewesen wäre.
5.2.2.2 Der Hirte als Leitfigur Gregor intendiert mit seinem Werk und Wirken die Umsetzung des christlichen Glaubens im alltäglichen Leben. Der Weg zu diesem Ziel ist bei ihm dabei stets top-down gerichtet: Mithilfe der Hierarchie soll die ganze Gesellschaft geformt werden.181 Insofern überrascht es nicht, dass das Bischofsamt in der Regula Pastoralis182 als gutes Vor- und Leitbild beschrieben wird.183 Auf diese Weise verknüpft der Papst Amtstheologie und Pädagogik eng miteinander. Für ihn sind die Episkopen unverzichtbarer Teil der Hierarchie in Kirche und Schöpfung.184 Nur durch die Führung der Bischöfe, durch ihre praedicatio und admonitio, kann die heillose Unordnung dieser Welt in die von Gott vorgesehene Ordnung gebracht werden und dereinst zu ihrer Vollendung gelangen.185 Dafür bedarf es aber Leitungspersonen, die durch Kontemplation und Schriftstudium Einsicht in Gottes Ordnungen haben und ihm besonders nahestehen.186 Diese herausgehobene Position im Vergleich zum Rest der Gemeinde ist für das Heil der ganzen Gemeinschaft unverzichtbar. Die Bischöfe werden im Dienst und Interesse der Kirche über sie erhoben.187 Nur durch ihre Lehre und vor allem ihr gutes Vorbild wird den übrigen Christen überhaupt erst der Weg zu Gott ermöglicht. Doch auch das Gegenteil kann der Fall sein: „Daher geschieht es, dass, wenn der Hirte durch abschüssiges Gelände schreitet, die Herde zum Abgrund folgt.“188 181
Vgl. Kap. 5.2.1.1. Vorstellung begegnet auch prominent in der Homilie vor Bischöfen, vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 17 (CCSL 141, 116, 1–134, 449), sowie mehrfach in den Moralia in Iob, vgl. u. a. Greg.‑M. Mor. XVI, 58 (CCSL 143A, 832, 18–833,31). 183 Vgl. Greg.‑M. Past. I, 2 (SC 381, 134, 26- 136, 43); II, 3 (SC 381, 180, 1–184, 38); III, 4 (SC 382, 276, 14–25); III, 6 (SC 382, 286, 18–36) und III, 35 (SC 382, 514, 37–518, 98). 184 Dass Gregor mit der Pastoralregel nicht allein kirchliche Leitungspersonen ansprach, sondern auch weltliche Führer zur weiten Adressatenschaft zählten, ist bereits betont worden, vgl. Kap. 5.2. 185 Vgl. Müller, B., Führung, 134–140. 186 Vgl. Greg.‑M. Past. II, 11 (SC 381, 252, 1–256, 55). 187 Vgl. Evans, Faith, 165 f. 188 „Vnde fit ut cum pastor per abrupta graditur, ad praecipitium grex sequatur.“ 182 Diese
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Der Bischof trägt demnach eine große Verantwortung für das Heil seiner Gemeinde; er muss sie den Glauben lehren und zur rechten Lebensführung erziehen. Für sie wird er auch im Jüngsten Gericht Rechenschaft ablegen müssen, ihre Verfehlungen werden seinem schlechten Vorbild zugeschrieben werden.189 Die Sorge für Orthodoxie und Moral der Gemeindeglieder ist dem Seelsorger in der Nachfolge der Apostel von dem Auferstandenen selbst aufgetragen.190 Einer Leviratsehe vergleichbar191 soll der Bischof sich der verwitweten Braut Christi, der Kirche, annehmen und diesem so zu reicher Nachkommenschaft verhelfen.192 Die Nächstenliebe in Form von Katechese und Seelsorge ist also konstitutive Dienstpflicht für alle, die von Gott für das kirchliche Amt vorgesehen und mit entsprechender Begabung beschenkt sind. Ein solches Talent beinhaltet die Verpflichtung, es nicht zu vergeuden: Der offensichtlichen Erwählung durch Gott sollte sich niemand verweigern. Denn man enthält sonst nicht nur seinem Nächsten die Liebe vor, sondern auch Gott selbst. In Anlehnung an Joh 21,15–17 „ist die Seelsorge ein Zeugnis der Liebe“193 zu Gott. Gerade in der Kondeszendenz zum Schwachen und Geringen erhebt sich die Gottesliebe.194 Erst wenn die Bischöfe sich den (geistlich) Bedürftigen in der Gemeinde zuwenden, erfüllen sie die Forderung nach Gottesliebe vollständig. Die Aufgabe des Seelsorgers ist eine doppelte, „weil nämlich die rechten Prediger nicht nur in der Kontemplation nach dem heiligen Haupt der Kirche aufwärtsstreben, sondern sich auch erbarmend zu seinen Gliedern hinabneigen.“195 Vita contemplativa und vita activa – Gottesliebe und Nächstenliebe stellen für kirchliche Führer gleichberechtigte Pflichten dar, verbunden durch das „Band der Liebe“196. Greg.‑M. Past. I, 2 (SC 381, 134, 7 f.), vgl. auch Greg.‑M. Hom. eu. II, 31, 4 (CCSL 141, 271, 42–272, 63). Silke Floryszczak kritisiert, Gregor zeichne ein negatives Bild der Gläubigen und verfolge mit seiner „Furchtpädagogik“ und „Einschüchterungspraxis“ vor allem das Ziel der „Machtererhaltung und -sicherung“ (Floryszczak, Regula, 262 f.). Diese Kritik sowie die Forderung von „Selbstständigkeit und Freiheit im Handeln“ (ebd. 263) erscheinen mir stark den Idealen der 1968er verpflichtet und in dieser Form unangebracht. Obendrein übersieht Floryszczak, dass Gregor Kritik am Bischof durch die Untergebenen einerseits nicht gänzlich ausschließt und andererseits es als Gefahr der Vormachtstellung betrachtet, dass Führer häufig nicht zurechtgewiesen werden, vgl. Greg.‑M. Past III, 4 (SC 382, 280, 72–282, 117) und II, 6 (SC 381, 206, 38–54). 189 Vgl. Greg.‑M. Past. I, 2 (SC 381, 136,37–43); III, 25 (SC 382, 428, 5–430, 54). 190 Vgl. Mt 28,10. 191 Vgl. Dtn 25,5–10. 192 Vgl. Greg.‑M. Past. I, 5 (SC 381, 146, 26–40). 193 „[…] dilectionis est testimonium cura pastionis“ Greg.‑M. Past. I, 5 (SC 381, 146, 19 f.). 194 Vgl. Greg.‑M. Past. II, 5 (SC 381, 200, 59–62), vgl. dazu Fiedrowcz, Kirchenverständnis, 205 f. 195 „[…] quia scilicet praedicatores recti non solum sursum sanctum caput Eclesiae (sic!) […] contemplando appetunt, sed deorsum quoque ad membra illius miserando descendunt.“ Greg.‑M. Past. II, 5 (SC 381, 198, 41–44). 196 „[…] compage caritatis“ Greg.‑M. Past. II, 5 (SC 381, 198, 25), vgl. Kol 3,14, wo die caritas selbst uinculum perfectionis genannt wird.
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Gregor erhebt den Bischof in der von Gott gestifteten Ordnung über seine Gemeindeglieder. Dieser ist rector und praelatus, mit immenser Macht ausgestattet und steht dem Höchsten näher als die übrigen Christen. Zugleich trägt er eine enorme Verantwortung: Als Vorbild obliegt ihm die Erziehung der ihm anvertrauten Menschen, für ihr Heil muss er Rechenschaft ablegen. Gillian Evans beschreibt die gregorianische Pastoraltheologie anhand zweier Achsen: der horizontalen Achse, die den Bischof mit seinen Nächsten verbindet, und der vertikalen, die ihn in der göttlichen Ordnung und der kirchlichen Hierarchie diesen voranstellt.197 Gerade mit der bischöflichen Rolle als Vorbild setzt sich Gregor deutlich von der Lehre Augustins ab, der besonders in seinen antidonatistischen Schriften die Irrelevanz bischöflicher Verfehlungen für die Gemeinde betont.198 Für den römischen Bischof stellte sich die Situation im 6. Jahrhundert grundlegend anders dar: Durch Naturkatastrophen, Krieg und Emigration nach Konstantinopel war der althergebrachte römische Senatorenadel erheblich dezimiert. Demnach konnten die politischen Strukturen nicht mehr Sorge tragen für die Ordnung in der Gesellschaft. Daher übernahm die Kirche diese Aufgabe – durch den Kaiser persönlich legitimiert und gefördert.199 Sie war in der Stadt vor allem durch den Bischof repräsentiert, so dass dessen Lehre und Lebenswandel durch die Vorbildfunktion eine Relevanz sondergleichen erlangten.
5.2.2.3 Die caritas als Mutter aller Tugenden Während Gregor die Bischöfe mit Verweis auf ihre persönlichen Amtspflichten zur tätigen Nächstenliebe motiviert, steht hinter seinen Forderungen an die übrigen Christen häufig das synoptische Doppelgebot der Liebe.200 Das Ineinandergreifen von Gottes- und Nächstenliebe stellt also nicht nur eine zentrale Herausforderung im bischöflichen Amtsgeschäft dar, sondern wird grundsätzlich von allen Gläubigen erwartet. Dabei zeichnet Gregor in Anknüpfung an den augustinischen ordo faciendi201 einen Entwicklungsprozess in der Motivation ethischen Handelns nach: Auf der niedrigsten Stufe vermeidet der Mensch Sünden allein aus Furcht vor der Strafe – drohte diese nicht, würden die Missetaten ungehindert weiter begangen. In dem nächsten Entwicklungsschritt übt sich der Mensch in der „Erziehung 197 Vgl.
Evans, Faith, 167 f. Bright, Pamela, Antidonatistische Werke, in: Drecoll, V. H. (Hg.), Augustin Handbuch, Tübingen 2007, 316–322; Alexander, James S., Art.: Donatistae. II. Theological Part, AugL 2 (2002), 622–638 und Müller, B., Führung, 139 f. 199 Vgl. dazu Kap. 4.1 und Kap. 5.2.1.1. 200 Zur Verwendung dieses Textes in der Pastoralregel s. o. Kap. 5.2.2.1. 201 Vgl. Aug. Io. eu. tr. 17,8 (CCSL 36, 174, 1–175, 33) und Aug. mor. 1, 48 (CSEL 90, 52, 19–53, 9) und Kap. 4.4. 198 Vgl.
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der Nächstenliebe“202, um schließlich „zur Gnade der Gottesliebe“203 zu gelangen.204 Die Vorstellung von der Gottesliebe als Gnadengeschenk ist für Gregor eher ungewöhnlich und sicher der Entlehnung des augustinischen Gedankens geschuldet. Der römische Bischof fordert sie ansonsten regelmäßig von den Christen und sieht sie somit in menschlicher Verantwortung.205 Anders als der zuletzt vorgestellte Gedankengang vielleicht vermuten lässt, vertritt Gregor keine klare Überordnung der Gottesliebe über die Nächstenliebe, sondern vielmehr eine Gleichordnung.206 So wirft er etwa denjenigen Menschen vor, die es aus Sorge um das eigene Seelenheil und Furcht vor dem Rückfall in Ruhmsucht unterlassen, ihre Mitmenschen zu erbauen, dass sie „die Nächsten weniger als sich selbst lieben.“207 Die Liebe beschreibt Gregor als diejenige Eigenschaft, „die die Mutter und Hüterin aller Tugenden ist.“208 Mit der Formulierung mater uirtutum greift er eine traditionelle Redewendung auf, die bei den christlichen und nichtchristlichen Autoren der (Spät-)Antike häufig zu finden ist. Allerdings wird damit keinesfalls immer die Liebe umschrieben.209 Gregor stellt aber bewusst die caritas ins Zentrum seiner Tugendlehre und bewertet sie damit als höchste aller 202 „[…] nutrimento caritatis“ Greg.‑M. Past. III, 13 (SC 382, 334, 14 f.), der Kontext lässt darauf schließen, dass Gregor unter caritas an dieser Stelle die tätige Unterstützung des Nächsten versteht, da er im Folgenden vom bona facere spricht. 203 „[…] ad amoris gratiam“ Greg.‑M. Past. III, 13 (SC 382, 224, 14). 204 Vgl. Greg.‑M. Past. III, 13 (SC 382, 334, 4–336, 30), einen ähnlichen Gedanken, aber mit explizitem Verweis auf die Nächstenliebe als untere Entwicklungsstufe bietet Greg.‑M. Past. III, 23 (SC 382, 418, 73–80). Vgl. auch Greg.‑M. Hom. eu. II, 26, 3 (CCSL 141, 220, 59 f.); II, 30, 10 (CCSL 141, 268, 306–309); Greg.‑M. Mor. VII, 28 (CCSL 143, 352, 5–353, 15) und Kap. 5.3.2.1. 205 Vgl. aber Kap. 5.5.2.2. 206 Es wäre wohl kaum vorstellbar, dass Gregor von den Gemeindechristen eine Vorrangstellung der Gottesliebe forderte, von den Bischöfen als Experten der Gottessuche aber ein Gleichgewicht und damit ein Weniger an Gottesliebe im Vergleich zu den übrigen Gläubigen. 207 „[…] minus quam se proximos diligant“ Greg.‑M. Past. III, 35 (SC 382, 514, 41). Mit der Warnung vor Selbstliebe setzt sich Gregor von Augustin deutlich ab, der das eigene Selbst als legitimes drittes und gleichwertiges Objekt der Liebe versteht, vgl. Aug. doctr. chr. 1, 25–27 (CCSL 32, 92, 1–94, 34) und Dideberg, Caritas, 732–734. 208 „[…] quae mater est omnium custosque uirtutum“ Greg.‑M. Past. III, 9 (SC 382, 296, 15 f.), vgl. auch Greg.‑M. Past. III, 23 (SC 382, 414, 32 f.); Greg.‑M. Ep. II, 40 (CCSL 140, 127, 12). 209 Mit Bezug auf πίστις bzw. pietas vgl. Clem. str. II, 5, 23, 5 (GCS 15, 125, 17–19) und Cic. Planc. 80 (Clark, 33, 2–5); discretio vgl. Ben. Reg. 64, 19 (CSEL 75, 151) und Cassian Coll. 2, 4 (SC 42, 116), der sie als generatrix, custos moderatrixque bezeichent; continentia vgl. Leo-M. Serm. 50, 3 (CCSL 138A, 293, 71); humilitas vgl Cassian Coll. 19, 2 (SC 64, 39); oboedientia vgl. Aug. ciu. 14, 12 (CCSL 48, 434, 12–14), der auch die Verbindung von mater und custos bietet; iustitia vgl. Zeno Tract. II, 1, 11 (CCSL 22, 147, 87 f.). Die caritas als Mutter aller Tugenden führen hingegen u. a. Leo-M. Serm. 38, 4 (CCSL 138, 207, 66 f.) und Hier. Ep. 82, 11 (CSEL 55, 118, 20) an. Gregor selbst verwendet diese Formulierung diverse Male, für die humilitas z. B.: Greg.‑M. Mor. XXXIV, 23 (CCSL 143B, 1769, 123), vor allem aber für die caritas, vgl. Greg.‑M. Ep. II, 40 (CCSL 140, 127, 12); V, 46 (CCSL 140, 338, 8); VI, 61 (CCSL 140, 434, 2); VII, 28 (CCSL 140, 486, 6 f.).
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ethisch-moralischen Prinzipien, aus der sämtliche anderen abzuleiten bzw. auf sie zurückzuführen sind.210 Damit setzt er sich von der traditionellen Lehre der Kardinaltugenden ab, die von vier Haupttugenden ausgeht.211 Diese Vorstellung von den virtutes cardinales bzw. principales war in der antiken Philosophie weit verbreitet und im christlichen Kontext besonders von Ambrosius aufgenommen und ausgearbeitet worden, dessen De Officiis wahrscheinlich auch als Quelle für die Regula Pastoralis diente.212 Gregor aber setzt allein die Liebe über alle anderen Tugenden,213 sie übertrifft auch die Geduld. Während diese widrige Dinge oder Personen mitunter mit innerem Groll toleriert, kommt die Liebe diesen mit aufrechtem Wohlwollen entgegen.214 Mit einem Verweis auf das christliche Gebot der Feindesliebe formuliert Gregor folgenden Gegensatz: „Deshalb ist es vor den Menschen eine Tugend, Feinde zu erdulden, eine Tugend vor Gott aber ist es, [sie] zu lieben.“215 Doch obwohl die Liebe die höchste Tugend ist, von der alle anderen abgeleitet werden, so ist sie doch äußerst fragil und auf die anderen Tugenden angewiesen: Trifft sie etwa auf Ungeduld, so geht sie verloren.216 Streit wiederum zerstört die Einheit, die durch das Band der Liebe gestiftet wird und für die Gregor die caritas proximorum gar synonym verwendet.217 Der Liebe als oberster Tugend steht die Zwietracht als ärgste Sünde entgegen. Sie verhindert, dass andere Sünden durch gute Werke gesühnt werden.218 Oben210 Vgl. auch Greg. Hom. eu. II, 27, 1 (CCSL 141, 229, 1–230, 23) und Greg.‑M. Mor. IX, 52 (CCSL 143, 493, 22–494, 25). 211 Eine Ausnahme stellt dabei Platon mit der deutlichen Vorrangstellung der δικαιοσύνη gegenüber den drei übrigen Kardinaltugenden dar, vgl. Klein, Ulrich, Art.: Kardinaltugenden, HWPh 4 (1976), 695 f., hier: 695. Gregor rezipiert die Lehre der Kardinaltugenden in den Ezechielhomilien, vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 3, 8 (CCSL 142, 7, 130–144); II, 10, 18 (CCSL 142, 393, 470–394, 507) sowie Greg.‑M. Mor. XXII, 2 (CCSL 143A, 1093, 35–43) und Kap. 5.5.1.3. 212 Vgl. Judic, Introduction, 35–39; Floryszczak, Regula, 100–102 und Demacopoulos, Gregory’s Model, 205–209. 213 Vgl. auch Leo-M. Serm. 10, 2 (CCSL 138, 41, 46–42, 65). 214 Vgl. Greg.‑M. Past. III, 9 (SC 382, 302, 87–97). 215 „Virtus itaque est coram hominibus: aduersarios tolerare, sed uirtus coram Deo: diligere“ Greg.‑M. Past. III, 9 (SC 382, 302, 104–106). 216 Vgl. Greg.‑M. Past. III, 9 (SC 382, 296, 11–18). 217 Vgl. Greg.‑M. Past. III, 22 (SC 382, 404, 47). 218 „Alle aber, die sich durch Zwietracht absondern vom frischen Grün der Liebe, verwelken. Auch wenn sie in ihren Taten Früchte des guten Werks hervorbringen, sind es in Wirklichkeit keine, weil sie nicht aus der Einheit der Liebe sprossen. Daher sollen die Streitstifter betrachten, wie vielfach sie sündigen; wenn sie eine einzige Verdorbenheit begehen, entwurzeln sie zugleich alle Tugenden aus den menschlichen Herzen. Denn in einem Übel vollbringen sie zahllose, weil sie durch das Säen von Zwietracht die Liebe […] auslöschen.“ (Omnes autem qui per discordiam separantur a uiridate dilectionis, arefiunt. Qui etsi boni operis fructus in suis actionibus proferunt, profecto nulli sunt, quia non ex unitate caritatis oriuntur. Hinc ergo perpendant seminantes iurgia, quam multipliciter peccant; qui dum unam nequitiam perpetrant, ab humanis cordibus cunctas simul uirtutes eradicant. In uno enim malo innumera peragunt, quia seminando discordiam, caritatem […] extinguunt.) Greg.‑M. Past. III, 23 (SC 382, 414, 25–33).
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drein kann für diese Form der Missetat selbst gar keine Sühne geleistet werden, da nur in Eintracht gute Werke geübt werden können.219 Hinter dieser harschen Kritik an Streit und Uneinigkeiten steht, wie auch bei den hier rezipierten Aussagen Augustins,220 vermutlich ein konkreter Konflikt. Schon in seiner Zeit als Apokrisiar war Gregor mit den istrischen Bischöfen beschäftigt, die sich im Kontext des Drei-Kapitel-Streits von der Mehrheitskirche abgespalten hatten.221 Die Situation war zu Beginn seines Pontifikats noch immer virulent. Im Frühjahr 591 schreckte Gregor sogar vor Waffengewalt nicht zurück, um die Einheit der Kirche wiederherzustellen, was ihm allerdings misslang.222 Unter dem Dach der Liebe betont die Pastoralregel die Bedeutung von Geduld und Friedfertigkeit im zwischenmenschlichen Bereich und stellt somit die Gemeinschaft ins Zentrum: Nur wenn der Nächste mit seinen Ecken und Kanten langmütig erduldet und die Einheit nicht durch Zwist und Eigensinn gefährdet wird,223 kann die Liebesgemeinschaft bestehen. Auf der anderen Seite endet die Friedenspflicht mit der Orthodoxie: Gerade mit Gottlosen und Irrlehrern kann und darf es keine Eintracht geben, sie wird gar als „schädlich“224 bezeichnet. An dieser Stelle beweist Gregor, dass er ganz zu Beginn seines Pontifikats neben der Sorge um die Einzelseele besonders auch die Verantwortung für die Einheit der Kirche als seine Aufgabe als Bischof betrachtete. Allerdings wurde er selbst in der Praxis zunehmend toleranter gegenüber differierenden theologischen Lehrmeinungen, so dass er letztendlich nur noch eine formale Einheit mit der Kirche einforderte.225
5.2.2.4 Der jenseitige Lohn Um die Christen zur tätigen Nächstenliebe zu motivieren, bietet Gregor in der Regula Pastoralis neben der amtstheologisch-pädagogischen und der ethischmoralischen auch eine eschatologisch-soteriologische Argumentation. Die Sehnsucht nach der himmlischen Heimat und die Beurteilung des Menschen coram Deo bilden das Zentrum gregorianischer Theologie.226 In der Pastoralregel verweist Gregor zwar zumeist nur kurz auf diese Thematik, dennoch bildet sie das theologische Fundament seiner Aufforderung zur tätigen Nächstenliebe. 219
Vgl. Greg-M. Past. III, 22 (SC 382, 406, -51–56). Vgl. Kap. 4.4. 221 Vgl. Pelag. II. Ep. episc. 3 (MGH.EP. 2, App. 3, 449–467), sowie Kap. 3.4 und 6.3.2.1. 222 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 16 (CCSL 140, 16) und Ep. I, 16a.b (MGH ep. 1,17–23) sowie Kap. 6.3.2.1. 223 Vgl. Greg.‑M. Past. III, 9 (SC 382, 300, 52–79) und III, 27 (SC 382, 448, 43–450, 54). 224 „[…] noxium“ Greg.‑M. Past. III, 23 (SC 382, 416, 43), zum Verbot der Einheit mit Häretikern vgl. Greg.‑M. Past. III, 23 (SC 382, 416, 40–418, 80). 225 Vgl. Kap. 6.3.2.1. 226 Vgl. Kisić, Patria, 117–142; Markus, World, 51–67; Baun, Eschatology sowie Kap. 5.2.1.1; 5.3.2.2 und 5.4.3. 220
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Gerade die Predigtlehre des dritten Buches bietet eine Bandbreite an eschatologischen Argumenten für eine aktive Zuwendung zum Mitmenschen. Die Vorstellung, dass der Mensch durch gute Werke sein jenseitiges Schicksal beeinflussen kann, gehört im späten 6. Jahrhundert bereits fest zur christlichen Tradition.227 Entsprechend verweist Gregor in der Pastoralregel diverse Male darauf, dass gute Werke den Weg ins Himmelreich ebnen, ihre Unterlassung aber im Jüngsten Gericht mit der ewigen Verdammung bestraft wird.228 Dabei belässt er es zumeist bei knappen Verweisen und führt sie nicht weiter aus. Vermutlich setzt er bei seinen Lesern und auch den indirekten Adressaten des Werkes229 eschatologisches Grundwissen voraus. Neben der grundlegenden Verknüpfung von ethischer Forderung und jenseitiger Heilsaussicht zeigt Gregor aber auch Grenzen dieser Vorstellung auf: Zum einen muss hinter jedem guten Werk die richtige Gesinnung, die Nächstenliebe, stehen.230 Es reicht nicht aus, Wohltaten nur aus Furcht vor Strafen zu üben.231 Sie müssen freiwillig geschehen und nicht nur den persönlichen Nutzen im Jüngsten Gericht fokussieren, sondern auch den bedürftigen Nächsten in den Blick nehmen.232 Zum anderen betont Gregor, dass begangene Sünden zwar durch Barmherzigkeit getilgt werden können, Sühne aber nicht planmäßig erwirtschaftet werden kann.233 Mit dem Eingeständnis der Sünde und der Sühneleistung muss stets der Wille zur Besserung einhergehen. An dieser Stelle zeigt sich Gregors pädagogischer Ansatz, der weniger auf dogmatische Richtigkeiten im Glauben der Gemeindeglieder abzielt, als vielmehr auf die Umsetzung in der Lebensführung. 227 Besonders geprägt wurde diese Vorstellung durch Cyprians Schrift De opere et eleemosynis, vgl. Cypr. Eleem. (CCSL 3A, 53–72) und Dunn, Crown, sowie durch die Entwicklung des Mönchtums, vgl. dazu Moschos, Eschatologie, insbes. 123–254. 228 Vgl. u. a. Greg.‑M. Past. III, 15 (SC 382, 350, 27–352, 52); III, 20 (SC 382, 388, 100- 390, 115); III, 21 (SC 382, 396, 35–44); III, 26 (SC 382, 442, 68–444, 78). 229 S. o. Kap. 5.2. 230 Vgl. Greg.‑M. Past. III, 22 (SC 382, 404, 45–47): „Zu ermahnen sind die Streitenden, damit sie wissen, dass sie Gott solange kein Opfer des guten Werks darbringen, solange sie im Widerspruch zur Nächstenliebe stehen.“ (Ammonendi sunt dissidentes, ut nouerint quod tamdiu nullum boni operis Deo sacrificium immolant, quamdiu a proximorum caritate discordant). Zur Rolle der Intention vgl. Kap. 5.3.3.2. 231 „Denn die guten [Werke] müssen um ihrer selbst willen geliebt und nicht aufgrund von bedrängenden Strafen ausgeführt werden.“ (Bona enim pro semetipsis amanda sunt, et non poenis compellentibus exsequenda.) Greg.‑M. Past. III, 13 (SC 382, 336, 25 f.). 232 Vgl. Greg.‑M. Past. III, 35 (SC 382, 514, 37–518, 98). Zur zentralen Rolle der utilitas proximi, vgl. Kap. 5.6.4. 233 „Ermahnen muss man auch diejenigen, die bereits das Ihrige großzügig verschenken, […] damit sie die Gerechtigkeit Gottes nicht für käuflich halten, indem sie glauben, dass sie ungestraft sündigen können, solange sie dafür sorgen, für die Sünden finanzielle Abbitte zu leisten.“ (Ammonendi sunt etiam qui iam sua misericorditer largiuntur, […] ne uenalem Dei iustitiam aestiment, si cum curant pro peccatis nummos tribuere, arbitrentur se posse inulte peccare.) Greg.‑M. Past. III, 20 (SC 382, 388, 89–94).
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Neben den klassischen guten Werken spricht der römische Bischof ebenso Zeiten der Krankheit sühnende Wirkung zu: Körperliche Leiden sind als vorgezogene, diesseitige Strafen zu verstehen, dank derer die ewigen umgangen und das himmlische Heil erlangt werden können.234 Darüber hinaus liegt dem Leiden aber auch ein kathartisches Element inne: Im Moment der leiblichen Schwäche ist der Geist auf sich zurückgeworfen und erkennt die eigene Verstrickung in irdische Geschäfte. Das notgedrungene Innehalten ermöglicht eine Selbstreflexion und leitet zur Demut an, indem die Nichtigkeit und Vergänglichkeit der irdischen Existenz neu erfahren wird.235 Krankheit fasst Gregor wie jegliches andere irdische Unglück, z. B. Armut,236 positiv als Werkzeug göttlicher Didaktik auf.237 Durch diese Zuchtmittel wird der Mensch zur Besserung geleitet, er erkennt die irdischen Güter als vergänglich und wird so davon entwöhnt.238 Im Gegenzug dazu stellt sich die Sehnsucht nach der himmlischen Heimat ein, die von nun an das verbleibende hiesige Leben bestimmt.239 Aus der theologischen Wertschätzung von Krankheit und Armut resultiert eine stark profilierte Vorstellung von der Versorgung der Leidenden. An keiner Stelle erwähnt Gregor Krankenpflege oder medizinische Versorgung.240 Auch seine Forderungen nach Armenfürsorge und Almosen zielen lediglich auf die Gewährleistung des zum Überleben Notwendigen. Der Intention des Werkes entsprechend zielt der Papst vielmehr auf die Sorge um die geistlichen Bedürfnisse ab. Der Kranke soll darin unterstützt werden, seine Krankheit geduldig anzunehmen, sie richtig zu deuten und zu seiner Besserung zu nutzen. Dabei soll ihm die beschriebene Hermeneutik der Zucht helfen, die ihm etwa in Seelsorgegesprächen aufgezeigt werden kann.241 Auch hier wird deutlich, dass Gregor weniger auf eine leibliche Versorgung der Kranken abzielt als vielmehr auf die eigentliche Seelsorge. Dem Umfang nach nimmt das Thema des jenseitigen Lohnes für gute Werke in der Pastoralregel keinen besonders großen Stellenwert ein. Dennoch ist es stets präsent und bildet den theologischen Hintergrund der ausdifferenzierten Predigtlehre im dritten Buch. Keinesfalls stellt es nur ein Argument für tätige 234 Vgl. Greg.‑M. Past. III, 12 (SC 382, 328, 80–90) sowie Greg.‑M. Ep. IX, 102 (CCSL 140A, 654, 3–17) und Kap. 6.2.4.1; Hack, Krankheit, 121–123. 235 Vgl. Greg.‑M. Past. III, 12 (SC 382, 328, 91–332, 138), vgl. dazu Hack, Krankheit, 119–121. 236 Vgl. Greg.‑M. Past. III, 26 (SC 382, 444, 79–446, 110). 237 Vgl. auch Greg.‑M. Hom. eu. II, 36, 7 (CCSL 141, 337, 159–338, 194); II, 36, 9 (CCSL 141, 340, 230–235); II, 40, 4 (CCSL 141, 400, 178–182); II, 40, 6 (CCSL 141, 403, 239–252). 238 Zur Abkehr von irdischen Verstrickungen vgl. Kisić, Patria, 63–115. 239 Vgl. Greg.‑M. Past. III, 12 (SC 382, 326, 60–328, 79). 240 Auszunehmen ist freilich der metaphorische Vergleich der Seelsorge mit der Medizin, vgl. dazu Hack, Krankheit, 141–184 und Floryszczak, Regula Pastoralis, 197–200. 241 Vgl. Greg.‑M. Past. III, 12 (SC 382, 332, 139–159), wo zudem Christus als Vorbild gezeichnet wird. Er ertrug seine Leiden als gänzlich Sündloser, wohingegen die Menschen ihre Krankheit aufgrund ihrer Sünden verdienen.
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Nächstenliebe neben anderen dar, sondern ist das eigentliche Anliegen Gregors. Er will seine Gemeinde die Flüchtigkeit dieser Welt und das Verlangen nach der künftigen lehren und sie so zu einer gottgefälligen Ethik erziehen. Dabei steht die patria caelestis im ersten bischöflichen Opus nicht so sehr im Zentrum, wie es in seinen übrigen Werken der Fall ist. Gregor widmet sich im dritten Teil den vielfältigen Sünden in der Gemeinde. Daher betont er hier eher die Vergänglichkeit und daher Nutzlosigkeit dieser Welt, als die himmlische Stadt der Ewigkeit in den Mittelpunkt zu stellen.242
5.2.3 Die Liebe als christliches Grundethos Gregor beschreibt im Prolog des dritten Buches der Pastoralregel als Ziel der kirchlichen praedicatio, „dass er [scil. der Bischof] alle [scil. Gemeindeglieder] in der einen Tugend der Liebe erbaut“243, auch wenn die Verkündigung den vielfältigen Eigenarten der Gläubigen angepasst werden muss. Damit knüpft der Papst erkennbar an neutestamentliche Traditionen an. Die geübte Liebe bildet das Zentrum christlicher Ethik: Sie gilt als Erfüllung des Gesetzes244 und wird als Erkennungszeichen der christlichen Gemeinde245 betrachtet. Wie bereits dargestellt, nimmt die Liebe als oberste Tugend in der theologischen Begründung der tätigen Nächstenliebe bei Gregor eine zentrale Rolle ein. Doch wie äußert sich diese einheitliche Tugend der Christen? Liegt dem fürsorglichen Handeln ein die Christen verbindendes Ethos zugrunde? Nachdem die unterschiedlichen Formen tätiger Nächstenliebe sowie ihre theologische Fundierung betrachtet wurden, soll nun also nach den ethischen Maßstäben und paradigmatischen Verhaltensweisen gefragt werden, in denen sich die Tugend der Liebe konkretisiert.
5.2.3.1 Das pastorale Ethos Die besonderen ethischen Anforderungen an das Bischofsamt formuliert Gregor in den ersten beiden Büchern der Regula Pastoralis. Dabei verweist er mehrfach auf die Voraussetzung der Tugendhaftigkeit,246 die er an zwei Stellen exem242 Diese Besonderheit der Regula Pastoralis erwähnt Kisić in seiner systematischen Gesamtschau nicht, die durch die fehlende Differenzierung des gregorianischen Œuvre leider den jeweiligen historischen Kontext aus dem Blick verliert. Dagegen helfen auch die gelegentlichen Verortungen im Leben des Papstes nicht, die zu unkonkret bleiben und nicht mit dem sehr ausführlichen Kapitel über die Zeitumstände (7–52) ins Gespräch gebracht werden, vgl. Kisić, Patria, 60 f.; 110–115. Eine Ausnahme stellt der Verweis auf den Konflikt mit Eutychios von Konstantinopel über die Wesensart des Auferstehungsleibes dar, vgl. Kisić, Patria, 233–237. 243 „[…] ut in una cunctos uirtute caritatis aedificet“ Greg.‑M. Past. III, Prol. (SC 382, 260, 19 f.). 244 Vgl. Gal 5,14; Röm 13,8–10; Mt 22,40. 245 Vgl. 1 Joh 4,7–21; Joh 13,35. 246 Vgl. Greg.‑M. Past. I, 1 (SC 381, 130, 23 f.); I, 15 (SC 381, 144, 1–148, 56) und II, 3 (SC 381, 184, 39–186, 84).
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plarisch erläutert.247 Ein Vergleich dieser beiden Auflistungen untereinander und mit den vier Tugendkatalogen des Hoheliedkommentars248 zeigt keine signifikanten Parallelen. Lediglich die castitas, die in der Expositio in Canticum Canticorum dreimal genannt und als Merkmal der monastischen Elite beschrieben wird, begegnet auch hier in beiden Listen. Dies verdeutlicht die asketischen Ansprüche, die Gregor an kirchliches Leitungspersonal stellt.249 Obendrein war diese Tugend bzw. Lebensweise bereits seit der Synode von Elvira 309 n. Chr. der übliche Anspruch an den Klerus,250 den selbstverständlich auch Gregor an sein geistliches Personal richtete.251 Die übrigen aufgelisteten Tugenden (abstinentia, doctrina, patientia, auctoritas, pietas, iustitia im ersten Katalog sowie sapientia, amor caelestium, nobilitas spiritus und caritas252 in der allegorischen Auslegung des hohepriesterlichen Kleides) erscheinen hingegen frei zusammengestellt zu sein. Dabei werden die verschiedenen Anforderungsbereiche berücksichtigt: Einerseits muss der Bischof auf sein persönliches geistliches Leben achten, andererseits muss er in der Leitung der Gemeinde einen ebenso langmütigen wie auch machtvollen Umgang pflegen. Damit klingt eine zentrale Dialektik des pastoralen Ethos an: der Ausgleich der vita activa und der vita contemplativa. Wie bereits in seiner Auslegung des Hohelieds253 warnt Gregor in der Pastoralregel, vor lauter weltlichen Geschäften die innere Kontemplation zu vernachlässigen.254 Für sein eigenes Glaubensleben, aber auch für die Gemeinde ist es dem Bischof dringend geboten, sich „täglich“255 dem Studium der Heiligen Schrift zu widmen. Ebenso ist der innere Gewinn durch die eigene Predigttätigkeit nicht zu unterschätzen.256 Mit der Intention des pastoralen Selbstschutzes stellt Gregor neben diese Mahnung 247
Vgl. Greg.‑M. Past. I, 15 (SC 381, 144, 1–148, 56) und II, 3 (SC 381, 184, 39–186, 84). Vgl. dazu Kap. 5.1.2. 249 Vgl. Demacopoulos, Gregory’s Model, 211–217; Müller, B., Monasticism, 98 f. und Müller, B., Führung, 142–144. 250 Vgl. Vogels, Heinz-Jürgen, Zölibat als Gnade und als Gesetz, Standorte in Antike und Christentum 5, Stuttgart 2013, 38 f.; Heid, Stefan, Zölibat in der frühen Kirche. Die Anfänge einer Enthaltsamkeitspflicht für Kleriker in Ost und West, Paderborn et al. 1997, 82–131. Seit Leo dem Großen war dieser Anspruch im Westen sogar auf die Subdiakone ausgeweitet, vgl. Richards, Leben, 117 f., woran auch Gregor anknüpfte, vgl. Greg.‑M. Ep. IV, 34 (CCSL 140, 254, 1–20). 251 Vgl. Greg.‑M. Past. III, 28 (SC 382, 458, 12–20); Greg.‑M. Ep. I, 42 (CCSL 140, 54, 167–55, 182); IV, 5 (CCSL 140, 221, 1–222, 20). 252 An dieser Stelle beschreibt Gregor die caritas explizit in ihrer zweifachen Perspektive des Doppelgebotes, „da sie Gott und zugleich den Nächsten liebt“ (quia Deum simul ac proximum diligit), Greg.‑M. Past. II, 3 (SC 381, 186, 68). 253 Vgl. Greg.‑M. In Cant. 40 (CCSL 144, 39, 758–767). 254 Vgl. Greg.‑M. Past. I, 4 (SC 381, 140, 1–144, 50); II, 3 (SC 381, 186, 63–74); II, 7 (SC 381, 218, 8–226, 114); II, 11 (SC 381, 252, 1–256, 55). 255 „[…] cotidie“ Greg.‑M. Past. II, 11 (SC 381, 252, 4). 256 Vgl. Greg.‑M. Past. III, 25 (SC 382, 430, 54–432, 61) sowie Greg.‑M. Hom. Ez. I, 10, 40 f. (CCSL 142, 164, 725–165, 758) und Kap. 5.5.1.1. 248
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zur geistlichen Übung einen pragmatischen Vorschlag für die Praxis: Bevor sich der Hirte in zu viele weltliche Aufgaben verstrickt, soll er diese lieber an andere Personen delegieren, „welche die geistlichen Gaben nicht schmücken.“257 Der Papst empfiehlt also, die Vielfalt der bischöflichen Pflichten auf verschiedene Schultern zu verteilen und damit zu professionalisieren. Der Seelsorger soll dabei vor allem seinen eigentlichen Aufgabenbereich ausfüllen: die geistliche Seelenführung.258 Nichtsdestotrotz stellt Gregor neben das Ideal der ständigen Kontemplation die Verantwortung des Hirten für die ihm anvertraute Herde. Die Sorge um sich selbst und diejenige für den Nächsten müssen sich das Gleichgewicht halten.259 Der Bischof schuldet (debet) seiner Gemeinde die ausreichende Versorgung mit geistlichen, aber auch äußeren, weltlichen Dingen (foris).260 Selbst wenn im Konkreten jeweils jemand anderes beauftragt wird, in letzter Instanz trägt der Gemeindeleiter die Verantwortung. Freilich geht damit eine Gefahr einher: Wann immer der vor Gott höhergestellte Hirte sich voller Erbarmen zu den Niedrigen und Elenden seiner Gemeinde hinabneigt und sich seinen weltlichen Pflichten widmet, kann sich seine Seele in Sünden und Begierden verstricken. Der Schutz davor, die geistlichen Ideale zu verletzen, besteht aber gerade darin, dieses Risiko in Kauf zu nehmen.261 Dieses Paradox wird durch Gottes Beistand als Belohnung für geübte Barmherzigkeit aufgelöst. Denkbar ist, dass Gregor mit diesem Gedankengang auf Bedenken von Asketen reagierte, die er für ein kirchliches Amt gewinnen wollte. Der römische Bischof ermahnt die Seelsorger also beständig, sich der Verantwortung des Amtes zu stellen und sich den Untergebenen zuzuwenden. Dabei steht die Hilfe im Fokus, nicht die Herrschaft: „Deshalb müssen alle, die Vorgesetzte sind, nicht die Macht des Amtes bei sich, sondern die Gleichheit der Lage bedenken; sie sollen sich nicht daran freuen, die Menschen zu beherrschen (praeesse), sondern sie zu unterstützen (prodesse).“262 Mit dem traditionellen263 257 „[…] quos dona spiritalia non exornant“ Greg.‑M. Past. II, 7 (SC 381, 222, 47 f.), vgl. ebenso Greg.‑M. Past. I, 4 (SC 381, 140, 3–8). 258 Vgl. Greg.‑M. Past. II, 7 (SC 381, 218, 8–10). 259 Vgl. Greg.‑M. Past. I, 5 (SC 381, 146, 42–148, 46). 260 Vgl. Greg.‑M. Past. II, 7 (SC 381, 218, 6–8). 261 „Aber dies darf der Hirte keinesfalls fürchten, weil er durch Gottes gründliche Erwägung umso leichter von der eigenen Versuchung befreit wird, je barmherziger er sich mit fremder quält.“ (Sed haec nequaquam pastori timenda sunt, quia Deo subtiliter cuncta pensante, tanto facilius a sua eripitur, quanto misericordius ex aliena temptatione fatigatur.) Greg.‑M. Past. II, 7 (SC 381, 202, 87–90). 262 „Vnde cuncti qui praesunt, non in se potestatem debent ordinis, sed aequalitatem pensare condicionis [sic!]; nec praeesse se hominibus gaudeant, sed prodesse.“ Greg.‑M. Past. II, 6 (SC 381, 204, 14–17), vgl. auch Greg.‑M. Mor. XXI, 22 (CCSL 143A, 1082, 17–19); XXVI, 48 (CCSL 143B, 1303, 157–160). 263 Vgl. z. B. Ben. Reg. 64, 8 (CSEL 75, 149); Aug. ciu. 19, 19 (CCSL 48, 686, 25–687, 30),
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Wortspiel praeesse/prodesse betont Gregor, dass das Verhältnis zu den Gläubigen keinesfalls von der Hierarchie bestimmt sein soll. Die Vorrangstellung des Bischofs bezieht sich allein auf seinen geistlichen Fortschritt, ihrer Natur nach sind alle Menschen gleich (aequales naturae ordine).264 „Die höchste Position ist daher gut besetzt, wenn der Vorsteher eher den Lastern als den Brüdern gebietet“265, den Gerechten gegenüber soll er sich als gleichgestellten Genossen (socius) verstehen.266 Die Einschränkung der Macht auf die Sünde und das Bewusstsein der menschlichen aequilitas zügelt obendrein die Gefahr der Herrschsucht (libido dominandi).267 Mit diesem demütigen Selbstverständnis macht Gregor noch einmal deutlich, dass das kirchliche Amt nicht per se über die Gemeinde gestellt ist, sondern die Überordnung einen funktionalen Sinn verfolgt. Macht ist dem Bischof nur gegeben, um die Sünde zu bekämpfen. Den Mitmenschen hingegen soll er in Achtung und Wertschätzung begegnen. Eine weitere doppelte Perspektive des pastoralen Verhaltens offenbart sich im Gegenüber von Lehre und Leben. Dass beide sich ergänzen und insofern kongruent sein müssen, wird Gregor nicht müde zu betonen.268 Das vorbildliche Verhalten des Bischofs verstärkt seine Predigt, „denn was er in der Rede befiehlt, hilft er im Zeigen, dass es geschieht.“269 Tatsächlich wirkt die vorgelebte Praxis sogar besser als die Theorie,270 weshalb Gregor dem Handeln eine größere Bedeutung beimisst als der reinen Lehre.271 Hier zeigt sich eine weitere Parallele zu dieser topischen Formulierung vgl. Congar, Yves, Einige überlieferte Ausdrücke des christlichen Dienstes, in: ders. (Hg.), Das Bischofsamt und die Weltkirche, Stuttgart 1964, 111–143, hier: 111–114. 264 Vgl. Greg.‑M. Past. II, 6 (SC 381, 206, 38–63). 265 „Summus itaque locus bene regitur, cum is qui praeest, uitiis potius quam fratribus dominatur.“ Greg.‑M. Past. II, 6 (SC 381, 210, 112 f.). 266 Vgl. Greg.‑M. Past. II, 6 (SC 381, 202, 1–204, 37), vgl. auch Greg.‑M. Mor. XXVI, 46 (CCSL 143B, 1301, 97–1302, 129). 267 Vgl. Greg.‑M. Past. II, 6 (SC 381, 212, 137–142); zur Gefahr von Macht- und Ruhmsucht vgl. auch Greg.‑M. Past. I, 9 (SC 381, 156, 1–160, 51). 268 Vgl. Greg.‑M. Past. I, 2 (SC 381, 132, 1–136, 43); II, 3 (SC 381, 180, 1–186, 84); III, 6 (SC 382, 286, 19); III, 24 (SC 382, 424, 65–426, 118); III, 40 (SC 382, 530, 1–532, 20), vgl. auch Greg.‑M. Hom. eu. I, 12, 1 (CCSL 141, 82, 30–33); Greg.‑M. Mor. V, 32 (CCSL 143, 240, 2–21); V, 49 (CCSL 143, 251, 2–252, 28); VI, 10 8CSl 143, 290, 1–291, 18); XI,6 (CCSL 143A, 588, 2–20); XI, 23 (CCSL 143A, 598, 2–599, 29); XIII, 10 (CCSL 143A,674, 2–20); XIX, 13 (CCSL 143A, 965, 9–22); XXI, 16 (CCSL 143A, 1076, 18–1077, 40); XXII, 20 (CCSL 143A, 1107, 2–13); XXVII, 54 (CCSL 143B, 1374, 10–21); XXX,15 (CCSL 143B, 1501, 186–1502, 191); XXXI, 44 (CCSL 143B, 1581, 78–1582,109). 269 „[…] quia quod loquendo imperat, ostendendo adiuuat ut fiat.“ Greg.‑M. Past. II, 3 (SC 381, 180, 8 f.). 270 Vgl. Greg.‑M. Past. II, 3 (SC 381, 180, 2–6). 271 „Aber damit wenden wir uns im Eifer der Liebe den Dingen zu, die wir oben bereits gesagt haben, dass ein jeder Prediger mehr durch Taten als durch Worte von sich hören lassen soll.“ (Sed inter haec ad ea quae iam superius diximus, caritatis studio retorquemur, ut praedicator quisque plus actibus quam uocibus insonet.) Greg.‑M. Past. III, 40 (SC 382, 530, 2–4).
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zur Regula Benedicti, die in ihrem Abtspiegel den Taten in ähnlicher Weise den Vorzug gegenüber der Lehre gibt.272 Stimmt das Leben aber einmal nicht mit der Lehre überein, so tritt der Hirte das klare Quellwasser der reinen Predigt mit Füßen und verdirbt damit die Erquickung der Herde.273 „Die nach Worten dürsten, wählen, weil sie durch die Taten fehlgeleitet sind, gleichsam aus verdorbenen Quellen Dreck zum Getränk.“274 Obwohl Fehltritte im Handeln häufiger geschehen als im Predigen, warnt Gregor dennoch vor Irrlehren. Ein Beharren im falschen Verständnis der Heiligen Schrift sowie dessen scheingelehrte Verbreitung nimmt seiner Meinung nach seinen Ursprung in der Suche nach Anerkennung und Ruhm bei den Menschen: „Denn solange sie überzeugt sind, dass sie weise sind im Vergleich zu den Übrigen, verachten sie es, anderen zu einer besseren Erkenntnis zu folgen; und wie sie sich bei dem unwissenden Volk den Namen der Wissenschaft erringen, bemühen sie sich äußerst eifrig, auch die rechte Erkenntnis jener zu zerstören und ihre [eigene] verkehrte zu bekräftigen.“275
Dieses Urteil wird anschließend mit einer Auslegung von Am 1,13 unterstrichen, die in ihrer Allegorese eine auffällige Parallele zu dem dritten, von Gregor verfassten Brief Pelagius’ II. an die schismatischen Bischöfe in Istrien aufweist.276 Es ist naheliegend, dass sich Gregor, inzwischen zum Papst gewählt, bei der Abfassung der Pastoralregel an dieses Traktat erinnerte und es deren Aussagen zu Häresien zugrunde legte. Somit ist anzunehmen, dass hier der Drei-KapitelStreit den historischen Kontext darstellt und mit den beharrlichen Irrlehrern die Schismatiker in Norditalien und Istrien gemeint sind.277 Es ist festzuhalten, dass Gregor neben traditionellen ethischen Anforderungen an den Klerus wie Tugendhaftigkeit und Keuschheit einen weiteren, für ihn aber zentralen Schwerpunkt setzt. Er fordert von den Seelsorgern, beständig das rechte Maß einer vita mixta zu suchen und zu finden. Nach dem besonders im Osten verbreiteten Ideal des Mönchbischofs278 müssen sie einerseits gerade als 272
Vgl. Ben. Reg. 2, 12 (CSEL 75, 21). Greg.‑M. Past. I, 2 (SC 381, 134, 8–20). Dieser Problematik wendet sich Gregor erneut in Greg.‑M. Hom. eu. 1, 17 (CCSL 141, 116, 1–134, 449) zu. 274 „Qui cum dicta sitiunt, quia per opera peruertuntur, quasi corruptis fontibus in potibus lutum sumunt.“ Greg.‑M. Past. I, 2 (SC 381, 134, 20–22). 275 „Dum enim se prae ceteris sapientes arbitrantur, sequi alios ad melius intellecta despiciunt; atque ut apud imperitum uulgus scientiae sibi nomen erxtorqueant, student summopere et ab aliis recte intellecta destruere, et sua peruersa roborare.“ Greg.‑M. Past. III, 24 (SC 382, 420, 17–21). 276 Vgl. Pelag. II. Ep. episc. 3 (MGH.EP. 2, App. 3, 450, 32–47), zur Autorenschaft Gregors vgl. Meyvaert, Letter. 277 Vgl. Kap. 5.2.2.3. 278 Vgl. Demacopoulos, Gregory’s Model, 215–217; Müller, B. Monasticism, 99– 101.104–107; zum östlichen Ideal vgl. Demacopoulos, George E., Five models of spiritual direction in the early church, Notre Dame 2011, 51–82. 273 Vgl.
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geistliche Führer ein geistliches Leben in der inneren Kontemplation führen und sich nach dem Dienst in der Welt stets wieder darauf besinnen.279 Andererseits wird ihr Amt nach einer Formulierung Michael Fiedrowiczs erst durch die „dienende Liebe“280 konstituiert. In der Sorge um den einzelnen Gläubigen bzw. die gesamte Einheit der Gemeinde besteht die alleinige Funktion des Bischofs. Daher schließt Gregor ein aus persönlichen Machtinteressen fehlgeleitetes Hierarchieverständnis aus. So wie der römische Bischof sich selbst in seinen Briefen häufig als servus servorum Dei281 bezeichnet, verlangt er auch den anderen Hirten die Bereitschaft zur umfassenden Dienstbarkeit ab. Geradezu programmatisch formuliert er: „Daher darf der Leiter keinesfalls das Eigene suchen, sondern muss das Wohl der Nächsten als sein Interesse betrachten.“282
5.2.3.2 Das christliche Ethos für die Gläubigen Auch von den übrigen Gläubigen fordert Gregor eine aktive Ausgestaltung der Liebestugend. Die angemessene Antwort auf die Liebestaten Christi besteht in seiner Nachfolge und Imitatio.283 Auf keinen Fall sollten fadenscheinige Hindernisse vorgebracht werden, um die tätige Nächstenliebe aufzuschieben, denn die Zeit, in der man zur guten Tat fähig ist, vergeht schnell.284 Insofern ist gerade die Zeit der Gesundheit dafür prädestiniert, sich aktiv für den Nächsten einzusetzen.285 Eindringlich mahnt der Papst, dass der gute Wille bzw. die richtige Gesinnung die eigentliche Tat nicht ersetzen kann: „Denn wer jetzt nicht wegen guter Taten ins Schwitzen gerät, erntet im Sommer, wenn die Sonne des Gerichts [noch] sengender aufgegangen sein wird, nichts und bettelt, da er vergebens um Zutritt ins Reich fleht.“286
279
Vgl. dazu die Mahnung zum Selbstschutz in Greg.‑M. Past. IV (SC 382, 534, 1–540, 85). Fiedrowicz, Kirchenverständnis, 202, vgl. dazu den ganzen Abschnitt 202–212. 281 Vgl. z. B. Greg.‑M. Ep. I, 41 (CCSL 140, 47, 3). 282 „[…] quia debet rector […] nihilque proprium quaerere, sed sua commoda propinquorum bona deputare.“ Greg.‑M. Past. II, 2 (SC 381, 178, 28–32). 283 „Dann also erfüllen wir – ihn nachahmend – das Gesetz Christi, wenn wir auch unsere Güter großzügig zusammentragen.“ (Tunc ergo legem Christi imitando complemus, quando et nostra bona benigne conferimus.) Greg.‑M. Past. III, 27 (SC 382, 450, 49 f.). 284 Wie bereits in Kap. 5.2.1.2 beobachtet, besteht die Liebestätigkeit der Gemeinde vor allem in der Gabe von Almosen. Auffälligerweise setzt sich Gregor im 15. Kapitel des dritten Buches aber lediglich mit Gründen für einen zeitlichen Aufschub auseinander. Die Diskussion, dass neben den eigenen Kindern eben auch die Armen bzw. in ihnen Christus zu versorgen seien, die Cyprian und Augustin geführt hatten, wird hier nicht aufgenommen, vgl. dazu Kap. 4.4. 285 Vgl. Greg.‑M. Past. III, 12 (SC 382, 324, 20–24); zum Argument der schnell verronnenen Gelegenheit zum guten Werk s. a. Greg.‑M. Past. III, 15 (SC 382, 348, 7–350, 16). 286 „Qui enim nunc in bonis operibus non exsudat, cum sol iudicii feruentior apparuerit, quia frustra regni aditum postulat, nil aestate accipiens mendicat.“ Greg.‑M. Past. III, 15 (SC 382, 350, 37–352, 40). 280
5.2 Die Regula Pastoralis – Der Dienst an Gott und dem Nächsten
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Das Gute, das unbedingt auszuüben ist, darf seine Motivation nicht aus der Furcht287 oder der Ruhmsucht288 beziehen. Zielt man auf letztere ab und präsentiert seine guten Taten deshalb der Öffentlichkeit, bringt man sich selbst um die eigentlich verdiente Anerkennung.289 Stattdessen sollten gute Werke besser im Geheimen und nur mit Blick auf ihre Beurteilung coram Deo geübt werden.290 Andererseits spricht aber ein wichtiger, pädagogischer Grund gegen die Verheimlichung: So wird nämlich eine Gelegenheit ausgelassen, dem Nächsten als Vorbild zu dienen. Die Pflicht zur Erbauung des Mitmenschen obliegt nicht nur dem Bischof, sondern jedem Christen.291 Zudem würde Gott durch die Geheimhaltung guter Werke der Ruhm vorenthalten, welcher ihm durch den guten Ruf der Christen zukäme. In der Pastoralregel werden gute Werke und eine vorbildliche Lebensführung – der Bischöfe aber eben auch der übrigen Gläubigen – geradewegs als alternative Form der Verkündigung beschrieben.292 Mit den guten Taten wird ein für alle Welt sichtbares Lob Gottes angestimmt. Zudem liegt ihnen durch die Didaktik des Vorbilds ein Bildungsauftrag inne. Wie die mündliche Predigt bezwecken sie sowohl die Doxologie Gottes als auch die religiöse und moralische Katechese des Nächsten. Viele der beschriebenen ethischen Grundsätze übernimmt Gregor von Augustin, wie etwa die Bindung der Wirkmächtigkeit an die richtige Gesinnung, die Gefahr des Hochmuts und letztlich die doppelte Intention zum Lob Gottes und zur Erziehung des Nächsten. Mit der beständigen Forderung nach einer handfesten Werktätigkeit, die Sünden tilgen und jenseitiges Heil erwirken kann, setzt Gregor aber doch einen anderen Schwerpunkt. Augustin hatte, gerade in der Abgrenzung vom Pelagianismus, das Werk im Vergleich zu der zugrundeliegenden Gesinnung immer weiter in den Hintergrund treten lassen, bis er schließlich radikal formulierte: „Dilige, et quod uis fac.“293 Der römische Bischof hätte diese Aussage sicher nicht mittragen können. Ihm lag es vor allem an der Konkretion 287
Vgl. Greg.‑M. Past. III, 13 (SC 382, 334, 11–336, 30). Vgl. Greg.‑M. Past. III, 35 (SC 382, 512, 8–514, 36). 289 „Denn diese unterschätzen ihre guten Taten sehr, die glauben, dass menschlicher Beifall für deren Belohnung ausreicht. Wenn nämlich für ein rechtes Werk vergängliches Lob gesucht wird, wird eine Sache, die ewiger Vergeltung wert wäre, für einen wertlosen Preis verkauft.“ (Valde namque bona sua diudicant, qui ad eorum mercedem sufficere fauores humanos putant. Cum enim pro recto opere laus transitoria quaeritur, aeterna retributione res digna uili pretio uenumdatur.) Greg.‑M. Past. III, 35 (SC 382, 514, 26–30). 290 Vgl. Greg.‑M. Past. III, 35 (SC 382, 512, 8–20), vgl. auch Greg.‑M. Hom. eu. I, 11, 1 (CCSL 141, 74, 15–21); Greg.‑M. Mor. VIII, 83 (CCSL 143, 448, 102–116). 291 Vgl. Greg.‑M. Past. III, 35 (SC 382, 514, 37–516, 51). 292 Vgl. auch Greg.‑M. Hom. eu. II, 30, 10 (CCSL 141, 267, 281–295); Greg.‑M. Mor. XXII,14 (CCSL 143A, 1075, 2–1076,26). 293 Vgl. Aug. ep. Io. tr. 7, 8 (PL 35, 2033), freilich darf die prägnante Formel nicht dahingehend überstrapaziert werden, dass Augustin jegliche Handlung toleriert hätte, vgl. Berrouard, Dilige und Kap. 4.4. 288
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5 Das Ideal der tätigen Nächstenliebe im literarischen Werk Gregors
des christlichen Glaubens im Leben der Gemeinde, gerade in den Zeiten der Not, die Rom und ganz Italien im späten 6. Jahrhundert durchleben mussten.
5.2.3.3 Der Spezialfall der Askese Neben Klerus und Laientum gab es in der Gemeinde als dritten den monastischen Stand, dem Gregor nach seinem Wechsel in das kirchliche Amt eng verbunden blieb. Auch in der Pastoralregel drückt er seine Hochschätzung der asketischen Gelübde aus, indem er sie als „meliora“ und „bonum maius“294 bezeichnet im Vergleich zum „bonum minus“295, dem Ehe- bzw. Laienstand. Gerade in Bezug auf die Tugend der castitas ist es für ihn grundsätzlich nicht in Zweifel zu ziehen, „dass die Jungfräulichkeit die Ehen überragt.“296 Die Unabhängigkeit und die freie Zeit, die durch den Verzicht auf ein eheliches, weltliches Leben gewonnen werden, verpflichten in besonderer Weise zur werktätigen Liebe, sodass für Asketen im Gericht ein strengerer Maßstab angewendet werden wird.297 Strikt ausgeschlossen ist der Rücktritt von einem bereits geleisteten Gelübde.298 Insofern ermuntert Gregor diejenigen, die sich der eigenen Begierderesilienz nicht vollständig sicher sind, zum erlaubten und nicht zwangsläufig heilsärmeren Lebensweg in der Ehe.299 Neben ihrer Verdienstlichkeit birgt die Askese aber die Gefahr des Hochmuts und der Lauheit. Gerade wer ein schlichtes, entbehrungsreiches Leben führt, verfällt leicht dem Stolz darüber und lässt oft den brennenden Eifer vermissen, der anderen etwa aus Reue über begangene Sünden entsteht.300 Askese hat nur dann einen Mehrwert gegenüber einer weltlichen Lebensweise, wenn sie demütig bleibt, sich nicht über andere Lebensmodelle erhebt und diese in den Werken wirklich übertrifft. Letztendlich wird coram Deo das Verhalten der Menschen beurteilt und nicht allein das Gelübde: „Denn in der Prüfung des gerechten Richters ändert die Beschaffenheit der Taten die Verdienste des Standes.“301 Alle Christen sollten sich davor hüten, die Mitmenschen nach äußeren Begebenheiten zu beurteilen, zumal ihren Augen viele gute Taten, aber auch Sünden verborgen bleiben.302 294
Beides in Greg.‑M. Past. III, 27 (SC 382, 456, 145). Greg.‑M. Past. III, 27 (SC 382, 456, 146). 296 „[…] praeminere uirginitatem coniugiis“ Greg-M. Past. III, 28 (SC 382, 464, 111), vgl. ebenso Greg.‑M. Past. III, 28 (SC 382, 462, 75–464, 109). 297 Vgl. Greg.‑M. Past. III, 27 (SC 382, 454, 114–132). 298 In zahlreichen Briefen fordert Gregor zur Rückführung und Bestrafung entlaufener Asketinnen und Asketen auf, vgl. u. a. Greg.‑M. Ep. II, 26 (CCSL 140, 112, 3–20) sowie Kap. 6.4.1. 299 Vgl. Greg.‑M. Past. III, 27 (SC 382, 454, 132–456, 150). 300 Vgl. Greg.‑M. Past. III, 28 (SC 382, 464, 110–466, 139), vgl. auch Greg.‑M. Hom. Ez. II, 7, 6 (CCSL 142, 320, 190–196). 301 „In examine namque recti iudicis mutat merita ordinum, qualitas actionum.“ Greg.‑M. Past. III, 28 (SC 382, 466, 142–144). 302 Vgl. Greg.‑M. Past. III, 28 (SC 382, 466, 140–153), vgl. auch Greg.‑M. Hom. eu. I, 17, 13 (CCSL 141, 127, 293–295). 295
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Während auch in der Ehe durch gute Werke Verdienste erworben werden können, werden im Gegenzug die Fehltritte durch den Asketen oder Kleriker, gerade aufgrund des Vorbildcharakters, noch gravierender.303 Gregor lehnt die monastischen Gelübde wie die Enthaltsamkeit keinesfalls ab, fordert aber deren konsequente Befolgung sowie ein höheres Maß an Werktätigkeit als von den übrigen Christen. Diese vehemente Forderung nach einer aufrichtigen asketischen Ethik lässt sich nicht nur mit den hohen persönlichen Ansprüchen des Papstes erklären. Seit der justinianischen Gesetzgebung waren die Bischöfe zuständig für die Kontrolle der klösterlichen Disziplin in ihrer Diözese.304 Neben den absoluten monastischen Gelübden ist zum Bereich der Askese das Fasten zu zählen, das sowohl von Mönchen als auch von Laien geübt wurde. Für Gregor ist dieses nur ein gutes Werk unter anderem, das zudem noch auf weitere angewiesen ist: „Daher muss man erwägen, dass die Tugend der Mäßigung als gering betrachtet wird, wenn diese nicht von anderen Tugenden gepriesen wird.“305 Mit diesen anderen Tugenden meint der römische Bischof, wie vor ihm bereits u. a. Johannes Chrysostomus,306 vor allem die Gabe von Almosen. Was der einzelne Christ in asketischer Übung an Lebensmitteln einspart, soll er den Bedürftigen spenden. Erst so wird das Fasten verdienstvoll vor Gott: „Denn nicht für Gott, sondern für sich fastet ein jeder, wenn er die Dinge, die er dem Bauch für den Augenblick entzieht, nicht den Armen zukommen lässt, sondern sie für den Moment aufbewahrt, um sie bald darauf dem Bauch darzubringen.“307 Mit dieser Argumentation setzt Gregor die asketische Übung in eine direkte Abhängigkeit von der tätigen Nächstenliebe, die – im Gegensatz zum Fasten – für sich allein verdienstvoll ist. Damit wird die Askese eklatant abgewertet, auch wenn der Papst an der grundsätzlichen Distanzierung von weltlichen Dingen festhält. In dem entsprechenden Kapitel zur Ermahnung von Maßvollen und Maßlosen ist ihm das Ringen um den Ausgleich von asketischem Ideal auf der einen und weltlicher Verantwortung auf der anderen Seite anzumerken. Anders als in den übrigen Kapiteln des dritten Buches trennt er die Ermahnung der beiden 303 „Niemand in der Kirche schadet mehr als derjenige, der verkehrt handelt und den Namen oder Stand der Heiligkeit besitzt.“ (Nemo quippe amplius in Ecclesia nocet, quam qui peruerse agens, nomen uel ordinem sanctitas habet.) Greg.‑M. Past. I, 2 (SC 381, 134, 26 f.). 304 Vgl. Iust. Nouell. 123 (CIC III, 593, 1–625, 15) und Müller, A., Konzept, 111–127. Diese übte Gregor selbst aus, wie die zahlreichen Mahnschreiben gegen konkrete Missstände in Klöstern beweisen, vgl. Kap. 6.4.1 und Müller, B., Monasticism, 95–102. 305 „Qua in re pensandum est uirtus abstinentiae quam parua respicitur quae nonnisi ex aliis uirtutibus commendatur.“ Greg.‑M. Past. III, 19 (SC 382, 378, 86–88). 306 Vgl. Chrys. Hom. in 1 Cor. 25, 3 (PG 61, 208 f.), vgl. dazu Brändle, Matth., 151–161. Zu weiteren Vorgängern dieser Aussage vgl. Catry, L’amour, 321, FN192. 307 „Non enim Deo, sed sibi quisque ieiunat, si ea quae uentri ad tempus subtrahit, non inopibus tribuit, sed uentri postmodum offerenda custodit.“ Greg.‑M. Past. III, 19 (SC 382, 378, 98–101), vgl. auch Greg.‑M. Hom. eu. I, 16, 6 (CCSL 141, 114, 117–117, 148).
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5 Das Ideal der tätigen Nächstenliebe im literarischen Werk Gregors
Adressatengruppen nicht klar ab, sondern verwebt sie ineinander.308 Einerseits verurteilt er die gierige Wollust, andererseits wittert er sogleich die Gefahr der Selbstgefälligkeit und des Hochmuts, sodass er die eine Ermahnung nicht für sich stehenlassen kann, ohne gleich wieder vor den Gefahren des anderen Extrems zu warnen. Überraschenderweise ist vergleichbar zu Johannes Chrysostomus309 bei Gregor ein Paradigmenwechsel in Bezug auf die Askese zu beobachten. Während die Entsagung von allem Irdischen noch das Zentrum seiner Forderungen im Hoheliedkommentar darstellte, so zeigt er nun als Bischof nicht nur Verständnis, sondern regelrechte Wertschätzung für andere Lebensweisen, obwohl er selbst Zeit seines Lebens am monastischen Lebensstil festhielt. Auch die absolute Priorisierung der Armenfürsorge ist im Kontext seiner neuen Verantwortung für die gesamte Gemeinde zu verstehen. Die Einheit der Kirche liegt im Fokus, wenn Gregor wiederholt davor warnt, sich über andere zu erheben, und dem asketischen Stand die Heilsrelevanz zugunsten des geübten Werks mindert. Es scheint, als wolle er die Trennung zwischen Asketen und „Gemeindechristen“ auflösen, die er in der Expositio in Canticum Canticorum mithilfe einer ZweiStufen-Ethik noch selbst vertreten hatte, und die klösterliche Lebenswelt in die städtische Gesellschaft integrieren. In seiner Tätigkeit als Papst setzte er dies bald in die Praxis um: Einige Mönche aus seinem Andreaskloster holte er aus der Klausur und schickte sie in den kirchlichen Dienst.310 Für den Klerus hielt er dennoch an den verbindlichen asketischen Vorschriften fest. Diese sollten aber nicht nur das Ziel der eigenen Kontemplation unterstützen, sondern vor allem den Dienst an der Gemeinde ermöglichen.
5.2.4 Die Terminologie der Nächstenliebe in der Regula Pastoralis Auch in der Pastoralregel lässt sich kein Zentralbegriff für die tätige Nächstenliebe beobachten. Sehr variabel werden für die Liebe zu den Mitmenschen wie zu Gott caritas, amor und dilectio sowie die entsprechenden Verben der letzten beiden Nomina verwendet. Deren Austauschbarkeit zeigt sich besonders an den Referenzen auf das biblische Doppelgebot. Die Lesart sämtlicher Belege im Neuen Testament für das Gebot der Nächstenliebe, diliges proximum tuum, 308
Vgl. Greg.‑M. Past. III, 19 (SC 382, 372, 1–380, 126). Brändle, Matth., 159 f.; Tloka, Christen, 190–204. 310 Vgl. Demacopoulos, Gregory’s Model, 217–219; Müller, B., Monasticism, 100 f. sowie Kap. 6.4.2. Bereits in der Hoheliedauslegung hatte er eine Dienstbarkeit der Asketen für die Gemeinde in Form von Katechese beschrieben, vgl. Kap. 5.1.2. Die Einsetzung (ehemaliger) Mönche als Bischöfe erweist sich aber doch als eine ungleich konkretere Vernetzung von Kloster und Gemeinde. Allerdings wählte er die Mönche nicht aufgrund ihrer asketischen Lebensweise aus, vielmehr stand die persönliche Eignung im Vordergrund, vgl. Jenal, Italia II, 739–741 und Rudmann, Remigius, Mönchtum und kirchlicher Dienst in den Schriften Gregors des Großen, St. Ottilien 1956, 61–69. 309 Vgl.
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übernimmt Gregor nur manchmal.311 Zumeist formuliert er substantivisch mit proximorum caritas312, dilectio proximorum313 oder proximi amor314, aber auch mit proximorum cura315. Dies unterstreicht seinen freien, assoziativen Gebrauch des Doppelgebots, das er vermutlich aus dem Gedächtnis paraphrasiert, aber nie aus einem vorliegenden Bibeltext zitiert. Amor, caritas und dilectio bezeichnen eher den Affekt bzw. die Tugend der Liebe, weniger die konkrete Tat, die daraus resultiert. Für diesen Aspekt verwendet Gregor hauptsächlich das allgemeine opus, das er oft noch attributiv erweitert.316 Die in der Spätantike häufig begegnende eleemosyna ist in der Regula Pastoralis hingegen nur in der engen Bedeutung als Geld- oder Sachspende und lediglich an zwei Stellen zu finden,317 wovon eine ein biblisches Zitat darstellt.318 Beide semantischen Ebenen – Werk und Affekt – umfasst in der Pastoralregel die pietas319, daher gebraucht Gregor diesen Begriff mit 20 Verwendungen ähnlich häufig wie die etwas engeren amor (27 ×), caritas (30 ×) und dilectio (12 ×).320 Die im Hoheliedkommentar so prominente Metapher der flammenden Liebe begegnet in dem ersten Werk Gregors als Bischof nur an einer Stelle.321 Während die Metapher in seinem Frühwerk für die ekstatische Kontemplation verwendet wurde, steht sie hier für die Tugend, die – im Bild gesprochen – die Opfergaben der guten Werke entzündet. Auch wenn die Hochschätzung der inneren Kontemplation im gesamten Werk merklich geringer ausfällt als in der Expositio, so zeigt sich dennoch eine deutliche Ablehnung der weltlichen Verflechtungen und Aufgaben, denen der Bischof in seinem Amt ausgesetzt ist. Nicht weniger als sechzehn unterschiedliche Formulierungen findet der Papst für diese ungeliebten Pflichten.322 311 Vgl. Greg.‑M. Past. II, 3 (SC 381, 186, 68); III, 14 (SC 382, 342, 39 f.); III, 35 (SC 382, 514, 41). 312 Greg.‑M. Past. III, 22 (SC 382, 404, 47). 313 Greg.‑M. Past. III, 23 (SC 382, 416, 36). 314 Greg.‑M. Past. III, 23 (SC 382, 418, 77 f.). 315 Greg.‑M. Past. II, 3 (SC 381, 186, 70). 316 Z. B. perfecta opera vgl. Greg.‑M. Past. Ep. dedic. (SC 381, 126, 24); bona opera vgl. Greg.‑M. Past. I, 9 (SC 381, 156, 4) oder studiosum opus vgl. Greg.‑M. Past. I, 7 (SC 381, 152, 23). 317 Vgl. Greg.‑M. Past. III, 20 (SC 382, 386, 58 f.; 91). 318 Vgl. Greg.‑M. Past. III, 20 (SC 382, 386, 58 f.). Die Herkunft des Zitates, das bereits Did 1, 6 (SC 248, 146, 25–27) als Schriftzitat einleitet, ist unklar. Vielleicht ist damit Sir 12,1 in einer nicht überlieferten Version gemeint, vgl. Niederwimmer, Kurt, Die Didache, Kommentar zu den Apostolischen Vätern 1, Göttingen 1989, 111–114. 319 Als Werk s. Greg.‑M. Past. III, 20 (SC 382, 390, 115), als Affekt s. Greg.‑M. Past. II, 5 (SC 381, 196, 4). 320 Die Zahlen habe ich dem Thesaurus Sancti Gregorii Magni. Series A – Formae, curante CETEDOC, Turnhout 1986 entnommen. 321 Vgl. Greg.‑M. Past. III, 9 (SC 382, 302, 107 f.). 322 Occupatio exteriorum vgl. Greg.‑M. Past. II, 9 (SC 381, 218, 4); exteriorum prouidentia vgl. Greg.‑M. Past. II, 9 (SC 381, 218, 5); curae saeculares vgl. Greg.‑M. Past. II, 9 (SC 381, 218, 10); negotia terrena vgl. Greg.‑M. Past. II, 9 (SC 381, 218, 16); dispensationes terrenae vgl.
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Eine ähnliche Vielfalt im Vokabular bietet Gregor in Bezug auf die Seelsorge mit sieben Begriffen,323 die Predigt mit sechs Varianten324 und schließlich das Almosen mit zehn Ausdrücken.325 Dieser Überblick über das Vokabular vermittelt den Eindruck, dass Gregor keinesfalls an der Entwicklung eines Zentralbegriffs für die tätige Nächstenliebe gelegen war; vielmehr veranschaulicht er mithilfe von stilistischen Mitteln wie der variatio die Breite des Themas. Obendrein genoss er es sicherlich, auf diese Weise seiner romanitas Ausdruck zu verleihen. Auf thematischer Ebene ist auffällig, dass in der Wortstatistik der Fokus der Jenseitsorientierung nicht so stark ist, wie man es bei Gregor vermuten mag – die himmlische Heimat erwähnt er im gesamten Werk lediglich neunmal. Der Schwerpunkt liegt auf dem diesseitigen Dienst am Nächsten, welcher freilich auf die jenseitige Welt vorbereitet werden soll.
5.2.5 Zusammenfassung Die Regula Pastoralis als das erste päpstliche Werk Gregors zeigt deutlich, dass ihn neben den monastischen Idealen, wie sie im Hoheliedkommentar bezeugt sind, nun vor allem die bischöfliche Verantwortung für die Gemeindeglieder prägte.326 Die verheerende Pestepidemie von 589/590 und die Kriegssituation mit den Langobarden sind zwei Ursachen der akuten Nöte und Probleme Roms und der ganzen italischen Bevölkerung, mit denen er sich konfrontiert sah. Greg.‑M. Past. II, 9 (SC 381, 222, 47); negotia saecularia vgl. Greg.‑M. Past. II, 9 (SC 381, 220, 42); res exteriores vgl. Greg.‑M. Past. II, 9 (SC 381, 226, 116); cura corporalia vgl. Greg.‑M. Past. II, 9 (SC 381, 226, 117); prouidentia exterioris uitae vgl. Greg.‑M. Past. II, 9 (SC 381, 226, 129 f.); cura exterioris vgl. Greg.‑M. Past. II, 9 (SC 381, 228, 132); cura temporalis vgl. Greg.‑M. Past. II, 9 (SC 381, 230, 170); administata exterior prouidentia corporum vgl. Greg.‑M. Past. II, 9 (SC 381, 230, 173); humanae conuersationis usus vgl. Greg.‑M. Past. II, 11 (SC 381, 252, 7); societas saecularium vgl. Greg.‑M. Past. II, 11 (SC 381, 252, 9); uerba humana vgl. Greg.‑M. Past. II, 11 (SC 381, 252, 11); subsidia temporalia vgl. Greg.‑M. Past. III, 20 (SC 382, 382, 19). 323 Regimen animarum vgl. Greg.‑M. Past. I, 1 (SC 381, 128, 4 f.); cura pastoralis vgl. Greg.‑M. Past. I, 1 (SC 381, 130, 16); cura regiminis vgl. Greg.‑M. Past. I, 4 (SC 381, 140, 3); cura pastionis vgl. Greg.‑M. Past. I, 5 (SC 381, 146, 20); cura sanctae Ecclesiae vgl. Greg.‑M: Past. I, 5 (SC 381, 146, 35 f.); spiritualium officium vgl. Greg.‑M. Past. II, 7 (SC 381, 222, 69); ars regiminis vgl. Greg.‑M. Past. II, 8 (SC 381, 234, 53). 324 Doctrina vgl. Greg.‑M. Past. Ep. dedic. (SC 381, 124, 18); pastorale magisterium vgl. Greg.‑M. Past. I, 1 (SC 381, 128, 3); praedicatio vgl. Greg.‑M. Past. I, 5 (SC 381, 148, 49); loqui vgl. Greg.‑M. Past. I, 7 (SC 381, 152, 22); ammonitio vgl. Greg.‑M. Past. III, 1 (SC 382, 266, 59). 325 Largere vgl. Greg.‑M. Past. III, 20 (SC 382, 382, 7); necessaria praebere vgl. Greg.‑M. Past. III, 20 (SC 382, 382, 12); datio vgl. Greg.‑M. Past. III, 20 (SC 382, 384, 30); oblatum munus vgl. Greg.‑M. Past. III, 20 (SC 382, 384, 31); pia dispensatio vgl. Greg.‑M. Past. III, 20 (SC 382, 384, 46); eleemosyna vgl. Greg.‑M. Past. III, 20 (SC 382, 386, 58 f.); nummos tribuere vgl. Greg.‑M. Past. III, 20 (SC 382, 388, 93); iustitia vgl. Greg.‑M. Past. III, 21 (SC 382, 394, 16); opera bona vgl. Greg.‑M. Past. III, 21 (SC 382, 396, 34); pecunia vgl. Greg.‑M. Past. III, 25 (SC 382, 428, 13). 326 Vgl. Kessler, St., Exeget, 40.
5.2 Die Regula Pastoralis – Der Dienst an Gott und dem Nächsten
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Daher ist es nachvollziehbar, dass Gregor den Fokus von der persönlichen Kontemplation mit dem Ziel der punktuellen Unio mystica auf eine eher eschatologisch-jenseitige Orientierung am Himmlischen verlegt. Diese kann von der Allgemeinheit der Christen in der Kirche rezipiert werden und wird nicht nur durch „asketischen Hochleistungssport“ erzielt. Die Perspektive des Papstes wird universaler, er beschränkt seine Aussagen nicht mehr auf die geistlich weit Fortgeschrittenen, sondern nimmt die Gesamtheit der Gläubigen in den Blick. Auf diesem Tableau erweist sich die tätige Nächstenliebe vor allem als SeelSorge im buchstäblichen Sinn. Die Bischöfe, aber auch die übrigen Christen sollen für den rechten Glauben und einen gottgefälligen Lebenswandel des Nächsten Verantwortung tragen. Selbst die Versorgung äußerer Bedürfnisse, die zu der Zeit besonders gravierend waren, dient mittelbar diesem Zweck, da so die der fruchtbaren Annahme der geistlichen Schätze entgegenstehende Not getilgt wird. Die leibliche Fürsorge gerät zum Vehikel für die Verkündigung, zugleich verdient sie als gutes Werk Heil für den Wohltäter, wobei der Werk-Begriff in der Pastoralregel insgesamt, mit Ausnahme des Almosens, unkonkret und abstrakt bleibt. Das Ziel, die Gläubigen auf die himmlische Heimat auszurichten, verfolgt Gregor mit einem pädagogischen Ansatz: Die himmlische Sehnsucht basiert nicht auf einer punktuellen, einmaligen Entscheidung, sondern besitzt eher Prozesscharakter. Durch die Reue über begangene Sünden, durch Zeiten der Not, die als Strafe und Zucht Gottes gedeutet werden, und nicht zuletzt durch das exemplum vorbildhafter Christen, besonders des Bischofs, löst sich der Gläubige allmählich von den irdischen Bindungen und richtet sich auf die kommende Welt aus. Die Aufgabe des Hirten besteht hauptsächlich darin, die nötige Kenntnis über das jenseitige Schicksal zu vermitteln, den rechten Lebenswandel aufzuzeigen und auf Irrwege und Fehltritte hinzuweisen. Für diese Aufgabe kommen seinem Amt Autorität und hierarchischer Vorrang zu, die allerdings streng funktional auf den Dienst an den ihm anvertrauten Gläubigen verstanden und ausgeübt werden müssen. Dies geschieht nicht allein im homiletischen Rahmen, sondern auch im persönlichen Gespräch und vor allem im vollbrachten Werk. Neben die Verkündigung tritt also die Tat. Durch die konsequente Beschränkung des Amtes auf den Dienst am Nächsten wird die Unterscheidung in eine weltliche und eine geistliche Ebene innerhalb der Kirche abgeschwächt, wenn nicht sogar ganz aufgehoben. Der Bischof fungiert als geistlicher (An-)Leiter, der den Gläubigen nur aufgrund seines spirituellen Fortschritts vorangestellt ist, nicht aber etwa aufgrund von priesterlicher Reinheit. Grundsätzlich können alle Menschen diesen Fortschritt erreichen. Insofern vertritt Gregor hier anders als in seinem Hoheliedkommentar eine prozesshafte Zweistufenethik im Sinne der emporführenden Sprossen einer einzigen Leiter, nicht aber mehr im Sinne von den verschiedenen Ebenen eines Siegertreppchens.
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5 Das Ideal der tätigen Nächstenliebe im literarischen Werk Gregors
In diesem Zusammenhang sind die Äußerungen der Pastoralregel zur Askese besonders auffällig. Zum einen steht dieser Bereich, der in der Hoheliedauslegung das unangefochtene Zentrum darstellt, deutlich im Hintergrund327 und begegnet nur am Rande. Die wenigen Aussagen, die der Papst dazu macht, sind zumeist äußerst kritisch. Die Rolle der monastischen perfecti viri als spirituelle und geistliche Vorbilder und Lehrer übernehmen nun die rectores, deren Anforderungen allerdings zu einem größeren Anteil den Dienst am Nächsten umfassen. Die innere Kontemplation stellt nicht mehr den Mittelpunkt des geistlichen Lebens dar, sondern bildet mit der Verantwortung für die Gemeinde, den beiden Brennpunkten einer Ellipse vergleichbar, ein Gleichgewicht. Zusammenfassend lässt sich die Vorstellung von tätiger Nächstenliebe als eschatologische Pädagogik beschreiben, die den Fokus auf den geistlichen Fortschritt des Mitmenschen legt. Schon nach wenigen Monaten als Papst328 ist Gregor mit der Regula Pastoralis in seinem Amt und seiner Verantwortung angekommen. Er hat seiner sehr auf den individuellen Heilsweg ausgerichteten asketischen Theologie schnell eine universale Weite verliehen und bezieht die Christen seiner Gemeinde auf ihren unterschiedlichen geistlichen Entwicklungsstufen ein. Dabei belässt er es nicht bei der punktuellen Sicht auf den einzelnen Gläubigen, sondern nimmt auch die konkret gefährdete Einheit der ganzen Kirche mit in den Blick, was die Thematisierung der häretischen Irrlehren belegt. Zudem packt er die aktuellen Nöte der Zeit an, indem er die direkten und indirekten Adressaten seiner Pastoralregel mit der Wertschätzung der geübten Werke beständig zur tätigen Nächstenliebe und Solidarität auffordert.
5.3 Die Evangelienhomilien – Die Kirche als facettenreiche Gemeinschaft In der Pastoralregel hatte sich Gregor mit dem kirchlichen Verkündigungsdienst auf theoretischer Ebene befasst. Diesen übernahm er auch selbst in der Praxis. Aus seinem ersten Amtsjahr329 sind vierzig Evangelienhomilien überlie327
Dazu passt auch die Beobachtung Barbara Müllers, dass unter den in der Pastoralregel genannten biblischen Vorbildern die in der monastischen Tradition bedeutsamen Personen Elia und Elisa ganz fehlen, vgl. Müller, B., Führung, 129. 328 Freilich hatte er bereits zuvor als Diakon und Apokrisiar Aufgaben in der Gemeindeleitung übernommen. 329 Nach Raymond Étaix deckt die Predigtsammlung den Zeitraum von November 590 bis Ende Januar bzw. Anfang Februar 592 ab, wobei die Datierung nicht bei allen Homilien ohne letzten Zweifel zu leisten ist und bei den Homilien Nr. 33; 39 und 40 gar ganz offenbleiben muss, vgl. Étaix, Introduction, LIX–LXX. Zur Datierungsfrage grundlegend sind Chavasse, Antoine, Aménagements liturgiques à Rome au VIIe et au VIIIe s., RBen 99 (1989), 75–102 und Chavasse, Antoine, Les plus anciens types du lectionnaire et de l’antiphonaire romains de la messe, RBen 62 (1952), 3–94.
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fert, die er in den verschiedenen Kirchen Roms330 im Rahmen von Messfeiern gehalten hat. Als Predigttext orientierte er sich dabei an der Evangelienlesung des Tages, die zu dieser Zeit in der römischen Kirche bereits als feste Leseordnung vorlag, wie Gregor selbst in seinem nicht datierbaren Widmungsbrief an Bischof Secundinus von Taormina bezeugt: „Während der heiligen Messfeiern habe ich vierzig Lesungen des heiligen Evangeliums von jenen ausgelegt, die in dieser Kirche an bestimmten Tagen dem Brauch nach gewöhnlich gelesen werden.“331 Die vierzig Homilien stellte Gregor später nach einer Überarbeitung332 in zwei Bänden mit jeweils zwanzig Predigten zusammen. Die Aufteilung folgte dabei sowohl der Chronologie ihrer Entstehung als auch der jeweiligen Vortragsweise: Die ersten zwanzig Homilien trug der Papst aufgrund seiner gesundheitlichen Schwäche333 nicht selbst vor, sondern ließ das Skript von einem notarius334 verlesen. Da er bei dieser Vorgehensweise aber beobachtete, dass das Auditorium das nötige Interesse vermissen ließ, wechselte Gregor ab der 21. Homilie zum persönlichen Vortrag, um die Zuhörer durch direkte Ansprache zur angemessenen Aufmerksamkeit zu motivieren.335 Während der erste Band der Homiliensammlung also die delegierten Vorträge enthält, umfasst der zweite die von Gregor gehaltenen und von exceptores 330 Gregor gibt bei den meisten Homilien neben dem Anlass auch den Ort der Messfeier an, dabei werden nicht weniger als 19 Basiliken, ein Baptisterium und ein Coemeterium genannt, in denen der Papst gepredigt und die Messe gehalten hat. Während die Gedenkfeiern an den Heiligengräbern stattfanden, richtete sich die Ortswahl für die Festgottesdienste nach der Tradition der Stationsgottesdienste, deren Ordnung bis zum Tod Gregors weitgehend fixiert war, vgl. Häussling, Albert, Mönchskonvent und Eucharistiefeier. Eine Studie über die Messe in der abendländischen Klosterliturgie des frühen Mittelalters und zur Geschichte der Meßhäufigkeit, LQF 58, Münster 1973, 187–189. Zur Entwicklung der römischen Stationsliturgie vgl. Baldovin, John F., The urban character of Christian worship. The origins, development, and meaning of stational liturgy, OCA 228, Rom 1987; zu seiner Form vgl. Jungmann, Joseph Andreas, Missarum sollemnia. Eine genetische Erklärung der römischen Messe, 2 Bde., Freiburg 51962, hier: I, 88–98 Lediglich die Kirchen für die regulären Sonntagsmessen wählte Gregor wohl frei, vgl. Étaix, Introduction, LXVI. 331 „Inter sacra missarum sollemnia, ex his quae diebus certis in hac ecclesia legi ex more solent, sancti euangelii quadraginta lectiones exposui.“ Greg.‑M. Hom. eu. dedic. (CCSL 141, 1, 5–7). Das älteste überlieferte römische Evangeliar ist um das Jahr 645 entstanden, dessen Lektionen mit denen von immerhin 19 Homilien Gregors übereinstimmen, vgl. Étaix, Introduction, LIX–LXI. 332 Den ersten Band überarbeitete Gregor insgesamt sogar zweimal, wie Raymond Étaix anhand der Handschriften herausgearbeitet hat und beide Versionen in seiner Edition auch präsentiert, vgl. Étaix, Introduction X–XII.LXXI. In seinem Widmungsbrief bittet Gregor Secundinus darum, in seinem Umfeld für eine exakte Korrektur der umlaufenden Exemplare der Homiliensammlung Sorge zu tragen. Als Referenz wurde eine autorisierte Abschrift im päpstlichen scrinium hinterlegt, vgl. Greg.‑M. Hom. eu. dedic. (CCSL 141, 1, 26–2, 34). 333 Zu Gregors langjährigen Krankengeschichte vgl. Hack, Krankheit, 37–77. 334 Johannes Diaconus identifiziert diesen mit Gregors Vertrautem Aemilianus, vgl. Joh.‑Diac. Vit. Greg. II, 11 (PL 75, 92). 335 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 21, 1 (CCSL 141, 173, 1–174, 16).
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wörtlich protokollierten Predigten.336 Innerhalb der Bände folgen die einzelnen Homilien der Chronologie ihres Vortrages und mitunter eben nicht der biblischen Anordnung der Lesungstexte.337 Die vierzig Homilien decken in ihrer Abfolge trotz diverser Lücken im Großen und Ganzen das erste liturgische Jahr im Pontifikat Gregors ab.338 Sie umfassen zentrale kirchliche Feste und Zeiten wie die Adventszeit,339 Weihnachten,340 Epiphanias,341 die Vorfastenzeit,342 die Passionszeit,343 die Osteroktav,344 Himmelfahrt345 und Pfingsten,346 aber auch reguläre Sonntage,347 Quatemberfastentage348 sowie Märtyrer- und Heiligenfesttage.349 So konkret die verschiedenen Orte und Anlässe bis hin zum exakten Datum der Homilien tradiert sind bzw. sich erschließen lassen, so unscharf fällt die Antwort auf die Frage nach den Adressaten aus. Mit Ausnahme der 17. Homilie, die Gregor ausschließlich vor Bischofskollegen hielt,350 sind alle Predigten pauschal als „vor dem Volk gehalten“351 bezeichnet. Mit Michael Fiedrowicz352 gehe ich von einer gemischten Gottesdienstgemeinde in Bezug auf gesellschaftlichen Stand und den Bildungshintergrund aus.
336 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. dedic. (CCSL 141, 1, 18–25). Allerdings stellen bei dieser klaren Differenzierung die Homilien 17 und 23 wohl jeweils eine Ausnahme dar, vgl. Étaix, Introduction, LXIX. 337 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. dedic. (CCSL 141, 1, 21–25). 338 Vgl. dazu Étaix, Introduction, LXVIII. 339 So etwa die Homilien 1; 4; 6 und 7, diese und die folgenden kirchenjahreszeitlichen Zuordnungen richten sich nach Étaix, Introduction LXX. Die Datierung der zweiten Homilie ist äußerst hypothetisch, Antoine Chavasse geht aufgrund ihrer überlieferten Position zwischen der ersten (1. Advent) und der dritten (Gedenktag der Märtyrerin Felicitas am 23. November) vom adventlichen Kontext aus, auch wenn der Lesungstext eher auf Quinquagesimae weist, vgl. Chavasse, Aménagements, 91–93. Raymond Étaix hingegen vermutet einen Fehler in der Chronologie und hält die Datierung in die Vorfastenzeit für ebenso möglich, vgl. Étaix, Introduction LXIII. 340 Homilie 8. 341 Homilie 10. 342 Homilie 15. 343 Homilien 16; 18. 344 Homilien 21–26. 345 Homilie 29. 346 Homilie 30. 347 Homilien 28; 36; 38–40. 348 Homilien 20; 31. 349 Homilien 3; 5; 9; 11–13; 27; 32; 35; 37. 350 Chavasse denkt hierbei an eine Regionalsynode, vgl. Chavasse, Antoine, La Liturgie de la ville de Rome du Ve au VIIIe siècle. Une liturgie conditionnée par l’organisation de la vie in urbe et extra muros, Analecta liturgica 8 = StAns 112, Rom 1993, 337–342. 351 „[…] habita ad populum“ z. B. Greg.‑M. Hom. eu I, 1 (CCSL 141, 5, 15). 352 Vgl. Fiedrowicz, Einleitung, 28 f., gegen Barbara Müller, die eine deutliche Fokussierung auf kirchliches Führungspersonal annimmt, vgl. Müller, B., Führung 146; 150 f.; 154–156; 168.
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5.3.1 Formen tätiger Nächstenliebe In der Pastoralregel hatte Gregor gefordert, dass das kommende Gericht und die himmlische Heimat den zentralen Inhalt der christlichen Verkündigung darstellen. Tatsächlich kommt er diesem eigenen Anspruch im großen Maße nach: „Fragt man nach einem Grundgedanken, der die Evangelienhomilien charakterisiert, so lässt sich auf die nah erwartete Wiederkunft Christi als Weltenrichter verweisen, angesichts derer alle Gläubigen zu einer tiefgreifenden Bekehrung aufgerufen sind.“353 Dabei tritt der Papst keinesfalls als Unheilsprediger auf, der lediglich Furcht vor dem göttlichen Urteil schürt. Diese Furcht dient vielmehr als Motivationshilfe für den Fall, dass der Predigthörer noch irdischen Begierden anhaftet und die himmlische Sehnsucht noch nicht geweckt ist.354 Die zentrale Intention des römischen Bischofs ist, sein Publikum auf das jenseitige Ziel hin auszurichten. Mit der geistlichen Neuausrichtung geht dabei zwangsläufig eine Umkehr für das gesamte Leben einher, das durch ein Gleichgewicht aus Jenseitssehnsucht und Fürsorge für den Mitmenschen ausgezeichnet sein soll.355 Insofern überrascht es nicht, dass sich in den vierzig Homilien neben der eschatologischen Dominanz diverse Mahnungen zur konkreten Lebensführung finden. Gregor unterstreicht mehrfach, dass ein jeder Christ Nächstenliebe üben kann und soll356 – Mann oder Frau,357 alt oder jung,358 arm oder reich,359 schriftgelehrt,360 mit asketischer361 oder weltlicher362 Lebensweise. Die tätige Nächstenliebe ist eine allgemeine, aber zugleich zutiefst individuelle Aufgabe und Pflicht. Je nach Lebensform und Begabung gibt es vielfältige Möglichkeiten, sie zu üben:363 Sei es durch die Weitergabe spiritueller Erkenntnis oder äußeren Besitzes, die Unterstützung mithilfe von handwerklicher Kunstfertigkeit364 oder 353 Fiedrowicz, Einleitung, 34, vgl. ebenso für das Gesamtwerk Gregors Fiedrowicz, Kirchenverständnis, 137–141. 354 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 11, 5 (CCSL 141, 78, 117–120) und Kisić, Patria, 58–61. 355 Das Ideal einer ausgewogenen vita mixta bezieht sich also keinesfalls nur auf den Klerus, Gregor fordert sie explizit von „jede[m] Menschen, der unter Menschen lebt.“ (Omnis […] homo inter homines uiuens) Greg.‑M. Hom. eu. II, 38, 10 (CCSL 141, 370, 272 f.). 356 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 19, 1 (CCSL 141, 144, 26–28); II, 38, 10 (CCSL 141, 369, 259–370, 275). 357 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 3, 4 (CCSL 141, 24, 92–98); I, 14, 5 (CCSL 141, 101, 122–124). 358 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 13, 5 (CCSL 141, 92, 69–82); I, 14, 5 (CCSL 141, 101, 124–126); I, 20, 13 (CChr SL 141, 166, 315–319). 359 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 9, 7 (CCSL 141, 63, 127–64, 148); I, 15, 5 (CCSL 141, 107, 94–103). 360 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 11, 5 (CCSL 141, 78, 99–103). 361 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 17, 18 (CChr SL 141, 133, 436–442); II, 39, 6 (CCSL 141, 386, 156–172). 362 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 4, 5 (CCSL 141, 31, 125–32, 148); I, 6, 6 (CChr SL 141, 42, 100–44, 153). 363 Vgl. dazu auch bereits Ambr. Off. II, 68–75 (CCSL 15, 121, 1–123, 60). 364 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 9, 7 (CCSL 141, 63, 129–136).
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durch den Beistand und das tröstende Wort in Zeiten der Trauer.365 Aber auch wer keine besondere Kompetenz oder Reichtümer besitzt und lediglich Einfluss auf einen Wohlhabenden hat, kann Gutes tun, wenn er nämlich „bei diesem für die Armen eintritt.“366 Weitere konkrete Formen der tätigen Nächstenliebe stellt Gregor lobend in den Exempla-Erzählungen heraus, mit denen er seine theoretischen Ausführungen veranschaulicht,367 darunter die Gastfreundschaft,368 die Pflege und Versorgung von Kranken369 und schließlich den Beistand für Sterbende, insbesondere durch inbrünstiges Gebet für deren Seelenheil.370 Die augustinische Vorstellung einer doppelten eleemosyna371 aufnehmend betont der römische Bischof also durchweg die große Vielfalt möglicher Werke der Nächstenliebe, die zwar von den jeweiligen Lebenssituationen abhängen, aber dennoch grundsätzlich allen Menschen möglich sind. Sie alle eint der Umstand, dass sie jeweils die Nöte der Mitmenschen wahrnehmen und zur Besserung beitragen. Stets liegt der Fokus auf der Schwäche und Hilfsbedürftigkeit des Nächsten, sei es auf materieller, physischer, psychischer oder nicht zuletzt auf geistlicher Ebene.372 Neben dieser summarischen Zusammenstellung sollen nun Werke dargestellt werden, die in den Evangelienhomilien besonders hervorgehoben werden.
5.3.1.1 „Almosen des Wortes“ Ähnlich wie in der Regula Pastoralis373 stellt auch in den Evangelienhomilien die Verkündigung des Wortes Gottes das zentrale und wichtigste Werk der Nächstenliebe dar.374 In seiner Wertschätzung zieht Gregor die geistliche Unter365
Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 20, 13 (CCSL 141, 165, 296–299). Greg.‑M. Hom. eu. I, 9, 7 (CCSL 141, 64, 144 f.). Dabei bleibt es nicht unbedingt nur bei der Bitte um mildtätige Spenden. Im Falle einer Gewaltherrschaft muss man ohne Rücksicht auf die eigene Sicherheit sogar den Unterdrückern entgegentreten und Widerstand leisten, vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 14, 1 f. (CCSL 141, 97, 12–98, 49). 367 Zur Gattung der exempla-Erzählungen s. Lumpe, Adolf, Art.: Exemplum, RAC 6 (1966), 1229–1257. 368 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 36, 13 (CCSL 141, 344, 341–343), s. a. Greg.‑M. Hom. eu. II, 23, 1 (CCSL 141, 194, 25–29). 369 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 39, 10 (CCSL 141, 390, 270–392, 324); II, 40, 12 (CCSL 141, 410, 435–411, 446), s. auch Greg.‑M. Hom. eu. II, 29, 4 (CCSL 141, 248, 101 f.); II, 38, 13 (CCSL 141, 372, 326–329). 370 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 19, 7 (CCSL 141, 149, 160–151, 201); II, 38, 16 (CCSL 141, 376, 436–378, 477). 371 Vgl. Kap. 4.4. 372 Vgl. u. a. Greg.‑M. Hom. eu. I, 20, 13 (CCSL 141, 165, 290–301). 373 Vgl. Kap. 5.2.1.1. 374 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 3, 2 (CCSL 141, 21, 15–25); I, 6, 6 (CCSL 141, 42, 100–44, 153); I, 9, 7 (CCSL 141, 63, 129–132); I, 11, 5 (CCSL 141, 78, 117–123); I, 16, 3 (CCSL 141, 112, 60–69); I, 17, 8 f. 14 (CCSL 141, 123, 169–124, 193; 128, 296–129, 337); II, 40, 10 (CCSL 141, 407, 342–356). 366
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weisung anderen Werken wie etwa dem Almosen explizit vor:“Größer ist es nämlich, durch die Speise des Wortes die ewig lebende Seele zu erhalten, als den Bauch des sterblichen Fleisches durch irdisches Brot zu sättigen. Entzieht euren Nächsten also nicht das Almosen des Wortes, Brüder!“375 Dezidiert fordert der römische Bischof nicht nur den Klerus zur praedicatio auf, sondern gerade das gesamte anwesende Publikum aus den unterschiedlichsten Gesellschafts- und Bildungsschichten.376 Der Hörerschaft stellt er das Beispiel der Märtyrerin Felicitas377 vor Augen.378 Diese habe ihre sieben Söhne nicht nur im christlichen Glauben erzogen, sondern bestärkte sie noch im Angesicht des Todes, nicht vom jenseitsgerichteten Weg abzuweichen. Alle Söhne erlitten vor den Augen ihrer Mutter das Martyrium,379 die aber trotz mütterlicher Trauer Freude darüber empfand, dass ihre Kinder ihr ins himmlische Reich vorausgegangen waren. Diese unerschrockene Verkündigung stellt Gregor seinem schnell verzagenden Publikum als gutes Beispiel vor Augen.380
375 „Plus est enim uerbi pabulo uicturam in perpetuo mentem reficere, quam uentrem moriturae carnis terreno pane satiare. Nolite ergo, fratres, proximis uestris eleemosynam uerbi subtrahere.“ Greg.‑M. Hom. eu. I, 6,6 (CCSL 141, 44, 134–137), vgl. auch Greg.‑M. Hom. eu. II, 29, 4 (CCSL 141, 248, 98–104); II, 40, 10 (CCSL 141, 407, 345–352). Diese Vorstellung ist geprägt von Aug. cat. rud. 2 (CCSL 46, 121, 19–122, 29). 376 Vgl. Kessler, St., Exeget, 90: „Die Mehrheit bildeten wahrscheinlich die weniger gebildeten Kreise, und Analphabeten waren nicht ausgeschlossen.“ Michael Fiedrowicz äußert sich hierzu durchaus widersprüchlich: Einerseits betrachtet er die Aufgabe der Verkündigung bei Gregor als in der Regel dem kirchlichen Amte vorbehalten und nur im Ausnahmefall auch von Laien auszuüben, vgl. Fiedrowicz, Kirchenverständnis, 134–137. Andererseits betont er, dass das Publikum der Evangelienhomilien allen gesellschaftlichen und kirchlichen Hierarchieschichten entstammt, vgl. Fiedrowicz, Einleitung, 28 f. Wie aber ist in diesem Fall die wiederholte Aufforderung zum Verkündigungsdienst in den Predigten zu erklären? Die Lösung Barbara Müllers, die Homilien wären vornehmlich nur an Kleriker gerichtet und würden daher die Predigtaufgabe so häufig thematisieren, vgl. Müller, B., Führung, 152–156, halte ich für zu eng. Ist es nicht wahrscheinlicher, dass Gregor ein sehr breites Verständnis von der praedicatio vertritt, das nicht nur die reine Predigttätigkeit im gottesdienstlichen Rahmen umfasst, sondern auch jegliches Reden und Handeln, welches das Wirken Gottes bezeugt? In diese Richtung weisen zumindest einige Texte der Evangelienhomilien selbst, vgl. u. a. Greg.‑M. Hom. eu. I, 6, 6 (CCSL 141, 42, 100–44, 153). Auf eine divergente Adressatenschaft weisen ebenso die Betonung der vielfältigen Lebensweisen und deren Nutzen hin, vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 20, 13 (CCSL 141, 164, 270–167, 353), wie auch die im Vergleich zu der Pastoralregel und besonders den exegetischen Werken deutlich simplere Sprache und Rhetorik. 377 Die Tradition überliefert den 23. November als Tag des Martyriums, das sie 162 unter Marc Aurel erlitt, vgl. Hahn, Karin, Art.: Felicitas und ihre sieben Söhne, LCI 6 (2012), 221–223. Die Historizität der familiären Verbindung der römischen Märtyrerin und ihrer sieben Söhne, für die deutlich 2 Makk 7,1–41 Pate stand, ist äußerst fraglich und beruht wahrscheinlich lediglich auf der Nähe der Gräber in den römischen Katakomben, vgl. von Stritzky, MariaBarbara, Art.: Felicitas, LThK3 3 (1995), 1216 f. und Hahn, Felicitas, 221 f. 378 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 3, 3 (CCSL 141, 21, 26–23, 78). 379 Sie sollen bereits am 10. Juli das Martyrium erlitten haben, vgl. Hahn, Felicitas, 221. 380 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 3, 4 (CCSL 141, 24, 79–25, 109).
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Zu den mündlichen Formen der Verkündigung müssen ergänzend Taten treten. Erst wenn die Glaubenslehrer durch exempla als Vorbilder dienen,381 wird die Predigt vollendet.382 So unterschiedlich die Form der Verkündigung sein kann, so einheitlich ist doch ihr Ziel: Im Herzen des Nächsten soll die Gottesliebe geweckt, ja regelrecht geboren werden.383 Ist dieses geschehen, soll er zur aufrichtigen Reue, der compunctio,384 angestoßen werden,385 so dass er sein bisheriges sündiges Leben zurücklässt und fortan gute Taten vollbringt. Die Bekehrung ist erst vollständig, wenn sie nicht nur auf geistlicher Ebene geschieht, sondern auch in der Sorge um den Nächsten in die Tat umgesetzt wird.386 Zu Taten aufzurufen ist die explizite Aufgabe der Verkündiger, wie Gregor betont.387 Ebenso ist der Tadel eine Pflicht der Verkündigung, sollte sich der Mitmensch erneut von Gott und dem ihm gefälligen Leben abwenden.388 Dabei dürfen nicht der Eifer und die Rachsucht Movens der Zurechtweisung sein, sondern vielmehr die Liebe zum Nächsten und der geduldige Wille zu dessen Besserung.389 Auf diese Weise ergänzt die Ermahnung die rein materielle Armenfürsorge: Dargereicht wird so „das Brot der Mahlzeit mit dem Wort des Tadels“390. Neben der correctio sollen vornehmlich die himmlische Heimat und das Jüngste Gericht im Zentrum der Verkündigung stehen.391 Auch wenn menschliche Worte die himmlische Existenz nur unzureichend beschreiben können, so kann die Sehnsucht zum Unsichtbaren dennoch durch Sicht- und Hörbares geweckt und verstärkt werden.392 Gerade den kirchlichen Festen spricht Gregor eine besondere homiletische Wirkung zu.393 Durch Predigten, liturgische Voll381
Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 11, 1 (CCSL 141, 74, 19); II, 29, 4 (CCSL 141, 248, 98–102). Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 17, 10 (CCSL 141, 124, 194 f.) und Kap. 5.2.2.2. 383 Gregor deutet dieses Bild bis ins Detail, so dass er den Verkündiger gar als Mutter Christi bezeichnet, vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 3, 2 (CCSL 141, 21, 15–25) und a. Greg.‑M. Mor. XXX, 47 (CCSL 143B, 1522, 2–1523, 25). 384 Zum Begriff der compunctio im gregorianischen Werk vgl. Petersen, Dialogues, 160–16, und Kisić, Patria, 215–220. 385 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 17, 10 (CCSL 141, 124, 194 f.). 386 Vgl. Kisić, Patria, 134–136. 387 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 9, 3 f. (CCSL 141, 60, 56–62, 97). 388 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 17, 14 (CCSL 141, 128, 301–307); I, 17, 16 (CCSL 141, 130, 364–131, 288). 389 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 16, 3 (CCSL 141, 112, 55–69); I, 17, 14 (CCSL 141, 128, 304 f.). 390 „[…] panem refectionis cum uerbo correptionis“ Greg.‑M. Hom. eu. II, 40, 10 (CCSL 141, 407, 348 f.). 391 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 11, 5 (CCSL 141, 77, 90–79, 132); I, 17, 9 (CCSL 141, 123, 174–176); II, 24, 4 (CCSL 141, 199, 62–75) und Kap. 5.2.1.1. sowie Kisić, Patria, 178–181; Fiedrowicz, Kirchenverständnis, 137–141. 392 Vgl. Kisić, Patria, 181–220. 393 „Das gegenwärtige Fest ist ein Schatten des kommenden Festes. Deshalb feiern wir es jährlich, damit wir zu jenem geführt werden, das nicht jährlich, sondern ununterbrochen ist. Wenn dieses zur gesetzten Zeit gehalten wird, wird unser Gedächtnis zu jener Sehnsucht angeregt. Durch die Regelmäßigkeit der zeitlichen Freude also wird der Geist zur ewigen Freude 382
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züge und persönliche Glaubenszeugnisse wird die Sehnsucht zum jenseitigen Reich geweckt. Die Thematisierung des Jüngsten Gerichtes aber soll vor lauer Bekehrung warnen und zu guten Werken motivieren. Gregors Verständnis von der praedicatio geht weit über die reine Predigttätigkeit im gottesdienstlichen Rahmen hinaus. Als weitere Praxisform empfiehlt er vor allem das persönliche Zwiegespräch: „Und da ein und dieselbe Rede der Unterweisung nicht ausreicht, um alle zugleich zu ermahnen, muss man sie, sofern es möglich ist, einzeln unterrichten, in privaten Gesprächen aufbauen, mit schlichter Unterweisung den Ertrag in den Herzen seiner [scil. Gottes] Kinder suchen.“394
Obwohl Gregor als Papst stets die gesamte Größe der Gemeinschaft in den Blick nimmt und die ekklesiologische Perspektive seiner Theologie kaum überschätzt werden kann,395 so ist es doch bemerkenswert, dass er gerade in der Verkündigung den Einzelnen mit seinen individuellen Bedürfnissen und Nöten ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. In diese Richtung deutet seine Auslegung von Joh 14,26 in der 30. Homilie, in der er die allgemeine Erfahrung zu erklären versucht, dass ein und dieselbe Predigt mitunter ganz unterschiedliche Reaktionen auslöst.396 Die äußeren Worte des menschlichen Predigers werden erst durch das Eingreifen des Heiligen Geistes zur Wirkung gebracht. Ohne das innere Wort des göttlichen Parakleten ist jede Predigt vergebens. Insofern ist nicht der Prediger für seinen missionarischen Erfolg zu loben, liegt dieser doch allein in der Verantwortung des Geistes Gottes.397 Damit zeigt sich die zweite Seite derjenigen Medaille, die Gregor schon in seinem Erstlingswerk beschrieb: Machte er seinen Brüdern im Andreaskloster deutlich, dass die geistliche Erkenntnis auf die vorhergehende kirchliche Verkündigung angewiesen ist,398 so unterstreicht er nun, dass diese wiederum unentbrannt und entfacht, um in der Heimat aus der Wahrheit die Fröhlichkeit zu genießen, was im Leben durch den Schatten der Freude geteilt ist.“ (Umbra uenturae sollemnitatis est sollemnitas praesens. Idcirco hanc annue agimus, ut ad illam quae non est annua, sed continua, perducamur. Cum haec statuto tempore geritur, ad illius desiderium memoria nostra refricatur. Frequentatione ergo gaudii temporalis ad aeterna gaudia mens incalescat et ferueat, ut ex ueritate laetitiae perfruatur in patria quod de umbra gaudii mediatur in uia.) Greg.‑M. Hom. eu. II, 26, 10 (CCSL 141, 226, 221–227). 394 „Et qui una eademque exhortationis uoce non sufficit simul cunctos admonere, debet singulos, in quantum ualet, instruere, priuatis locutionibus aedificare, exhortatione simplici fructum in filiorum suorum cordibus quaerere.“ Greg.‑M: Hom. eu. I, 17, 9 (CCSL 141, 123, 176–180, zur besonderen Herausforderung der Gruppenunterweisung vgl. auch Greg.‑M. Past. III, 36 [SC 382, 518, 1–522,38] und Kap. 5.2.1.1.). 395 Vgl. Fiedrowicz, Kirchenverständnis, 380 f. 396 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 30, 3 (CCSL 141, 258, 56–259, 94). Gregor rezipiert Aug. ep. Io. tr. 3, 13 (SC 75, 208–212). 397 Vgl. auch Greg.‑M. Mor. XXIX, 49 (CCSL 143B, 1467, 11–22). Zu Gregors Pneumatologie im Predigtgeschehen vgl. Fiedrowicz, Kirchenverständnis, 157–159. 398 Vgl. Kap. 5.1.2.
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mittelbar vom göttlichen Wirken abhängig ist. In beiden Fällen kritisiert er eine arrogante, selbstsichere Haltung: Die asketischen Zuhörer seiner Hoheliedvorträge warnte er vor überheblicher Distanz zur Kirche. Der römischen Kirche als ihr Oberhaupt zeigt er nun (selbst-)kritisch ihr Angewiesensein auf das göttliche Wirken auf. Wirkmächtiges Verkündigungsgeschehen ist nicht außerhalb der Kirche möglich, aber auch innerhalb derselben sind die Prediger von der (Mit-) Wirkung des Heiligen Geistes abhängig.
5.3.1.2 Almosen Auf das klassische Werk der tätigen Nächstenliebe, das Almosen, verweist Gregor in seinen Evangelienhomilien ähnlich oft wie auf die Aufgabe der Verkündigung,399 begründet es aber deutlich weniger ausführlich als diese. Offensichtlich war das Almosen in der römischen Gemeinde leicht als ein gutes Werk zu identifizieren und brauchte nicht näher erörtert werden. Nichtsdestotrotz mahnt der Bischof, es beständig zu üben. Ähnlich wie bereits Johannes Chrysostomus400 verweist er auf die sich alltäglich bietenden Gelegenheiten: „Und in der Tat habt ihr jetzt viele Lazarusse, vor euren Türen liegen sie und bedürfen, was euch, wenn ihr schon gesättigt seid, täglich vom Tisch fällt.“401 In den exempla-Erzählungen stellt Gregor diese Form der tätigen Nächstenliebe heraus. Er berichtet von Almosengaben speziell für Pilger402 und von einem Gelähmten, der die ihm gespendeten Gaben sogleich an Arme weiterreichen ließ.403 Lobend erwähnt er Cassius, den Bischof von Narnia, dessen Leben gleich in dreifacher Weise durch Opfergaben für Gott geprägt war: Täglich feierte er die Messe,404 seinen Besitz verteilte er an die Bedürftigen und seinen Geist bewahrte er in Buße und Reue.405 Zumindest für das Bischofsamt steht die Almosengabe für 399 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 3, 4 (CCSL 141, 24, 88–90); I, 4, 5 (CCSL 141, 32, 141–144); I, 6, 6 (CCSL 141, 43, 132–44, 133); I, 9, 7 (CCSL 141, 63, 132 f.); I, 11, 2 (CCSL 141, 75, 28–41); I, 15, 5 (CCSL 141, 107, 101–103); I, 16, 6 (CCSL 141, 114, 117–115, 136); I, 18, 1 (CCSL 141, 136, 10 f.); I, 20, 11 (CCSL 141, 162, 207–229); II, 32, 7 (CCSL 141, 285, 214–221); II, 33, 5 (CCSL 141, 292, 124–293, 140); II, 37, 9 (CCSL 141, 355, 199–202); II, 38, 13 (CCSL 141, 372, 322–330); II, 40, 10 (CCSL 141, 406, 329–407, 356). Nicht an allen diesen Stellen wird der Begriff elemosyna verwendet, mitunter wird lediglich die Handlung der materiellen Unterstützung Bedürftiger beschrieben, zur Begrifflichkeit s. Kap. 5.3.4. 400 Vgl. Kap. 4.2. 401 „Multos etenim nunc Lazaros habetis, ante ianuas uestras iacent, atque his indigent, quae uobis iam satiatis cotidie de mensa cadunt.“ Greg.‑M. Hom. eu. II, 40, 10 (CCSL 141, 406, 332–334). 402 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 32, 7 (CCSL 141, 285, 214–218). 403 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 15, 5 (CCSL 141, 107, 101–103). 404 Für die Feier des Abendmahls verwendet Gregor in der 37. Homilie, der einzigen, in der er darauf zu sprechen kommt, ausschließlich den Begriff der hostia (placationis), wohingegen er ansonsten vom gesamten Gottesdienst als sollemnia (missarum) spricht, vgl. etwa Greg.‑M. Hom. eu. dedic. (CCSL 141, 1, 5). 405 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 37, 9 (CCSL 141, 355, 195–202).
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Gregor also auf einer Ebene mit der liturgischen Funktion und der bußfertigen Geisteshaltung. Diese drei durchaus disparaten Aspekte verbindet das demütige Zurücktreten des Handelnden und bzw. oder die Fokussierung auf das Gegenüber: In der Messfeier wird Gott das Opfer dargebracht, in der Armenfürsorge verzichtet der Spender auf Besitz, der nun dem Empfänger zugutekommt, und die contritio gesteht die eigene Sündhaftigkeit und das Angewiesensein auf Gottes Gnade ein. Neben der rein äußerlichen Notwendigkeit des Almosenwesens im Rom an der Wende zum 7. Jahrhundert fördert Gregor dieses auch durch die Einordnung der Almosengabe in sein grundlegendes, monastisch geprägtes Ethos der Demut. Allerdings betrachtet der Papst diejenige Armenunterstützung, die ausschließlich aus dem eigenen Überfluss bestritten wird, als äußerst geringes Werk.406 Alles, was den zum Leben notwendigen Bedarf übersteigt, ist überflüssig und die Trennung davon erfolgt ähnlich schmerzfrei wie das Haareschneiden.407 Gerade weil das Almosen aus dem Übermaß aber so problemlos und ohne eigene Einschränkungen geleistet werden kann, fordert Gregor seine Gemeinde umso vehementer dazu auf. Aus mitfühlender Nächstenliebe muss stets tatkräftige Hilfe resultieren.408 Erfüllt ist das Gebot der Nächstenliebe aber eigentlich erst im Teilen der necesseria: „Weil nämlich im Gesetz geschrieben steht: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, wird derjenige überführt, seinen Nächsten weniger zu lieben, der mit ihm in dessen Not nicht die Dinge teilt, die für ihn Notwendigkeiten darstellen.“409 Trotz dieses harschen Urteils fordert Gregor keine radikale Selbstlosigkeit, das letzte Hemd muss nicht geteilt werden, „[d]enn mit einer halben Tunika bleibt sowohl derjenige nackt, der empfängt, als auch der, der gegeben hat.“410 406 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 3, 4 (CCSL 141, 24, 88–91); I, 14, 1 (CCSL 141, 97, 12–19), an dieser Stelle spricht Gregor vor allem die Bischöfe als Hirten an und bezeichnet die Almosengabe als erstes Werk, das aber den anderen keinesfalls übergeordnet ist. Vielmehr beschreibt er eine aufsteigende Hierarchisierung, an deren Spitze mit Joh 10,11 der letzte und höchste Dienst steht: das Sterben für den Nächsten. 407 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 33, 5 (CCSL 141, 292, 124–127). 408 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 33, 5 (CCSL 141, 292, 127–293, 140). 409 „Quia enim in lege scriptum est: Diliges proximum tuum sicut te ipsum, minus proximum amare couincitur, qui non cum eo in necessitate illius atiem ea quae sibi sunt necessaria partitur.“ Greg.‑M. Hom. eu. I, 20, 11 (CCSL 141, 162, 213–216), Hervorhebung im Original. 410 „In dimidia quippe tunica et nudus remanet qui accipit, et nudus qui dedit.“ Greg.‑M. Hom. eu. I, 20, 11 (CCSL 141, 162, 218 f.). Sicherlich könnte man hier an die berühmte Mantellegende des Martin von Tours denken. Allerdings grenzt Gregor die tunica als notwendigen Grundbedarf deutlich vom Mantel (pallium) als Überfluss ab, vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 20, 11 (CCSL 141, 162, 208–213). Sulpicius Severus hingegen schildert, dass Martin lediglich seine clamys als einen Bestandteil seiner vestis militiae zerteilt, vgl. Sulp.‑Sev. Mart. 3, 1 f. (SC 133, 256). Und in der Tat ist Gregor auf pragmatischer Ebene Recht zu geben: Eine zerschnittene tunica wird gänzlich unbrauchbar, wohingegen der geteilte Mantel Martins auch halbiert noch
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Die Almosengabe ist von Christus selbst geboten411 und stellt die logische Konsequenz aus der Einsicht in die diesseitige Nichtigkeit und der Sehnsucht nach der jenseitigen Heimat dar. Zu dieser können alle irdischen Schätze nicht mitgenommen werden; wer also die ewige Gottesschau als das höchste Ziel erkannt hat, für den verliert jegliche Habe an Wert.412 Nichtsdestotrotz kann der Wohltäter einen Nutzen aus seinem Besitz ziehen, den er einem Bedürftigen zukommen lässt. Sein Geist wird durch das gute Werk gestärkt, sodass die Almosen für den Nächsten als „Nahrung für den Geist“413 des Spenders dienen. Ebenso wie der Leib durch Speise gestärkt und bei Kräften gehalten werden muss, ist auch die Seele mit guten Taten zu versorgen, damit sie nicht verkümmert.414 Dass Gregor den psychologischen und soteriologischen Nutzen der Almosengabe für den Spender unterstreicht, könnte lapidar als Motivationstechnik des Bischofs gedeutet werden, der durch die angespannte Versorgungssituation in Rom auf die Spendenbereitschaft der wohlhabenden Gemeindeglieder angewiesen war. Zusätzlich zeigt es aber, welch immensen Stellenwert das eschatologische Heil in seinem pastoralen Interesse einnimmt. Im Fokus steht für ihn unangefochten die buchstäbliche Seel-Sorge.
5.3.1.3 Die Askese als Werk und ihre Alternativen Neben den Taten der Nächstenliebe verweist Gregor in den Evangelienhomilien immer wieder auf die Askese als gutes und heilswirksames Werk.415 Diese stellt für ihn die praktische Umsetzung der Jenseitsorientierung dar, durch die sich der Gläubige von irdischen Begierden distanziert und letztlich gänzlich löst. Wie dem gegnerischen Ringkämpfer jegliche Kleidung als Angriffspunkt dienen kann, weshalb der Kampf nackt geführt wird, nutzt der Teufel alles Irdische, um den Menschen zu Boden zu ringen. Insofern muss dieser auf das Weltliche verzichten, um dem Widersacher widerstehen zu können.416 verwendet werden kann. Für diesen Hinweis zur spätantiken Gewandungspraxis danke ich ganz herzlich Herrn Prof. Dr. Jan Radicke, Kiel. 411 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 18, 1 (CCSL 141, 136, 10 f.). 412 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 11, 2 (CCSL 121, 75, 28–41), s. a. Greg.‑M. Hom. eu. I, 4, 5 (CCSL 141, 32, 136–148). 413 „[…] menti […] alimenta“ Greg.‑M. Hom. eu. I, 4, 5 (CCSL 141, 31, 133 f.). 414 Außerdem betont Gregor die sühnende Wirkung der Barmherzigkeit, vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 17, 8 (CCSL 141, 122, 144–149); I, 20, 11 (CCSL 141, 162, 220–229) und Kap. 5.3.2.2. 415 Vgl. z. B. Greg.‑M. Hom. eu. I, 15, 2 (CCSL 141, 105, 43–106, 64); II, 32, 3 (CCSL 141, 278, 21–280, 64). 416 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 32, 2 (CCSL 141, 278, 21–31), im Folgenden steigert Gregor seine Forderungen noch, indem er zudem Reue und das Ablegen von schlechten Eigenarten fordert, vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 32, 2 (CCSL 141, 278, 31–280, 64), vgl. Greg.‑M. Hom eu. II, 37, 1 (CCSL 141, 229, 1–230, 23). Zum Wirken des Teufels im Heilsgeschehen vgl. Kap. 5.6.3.1.2 sowie Savon, Hervé, L’Antéchrist dans l’œuvre de Grégoire le Grand, in: Fontaine, J. et al. (Hgg.), Grégoire le Grand. Chantilly, Centre culturel Les Fontaines, 15–19 septembre 1982,
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Der römische Bischof ist sich dennoch bewusst, dass nicht alle Menschen zu dieser radikalen Lebensweise bereit oder überhaupt fähig sind.417 Insofern mahnt er die weltlich Lebenden zumindest zu einem verantwortlichen Verhältnis zu äußeren Dingen, so dass der innere Mensch dem Irdischen nicht verhaftet bleibt und vom Streben zum Himmlischen nicht abgehalten wird.418 In Abwandlung der berühmten augustinischen Unterscheidung von uti und frui differenziert Gregor zwischen uti und desidere: „Die zeitliche Sache sei also zu gebrauchen, die ewige zu ersehnen.“419 Aber nicht nur das Verharren in zeitlichen Zusammenhängen birgt die Gefahr, vom himmlischen Ziel abzulenken. Auch die konsequente Entsagung betrachtet der Papst als risikobehaftet: Es droht das Laster der Ruhmsucht. Gerade wenn der Verzicht radikal geübt wird, ist der Hochmut oft nahe, „so dass das, was um Gottes willen zu tun geglaubt wird, allein für menschliche Gunst getan wird.“420 Insofern stellt Gregor klar: Der rein äußere Verzicht ist nicht ausreichend, mit ihm muss unverzichtbar die Reinheit der Gedanken einhergehen.421 Dennoch ist die Entsagung von irdischen Begierden und Bindungen anzustreben, stellt sie doch einen Ersatz für das Martyrium dar, das in Friedenszeiten nicht mehr erlitten werden muss und kann.422 Gregor steht mit diesen Aussagen zum spirituellen Martyrium in der langen Tradition, welche bereits in Zeiten der Christenverfolgungen die Askese als gleichwertige Alternative zum Blutzeugnis betrachtete.423 Nach Gregor bietet allerdings nicht allein der Weg der Entsagung diese Möglichkeit. Auch durch Almosengaben,424 die demütige Bitte um Verzeihung425 oder das geduldige426 Ertragen des Feindes427 kann ohne Blutvergießen ein Colloques Internationaux du CNRS, Paris 1986, 389–405 und Fiedrowicz, Kirchenverständnis, 260–272. 417 Vgl. Müller, B., Monasticism, 99.102. 418 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 36, 11 (CCSL 141, 342, 291–343, 310). 419 „Sit ergo res temporalis in usu, aeterna in desiderio“ Greg.‑M. Hom. eu. II, 36, 11 (CCSL 141, 342, 297 f.). 420 „[…] ut quod causa Dei agi creditur pro solis humanis fauoribus agatur.“ Greg.‑M. Hom. eu. II, 32, 3 (CCSL 141, 280, 85 f.). 421 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 37, 7 (CCSL 141, 353, 150–161). 422 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 3, 4 (CCSL 141,25, 102–109); I, 11, 3 (CCSL 141, 75, 49–76, 55). 423 Vgl. Cyp. de zelo et livore 16 (CSEL 3/1, 430 f.); Caes.‑Arel. Serm. 41, 1 (CCSL 103, 180, 22–181, 28); zum spirituellen Martyrium vgl. Solignac, Aime, Art.: Martyre III. Permanence du martyre dans l’ Église, DSp 10 (1980), 732–737; zur Ideengeschichte und Gregors Rezeption derselben vgl. Rush, Alfred, Spiritual Martyrdom in St. Gregory the Great, TS 23 (1962), 569–589. Dieses Motiv ist später besonders im monastischen Bereich breit aufgegriffen worden, vgl. etwa Ath. v. Anton. 46 (SC 400, 258, 1–262,31). 424 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 27, 3 (CCSL 141, 231, 49–60), diesen Gedanken bietet bereits Cyp. Eleem. 26 (CCSL 3A, 72,531–557). 425 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 32, 5 (CCSL 141, 283, 145–168). 426 Zur patientia als asketischer Grundtugend vgl. Rush, Martyrdom, 580 f. 427 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 35, 7 (CCSL 141, 327, 171–194), vgl. auch Greg.‑M. Dial. III, 26, 7–9 (SC 260, 370, 50–372, 79).
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himmlischer Siegerkranz verdient werden: „[D]ie heilige Kirche, erfüllt von den Blumen der Erwählten, hat im Frieden Lilien, im Krieg Rosen.“428 Gerade die tätige Nächstenliebe dient in Friedenszeiten als Hinweis, ob die Zeugenschaft in der Situation der Verfolgung aufrechterhalten würde. Denn wer in Freiheit für Gott nicht einmal ein Almosen geben will, der wird erst recht nicht zum höchsten Martyrium, dem Dahingeben des eigenen Lebens, bereit sein.429 Für Gregor ist die Askese also keinesfalls die wertvollste Lebensform, wie er noch in seiner Hoheliedauslegung behauptet hatte.430 Vielmehr werden ihr zahlreiche andere Werke als Alternativen an die Seite gegeben, die mitfühlende Nächstenliebe wird ihr gar explizit gleichgestellt: „In zwei Weisen wird nämlich das Kreuz aufgenommen, wenn entweder der Körper durch Abstinenz geschwächt wird oder der Geist durch das Mitgefühl mit dem Nächsten erschüttert wird.“431 Gregor eröffnet damit – der Adressatenschaft der Evangelienhomilien entsprechend – der gesamten Gemeinde einen Heilsweg, der bisher allein den „religiösen Hochleistungssportlern“ offenstand. Die tätige Nächstenliebe ist eine „demokratisierte“ Form des gottgefälligen Lebens, das ansonsten lediglich die Elite der Asketen führte. Beide Werke, Askese und Nächstenliebe sind allerdings aufeinander angewiesen. Das eine ist ohne das andere unvollständig.432 Darüber hinaus stuft der römische Bischof die Askese der tätigen Nächstenliebe gegenüber sogar ab, schließlich seien die Werke der Barmherzigkeit besser zur Buße geeignet als alle anderen Taten.433 Letztendlich wird die Askese als ein Werk unter vielen anderen beschrieben, das nicht mehr deren Spitze einnimmt. Wichtiger erscheint Gregor vielmehr die das Gemeinwesen schützende Armenversorgung, gerade in den Notlagen seiner Zeit. 428 „[…] sancta ecclesia, electorum floribus plena, habet in pace lilia, in bello rosas.“ Greg.‑M. Hom. eu. II, 35, 8 (CCSL 141, 329, 229 f.). Gregor übernimmt hier fast wörtlich eine Formulierung Cyprians, vgl. Cyp. ep. 10, 5 (CCSL 3B, 55, 113); zur Metaphorik der Lilien und Rosen vgl. Rush, Martyrdom, 585. 429 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 27, 3 (CCSL 141, 231, 49–60). 430 Vgl. Kap. 5.1.1. 431 „Duobus etenim modis crux tollitur, cum aut per abstinentiam afficitur corpus, aut per compassionem proximi affligitur animus.“ Greg.‑M. Hom. eu. II, 32, 3 (CCSL 141, 280, 68–70); zur compassio als Tugend und Werk vgl. Kap. 5.3.3.3 und 5.6.2.2. 432 „Unserem Erlöser aber kann das eine ohne das andere keineswegs gefallen, wenn derjenige, der Gutes tut, den Schmutz der Genusssucht bisher nicht hinter sich lässt oder wenn derjenige, der durch Keuschheit hervorragt, sich aber noch nicht in guten Werken übt.“ (Redemptori etenim nostro unum sine altero placere nequaquam potest, si aut is qui bona agit adhuc luxuriae inquinamenta non deserit, aut is qui castitate praeeminet necdum se per bona opera exercet.) Greg.‑M. Hom. eu. I, 13, 1 (CCSL 141, 90, 19–22). Die Überzeugung, dass asketische Übungen wie das Fasten erst durch Almosen vollendet werden, die Gregor bereits in der Pastoralregel geäußert hatte, begegnet auch in den Evangelienhomilien, vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 16, 6 (CCSL 141, 114, 117–115, 148). 433 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 20, 11 (CCSL 141, 162, 220–222), vgl. bereits 2 Clem 16, 4 (Funk 77, 5–9) und Leo-M. Serm. 10, 2 (CCSL 138, 42, 66–44, 89).
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Die Mönche hingegen weist er in die Schranken, ihr vermeintlicher spiritueller Vorsprung soll keinesfalls zu Hochmut verleiten. Deutlich stärker als in seinem Hoheliedkommentar bindet er sie nun in sein Gemeindekonzept ein und erinnert sie an ihre Verantwortung für die christliche Gemeinschaft.434 Zudem sind auch sie selbst auf die Unterstützung anderer angewiesen.435 In den Evangelienhomilien spricht Gregor entweder äußerst abstrakt von Entsagung oder konkret von solchen Askeseformen, die nicht zwangsläufig eine monastische Lebensweise erfordern, sondern auch im weltlichen Kontext geübt werden können. Damit kann er durchaus die Gesamtheit seiner Hörer adressieren und nicht nur speziell den monastischen Stand.436 Insofern zeigt sich eine starke Fokussierung auf die Gemeinschaft trotz der oder gerade in den unterschiedlichen Lebensformen in der Gemeinde, der Gregor als Bischof vorsteht. Obwohl er für sich selbst den asketischen Weg gewählt hatte, stellt er diesen den anderen Weisen christlichen Lebens keinesfalls voran.
5.3.1.4 Feindesliebe Neben der Nächstenliebe mahnt Gregor seine Zuhörer zur ebenfalls von Christus gebotenen Feindesliebe.437 Sein Grundsatz ist dabei: „Wahre Liebe ist es aber, sowohl den Freund in Gott, als auch den Feind wegen Gott zu lieben.“438 Während die Liebe zum Freund keinen externen Grund benötigt, so ist die Liebe zum Widersacher als Gott geschuldet anzusehen, obwohl sie für den menschlichen Verstand nicht nachvollziehbar ist. Ihre Grenzen findet die Feindesliebe, wenn der Kontrahent für den Christen ein Hindernis auf dem Weg zu Gott darstellt oder ihn zu Bösem verleiten will. Dann ist dem Gegner nicht mit Liebe, sondern mit Hass zu begegnen, der sich wiederum als Liebe erweisen kann, wenn er den Feind auf den rechten Pfad zurückführt.439 Gregors Ausführungen zur Feindesliebe sind fast alle geprägt von der Dialektik von Liebe und Hass. Die Feindesliebe bewahrt die vera dilectio und verhindert auf der anderen Seite den Zuwachs an Hass.440 Ausschlaggebend für die 434 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 20, 13 (CCSL 141, 167, 342–347); zu Gregors der paulinischen Ekklesiologie verpflichtetem Gemeindebild s. Kap. 5.3.3 und 5.6.3.3. 435 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 20, 13 (CCSL 141, 166, 310–314). 436 Dies betont auch Rush, Martyrdom, 587, wenn er unterstreicht, dass Gregor nur in denjenigen Werken die Askese als Martyriumsalternative beschreibt, die sich an das gesamte Volk und nicht nur an asketische Kreise richteten. Vgl. auch Müller, B., Monasticism, 99. 437 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 9, 6 (CCSL 141, 63, 120 f.); II, 27, 1 f. (CCSL 141, 229, 1–231, 48); II, 38, 11 (CCSL 141, 370, 276–371, 305). 438 „Caritas autem uera est et amicum diligere in Deo, et inimicum diligere propter Deum.“ Greg.‑M. Hom. eu. I, 9, 6 (CCSL 141, 63, 120 f.), vgl. ebenso Greg.‑M. Hom. eu. II, 27, 1 (CCSL 141, 230, 13 f.); II, 38, 11 (CCSL 141, 371, 286 f.); Greg.‑M. Mor. XXII, 22 (CCSL 143A, 1108, 6–8); Greg.‑M. Hom. Ez. I, 10, 9 (CCSL 142, 148, 140 f.), vgl. Müller, A., Caritas, 38. 439 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 37, 2 (CCSL 141, 348, 28–349, 44). 440 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 27, 2 (CCSL 141, 230, 24–231, 48).
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wahre Liebe propter Deum ist der Aspekt, dass sie keine Gegenliebe erwartet. Denn gerade in der Konfrontation mit dem Hass des Gegenübers kann sie sich beweisen. Erst wenn dieser mit Liebe beantwortet wird, selbst auf die Gefahr hin, dass sie nie erwidert werden wird, ist das Gebot der Feindesliebe erfüllt. Dann ist – mit Mt 22,11 gesprochen – das Hochzeitsgewand angelegt, um im himmlischen Festsaal bleiben zu dürfen.441 Neben der voraussetzungslosen Hingabe zeichnet sich die Feindesliebe durch tolerantia aus. In gut augustinischer Tradition442 geht Gregor von der Kirche als corpus permixtum aus, in der sich zugleich Gute und Böse versammeln.443 Letztere werden erst am Jüngsten Tag ausgeschlossen werden und sind solange von den Guten zu erdulden.444 „Denn wer die Bösen nicht toleriert, der ist sich selbst durch seine Intoleranz ein Zeuge dafür, dass er nicht gut ist.“445 Als Bischof von Rom war ihm daran gelegen, den Frieden in der Gemeinde zu bewahren. Daher fordert er die Predigthörer zur gegenseitigen tolerantia statt Streitsucht und Rechthaberei auf. Diese Intention steht sicher auch hinter der Aussage, dass das Gebot der Feindesliebe es verbiete, für den Tod des Feindes zu beten.446 Gregor versucht mit seinem Predigen über die Feindesliebe in der Gemeinde für Ruhe zwischen den unterschiedlichen Gruppierungen zu sorgen. Vielleicht bildete auch hier ein Konflikt zwischen Asketen und Laien den Anstoß. Haben erstere Unfrieden gestiftet, weil sie die weltliche Lebensweise der anderen Christen kritisierten oder gar verurteilten? In diesem Falle wäre Gregors Rezeption der corpus-permixtum-Vorstellung, die ansonsten nicht so recht zu seiner Lehre von der zu jeder Zeit möglichen conversio passen mag,447 als Besänftigung möglicher Eiferer zu werten. Von der Feindesliebe schließt er hingegen die Häretiker aus: Wer die Christen vom rechten Glauben weg- und aus der Gemeinschaft der Kirche hinausführen will, stellt ein Hindernis auf dem Weg zu Gott dar und verdient ausschließlich Hass. In erster Linie ist hier an die istrischen und norditalischen Schismatiker 441
Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 38, 11 (CCSL 141, 371, 287–296). Vgl. Kap. 4.4 und Lamirande, Emilien, Art.: Corpus Permixtum, AugL 2 (2002), 21 f. 443 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 38, 7 (CCSL 141, 365, 136–142), vgl. Kap. 5.3.3.1 sowie Fiedrowicz, Kirchenverständnis, 281–296. 444 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 24, 3 (CCSL 141, 198, 38–199, 61); II, 38, 7 (CCSL 141, 365, 142–149). Durch die Aufnahme der augustinischen Ekklesiologie steht hier eine Prädestinationsvorstellung im Vordergrund, die bei Gregor ansonsten eher zurücktritt. Insofern muss es nicht überraschen, dass er an dieser Stelle nicht auf die Möglichkeit der Bekehrung durch Verkündigung zu sprechen kommt. Vielmehr kommt es ihm in diesem Kontext auf die Toleranz an, die als Erkennungszeichen für Heiligkeit dienen kann. 445 „Nam quisquis malos non tolerat, ipse sibi per intolerantiam suam testis est quia bonus non est.“ Greg.‑M. Hom. eu. II, 38, 7 (CCSL 141, 365, 149–151). 446 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 27, 7 (CCSL 141, 235, 162–170). 447 Zu Gregors Lösung dieses Widerspruches mithilfe einer Modifikation der klassischen augustinischen corpus permixtum-Vorstellung s. Kap. 5.3.3.1. 442
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zu denken, die sich fortdauernd weigerten, in die Mehrheitskirche zurückzukehren.448
5.3.1.5 Liturgische Formen der Nächstenliebe Zuletzt soll noch ein Blick auf Taten der Nächstenliebe im liturgischen Kontext geworfen werden. Wichtig ist dabei vor allem der Aspekt der „dritten Person“. Im Fokus sollen also vor allem Handlungen stehen, die im Interesse eines anderen an Gott gerichtet werden. Nicht der in Sünde oder äußere Not geratene Mensch wendet sich selbst im Ritus an Gott, sondern der Bischof bzw. eine andere Person, die dem Bedürftigen persönlich nahestehen. Zu diesen Handlungen sind neben dem klassischen Bereich der Messfeier Gebete sowie die kirchliche Buß- und Absolutionspraxis zu zählen. Michael Fiedrowicz ist in seiner Beobachtung zuzustimmen, dass „die sakramentalen Vollzüge, im heutigen Sinne des Wortes, bei Gregor im Vergleich zur Verkündigung nur geringen Raum einnehmen“449. Sie werden vom römischen Bischof zumeist nur beiläufig erwähnt. So richtet er in den exempla-Erzählungen den Fokus vornehmlich auf die der konkreten Handlung zugrundeliegende Tugend. Nichtsdestotrotz können auch liturgische Vollzüge Werke der Nächstenliebe darstellen, insofern sie den Nutzen des oder der Mitmenschen intendieren, wie dies etwa bei der Bußpraxis der Fall ist.450 Diese lässt sich im ausgehenden 6. Jahrhundert für die westliche Kirche nur schwer greifen. Das öffentliche Bußverfahren der paenitentia publica mit zeitlich befristetem Ausschluss aus der Gemeinde war nur noch formal in Geltung,451 die Praxis der Privatbeichte war lediglich in monastischen Kontexten bekannt452 und etablierte sich im weltlichen Bereich erst im Rahmen der iroschottischen Mission des folgenden Jahrhunderts.453 Insofern ist nicht zweifelsfrei zu klären, welchen Ritus Gregor vor Augen hat, wenn er von der Praxis 448
Vgl. Kap. 2.2 und 6.3.2.1. Fiedrowicz, Kirchenverständnis, 146. 450 Gregor unterstreicht diesen Aspekt der den Jüngern verliehenen Binde- und Lösegewalt explizit: „Man muss aber wissen, dass diese, die bereits vorher den Heiligen Geist hatten, um selbst unschuldig zu leben und auch in der Verkündigung einigen zu nutzen, ihn deshalb nach der Auferstehung des Herrn offenbar empfangen haben, um nicht wenigen, sondern vielen nutzen zu können.“ (Sciendum uero est quod hi qui prius Spiritum sanctum habuerunt, ut et ipsi innocenter uiuerent, et in praedicatione quibusdam prodessent, idcirco hunc post resurrectionem Domini patenter acceperunt, ut prodesse non paucis, sed pluribus possent.) Greg.‑M. Hom. eu. II, 26, 4 (CCSL 141, 221, 83–87), vgl. auch Kap. 5.2.1.1. 451 Vgl. Ohst, Buße, 1913 f. Bei gravierenden Verstößen gegen die kirchliche Ordnung schloss Gregor allerdings Einzelpersonen zeitlich befristet oder bis zum Tag des Todes von der Kommunion aus. Kleriker, die sich etwas zuschulden kommen ließen, verbannte er zusätzlich in Klöster, vgl. Kap. 6.2.1 und Müller, B., Führung, 179; Müller, B., Monasticism, 97 f. 452 Vgl. Ben. Reg. 7, 44 (CSEL 25, 48). 453 Vgl. Ohst, Buße, 1914. 449
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„des Bindens und Lösens“454 spricht.455 Im Folgenden muss daher die Frage nach dem konkreten Ritus außer Acht gelassen werden. Der 26. Homilie des Papstes ist lediglich zu entnehmen, dass ausschließlich die Bischöfe die Macht zur Sündenvergebung haben.456 In Antizipation des himmlischen Gerichtes und „in Vertretung Gottes“457 müssen sie die Reue und Bußleistung jedes Einzelnen prüfen, bevor sie die Sündenschuld lösen oder eben auch binden. Gregor kritisiert nachdrücklich, dass die Beurteilung in der Realität mitunter auf Grundlage von persönlicher Sympathie oder Abneigung erfolgt.458 Dabei sollten ausschließlich die aktuellen „Situationen“459 betrachtet werden, um das göttliche Urteil zu ergründen.460 Durch diesen Gedanken wird deutlich, dass das eigentliche Subjekt der Sündenvergebung Gott selbst und nicht der Bischof ist. Dieser verkündet im Grunde genommen lediglich den Richtspruch, der himmlisch bereits getroffen ist.461 Gregor mahnt also die Bischöfe, aufrichtig Reumütige von ihrer Sündenschuld loszusprechen und ihnen so die Rückkehr auf den Weg zu Gott zu ermöglichen. Die Gläubigen verpflichtet er im Gegenzug auf das episkopale Urteil trotz des möglichen Irrtums oder Missbrauchs,462 um die Autorität des Amtes und die Ordnung in der Gemeinde zu schützen. Als weiterer liturgischer Vollzug ist die Messfeier zu beachten.463 Ebenso wie das Almosen versteht Gregor sie als menschliches Werk, das den himmlischen Richter gnädig stimmen soll: „Lasst uns zu diesem als Gesandtschaft unsere Tränen schicken, lasst uns Werke der Barmherzigkeit schicken, lasst uns auf seinem Altar die Opfer der Versöhnung darbringen, lasst uns erkennen, dass wir mit ihm im Gericht nicht bestehen können“464. Die Heilswirkung der Messe ist in der Erneuerung des Kreuzesopfers Christi begründet. Durch die Wiederholung
454
„Soluendi ac ligandi“ Greg.‑M. Hom. eu. II, 26, 5 (CCSL 141, 222, 98 f.). Fiedrowicz, Kirchenverständnis, 142 f. Paul Galtier votiert für eine bereits ausgeformte Privatbeicht-Praxis, vgl. Galtier, Paul, A propos de la pénitence primitive. Méthodes et conclusions, RHE 30 (1934), 517–557.797–846, hier: 840. 456 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 26, 5 (CCSL 141, 222, 98 f.). 457 „[…] uice Dei“ Greg.‑M. Hom. eu. II, 26, 4 (CCSL 141, 221, 93). 458 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 26, 5 (CCSL 141, 222, 104–115). 459 „Causae“ Greg.‑M. Hom. eu. II, 26, 6 (CCSL 141, 222, 116). 460 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 26, 6 (CCSL 141, 222, 116–223,133). 461 Mit Galtier, Pénitence, 536–539, aber gegen Fiedrowicz, FC 28/2, 482, Anmerkung 11, der das göttliche Handeln allein im Anstoß zur Umkehr sieht. 462 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 26, 6 (CCSL 123, 144–154). 463 Zur frühkirchlichen Verbindung von Liturgie und Diakonie vgl. Theobald, Michael, Eucharistie als Quelle sozialen Handelns. Eine biblisch frühkirchliche Besinnung, BThSt 77, Neukirchen-Vluyn 2012. 464 „Mittamus ad hunc legationem lacrimas nostras, mittamus misericordiae opera, mactemus in ara eius hostias placationis, cognoscamus nos cum eo in iudicio non posse contendere“ Greg.‑M. Hom. eu. II, 37, 7 (CCSL 141, 354, 165–169). 455 Vgl.
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dieses Opfers erwirkt der Zelebrant465 eine Erneuerung der Sündenvergebung, der absolutio.466 Allerdings können nicht nur Personen, die ihren Dienst am Altar vollbringen, Gott auf diese Weise gnädig stimmen, sondern auch jeder andere Christ durch die Stiftung der Messfeier. So erzählt Gregor von einer vermeintlichen Witwe, die vom Tod ihres verschleppten Ehemannes überzeugt war und daher für ihn wöchentlich eine Messe lesen ließ.467 Nach seiner überraschenden Rückkehr berichtet der Mann, dass seine Ketten just zu den Zeiten der Messen gelöst worden sind. Diese diesseitige Wunderwirkung wertet der römische Bischof als Beweis für das jenseitige Heil, das für Messfeiern zu erwarten sei.468 Es dürfte deutlich geworden sein, dass der Schwerpunkt beim Abendmahl für Gregor nicht auf der Kommunion, der aktiven Teilnahme,469 liegt, sondern auf dem Opfervollzug, der stellvertretend zum Nutzen eines anderen geleistet werden kann.470 Häufiger als ein Bußritual und die Abendmahlsfeier wird in den Evangelienhomilien hingegen das Fürbittgebet erwähnt.471 Dieses fügt sich durch seine individuelle Natur gut in Gregors persönliche Ausrichtung von Verkündigung und pastoralem Dienst ein. Wie die Verkündigung am Einzelnen mit seinen Bedürfnissen und Begabungen ausgerichtet sein soll, wird ebenso das Gebet zumeist aus aktuellem Anlass und mit konkreter Bitte formuliert.
465
Dass Gregor die Messe als menschliches Opferwerk betrachtet, wird daraus ersichtlich, dass er konsequent in der 1. P. formuliert, vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 37, 7 (CCSL 141, 354, 165–178). 466 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 37, 7 (CCSL 141, 354, 173–178). 467 Aus der Formulierung pro quo iam uelut mortuo offerre geht hervor, dass es bereits zu dieser Zeit üblich war, für Verstorbene Messen lesen zu lassen. Insofern sollte nicht Gregor als Impulsgeber für diese Praxis angesehen werden, so Angenendt, Arnold, Missa specialis. Zugleich ein Beitrag zur Entstehung der Privatmessen, FMSt 17 (1983), 153–221, hier: 195–203, besonders 200 f. Albert Häussling sieht die Schriften Gregors durchaus als Zeugnis der Praxis seiner Zeit, betrachtet dann aber nur seine Wirkung auf die nachfolgenden Generationen, vgl. Häussling, Mönchskonvent, 278–280. Eine ähnliche Praxis belegt bereits eine traditionell Kyrill von Jerusalem zugeschriebene mystagogische Katechese, vgl. Cyr. H. Catech. myst. V, 10 (SC 126, 158, 1–160, 13). 468 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 37, 8 (CCSL 141, 354, 179–194). Auffällig ist, dass in der Erzählung ausschließlich die Ehefrau als Akteurin begegnet, von dem zelebrierenden Bischof ist nicht die Rede. Der Fokus liegt auf dem Werk, für das die Gattin als Auftraggeberin Verantwortung trägt. 469 Die partizipative Abendmahlsfrömmigkeit im Volk hatte bereits seit dem 4. Jahrhundert stark abgenommen, vgl. Markschies, Christoph, Art.: Abendmahl II. Kirchengeschichtlich 1. Alte Kirche, RGG4 1 (1998), 15–21, hier: 20 und Fiedrowicz, Kirchenverständnis, 144. 470 Als Sonderform der Kommunion erwähnt Gregor nur äußerst am Rande die Praxis des viaticum, das dem Sterbenden als Wegzehrung gereicht wurde, vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 40, 11 (CCSL 141, 409, 410). 471 Vgl. etwa Greg.‑M. Hom. eu. I, 17, 18 (CCSL 141, 132, 410 f.); I, 19, 7 (CCSL 141, 150, 180–151, 201); II, 38, 16 (CCSL 141, 377, 456–378, 482).
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Neben den bischöflichen preces erwähnt der Papst insbesondere Gebete für Sterbende. Gleich in zwei Homilien berichtet er von den Geschehnissen am Krankenbett eines äußerst unvollkommenen jungen Mönches. Dieser wird im Angesicht des Todes von einem Drachen bedrängt und angegriffen. Den herbeigeeilten Brüdern gelingt es durch inbrünstige orationes, den Drachen zu verscheuchen und den Knaben zurück ins Leben zu holen.472 In der Darstellung Gregors zieht der junge Mönch aus den Gebeten der Brüder gleich doppelten Gewinn: Zusätzlich zur Rettung aus der akuten Not wird in ihm zudem tiefe Reue geweckt, so dass er eine aufrichtige conversio vollzieht und von nun an ein vorbildliches Asketenleben führt. Damit fallen in dieser Geschichte beide möglichen Perspektiven der Nächstenliebe zusammen: die Sorge sowohl um das leibliche als auch das geistliche Wohl. Damit Gebete überhaupt von Gott erhört werden, muss der Beter sie aus echter Liebe heraus sprechen. Erst diese verleiht ihnen Wirkung.473 Ein halbherziges Lippenbekenntnis ist nicht ausreichend, vielmehr müssen Herz und Geist aufrechte Liebe empfinden.474 Liturgische Vollzüge geschehen zum Nutzen des Mitmenschen oder werden mit dieser Absicht in Auftrag gegeben. Daher sind auch sie als Werke der Nächstenliebe zu bezeichnen, selbst wenn Gregor dies nicht immer explizit tut. Der Gewinn für den Nächsten kann sich dabei, wie beobachtet, sowohl auf leibliche als auch auf seelisch-geistliche Bedürfnisse beziehen. Allerdings bliebe sich der römische Bischof nicht treu, schränkte er den Nutzen nicht auch der Liturgie wieder dadurch ein, dass er ihn an die Übung guter Werke bindet: „Aber die empfangenen Sakramente unseres Erlösers allein genügen nicht zur wahren Feier des Geistes, wenn nicht auch ihnen gute Werke hinzugefügt werden.“475 Wie die Askese ordnet Gregor auch die liturgischen Vollzüge dem Almosen unter, das gerade in der aktuellen Notlage für die Versorgung der kirchlichen und städtischen Gemeinschaft eine große Bedeutung besaß. Insofern ist diese Hierarchisierung durch den pragmatischen Consul Dei476 nachzuvollziehen.477 472 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 19, 7 (CCSL 141, 150, 180–151, 213); II, 38, 16 (CCSL 141, 377, 456–378, 482). 473 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 27, 8 (CCSL 141, 236, 192). 474 „Aber weil der innere Richter eher den Geist als das Wort beachtet, erbittet derjenige für den Feind nichts, der für ihn nicht aus Liebe betet.“ (Sed quia internus iudex mentem potius quam uerba considerat, pro inimico nihil postulat, qui pro eo ex caritate non orat.) Greg.‑M. Hom. eu. II, 27, 8 (CCSL 141, 236, 199–237, 201). Zum Gedanken der Liebe als Grundethos, vgl. Kap. 5.2.3. 475 „Sed sola Redemptoris nostri percepta sacramenta ad ueram sollemnitatem mentis non sufficiunt, nisi eis quoque et bona opera iungantur.“ Greg.‑M. Hom. eu. II, 22, 8 (CCSL 141, 187, 182–184). 476 Mit diesem Titel auf der Grabinschrift Gregors wird Gregors Sorge für die Versorgung der Stadt und der Kirche Roms gewürdigt, vgl. ILCV 990 (Diehl I, 187). 477 Ähnliche Aussagen zur Abhängigkeit der Tugenden vom Almosengeben sind bei
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5.3.2 Theologische Begründungen tätiger Nächstenliebe 5.3.2.1 Grundtexte der tätigen Nächstenliebe Im Gegensatz zu den vorangegangenen Schriften, die mit dem Kreis der Andreas-Mönche bzw. dem Klerus jeweils ein konkretes und zudem gebildetes478 Publikum ansprachen, richtet sich Gregor in seinen Evangelienhomilien an einen breiten, vielfältig gemischten Ausschnitt aus der Gemeinde. Darauf stellt sich der Papst insofern ein, als er eine schlichtere, rhetorisch weniger ausgefeilte Sprache wählt und auf anspruchsvolle allegorische Deutungen verzichtet.479 Wenn er doch einmal auf die allegorische Sinnebene eines Bibelverses abzielt, so leitet er den Gedanken zumeist explizit ein.480 Bei seiner Hörerschaft kann der römische Bischof weder Bildung in klassischer Rhetorik annehmen noch fundierte Kenntnisse der biblischen Texte.481 In Bezug auf das Thema der Nächstenliebe ist das besonders offensichtlich. In der Regula Pastoralis hat er nur implizit auf das Doppelgebot der Liebe verwiesen und es somit als bekannt vorausgesetzt. In den Evangelienhomilien hingegen führt er diesen Text ausdrücklich als biblisches Gebot an482 und zitiert ihn in gleich zwei Predigten.483 Wahrscheinlich begegneten die Zuhörenden diesem zentralen Text nicht zum ersten Mal. Dennoch waren die Gemeindeglieder nicht in vergleichbarer Weise mit biblischen Texten vertraut wie die Bischofskollegen oder die Mönche des Andreasklosters. In der Predigtsammlung wird das Doppelgebot zum ersten Mal im gregorianischen Œuvre explizit ausgeführt. Offensichtlich will Gregor diesen Text der Gemeinde ins Gedächtnis rufen – sei es als Erst-
regors Vorgänger auf der sedes Petri zu finden, vgl. Leo-M. Serm. 10 (CCSL 138, 40, 27–44, G 89). 478 Seit dem 4. Jahrhundert war die klassische Bildung Teil des westlichen Bischofsideals, das in Teilen auch noch zu Gregors Zeiten Geltung hatte, vgl. Gemeinhardt, Christentum, 276–306.493 f. und Scheibelreiter, Georg, Der Bischof in merowingischer Zeit, VIÖG 27, Wien et al. 1983, 51–98. Zur deutlich schlechteren Bildung des übrigen Klerus der Zeit, vgl. Krause, Jens-Uwe, Überlegungen zur Sozialgeschichte des Klerus im 5./6. Jh. n. Chr., in: ders. et al. (Hgg.), Die Stadt in der Spätantike – Niedergang oder Wandel?, Hist.E190, Stuttgart 2006, 413–439, hier: 435. 479 Vgl. Fiedrowicz, Einleitung, 32 f. 480 Dafür nutzt er Formulierungen wie inter haec sciendum est, vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 38, 12 (CCSL 141, 372, 315) oder bene dicitur, vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 31, 7 (CCSL 141, 274, 128 f.). 481 Diese waren nicht einmal für den höheren Klerus vorauszusetzen, wie ein Brief Gregors belegt, der seine Ablehnung eines Presbyters mit dessen mangelnder Psalmenkenntnis begründete, vgl. Greg.‑M. Ep. V, 51 (CCSL 140, 345, 8–16). 482 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 26, 3 (CCSL 141, 220, 55 f.), auf diesen Abschnitt nimmt Gregor in einer späteren Homilie noch einmal Bezug, vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 30, 10 (CCSL 141, 267, 296–268, 316). 483 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 20, 11 (CCSL 141, 162, 213 f.); II, 38, 10 (CCSL 141, 369, 241–244).
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begegnung oder zum wiederholten Male, gemäß der didaktischen Regel repetitio est mater studiorum. Es ist auffällig, dass Gregor mit diesem Text entweder zu einem ausgewogenen Gleichgewicht von Gottes- und Nächstenliebe auffordert (II, 26, 3; II, 30, 10; II, 38, 10) oder dezidiert nur die Nächstenliebe in den Blick nimmt (I, 20, 11).484 Für die Mahnung zur Gottesliebe hingegen nutzt er ihn in der Volkspredigt nie. Ebenso münden die Argumentationsgänge zum Gleichgewicht beider Liebesformen stets in der Aufforderung zu konkreten Taten der Nächstenliebe, wie im Durchgang der einzelnen Stellen zu zeigen sein wird. Die 20. Homilie legt die Predigt des Täufers aus, die in Lk 3,11 zur Spende von Speisen und Gewändern auffordert. Diese Mahnung greift Gregor auf und warnt davor, dass Selbstliebe die Nächstenliebe übersteigt. Denn erst wenn auch das Nötigste – die Gewänder – mit dem Mitmenschen bereitwillig geteilt wird, wird nicht mehr das eigene Interesse demjenigen des Nächsten vorangestellt. Im Anschluss verweist der römische Bischof auf die Sühnewirkung der Almosengabe, bevor er ausgiebig auf die verschiedenen Lebensformen in der Gemeinde und ihr reziprokes Angewiesensein aufeinander zu sprechen kommt.485 Das Doppelgebot, von dem hier lediglich die zweite Hälfte zitiert wird, dient zur Auslegung der Täuferpredigt und soll das rechte Maß der Spendenbereitschaft bestimmen. Im dritten Abschnitt der 26. Homilie rezipiert Gregor z. T. wörtlich eine Himmelfahrtspredigt Augustins.486 Dieser erklärt darin die Auffälligkeit, dass der Auferstandene seinen Jüngern nach Joh 20,22 den Geist spendet und ihn nach Apg 1,8 im Moment der Himmelfahrt erneut zusagt, was sich am Pfingsttag dann erfüllte. Während Augustin die Epistel des Festtages auslegt und auf die erste Geistspendung nach dem Johannesevangelium lediglich zurückgreift, wirkt das Thema in der römischen Homilie über Joh 20,19–31, die am Sonntag nach Ostern gehalten wurde, seltsam aus der Luft gegriffen. Der Kontext der Himmelfahrt bzw. des Pfingstfestes ist schwer nachzuvollziehen und wird von Gregor nur knapp hergestellt: Er benennt die zweifache Geistspendung „nun, wenn er [scil. der Heilige Geist] durch Einhauchung empfangen wird, und später, wenn er vom Himmel kommend in verschiedenen Sprachen offenbart wird.“487 Offensichtlich richtet sich Gregors Interesse weniger auf das exegetische Problem der zweifachen Geistgabe als vielmehr auf die augustinische Verknüpfung mit dem Doppelgebot der Liebe. So wie der Geist einmal auf Erden und einmal vom Himmel her gespendet wurde, müssen der Nächste auf Erden und Gott 484
An dieser Stelle zitiert er auch nur die zweite Hälfte des Doppelgebots. S. dazu Kap. 5.3.3.1. 486 Vgl. Aug. s. 265, 8 f. (PL 38, 1222 f.). 487 „[…] nunc cum per insufflationem percipitur, et postmodum cum de caelo ueniens in linguis uariis demonstratur“ Greg.‑M. Hom. eu. II, 26, 3 (CCSL 141, 220, 52 f.). 485
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im Himmel geliebt werden.488 Diese Mahnung zu einem ausgeglichenen Verhältnis von actio und contemplatio ist dem römischen Bischof bekannterweise ein zentrales Anliegen. Außerdem zielt er mit der Thematisierung der Geistgabe im Folgenden auf die damit verbundene Binde- und Lösegewalt der Jünger und ihrer Nachfolger.489 Die Lossprechung von Sünden stellt, wie bereits beobachtet,490 eine Form der tätigen Nächstenliebe dar. Im letzten Abschnitt der 30. Predigt greift Gregor erneut auf das Thema der doppelten Geistgabe und die Verknüpfung mit dem Doppelgebot zurück. Allerdings ist ihm an dieser Stelle weniger am Ausgleich von Gottes- und Nächstenliebe gelegen. Er nimmt vielmehr den Gedanken des augustinischen ordo faciendi491 auf und zeichnet die Nächstenliebe als Lernhilfe für die Gottesliebe.492 „[W]eil der auf Sichtbares konzentrierte Geist den Unsichtbaren nicht sehen kann,“493 ist er einerseits auf die Verkündigung Gottes in Worten und Taten der Christen angewiesen.494 Andererseits ermöglicht ihm die Nächstenliebe, sich auch in der Gottesliebe einzuüben. Beide Lieben sind nicht voneinander zu trennen, mit 1 Joh 4,20 ist auch die Gottesliebe aufs Engste an den mitmenschlichen Kontext gebunden.495 Obwohl Gregor zu beiden Teilen des Doppelgebots aufruft, so fordert er an dieser Stelle doch hauptsächlich zur Nächstenliebe auf: „Lasst uns also den Nächsten lieben, Brüder, lasst uns den lieben, der neben uns ist, damit wir zur Liebe dessen gelangen können, der über uns ist.“496 Die Gottesliebe stellt vorerst nur das Fernziel dar. Auch im vierten und letzten Textabschnitt, der das Doppelgebot thematisiert, unterstreicht Gregor, dass Gottes- und Nächstenliebe nicht voneinander zu trennen sind. Hierfür zitiert er den biblischen Text in voller Länge und erläutert anschließend beide Teile.497 Dafür legt der Papst in allegorischer Weise sowohl die zwei Ellen messende Vorhalle des Tempels nach Ez 40,9 aus als auch den 488 Vgl. Aug. s. 265, 9 (PL 38, 1222 f.) und Greg.‑M. Hom. eu. II, 26, 3 (CCSL 141, 220, 48–62). 489 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 26, 3–6 (CCSL 141, 220, 62–223, 154). 490 Vgl. Kap. 5.3.1.5. 491 Vgl. Aug. Io. eu. tr. 17, 8 (CCSL 36, 174, 1–175, 33) sowie Aug. mor. 1, 48 (CSEL 90, 52, 19–53, 9) und Kap. 4.4. 492 Vgl. Greg.‑M. Past. III, 13 (SC 382, 334, 4–336, 30); III, 23 (SC 382, 418, 73–80) und Kap. 5.2.2.3. 493 „[…] quia mens uisibilibus intenta uidere nescit inuisibilem“ Greg.‑M. Hom. eu. II, 30, 10 (CCSL 141, 266, 272 f.). 494 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 30, 10 (CCSL 141, 266, 273–267, 295). 495 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 30, 10 (CCSL 141, 267, 296–268, 316), vgl. auch Greg.‑M. Hom. eu. II, 26, 3 (CCSL 141, 220, 58–60); Greg.‑M. Past. III, 13 (SC 382, 334, 4–336, 30); III, 23 (SC 382, 418, 73–80); s. dazu Kap. 5.2.2.3. 496 „Diligamus ergo proximum, fratres, amemus eum qui iuxta nos est, ut peruenire ualeamus ad amorem illius qui super nos est.“ Greg.‑M. Hom. eu. II, 30, 1 (CCSL 141, 268, 306 f.). 497 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 38, 10 (CChr SL 141, 369, 241–250).
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zweifach gefärbten Scharlach für den Teppich der Stiftshütte in Ex 26,1.498 Explizit jeden „Menschen, der unter Menschen lebt,“499 ermahnt Gregor zur vita mixta. Im Folgenden widmet er sich wieder intensiv der Nächstenliebe. Diese sieht er in den zwei Formen der Goldenen Regel500 näher bestimmt.501 Deren Auslegung findet ihre Zielpunkte schließlich in den Ausführungen zur Feindesliebe502 bzw. zur Armenspeisung und zum Krankenbesuch als Beispielen für gute Werke.503 Auch in der 17. Homilie, die Gregor ausschließlich vor Mitbischöfen hielt, spricht er das Thema der doppelten Liebe an, allerdings in deutlich knapperer Form und ohne expliziten Verweis auf den biblischen Text.504 Bei dem elitären Publikum, das in weiten Zügen der Adressatenschaft der Pastoralregel entsprechen dürfte, konnte er diesen voraussetzen. Nachdem er seine Koepiskopen im zehnten Abschnitt der Predigt eindringlich zu aufrichtiger Selbstprüfung und tiefer Reue aufgefordert hat,505 greift Gregor erneut die Bestimmung für doppeltgefärbten Scharlach in der Stiftshütte auf, den er wie gewohnt als Bild für die Gottes- und die Nächstenliebe deutet. Interessanterweise setzt er die Gottesliebe hier aber mit der persönlichen Reue und sogar der Selbstliebe gleich: „Es ist nämlich geboten, für den Schmuck des Zeltes zweifach gefärbten Scharlach darzubringen, damit unsere Liebe vor Gottes Augen durch die Gottes- und Nächstenliebe gefärbt ist. Jener aber liebt wahrhaft sich selbst, der in reiner Weise den Schöpfer liebt. Dann also ist der Scharlach zweifach gefärbt, wenn der Geist in Bezug auf sich und den Nächsten von der Liebe der Wahrheit entflammt wird.“506
Während die Nächstenliebe an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt wird,507 widmet sich Gregor ausführlich der Bestimmung der Gottesliebe. Diese sieht er 498 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 38, 10 (CCSL 141, 369, 252–370, 272). Die Deutung des zweifach gefärbten Scharlachs auf das Doppelgebot verwendet Gregor auch in Greg.‑M. Past. II, 3 (SC 381, 186, 63–75); Greg.‑M. Hom. eu. I, 17, 11 (CCSL 141, 125, 234–239); Greg.‑M. Hom. Ez. II, 4, 3 (CCSL 142, 259, 62–260, 134); Greg.‑M. Mor. VI, 56 (CCSL 143, 326, 46–51); XXX, 24 (CCSL 143B, 1507, 54–57). 499 „[…] homo inter homines uiuens“ Greg.‑M. Hom. eu. II, 38, 10 (CCSL 141, 370, 272 f.). 500 Vgl. Tob 4,16 und Mt 7,12. 501 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 38, 11 (CCSL 141, 370, 276–371, 305). 502 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 38, 12 (CCSL 141, 371, 306–372, 321). 503 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 38, 13 (CCSL 141, 372, 322–373, 340). 504 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 17, 1 (CCSL 141, 116, 1–117, 7). 505 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 17, 10 (CCSL 141, 124, 194–125, 228), zu Gregors scharfer Kritik an den Bischöfen in dieser Homilie vgl. Müller, B., Führung, 161 f. 506 „In ornamento quippe tabernaculi bis tinctus coccus offerri praecipitur, ut ante Dei oculos caritas nostra Dei et proximi amore coloretur. Ille autem uere se diligit, qui pure diligit auctorem. Tunc ergo coccus bis tingitur, quando erga se et proximum ex amore ueritatis animus inflammatur.“ Greg.‑M. Hom. eu. I, 17, 11 (CCSL 141, 125, 234–239), vgl. auch Greg.‑M. Hom. Ez. I, 7, 22 (CCSL 142, 98, 494–99, 523). 507 Aus dieser Beobachtung darf keinesfalls der Schluss gezogen werden, dass Gregor den
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darin erfüllt, dass der Mensch sich seiner Sündhaftigkeit bewusst wird und sich auf Gott und dessen Gebote besinnt. Zur Verwendung des biblischen Doppelgebotes ist zusammenfassend festzuhalten, dass Gregor diesen Text an keiner Stelle ausschließlich für die Mahnung zur Gottesliebe anwendet. Entweder er fordert damit zur Nächstenliebe auf oder aber zu einer ausgewogenen vita mixta. Bei letzterem liegt aber ein deutlicher Schwerpunkt auf der Nächstenliebe. Die einzige Ausnahme stellt die Homilie vor den Bischöfen dar, die im entsprechenden Abschnitt eher auf die Gottesliebe abzielt. Allerdings nennt Gregor an dieser Stelle das Doppelgebot nicht explizit, sondern verweist nur mithilfe des von ihm häufig genutzten Bildes vom zweifach gefärbten Scharlach auf das Miteinander von Gottes- und Nächstenliebe. Insofern nimmt das Doppelgebot der Liebe in der Volkspredigt des römischen Bischofs den Rang eines Grundtextes für die Thematik der Nächstenliebe ein. Mit diesem leicht verständlichen Herrenwort verpflichtet der Papst seine Gemeinde auf die doppelte Form der Liebe und fordert sie zur konkreten, aktiven Unterstützung der Bedürftigen auf. Allerdings verweist er nirgends darauf, dass Christus dieses Doppelgebot an die Spitze aller Gebote gestellt hat. Die Tatsache, dass es eine biblische und damit göttliche Forderung ist, begründet ihre Autorität hinreichend. Eine weitere Hierarchisierung ist in der Einschätzung des römischen Bischofs nicht notwendig.508 Ein weiterer klassischer Referenztext für die christliche Wohltätigkeit, auf den Gregor in den bisher untersuchten Werken kaum zurückgegriffen hatte, gewinnt in den Evangelienhomilien an Bedeutung: die Endzeitrede in Mt 25,31– 46. In zwei exempla-Erzählungen nimmt er den Gedanken der Identifikation Christi mit den Geringsten auf. So berichtet er in der 23. Homilie509 von einem Hausherrn, der in großzügiger Gastfreundschaft Pilger510 in sein Haus aufnahm. Doch eines Tages entschwand ein peregrinus auf wundersame Weise, noch bevor der Hausherr ihm die Hände waschen konnte. In der folgenden Nacht erschien Christus dem Wohltäter und erklärte: „An den übrigen Tagen hast du mich in Klerus von der Nächstenliebe freispreche, zumal diese, besonders in der Form der Verkündigung, in den vorangegangenen Abschnitten der Homilie bereits ausführlich zur Sprache kam, vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 17, 2–8 (CCSL 141, 117, 13–123, 173). Insgesamt schwört der Papst seine Mitbischöfe mit dieser Predigt auf eine ausgeglichene vita mixta ein, da die Aufgaben als geistliche Führer sowohl aktive als auch kontemplative Momente umfassen. 508 Vgl. Kap. 5.2.2.1. 509 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 23, 2 (CCSL 141, 195, 40–51). Diese Erzählung übernimmt Johannes Diaconus in seiner Gregorsvita, lässt aber Gregor die Rolle des paterfamilias einnehmen, vgl. Joh.‑Diac. Vit. Greg. II, 22 (PL 75, 95). Ausnahmsweise lässt sich hier der Beginn einer Legendenbildung beobachten. 510 Der Begriff des peregrinus umfasst semantisch sowohl das Moment des Fremden als auch das des Pilgers, der sich aus religiösen Motiven in die Fremde begibt, vgl. Sternberg, Orientalium, 149 f. Der römische Bischof spielt mit beiden Ebenen des Wortes, wenn er ihm proprius gegenüberstellt, vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 23, 2 (CCSL 141, 195, 58).
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meinen Gliedern, am gestrigen Tag aber mich selbst aufgenommen.“511 Die Erzählung, die erkennbar auf Mt 25,40 basiert, erläutert Gregor seinen Zuhörern mit einem Zitat dieses Verses512 und dem Verweis auf das Jüngste Gericht. Aus dieser Perspektive ermahnt er sie abschließend, dem peregrino Christo513 Gastfreundschaft entgegenzubringen, „damit er [sie] im Gericht nicht wie Fremde nicht kennt, sondern sie als die Seinen ins Reich aufnimmt.“514 Auch die Erzählung in der 39. Homilie zielt auf den Identifikationsgedanken ab: Der Mönch Martyrius trägt einen Aussätzigen, der später als Christus selbst erkannt wird.515 Im Anschluss unterstreicht Gregor, worauf es ihm bei diesem exemplum ankommt: Weil Martyrius sich in seinem Mitgefühl nicht zu schade war, sich dem verachtetsten Mitmenschen zu nähern, kommt Christus selbst ihm nahe.516 Erst die Kondeszendenz ermöglicht den Aufstieg zum Höchsten.517 In der letzten Homilie nimmt Gregor diesen Gedanken erneut auf. Gerade geringe und ausgegrenzte Menschen sind zu ehren, da in ihnen Christus begegnen kann.518 Mit der Rede vom Weltgericht nach Mt 25,31–46 fordert der Papst zu tätiger Nächstenliebe besonders an den Ausgestoßenen der Gesellschaft auf. Sie sind als Fremde aufzunehmen oder als Kranke zu versorgen, weil in ihnen Christus selbst gedient wird. Dieser biblische Gedanke ermöglicht es Gregor, nicht nur auf theologischer Ebene die verschiedenen Gruppen und Schichten der Gemeinde zu einer Gemeinschaft zu vereinen, sondern auch den tatsächlich geübten Dienst am Gemeinwohl zu fördern. Die ekklesiologisch begründete Verantwortung füreinander519 verbindet er mit der individuellen eschatologisch-soteriologischen Perspektive für den einzelnen Christen. Mit anderen Worten: Der Papst sichert die tätige Nächstenliebe in seiner Kirche durch die Verbindung von altruistischen und ego-zentrischen Motivationsmomenten.520 511 „Ceteris diebus me in membris meis, hesterno autem die me in memetipso suscepisti.“ Greg.‑M. Hom. eu. II, 23, 2 (CCSL 141, 195, 49–51). 512 Gregor zitiert offensichtlich aus dem Gedächtnis, da der Wortlaut nicht mit demjenigen der Vulgata übereinstimmt, den er aber sowohl in Hom. eu. II, 39, 10 als auch in Hom. eu. II, 40, 12 bietet. Es muss daran erinnert werden, dass Gregor die Predigten des zweiten Buches weitgehend frei hielt. Insofern zitiert Gregor alle biblischen Texte, die über den Lektionstext hinaus geboten werden, aus dem Gedächtnis. Zu den von Gregor verwendeten biblischen Textgrundlagen vgl. Gribomont, Texte, speziell in den Evangelienhomilien vgl. Fiedrowicz, Einleitung, 25 f. 513 Greg.‑M. Hom. eu. II, 23,2 (CCSL 141, 195, 57). 514 „[…] ut uos in iudicio non quasi peregrinos nesciat, sed ut proprios recipiat ad regnum.“ Greg.‑M. Hom. eu. II, 23,2 (CCSL 141, 195, 57 f.). 515 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 39, 10 (CCSL 141, 390, 270–391, 300). 516 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 39, 10 (CCSL 141, 391, 301–307). 517 Vgl. Kap. 5.3.3.3. 518 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 40, 12 (CCSL 141, 410, 420–411, 449). 519 S. Kap. 5.3.3. 520 Eine derartige Motivationsintention formulierte bereits Cyprian explizit: „Wer nicht aus
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5.3.2.2 Das Jüngste Gericht als Fokus der tätigen Nächstenliebe Die Auslegung von Mt 25 zeigt erneut, welche zentrale Stellung das Jüngste Gericht in Gregors Theologie einnimmt. Die Fokussierung auf die jenseitige Beurteilung des diesseitgen Lebens lässt ihn vehement zu gottgefälligen Taten aufrufen. Mit der Überzeugung, das kommende Urteil durch gute Werke direkt beeinflussen zu können, gerät Gregor allerdings zwangsläufig in einen Gegensatz zur konsequenten Gnadenlehre seines Lehrers Augustin. Von dieser verabschiedet sich der römische Bischof aber nicht. Daher sind die Evangelienhomilien, aber auch seine übrigen Werke durch eine Ambivalenz von Gnade und Werken geprägt. In diesem Spannungsfeld zwischen Synergismus und Gnadenlehre positioniert sich Gregor stets neu, ohne einen echten Ausgleich zu finden, wie im folgenden Abschnitt, aber auch in späteren zu zeigen sein wird. Sein Ringen um eine Lösung dieses soteriologischen Dilemmas verweist auf kirchen- und theologiegeschichtliche Debatten und Streitigkeiten, die erst in späteren Jahrhunderten, ja noch in der Spätreformation geführt wurden. Die Differenz zwischen Irdischem und Himmlischem, zwischen Vergänglichkeit und Ewigkeit ist für Gregor unumstößlich.521 Obwohl irdischer Reichtum zwangsläufig vergeht und mitunter von der Kontemplation ablenkt, erkennt er in ihm aber dennoch auch positives Potential. Einerseits kann er als vorzeitiger, aber vergänglicher Lohn betrachtet werden.522 Andererseits dient er als „Hilfsmittel zur Tugend“523. Es ist offensichtlich, dass das Werk der Almosengabe überhaupt erst durch materiellen Besitz ermöglicht wird.524 Zwar können die Taten der Nächstenliebe nur im Diesseits geübt werden, ihr eigentlicher Wert offenbart sich aber erst im Jenseits.525 Im Jüngsten Gericht wird das Leben des einzelnen Menschen nach Werken und Gedanken beurteilt werden.526 Dann wird über Lohn oder Strafe entschieden.527 Dieses Urteil steht aber keinesfalls bereits unumstößlich fest, eine Änderung ist im diesseitigen Respekt zum Bruder in der Kirche bewegt wird, soll wenigsten durch die Kontemplation Christi bewegt werden und wer nicht seines Mitsklaven in Not und Armut gedenkt, soll wenigstens des in jenem selbst gegenwärtigen Herrn gedenken, den er verachtet.“ ([…] qui respectu fratris in ecclesia non mouetur uel christi contemplatione moueatur et qui non cogitat in labore adque in egestate conseruum uel dominum cogitet in ipso illo quem despicit constitutum.) Cypr. Eleem. 23 (CCSL 3A, 70, 491–71, 494), vgl. auch Leo-M. Serm. 11,1 (CCSL 138, 45, 1–46, 41). 521 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 4, 5 (CCSL 141, 32, 136–148); Greg.‑M. Hom. eu. II, 40, 12 (CCSL 141, 410, 430–437) und Kisić, Patria, 62–69. 522 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 40, 6 (CCSL 141, 402, 227–403, 239). 523 „[…] adiumentum uirtutis“ Greg.‑M. Hom. eu. II, 40, 6 (CCSL 141, 402, 236). 524 So auch Cypr. Eleem. 14 (SC 3A, 63, 274–64, 281) und Leo-M. Serm. 10,1 (CCSL 138, 39, 15–40, 26). 525 Vgl. Greg.‑M. Hom. II, 27, 5 (CCSL 141, 233, 118–234, 127), vgl. auch Greg.‑M. Hom. eu I, 12, 3 (CCSL 141, 83, 73–79). 526 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 12, 3 (CCSL 141, 84, 100–102). 527 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 12, 4 (CCSL 141, 84, 103–85, 135) u. ö.
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Leben jederzeit möglich.528 Insofern können die Menschen zu ihren Lebzeiten noch Einfluss auf das jenseitige Ergehen nehmen. Gregor grenzt sich damit von einer rigorosen Prädestinationslehre, wie sie etwa Augustin vertreten hat, ab, selbst wenn er mitunter von electos und reprobos spricht.529 Vielmehr greift er auf eine eher synergistische Theologietradition zurück, die v. a. von Cyprian,530 Leo dem Großen531 oder Johannes Cassian532 geprägt wurde. Für den Menschen gilt es, in der verbleibenden Lebenszeit den strengen Richter milde zu stimmen. Diese Möglichkeit beschreibt Gregor in zwei Bildern aus dem militärdiplomatischen und dem forensischen Kontext: Zum einen sollen die Menschen Christus, der zum Gericht wiederkehren wird, in unterwürfiger Geste eine Gesandtschaft entgegenschicken, die Frieden erbitten soll.533 Diese Gesandtschaft spezifiziert der Papst als das praktizierte Miteinander von Almosen, Messfeier und Buße. Zum anderen greift er die Situation der Gerichtsverhandlung auf und mahnt, für sich Fürsprecher zu versammeln, die den himmlischen Richter milde stimmen sollen.534 Als Verteidiger können Märtyrer dienen, die angerufen werden und an deren Gräbern Almosen gespendet werden,535 oder auch Bedürftige, die barmherzige Hilfe empfangen haben.536 Sie alle werden gewonnen durch Taten der Nächstenliebe, insbesondere durch Almosen. Das eigentliche Subjekt der eschatologischen Fürsprache ist letztlich der einzelne Mensch selbst: Nur wenn er die patrones durch die im Leben geübten guten Werke für sich gewinnt, werden sie im Jüngsten Gericht sein Mandat übernehmen. Um das Bild weiterzuspinnen: Einen kostenfreien Pflichtverteidiger wird es nicht geben. Sühne wird ausschließlich durch gute Taten erwirkt. Ihr notwendiges Maß wird durch die Schwere der Schuld bestimmt, „damit es [scil. das Gewissen] die größeren Gewinne der guten Werke sucht, je schwereren Schaden es sich durch Schuld zugefügt hat.“537 Wer die Werke der Nächstenliebe aber unterlässt, der 528 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 11, 4 (CCSL 141, 76, 65–76); I, 19, 2 f. (CCSL 141, 144, 43–146, 92). 529 Vgl. u. a. Greg.‑M. Hom. eu. I, 12, 1 (CCSL 141, 83, 63). 530 Vgl. Cypr. Eleem (CCSL 3A, 55–72). 531 Vgl. v. a. die Kollektenpredigten Leo-M. Serm. 6–11 (CCSL 138, 26–46). 532 Vgl. Cassian. Coll. 13, 13 (SC 54, 168–170) und Schambeck, Missio, 355–359 sowie Kap. 5.5.2.2 und 5.6.3.1.1. 533 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 37, 7 (CCSL 141, 235, 149–170). 534 Dieser Gedanke wird in den Evangelienhomilien mehrfach geäußert, wenn auch mit wechselnder Terminologie: In Greg.‑M. Hom. eu. II, 32, 8 (ChrSL 141, 286, 232–253) werden sie als patrones, defensores, adiutores und protectores, in Greg.‑M. Hom. eu. II, 40, 10 (CCSL 141, 406, 331 f.) als intercessores und aduocati bezeichnet. Die Vorstellung der Fürsprache im Jüngsten Gericht wird außerdem in Greg.‑M. Hom. eu. I, 12, 3 (CCSL 141, 83, 73–84, 102) beschrieben, vgl. außerdem Leo-M. Serm. 10, 2 (CCSL 138, 43, 70–73). 535 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 32, 7 f. (CCSL 141, 285, 212–286, 246). 536 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 40, 10 (CCSL 141, 406, 329–407,356). 537 „[…] ut tanto maiora quaerat bonorum operum lucra per paenitentiam, quanto grauiora sibi intulit damna per culpam.“ Greg.‑M. Hom. eu. I, 20, 8 (CCSL 141, 160, 160–162).
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lässt nicht nur die Möglichkeit zur Sündentilgung verstreichen, sondern belädt sich zusätzlich mit Schuld.538 Die Werke der Nächstenliebe stellen also nicht nur – dem ordo faciendi entsprechend – didaktisch gesehen eine Etappe zum Lernziel der Gottesliebe dar,539 sondern sind in soteriologischer Perspektive der Weg zu Gott selbst. Nur mit guten Werken ist es möglich, im jenseitigen Gericht zu bestehen – sei es aufgrund eines schuldlosen Lebens („was ich aber [nur] über einige wenige sage, die im Frieden der Kirche ruhen“540) oder durch die mit Wohltaten gewonnenen Fürsprecher. Trotz der direkten kausalen Verknüpfung von Lebenswandel und eschatologischem Heil ist es nach Gregor nicht möglich, schon jetzt eine Einschätzung des Urteils zu wagen.541 Obwohl der irdische Lebenswandel immensen Einfluss haben wird, lässt sich davon nicht abschließend auf das kommende Urteil schließen. In der Auslegung von Mt 22,14 betont Gregor, dass ein Abfall vom bzw. die (re-)conversio zum rechten Pfad zu jedem Zeitpunkt im Leben denkbar und möglich ist.542 Der Papst scheint dabei keinen abwägenden Richtspruch zu erwarten, der gute und schlechte Werke gegeneinander aufrechnet. Vielmehr ist vor allem Anderen der Moment des Todes entscheidend. Ist der Sterbende zu diesem Zeitpunkt von Gottes Wegen abgekommen, so fallen seine früheren guten Taten nicht mehr ins Gewicht. Findet er aber im letzten Moment zurück auf den rechten Pfad, so sind die Laster vergangener Zeiten nicht mehr von Belang.543 Doch vor einer Lebensführung, die der spätantiken Praxis der hinausgezögerten Taufe entsprechend „Werkaufschub“ genannt werden könnte, warnt Gregor nachdrücklich. Schließlich ist den Menschen der Zeitpunkt ihres Todes verborgen.544 538 „Denn die Füße, die es versäumen, den Kranken zu besuchen, die Hände, die den Bedürftigen nichts geben, sind vom guten Werk getrennt schon aus freiem Willen gefesselt. Die also nun freiwillig gefesselt sind im Laster, sind dann gegen ihren Willen gefesselt in der Strafe.“ (Pedes enim qui uisitare aegrum negligunt, manus quae nihil indigentibus tribuunt, a bono opere iam ex uoluntate ligatae sunt. Quae ergo nunc sponte ligantur in uitio, tunc in supplicio ligantur inuite.) Greg.‑M. Hom. eu. II, 38, 13 (CCSL 141, 372, 327–329). 539 S. o. Kap. 5.3.2.1. 540 „[…] quod tamen de quibusdam in pace ecclesiae quiescentibus loquor“ Greg.‑M. Hom. eu. I, 12, 3 (CCSL 141, 84, 89 f.). 541 „Denn siehe, auch wenn wir schon wissen, was oder wieviel Gutes wir getan haben, wissen wir noch nicht, mit welcher Gründlichkeit der himmlische Richter es prüft.“ (Ecce enim etsi iam scimus quae uel quanta bona egimus, adhuc supernus iudex qua subtilitate haec examinet ignoramus.) Greg.‑M. Hom. eu. I, 19, 4 (CCSL 141, 147, 118–148, 120), vgl. Kap. 5.6.3.2. 542 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 38, 14 (CCSL 141, 373, 341–360). 543 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 19, 2 f. (CCSL 141, 144, 43–146, 92). 544 „Weil wir also weder den Zeitpunkt des kommenden Todes kennen noch nach dem Tod [etwas] bewirken können, bleibt uns nur übrig, die vor dem Tod gewährten Zeiträume zu ergreifen.“ (Quia ergo et uenturae mortis tempus ignoramus, et post mortem operari non possumus, superest ut ante mortem tempora indulta rapiamus.) Greg.‑M. Hom. eu. I, 13, 6 (CCSL 141, 95, 141–143), vgl. auch Greg.‑M. Hom. eu. I, 12, 6 (CCSL 141, 86, 155–87, 169); II, 27, 5 (CCSL
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Neben den zahlreichen Verweisen auf die Sühnewirkung von guten Werken betont Gregor in den Evangelienhomilien aber auch die Notwendigkeit der göttlichen Gnade und knüpft damit wiederum an die augustinische Gnadenlehre545 an: „Weil also keiner darüber sicher sein kann, ob er erwählt ist, bleibt [nur] übrig, dass alle zittern, alle in Angst bezüglich ihres Handelns sind, alle sich allein über die göttliche Barmherzigkeit freuen, keiner sich etwas auf seine [eigenen] Kräfte einbildet.“546
Letztendlich bieten die guten Werke keine Verlässlichkeit, der Mensch kann sich nur redlich um eine gute Lebensführung bemühen.547 Deutlich ist zu beobachten, wie Gregor die verschiedenen theologischen Traditionen – Wertschätzung menschlicher Verdienste in der Nachfolge Cyprians einerseits und die strikte Gnadenlehre Augustins andererseits – rezipiert und um einen Ausgleich ringt, der allerdings nicht so recht gelingen mag. Noch deutlicher wird dies im Blick auf die von ihm angenommenen anthropologischen Voraussetzungen für Werke der Nächstenliebe.
5.3.2.3 Anthropologische Begründungen der Nächstenliebe Jegliche irdische Existenz befindet sich grundsätzlich im status corruptionis. In traditioneller harmatiologischer Lehre beschreibt Gregor den Zustand „des menschlichen Lebens, das niemals ohne Schuld verlaufen kann.“548 Da sich kein Mensch549 aller Sünden enthalten kann, ist er auf sühneschaffende Werke angewiesen. 141, 233, 113–118) und Greg.‑M. Hom. Ez. II, 5, 7 (CCSL 142, 280, 175–182). Dieser Gedanke begegnet bereits bei Gregor von Nyssa und Gregor von Nazianz, vgl. Kap. 4.2. 545 S. o. Kap. 4.4. 546 „Quia igitur nulli de se certum est electum se esse, restat ut omnes trepident, omnes de sua actione formident, omnes in sola diuina misericordia gaudeant, nullus de suis uiribus praesumat.“ Greg.‑M. Hom. eu. II. 38, 16 (CCSL 141, 378, 487–490). 547 Vgl. Straw, Carole, Gregory’s Moral Theology: Divine providence and Human Responsibility, in: Neil, B./Dal Santo, M. (Hgg.), A Companion to Gregory the Great, Brill’s Companions to the Christian Tradition 47, Leiden 2013, 177–204, hier: 200–204 und Kap. 5.6.3.1.1. 548 „[…] humanae uitae, quae sine culpa transire nequaquam potest“ Greg.‑M. Hom. eu. I, 17, 10 (CCSL 141, 124, 195 f.), vgl. Fiedrowicz, Kirchenverständnis, 85–89 und Kisić, Patria, 63–69. Zur altkirchlichen Sündenlehre vgl. Gemeinhardt, Peter, Sünde in der Alten Kirche, in: Leonhardt, R. (Hg.), Die Aktualität der Sünde. Ein umstrittenes Thema der Theologie in interkonfessioneller Perspektive, ÖR.B 86, Frankfurt 2010, 11–28; zur Entwicklung der Erbsündenlehre nach Augustin vgl. Stickelbroeck, Michael, Urstand, Fall und Erbsünde in der nachaugustinischen Ära bis zum Beginn der Scholastik. Die lateinische Theologie, HDG 2: Der trinitarische Gott, die Schöpfung, die Sünde, Fasz. 3a, Teil 3, Freiburg/Basel/Wien 2007, 11–42. 549 An dieser Stelle muss berücksichtigt werden, dass die Evangelienhomilien keinen einheitlichen systematischen Entwurf darstellen, sondern vielmehr vierzig einzelne Texte sind, die zumindest in Teilen ad hoc gehalten wurden. Insofern finden sich durchaus widersprüchliche Aussagen, wie die pauschale Aussage über die generelle Sündhaftigkeit der Menschen einerseits und andererseits das Lob der Heiligen, die vor Gott bestehen können, vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 12, 3 (CCSL 141, 84, 89 f.).
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Dass Werke nicht geübt werden, selbst wenn der rechte Weg erkannt ist, zeigt die Verstrickung in der Sünde. Die Unfähigkeit zum guten Werk versteht Gregor als Strafe für begangene Sünden.550 „Die geläufig gewordene Schuld nimmt nämlich den Geist in Beschlag, dass er sich niemals zur Rechtschaffenheit aufrichten kann.“551 In einer Weise, die lutherische Theologie und Terminologie vorwegzunehmen scheint, beschreibt der Papst den verzweifelten und aussichtslosen Kampf des Menschen aus der Sündenverstrickung – aus der „incuruatio[ne]“552. Diesem Zustand, der durch das Kreuzesopfer Christi schon aufgelöst ist, kann der Mensch nur durch Buße entfliehen.553 „Auch wenn wir die Summe der Tugenden nicht vollbringen können, freut sich Gott über unsere Klagen über uns selbst. Aus dem Beginnen der Gerechtigkeit selbst werden wir ihm Freude bereiten, die wir das Unrecht bestrafen, das wir getan haben.“554 Hier wird der pastoral-seelsorgliche Gestus Gregors deutlich, der bei seinen Zuhörern zwar durchaus die schmerzende Einsicht in die eigene, nicht zu fliehende Sündhaftigkeit wecken will. Aber in dieser Not überlässt er sie nicht der Verzweiflung, sondern hilft ihnen mit dem Aufzeigen eines Ausweges wieder auf. Trotz der negativen Grundzüge der Anthropologie und der auf das Weltende gerichteten Perspektive seiner Theologie555 ist der römische Bischof kein apokalyptischer Weltuntergangsprediger. Vielmehr zielt er auf die Besserung der Menschen ab. Mit den Werken der Nächstenliebe gibt er ihnen die Möglichkeit der aktiven Selbsthilfe an die Hand, die freilich dennoch angewiesen ist auf das voraufgehende Gnadenhandeln Gottes.556 Zu diesem zählt Gregor die Gabe der Erkenntnis des Guten.557 Dabei schenkt Gott auf verschiedenen Wegen die Einsicht in das rechte, gottgefällige Verhalten. Der Papst unterscheidet hier drei Offenbarungsquellen, aus denen der Mensch das Wissen über die guten Werke schöpfen kann: „das Naturgesetz“558, „die Gebote“559 des biblischen Gesetzes und schließlich „die Wunder seiner [scil. Christi] Menschwerdung“560. Das Wissen über die Werke der Barmherzigkeit 550
Vgl. Greg.‑M. Hom. eu II, 31, 7 (CCSL 141, 274, 116–128). etenim culpa obligat mentem, ut nequaquam surgere possit ad rectitudinem.“ Greg.‑M. Hom. eu. II, 31, 7 (CCSL 141, 274, 126 f.). 552 Greg.‑M. Hom eu. II, 31, 7 (CCSL 141, 274, 129). 553 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 31, 8 (CCSL 141, 275, 151–276, 181). 554 „Et si uirtutum summa operari non possumus, ipso Deus nostro gaudet lamento. Ex ipsa ei iustitiae inchoatione placebimus, qui inuusta quae fecimus punimus.“ Greg.‑M. Hom. eu. II, 31, 8 (CCSL 141, 276, 175–178). 555 Vgl. Kisić, Patria, 53–61. 556 Vgl. dazu Straw, Theology, 198–204 und zur Idee der zuvorkommenden Gnade Gottes vgl. Kap. 5.6.3.1.1. 557 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 31, 7 (CCSL 141, 274, 124 f.). 558 „[…] lex naturalis“ Greg.‑M. Hom. eu. II, 31, 3 (CCSL 141, 271, 35), vgl. Greg.‑M. Mor. XXVII, 1367, 11–1368, 55). 559 „[…] praecepta“ Greg.‑M. Hom. eu. II, 31, 3 (CCSL 141, 271, 36). 560 „[…] incarnationis eius miracula“ Greg.‑M. Hom. eu. II, 31, 3 (CCSL 141, 271, 36). 551 „Vsitata
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kann der Mensch vielfach beziehen. Es ist der menschlichen Natur als soziales Wesen eingegeben, in den biblischen Geboten überliefert und im Wirken Jesu vor Augen gestellt, es nachzuahmen.561 Schließlich begründet Gregor seine Forderung nach tätiger Nächstenliebe mit dezidiert schöpfungstheologischen Argumenten. Die Mitmenschen sind zu lieben, „weil sie zum Bilde Gottes geschaffen sind.“562 Die Nächstenliebe ist nicht nur zu üben, um das göttliche Gebot zu befolgen. Vielmehr soll der Nächste als Ebenbild Gottes verstanden und angenommen werden. Die Würde (dignitas) des Menschen hat ihr Fundament in der Gottebenbildlichkeit, kann aber ohne die „Frucht des Handelns“563 auch wieder verloren werden.564 Der Tadel über eine Verfehlung des Mitmenschen wiederum muss das rechte Gleichgewicht aus Strenge und Milde wahren.565 Dabei mahnt Gregor zur strikten Unterscheidung, „weil wir den Sünden Strenge, der Natur Mitgefühl schulden.“566 Erneut differenziert der römische Bischof also zwischen der Natur des Menschen und der ihm anhaftenden Sünde.567 Allerdings betrachtet er letztere durchaus als durch den Menschen verschuldet. Leistet der Mitmensch aber Buße, so ist er nicht mehr als Sünder, sondern als Nächster zu betrachten.568 Die dargelegten theologischen Argumentationslinien zeigen, dass die tätige Nächstenliebe für Gregor keinesfalls nur ein marginales Thema darstellt. Vielmehr verknüpft er sie mit fundamentalen theologischen Loci wie der Anthropologie, der Eschatologie und der Schöpfungstheologie. So offenbart der römische Bischof, dass er nicht nur ein pragmatisch-kühler Organisator des Gemeinwesens, sondern auch ein theologischer Denker ist. Um in einem von ihm häufig verwendeten Bild zu sprechen: Sein Amtsgewand hat er aus doppelt gefärbtem Scharlach gewebt. Die tiefe Theologie ist eng mit der Forderung nach tatkräftiger Unterstützung des Nächsten verbunden. Allerdings wird ebenso deutlich, dass Gregor unterschiedliche theologische Traditionen aufnimmt, die aufgrund ihrer fundamentalen Gegensätze per se nicht zu vereinen sind. Dementsprechend schwanken die Aussagen des römischen Bischofs beständig zwischen der strikten Erbsünden- und Gnadenlehre seines großen Lehrers Augustins und der Werkegerechtigkeit eines Cyprian, die dem 561 Vgl. Greg.‑Hom. I, 2, 8 (CCSL 141, 17, 122–132); II, 22, 8 (CCSL 141, 189, 225–190, 248); zur Vorstellung der Imitatio vgl. Kap. 5.5.2.1. 562 „[…] quod facti sunt ad imaginem Dei“ Greg.‑M. Hom. eu. II, 28, 3 (CCSL 141, 242, 69), vgl. Gen. 1,27. 563 „[…] fructum […] operationis“ Greg.‑M. Hom. eu. II, 31, 2 (CCSL 141, 270, 20). 564 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 31, 2 (CCSL 141, 270, 15–27). 565 Zu diesem Gedanken vgl. Greg.‑M. Past. III, 21 (SC 382, 394, 1–400, 102); Greg.‑M. Mor. III, 65 (CCSL 143, 155, 18–30); XX, 6 (CCSL 143A, 1005, 2–1006, 35); XXX, 43 (CCSL 143B, 1521, 190–199) und Kap. 5.6.2.1. 566 „[…] quia districtionem debemus uitiis, compassionem naturae“ Greg.‑M. Hom. eu. II, 33, 3 (CCSL 141, 290, 61 f.). 567 Vgl. Greg.‑M. Past. III, 20 (SC 382, 388, 85–88), s. o. Kap. 5.2.1.2. 568 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 33, 3 (CCSL 141, 290, 63–66).
5.3 Die Evangelienhomilien – Die Kirche als facettenreiche Gemeinschaft
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Menschen deutlich Einfluss und Verantwortung für das eigene Heil zuspricht. Das Ergebnis ist alles andere als eine konsistente Soteriologie, die verschiedenen Lehren bleiben unverbunden und unausgeglichen nebeneinander stehen.569
5.3.3 Der Aspekt der christlichen Gemeinschaft Der christliche Glaube ist eine Religion der Gemeinschaft – Christus versammelte die Gruppe der Jünger um sich und suchte auch mit den Ausgestoßenen der Gesellschaft stets die Tischgemeinschaft. Der Kultus ist nicht solitär zu vollziehen, die Christen feiern gemeinsam Gottesdienst. Und nicht zuletzt mahnt das höchste Gebot, sich neben Gott auch dem Mitmenschen zuzuwenden. Mit diesem soliden biblischen Fundament unter den Füßen unterstreicht Gregor die gemeinschaftliche Perspektive des christlichen Glaubens und fordert seine Gemeindeglieder zur gegenseitigen Unterstützung auf. Die Werke der Nächstenliebe sorgen seiner Überzeugung nach nicht nur für den guten Ruf der Kirche,570 sondern stützen ihre Einheit, gerade in den römischen Notzeiten am Ende des 6. Jahrhunderts.571 Die kirchliche unitas war für den Papst ein zentrales Anliegen, entsprechende Formulierungen finden sich auch in den Evangelienhomilien. So spricht er nur denen die Gnade Gottes zu, „die sich nicht durch die Verführung der Abspaltungen voneinander scheiden lassen.“572
5.3.3.1 Die Gemeinde – ein bunter Mischwald Nicht allein die gesamtkirchliche Einheit liegt Gregor am Herzen, sondern insbesondere auch die Einheit innerhalb der Gemeinde in Rom. So zählt er in den Evangelienhomilien eine Vielfalt an Talenten und Aufgaben unter den Christen auf und konstatiert deren grundsätzliche Gleichwertigkeit.573 Die klassisch-pau569 Dieses Faktum ist freilich zudem durch die für sich jeweils abgeschlossenen Homilien bedingt, die in ihrer Gesamtheit keinen systematischen Zyklus darstellen. 570 Diesen Effekt benennt Gregor in seiner allegorischen Auslegung der Salbung Jesu: „Wenn wir also rechte Werke tun, mit denen wir die Kirche mit dem Duft eines guten Rufs besprengen, gießen wir auf den Leib des Herrn nicht Salböl?“ (Si igitur recta opera agimus, quibus opinionis bonae odore ecclesiam respergamus, quid in Domini corpore nisi unguentum fundimus?) Greg.‑M. Hom. eu. II, 33, 5 (CCSL 141, 292, 113–115). 571 Vgl. Kap. 2.1. 572 „[…] qui se ab inuicem per sectarum scandala non diuidunt.“ Greg.‑M. Hom. eu. II, 22, 4 (CCSL 141, 183, 67 f.). Zudem wendet Gregor sich inhaltlich gegen konkrete häretische Lehren wie den Dualismus der Manichäer, die homöische Lehre der sogenannten Arianer, den Doketismus und die Zwei-Personen-Lehre der Nestorianer. Dabei stellt er stets die rechte Lehre den heterodoxen gegenüber, ohne diesen große Aufmerksamkeit zu schenken. Er benennt die entsprechenden Gruppierungen nicht explizit, sondern bezeichnet sie pejorativ als haeretici oder ihre Lehren allgemein als nefas, vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 10, 6 (CCSL 141, 69, 101–70, 108); II, 25, 6 (CCSL 141, 211, 169–171); II, 38, 3 (CCSL 141, 361, 36–44). Zur Rolle der Häretiker in Gregors Ekklesiologie vgl. Fiedrowicz, Kirchenverständnis, 239–253, sowie Kap. 5.6.2.1. 573 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 6, 6 (CCSL 141, 42, 100–44, 153); I, 9, 7 (CCSL 141, 63, 127– 64, 161); I, 20, 12 f. (CCSL 141, 163, 230–167, 353); II, 34, 11 (CCSL 141, 309, 274–311, 322) u. ö.
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linische Metapher des einen Leibes Christi mit vielen Gliedern klingt dabei nur am Rande an,574 Gregor führt stattdessen zwei andere Bilder ausführlich aus: Anlässlich des Michaelisfestes575 erläutert der Papst seiner Gemeinde die neun Stände der Engel576 und parallelisiert diese anschließend mit den „verschiedenen Lebensweisen […] der einzelnen Menschen“.577 In Rezeption der augustinischen Lehre578 führt er aus, dass die gefallenen Engel durch eine entsprechende Anzahl von Menschen ersetzt werden. Diese gleichen den Engelsscharen in ihren jeweiligen Aufgaben und Tugenden.579 So wird anhand der Grundbedeutung des griechischen ἄγγελος Engel genannt, wer zwar nur Geringes vom Himmlischen erfasst, dieses aber unablässig verkündigt. Der Prediger, dem eine höhere Einsicht geschenkt ist, wirkt als Erzengel. Wundertäter entsprechen den himmlischen Mächten, Exorzisten den Gewalten, die Anführer von reinen Menschen den principatus, die Unterdrücker aller Begierden den dominationes. Wer kontemplative Einsicht in die göttlichen Urteile gewinnt und mit Richtgewalt ausgestattet ist, gilt als Thron, da Gott als Richter auf ihm ruht. Des Weiteren werden diejenigen, die von Gottes- und Nächstenliebe erfüllt sind, als Cherubim bezeichnet, die Gregor etymologisch als plenitudo scientiae deutet.580 Schließlich gibt es Menschen, die in Kontemplation entbrannt sind und mit ihrer himm574 Vgl. z. B. Greg.‑M. Hom. eu. II, 32, 5 (CCSL 141, 283, 158 f.). In den Moralia in Iob greift der römische Bischof deutlich häufiger auf dieses Bild zurück, vgl. Kap. 5.6.3.3; zum ekklesiologischen Bildprogramm im Gesamtwerk Gregors, vgl. Fiedrowicz, Kirchenverständnis, 57–78. 575 Zur Datierung der 34. Homilie vgl. Chavasse, Aménagements 99 f. und Chavasse, Liturgie, 141–143. 576 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 34, 7–10 (CCSL 141, 305, 148–309, 257). Auf der biblischen Grundlage aufbauend sind in der Tradition, im Westen wie auch im Osten, unterschiedliche Reihen von Engelsgruppen beschrieben worden, vgl. Michl, Johannes, Art.: Engel IV (christlich), RAC 5 (1932), 109–200, hier: 169–182. Einen Vergleich der unterschiedlichen Listen aus traditionsgeschichtlicher Perspektive bietet Petersen, Homo, 530–542. 577 „Distincte […] conuersationes hominum singulorum“ Greg.‑M. Hom. eu. II, 34, 11 (CCSL 141, 309, 270 f.), die Parallelisierung findet sich in Greg.‑M. Hom. eu. II, 34, 11 (CCSL 141, 309, 258–311, 322). 578 Vgl. Aug. ciu. 12, 9 (CCSL 48, 363, 1–364, 72). 579 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 34, 11 (CCSL 141, 309, 258–270). 580 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 34, 10 (CCSL 141, 308, 245). Gregors konkrete Quelle dieses Wissens ist nicht zweifelsfrei zu identifizieren, naheliegend wäre Hieronymus’ De nominibus Hebraicis, dieser formuliert aber scientiae multitudo, vgl. Hier. Nom. Hebr. Ex. C (CCSL 72, 74, 20 f.). Semantisch näher, allerdings unter dem Vorbehalt der Übersetzung, ist Pseudo-Dionysius Areopagita mit πλῆθος γνώσεως, vgl. Dion. Ar. c. h. 7, 1 (PTS 36, 27, 8), auf den Gregor in der Homilie später explizit verweist, vgl. Greg.‑M. Hom. II, 34, 12 (CCSL 141, 312, 336–340). Allerdings ist nicht sicher nachzuweisen, dass Gregor ein Exemplar des Werkes in Rom oder lediglich in Konstantinopel zur Hand hatte, oder gar nur auf mündliche Quellen zurückgriff, so Petersen, Homo, 541 f. Mit Barbara Müller ist die namentliche Erwähnung des Areopagiten aber „nahezu spektakulär“ (Müller, B., Führung, 166) zu nennen und nicht zu unterschätzen. Daher und in Anbetracht weiterer inhaltlicher Parallelen von Gregor und Pseudo-Dionysius gehe ich von einer direkten Abhängigkeit des Papstes aus. Zur Diskussion vgl. Petersen, Homo, 530–547. Erneut zeigt sich also Gregors Rezeption der östlichen Schriften über bereits ins Lateinische übersetzte Werke hinaus.
5.3 Die Evangelienhomilien – Die Kirche als facettenreiche Gemeinschaft
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lischen Sehnsucht auch die Mitmenschen anstecken. Sie sind mit den Seraphim gleichzusetzen.581 Diese Aufzählung beinhaltet zwar eine aufsteigende Hierarchie, die aber nicht im engeren Interesse der Papst liegt.582 Vielmehr will er die unterschiedlichen ministeria583 in der Gemeinde herausarbeiten und so die gemeinsame Verbindung der einzelnen Gruppierungen der Kirche stärken.584 Dieses Ziel verfolgt er auch in der zwanzigsten Homilie, in der er ausgehend von Jes 41,18–20 die Kirche als Mischwald beschreibt, dessen verschiedene Bäume unterschiedliche Aufgaben in der Gemeinde darstellen.585 Die Zeder symbolisiert mit ihrem kräftigen Duft diejenigen, die durch ihr tugendvolles Handeln ein Wohlgeruch Christi586 sind. Der Dornbusch wiederum steht für die Lehrer, die mit dem spitzen Dorn des Wortes die Herzen der Hörer durchbohren (compungere) und so zur Reue (compunctio) anleiten. Die lindernde Kraft der Myrte findet sich in dem Mitgefühl, das dem leidenden Nächsten entgegengebracht wird. Der Ölbaum hingegen ist Sinnbild für die Barmherzigen, „weil die Barmherzigkeit griechisch Oliven [scil. ὁ ἔλεος] genannt wird und die Frucht der Barmherzigkeit vor den Augen des Allmächtigen wie das Öl der Olive leuchtet.“587 Die hochgewachsene Tanne steht für diejenigen, die ihren Geist in der Schau Gottes gen Himmel recken. Die Ulme aber symbolisiert die irdisch Lebenden, sie bringen zwar keine Frucht der Tugenden, stützen aber durch materielle Hilfe den Weinstock – die Menschen mit geistlichen Gaben – und helfen die reichen Früchte zu tragen. Der niedrige Buchsbaum schließlich stellt die Kinder dar, die zwar aufgrund ihrer Jugend noch keine guten Werke vollbringen, aber dennoch durch den Glauben der Eltern Lebenskraft besitzen. Alle diese Ämter und Aufgaben – von den ethischen Vorbildern, Lehrern und Asketen über die mitfühlenden Begleiter, die Gnädigen und die Wohltäter bis hin zu den kleinen Kindern – leisten einen Nutzen für andere Gemeindeglieder und reizen zudem zur Nachahmung an.588 581
Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 34, 11 (CCSL 141, 309, 274–311, 322). Fiedrowicz will bei Gregor allgemein eine Vorrangstellung des ordo praedicatorum beobachten. Im hier besprochenen Text stellen die Verkündiger – Engel und Erzengel – keinesfalls die höchste Lebensform, sondern vielmehr den Beginn dar. Die obersten beiden Stufen werden hingegen von der vita mixta, also der geübten Gottes- und Nächstenliebe, und den kontemplativen Asketen eingenommen. Letztere verpflichtet Gregor aber explizit zur Weitergabe ihrer Einsichten und bindet sie so in den Verkündigungsdienst mit ein, vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 34, 11 (CCSL 141, 311, 315–317). 583 Greg.‑M. Hom. eu. II, 34, 8 (CCSL 141, 306, 179). 584 Vgl. auch Greg.‑M. Mor. XIX, 23 (CCSL 143A, 974, 48–975, 84); XIX, 43 (CCSL 143A, 991, 40–58) und Kap. 5.6.3.3. 585 Vgl. im Folgenden Greg.‑M. Hom. eu. I, 20, 13 (CCSL 141, 164, 270–166, 319). 586 Vgl. 2 Kor 2,15. 587 „[…] quia et graece oleos misericordia uocatur, et quasi oliuae liquor ante Omnipotentis oculos misericordiae fructus lucet.“ Greg.‑M. Hom. eu. I, 20, 13 (CCSL 141, 165, 299–301). 588 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 20, 13 (CCSL 141, 166, 320–167, 353). 582 Michael
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Immer wieder verweist Gregor in den Evangelienhomilien auf die Gemeinschaft in der Kirche und das Aufeinanderangewiesensein der verschiedenen Lebensweisen. Dass die „Weltlichen“ erst durch die Verkündigung der kontemplativ „Erfahrenen“ auf Gott ausgerichtet werden können, liegt nahe. Aber auch die Asketen und Kleriker sind auf die Mitmenschen angewiesen: Von deren Spenden und Almosen ernähren sie sich.589 Trotz aller Weltentsagung und Jenseitsorientierung sind auch die Kontemplativen nicht frei von materiellen Bedürfnissen: „Und wenn der Körper nicht erfrischt wird, entschwindet mit Sicherheit die Stimme selbst. Wer also einem Propheten Nahrung austeilte, weil dieser ein Prophet ist, gab dessen Prophezeiung erst die Kraft zum Reden.“590 Die christliche Gemeinde ist aus der Sicht des Papstes keinesfalls nur eine Notgemeinschaft, sondern genießt gegenseitige Teilhabe. Der Helfer partizipiert am jenseitigen Lohn des Empfängers, da er „vor Gottes Augen verübt, was er unterstützt.“591 Gregor erweist sich in seinen Ausführungen als Realist, ihm ist bewusst, dass die strenge Askese nicht von jedermann zu leisten ist. Nur wenige sind dafür geschaffen, aber es haben viele einen materiellen Reichtum, durch den sie Anteil am Verdienst der wenigen gewinnen können. Durch Almosen bzw. Alimentierung der Asketen und Kleriker macht sich der Spender zum „cooperator an den geistlichen Gaben selbst.“592 Die überlieferte Unterscheidung der drei Lebensformen (Asketen, Kleriker, Weltliche) hebt Gregor also in Bezug auf die Heilsmöglichkeit auf. Alle drei Personengruppen können das Ziel – die himmlische Heimat – ersehnen und sich ihm durch ein tugendreiches Leben annähern.593 Der irdische Besitz stellt kein grundsätzliches Hindernis dar. Gregor postuliert explizit, dass auch im weltlichen Amt ein heiliges Leben möglich ist.594 Auf der anderen Seite kann gerade im Asketen- und Predigerstand die Vollkommenheit durch Hochmut schnell verloren gehen. Die patria caelestis stellt aber nicht lediglich ein übereinstimmendes Ziel der drei Gruppen dar, sondern deren gemeinsames. Nicht nur das diesseitige Leben 589 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 17, 8 (CCSL 141, 122, 140–148); I, 20, 12 (CCSL 141, 163, 230–164, 269). Selbst die Armen, die weder asketisch leben noch materiellen Reichtum besitzen, haben ihren Platz in Gregors Ekklesiologie. Sie bezeichnet er in paulinischer Tradition als sancti, die den Spendern das Werk der Almosengabe ermöglichen, vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 33, 5 (CCSL 141, 292, 128) und 1 Kor 16,1; 2 Kor 9,1. 590 „Et si corpus non reficitur, certum est quod uox ipsa subtrahatur. Qui igitur alimentum prophetae propter hoc quod propheta est tribuit, prophetiae illius uires ad loquendum dedit.“ Greg.‑M. Hom. eu. I, 20, 12 (CCSL 141, 163, 248–251). 591 „[…] ante Dei oculos exhibuit, quod adiuvit.“ Greg.‑M. Hom. eu. I, 20, 12 (CCSL 141, 163, 253). 592 „[…] in ipsis donis spiritalibus cooperator“ Greg.‑M. Hom. eu. I, 20, 12 (CCSL 141,164, 258). 593 Vgl. dazu Fiedrowicz, Kirchenverständnis, 189 f. Damit steht Gregor dem Ansatz des Basilius recht nahe, vgl. dazu Müller, A., Zierde, 467–470. 594 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II. 36, 13 (CCSL 141, 345, 353–365).
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ist durch die Gemeinschaft bestimmt,595 sondern auch der Weg zu Gott ist ausschließlich in Begleitung und gegenseitiger Unterstützung zu beschreiten. Und so fordert der Papst seine Hörer auf: „Ersehnt, auf dem Weg Gottes Gefährten zu haben!“596 Der radikalen Einzelaskese räumt Gregor, ebenso wie andere Askesemodelle seiner Zeit,597 in seinem Gemeindeentwurf keinen Raum ein. Mönche verfolgen das gleiche Ziel wie die Weltlichen und sind gar auf diese angewiesen. Darüber hinaus werden sie zum Dienst inmitten der Gesellschaft verpflichtet. Durch das reziproke Dienstverhältnis bindet Gregor die Asketen eng in die Kirche ein.598 Erneut zeigt sich, wie sehr der römische Bischof um eine Integration des Mönchtums bemüht ist, ohne diesem eine herausgehobene Stellung zuzusprechen.599 Damit steht er dem Mönchtum des Basilius näher als dem benediktinischen, das die Asketen deutlicher von der weltlichen Gesellschaft trennt. Dort begegnet der Bischof zwar durchaus als Kontrollinstanz für das Klosterleben und hat Einfluss auf die Abtseinsetzung,600 aber ein aktives Wirken der Mönche in der weltlichen Gemeinde ist nur für Ausnahmefälle vorgesehen.601 Neben den vielfältigen Aufgaben in seiner Gemeinde sieht Gregor auch ein unterschiedliches Maß an Ernsthaftigkeit des Christentums: „In diesem christlichen Volk gibt es einige, die Christus deshalb bekennen, weil sie sehen, dass alle Christen sind. Denn wenn der Name Christi heute nicht einen so großen Ruhm hätte, hätte die heilige Kirche nicht so viele Bekenner Christi.“602 Damit benennt der Bischof Roms das Problem des Scheinchristentums.603 Mit dem Ende der Verfolgungen und dem Beginn volkskirchlicher Strukturen604 ging das Christusbekenntnis nicht mehr mit Gefahr einher, sondern vielleicht sogar mit Aufstiegschancen und Prestigegewinn. Insofern ist die reale Kirche nicht in ihrer Gesamtheit als communio sanctorum zu verstehen, sondern in augustinischer Tradition als corpus permixtum, das „die Guten und zugleich auch die Bösen versammelt.“605 Diesen Topos umschreibt Gregor in den verschiedenen Homilien 595 Gregor nennt als Beispiel den gemeinsamen Gang zum Forum oder Bad, vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 6, 6 (CCSL 141, 43, 126 f.). 596 „[…] in uia Dei habere socios desiderate.“ Greg.‑M. Hom. eu. I, 6, 6 (CCSL 141, 43, 125 f.). 597 Vgl. z. B. Ben. Reg. 1, 1–13 (CSEL 75, 17–19) und Iust. Nouell. 5 (CIC III, 28–35); CXXIII, 36 (CIC III, 619 f.); CXXXIII (CIC III, 666–676), vgl. dazu Müller, A., Klosterpolitik sowie Müller, A., Konzept, 111–127. 598 Vgl. Rudmann, Mönchtum, 118–121, und Fiedrowicz, Kirchenverständnis, 220 f. 599 Vgl. Kap. 5.3.1.4. 600 Vgl. Ben. Reg. 62, 9 (CSEL 75, 145); 64, 3–6 (CSEL 75, 149); 65, 3 (CSEL 75, 152). 601 Vgl. Ben. Reg. 50, 4 (CSEL 75, 121); 67, 1–7 (CSEL 75, 157 f.). 602 „[…] in hac plebe christiana sunt nonulli qui Christum ideo confitentur, quia cunctos christianos esse aspiciunt. Nam si nomen Christi in tanta hodie gloria non esset, tot professores Christi sancta ecclesia non haberet.“ Greg.‑M. Hom. eu. II, 32, 65 (CCSL 141, 282, 140–143). 603 Vgl. dazu Fiedrowicz, Kirchenverständnis, 256–258.281–296. 604 Zum Begriff der Volkskirche vgl. Gemeinhardt, Staatsreligion. 605 „[…] bonos simul ac malos colligit“ Greg.‑M. Hom. eu. II, 24, 3 (CCSL 141, 199, 51). Vgl. auch Greg.‑M. Hom. eu. I, 11, 4 (CCSL 141, 76, 71 f.) u. ö.
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mit dem reichhaltigen Bildwerk, das vor allem das Matthäus-Evangelium bietet: Die Kirche wird versinnbildlicht durch das Fischernetz (Mt 13,47–50),606 die törichten und klugen Jungfrauen (Mt 25,1–13),607 die Herde der Schafe und Böcke (Mt 25,32 f.),608 den endzeitlichen Hochzeitssaal (Mt 22,1–14)609 und die Tenne voller Spreu und Weizen (Mt 3,12).610 Doch auch in diesem Kontext setzt der römische Bischof gegenüber der Lehre Augustins deutlich eigene Akzente. Während für diesen das Urteil im Jüngsten Gericht bereits vor allen Zeiten gefällt wurde, sieht jener die Möglichkeit zu einer positiven Entwicklung.611 Innerhalb der Kirche und in diesem Leben kann das jenseitige Schicksal sehr wohl beeinflusst werden. An dieser Stelle zeigt sich, wie Gregor zwar augustinische Gedanken grundlegend aufgreift, sie aber durch synergistische Aspekte variiert und letztlich zu Aussagen gelangt, die der Prädestinations- und Gnadenlehre des Nordafrikaners diametral entgegenstehen. Obwohl eine verlässliche Unterscheidung zwischen den guten und den bösen Menschen in diesem Leben nicht möglich ist, nennt der Papst dennoch verschiedene Kriterien: Vor allem die geübten Werke trennen die Schafe von den Böcken. Das Bekenntnis zu Christus allein reicht nicht aus, vielmehr muss den Worten auch der entsprechende Lebenswandel folgen.612 Außerdem muss zum Glauben die doppelte Liebe zu Gott und zum Nächsten613 treten. Wenn die Taufe den Zutritt in den endzeitlichen Hochzeitssaal gewährt, verdient erst das Festgewand der Liebe das Wohlgefallen des himmlischen Königs.614 Allerdings ist neben den eigentlichen Taten auch die Intention entscheidend, mit der sie geübt werden.615 Das gleiche Werk, das aus Liebe getan unzählbar gut ist, ver606 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 11, 4 (CCSL 141, 76, 56–77, 89); II, 24, 3 (CCSL 141, 199, 49–61). 607 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 12, 1 (CCSL 141, 80, 1–83, 66). 608 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 19, 5 (CCSL 141, 148, 137–143). 609 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 38, 7–10 (CCSL 141, 365, 136–370, 275). 610 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 38, 8 (CCSL 141, 367, 206–209). In Rezeption einer Augustinpredigt, vgl. Aug. s. 264, 5 (PL 38, 1216), deutet der römische Bischof mehrfach auch die Arche Noah auf die gemischte Kirche, vgl. u. a. Greg.‑M. Hom. eu. II, 38, 8 (CCSL 141, 367, 187–205) und Hom. Ez. II, 4, 16 f. (CCSL 142, 270, 441–271, 485). 611 „Jetzt nämlich umfasst das Netz des Glaubens uns Gute und Böse gemeinsam, wie gemischte Fische, aber das Ufer [scil. das Jüngste Gericht] zeigt an, was das Netz der heiligen Kirche schleppte. Und freilich können die Fische, die gefangen wurden, sich nicht verändern, wir aber werden als Böse gefangen, aber in Güte verwandelt. Lasst uns also in der Gefangenschaft darauf sinnen, dass wir am Ufer nicht getrennt werden.“ (Nunc enim bonos malosque communiter quasi permixtos pisces fidei sagena nos continet, sed litus indicat sagena sanctae ecclesiae quid trahebat. Et quidem pisces qui capti fuerint mutari non possunt; nos autem mali capimur, sed in bonitate permutamur. Cogitemus igitur in captione, ne diuidamur in litore.) Greg.‑M. Hom. eu. I, 11, 4 (CCSL 141, 76, 71–76). 612 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 19, 5 (CCSL 141, 148, 122–143). 613 Zum Doppelgebot der Liebe als Grundtext der Nächstenliebe vgl. Kap. 5.3.2.1. 614 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 38, 9–12 (CCSL 141, 368, 210–372, 321). 615 Zur Bedeutung der intentio vgl. Kap. 5.3.3.2.
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liert seinen Wert, wenn es aus dem Wunsch heraus geschieht, irdischen Ruhm zu verdienen.616 Insofern fordert Gregor in den Evangelienhomilien, wie bereits in der Regula Pastoralis,617 die Liebe als grundlegendes Movens aller Handlungen der Christen ein. Erst durch sie wird die Zugehörigkeit zur himmlischen Heimat erwiesen: „Dieser Geist der Liebe ist sozusagen Kennzeichen der göttlichen Besitznahme.“618 Auch in dieser Welt dient er als identity marker der Kirche und ist das maßgebliche Unterscheidungsmerkmal zu den Häretikern, die Zwietracht und Hass statt Einheit und Liebe säen.619 Die christliche Kirche ist für Gregor eine äußerst heterogene Gruppe mit unterschiedlichsten Lebensweisen, Tugenden und Bedürfnissen. Durch das „Band der Liebe“620 dennoch zu einer Einheit verbunden, sollen sich die Gläubigen gegenseitig in der Welt und auf dem Weg zur patria caelestis unterstützen. Die reziproke Abhängigkeit wehrt dabei jeglichem Hochmut. Die Schwäche des anderen soll nicht Anreiz zum eigenen Stolz sein, sondern geduldig getadelt und gegebenfalls mitfühlend toleriert werden.621 Die noch auftretenden Spaltungen betrachtet der römische Bischof, so sehr er sie auch bekämpft und zu beenden versucht, als Merkmal der gegenwärtigen Welt. Erst in der kommenden „wird die heilige Kirche der Erwählten […] durch keine Streitigkeiten mehr zerrissen.“622
5.3.3.2 Die intentio macht den Unterschied Es klang bereits an, dass Gregor der intentio, der Gesinnung und Absicht von Taten, eine besondere Bedeutung beimisst. In immer neuen biblischen Kontexten und Argumentationssträngen mahnt er dazu, nicht nur auf die Anzahl der guten Werke zu blicken, sondern stets auch die Motivation dahinter zu prüfen. Schon das Vaterunser als das von Christus selbst gelehrte Gebet beinhaltet in seiner fünften Bitte eine Selbstverpflichtung des Beters. Das rein formale Lippenbekenntnis „wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“ aber reicht nicht aus, sondern muss ernsthaftig gesprochen werden.623 Nur, wenn der Beter seinen Widersachern „die Regung wahrer Liebe“624 entgegenbringt und ihnen 616
Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 12, 1 (CCSL 141, 80, 1–83, 66). Vgl. Kap. 5.2.3. 618 „Quasi quidam titulus diuinae possessionis est iste spiritus amoris.“ Greg.‑M. Hom. eu. II, 24, 6 (CCSL 141, 203, 166 f.). 619 Vgl. Fiedrowicz, Kirchenverständnis, 242–253 sowie Kap. 5.6.3.3. 620 „[…] compage caritatis“ Greg.‑M. Past. II, 5 (SC 381, 198, 25), vgl. Kol 3,14 und Eph 4,3 sowie Kap. 5.6.3.3. 621 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 38, 7 (CCSL 141, 365, 136–367, 186). 622 „[…] sancta electorum ecclesia […] nullis iam dissensionibus dilaniatur.“ Greg.‑M. Hom. eu. II, 24, 3 (CCSL 141, 199, 60 f.). 623 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 27, 9 (CCSL 141, 237, 202–238, 230), s. auch Kap. 5.3.1.5. 624 „[…] uerae caritatis affectum“ Greg.‑M. Hom. eu. II, 27, 9 (CCSL 141, 237, 216). 617
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aus tiefsten Herzen vergibt, kann er auch auf Erhörung hoffen. Die Wirkung des Gebets ist an die zugrundeliegende Gesinnung gebunden,625 sie muss von Liebe geprägt sein. „Der Wert des wahren Gebets besteht folglich in der Hoheit der Liebe.“626 Dass auch bei anderen Taten und Werken die innere Einstellung von Belang ist, macht Gregor seinen Zuhörern in zahlreichen Formulierungen deutlich.627 Letztendlich ist entscheidend, ob man Askese oder Nächstenliebe entweder pro studio aeternae intentionis628 oder pro temporali intentione629 übt. Mit seiner Mahnung zur rechten Motivation spricht Gregor indes keinesfalls nur die Verkündiger an,630 sondern differenziert zudem die irdischen Aufgaben im weltlichen Amt danach, ob sie unvermeidlich sind (ex debito) oder ob sie aus Neigung (ex intentione) vollbracht werden.631 Mit der Fokussierung auf die innere Motivation und Zielsetzung rezipiert Gregor augustinisches Gedankengut.632 So beugt er einem Wettstreit an Werktätigkeit vor, der nur der äußeren Wirkung und nicht mehr dem christlichen Ethos verpflichtet wäre. Dabei lässt sich erneut eine Tendenz zur „Demokratisierung“ der verdienstvollen Werke beobachten:633 Zum einen ist so der Wert der guten Taten nicht mehr von den finanziellen Möglichkeiten abhängig. Zum anderen wird insbesondere der strikten Askese ihr automatischer Mehrwert explizit abgesprochen.634 Zudem werden die „Weltchristen“ zu den ihnen möglichen, wenn auch nur kleinen Wohltaten ermutigt.635 Im Geist von Mt 6,1–4 625
Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 27, 8 (CCSL 141, 235, 171–237, 200). ergo uerae orationis est celsitudo caritatis.“ Greg.‑M. Hom. eu. II, 27, 8 (CCSL 141, 236, 192). 627 Mit guten Werken sollte man „seinen Ruhm nicht in den Mund der Menschen legen, sondern innerhalb des Gewissens verbergen.“ (gloriam suam non in ore hominum ponunt, sed intra conscientiam contegunt.) Greg.‑M. Hom. eu. I, 12, 1 (CCSL 141, 82, 47 f.). Zudem darf man „nicht auf die eigenen, sondern auf die Gewinne des Herrn sinnen.“ (non sua, sed lucra dominica cogitant.) Greg.‑M. Hom. eu. I, 19, 2 (CCSL 141, 145, 60). „Wenn man zu einem guten Werk nicht aus gutem Willen geführt wird, vollbringt man als Sünder fruchtlos die Sache eines Gerechten.“ (cum ad opus bonum ex bona uoluntate non ducitur, rem iusti sine fructu peccator operatur.) Greg-M. Hom. eu. II, 32, 3 (CCSL 141, 281, 92–94). 628 Greg.‑M. Hom. eu. II, 37, 5 (CCSL 141, 351, 103 f.). 629 Greg.‑M. Hom. eu. II, 37, 5 (CCSL 141, 351, 104 f.). 630 So Fiedrowicz, Kirchenverständnis 209 f. 631 Zur doppelten Semantik der intentio vgl. Engelhardt, Paulus, Art.: Intentio, HWPh 4 (1976), 466–474, hier: 470 f. 632 Vgl. Kap. 4.4, aber auch Leo der Große, Gregor von Nyssa und Gregor von Nazianz diskutierten die Relevanz der intentio, vgl. Kap. 4.2. 633 Vgl. Kap. 5.3.1.3. 634 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 12, 1 (CCSL 141, 82, 48–83, 66); II, 32, 3 (CCSL 141, 280, 65–281, 104); II, 37, 5 (CCSL 141, 351, 95 f.). 635 „Denn selbst die Absicht der Schwäche besitzt eine Sicherheit ihres Lohns, weil der höchste Richter doch die Kräfte im Gewicht ausgleicht, wenn er das Gewicht der Vergeltung erwägt.“ (Habet namque ipsa infirmitatis intentio mercedis suae certitudem, quia supernus arbiter noster, etsi pondus considerat in retributione, tamen uires pensat in pondere.) Greg.‑M. Hom. 626 „Virtus
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und Lk 18,9–14 warnt Gregor vor ruhmheischenden Höchstleistungen in der Askese und ermutigt zugleich zur Gesinnung der Liebe, die das Miteinander in der Gemeinde prägen soll.636
5.3.3.3 Die Warmherzigkeit der tätigen Nächstenliebe Neben den richtigen inneren Beweggründen für die Taten der Liebe fordert Gregor ebenso die emotionale Beteiligung des Handelnden ein, gerade in der Sorge um den Nächsten. Wenn die geübte Nächstenliebe eine Alternative zur Askese darstellt,637 so geschieht das neben der konkreten Tat auch in der emotionalen Zuwendung – der compassio. Durch das Mitempfinden der Notsituation nimmt der Christ buchstäblich Anteil an dessen Leid, „wenn wir mit seinen [scil. Christi] Heiligen in Kummer mitleiden, wenn wir deren Betrübnis für unsere [eigene] halten.“638 Erneut unterstreicht Gregor das Moment der Partizipation, das die Gemeinschaft in der Kirche stärkt. Dabei sollen gerade die niedersten Gesellschaftsschichten in den Blick genommen werden. Sie begreift der römische Bischof als die Heiligen639 Christi, in denen dieser selbst begegnen kann (Mt 25,40).640 Die Bereitschaft zur Kondeszendenz641 ist Voraussetzung für die Erhöhung und zugleich ein Anzeichen der eigenen Bußbereitschaft. Gerade aus der eigenen Schuld wird das Erbarmen erlernt, wie das Beispiel des Petrus lehrt, der „aus seiner Schwachheit erkannte, wie barmherzig er fremde Schwächen erdulden solle.“642 Indes warnt Gregor davor, die compassio zur maßlosen Milde gegenüber Verfehlungen auszuweiten. „Denn das Mitgefühl ist man dem Menschen schuldig und die Geradheit den Lastern, dass wir in ein und demselben Menschen sowohl das Gute lieben, zu dem er geschaffen ist, als auch die Übel bestrafen, die er getan hat. Auf dass wir weder durch Liebe nur mitzuleiden scheinen, noch aus Nachlässigkeit gestatten, indem wir die Schulden unbedacht erlassen.“643 eu. II, 22, 1 (CCSL 141, 181, 9–12), vgl. auch Greg.‑M. Hom. Ez. II, 7, 5 (CCSL 142, 319, 162–168). 636 So bereits Leo der Große, vgl. Leo-M. Serm. 10, 2 (CCSL 138, 42, 66–44, 97); 11, 2 (CCSL 138, 46, 42–63). 637 Vgl. Kap. 5.3.1.3. 638 „[…] si sanctis eius in tribulatione compatimur, si eorum tristitiam nostram putam.“ Greg.‑M. Hom. eu. II, 33, 5 (CCSL 141, 292, 122 f.). 639 Zur paulinischen Herkunft dieser Metapher vgl. Kap. 5.3.3.1. 640 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 33, 5 (CCSL 141, 292, 121); II, 39, 10 (CCSL 141, 391, 301–307); II, 40, 12 (CCSL 141, 410, 420–411, 449) und Kap. 5.3.2.1. 641 Zur condescensio als Anspruch an das kirchliche Amt vgl. Fiedrowicz, Kirchenverständnis, 205 f. 642 „[…] ex sua infirmitate cognosceret quam misericorditer aliena infirma toleraret.“ Greg.‑M. Hom. eu. II, 21, 4 (CCSL 141, 176, 84 f.). 643 „Compassio quippe homini et rectitudo uitiis debetur, ut in uno eodemque homine et diligamus bonum quod factus est, et persequamur mala quae fecit, ne dum culpas incaute
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Keinesfalls soll das Mitgefühl dazu verleiten, den Weg Gottes zu verlassen.644 Das warmherzige Mitleiden645 ist also nicht grenzenlos zu üben, sondern darf eine Linie nicht überschreiten: die Distanzierung von Gott. Das Gegenüber soll nicht aus falschem Mitleid in seiner Sündhaftigkeit bestärkt und so noch weiter von der himmlischen Heimat fortgeführt werden. Noch darf der Mitleidende selbst den rechten Weg verlassen. Die compassio bringt die Menschen untereinander näher, noch mehr verbindet sie aber mit Gott, der gerade im Geringsten begegnet.646 Mit der Einforderung nicht nur äußerer Hilfsbereitschaft, sondern gerade der inneren, emotionalen Verbundenheit mit dem leidenden Nächsten zeigt Gregor, dass er nicht allein eine pragmatische Lösung der unterschiedlichen Problemfelder in der Stadt sucht, indem er die Menschen zur gegenseitigen Unterstützung verpflichtet.647 Vielmehr ist ihm an einer echten Gemeinschaft gelegen. Diese soll sich nicht nur durch den gemeinsamen Wohnort verbunden fühlen, sondern als theologisch und eschatologisch relevante Größe – als pilgerndes Gottesvolk auf dem Weg zur patria caelestis.648
5.3.4 Die Terminologie der Nächstenliebe in den Evangelienhomilien In der Terminologie der Evangelienhomilien fällt auf, dass Gregor amor, dilectio und caritas weiterhin als Synonyme und zuweilen direkt austauschbare Begriffe verwendet.649 Hinzu kommt die compassio als Zentralbegriff der emotionalen Anteilnahme. In den vierzig Homilien verwendet der römische Bischof immerhin an 35 Stellen eine Form dieses Substantivs bzw. des entsprechenden Verbs compati.650 Die in den Evangelienhomilien prominente Vorstellung einer inneren Beteiligung am Leid des Nächsten ist mit der vielfältigen Adressatenschaft und der Gattung des Werkes zu erklären. In seinen Predigten wendet sich remittimus, non iam per caritatem compati, sed per negligentiam concerdisse uideamur.“ Greg.‑M. Hom. eu. II, 32, 3 (CCSL 141, 281, 100–104), vgl. auch Greg.‑M. Hom. eu. II, 33, 3 (CCSL 141, 290, 61 f.) und Kap. 5.3.2.3. 644 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 37, 4 (CCSL 141, 350, 79–351, 87). 645 Zur compassio als Werk der Nächstenliebe vgl. Kap. 5.6.2.2. 646 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 39, 10 (CCSL 141, 391, 301–307). 647 Vgl. auch Greg.‑M. Mor. XXI, 27.33 (CCSL 143A, 1084, 1–1085, 10. 1089, 2–33) und Kap. 5.6.2. 648 Vgl. Fiedrowicz, Kirchenverständnis, 107–124. 649 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 17, 4 (CCSL 141, 119, 57–74); I, 20, 11 (CCSL 141, 162, 213–216); II, 27, 1 (CCSL 141, 229, 1–6; 230, 21–23). Besonders auffällig ist Greg.‑M. Hom. eu. II, 38, 10 (CCSL 141, 369, 254–370, 264), da hier in wenigen Sätzen alle drei Wörter verwendet werden, sowohl für die Gottes- als auch für die Nächstenliebe. 650 Die Zahlen habe ich dem Thesaurus Sancti Gregorii Magni. Series A – Formae, curante CETEDOC, Turnhout 1986 entnommen. Ähnlich viele Verwendungen bieten im gregorianischen Œuvre nur die Moralia, zum emotionalen Mitleiden als Konkretion der Nächstenliebe vgl. Kap. 5.6.2.2.
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Gregor an die Breite seiner Gemeinde651 und spricht diese – dem homiletischen Setting entsprechend – direkt und in paränetischer Weise an. Neben dem Begriff der compassio forciert auch das weitere Vokabular die Zuwendung zum Nächsten: Für den Dienst am Nächsten verwendet Gregor nicht weniger als acht Begriffe, ohne dass dabei die konkreten Formen oder Werke der Nächstenliebe mitgezählt sind.652 Ebenso finden sich für die Not bzw. die bedürftigen Personen zusammen sieben Formulierungen,653 die schließlich in der theologischen aufgeladenen Spitzenbezeichnung sancti654 münden. Insofern lässt sich auch in Gregors Terminologie sein Wechsel von der individuellen Askese zur sozialen Perspektive seiner Theologie beobachten. Als Bischof sprach er in den Evangelienhomilien nicht mehr zu ausgewählten Asketen über die Höhen der mystischen Schau. Sondern er versuchte, seine Gemeinde als eine Gemeinschaft zu gestalten, die gegenseitig Anteil an Not und Bedürfnissen nimmt.
5.3.5 Zusammenfassung Gregor hielt seine vierzig Evangelienhomilien vor einer gemischten Gemeinde. Diese divergente Adressatenschaft, deren vielfältigen Nöte und Bedürfnisse er als Bischof täglich erlebte, spiegelt sich nicht nur in der äußeren, rhetorischen Gestaltung der Predigten, sondern auch in den inhaltlichen Aussagen wieder. So werden die klassischen Bibeltexte zur Nächstenliebe wie das Doppelgebot der Liebe und die matthäische Gerichtsrede nun explizit zitiert und ausführlich ausgelegt, die beim asketisch und biblisch gebildeten Gegenüber des Hoheliedkommentars und der Pastoralregel noch still vorausgesetzt wurden. Ebenso ist zu beobachten, dass die contemplatio Dei als oberstes Ziel des christlichen – und das hieß für Gregor vor seiner Wahl zum Papst vor allem asketischen – Lebens in den Evangelienhomilien deutlich in den Hintergrund 651 Außer den Evangelienhomilien wenden sich lediglich die Dialoge nicht an ein spezifisches, sondern ein breites Publikum, vgl. Kap. 5.4. Allerdings ist dieses durch die reine Schriftform bereits begrenzt, wohingegen die Homilien als originär mündliches Geschehen keine Lesekompetenz voraussetzen. 652 Usus atque utilitas proximi vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 9, 7 (CCSL 141, 64, 142); ministrare vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 14, 1 (CCSL 141, 97, 15); proximorum custodia vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 17, 11 (CCSL 141, 125, 231 f.); inservire vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 19, 2 (CCSL 141, 145, 62); consolatio vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 20, 13 (CCSL 141, 167, 330); misericordia vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 27, 3 (CCSL 141, 231, 59); nutrire vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 33, 3 (CCSL 141, 290, 63); condescendere vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 34, 2 (CCSL 141, 300, 28). 653 Necessaria vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 20, 11 (CCSL 141, 162, 209); afflicito vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 20, 13 (CCSL 141, 165, 292); tribulatio vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 20, 13 (CCSL 141, 165, 298); desperatio vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 20, 13 (CCSL 141, 165, 298); infirmans vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 34, 2 (CCSL 141, 300, 27 f.); indigens vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 39, 10 (CCSL 141, 392, 312); pauperes vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 40, 12 (CCSL 141, 410, 437). 654 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 33, 5 (CCSL 141, 292, 128).
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gerückt ist. Dafür wählt er nun einen stärker eschatologischen Schwerpunkt. Die jenseitige Heimat ist grundsätzlich für alle Gemeindeglieder erreichbar, unabhängig von der jeweiligen Lebensform. Der jenseitigen Orientierung stellt der römische Papst aber die diesseitige Fürsorge an die Seite. Es reicht nicht aus, sich lediglich auf die patria caelestis auszurichten. Vielmehr muss das hiesige Leben der Christen darauf fokussiert und in der alltäglichen Praxis geprägt sein. Denn gerade im Niedrigen ist die Nähe Gottes zu erleben, er begegnet nach Mt 25 im geringsten Mitmenschen. Und so legt Gregor den Fokus der geübten Nächstenliebe vor allem auf den Empfänger und nicht auf den Spender. Verkündigung und Seelsorge sollen möglichst der individuellen Situation angepasst sein, die aktuellen und konkreten Nöte des Nächsten in den Fürbitten formuliert und durch die compassio mitempfunden werden. Trotz der Diesseitigkeit der Fürsorge liegt ihr Schwerpunkt vornehmlich auf dem jenseitigen Heil des Mitmenschen. Deshalb räumt Gregor der Predigt einen deutlichen Vorrang gegenüber anderen Formen der Nächstenliebe ein. Obwohl er in der Gemeinde Roms und in den umliegenden Diözesen Verantwortung für eine große Anzahl von Christen trägt, stellt er dennoch den Einzelnen in den Mittelpunkt und wehrt sich gegen ein pragmatisch-technisches „Gießkannenprinzip“. Vielmehr fordert er eine Gemeinschaft, die auf die individuellen Bedürfnisse des Nächsten schaut und solidarisch füreinander sorgt. Darüber hinaus soll sie sich auch theologisch als eine einheitliche Größe verstehen. Deshalb rezipiert Gregor in breiter Form die paulinische Ekklesiologie, indem er die Vielfalt der Lebensformen, Begabungen und Werke beschreibt, aber ihnen dennoch allen den gleichen Heilsstand zuerkennt. Besonders gelegen ist dem römischen Bischof an der Einheit und dem Frieden in der Gemeinde – vielleicht aus aktuellen Anlässen und Streitigkeiten, die heute nicht mehr zweifelsfrei greifbar sind. Aus diesem Grund verweist er besonders auf die Tugenden der Feindesliebe und der tolerantia. Ebenso ist die starke Betonung der compassio zu verstehen. Durch die aktive Partizipation am Leid (und später am jenseitigen Lohn) des Mitmenschen versucht Gregor die emotionale Gemeinschaft zu stärken, die nicht mehr den eigenen Nutzen verfolgt, sondern den Mitmenschen in den Blick nimmt. Sicherlich kritisierte er damit auch die zahllosen Vertreter des Senatorenadels, die durch ihre Emigration nach Konstantinopel dem Elend in Rom nach den langen Gotenkriegen und dem Einfall der Langobarden entflohen waren oder diesen Schritt aktuell planten. Sie ließen so ihre Heimat aber im Stich und ihrem Schicksal überlassen. Demgegenüber fordert der römische Bischof die Vermögenden der Gesellschaft auf, Verantwortung zu übernehmen. Zudem appelliert er an ihre romanitas und christianitas – Gegenpole, die zu dieser Zeit zur Einheit verschmelzen. Die Hochschätzung des Almosens zielt in eine ähnliche Richtung: Durch die materielle Unterstützung wird die Lebensgrundlage der Bedürftigen gesichert. Im Gegenzug sollen diese aber durch ihre Fürbitten das jenseitige Heil der
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Spender fördern. Diese Vorstellung der gegenseitigen Hilfe und der Wertschätzung gerade der Armen übernimmt der Papst aus einer langen Tradition, die am prominentesten von Cyprian, aber auch von Leo dem Großen vertreten worden ist. Gregor fügt ihr dennoch eine eigene Prägung hinzu: die Verpflichtung der Asketen zum Dienst in und an der Gemeinde. Ähnlich wie schon Basilius sieht er das Mönchtum nicht als Parallelgesellschaft zur Stadtgemeinde, sondern bindet es in diese ein und spricht ihm eine große Verantwortung zu. Die Asketen sollen ihr gottgefälliges Leben nicht mehr jenseits der weltlichen Gesellschaft führen, sondern werden als ein konstitutiver Part derselben betrachtet. Damit einhergehend ist eine „Demokratisierung“ der Werke zu beobachten. Der Papst betont mehrfach, dass die Askese nur eine Lebensform unter vielen verdienstvollen ist. Auch jenseits des Verzichts, der für Gregor insbesondere in der Sexualaskese besteht und damit sein Gegenüber in der Ehe findet, ist es möglich, ein heiliges Leben zu führen. Exemplarisch nennt er die Märtyrerin Felicitas, die durch ihre Rolle als liebende und verkündigende Mutter ewigen Lohn erlangte.655 Ebenso betont der römische Bischof die Vielfalt der verdienstvollen Werke: Neben die Askese, die er an keiner Stelle konkret beschreibt, sondern als recht offenen Begriff verwendet, treten die Verkündigung, das Almosen und die Feindesliebe. Dabei ist besonders seine außergewöhnlich breite Semantik der praedicatio zu beachten. Verkündigung vollzieht sich nicht ausschließlich durch den Klerus, sondern im alltäglichen Leben durch Zwiegespräche, Ermahnungen und vorbildhaftes Handeln. Durch diese Weitung des Begriffes spricht Gregor den laikal lebenden Gemeindegliedern die Kompetenz zur Verkündigung zu. Ebenso wird ihnen durch die Praxis der Messstiftungen die Möglichkeit geboten, auf liturgische Weise Nächstenliebe zu üben. Deren Wirkung geht dabei vom Spender, nicht vom Zelebranten aus. Ein ebenso „demokratisierender“ Aspekt der Evangelienhomilien ist es, dass Gregor die Werke nicht nach ihrer Quantität bemisst, sondern nach der ihnen innewohnende Intention. Damit sorgt er dafür, dass Werke unabhängig von der finanziellen Potenz des Spenders geübt werden können. Außerdem umgeht er die Gefahr, dass die Vermögenden sich durch ihren Besitz ein Mehr an Werken einbilden. Vielmehr ermöglicht er, in Rezeption des augustinischen eleemosynaBegriffs,656 auch Menschen ohne Reichtum, verdienstvolle Werke zu vollbringen. Sie können Nächstenliebe durch Mitgefühl und Vergebung praktizieren. Letztlich sind Gregors Anforderungen an alle Gemeindeglieder vergleichbar: Ein jeder soll seinem Besitz und seinen Fähigkeiten entsprechend tätige Nächstenliebe üben, ohne dabei die Gottesliebe – die Ausrichtung auf die himmlische Heimat – aus den Augen zu verlieren. Die weltlich Lebenden fordert er auf, ihr 655 Zur Ausweitung des ordo praedicatorum in Ausnahmefällen auf Frauen, vgl. Kessler, St., Exeget, 90, Anmerkung 24. 656 Vgl. Kap. 4.4.
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alltägliches Leben zu heiligen und auf Gott auszurichten, also kontemplativ zu leben. Die Asketen hingen verpflichtet er dazu, die reine Gottesschau um einen aktiven Dienst zu ergänzen. Explizit fordert er die vita mixta von jedem „Menschen, der unter Menschen lebt.“657 In den Evangelienhomilien zeigt sich Gregors pastorales Interesse, das alltägliche Leben der Christen vom Glauben durchdringen zu lassen. Das rein äußere Bekenntnis der „Scheinchristen“ ist für ihn nicht tragbar, er fordert eine aufrichtige und konsequente Jenseitsorientierung, die in diesseitigen Werken ihren Ausdruck findet. Besonders deutlich wird das, wenn er unterschiedliche theologische Traditionen miteinander verbindet. Um das Nebeneinander von „echten“ und lediglich nominellen Christen zu erklären, das in der Gemeinderealität wahrgenommen und wohl auch beklagt worden ist, greift er auf Augustins Konzept des corpus permixtum zurück. Die damit ursprünglich einhergehende konsequente Prädestinationslehre weicht er aber mit der synergistischen Vorstellung auf, der Mensch könne sein jenseitiges Schicksal im Leben aktiv beeinflussen. So gelangt Gregor zu ekklesiologischen Spitzenaussagen, welche die Kirche weniger als reine Heils-, sondern vielmehr als Besserungsanstalt beschreiben. Das christliche Bekenntnis ist nur der erste Schritt, dem weitere folgen müssen. Damit will Gregor den Menschen zu jeder Zeit einen Ausweg aus der irdischen Verstrickung aufzeigen, allerdings muss er dafür die augustinische Lehre der bedingungslosen Gnade Gottes preisgeben. Der Mensch wird aus dem bedrückenden Zustand befreit, dem göttlichen Urteil in Passivität ausgeliefert zu sein, und erlangt eigene Verantwortung dafür, den Weg in die himmlische Heimat zu beschreiten – wenn auch stets unter Mithilfe der göttlichen Gnade. Eine konsistente Soteriologie gelingt Gregor in den Evangelienhomilien nicht. Seine Aussagen wanken in der Spannung zwischen Werke und Gnade, ohne sich klar zu positionieren. Neben dem pastoral-seelsorglichen Interesse für das jenseitige Heil der Christen sah sich Gregor als Bischof von Rom auch vor episkopal-organisatorische Aufgaben gestellt. Aufgrund der desolaten Konstitution der staatlichen Stellen war es notwendig geworden, dass die Kirche die Verantwortung für die städtische Versorgung übernahm. Dieses war allein aus den kirchlichen Besitztümern und Rücklagen heraus nicht zu leisten, weshalb er auf die Mithilfe der Gemeindeglieder angewiesen war. Sie forderte er zur großzügigen Almosengabe auf und erinnerte sie an die christliche Pflicht der tätigen Nächstenliebe ebenso wie an den mit ihr einhergehenden Lohn. Somit zeigt sich, wie Gregor seiner Theologie zwar in ihren jenseitsorientierten Grundzügen treublieb, sie aber in der aktuellen Situation in der Stadt, seinem Amt und der Gemeinde anpasste.
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„[…] homo inter homines uiuens“ Greg.‑M. Hom. eu. II, 38, 10 (CCSL 141, 370, 272 f.).
5.4 Die Dialoge – Herausragende Personen und solide Institutionen
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5.4 Die Dialoge – Herausragende Personen und solide Institutionen Im Juli 593 schrieb Gregor an Maximianus, den Bischof von Syracus, dass er auf Wunsch seiner Brüder eine Sammlung von Wundererzählungen italischer Gottesmänner erstellen wolle – die vier Bücher der Dialoge.658 Während das erste und das dritte Buch vielfältige Episoden überliefern, sind die beiden übrigen prosopographisch bzw. thematisch fokussiert: Das zweite erzählt ausschließlich mirakulöse Taten Benedikts von Nursia, das vierte widmet sich eschatologischen Fragestellungen. In diesem Buch finden sich auch deutlich mehr reflektierendbelehrende Textabschnitte als in den vorangehenden. Formal ist das Werk als durchgängiges Gespräch Gregors mit seinem Diakon Petrus gestaltet,659 in dem der römische Bischof auf die knappen und mitunter naiven Nachfragen seines Gegenübers mit weiteren Erzählungen oder lehrhaften Reflexionen antwortet. Die Dialoge sind das populärste Werk des großen Papstes, durch unzählige Übersetzungen in diverse Sprachen660 war es im Mittelalter in nahezu jeder Region bekannt und damit buchstäblich zu einem Stück „Weltliteratur“661 geworden. Wegen des zweiten Buches, der einzigen Quelle zur Biographie Benedikts,662 hatte das Werk den stärksten Einfluss auf das benediktinische Mönchtum. 658 Vgl. Greg.‑M. Ep. III, 50 (CCSL 140, 195, 1–196, 11). Im gleichen Zuge bittet der Papst seinen Vertrauten und ehemaligen Bruder des Andreasklosters um dessen Unterstützung dafür. Gregor verweist in den Dialogen dann tatsächlich bei zwei Erzählungen auf Maximianus als Quelle, der noch lebend anzutreffen sei. Insofern müssen die Dialoge vor dem Tod des Maximianus im November 594 verfasst worden sein. Damit ermöglicht der Brief eine ungewöhnlich exakte Datierung zwischen Juli 593 und November 594. Dies wird zudem durch textinterne Hinweise auf die große Tiberflut von 589 und die Pestepidemie von 590 bestätigt, vgl. Greg.‑M. Dial. III, 19, 2 (SC 260, 346, 7–11); IV, 19, 2 (SC 265, 72,12 f.); IV, 37, 7 (SC 265, 128, 52–55). 659 Vielleicht ist hinter der Figur des Gesprächspartners die historische Person des Diakons und Rektors Siziliens anzunehmen, ein enger und langjähriger Freund Gregors, vgl. Müller, B., Führung, 220 f. und de Vogüé, Introduction, 44. Mit Sicherheit sind die Dialoge keine Mitschrift eines historischen Gespräches, sondern literarisch gestaltet, wie die Verweise zwischen den Büchern deutlich machen, vgl. Greg.‑M. Dial. IV, 36, 1 (SC 265, 116, 5) oder die Anrede an den Leser, vgl. Greg.‑M. Dial. I, prol., 10 (SC 260, 16, 85) und de Vogüé, Introduction, 77–80. Dennoch sind als Hintergrund Gespräche Gregors mit seinen Brüdern anzunehmen, wie der bereits erwähnte Brief Gregors an Maximianus belegt, vgl. Greg.‑M. Ep. III, 50 (CCSL 140, 195,2–4). 660 Dufner zählt Übersetzungen in nicht weniger als 14 Sprachen auf, die während des Mittelalters entstanden sind. Einige der Übersetzungen sind zugleich die frühesten Texte der z. T. erst entstehenden Sprachen, vgl. Dufner, Georg, Die Dialoge Gregors des Großen im Wandel der Zeiten und Sprachen, Miscellanea Erudita 19, Padova 1968, 38–45. 661 Brunhölzl, Franz, Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters, Erster Band: Von Cassiodor bis zum Ausklang der karolingischen Erneuerung, München 1975, 56. 662 Das macht eine historisch-kritische Lebensbeschreibung des bedeutendsten westlichen Mönchsvaters gleich doppelt schwierig: Neben die solitäre Quellenbasis tritt die problematische Gattung der Hagiographie, die nicht unbedingt an der Historizität der beschriebenen Ereig-
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Der Brief an Maximianus beweist, dass der Anstoß zur Abfassung der Dialoge, wie bereits bei dem Hoheliedkommentar und den Moralia in Iob sowie später bei den Ezechielhomilien, erneut von seinem asketischen Umfeld ausging. In diesem Kontext ist auch die primäre Leserschaft zu suchen, zumal die Akteure der Wundergeschichten vornehmlich dem Klerus oder dem Asketentum entstammen.663 Allerdings ist die Adressatenschaft der Dialoge deutlich vielschichtiger anzusetzen, als dieser naheliegende Schluss es vermuten lässt. So ist der im Vergleich etwa zu der Expositio in Canticum Canticorum und den Moralia deutlich schlichtere Sprachstil zu berücksichtigen,664 der keinesfalls dem Unvermögen des Verfassers geschuldet ist, sondern vielmehr als ein bewusstes Mittel verwendet wird: „In der Absicht, möglichst weite Kreise zu erreichen, hat Gregor die Dialogi dem Umgangslatein angenähert.“665 Ebenso muss die Nähe zu den Evangelienhomilien beachtet werden. In diese hatte Gregor bereits dreizehn exempla-Erzählungen eingewoben, von denen er neun in den Dialogen erneut aufgreift.666 Diese Wiederaufnahme lässt eine vergleichbare Adressatenschaft vermuten, die unterschiedliche Bildungs- und Gesellschaftsschichten nisse interessiert war. „Like the other hagiographers, his [scil. Gregor’s] aim was not to produce accurate history, but to tell inspiring stories to act as a substitute for the passiones of the martyrs in a nominally Christian society, where opportunities for martyrdom were virtually nonexistent. It was immaterial to him, as it was to other writers in this class, that the same story was applied to more than one holy man; what was important was to attach to the subject of the hagiography an account of actions appropiate to a holy man as such.“, Petersen, Dialogues, XVIf., vgl. auch Gemeinhardt, Peter, Wie kann man das Leben eines Heiligen schreiben? Hagiographische Verlegenheiten damals und heute, in: ders., Die Kirche und ihre Heiligen. Studien zu Ekklesiologie und Hagiographie in der Spätantike, STAC 90, Tübingen 2014, 291–308. Zu Gregors laxem Umgang mit historischen Tatsachen, vgl. Petersen, Dialogues, 15–21 und Jenal, Italia I, 192–196, der außerdem darauf hinweist, dass die Identifikation des Autors der RB mit Benedikt von Nursia nicht zwingend ist, sondern lediglich auf der Ebene der Hypothese verharren muss, vgl. ebd. 196–203. Diese nimmt Johannes Fried in seiner erinnerungskritischen Studie auf und kommt nach zahlreichen vagen und im Eventuellen verharrenden Überlegungen zum nicht überzeugenden Fazit, dass Benedikt lediglich die Fiktion eines monastischen Ideals sei, vgl. Fried, Johannes, Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik, Beck’sche Reihe 6022, München 2012, 344–357. Zur Kritik dieser These vgl. Wollasch, Joachim, Benedikt von Nursia. Person der Geschichte oder fiktive Idealgestalt?, SMGB 118 (2007), 7–30. 663 Vgl. de Vogüé, Introduction, 36–40. 664 Vgl. Clark, Dialogues II, 716: „Its uncouthness and the distinctively lower lever of its Latinity from that of Gregory’s other writings“, zu einer gegensätzlichen Beurteilung des Stils der Dialoge kommt Adalbert de Vogüé: „Le style lui-même n’est pas inférieur à celui de ces ouvrages.“, Vogüé, Introduction, 33. 665 Berschin, Walter, Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter, Bd. 1: Von der Passio Perpetua zu den Dialogi Gregors des Großen, Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters 8, Stuttgart 1986, 311, Hervorhebung im Original. Barbara Müller schätzt den Anspruch der Reflexionen deutlich höher ein: „Als Ganzes ist das Werk ausschließlich für verständige Personen geeignet, die überhaupt fähig und daran interessiert sind, Gregors reflektierende Abschnitte zu begreifen“, Müller, B., Führung, 249. 666 Vgl. de Vogüé, Introduction, 28 f., dort ist eine Liste der entsprechenden Stellen in beiden Werken zu finden.
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umfasst.667 Gregor selbst verweist auf asketisch nicht geschulte Leser, die er mit seinen Wundererzählungen zu einem gottgefälligen Leben motivieren will.668 Den Dialogen liegt eine zweifache Intention zugrunde: Einerseits will Gregor auch mit diesem Werk zu einer konsequenten Ausrichtung auf die patria caelestis auffordern. Zudem will er der italischen Bevölkerung in Zeiten von Bedrohung und Katastrophen Trost spenden.669 Die zahlreichen Wunder in der direkten Umgebung beweisen: Gott wirkte nicht nur in der Vergangenheit in den fernen Zentren des östlichen Wüstenmönchtums, sondern ist auch hier und jetzt im Rom des 6. Jahrhunderts am Werk. Mit den Dialogen beschreibt der Papst das römische Umland als zweite Thebais, die der ägyptischen Wüste in nichts nachsteht.670 Hierfür greift Gregor neben den persönlich angeforderten Berichten671 auch auf literarische Vorlagen zurück, an dieser Stelle sei nur kurz auf vier Werke hingewiesen.672 Zum einen hatte er Kenntnis von der Historia religiosa des 667 Vgl. dazu Kap. 5.3. Auch Barbara Müller geht von „verschiedenen Adressatenkreisen“ aus, Müller, B., Führung, 248. Gegen Adalbert de Vogüé ist aber eher nicht anzunehmen, dass dazu auch der langobardische Königshof gehörte. Die Behauptung, dass Gregor ein Exemplar der Dialoge an die katholische Königin Theodelinde des eigentlich „arianischen“ Stammes gesandt habe, ist erstmals bei Paulus Diaconus belegt, also mit einem zeitlichen Abstand von fast zweihundert Jahren, vgl. P.‑Diac. Hist. Lang. IV, 5 (Schwarz 224). In den überlieferten Briefen Gregors an Theodelinde aber findet sich kein Hinweis auf die Dialoge, vgl. Clark, Dialogues I, 59–64 und Müller, B., Führung, 250 f. Neben der schlechten Bezeugung erscheint es außerdem als sehr unwahrscheinlich, dass der römische Bischof gerade dieses Werk an den Hof in Pavia schickte: Die Dialoge zeichnen ein besonders brutales Bild der Langobarden und hätten damit eine Gefahr für die ohnehin schon zähen Friedensverhandlungen bedeutet. 668 „In der Auslegung [scil. der Schrift] freilich wird erkannt, wie die Tugend entdeckt und auch erhalten werden muss, in der Erzählung aber erfahren wir, wie sich das Entdeckte und Erhaltene offenbart. Auch gibt es einige, die zur Liebe der himmlischen Heimat eher Beispielen als Vorschriften folgen. In Wahrheit entsteht der Seele des Zuhörers in den Beispielen der Väter eine zweifache Unterstützung: weil sie aus dem Vergleich mit den Vorangegangenen zur Liebe zum kommenden Leben angefacht wird, und auch, falls sie sich wirklich selbst für bedeutend einschätzt, erniedrigt wird, wenn sie von anderen Tugendhafteres erfährt.“ (In expositione quippe qualiter inuenienda atque tenenda sit uirtus agnoscitur, in narratione uero signorum cognoscimus inuenta ac retenta qualiter declaratur. Et sunt nonnulli quos ad amorem patriae caelestis plus exempla quam praedicamenta succendunt. Fit uero plerumque in audientis animo duplex adiutorium in exemplis patrum, quia et ad amorem uenturae uitae ex praecedentium conparatione accenditur, et iam si se esse aliquid aestimat, dum de aliis meliora cognouerit, humiliatur.) Greg.‑M. Dial. I, prol., 9 (SC 260, 16, 70–79). 669 Obwohl die meisten Wundertäter dem asketischen oder klerikalen Milieu entstammen, ist zu beachten, dass die Empfänger der Mirakel die Breite der Gesellschaft repräsentieren. Stephan Kessler geht dagegen von einer deutlich enger umgrenzten Adressatenschaft aus, ohne dies weiter zu begründen: „Zielgruppe der Dialoge sind eindeutig asketische Kreise, die sich in einem ehelosen Leben um den Ausgleich zwischen actio und contemplatio bemühen und am ehesten dem Mönchtum und ihm nahestehende Gruppen zuzurechnen sind“, Kessler, St., Exeget, 91, Hervorhebungen im Original. 670 Vgl. Petersen, Dialogues, 57.117. 671 Überliefert ist nur die Anfrage an Maximianus von Syracus, aber es ist von weiteren Bitten auszugehen, vgl. Müller, B., Führung, 227. 672 Eine ausführliche quellengeschichtliche Untersuchung bietet Joan Petersen, die zudem
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Theodoret von Cyrus,673 wie einige parallele Erzählungen belegen.674 Diese Auffälligkeit stellt vor allem Joan Petersen vor Probleme, da sie durch ihre äußerst pessimistische Einschätzung von Gregors Griechisch-Kenntnissen eine direkte Lektüre des wohl noch nicht ins Lateinische übersetzten Werkes für äußerst unwahrscheinlich hält.675 Es ist aber durchaus vorstellbar, dass sich Gregor während seines Aufenthalts in Konstantinopel mit der hagiographischen Schrift auseinandersetzte, zumal er sich ohnehin seit dieser Zeit im Rahmen des DreiKapitel-Streits mit den übrigen Werken Theodorets beschäftigen musste.676 Doch abgesehen von der konkreten Weise, wie Gregor zur Kenntnis der Historia religiosa gelangte, ist es erneut ein Hinweis auf den starken Einfluss östlicher Theologie in seinem gesamten literarischen Schaffen. Als weiterer Autor, der in den Dialogen rezipiert wird, ist erneut Augustin zu nennen. Dieser verteidigt im letzten Buch von De civitate Dei677 den christlichen Auferstehungsglauben, wie auch Gregor mit dem vierten Buch der Dialoge seine Leser von der Unsterblichkeit der Seele überzeugen will.678 Mit einer Sammlung von Wundern im Kontext von Reliquien will der Bischof von Hippo die Wahrheit des größten Wunders, der Auferstehung Jesu, beweisen. Ebenso wie später Gregor679 bindet Augustin sein Werk an die Schrift zurück: Die meisten von ihm geschilderten Wunder geschehen an Reliquien des Erzmärtyrers Stephanus. Beide Bischöfe wollen aber nicht nur auf die aktuellen Wunder hinweisen, sondern diese vielmehr in der gesamten Heilsgeschichte Gottes verorten.680 Zudem finden sich in den Dialogen einige weitgehend wörtlich übereinstimmende Formulierungen mit De civitate Dei.681 Darüber hinaus Gregor greift für die Dialoge auf ein weiteres augustinisches Werk zurück: De cura pro mortuis gerenda.682 Zuletzt sind die in Italien im 6. Jahrhundert weit verbreiteten Gesta martyrum zu nennen. Diese Sammlung überliefert Märtyrerschicksale aus vorkonstantinoch von einem im gesamten Mittelmeerraum verbreiteten thaumaturgischen Allgemeingut ausgeht, vgl. Petersen, Dialogues, 90–121 et passim. 673 Thdt. H.rel. (SC 234.257). 674 Vgl. dazu Müller, B., Führung, 224 f. und vor allem Petersen, Dialogues, 181–188. 675 Vgl. Petersen, Dialogues, 184. 676 Ähnlich Müller, B., Führung, 224 f. 677 Vgl. Aug. ciu. 22 (CCSL 48, 805, 1–866, 152). 678 Vgl. Greg.‑M. Dial. III, 38, 5 (SC 260, 432, 47–58). 679 Gregor vergleicht die Wundertäter häufig mit biblischen Vorbildern, wie z. B. Elia, vgl. Greg.‑M. Dial. I, 2, 7 (SC 260, 30, 76–85). Auch betrachtet er sich selbst gar als Nachfolger der Evangelisten, vgl. Greg.‑M. Dial. I, prol. 10 (SC 260, 16, 80–84). 680 Vgl. Müller, B., Führung, 223 f. 681 S. z. B. Aug. ciu. 21, 24 (CCSL 48, 790, 43–47) und Greg.‑M. Dial. IV, 46, 8 (SC 265, 164, 56–63). Dieser Textabschnitt findet sich auch in den Moralia, vgl. Greg.‑M. Mor. XXXIV, 35–38 (CCSL 143B, 1758, 16–1760, 91). Zum redaktionsgeschichtlichen Verhältnis beider Textstellen vgl. Kap. 5.6.1. 682 Aug. cura. mort. (CSEL 41, 621–660).
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nischer Zeit, die Erzählungen wurden aber zum Teil erst im 5. und 6. Jahrhundert formuliert.683 Anders als die Passiones der früheren Jahrhunderte sind die Gesta weniger an einer realitätsnahen Beschreibung des Todes der standhaften Christen interessiert. Vielmehr überzeichnen sie sowohl die Grausamkeit der Gegner als auch die Wundertätigkeit und das Missionswirken der Märtyrer. Auffälligerweise stehen hierbei weitgehend Weltkleriker und ihr liturgischer Dienst im Fokus. Auf diese Weise projizieren die Verfasser die kirchlichen Gegebenheiten der eigenen Zeit in die früheren Jahrhunderte und kräftigen so die Stellung ihres Amtes durch eine vermeintlich lange und ruhmvolle Tradition.684 Gregor, der diese Texte kannte,685 setzt sich bewusst von ihnen ab. Anders als die Autoren der Gesta richtet er den Blick nicht in die glorreiche Vergangenheit der Kirche, sondern beschreibt das heilvolle Handeln Gottes in der Gegenwart.686
Exkurs: Die Diskussion um die Autorenschaft und den konkreten Anlass der Dialoge Die Dialoge stellen im gregorianischen Œuvre in der Form des stilisierten Dialogs und auch im Inhalt eine Besonderheit dar, insofern sie weder einen biblischen Text exegetisch bzw. homiletisch auslegen noch wie die Regula Pastoralis als Handbuch in den kirchlichen Dienst einführen sollen. Diese Sonderstellung der Dialoge führte in der Vergangenheit wiederholt dazu, dass zentrale quellenkritische Grundaussagen zu diesem Werk infrage gestellt worden sind. So wurde seit dem 16. Jahrhundert mehrfach die Autorenschaft Gregors angezweifelt.687 Zuletzt nahm in den späten 1980er Jahren Francis Clark mit seinem opulenten Werk unter dem vielsagenden Titel „The PseudoGregorian Dialogues“688 die These einer Pseudepigraphie auf. Er schreibt die Dialoge einem anonymen Verfasser des späten 7. Jahrhunderts689 mit Zugang zum päpstlichen scrinium zu, für den er die Bezeichnung „Dialogist“ ein683 Hierauf deuten vor allem die zahlreichen Anachronismen in den Erzählungen, vgl. Petersen, Dialogues, 60 f. 684 Zu dieser Deutung vgl. Petersen, Dialogues, 60–66. 685 Eulogius, der Patriarch von Alexandrien, hatte dieses Werk, das er Euseb von Caearea zuschrieb, von Gregor angefordert. Unter diesem Namen konnte dieser es freilich nicht finden, vgl. Greg.‑M. Ep. VIII, 28 (CCSL 140A, 549, 4–550,24). 686 Barbara Müller bringt die beiden unterschiedlichen Perspektiven und Intentionen pointiert auf den Punkt: „Wird in den Gesta martyrum das institutionell-kirchliche System und die gloriose Vergangenheit der Märtyrerkirche zelebriert, so porträtiert Gregor seine Kirche auf dem Fundament von lebenden, nach persönlicher Heiligkeit strebenden Menschen, deren präsente Kraft er für die Kirche höher einschätzt als diejenige historischer Märtyrer.“ Müller, B., Führung, 226. Vgl. auch Petersen, Dialogues, 66–89. 687 Zur Forschungsdiskussion seit der ersten Infragestellung durch Huldreich Coccius vgl. Müller, B., Führung, 214–218 und Kessler, St., Exeget, 44–46. 688 Clark, Dialogues I+II. 689 Als terminus ante quem non nennt er das Jahr 671, als terminus post quem non 688, s. Clark, Dialogues I, 29.
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führt.690 Dieser habe unter dem Eindruck der Gesta Martyrum einzelne Wun dererzählungen und lehrhafte Texte Gregors in einen narrativen Rahmen eingeordnet. Dementsprechend unterteilt Clark die Dialoge in authentisch gregorianische Abschnitte691 und Textpassagen des Dialogisten. Die Argumente für diese These gliedert Clark in zwei Gruppen, die externe und die interne Kritik. Als „external evidence“692 führt er vor allem die späte Bezeugung und Rezeption des Werkes an, die erst im letzten Jahrzehnt des 7. Jahrhunderts einsetzt. Frühere Zitate und Verweise auf die Dialoge betrachtet Clark als Fehldatierungen oder nachträgliche Interpolationen.693 In der internen Kritik694 unterscheidet er die Passagen Gregors von denen des Dialogisten anhand von Differenzen in Stil, Vokabular, Stringenz der Argumentation, Verlässlichkeit der historischen Angaben, Theologie und auch der Persönlichkeit Gregors. Als Vergleichspunkt dienen die anderen Werke des Papstes. Trotz ihrer Verdienste um die frühe Rezeptionsgeschichte der Dialoge kann die Untersuchung Clarks indes nicht überzeugen. Die interne Kritik spricht dem römischen Bischof jegliche Kompetenz zur sprachlichen Varianz ab, die aber auch in den übrigen Werken gut zu beobachten ist, wie die vorangegangen Kapitel deutlich gezeigt haben.695 Besonders aber die Argumentationsführung Clarks in der äußeren Kritik offenbart sich als auffallend zielorientiert: Die Fälschungsthese basiert auf diversen, keinesfalls gesicherten weiteren Fälschungsund Interpolationshypothesen sowie auf gewagten Neudatierungen.696 690
Clark, Dialogues I, 5. Sogenannte IGPs (Inserted Gregorian Passages), vgl. Clark, Dialogues I, 18 f. 692 So der Titel des zweiten Teils seiner Studie, der die externe Kritik beinhaltet, Clark, Dialogues I, 47–295. 693 Den Brief Gregors an Maximianus von Syracus, vgl. Greg.‑M. Ep. III, 50 (CCSL 140, 195, 1–196, 11), den Kronzeugen der klassischen Datierung schlechthin, betrachtet Clark wenig überzeugend als weitere Fälschung des Dialogisten, um seine in den Dialogen eingearbeitete Datierung zu untermauern, oder – sollte der Brief tatsächlich aus Gregors Feder stammen – lediglich als Beleg für den Plan eines Werkes über italische Wundermänner, nicht aber für die tatsächliche Ausführung, vgl. Clark, Dialogues I, 81. 694 Teil III der Studie, Clark, Dialogues II, 409–717. 695 Vgl. Kap. 5.1–5.3. 696 Vgl. das kritische Votum Kesslers: „In der übergroßen Fülle des bearbeiteten Materials werden alle Zeugnisse jedoch so interpretiert, daß sie die These Clarks unterstützen, so daß der Leser den Eindruck erhält, es fehle an der für den Historiker unerläßlichen amour desinteressé. Für den neutralen Beobachter sind die an den entscheidenden Punkten immer hypothetischer werdenden Einwände und Suggestivschlüsse zuweilen schwer nachvollziehbar“, Kessler, St., Rätsel, 573. Die Thesen Clarks stießen in der jüngeren Vergangenheit weitestgehend auf Ablehnung, vgl. Müller, B., Führung, 217. Einen Mittelweg beschreitet Kessler: Seiner Meinung nach ist das Werk im Groben von Gregor verfasst, aber vor der Veröffentlichung von zweiter Hand (Gregor war aufgrund seiner Krankheit dazu nicht mehr fähig) ediert worden, vgl. Kessler, St., Rätsel, 577 f. sowie Kessler, St., Exeget, 57–59. Einige Forscher nähern sich den Dialogen indes mitunter nur mit großer Vorsicht und Vorbehalten, vgl. Fiedrowicz, Kirchenverständnis, 22; Modesto, Nachfolger, 262–264. 691
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Ein weiterer unsicherer Punkt in der Bewertung der Dialoge ist die Frage nach ihrem konkreten Anlass. Barbara Müller vermutet, dass Gregor durch den Streit über die Wirkmächtigkeit von Reliquien, den er in seiner Zeit in Konstantinopel miterlebte, zum Verfassen seiner Dialoge angeregt wurde.697 Die Dialoge, die auch von Wundern an Heiligengräbern oder durch Reliquien berichten,698 versteht sie u. a. als „Gregors Beitrag zur damaligen Debatte über die Heiligkeit“699, also quasi als eine Apologie der Heiligen- und Reliquienverehrung. Hierbei muss aber die geringe Relation der Reliquienwunder zu den übrigen Erzählungen berücksichtigt werden.700 Die Idee zu der Schrift ist möglicherweise im Kontext dieser theologischen Diskussion entstanden. Jedoch stellt sie sicher keinen Beitrag dazu dar, da der Sitz im Leben des Werkes eher auf das Umfeld Roms hindeutet als auf die theologischen Diskussionen am Kaiserhof in Konstantinopel. Gregor gestaltet eine unterhaltsame Erzählung, die ihren belehrenden Charakter fast unbemerkt durch die eingestreuten Reflexionen erhält, diese stehen eben nicht im Fokus.701 Gregor verweist im Prolog des ersten Buches in keiner Weise auf die Debatte um den Reliquienkult,702 sondern offenbart die bekannte didaktisch-eschatologische Intention der gregorianischen Schriften.703 Gregors Ziel als Seelsorger und Katechet war es, den Blick der Christen auf das himmlische Reich zu lenken und sie zu einer dementsprechenden Lebensweise anzuleiten.704 Insofern gehe ich davon aus, dass Gregor durch die Diskussionen in Konstantinopel für Fragen der konkreten Eschatologie und auch den Spezialfall der Reliquien sensibilisiert wurde, zumal das vierte Buch der Dialoge in der Chronologie der Abfassung 697 S. Müller,
B., Führung, 81. 20. Z. B. Greg.‑M. Dial. I, 4, 20 (SC 260, 56, 235–245); IV, 6, 1 (SC 265, 38, 1–40, 13); IV, 42, 2 (SC 265, 152, 14–16) u. ö. 699 Müller, B., Führung, 220. 700 In den 150 Kapiteln, die mitunter mehrere Erzählungen enthalten, werden nur 17 Wunder im Zusammenhang mit Reliquien oder Heiligengräbern überliefert, zur eher marginalen Stellung der Reliquien- und Grabwunder in den Dialogen besonders im Vergleich mit anderen zeitgenössischen hagiographischen Erzählungen wie den Werken Gregors von Tours, vgl. Petersen, Dialogues, 130–134. 701 Vgl. die bewundernde Beurteilung Brunhölzls: „Gregor weiß zu erzählen, er ist ein Meister der Erzählkunst. Frisch und ungezwungen, schlicht und ohne falsches Pathos trägt er seine Geschichten vor, bald in fast beschaulichem Plauderton, dann wieder mit lebhafter Rede und Gegenrede die geruhsame Erzählung auflockernd und belebend. Die Wirkung wird dadurch erhöht, daß die Belehrung, auf die es Gregor letztlich immer ankommt, jeweils erst am Ende einer oder mehrerer kleiner Geschichten gegeben wird und so das unterhaltende, für die noch ansprechbaren Leser wohl auch fesselnde Moment der Erzählungen sich frei entfalten kann.“, Brunhölzl, Geschichte 1, 58. 702 Nichtsdestotrotz setzt sich Gregor dennoch mit dem Zweifel an der Unsterblichkeit der Seele auseinander, eine Position, die ihm entweder noch aus seiner Zeit in Konstantinopel geläufig war oder auch aktuell in Rom begegnete, vgl. Greg.‑M. Dial. III, 38, 5 (SC 260, 432, 47–58). 703 Vgl. Greg.‑M. Dial. I, prol., 9 (SC 260, 16, 70–79). 704 Vgl. Kisić, Patria, 259. 698
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wohl an erster Stelle zu platzieren ist.705 Ebenso kann Gregor dort in Kontakt mit der Historia religiosa Theodorets gelangt sein, die ihm als Vorlage diente.706 Der eigentliche Anlass und die Abfassung des Werkes sind aber im Kontext seines Episkopats zu verorten. Erst im konkreten Gegenüber der Gemeinde mit ihren Sorgen und Zweifeln gewinnen die Dialoge ihren Zweck: Trost und moralische Katechese der Gläubigen. Die Dialoge erweisen sich keineswegs als reine Sammlung von Wunderlegenden Italiens, wie es auf den ersten Blick vielleicht erscheinen mag.707 Vielmehr weist auch dieses Werk eine breite literarische Kenntnis sowie ein klares theologisches Konzept auf, mit dem Gregor die Christen zur rechten Lebensführung auf dem Weg in die himmlische Heimat motivieren will. Insofern liegen sie auf einer Ebene mit seinen übrigen Werken, besonders mit denen aus der Zeit seines Pontifikats. Die Unterschiede in Sprache und Form sind nicht als Mängel anzusehen, die auf eine Pseudepigraphie hinweisen, sondern als Beweis für den Variantenreichtum im gregorianischen Œuvre. Zuletzt ist danach zu fragen, welcher Wert als historischer Quelle den Dialogen überhaupt zugesprochen werden kann. Ihre Gattungszugehörigkeit zur Hagiographie mit den damit einhergehenden Schwierigkeiten ist bereits zur Sprache gekommen. In der Forschung wurde in den letzten Jahrzehnten besonders die Unzuverlässigkeit der historischen Beschreibungen in diesem Werk betont.708 Im Vergleich mit anderen, verlässlicheren Quellen sind einige Beschreibungen der Dialoge ob ihrer Historizität falsifiziert worden.709 Insofern ist es ein heikles Unterfangen, diese als Basis für eine sozialgeschichtliche Untersuchung zu nutzen. Dieses soll im Folgenden nicht geschehen. Vielmehr sei die Frage an die Dialoge gestellt – wie auch an die übrigen literarischen Werke Gregors –, welches Ideal von tätiger Nächstenliebe sie beschreiben.710 Der Fokus liegt also nicht auf karitativen Formen in der erzählten Zeit, dem 5. und frühen 6. Jahrhundert, sondern darauf, welche Handlungen der Papst in den 590er Jahren als heiliges Verhalten präsentiert. Ein besonderes Interesse gilt den Institutionen der Nächstenliebe.711 Dabei ist freilich nicht auszuschließen, dass diese auch 705 Vgl.
de Vogüé, Introduction, 53 f. und Müller, B., Führung, 227 f. Petersen, Dialogues, 181–188 und Müller, B., Führung, 224 f. 707 Fredderick Homes Duddens charakterisiert die Erzählungen harsch als „wild tales“, Dudden, Place I, 358. 708 Vgl. Petersen, Dialogues, 15–21 und Jenal, Italia I, 192–196.224–226. 709 Als Beispiel wäre der Hinweis auf eine Verfolgung der großkirchlichen Christen in Nordafrika durch die Vandalen zur justinianischen Zeit zu nennen, vgl. Greg.‑M. Dial. III, 32 (SC 260, 390, 1–5). Tatsächlich verweist u. a. das Geschichtswerk des Procopius in das 5. Jahrhundert, vgl. Proc. Bell. Vand. 1, 8 (Veh 60–68), vgl. außerdem Petersen, Dialogues, 18–20. 710 Eine ähnliche Perspektive nimmt auch Johannes Fried ein, wenn er nach der Funktion der Benediktserzählungen fragt und nicht nach der Historizität des Berichteten, vgl. Fried, Schleier, 352 f.; 355 u. ö. 711 Vgl. Kap. 5.4.2.2. 706 Vgl.
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bereits in früheren Zeiten existierten, was etwa bei der Krankenversorgung in Klöstern sicher der Fall war.712 Obwohl die Historizität nicht sein Interesse war, ist nicht automatisch jeder Aussage Gregors ein Anachronismus zu unterstellen. An dieser Stelle soll darüber aber kein Urteil gefällt werden, da allein auf Gregors Aussagen Wert gelegt wird. Welche Formen, Einrichtungen und Handlungen der Nächstenliebe kann er sich vorstellen, unabhängig von der jeweils berichteten Zeit? Und welche empfiehlt er besonders? Ebenso wird im Folgenden nicht die Frage nach der Historizität der Wundertaten gestellt.713 Vielmehr soll danach gefragt werden, welche Taten Gregor als Wunder betrachtet, insbesondere solche, die dem Mitmenschen dienen, also Werke der Nächstenliebe sind.
5.4.1 Die Täter der Nächstenliebe In Entsprechung zum gesamten Personaltableau der Dialoge, das hauptsächlich Asketen und Kleriker umfasst,714 werden auch die meisten Handlungen der Nächstenliebe von diesen Personengruppen vollbracht. Gregor will mit den Wundergeschichten exemplarisch heiliges Leben beschreiben und das ist für ihn vornehmlich mit asketischem Verzicht und kirchlichem Dienst verbunden. Zu diesem gehört explizit, dass man „sich besonders den Werken der Almosen widmet, als Freund der Armen und Verächter seiner selbst.“715 Außerdem ist die zentrale Aussage der Dialoge, dass der Geist Gottes in Italien wirksam ist, besser nachzuvollziehen, wenn die Wunder mit den viri Dei716 in Verbindung stehen. So gelingt der Rückschluss auf den eigentlichen, himmlischen Akteur leichter. Nichtsdestotrotz findet sich auch in den Dialogen harsche Kritik an fehlbaren Asketen,717 wie sie bereits in den anderen Werken zu beobachten war.718 Im Positiven werden Mönche vorgestellt, die sowohl innerhalb als auch außerhalb ihres Klosters einen Dienst am Mitmenschen tun.719 Ebenso werden entsprechende Taten eremitisch lebenden Asketen zugeschrieben.720 Einen 712 Vgl. Ben. Reg. 36, 1–10 (CSEL 75, 95 f.) und Jenal, Italia I, 105. 222. 246; Miller, Birth, 118–140. 713 Vgl. Petersen, Dialogues, XXI. 714 Vgl. de Vogüé, Introduction, 95 f. und Müller, B., Führung, 228–232. 715 „[…] elemosinarum maxime operibus uacans, cultor pauperum et contemptor sui.“ Greg.‑M. Dial. IV, 42, 1 (SC 265, 150, 5–152, 7). 716 Und einigen wenigen feminae Dei, vgl. Müller, B., Führung, 230–233. 717 Vgl. Greg.‑M. Dial. III, 7, 1–10 (SC 260, 278, 1–284, 93); III, 28, 2 f. (SC 260, 374, 14–376, 25). 718 Vgl. Kap. 5.2.3.3 und 5.3.1.3. 719 Vgl. z. B. Greg.‑M. Dial. I, 3, 2–4 (SC 260, 34, 8–36, 40); I, 4, 4 (SC 260, 40, 36–38) und insbesondere Kap. 5.4.2.3.2. 720 Vgl. z. B. Greg.‑M. Dial. II, 1, 8 (SC 260, 136, 90 f.).
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ähnlich breiten Raum unter dem Fokus der tätigen Nächstenliebe nehmen die Bischöfe ein. Solche Werke scheinen zum Profil des Amtes zu gehören.721 Gregor erwähnt indes nicht nur Geistliche als Täter der Nächstenliebe. Ebenso berichtet er von zwei Wundern, die von Laien vollbracht wurden und zugleich anderen zugutegekommen sind: Bonifatius, der spätere Bischof von Ferentino, bekleidete bereits als kleiner Knabe Nackte und speiste die Hungrigen, sooft es ihm möglich war. Allerdings teilte er dabei auch diejenigen Vorräte aus, die ihn und seine Mutter ein ganzes Jahr ernähren sollten. Durch inbrünstiges Gebet wirkte er ein Mehrungswunder, das die Existenz der Familie sicherte.722 Die andere laikale Wundererzählung723 ist bereits aus den Evangelienhomilien bekannt724 und berichtet von der wundersamen Rettung eines Gefangenen durch die Messfeiern, die seine Frau für ihn stiftete. Beide Fälle sind allerdings einzuschränken: Bonifatius ist zwar als Knabe noch ein Laie, die Kindheitserzählung soll aber lediglich seine Heiligkeit als Bischof antizipieren. Insofern ist auch dieses Wunder als ein episkopales zu werten. Das Rettungswunder durch die Messfeier hingegen wird nur bedingt durch die Ehefrau gewirkt. Obwohl sie auch hier als Subjekt der Handlung auftritt,725 zielt Gregor an dieser Stelle eigentlich auf die vollmächtige Wirkung der Messe selbst ab, wie der weitere Kontext in den Kapiteln 57–62 beweist, die sich alle der Heilswirksamkeit der Messfeier widmen. Außer von mirakulösen Formen der Nächstenliebe berichtet Gregor – zwar eher am Rande als im Zentrum seiner Erzählungen – von gängigeren Formen, die von Laien geübt werden. So kommt es den Angehörigen zu, ein krankes Familienmitglied zu pflegen726 und gegebenfalls einen Arzt zu rufen.727 Erweist sich alle medizinische Behandlung als erfolglos, so leisten Familie und Freunde dem Sterbenden Trost und Beistand728 und sorgen im Anschluss für die Bestattung.729 Außerdem wird noch die Almosengabe erwähnt. Hierbei sind zwei Formen zu unterscheiden: Zum einen sind die Gaben ganz klassisch für Arme und Be721 Vgl. Greg.‑M. Dial. I, 9, 4 (SC 260, 78, 37–44); I, 9, 10 (SC 260, 84, 113–152); I, 10, 6 (SC 260, 96, 54–98, 70) und Kap. 5.4.2.3.1. 722 Vgl. Greg.‑M. Dial. I, 9, 16 f. (SC 260, 90, 179–201). 723 Vgl. Greg.‑M. Dial. IV, 59, 1 (SC 265, 196, 1–8). 724 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. II, 37, 8 (CCSL 141, 354, 179–194) und Kap. 5.3.1.5. 725 Vgl. Kap. 5.3.1.5. 726 Vgl. Greg.‑M. Dial. IV, 15, 3 (SC 265, 60, 15). 727 Vgl. Greg.‑M. Dial. IV, 13, 1 (SC 265, 52, 6–9). Im dritten Buch erwähnt Gregor eine infirmorum domus in seinem Umfeld, in der Ärzte und Pfleger arbeiten. Unklar ist, in welcher Trägerschaft diese Einrichtung stand, da die Geschichte, von der Gregor selbst als Augenzeuge berichtet, nicht näher datiert ist. Es ist also unsicher, ob sich die Angabe ad me auf das Andreaskloster oder den Lateran bezieht, vgl. Greg.‑M. Dial. III, 35, 3–4 (SC 260, 404, 16–406, 37). 728 Vgl. Greg.‑M. Dial. IV, 17, 2 (SC 265, 68, 12–15). 729 Vgl. Greg.‑M. Dial., IV, 28, 3–5 (SC 265, 96, 22–98, 40); IV, 56, 1 (SC 265, 182, 3–5) und Kap. 5.4.2.2.
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dürftige bestimmt, wie Gregor es auch in seinen übrigen Werken immer wieder einfordert.730 Zum anderen werden mehrfach Spenden erwähnt, die für den Unterhalt von Eremiten und Klöstern bestimmt sind.731 Im Gegenzug dienten die Asketen den Menschen durch das Gebet732 oder durch ihre Predigt.733 Auch in der hagiographischen Gattung bleibt Gregor also seinem Konzept von reziproker Unterstützung von Laien und Asketen treu.734 Durch die Konzentration auf geistlich herausragende Persönlichkeiten begegnen in den Dialogen also vornehmlich Kleriker und Asketen als Täter der Nächstenliebe. Die übrigen Christen werden nur marginal erwähnt, ihnen fallen dann entweder die klassische familiäre Fürsorge oder die Unterstützung der Asketen zu.
5.4.2 Formen tätiger Nächstenliebe Die Fokussierung auf die Heiligkeit der Protagonisten hat auch Konsequenzen für die in den Dialogen beschriebenen Formen von Nächtstenliebe: Handlungen, die wie das Almosen oder die Predigt ansonsten im gregorianischen Œuvre häufig erwähnt werden, begegnen hier nicht oder nur am Rande. Dafür beschreibt der römische Bischof hier, wie sich die heiligen Männer dem Mitmenschen durch Wundertaten zuwenden.735 Aus dem eschatologischen Schwerpunkt des vierten Buches ergibt sich zudem die Gruppe der Liebestaten, die dem sterbenden bzw. gestorbenen Nächsten gelten.736 Trotz aller einzigartigen Wundertätigkeit beschreibt Gregor dennoch, wie gerade in gefestigten Strukturen wie der episkopal geleiteten Gemeinde oder dem koinobitischen Kloster Nächstenliebe verwirklicht werden kann.737
5.4.2.1 Wundertätige Nächstenliebe Zahlreiche der erzählten Wunder verüben die Protagonisten nicht im eigenen Interesse, sondern zum Nutzen eines Mitmenschen. Insofern sind auch viele 730 Vgl. Greg.‑M. Dial. IV, 15, 3 (SC 265, 60, 16 f.); IV, 37, 13 (SC 265, 132, 104–109); IV, 38, 1 (SC 265, 136, 1–11). 731 Vgl. Greg.‑M. Dial. II, 1, 8 (SC 260, 136, 87–91); III, 14, 4 (SC 260, 40–306, 47); III, 14, 9 (SC 260, 310, 99–104); III, 26, 4 (SC 260, 368, 26–29). 732 Vgl. Greg.‑M. Dial. III, 14, 9 (SC 260, 310, 99–104). 733 „Wenn sie ihm [scil. Benedikt von Nursia] Speisen für den Leib brachten, trugen sie in ihrer Brust aus seinem Mund Nahrung für das Leben zurück.“ (qui cum ei cibos deferrent corporis, ab eius ore in suo pectore alimenta referebant uitae.) Greg.‑M. Dial. II, 1, 8 (SC 260, 136, 90 f.). Zur Gegenüberstellung von leiblicher und geistiger Nahrung vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 6, 6 (CCSL 141, 44, 134–137); II, 29, 4 (CCSL 141, 248, 98–104); II, 40, 10 (CCSL 141, 407, 345–352) und Kap. 5.3.1.1. 734 Vgl. Kap. 5.3.3.1. 735 Vgl. Kap. 5.4.2.1. 736 Vgl. Kap. 5.4.2.2. 737 Vgl. Kap. 5.4.2.3.
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der Mirakel als tätige Nächstenliebe zu werten. Zu diesen zählen allen voran die Krankenheilungen738 und Exorzismen,739 aber auch die Auferweckung von Toten.740 Zudem werden diverse Mehrungswunder mit Nahrungsmitteln vollbracht, die in Zeiten des Hungers die größten Nöte lindern.741 Nicht nur die Intention, dem Nächsten zu helfen, sondern auch die Art und Weise, wie sie geübt werden, verbinden diese Wunder. Unabhängig von der jeweiligen Kategorie nennt Gregor bei fast allen ein Gebet im näheren Kontext.742 Für dieses verwendet er drei verschiedene, aber weitgehend synonyme Begriffe: oratio/orare,743 intercessio/intercedere744 und preces.745 Außer dem Gebet gibt es kein einheitliches Element im Vollzug der Wunder, die Handlungsweisen und Hilfsmittel der Akteure variieren stark: Mal wird das Kreuzzeichen geschlagen,746 mal der Mensch oder das Objekt mit der Hand747 oder dem ganzen Körper748 berührt. In einer Erzählung wird der Verletzte mit Weihwasser besprengt,749 bei anderen Wundern reicht schon ein schlichter Befehl aus.750 Bei Exorzismen wird mitunter ein rauerer Ton angeschlagen, so kommt es zu bösem Spott751 oder 738 Vgl. Greg.‑M. Dial. I, 4, 4–6 (SC 260, 40, 36–42, 64); I, 10, 8 (SC 260, 100, 94–98); I, 10, 14 f. (SC 260, 104, 146–106, 180); II, 26 (SC 260, 214, 1–7); II, 27, 3 (SC 260, 216, 18–26); III, 2, 3 (SC 260, 268, 22–26); III, 3, 1 f. (SC 260, 268, 1–270, 21); III, 25, 1 f. (SC 260, 364, 1–366, 23); III, 33, 7–9 (SC 260, 396, 51–398, 81); III, 35, 3–4 (SC 260, 404, 16–406, 37). 739 Vgl. Greg.‑M. Dial. I, 4, 7 (SC 260, 42, 71–44, 83); I, 10, 5 (SC 260, 96, 46–53); I, 10, 6 (SC 260, 96, 54–56); II, 4, 3 (SC 260, 152, 26–32); III, 4, 2 f. (SC 260, 270, 16–272, 34); III, 14, 3 (SC 260, 304, 25–38); III, 21, 3 (SC 260, 354, 20–28); III, 33, 5 (SC 260, 396, 38–45). 740 Vgl. Greg.‑M. Dial. I, 2, 5 f. (SC 260, 26, 46–28, 68); I, 10, 17 f. (SC 260, 106, 186–110, 219); I, 12, 1–3 (SC 260, 112, 1–114, 40); II, 11, 1 f. (SC 260, 172, 1–174, 25); II, 32, 1–3 (SC 260, 226, 1–228, 33); III, 17, 1–5 (SC 260, 336, 1–340, 52); III, 33, 1 (SC 260, 394, 5 f.). 741 Vgl. Greg.‑M. Dial. I, 9, 2–5 (SC 260, 76, 8–80, 57); I, 9, 17 (SC 260, 90, 186–201); II, 21, 1 f. (SC 260, 198, 1–16); II, 29, 1 f. (SC 260, 218, 1–220, 18); III, 37, 4–7 (SC 260, 414, 36–416, 66). Nicht in Zeiten der Hungersnot, sondern als Geste der hospitalitas wird die Weinvermehrung in I, 9, 14 (SC 260, 88, 153–164) vollbracht. 742 Vgl. Müller, Barbara, The diabolical Power of Lettuce, or Garden Miracles in Gregory the Great’s Dialogues, in: Cooper, K./Gregory, J. (Hgg.), Signs, wonders, miracles. Representations of divine power in the life of the church, SCH(L) 41, Woodbridge 2005, 46–55, hier: 50 f. 743 Vgl. Greg.‑M. Dial. I, 4, 7 (SC 260, 44, 76); I, 9, 17 (SC 260, 90, 196); I, 10, 1 (SC 260, 92, 5 f.); I, 10, 5 (SC 260,96, 49); I, 10, 8 (SC 260, 100, 96 f.); I, 10, 18 (SC 260, 108, 207); II, 11, 2 (SC 260, 174, 21); II, 29, 1 (SC 260, 218, 2.4.9); II, 32, 3 (SC 260, 228, 28); III, 6, 2 (SC 260, 278, 14); III, 17, 3 f. (SC 260, 338, 25.27.31.32.33); III, 33, 1 (SC 260, 394, 5); III, 33, 5 (SC 260, 396, 42); III, 33, 7 (SC 260, 396, 51); III, 33, 8 (SC 260, 398, 67); III, 35, 4 (SC 260, 406, 31.33). 744 Vgl. Greg.‑M. Dial. I, 10, 15 (SC 260, 106, 168). 745 Vgl. Greg.‑M. Dial. I, 10, 18 (SC 260, 108, 208); III, 33, 8 (SC 260, 398, 64 f.). 746 Vgl. Greg.‑M. Dial. I, 10, 8 (SC 260, 100, 96–98); III, 6, 2 (SC 260, 276, 12–278, 15). 747 Vgl. Greg.‑M. Dial. III, 2, 3 (SC 260, 268, 26); III, 35, 4 (SC 260, 406, 31). 748 Vgl. Greg.‑M. Dial. II, 32, 3 (SC 260, 228, 24); III, 14, 3 (SC 260, 304, 37), ohne nähere Angabe vgl. Greg.‑M. Dial. II, 27, 3 (SC 260, 216, 25 f.). 749 Vgl. Greg.‑M. Dial. I, 10, 15 (SC 260, 106, 172 f.). 750 Vgl. Greg.‑M. Dial. I, 10, 18 (SC 260, 108, 207–210); III, 21, 3 (SC 260, 354, 20–26). 751 Vgl. Greg.‑M. Dial. III, 4, 2 (SC 260, 270, 20–272, 27).
5.4 Die Dialoge – Herausragende Personen und solide Institutionen
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tätlicher Gewalteinwirkung.752 Der Wundertäter scheint seine potestas durch Tränen753 oder Fasten754 noch verstärken zu können. Auffällig ist, dass Gregor im Vergleich zur übrigen hagiographischen bzw. thaumatologischen Literatur der Zeit nur von wenigen Wundern berichtet, die am Grab oder durch Reliquien der Wundertäter geschehen.755 Joan Petersen hat auf diesen Umstand aufmerksam gemacht und unterstreicht, dass Gregor seinen Adressaten gerade mit lebendigen Wundertätern Identifikationsfiguren und Vorbilder an die Hand gab.756 Allerdings beweist ihr Blick zu enge Grenzen, wenn sie behauptet, der römische Bischof berichte keine Heilungswunder im Kontext von Gräbern.757 Die Dialoge bieten zwar keine ausführliche Erzählung einer Heilung am Grab, nichtsdestotrotz verweist der Papst explizit auf solche Vorkommnisse.758 Vergleichbar sind außerdem Heilungen, die zwar nicht an Gräbern, aber durch Reliquien gewirkt werden.759 Zudem berichtet Gregor von Mönchen, die vor den Langobarden an das Grab des Equitius flohen und durch Anrufung des Heiligen aus der Gefahr gerettet wurden.760 Beides steht den klassischen Wundern am Grab äußerst nahe, insofern ist die Aussage Joan Petersens in Teilen einzuschränken. Nichtsdestotrotz ist die Beobachtung zutreffend und wertvoll, dass sich die Dialoge vom Gros der Wunderliteratur der Spätantike durch ihre Fokussierung auf lebende Akteure absetzen.761 Beachtlich sind außerdem zwei Erzählungen, in denen die potestas der Wundertäter nicht allein auf deren heiligen Lebenswandel zurückgeführt wird. Diese wird zudem mit der Macht des örtlichen Heiligen – in beiden Fällen ist dies Petrus – verbunden. In dem einen Fall wird zu Papst Agapet ein lahmer und stummer Mann gebracht, dessen Angehörigen alle Hoffnung auf „die Macht Gottes mit der Wirkung Petri“762 setzen. Agapet begibt sich ins Gebet und kann tatsächlich die Leiden des Mannes durch die Darreichung der Kommunion beenden.763 Die andere Erzählung berichtet davon, dass ein gichtbrüchiges 752
Vgl. Greg.‑M. Dial. II, 4, 3 (SC 260, 152, 28); II, 30, 1 (SC 260, 220, 12). Vgl. Greg.‑M. Dial. I, 12, 2 (SC 260, 114, 20); III, 33, 8 (SC 260, 398, 65–68). 754 Vgl. Greg.‑M. Dial. III, 33, 5 (SC 260, 396, 40–42). 755 Vgl. Greg.‑M. Dial. I, 2, 5 f. (SC 260, 26, 46–28, 68); I, 10, 19 (SC 260, 110, 220–228); II, 38, 1 (SC 260, 246, 1–12); III, 17, 1–5 (SC 260, 336, 1–340, 52); IV, 42, 2 (SC 265, 152, 14–16). Zur zeitgenössischen Hagiographie vgl. Barnes, Timothy, Early Christian Hagiography and Roman History, Tria corda: Jenaer Vorlesungen zu Judentum, Antike und Christentum 5, Tübingen 2010, 235–242. 756 Vgl. Petersen, Dialogues, 130–141, besonders 131 f. 757 Vgl. Petersen, Dialogues, 132. 758 Vgl. Greg.‑M. Dial. IV, 6, 1 (SC 265, 40, 10–13). 759 Vgl. Greg.‑M. Dial. I, 2, 5 f. (SC 260, 26, 46–28, 68); III, 17, 1–5 (SC 260, 336, 1–340, 52); IV, 42, 2 (SC 265, 152, 14–16). 760 Vgl. Greg.‑M. Dial. I, 4, 21 (SC 260, 248–58, 262). 761 Vgl. auch die Wundererzählungen in Aug. ciu. 22, 8 (CCSL 48, 815, 1–827, 481), die ihren Ausgangspunkt in der Translation der Stephanus-Reliquien nehmen. 762 „[…] in uirtute Dei ex auctoritate Petri“ Greg.‑M. Dial. III, 3, 2 (SC 260, 368, 10). 763 Vgl. Greg.‑M. Dial. III, 3, 1 f. (SC 260, 268, 1–270, 21). 753
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Mädchen durch eine Vision von Petrus persönlich zu Acontius, dem Mesner an der römischen Petersbasilika, gesandt wird, der sie schließlich heilt.764 Diese beiden Fälle verdeutlichen, dass Gregor nicht auf die Glorifizierung einzelner Wundertäter abzielt, sondern auf das aktuelle Wirken Gottes in der Welt. Insofern ist es nicht weiter relevant und auch gar nicht zu differenzieren, ob der uir Dei für sich allein die Vollmacht zur Wunderwirkung besitzt oder auf Unterstützung himmlischer Mächte zurückgreift. Diesen Gedanken unterstreicht Gregor, wenn er seinem Dialogpartner darlegt, dass Kinder Gottes Wunder mal ex potestate, mal ex postulatione wirken.765 Das Gebet, das bei fast allen erzählten Wundern als konstitutives Element begegnet, verweist darauf, dass die potestas letztendlich bei Gott liegt. Zu ihm stellen die Akteure betend die Verbindung her und erlangen so Anteil an seiner Macht.766 Die in den Dialogen geschilderten Wunder, die zum Nutzen des Nächsten geübt werden, stehen in biblischer Tradition und finden ihr Vorbild im Wirken Jesu, aber auch der Apostel und alttestamentlichen Propheten. Ähnlich wie diesen ist auch Gregors Generation die Aufgabe zur Ausbreitung des Evangeliums gegeben.767 Insofern kann er die erzählten Ereignisse als einer dem biblischen Text ebenbürtigen Quelle verstehen und deuten. Seine Methode ist dabei – wie auch in der Schriftauslegung – die typologische Exegese.768 Ebenso wie die Propheten des AT verweisen die gegenwärtigen Gottesmänner auf den einen Archetypos Christus. Auf die Parallelität zu den biblischen Wundern verweist der römische Bischof zumeist explizit,769 mitunter ist die Ähnlichkeit nur für schriftkundige Leser zu erkennen. So erinnert z. B. das Schweigegebot, das ein Mönch nach gewirktem Wunder erlässt, an die Versuche Jesu, sein Wirken geheimzuhalten.770 Die To764
Vgl. Greg.‑M. Dial. III, 25, 1–3 (SC 260, 364, 1–366, 28). Vgl. Greg.‑M. Dial. II, 30, 2 f. (SC 260, 220, 15–222, 32). 766 Vgl. Greg.‑M. Dial. II, 8, 9 (SC 260, 166, 74–87). 767 Vgl. Müller, B., Führung, 240 f. und Fiedrowicz, Kirchenverständnis, 134–137. 768 Vgl. Petersen, Dialogues, 25–55; zur Schriftauslegung Gregors vgl. Hofmann, D., Auslegung; Wyrwa, Zugang; Zinn, Exegesis; DeGregorio, Exegesis; Kessler, St., Exeget, 191–257; Greschat, Moralia, 53–64; Floryszczak, Regula, 208–229 sowie Kap. 5.2.2.1. 769 Vgl. Greg.‑M. Dial. I, 2, 7 (SC 260, 28, 71–30, 85) mit Verweis auf 2 Kön 2,14; I, 4, 5 (SC 260, 42, 60–64) mit Verweis auf Joh 4,46–53; II, 8, 8 (SC 260, 164, 68–166, 73) mit Verweisen auf Num 20,7–11, 2 Kön 6,5–7, Mt 14,28 f.parr, 1 Kön 17,4–6 und 2 Sam 1,11 f.; III, 21, 4 f. (SC 260, 354, 31–356, 45) mit Verweis auf Mt 8,30–32parr; III, 37, 8f (SC 260, 416, 72–81) mit Verweis auf Mt 14,13–21parr. 770 Vgl. etwa Greg.‑M. Dial. III, 17, 5 (SC 260, 340, 44–48). Ein anderes Mal wird ausdrücklich auf die biblische Vorlage hingewiesen, vgl. Greg.‑M. Dial. I, 9, 5 (SC 260, 80, 50–57). Zu den markinischen Schweigegeboten, vgl. Kollmann, Bernd, Jesu Schweigegebote an die Dämonen, ZNW 82 (1991), 267–273; Luz, Ulrich, Das Geheimnismotiv und die markinische Christologie, ZNW 56 (1965), 9–30. Einen Überblick über die Forschungsdiskussion zur Weber’schen These des Messiasgeheimnis bietet Gnilka, Joachim, Das Evangelium nach Markus, EKK II/1+2, Neukirchen-Vluyn 22015, Bd. 1, 167–170. 765
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tenerweckung durch Fortunatus von Todi wiederum ist bis ins Detail an Joh 11, 1–45 angelehnt, wie die Trauer des Bischofs zeigt.771 Trotz des großen Raums, den die Wundererzählungen in den Dialogen einnehmen, fassen sie dennoch nur einen Teil der Intention Gregors: die Tröstung der angefochtenen Bevölkerung angesichts der aktuellen Not. Die Aufforderung zu einem moralischen, gottgefälligen Leben könnte durch die imposanten Geschichten hingegen in Resignation und Selbstzweifel verhallen. Deshalb setzt Gregor wiederholt den Wert der Wunder ausdrücklich herab. So erwidert er auf das Staunen des Petrus über eine Totenerweckung, dass die Bekehrung zum Christentum durch Predigt oder Fürbitte das größere Wunder sei, da es nicht erneut sterbliches Fleisch zum Leben erweckt, sondern die ewig lebende Seele.772 Höher als Wunder sind die Tugenden zu achten, „denn der wahre Wert des Lebens besteht in der Tugend der Werke, nicht in der Zurschaustellung von Wundern.“773 Dennoch räumt Gregor den Wundern viel Raum ein, da sie bei „schwachen Geistern“774 Glauben erwecken können, wo sonst nur Zweifel herrscht.775 Nichtsdestotrotz schätzt der Papst die gewöhnlichen Werke mehr, zu denen jedermann fähig ist, und fordert seine Leser aktiv dazu auf.
5.4.2.2 Tätige Nächstenliebe im Kontext des Todes Das vierte Buch der Dialoge widmet Gregor ausschließlich der Frage nach dem jenseitigen Schicksal der Menschen. In diesem Zusammenhang, aber auch bei Todesberichten in den vorherigen Büchern, begegnen Taten der Nächstenliebe, die ausschließlich im Angesicht des Todes geübt werden. So erwähnt Gregor, dass Verwandte und sonstige Angehörige sich üblicherweise am Sterbebett versammeln.776 Damit werden verschiedene Adressaten in den Blick genommen: Einerseits sollen die Hinterbliebenen getröstet werden,777 andererseits soll auch der Sterbende Trost erfahren. So berichtet Gregor gleich zweifach davon, dass jemand im Sterben um gemeinsamen Psalmengesang bittet.778 Allerdings lehnt er diesen Ritus in Ausnahmefällen ab, da die Vorenthaltung von Trost und ein daraus resultierender bitterer Tod die letzte Möglich771
Vgl. Greg.‑M. Dial. I, 10, 17 f. (SC 260, 106, 186–110, 219). Greg.‑M. Dial. III, 17, 7 (SC 260, 340, 57–62); zur Verkündigung als Form der tätigen Nächstenliebe vgl. Kap. 5.3.1.1. 773 „Vitae namque uera aestimatio in uirtute est operum, non in ostensione signorum.“ Greg.‑M. Dial. I, 12, 4 (SC 260, 116, 46 f.). 774 „[…] infirmis […] mentibus“ Greg.‑M. Dial. II, 38, 3 (SC 260, 246, 21 f.). 775 Vgl. Greg.‑M. Dial. II, 38, 3 (SC 260, 246, 18–248, 28). Zur Vorbildfunktion der exempla vgl. Greg.‑M. Dial. I, prol., 9 (SC 260, 16, 70–79). 776 Vgl. Greg.‑M. Dial. IV, 15, 4 (SC 265, 60, 27–62, 32); IV, 17, 2 (SC 265, 68, 12–15); IV, 32, 2 (SC 265, 106, 9 f.); IV, 36, 2 (SC 265, 118, 11–16). 777 Vgl. Greg.‑M. Dial. IV, 17, 2 (SC 265, 68, 13 f.). 778 Vgl. Greg.‑M. Dial. IV, 15, 4 (SC 265, 60, 27–62, 32) und IV, 36, 2 (SC 265, 118, 11–16). 772 Vgl.
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keit darstellen, bei dem Sterbenden sühnende Reue zu wecken und so jenseitiges Heil zu erlangen.779 Die Sorge um das jenseitige Heil stellt er der Empathie mit der akuten seelischen Not voran. Eine weitere Form des Trostes für Sterbende stellt das viaticum dar. Viermal erwähnt Gregor diesen Ritus in den Dialogen,780 wobei alle Erzählungen auf einen eindeutig monastischen Kontext verweisen: Während Benedikt von Nursia, die Asketin Romula und der Mönch Johannes das Sakrament in ihrer Sterbestunde erbeten und empfangen,781 feiert Maximinian auf der Rückreise von Konstantinopel das Abendmahl mit den ihn begleitenden Brüdern, da sie in Seenot geraten sind.782 Die selbstverständliche und regelmäßige Abendmahlsfeier scheint also eher zur asketischen Frömmigkeit zu gehören, weil Gregor niemals von Laien berichtet, die das viaticum am Sterbebett erbeten.783 Die Mahlfeier wird dabei klassisch als Stärkung für den Weg in die jenseitige Welt verstanden.784 Neben dem eucharistischen Beistand beschreibt der römische Bischof außerdem eine Gebetspraxis in der Situation des Sterbens. Dabei beinhalten die Gebete drei verschiedene Bitten: So kann für den Sterbenden um Sündenvergebung gebetet werden, damit er „von Schuld erlöst aus dem Leben scheide.“785 Später kann dann für den inzwischen Verstorbenen gebetet werden, um seine Seele aus jenseitigen Strafen zu befreien.786 Die Fürbitte für Tote ist schon lange vor dem 6. Jahrhundert in der christlichen Tradition bekannt, wie etwa die Passio Perpertuae et Felicitatis belegt.787 779
Vgl. Greg.‑M. Dial. IV, 57, 11 f. (SC 265, 190, 73–90). Vgl. Greg.‑M. Dial. II, 37, 2 (SC 260, 244, 11 f.); III, 36, 3 (SC 260, 408, 23–410, 24); IV, 16, 7 (SC 265, 66, 65); IV, 36, 2 (SC 265, 118, 11 f.). 781 Vgl. Greg.‑M. Dial. II, 37, 1–3 (SC 260, 244,1–246, 26) – Benedikt; IV, 16, 7 (SC 265, 66, 64–68, 75) – Romula; IV, 36, 2 f. (SC 265, 118, 9–22) – Johannes. 782 Vgl. Greg.‑M. Dial. III, 36, 2–5 (SC 260, 408, 9–410, 42). 783 Es sei noch einmal darauf verwiesen, dass ein Rückschluss von den Dialogen auf historische Zustände äußerst problematisch ist. Die getroffenen Aussagen können sich also nicht auf die tatsächlichen Gepflogenheiten in Klöstern beziehen, sondern eruieren vielmehr, was Gregor als monastische Praxis darstellt, vgl. Kap. 5.4. In seinen Briefen zeigt sich ein etwas anderes Bild, dort mahnt er, wann immer jemand zur Buße vom Abendmahl ausgeschlossen wird, stets zu einer Ausnahme angesichts von Lebensgefahr, vgl. z. B. Greg.‑M. Ep. V, 5 (CCSL 140, 270, 1–13) und Kap. 6.2.1. Diese Strafen betrafen zumeist Kleriker, die obendrein häufig zur Buße in ein Kloster verbannt wurden. Insofern ist auch hier vornehmlich ein klerikal-monastischer Kontext zu beobachten. 784 „Er [scil. Benedikt] sicherte seinen Tod durch den Empfang des Leibes und Blutes des Herrn.“ (exitum suum dominici corporis et sanguinis perceptione muniuit), Greg.‑M. Dial. II, 37, 2 (SC 260, 244, 11 f.). So wurde es bereits von den Konzilsvätern in Nizäa verstanden, vgl. Kaczynski, Reiner, Art.: Sterbeliturgie, LThK3 9 (2000), 981 f., hier: 981; zur geschichtlichen Entwicklung der Viaticumpraxis vgl. Nussbaum, Otto, Die Aufbewahrung der Eucharistie, Theoph. 29, Bonn 1979, 62–101. 785 „[…] solutus culpa ex corpore exiret.“ Greg.‑M. Dial. I, 12, 1 (SC 260, 112, 8 f.), vgl. auch Greg.‑M. Dial. IV, 40, 3 (SC 265, 140, 17 f.). 786 Vgl. Greg.‑M. Dial. IV, 42, 3 (SC 265, 152, 23–31); IV, 52, 2 (SC 265, 176, 8 f.). 787 Vgl. Pass. Perp 7 f. (SC 417, 126, 1–132, 11), vgl. auch Petersen, Dialogues, 118 f. und Kotila, Memoria, 35–57. 780
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Eine Besonderheit Gregors stellen die Gebete der Sterbenden selbst dar, die darum bitten, dass ein ihnen nahestehender Mensch mit ihnen stürbe.788 Hier zeigt sich einmal mehr, wie sehr der römische Bischof das irdische Leben hintansetzt und die Fürsorge für den Nächsten sich auf das kommende konzentriert.789 Eine weitere Möglichkeit, der Seele eines Verstorbenen zu helfen, ist, für sie oblationes darzubringen790 oder gar eine ganze Messfeier zu stiften.791 Neben der Seele wird auch dem Leib792 nach dem Tod Zuwendung zuteil. Gregor erwähnt die Waschung793 und die Einbalsamierung des Leichnams,794 bevor dieser zu Grabe getragen wird.795 Für diese Handlungen trägt stets die Familie bzw. die familia der Klostergemeinschaft Sorge. Ein kirchlicher Rahmen der Bestattung wird nicht erwähnt. Zudem verweist Gregor mehrfach auf die überlieferte Sitte (ex more).796 Die Rituale entstammen also wahrscheinlich weitgehend der alten römischen Tradition.797 Eine eigene genuin christliche Feier im Kontext des Todes – mit Ausnahme des viaticum – scheint auch Gregor noch nicht vor Augen zu haben.798 Zumindest zeigt er kein Interesse an sepulkralen Riten, ob mit oder ohne religiöse Intention. Die Auswahl der Grabstelle und auch deren Vorbereitung werden häufig noch von dem Sterbenden selbst in Auftrag gegeben.799 Gerade der Ort des Grabes war von immenser Bedeutung, hofften doch auch im späten 6. Jahrhundert viele Christen auf die Unterstützung der Heiligen, in deren Nähe sie sich bestatten ließen. Insofern diskutiert Gregor in den Dialogen die gleiche Frage, der sich bereits Augustin ca. 170 Jahre früher gestellt hatte: „Glauben wir, dass es den Seelen etwas nützt, wenn die Leiber der Toten in Kirchen bestattet würden?“800 788
Vgl. Greg.‑M. Dial. I, 8, 4 (SC 260, 72, 25–33); IV, 14, 4 f. (SC 265, 56, 30–58, 53). Kisić, Patria, 178–181. 790 Vgl. Greg.‑M. Dial. II, 23. 791 Vgl. Greg.‑M. Dial. IV, 57, 2–16 (SC 265, 184, 3–194, 130); IV, 59, 1–6 (SC 265, 196,1– 200, 60), vgl. dazu a. Kap. 5.3.1.5. Zu den Möglichkeiten und Bedingungen, die Gregor für die Beeinflussung des jenseitigen Schicksals Verstorbener beschreibt, vgl. ausführlich Kap. 5.4.3. 792 Zur gregorianischen Leib-Seele-Dichotomie vgl. besonders Greg.‑M. Dial. IV, 3, 1- 4, 8 (SC 265, 22, 1–32, 81) und Kisić, Patria, 84–89. 793 Vgl. Greg.‑M. Dial. III, 17, 2 (SC 260, 336, 16 f.); IV, 17, 3 (SC 265, 68, 23 f.); IV, 28, 3 (SC 265, 96, 22–24). 794 Vgl. Greg.‑M. Dial. IV, 5 (SC 265, 128, 40–43). 795 Vgl. Greg.‑M. Dial. III, 11, 5 f. (SC 265, 294, 45–296, 59); III, 17, 2 (SC 260, 338, 18); IV, 28, 2 (SC 265, 96, 10–18) u. ö. 796 Vgl. Greg.‑M. Dial. III, 17, 2 (SC 260, 336, 16); IV, 17, 3 (SC 265, 68, 23); IV, 28, 3 (SC 265, 96, 22). 797 Vgl. Morris, Ian, Death-Ritual and Social Structure in Classical Antiquity, Key Themes in Ancient History, Cambridge 1992, 31–69; Graen, Dennis, Tod und Sterben in der Antike, Grab und Bestattung bei Ägyptern, Griechen, Etruskern und Römern, Stuttgart 2011, 49. Zu den Totenritualen der römischen Klassik vgl. Graen, Tod, 48–59. 798 Vgl. Kap. 4.1 und die dort genannte Literatur. 799 Vgl. z. B. Greg.‑M. Dial. II, 34, 2 (SC 260, 234, 9–13); III, 11, 5 f. (SC 265, 294, 45–296, 59); III, 23, 2 (SC 260, 358, 11–360, 22). 800 „Putamusne animabus aliquid prodesse, si mortuorum corpora in ecclesiis fuerint 789 Vgl.
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Auch der römische Bischof verweist in seiner Antwort auf die Relevanz der eigenen Verdienste des Verstorbenen. Der heilige Ort an sich kann nicht helfen, wenn diese Hilfe durch gute Werke nicht diesseitig verdient wurde.801 Ist dem aber so, kann eine Grablege in der Kirche nützen, indem sie den Angehörigen als Gedankenstütze dient. Sooft diese in die Kirche kommen, werden sie durch den Blick auf das Grab zur Fürbitte ermahnt.802 Auch diesen Gedanken verdankt der Papst der kleinen Schrift De cura pro mortuis gerenda Augustins.803 Gregor bleibt der christlichen Praxis treu, Fürsorge auch über den Tod hinaus zu üben.804 Er betrachtet die Sorge um die Sterbenden und die Verstorbenen als selbstverständliche Form der tätigen Nächstenliebe. Es fällt auf, dass er vor allem das persönliche, familiäre Beziehungsgeflecht in die Pflicht dafür nimmt, sich um den Leichnam zu kümmern. In der Sorge um die unsterbliche Seele aber liegen sein Interesse und auch die Mitte seiner Theologie. Letztendlich sieht er das gesamte irdische Leben im „Kontext des Todes“, da es von Beginn an in Endlichkeit beschaffen ist. Das vergängliche Leben soll das ewige vorbereiten.805 Der leibliche Tod aber stellt nur den Übergang zum kommenden Leben dar.
5.4.2.3 Institutionalisierte Nächstenliebe? Neben den Wundertaten durch einzelne, herausragende Persönlichkeiten und der traditionellen, von der Familie geübten Fürsorge im Kontext des Todes werden in den Dialogen Formen der Nächstenliebe berichtet, die weniger mit Personen, als vielmehr mit dem Amt des Bischofs bzw. der dauerhaften Einrichtung eines Klosters verbunden sind. An diesen beiden Beispielen zeigt sich, dass Gregor im späten 6. Jahrhundert karitative Versorgung bereits eng mit institutionellen Strukturen verbindet.806
5.4.2.3.1 Die bischöfliche Armenkasse Obwohl Gregor in den Dialogen die herausragende Tugend und Wundertätigkeit der Einzelpersonen in den Mittelpunkt stellt, ist seinen Erzählungen dennoch zu entnehmen, welche Erwartungen er an das Amt generell stellt. In sepulta?“ Greg.‑M. Dial. IV, 52, 1 (SC 265, 176, 2–4), vgl. Aug. cura mort. (CSEL 41, 621–660). Zur Bestattung ad sanctos vgl. Scholz, Sebastian, Das Grab in der Kirche. Zu seinen theologischen und rechtlichen Hintergründen in Spätantike und Frühmittelalter, ZSRG.K 115 (1998), 270–306; Kötting, Reliquienkult. 801 Vgl. Greg.‑M. Dial. IV, 52, 2 (SC 265, 176, 9–12); IV, 53, 3 (SC 265, 178, 15–17); IV, 56, 3 (SC 265, 184, 17–20) und Aug. cura mort. 2 (CSEL 41, 622, 10–623, 14). 802 Vgl. Greg.‑M. Dial. IV, 52, 2 (SC 265, 176, 5–9). 803 Vgl. Aug. cura mort. 6 (CSEL 41, 629, 18–631, 12) und Kap. 4.4. 804 Vgl. Tert. Apol. 39, 6 (CCSL 1, 151, 27) und von Harnack, Mission, 190–192 sowie Kap. 4.2. 805 Vgl. Greg.‑M. Dial. IV, 62, 1–3 (SC 265, 204, 1–206, 30) und Kap. 5.4.3. 806 Zu institutioneller Nächstenliebe in früheren Jahrhunderten vgl. Kap. 4.1.
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zwei Erzählungen wird berichtet, dass der Bischof Bedürftige mit dem Hab und Gut versorgt, das ihm in seinem Amt zur Verfügung steht.807 Dass die Unterstützung nicht aus seinem Privatvermögen stammt, wird auf verschiedene Weise in den Formulierungen deutlich: Mal wird ein Weinberg als einziges stipendium808 bezeichnet, mal wird die Herkunft der Mittel als quae ad episcopii usum habere809 umschrieben. Ohnehin war es bereits seit etwa einem Jahrhundert üblich, das kirchliche Einkommen zu gleichen Teilen für bischöfliche Aufgaben, den Klerus, kirchliche Gebäude und die Armenfürsorge aufzuwenden.810 Auch Gregor pflegte diese strikte Verteilung; die Versorgung der Bedürftigen stellte eine konstitutive Aufwendung der bischöflichen Kasse dar.811 Seine Erwartungshaltung den karitativen Aufgaben der Bischöfe gegenüber beweist er mit einer weiteren Erzählung: Nachdem Fortunatus, der Bischof von Todi, einen Menschen von einem unreinen Geist befreit hatte, ging der Ausgetriebene in Gestalt eines Fremden durch die Stadt und klagte den Bischof an, dieser habe ihm keine Gastfreundschaft gewährt. Daraufhin nahm ein Mann den vermeintlichen Fremden auf, was verheerende Folgen hatte: Der böse Geist ergriff das Kind des Hauses und tötete es.812 In der Diskussion mit Petrus betont Gregor, dass der Mann nicht aus Barmherzigkeit gehandelt hätte, sondern aus dem bösen Ehrgeiz, den Bischof an guten Werken zu übertreffen.813 Der unreine Geist nutzt für sein böses Spiel die verbreitete Erwartung der Bevölkerung aus: Die Behauptung, ein Fremder habe im episkopalen Haushalt keine Aufnahme gefunden, stellt ein Skandalon dar. Ähnliche Ansprüche an den Hirten offenbart an anderer Stelle der kurze Hinweis, dass Arme ins episcopium kommen und „unverschämt“814 um Hilfe bitten. Gregors Darstellung nach ist der bischöfliche Haushalt also die übliche erste Anlaufstelle für Bedürftige. Der Besitz, den der Hirte verwaltet, dient zu erheblichen815 Teilen als Armenkasse. 807
Vgl. Greg.‑M. Dial. I, 9, 2–4 (SC 260, 76, 8–80, 50); III, 1, 1 (SC 260, 256, 1–5). Greg.‑M. Dial. I, 9, 2–4 (SC 260, 76, 10). 809 Greg.‑M. Dial. III, 1, 1 (SC 260, 256, 4). 810 Vgl. Klein, R., Wirken, 105; Klingenberg, Kirchengut, 1089 und Kap. 4.2. 811 Vgl. Greg.‑M. Ep. IV, 11 (CCSL 140, 228, 8–229, 17); VIII, 7 (CCSL 140A, 524, 10–30); XIII, 45 (CCSL 140A, 1051, 7–16). Barbara Müller behauptet mit Verweis auf die beiden letztgenannten Briefe fälschlicherweise, dass Gregor sich später für eine flexiblere Proportion aussprach, vgl. Müller, B., Führung 323.402. Allerdings ist an beiden Stellen lediglich von der Aufteilung des Klerus-Viertels zwischen den höheren und den niederen Klerikern die Rede. Der Papst hält also weiterhin an der strikten Regelung des quadripartitum fest und gibt dem Bischofskollegen lediglich die Freiheit, den Anteil der Kleriker gemäß dem individuellen Dienst zu verteilen. Vgl. Kap. 6.1.2. 812 Vgl. Greg.‑M. Dial. I, 10, 6 (SC 260, 96, 54–98, 70). 813 Vgl. Greg.‑M. Dial. I, 10, 7 (SC 260, 98, 71–100, 93). 814 „[…] importune“ Greg.‑M. Dial. I, 9, 10 (SC 260, 84, 117). 815 In hagiographischer Manier betont Gregor oft, dass die genannten Gottesmänner die vorhandenen Gaben bis auf den letzten Rest verteilten, vgl. z. B. Greg.‑M. Dial. III, 1, 1 (SC 260, 256, 1–5). 808
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Neben der Verteilung von Nahrungsmitteln oder Geldbeträgen zählt auch die Befreiung von Kriegsgefangenen zu den festen bischöflichen Aufgaben. So berichten die Dialoge von mehreren Episkopen, die alle kirchlichen Mittel dafür aufwenden, Geiseln freizukaufen816 und letztlich sogar die eigene Freiheit und das eigene Leben zur Befreiung anbieten.817 Auch die Gewährung von Schutz und Unterschlupf für fliehende Soldaten stellt Gregor als vorbildliche Amtsführung eines Bischofs dar.818 Die Bereitschaft des Priesters Sanctulus, sein Leben für den Nächsten zu lassen, stellt Gregor lobend heraus und bekennt, dass dieser trotz seiner mangelnden Bildung und Unkenntnis der biblischen Schriften819 dennoch das ganze Gesetz erfüllt habe in der gelebten Gottes- und Nächstenliebe.820 Alle exegetische Gelehrtheit ist nichtig, wenn die Erkenntnisse nicht auch in der Praxis umgesetzt werden: „Wir reden von den Tugenden, obwohl wir sie entbehren, und stehen gleichwie unter Obstbäumen, riechen die Äpfel, aber essen nicht. Jener wusste, die Frucht der Tugenden zu ernten, obschon er nicht mit Worten daran zu riechen wusste.“821 Erneut wird deutlich, wie sehr es Gregor auf die konkrete Ausübung der Nächstenliebe ankommt. Die theoretische Durchdringung allein besitzt keinen Wert. Obwohl das Motiv des bischöflichen Freikaufs von Gefangenen in der spätantiken Literatur häufiger belegt ist, muss nicht gleich ein Topos angenommen werden, der keinerlei historische Grundlage besitzt.822 Gerade Gregors Generation litt durch die kaiserliche Rückeroberung Italiens von den Goten und den Einfall der Langobarden beständig unter Kriegen, in denen zahlreiche Geiseln gefangengenommen und teuer zurückgekauft wurden.823 Zeugnis dafür legt v. a. das Briefregister Gregors ab.824 816 Vgl. Greg.‑M. Dial. I, 10, 12–14 (SC 260, 102, 127–104, 151); III, 1, 1 (SC 206, 256, 1–258, 11). 817 Vgl. Greg.‑M. Dial. III, 1, 2–8 (SC 260, 258, 12–264, 94); III, 37, 10–17 (SC 260, 418, 82–422, 161), in dieser Geschichte ist der Protagonist zwar kein Bischof, zählt aber als Presbyter dennoch zum kirchlichen Klerus. 818 Vgl. Greg.‑M. Dial. III, 11, 1 (SC 260, 292, 1–11). 819 Gregor verweist insbesondere auf 1 Joh 3,16. 820 Vgl. Greg.‑M. Dial. III, 37, 18 f. (SC 260, 424, 165–182) und Röm 13,10. In der Praxis fordert Gregor dann aber ein Mindestmaß an Bildung und Schriftkenntnis, vgl. Greg.‑M. Ep. II, 31 (CCSL 140, 17); IV, 26 (CCSL 140, 245, 31); VII, 11 (CCSL 140, 460, 11) und Kap. 6.2.1. Zum Bildungsstand des spätantiken Klerus vgl. Gemeinhardt, Christentum, 276–306.493 f.; Scheibelreiter, Bischof, 51–98; Krause, Überlegungen,435. 821 „Nos de uirtutibus uacui loquimur, et quasi inter fructifera arbusta positi, odoramur poma nec manducamus. Ille uirtutum fructus capere nouerat, quamuis hos in uerbis odorari nesciebat.“ Greg.‑M. Dial. III, 37, 20 (SC 260, 424, 185–426, 188). 822 So Petersen, Dialogues, 112; dagegen Sternberg, Aurum, vgl. Kap. 4.2. 823 Vgl. Kap. 2.1. 824 Vgl. u. a. Greg.‑M. Ep. V, 30 (CCSL 140, 297, 8–18); VI, 32 (CCSL 140, 405, 4–20); IX, 52 (CCSL 140A, 610, 2–15); IX, 85 (CCSL 140, 639, 2–10) und Kap. 6.1.3.3.
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Das Bischofsamt ist losgelöst von der persönlichen Tugend des einzelnen Vertreters eng mit der Fürsorge für Bedürftige und Gefangene verbunden. Die selbstverständliche Erwartungshaltung, die Gregor der Bevölkerung zuspricht, lässt darauf schließen, dass die bischöfliche Armenkasse als eine verlässliche Institution bekannt war. Gregor fordert auf diese Weise auch in den Dialogen seine Bischofskollegen zur handfesten, tätigen Nächstenliebe auf. Darin sieht er die Pflichten seines und ihres Amtes.
5.4.2.3.2 Nächstenliebe aus dem Kloster Ähnlich wie der bischöfliche Haushalt sind in den Dialogen auch die Klöster Anlaufstellen für Bedürftige, die um Nahrung, Kleidung oder finanzielle Unterstützung bitten.825 Gregor berichtet, dass die Verantwortlichen der Klöster die Vorräte der Gemeinschaft an Bedürftige verteilen,826 was mitunter Widerstand im Konvent hervorruft.827 Ein großes Problem stellen für die Klöster Diebe dar, die ihre Nahrung aus dem Klostergarten stehlen.828 Neben der Armenspeisung erwähnt der Papst mehrfach pastorale Aufgaben, die von Klöstern bzw. ausgewählten Mönchen erfüllt werden. So verließ etwa der Abt Equitius die Klausur, um in der Umgebung „die Gläubigen zur himmlischen Sehnsucht zu ermuntern.“829 Ebenso wird berichtet, dass Benedikt von Nursia Mönche zur Seelsorge (pro exhortandis animabus) an geweihten Frauen in die Stadt schickte.830 Diese Praktiken stellen lediglich Ausnahmen dar, Gregor bezeugt selbst, dass im Regelfall das Predigtamt eine kirchliche Weihe (sacer ordo) oder zumindest eine Beauftragung (praedicationis licentia) durch den Papst voraussetzt.831 Aber bei einer herausragenden charismatischen Begabung, wie derjenigen des erwähnten Equitius,832 ist Gregor durchaus bereit, auf diese Bedingung zu verzichten.833 Hier wird die Zwickmühle deutlich, in der der römische Bischof sich befand: Einerseits hatte er als Papst die kirchliche Ordnung einzufordern, die den 825 Vgl. Greg.‑M. Dial. II, 27, 1 (SC 260, 214, 1–11); II, 28, 1 (SC 260, 216, 1–6); III, 14, 8 (SC 260, 308, 84–88). 826 Vgl. Greg.‑M. Dial. I, 34 (SC 260, 36, 35–40); II, 28, 1 (SC 260, 216, 1–9); IV, 23, 1 (SC 265, 78, 1–80, 10). 827 Vgl. Greg.‑M. Dial. II, 28, 1 f. (SC 260, 216, 9–218, 18). 828 Vgl. Greg.‑M. Dial. I, 3, 2–4 (SC 260, 34, 8–36, 40); III, 14, 6 f. (SC 260, 306, 58–262, 83); III, 22, 1–3 (SC 260, 356, 1–358, 31). Zu den zahlreichen Wundererzählungen im Kontext des Klostergartens vgl. Müller, B., Power. 829 „[…] pro exhortandis ad desideria superna fidelibus“ Greg.‑M. Dial. I, 4, 4 (SC 260, 40, 36 f.), vgl. auch Greg.‑M. Dial. I, 4, 8 (SC 260, 44, 84–100); IV, 11, 3 (SC 265, 46, 28–33). Bereits von Antonius wird das Wirken als Mahner und Prediger berichtet, vgl. Ath. v. Anton. 87 (SC 400, 358, 1–360, 23). 830 Vgl. Greg.‑M. Dial. II, 19, 1 (SC 260, 194, 4–9). 831 Vgl. Greg.‑M. Dial. I, 4, 8 (SC 260, 44, 89–92). 832 Vgl. Markus, World, 67 f. 833 Vgl. Müller, B., Führung, 232–234.
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Wildwuchs freier Prediger verhindern sollte. Andererseits schätzte er die asketische Tradition sehr, die immer schon am Rande und in Distanz zu kirchlichen Strukturen stand. Diesen Graben versuchte er zu überwinden, zumal er gerade durch Euquitius geprägt war und diverse seiner Schüler im Andreaskloster in Rom Unterschlupf gefunden hatten.834 Letztendlich ging es Gregor nicht darum, die irdischen Kirchenhierarchien starr zu verfestigen, sondern möglichst viele Seelen für die patria caelestis zu gewinnen.835 Möglicherweise ist er an diesem Punkt geprägt von der östlichen Tradition der Geronten bzw. geistlichen Väter aus dem monastischen Kontext.836 Schon früher war aber auch im Westen in Notzeiten, in denen die Kirche nicht über genügend Kleriker verfügte, auf das Mönchtum als „die stille Reserve“837 zurückgegriffen worden. Nachdem Leo der Große eine Predigttätigkeit von Mönchen kategorisch ausgeschlossen hatte, sah sich Gelasius I. angesichts der Invasion durch die Ostgoten gezwungen, in strikten Grenzen und nur während der aktuellen Notlage die Seelsorge Asketen zu übertragen.838 Zuletzt ist noch die Versorgung Kranker zu nennen, die eine traditionelle Aufgabe der Klöster war und aus der Pflege erkrankter Brüder der eigenen Gemeinschaft erwachsen ist.839 Auch in den Dialogen ist diese monastische Form der Nächstenliebe erwähnt.840 Gregor präsentiert in den Wundererzählungen gleichsam sein eigenes Ideal an christlicher Lebensführung in Gemeinde und Kloster. Daher ist hier seine Vorstellung der Einbindung der Asketen in die Kirche besser zu greifen als in seinen übrigen Werken, obwohl er sie auch dort stets fordert.841 Die Mönche sollen vornehmlich die geistliche Bildung der Laien verantworten, da sie in der kontemplativen Gottesschau größere Erfahrung und Erkenntnisse besitzen. Zudem sieht der Papst die Asketen in der Pflicht, materielle Nächstenliebe durch Armenspeisung und Krankenpflege zu üben. Die solide Klosterlandschaft seiner Zeit bindet er in sein ekklesiologisches Konzept der vielfältigen Gemeinschaft842 ein und stärkt auf diese Weise die Einheit der gesamten Kirche. 834 Vgl.
Müller, B., Führung, 43–45. Kisić, Patria, 178–181. 836 Vgl. Müller, A., Konzept, 205–247. 837 Jenal, Italia II, 701. 838 Vgl. Jenal, Italia II, 694–701, dort finden sich auch Hinweise zu den entsprechenden Quellen. 839 Vgl. Kap. 4.1 und Hiltbrunner, Krankenhaus, 897. 840 Vgl. Greg.‑M. Dial. III, 33, 7 (SC 260, 396, 51–398, 60); IV, 57, 8 f. (SC 265, 188, 49–64). Nicht eindeutig zu klären ist, ob Gregor in Greg.‑M. Dial. III, 35, 3 f. (SC 260, 404, 16–406, 37) vom Andreaskloster oder dem Lateran spricht. Nichtsdestotrotz kann dieser Text als Beleg für monastische Krankenpflege dienen, da Gregor auch in den päpstlichen Gemächern eine kommunitäre Lebensweise einführte, vgl. Greg.‑M. Ep. V, 57a, 2 (MGH.Ep. I, 363, 16–23); Richards, Leben, 77–91. 841 Vgl. Kap. 5.1.2; 5.2.3.3; 5.3.1.3; 5.5.3.2. 842 Vgl. Kap. 5.3.3.1. 835 Vgl.
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5.4.3 Diesseitige Werke und jenseitiges Ergehen Deutlicher als je zuvor und als in seinen späteren Werken postuliert Gregor in den Dialogen die eschatologische Relevanz guter Werke. Die Abhängigkeit von der göttlichen Gnade kommt hier kaum zur Sprache. Das vierte Buch der Dialoge bietet hingegen eine konkrete, bildhafte Beschreibung der kommenden Dinge. Im Zentrum steht dabei das Urteil über das diesseitige Verhalten und dessen jenseitige Konsequenz.843 Obwohl der römische Bischof seine Leser hauptsächlich zum rechten Handeln während des Lebens motivieren will, zeigt er dennoch zudem postmortale Möglichkeiten auf, das jenseitige Ergehen zu beeinflussen. Diese Optionen obliegen freilich den Hinterbliebenen, auf ihre tätige Zuwendung aus Nächstenliebe ist der Verstorbene angewiesen.
5.4.3.1 Die Relevanz der guten Werke Da nach Gregors Grundüberzeugung das Schicksal einer Seele vom Verhalten in diesem Leben abhängig ist, entfalten auch die Taten der Nächstenliebe ihre volle Konsequenz erst im Jenseits. Eine gerechte, gottgefällige Lebensführung wird mit der himmlischen Seligkeit belohnt, wohingegen jede Sünde eine Strafe nach sich zieht. Dabei stehen der Lohn bzw. die Strafe im direkten Verhältnis zu den guten Werken bzw. zu begangenen Sünden.844 Der römische Bischof nimmt demnach unzählige Kategorien von jenseitigen Schicksalen an, unterscheidet sie aber dennoch grob in drei Gruppen: Die himmlischen Freuden dürfen die vollends Gerechten sofort nach dem Tod genießen. Diesen stehen die Sünder gegenüber, die das ewige Höllenfeuer erwartet. Zuletzt sind diejenigen Menschen zu nennen, die zwar nicht die ewigen Höllenstrafen verdient haben, aber andererseits auch „vom himmlischen Reich noch durch einige Aufenthalte unterschieden sind.“845 Deren Verfehlungen können im Fegefeuer846 getilgt werden. Gesühnt werden können jedoch nur äußerst geringe Strafen 843 Vgl.
Baun, Eschatology, 157–160. Vgl. z. B. Greg.‑M. Dial. IV, 36, 13 f. (SC 265, 122, 83–124, 107); IV, 38, 1 (SC 265, 136, 1–11), zur individuellen Eschatologie Gregors vgl. Dagens, Culture, 401–429; Moreira, Isabel, Heaven’s Purge. Purgatory in Late Antiquity, Oxford 2010, 85–94. Zum Verhältnis zur Tradition, insbesondere bei Augustin, Ambrosius sowie der östlichen Theologie vgl. Daley, Brian, The Hope of the Early church. A Handbook of Patristic Eschatology, Cambridge 1991, 93–216. 845 „[…] a caelesti regno quibusdam adhuc mansionibus differuntur.“ Greg.‑M. Dial. IV, 26, 1 (SC 265, 84, 3 f.). 846 In den letzten Jahrzehnten ist diskutiert worden, ab welchem Zeitpunkt in der Geschichte überhaupt vom Fegefeuer gesprochen werden kann. Initiator dieser Debatte war Jacques LeGoff, nach dessen These die Idee des Fegefeuers zwar in der Spätantike und dem Frühmittelalter vorbereitet wurde, aber erst im 12. Jahrhundert das Licht der Welt erblickte. Nach seiner Definition ist neben der Bezeichnung als purgatorium der Raumbegriff ein grundlegendes Element der Fegefeuervorstellung, das erst dem mittelalterlichen Denken zur Verfügung stand, vgl. LeGoff, Jacques, Die Geburt des Fegefeuers. Vom Wandel des Weltbildes 844
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„wie beständige unnütze Rede, zügelloses Lachen oder eine Sünde in der Leitung der Familie, die sogar von denen, die wissen, wie sie die Schuld abwenden müssen, kaum ohne Schuld betrieben wird, und auch Fehler aufgrund von Unkenntnis in nicht schwerwiegenden Dingen.“847
Grundsätzlich unterscheidet Gregor dabei zwischen den Sünden aus Unwissenheit und denen aus Bosheit.848 Damit ist der Weg für die Unterscheidung in lässliche und tödlichen Sünden bereitet, auch wenn in den folgenden Jahrhunderten nach anderen Prinzipien unterschieden werden wird.849 Kleinere Sünden, die den Weg ins himmlische Paradies versperren, können also nach dem Tod noch im Purgatorium gesühnt werden. Diese Tilgung muss indes noch zu Lebzeiten verdient werden.850 Wenn Gregor das Fegefeuer zu einem dritten Ort in der Jenseits-Topographie ausbaut, der fast gleichwertig neben dem Himmel und der Hölle erscheint, wirkt sich das auch auf die zeitlichen Abläufe bis zum Eschaton aus. Da die Entscheidung über das letztendliche Schicksal schon mit dem Eingang ins Fegefeuer gefällt ist, muss das Leben eines Menschen bereits direkt nach seinem Tod gerichtet werden. Die Seele tritt sofort nach dem letzten Atemzug vor den Richter und empfängt dort das Urteil über ihre Taten.851 Ebenso setzt sogleich die Vergeltung der irdischen Taten ein. So kann Gregor von einigen armen Sündern berichten, die im Moment ihres Todes Leid und Qual beklagen.852 Zwar widerfahren Strafen nicht ausschließlich nach dem Leben – besonders grausame Todesumstände können etwa als „geheime Gerichte Gottes“853 verstanden werim Mittelalter, übersetzt von Ariane Forkel, München 21991, 9–14. Das andere Extrem vertritt Andreas Merkt, der entsprechende Vorstellungen in Texten des 3. Jahrhunderts anführt und als ersten Zeugen für den Begriff purgatorium Gregor von Tours anführt, vgl. Merkt, Fegefeuer, 9.65. Einen diplomatischeren Ansatz verfolgt Isabel Moreira, die weniger den exakten Beginn, als vielmehr die Entwicklung der Vorstellung fokussiert, vgl. Moreira, Purge. Ich verwende im Folgenden für die gregorianische Vorstellung eines Reinigungsortes den Begriff des Fegefeuers, da er elementare Aspekte der Purgatoriumslehre bezeugt. Andererseits fehlt bei ihm im Vergleich zur späteren, mittelalterlichen Lehre der zentrale Begriff des purgatoriums, er spricht vielmehr vom purgatorius ignis, vgl. Greg.‑M. Dial. IV, 40, 13 (SC 265, 146, 106 f.). 847 „[…] sicut est assiduus otiosus sermo, inmoderatus risus, uel peccatum curae rei familiaris, quae uix sine culpa uel ab ipsis agitur, qui culpam qualiter declinare debeant sciunt, aut in non grauibus rebus error ignorantiae.“ Greg.‑M. Dial. IV, 41, 4 (SC 265, 148, 22–26). 848 Vgl. Greg.‑M. Dial. IV, 42, 4 (SC 265, 152, 29–33). 849 Vgl. Schenk, Richard, Art.: Sünde V. Alte Kirche, TRE 32 (2001), 389–395, hier: 390. 850 „Dies jedoch muss man wissen, dass an jenem Ort niemand nicht einmal von den geringsten Dingen Läuterung erhalten wird, wenn er dies nicht durch gute Taten, die er noch in diesem Leben vollbracht hat, verdient, damit er es an jenem Ort empfange.“ (Hoc tamen sciendum est quia illic saltem de minimis nil quisque purgationis obtinebit, nisi bonis hoc actibus, in hac adhuc uita positus, ut illic obtineat promereatur.) Greg.‑M. Dial. IV, 41, 6 (SC 265, 150, 44–47), vgl. auch Greg.‑M. Dial. IV, 42, 5 (SC 265, 154, 34–36); IV, 59, 6 (SC 265, 200, 57–60). 851 Gregor spricht von eine probatio, Greg.‑M. Dial. IV, 37, 10 (SC 265, 130, 76) oder einer Gerichtsszenerie, vgl. Greg.‑M. Dial. IV, 37, 6 (SC 265, 128, 45 f.). 852 Vgl. z. B. Greg.‑M. Dial. IV, 40, 11 (SC 265, 146, 91–100). 853 „[…] occulta Dei iudicia“ Greg.‑M. Dial. IV, 27, 14 (SC 265, 94, 118).
5.4 Die Dialoge – Herausragende Personen und solide Institutionen
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den – mehrheitlich verortet Gregor die Strafen aber zeitlich im Jenseits oder zumindest im Angesicht des Todes.854 Von Strafen während des Lebens spricht er nur an einer Stelle,855 Begriffe wie poena, supplicium oder tormentum verwendet er ansonsten ausschließlich für Widerfahrnisse nach dem Tod. Die Möglichkeit, während des Lebens Sünden zu tilgen, umschreibt er hingegen als paenitentia856, conversio857 oder compunctio858. Anders als die jenseitigen Strafen werden diese nicht von Gott auferlegt, sondern von den Menschen aus freien Stücken gewählt. Die Möglichkeit zur Umkehr steht also bis zum Tod offen, so lange währt die divina patientia.859 Gute Werke ermöglichen sowohl die Tilgung kleinerer Sünden im Fegefeuer als auch bei konsequenter Vermeidung von Sünden den direkten Zugang zur himmlischen Freude. Durch sie wird das jenseitige Wohnhaus errichtet, allen voran nennt Gregor dabei das Almosen.860 Ohne geleistete Werke aber landet die Seele in der Hölle, wo es keine Möglichkeit der Einflussnahme und des Entrinnens gibt.
5.4.3.2 Einflussmöglichkeiten nach dem Tod Für den Fall, dass der Tod noch vor der vollständigen Tilgung der Schuld eintritt, beschreibt Gregor verschiedene Möglichkeit der postmortalen Buße.861 Die erste davon ist die Form der Bestattung. Dazu zählt allen voran die Grablege ad sanctos. Hierbei wird die wirksame und übertragbare Kraft der Gebeine Heiliger vorausgesetzt. Zudem sollten die Märtyrer vor Gott Fürsprache für die in ihrer unmittelbaren Nähe bestatteten Menschen einlegen. Allerdings verweist Gregor wie vor ihm bereits Augustin862 darauf, dass diese Sühnemöglichkeit noch zu Lebzeiten durch gute Werke verdient werden muss. Heilige leisten keinesfalls Fürbitte für Verstorbene, die unwürdig und mit der ewigen Hölle bestraft sind.863 Dieser Fall kann obendrein auch dazu führen, dass eine Bestattung ad 854
Vgl. Greg.‑M. Dial. IV, 48 (SC 265, 168, 1–6). Vgl. Greg.‑M. Dial. IV, 11, 2 (SC 265, 46, 13–21). 856 Vgl. z. B. Greg.‑M. Dial. IV, 40, 12 (SC 265, 146, 102); IV, 46, 7 (SC 265, 164, 48); IV, 62, 2 (SC 265, 204, 17 f.). 857 Vgl. z. B. Greg.‑M. Dial. IV, 40, 5 (SC 265, 142, 44); IV, 46, 7 (SC 265, 164, 49); IV, 62, 3 (SC 265, 206, 26). 858 Vgl. z. B. Greg.‑M. Dial. IV, 49, 2 (SC 265, 168, 8); IV, 61, 2 (SC 265, 202, 10). 859 Greg.‑M. Dial. IV, 40, 9 (SC 265, 144, 77). 860 Vgl. Greg.‑M. Dial. IV, 37, 16 (SC 265, 126–135); IV, 42, 5 (SC 265, 154, 34–36). Im zweiten Buch berichtet er von Benedikt von Nursia, dieser „habe beschlossen, das gesamte Gut auf Erden zu verteilen, um im Himmel alles zu bewahren.“ (cuncta decreuerat in terra tribuere, ut in caelo omnia reseruaret.) Greg.‑M. Dial. II, 28, 1 (SC 260, 216, 7 f.). 861 Damit geht Gregor deutlich über Augustins Lehre hinaus. Dieser hatte lediglich in Ausnahmefällen Fürbitten, Messfeiern und Almosen postmortalen Einfluss zugesprochen, vgl. Kap. 4.4. 862 Vgl. Kap. 4.4. 863 Vgl. Greg.‑M. Dial. IV, 46, 7–9 (SC 265, 164, 47–166, 73). 855
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sanctos sich zum Nachteil des Verstorbenen auswirkt, weil dieser Strafe für die Anmaßung erfährt, dass sein Leichnam an heiligem Orte beigesetzt wurde.864 Ähnlich wie Augustin hält der römische Bischof also an dieser Praxis fest, weist sie aber in Schranken, die sicherlich auch aus pragmatischen Gründen wie dem Platzmangel an den Heiligengräbern resultierten. Der Bestattung ad sanctos diametral entgegengesetzt ist eine Praxis, die Gregor aus der Zeit seines eigenen Klosteraufenthaltes berichtet. Der Mönch Justus hatte entgegen der Klosterregel heimlich Besitz angehäuft und lag nun im Sterben. Gregor verbot, dass die Mitmönche ihm Beistand und Trost leisteten. Stattdessen ließ er ihn in Einsamkeit sterben. Da er sich nicht sicher war, ob bereits das unglückliche Verscheiden ausreichend Sühne bewirkt hatte, ordnete er anschließend an, den Leichnam an unwürdiger Stätte – nahe dem Abfall – zu bestatten.865 Nach einer Frist von dreißig Tagen wurde ebendiesem Verstorbenen eine weitere postmortale Bußmöglichkeit zuteil: die Messstiftung.866 Bereits in den Evangelienhomilien hat Gregor die Wirksamkeit dieser Praxis dargelegt und diese mit einer exemplum-Erzählung begründet, die auch in die Dialoge aufgenommen ist.867 Für den Mönch Justus ließ er an dreißig aufeinanderfolgenden Tagen die Messe feiern,868 deren sühnende Wirkung dieser selbst in einer Erscheinung bestätigte.869 Diese Praxis bezeugt der römische Bischof zwar nicht als erster, aber durch sein führendes Amt und seine im Mittelalter weit verbreiteten Werke prägte er doch maßgeblich die Tradition der Totenmessen. Alle diese Optionen der nachträglichen Sühne werden von den Hinterbliebenen geübt. Zudem müssen sie vorab durch gute Werke verdient werden. Daher ist es Gregors dringende Empfehlung, schon zu Lebzeiten vorzusorgen und gar nicht erst der Fürsprache und Unterstützung der Angehörigen bedürftig zu werden.870 Diese Vorsorge wird in der regelmäßigen Feier der Messe und der aufrichtigen compunctio, der Vergebung fremder Schuld und nicht zuletzt der tätigen Nächstenliebe geleistet.871 864
Vgl. Greg.‑M. Dial. IV, 52, 1–56, 3 (SC 265, 176, 1–184, 20) und Kap. 5.4.2.2. Vgl. Greg.‑M. Dial IV, 57, 8–12 (SC 265, 188, 49–190, 90). Diese Vorgehensweise wirkte zudem mahnend auf die noch lebenden Mönche, vgl. Greg.‑M. Dial. IV, 57, 13 (SC 265, 190, 91–192, 101). 866 Vgl. auch Greg.‑M. Dial. IV, 57, 1–7 (SC 265, 184, 1–188, 48); IV, 59, 6 (SC 265, 200, 53–57). Zur Fürsorge für Tote vgl. Wollasch, Joachim, Toten- und Armensorge, in: ders., Wege zur Erforschung der Erinnerungskultur, Ausgewählte Aufsätze, hg. v. M. Sandmann et al., BGAM 47, Münster 2011, 348–375. 867 Vgl. Kap. 5.3.1.5. und Greg.‑M. Dial. IV, 59, 1 (SC 265, 196, 1–8). 868 Seit dem 2. Jahrhundert ist die Praxis eines eucharistischen Totengedächtnisses belegt, allerdings variieren die Zeitpunkte und Abstände der Feiern, vgl. Jungmann, Missarum II, 285–287. 869 Vgl. Greg.‑M. Dial. IV, 57, 14–16 (SC 265, 192, 102–194, 130). 870 Vgl. Greg.‑M. Dial. IV, 60, 1 (SC 265, 200, 1–8). 871 „Solange es durch die Verzögerung der Zeit möglich ist, solange der Richter ausharrt, solange der, der die Schuld prüft, unsere Bekehrung noch erwartet, lasst uns die Härte des 865
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Trotz seiner konsequenten Jenseitsorientierung fordert Gregor zum Handeln im Diesseits auf. Das stellt in keiner Weise einen Widerspruch dar, sondern ist durch die Verknüpfung von diesseitigen Werken und jenseitigem Schicksal aufs Engste miteinander verwoben.
5.4.4 Zusammenfassung Die Dialoge sind dasjenige Werk im gregorianischen Œuvre, das am schwersten zu greifen ist, wie die andauernden Forschungsdiskussionen beweisen. Die hier herausgearbeitete zweifache Intention von Trost und Mahnung wurde aus unterschiedlichen Perspektiven deutlich. Die personale Konzentration vor allem auf Geistliche offenbart durch deren offensichtliche Nähe zu Gott dessen Wirken in der Welt. Ähnliches leistet die Erwähnung der Gebete als konstitutives Element der Wunder. Der eigentliche Akteur der Wunder ist Gott und nicht der jeweilige vir Dei. Die Gottesmänner sollen dem Leser eher als Vorbilder dienen, eine Aufgabe, die Gregor schon häufiger gerade Predigern zugesprochen hat.872 Insofern sollen die Erzählungen der Dialoge die Protagonisten nicht glorifizieren, sondern sie mahnend als Exempel vorstellen. Da Gregor in den Dialogen eher auf die praktischen Beispiele als auf die Theorie abzielt, nutzt er für die Aufforderung zur tätigen Nächstenliebe weniger biblische Texte wie in den Evangelienhomilien, sondern biblische Personen wie die Apostel oder Christus selbst, die nachgeahmt werden sollen. Die erzählten Wunder sollen in Zeiten der Kriege und Hungersnöte zwar Trost vermitteln, aber sie sollen nicht ins Maßlose übersteigert werden, damit sie den Leser nicht entmutigt und passiv zurücklassen. Daher grenzt Gregor mehrfach die Bedeutung der Wunder ein und spricht den eigentlichen Wert guten Werken und Tugenden zu. Auch im Kontext des Todes findet sich das Gegenüber von Trost und Mahnung: Für ein gutes Leben stellt Gregor die ewigen Freuden des Himmels in Aussicht. Noch häufiger bietet er aber abschreckende Erzählungen von jenseitigen Strafen. Sein eigentliches Interesse liegt in der Führung der Seelen. Deutlich wird dies daran, dass der römische Bischof die Sorge für den Leichnam weniger Geistes mit Tränen erweichen, lasst uns am Nächsten die Gnade der Wohltätigkeit gestalten, dann sage ich zuversichtlich, dass wir des heilbringenden Opfers nach dem Tod nicht mehr bedürfen werden, wenn wir vor dem Tod Gott selbst ein Opfer gewesen sein werden.“ (Igitur dum per indulgentiae temporis spatium licet, dum iudex sustinet, dum conuersionem nostram is qui culpas examinat expectat, conflemus in lacrimis duritiam mentis, formemus in proximis gratiam benignitatis, et fidenter dico quia salutari hostia post mortem non indigebimus, si ante mortem Deo hostia ipsi fuerimus.) Greg.‑M. Dial. IV, 62, 3 (SC 265, 206, 25–30); vgl. auch Greg.‑M. Dial. IV, 61, 1–62, 2 (SC 265, 202, 1–206, 24). 872 Vgl. Kap. 5.2.2.2.
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dem kirchlichen Kontext und Wirken zuordnet als vielmehr der Familie und der althergebrachten Tradition. Die Seele ist einzig durch einen gottgefälligen Lebenswandel mit guten Werken zu retten. Den Taten der Nächstenliebe kommt dabei eine doppelte Relevanz zu: Zum einen sind sie das einzige Kriterium für das jenseitige Urteil. Zum anderen sind sie die solitäre Voraussetzung für jegliche Möglichkeit der postmortalen Sühne, sei es die Fürbitte durch Menschen und Heilige, sei es die Reinigung im Fegefeuer, sei es die Messfeier durch die Hinterbliebenen oder schließlich die Bestattung ad sanctos. Alle diese Sühnewege sind direkt von den guten Werken abhängig, die noch zu Lebzeiten geübt wurden. Damit entfernt sich Gregor deutlich von seinem Lehrer Augustin und ebnet hingegen der mittelalterlichen Werkelehre den Weg. In der Organisation tätiger Nächstenliebe ist in den Dialogen eine Institutionalisierung zu beobachten. Der Bischof ist nicht durch seine Person, sondern durch sein Amt für die Armenfürsorge und in der aktuellen Kriegssituation besonders für die Gefangenen zuständig. Das Beispiel des Priesters Sanctulus beweist, wie ungleich höher Gregor das geübte Werk als die Gelehrsamkeit schätzt. Ihm geht es weniger um die systematische Durchdringung theologischer Fragestellungen, als vielmehr um die konkrete, praktische Gestaltung des Lebens bzw. die Vorbereitung des kommenden. Auch die Klöster sind in dem von den Dialogen gezeichneten Ideal eng in die Gemeinde eingebunden. Sie übernehmen Teile der Armenfürsorge und Krankenpflege, aber mitunter auch Predigt- und Seelsorgedienste. Damit spricht Gregor den asketischen Gemeinschaften bzw. deren Äbten episkopale Aufgaben zu. Insofern bieten die Dialoge Beispiele für die praktische Umsetzung der Ekklesiologie, die er in den Evangelienhomilien entwickelt hat.
5.5 Die Ezechielhomilien – Den Vorbildern nacheifern Etwa zeitgleich zu seinen Arbeiten an den Dialogen legte Gregor Teile des Ezechielbuches aus. Die zweiundzwanzig Homilien sind in zwei Bücher gegliedert, wobei die zwölf Vorträge des ersten Buches die Berufungsvision sowie die erste Zeichenhandlung Ezechiels (Ez 1,1–4,3) behandeln. Die zehn Homilien des zweiten Teils befassen sich mit dem Beginn der Tempelvision (Ez 40,1–47), die das Ende der biblischen Schrift bildet. Wie kein anderes Werk Gregors zeugen die Ezechielhomilien von den aktuellen Geschehnissen im Umfeld des Papstes. Mehrfach verweist er auf die kriegerischen Eroberungszüge der Langobarden,873 welche die Bevölkerung Italiens und auch ihn in Angst und Schrecken versetzen.874 Im Vorwort des zweiten 873
Vgl. Kap. 2.1; 6.3.1. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 9, 9 (CCSL 142, 128, 177–182); I, 11, 26 (CCSL 142, 182,
874 Vgl.
5.5 Die Ezechielhomilien – Den Vorbildern nacheifern
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Buches nennt er das Überschreiten des Pos durch den langobardischen König Agilulf875 als Grund dafür, dass der Zyklus so jäh abgerissen war. Angesichts der bedrohlichen Situation sieht sich der Papst nicht mehr imstande, den ursprünglichen Plan umzusetzen, das gesamte Prophetenbuch auszulegen. Stattdessen kommt er der Bitte seiner Zuhörer nach, zumindest die Tempelvision (Ez 40–48) zu erläutern.876 Auch dieses Vorhaben konnte nicht zu einem Ende geführt werden: Angesichts der Kriegszustände bricht Gregor seine Ausführungen nach weiteren zehn Vorträgen endgültig ab.877 Obwohl die Verweise auf die akuten Zeitumstände ebenso im ersten Buch begegnen,878 scheinen diese zwölf Homilien im Vergleich zu den zehn späteren in noch etwas ruhigeren Zeiten entstanden zu sein.879 Auffällig ist, dass Gregor im letzten Vortrag des ersten Buches die Belagerung Israels als Allegorie für die Angriffe der bösen Geister deutet, mit denen ein jeder Seelsorger zu kämpfen habe.880 Die naheliegende Parallele zur militärischen Situation Roms kommt ihm zu diesem Zeitpunkt noch nicht in den Sinn. Der Feldzug Agilulfs im Herbst 593 stellt insofern die zeitliche Scheide zwischen den beiden Büchern dar. Der erste Zyklus entstand demnach im Spätsommer oder Frühherbst desselben Jahres, der zweite im Winter 593/594.881 Die Überarbeitung der Mitschriften seiner Predigten nahm Gregor erst acht Jahre später in Angriff, da ihn die Amtsgeschäfte zu sehr in Anspruch genommen hatten.882 Komplexer als die Datierung erweisen sich die Fragen nach dem Sitz im Leben und der konkreten Adressatenschaft der Predigten. Im Widmungsschreiben des ersten Buches an Marinianus von Ravenna berichtet der Papst, die Homilien seien coram populo883 gehalten worden. Eine ähnliche Formulierung bieten auch
504–508); II, praef. (CCSL 142, 205, 10–12); II, 6, 22–24 (CCSL 142, 310, 524–313, 601); II, 10, 24 (CCSL 142, 397, 610–613). 875 Dieses Ereignis ist auf Oktober/November 593 zu datieren, vgl. Kessler, St., Exeget, 64–70. 876 Vgl. Greg.‑M. Hom Ez. II, praef. (CCSL 142, 205, 1–6). 877 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 10, 24 (CCSL 142, 397, 607–398, 630). 878 S. etwa Greg.‑M. Hom. Ez. I, 11, 6 (CCSL 142, 171, 102–107); I, 11, 26 (CCSL 142, 182, 505–508). 879 Vgl. Kessler, St., Exeget, 96–98 und Müller, B., Führung, 253. 880 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 12, 33 (CCSL 142, 202, 646–203, 653). 881 Vgl. Kessler, St., Exeget, 72 und Müller, B., Führung, 253. Marcus Adriaen, der Herausgeber der CCSL‑Edition, gibt pauschal das Jahr 593 an, vgl. Adriaen, Marcus, Praefatio, in: ders. (Hg.), Sancti Gregorii Magni Homiliae in Hiezechihelem prophetam, CCSL 142, Turnhout 1971, V–XXI, hier: V. 882 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, praef. (CCSL 142, 3, 1–8). Fragmente der unbearbeiteten schedae sind in der Florilegiensammlung Liber testimoniorum des Paterius überliefert worden, die noch zu Lebzeiten Gregors verfasst wurde, vgl. Kessler, St., Exeget, 73 f. und Müller, B., Führung, 254. Markus Adriaen hat diese Fragmente seiner Edition beigefügt, s. CCSL 142, 399–432. 883 Greg.‑M. Hom. Ez. I, praef. (CCSL 142, 3, 4).
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die Evangelienhomilien,884 demnach ist ebenso eine öffentliche Vortragsweise anzunehmen. Dennoch ist von einem grundsätzlich anderen Publikum auszugehen. Der sprachliche Stil und die Auswahl der Themen in den Ezechielhomilien zeigen vielmehr eine Nähe zur Hoheliedauslegung, den Moralia in Iob sowie der Pastoralregel und lassen insofern auf eine eher engere, asketischmystisch interessierte und gebildete Gruppe schließen.885 Anders als in den Evangelienhomilien886 setzt Gregor zudem eine fundierte Schriftkenntnis seines Publikums bzw. seiner Leserschaft voraus. Anstatt der exempla-Erzählungen der Dialoge und Homiliae in Euangelia verwendet der Papst nun Schriftzitate zur Argumentation. Zudem setzt er zentrale Bibeltexte als vertraut voraus.887 Am Beispiel des Doppelgebots der Liebe ist dies besonders offensichtlich: Häufig benennt Gregor zwar die Forderung nach der zweigestaltigen Liebe, verweist aber im Gegensatz zu den Evangelienhomilien nur ein einziges Mal auf den biblischen Hintergrund.888 Inhaltlich bietet Gregor eine mystisch-allegorische Auslegung der Prophetenworte, die sich insbesondere dem moralischen Sinn zuwendet. Ein zentrales Thema stellt erneut die Dialektik von aktivem und kontemplativem Leben dar.889 Damit spricht der römische Bischof zuvorderst Asketen und speziell monastisch lebende Kleriker an, die er zu einer Synthese beider Lebensweisen motivieren und so für den aktiven Dienst in der Kirche gewinnen will.890 Die Behauptung Stephan Kesslers, Gregor konzentriere sich im Laufe der Zeit „immer ausschließlicher auf den monastischen Bereich“891, kann allerdings in ihrer prozessiven Aussage nicht überzeugen. Nicht erst gegen Ende seines literarischen Schaffens spricht Gregor gezielt asketische Kreise an, sondern diese standen bereits zu Beginn im Fokus. Mit der Übernahme des Bischofsamtes weitet sich seine Perspektive hingegen und er widmet sich der gesamten Gemeinde – freilich unter der verantwortlichen Einbindung der Asketen.892 Zudem setzt Stephan Kessler für seine Beobachtung spezielle Datierungen gregorianischer Schriften voraus: 884 Sie sind mit Ausnahme der siebzehnten alle überschrieben mit habita ad populum, vgl. Kap. 5.3. 885 Vgl. Kessler, St., Exeget, 94–96. Gregor spricht in der vierten Homilie des zweiten Buches explizit Mönche an, die wie er „mit dem Ordensgewand bekleidet sind“ (qui religioso induti habitu) Greg.‑M. Hom. Ez. II, 4, 3 (CCSL 142, 259,85 f.). 886 Vgl. Kap. 5.3.2.1. 887 Vgl. Kessler, St., Exeget, 95. 888 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 3, 20 (CCSL 142, 251, 458–461), s. dazu Kap. 5.5.2.3. 889 Vgl. bereits Kap. 5.1.1; 5.2.3.3 und nachfolgend 5.5.3.1. 890 Conrad Leyser grenzt das Publikum der Ezechielhomilien gar auf das Personal im Lateran ein, das Gregor auf Asketen und Kleriker beschränkt hatte, vgl. Leyser, Conrad, ‚Let me speak, let me speak‘ Vulnerability and Authority in Gregory’s Homilies on Ezekiel, in: Gregorio Magno e il suo Tempo, Bd. II: Questioni letterarie e dottrinali, SEAug 34, Rom 1991, 169–182, 180 f. und Müller, B., Führung, 175 f. 891 Kessler, St., Exeget, 91. 892 Vgl. Kap. 5.3.3.1.
5.5 Die Ezechielhomilien – Den Vorbildern nacheifern
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Die Hoheliedauslegung betrachtet er nicht als erstes Werk Gregors, sondern datiert sie in die Mitte der 590er Jahre.893 Andererseits sieht er den Kommentar In I Regum als authentisches Werk Gregors an, das inzwischen weitgehend als Pseudepigraphie aus dem zwölften Jahrhundert Petrus von Cavas zugeschrieben wird.894 Um das Publikum der Ezechielhomilien etwas genauer zu fassen, ist nach dem konkreten Kontext der Vorträge zu fragen. Gregor selbst und die Überlieferung bezeichnen sie stets als homiliae,895 was zuerst an einen liturgischen Rahmen denken lässt.896 Zudem geben zwei Handschriften die Lateranbasilika als Ort der Predigten an.897 Allerdings ist dieser Schluss nicht zwingend: Zum einen verweist der römische Bischof an keiner Stelle des Werkes auf einen liturgischen Kontext, wie er es bei den Evangelienhomilien mehrfach getan hat.898 Zum anderen entstanden beide Handschriften mit dem Hinweis auf die Lateransbasilika als früheste und zudem einzige Zeugen erst im 13. bzw. 14. Jahrhundert899 – die historische Aussagekraft dieser Tradition geht also gegen Null. Zuletzt eröffnet gerade die nie angezweifelte Nähe zu den Moralia in Iob die Möglichkeit eines anderen Sitzes im Leben. Diese Vorträge, die ohne Zweifel in keinem gottesdienstlichen Kontext entstanden sind, bezeichnet Gregor ebenfalls als homelias.900 Insofern lässt sich bei ihm eine flexible Semantik des Begriffs beobachten. Hinzu kommt, dass der römische Bischof sich in Vorbereitung beider Auslegungen – des Hiob- sowie des Ezechielbuches – intensiv mit dem biblischen Text auseinandersetzte und sogar textkritische Untersuchungen anstellte.901 An mehreren Stellen verweist er auf differierende Formulierungen der Vetus Latina 893 Vgl.
Kessler, St., Exeget, 62 und Kap. 3.3. Vgl. Kap. 1. 895 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, praef. (CCSL 142, 3, 3) und Kessler, St., Exeget, 75–84. 896 Der Terminus „Homilie“ wurde im christlichen Kontext schon früh für die Schriftauslegung innerhalb des Gottesdienstes verwendet, vgl. de Margerie, Bertrand, Introduction à l’histoire de l’exégèse, 4 Bde., Paris 1980–1990, hier: IV, 9–13; Largier, Niklaus, Art.: Homilie, RLW 2 (2007), 85–87, hier: 86 und Kessler, St., Exeget, 85–88. So gehen Stephan Kessler und Barbara Müller automatisch von einem gottesdienstlichen Kontext aus, vgl. Kessler, St., Exeget, 99–105 und Müller, B., Führung, 254–256. Stephan Kessler vertritt die These, dass die Homilien im Rahmen der allmorgendlichen Vigilfeiern entstanden und die Auswahl des Textes durch die lektionarische Tradition vorgegeben war, vgl. Kessler, St., Exeget, 103–105. Dagegen spricht, dass einige der Homilien nur 2–3 Verse auslegen. Das tägliche Pensum der Lectio continua muss aber deutlich größer gewesen sein, wenn „das Ezechielbuch zusammen mit anderen Prophetenschriften im November bis zum Fest des heiligen Andreas [scil. 30. November] gelesen“ wurde, Kessler, St., Exeget, 103. 897 Vgl. Adriaen, Praefatio, V. 898 Vgl. z. B. Greg.‑M. Hom. eu. I, 3, 3 (CCSL 141, 21, 27); I, 8, 1 (CCSL 141, 54, 1 f.). Die kurzen Doxologien, mit denen Gregor jede Homilie zu Ezechiel jeweils abschließt, sind kein eindeutiger Hinweis auf einen gottesdienstlichen Rahmen, gegen Müller, B., Führung, 255. 899 Vgl. Adriaen, Praefatio, V. 900 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 41 (CCSL 140, 49, 53) und Kessler, St., Exeget, 87 f. 901 Vgl. Greg.‑M. Mor. XXVI, 72 (CCSL 143B, 1319, 6–8). 894
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im Vergleich zur von ihm verwendeten Vulgata,902 auch nimmt er zweimal die Lesart der Septuaginta in den Blick.903 Zudem gibt er an, die Septuaginta-Ausgaben von Aquila, Theodotius und Symmachus verglichen und zuletzt in den Ezechielkommentar des Hieronymus geschaut zu haben.904 Auch Fragen der Authentizität der biblischen Autoren erwägt er und spricht sich gegen die These einer Pseudepigraphie des 2 Petr aus.905 Derart gründliche Vorarbeiten erscheinen für klassische Predigten äußerst ambitioniert. Eher ist an einen Beitrag zur exegetischen Diskussion zu denken, wie sie Gregor sowohl im Andreaskloster als auch als Apokrisiar in Konstantinopel geführt hat. Die Ezechielhomilien906 können demnach in einem vergleichbaren Rahmen verortet werden, nämlich einem spirituell-exegetisch interessierten und biblisch versierten Zirkel, der sich regelmäßig über die persönlichen Schriftstudien austauschte. Sicherlich waren die Mönche des Andreasklosters Teil dieser Gruppe. Desweiteren ist an Bewohner des Lateranpalastes sowie auswärtige Asketen und Kleriker zu denken, die sich vorübergehend in Rom aufhielten, wie die Widmung an Marinianus von Ravenna zeigt.907 Die Besonderheit des Werkes liegt in seiner konkreten Verknüpfung mit dem historischen Kontext. Hier lässt sich beobachten, wie stark sich Gregor durch die Situation seiner Umwelt in seiner Lehre beeinflussen lässt. Trotz der durchgehend spirituellen Ausrichtung seiner Auslegungen erweisen sie sich keineswegs als Mystik der Transzendenz. Gerade das Thema der tätigen Nächstenliebe erhält durch die fatalen politischen Umstände eine neue Brisanz und Konkretion, aus der heraus der Papst eine aktive Verantwortung auch und gerade der Asketen einfordert.
902 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 7, 7 (CCSL 142, 86, 120–122); I, 7, 22 (CCSL 142, 98, 511 f.); I, 7, 23 (CCSL 142, 99, 524 f.); I, 10, 6 (CCSL 142, 146, 66 f.); I, 10, 26 (CCSL 142, 157, 466 f.); I, 10, 43 (CCSL 142, 166, 805 f.); I, 12, 30 (CCSL 142, 201, 601–603). Vgl. auch Greg.‑M. Mor. XVIII, 55 (CCSL 143A, 922, 2–4); XX, 21 (CCSL 143A, 9–12); XX, 62 (CCSL 143A, 1048, 2–8); XXVI, 63 (CCSL 143B, 1315, 8–10). 903 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 7, 23 (CCSL 142, 99, 527–532); II, 1, 10 (CCSL 142, 316–321). Auffällig ist, dass die textkritischen Hinweise fast ausschließlich im ersten Buch begegnen. Offensichtlich war eine gründliche Vorbereitung der Auslegung aufgrund der politischen Umstände zur Zeit des zweiten Buches nicht mehr möglich. Vgl. auch Greg.‑M. Mor. V, 40 (CCSL 143, 246, 35–37); XVIII, 55 (CCSL 143A, 922, 2–4). 904 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 7, 23 (CCSL 142, 99, 527–532). Die Bedeutung dieser Stelle für die Frage nach Gregors Griechischkenntnissen ist bisher nicht ausreichend erkannt, Joan Petersen nennt sie zwar, beschäftigt sich aber ausgiebig nur mit etymologischen Herleitungen Gregors und Augustins, Petersen, Greek, 126; ähnlich auch Kessler, St., Exeget, 162 f. Vgl. Kap. 3.2. 905 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 6, 11 (CCSL 142, 302, 246–256). 906 Trotz meiner These eines außerliturgischen Kontextes behalte ich den traditionellen Titel des Werkes bei. 907 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, praef. (CCSL 142, 1) und Müller, B., Führung, 256.
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5.5.1 Formen tätiger Nächstenliebe Bedingt durch den exegetischen Charakter des Werkes werden in den Ezechielhomilien weniger Möglichkeiten tätiger Nächstenliebe konkret benannt, als es in den Gemeindepredigten der Evangelienhomilien der Fall ist. Mit seiner allegorisch-moralischen Auslegung zielt Gregor darauf ab, dass aus dem Glauben und der Gottesschau Taten entstehen sollen, weniger aber darauf, wie oder welche. Insofern verbleiben Gregors Ausführungen in diesem Bereich in weiten Teilen auf einer abstrakten Ebene. Zwei Ausnahmen sind dennoch zu nennen: Zum einen setzt der römische Bischof einen deutlichen Schwerpunkt auf den Dienst der Verkündigung, den er auch in den Ezechielhomilien als ein wesentliches Werk der Nächstenliebe zeichnet.908 Damit erinnert er die anwesenden Kleriker an eine zentrale Aufgabe ihres Amtes, ohne die Asketen davon auszunehmen.909 Zum anderen rücken angesichts der Kriegszustände weitere Personengruppen als Empfänger von Liebestaten in den Blick.
5.5.1.1 Der Dienst des Klerus Seiner Hörerschaft entsprechend geht Gregor in seinen Ausführungen verstärkt auf den kirchlichen Dienst ein, dessen zentrale Aufgabe er in der Verkündigung sieht.910 Einen Ansatzpunkt für diese Thematisierung findet der Papst in der Berufung des Propheten Ezechiel, die als Parallele zum kirchlichen Predigtauftrag betrachtet wird. Insofern kommt die Verkündigung vor allem im ersten Buch zur Sprache, das die biblische Berufungsvision auslegt, wohingegen die praedicatio in den zehn Homilien zur Tempelvision fast ausschließlich in summarischen Aufzählungen guter Werke erwähnt wird.911 Obwohl in den Ezechielhomilien vornehmlich der Klerus angesprochen wird, nimmt Gregor damit mittelbar – wie bereits in der Regula Pastoralis912 – stets ebenso die Gemeinde in den Blick. Das wird deutlich an seinem Ideal des Dienstes: „Welch Tugend ist es, mehr an den Nutzen der Nächsten zu denken als an die eigene Bedrängnis?“913 Der Klerus besitzt keinen absoluten Wert, sondern erhält seinen Zweck erst in der Relation zur Gemeinde, an der er Dienst tut. Das ist die Grundaussage der gregorianischen Ekklesiologie und Amtstheologie:914 908
Vgl. Kap. 5.2.1; 5.3.1.1. Vgl. Kap. 5.1.2; 5.3.3.1; 5.4.2.3.2. 910 Zur Terminologie des Kirchendienstes in den Ezechielhomilien vgl. Müller, B., Führung, 258 f. 911 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 2, 8 (CCSL 142, 230, 187–191); II, 5, 12 (CCSL 142, 285, 354–286, 357); II, 5, 14 (CCSL 142, 286, 387–287, 404). 912 Vgl. Kap. 5.2.2.2. 913 „Cuius rogo uirtutis est plus de utilitate proximorum quam de sua afflictione cogitare?“ Gregor.‑M. Hom. Ez. II, 10, 12 (CCSL 142, 388, 304–306). 914 Vgl. Kap. 5.2.2.2; 5.3.3.1. Die reziproke Relationalität von Amt und Gemeinde berücksichtigt Michael Fiedrowicz in seiner ekklesiologischen Studie Gregors nicht, vgl. Fiedrowicz, 909
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„Lasst uns durch die Worte Gottes, die wir verstehen, auch andere zum Leben führen! Dafür sind sie nämlich zu verstehen, damit sie sowohl uns nützen als auch anderen mit geistlichem Eifer mitgegeben werden.“915 Die Gnade der Erkenntnis ist aufs Engste mit der Pflicht zur Verkündigung verbunden. Jeder persönliche Fortschritt in der Gottesschau soll zugleich dem Nächsten zugutekommen.916 In der Verkündigung soll der Nächste zur contemplatio angeleitet, aber auch zu guten Werken angeregt917 und so dereinst zum ewigen Leben geführt werden.918 Zum rein wörtlichen Predigtgeschehen kann ergänzend wundertätiges Handeln hinzukommen, wobei sich auch Verworfene dieser Mittel bedienen können. Insofern ist Vorsicht geboten, ein sicheres Merkmal stellt mit Joh 13,35 allein die Liebe dar.919 Den Inhalt der praedicatio beschreibt Gregor in den Homilien nirgends ausführlich, sondern nennt am Rande exemplarisch die Themenfelder der Inkarnation und der Trinität, ohne beides näher zu erläutern.920 Dem römischen Bischof ist nicht daran gelegen, einen Kanon theologischer Topoi festzulegen, die der Gemeinde in der Predigt vermittelt werden müssen. Vielmehr geht es ihm darum, die Menschen innerlich zu Gott zu wenden und so für die kommende Welt zu gewinnen. Von dieser können die geistlich Fortgeschrittenen in der inneren contemplatio einen ersten, flüchtigen Eindruck gewinnen. Die individuelle Erfahrung soll Gegenstand der Verkündigung sein und nicht eine abstrakte, dogmatische Erörterung.921 Diesem Ideal entsprechen die Ezechielhomilien insofern selbst, als Gregor hierin immer wieder seine persönliche Perspektive einflicht.922 Die Verkündigung muss zudem den Tadel falscher Lebensweisen und die Ermahnung zur Besserung umfassen. Unterbleibt sie, stirbt der Sünder aufgrund seiner Schuld. Aber auch der Glaubenslehrer wird dafür verantwortlich gemacht, da er durch sein Schweigen die Umkehr verhindert hat.923 Kirchenverständnis, 193–202 et passim. Diesen Aspekt stellt neuerdings George Demacopoulos in den Vordergrund, vgl. Demacopoulos, Ascetic, passim. 915 „[…] per uerba Dei quae intellegimus ad uitam quoque et alios trahamus. Ad hoc enim intellegenda sunt, ut et nobis prosint, et intentione spiritali aliis conferantur.“ Greg.‑M. Hom. Ez. I, 10, 4 (CCSL 142, 146, 37–40). Vgl. auch Greg.‑M. Hom. Ez. II, 7, 5 (CCSL 142, 318, 140–319, 148) und Evans, Faith, 162. 916 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 2, 4 (CCSL 142, 227, 85–228, 108), vgl. Müller, B., Monasticism, 89. 917 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 3, 12 (CCSL 142, 40, 226–229). 918 Zur Komplementarität von actio und contemplatio in den Ezechielhomilien s. Kap. 5.5.3.2. 919 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 5, 22 (CCSL 142, 291, 546–292, 587). 920 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 3, 15 (CCSL 142, 42, 294–297). 921 Vgl. auch Greg.‑M. Mor. XXVII, 3 (CCSL 143B, 1332, 9–12). 922 Vgl. z. B. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 11, 6 (CCSL 142, 171, 96–172, 122). 923 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 11, 9 (CCSL 142, 173, 158–174, 191). Zur Verantwortung des Predigers für das Heil der Gemeinde vgl. Kap. 5.2.2.2.
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Die Möglichkeit zur Verkündigung ist allerdings abhängig von der Beschaffenheit sowohl der Lehrenden als auch der Gemeinde.924 Neben der Demut und der bußfertigen compunctio925 benennt der römische Bischof als weitere Voraussetzungen für eine gelingende Verkündigung die Eintracht der Lehrer untereinander926 sowie ihre guten Werke.927 Durch praktizierte Nächstenliebe wird von Gott die homiletische Gabe großzügiger gewährt.928 Zudem ist das Vorbild des Predigers wirkmächtiger, wenn Leben und Lehre übereinstimmen.929 Doch trotz aller Bemühungen der Lehrer führt nicht jede Verkündigung zum gewünschten Erfolg.930 Dieser Tatsache steht ein jeder Prediger machtlos gegenüber. Um deswegen nicht in Verzweiflung zu verfallen, zählt Gregor zur Ermutigung die positiven Aspekte des Predigtamtes auf: Werden die Herzen der Gläubigen durch die Verkündigung näher zu Gott geführt, schreitet auch der Prediger voran und erlangt eine tiefere Erkenntnis Gottes. In einem ersten Schritt dient der Lehrer als Multiplikator – seine Gnadengabe erweckt Gnadengaben in der Gemeinde. Für diesen Dienst wird er im nächsten Schritt belohnt, so dass er selbst Gewinn aus der eigenen Aufgabe ziehen kann.931 Zum anderen können die Fortschritte der anbefohlenen Gläubigen über den Schmerz hinwegtrösten, den die Seele angesichts des verzögerten Eintritts in die patria caelestis empfindet.932 924 „Denn mal wird guten Lehrern die Predigt wegen böser Zuhörer entzogen. Mal aber wird die Predigt wegen guter Zuhörer auch bösen Lehrern gegeben. Mal aber wird die Predigt zur Rechtfertigung sowohl der Lehrerenden als auch der Hörenden den Lehrern gegeben, damit auch sie selbst wachsen und ihre Zuhörer im Verstehen und im Leben profitieren. Mal aber wird die Predigt der Verkündigung entzogen, damit ein jeder entschieden gerichtet wird, weil weder diejenigen, denen die Predigt der Glaubenslehre vorzutragen ist, würdig sind, diese aufzunehmen, noch sind jene, die die Aufgabe zu lehren innehaben, [würdig], das Wort der Glaubenslehre vorzutragen.“ (Nam aliquando propter malos auditores bonis tollitur sermo doctoribus. Aliquando uero propter bonos auditores datur sermo doctoribus et malis. Aliquando autem propter docentium atque audientium iustificationem bonis sermo doctoribus datur, ut et ipsi per meritum crescant, et auditores eorum in intellectu et uita proficiant. Aliquando uero quia neque hi digni sunt accipere quibus doctrinae sermo profertur, neque illi doctrinae uerbum proferre qui locum docendi tenet, praedicationis sermo tollitur, ut utraque pars districte iudicetur.) Greg.‑M. Hom. Ez. I, 12, 16 (CCSL 142, 191, 245–192, 254). Da die Gründe für eine verhinderte Predigt also vielfältig sein können und nicht immer offenbar werden, rät Gregor, vorsorglich die Schuld in Demut bei sich selbst zu suchen, vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 12, 17 (CCSL 142, 192, 277–193, 294). 925 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 12, 11 (CCSL 142, 189, 151–158). 926 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 3, 15 (CCSL 142, 42, 304–309). 927 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 9, 4 (CCSL 142, 124, 67–125, 71). 928 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 12, 10 (CCSL 142, 188, 119–127). 929 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 3, 4 (CCSL 142, 35, 60 f.); II. 9, 15–18 (CCSL 142, 347, 408–350, 531). Vgl. auch Kap. 5.2.3.1. 930 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 10, 23 (CCSL 142, 155, 391–156, 427), vgl. auch Greg.‑M. Mor. XXVII, 41 (CCSL 143B, 1361, 2–1362, 33). 931 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 10, 40 f. (CCSL 142, 164, 725–165, 758). 932 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 3, 8 (CCSL 142, 242, 159–175); zu den Vorteilen des kirchlichen Dienstes vgl. Demacopoluos, Ascetic, 53–81, besonders 65–69.
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Neben den Vorteilen kommt auch die Gefahr der Zerstreuung zur Sprache, die dem kirchlichen Dienst grundsätzlich inne liegt: In der Begegnung mit Menschen in den unterschiedlichsten Situationen und Nöten durchlebt der empathische Seelsorger in rascher Folge Freud und Leid. Die mitfühlende Seelsorge umfasst zudem die priesterliche Pflicht der Fürbitte, wie Gregor mehrfach betont.933 Obendrein soll das Gleichgewicht zwischen persönlicher Buße und aktivem Dienst in der Welt gewahrt werden.934 Den kirchlichen Dienst definiert Gregor anhand der Relation zur Gemeinde, wobei durch den Fortschritt in Werken und Gebet für beide Seiten, für den Prediger und das Publikum, ein Nutzen erlangt wird. Die Verkündigung wird inhaltlich kaum konkretisiert, vielmehr betont der römische Bischof die Anteilgabe an persönlichen spirituellen Erkenntnissen. Trotz der zentralen Stellung, die dem kirchlichen Dienst zukommt, benennt der Papst – aus eigener Erfahrung – seine Herausforderungen, die besonders in der Forderung nach compassio mit dem Nächsten bestehen.
5.5.1.2 Die päpstlichen Aufgaben In der elften Homilie des ersten Buches kommt Gregor gleich zweimal auf seine eigenen Aufgaben als Papst zu sprechen.935 In Form eines Schuldbekenntnisses klagt er sich selbst dafür an, den Ansprüchen des Amtes nicht gerecht zu werden. Er benennt die faktische Unvereinbarkeit von äußerem Dienst und innerer Sammlung – ein Ideal, dass er auch und besonders an die oberste Ebene der kirchlichen Leitung richtet.936 933 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 9, 25 (CCSL 142, 137, 516–527); I, 10, 41 (CCSL 142, 165, 746 f.); II, 9, 21 (CCSL 142, 375, 679–690). 934 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 11, 27 f. (CCSL 142, 182, 526–184, 577). Eindrücklich ist die persönliche Bitte Gregors an sein Publikum: „Bedenkt – ich bitte, geliebte Brüder –, wie groß die Mühe der Aufseher ist, das Herz zu den hohen Dingen emporzustrecken und es schlagartig zu den niedrigsten Dingen zurückzurufen, den Geist in der Höhe der inneren Erkenntnis zu verfeinern und es wegen der äußeren Angelegenheiten der Nächsten, wie ich es nennen will, in der Erwägung zu vergröbern.“ (Pensate, rogo, fratres carissimi, quantus speculatori labor sit et ad sublimia cor tendere, et hoc repente ad ima reuocare, et in sublimitate cognitionis intimae extenuare animum, et propter exteriores causas proximorum, ut ita dicam, subito in cogitatione crassescere.) Greg.‑M. Hom. Ez. I, 11, 28 (CCSL 142, 184, 572–577). 935 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 11, 5 f. (CCSL 142, 171, 82–172, 122); I, 11, 26 f. (CCSL 142, 182, 495–183, 549). 936 Anzumerken ist allerdings, dass Gregor in beiden Textabschnitten weder das Papstamt noch das Episkopat explizit erwähnt. Stattdessen greift er auf die Wächter-Terminologie des Ezechielbuches zurück, vgl. Ez 3,17 und Greg.‑M. Hom. Ez. I, 11, 4 (CCSL 142, 170, 67–171, 81). Der speculator verweist aber implizit auf den Bischofstitel und kann in augustinischer Tradition nahezu als Synonym dafür dienen, vgl. Georges, Handwörterbuch zum Lemma speculator sowie Müller, B., Führung, 258, zur augustinischen Vorlage, vgl. Mohrmann, Christine, Episcopos – Speculator, in: Dies., Études sur le latin des chrétiens, Bd. 4: Latin chrétien et latin médiéval, Storia e Letteratura 143, Rom 1977, 232–252.
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Gregor vermisst ausreichend Zeit und Ruhe zur inneren Besinnung angesichts der von außen an ihn herangetragenen Vereinnahmungen. In seiner Rolle als Papst muss er „Rechtsstreitigkeiten, mal von Kirchen, mal von Klöstern klären, oft die Leben und Taten Einzelner erwägen; mal gewisse Angelegenheiten der Bürger übernehmen, mal über die hereinbrechenden Schwerter der Barbaren klagen […], mal die Sorge dafür übernehmen, dass nicht gerade denen die Unterstützung fehlt, durch die die öffentliche Disziplin aufrechterhalten wird, mal irgendwelche Räuber geduldig ertragen, mal sich ihnen unter dem Eifer der rettenden Liebe widersetzen.“937
Hinzu kommen die häufigen Kontakte mit weltlichen Würdeträgern,938 die Versorgung der Gemeindeglieder mit dem Nötigsten sowie die Aufstellung von Wachmannschaften zum Schutz der Stadt vor den Langobarden.939 Auf der anderen Seite will Gregor gerade die seelsorglichen Pflichten seines Amtes nicht vernachlässigen, sondern die Amtslast, die sarcina pastoralis940 schultern, obwohl sie sich durch die raschen Wechsel als besonders anstrengend und aufreibend erweist. Zu den pastoralen Aufgaben zählen der Tadel der Sünden, das Lob der guten Werke, die Sorge um die Seelen der Gemeindeglieder, die Predigt des Wortes Gottes,941 das geduldige Zuhören sowie die Empathie mit den Gesprächspartnern in Freud und Leid.942 Obwohl der Papst selbst keine klare Kategorisierung in äußere und pastorale Aufgaben bietet, ist sie ihm dennoch nicht fremd: Einerseits finden sich in seinem gesamten Œuvre Klagen über verpflichtende Kontakte mit Weltleuten,943 andererseits stellt er die Sorge um die Seelen der Gläubigen stets ins Zentrum des kirchlichen Dienstes.944 Auffällig ist, dass Gregor in keiner Weise zwischen seinen päpstlichen Pflichten und dem gewöhnlichen Bischofsamt unterscheidet. Er stellt sich in eine Reihe mit seinen coepiscopi – einen Universalprimat beansprucht er für sich an dieser Stelle nicht. Er versteht sich vielmehr als „normaler“ Bischof, wie auch 937 „[…] modo Ecclesiarum, modo monasteriorum causas discutere, saepe singulorum uitas actusque pensare. Modo quaedam ciuium negotia sustinere, modo de irruentibus barbarorum gladiis gemere […]. Modo rerum curam sumere, ne desint subsidia eis ipsis quibus disciplinae regula tenetur, modo raptores quosdam aequanimiter perpeti, modo eis sub studio seruatae caritatis obuiare.“ Greg.‑M. Hom. Ez. I, 11, 6 (CCSL 142, 171, 100–107). Zur tatsächlichen Umsetzung dieser Aufgaben durch Gregor, vgl. Kap. 6. 938 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 11, 6 (CCSL 142, 171, 110–112), vgl. z. B. Greg.‑M. Ep. III, 61 (CCSL 140, 209, 2–211, 68) und Dal Santo, Empire, 69–75. 939 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 11, 26 (CCSL 142, 182, 504–507), vgl. z. B. Greg.‑M. Ep. VIII, 19 (CCSL 140A, 539, 12–17). 940 Zu dieser Wortwahl vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 11, 6 (CCSL 142, 171, 98 f.). 941 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 11, 26 (CCSL 142, 182, 501–508). 942 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 11, 27 (CCSL 142, 183, 538–549). 943 Vgl. z. B. Greg.‑M. Dial. I, prol. 1. (SC 260, 10, 1–3). 944 Vgl. Kap. 5.2.1.1.
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sein Protest gegen die Verwendung des universalis-Titels durch die Patriarchen von Konstantinopel belegt.945 Im kleinen und vertrauten Kreis benennt Gregor die Vielfalt der Ansprüche, die an sein Amt gerichtet werden. Dabei gesteht er sich und seinen Zuhörern die aktuelle Überforderung ein. Unter der lange drohenden und schließlich tatsächlich einsetzenden Belagerung Roms durch die Langobarden geriet er an die Grenzen seiner Kräfte. Zu den üblichen pastoralen und kirchenleitenden Aufgaben kamen nun politische und militärische hinzu. Nicht zuletzt sind die Homilien auch von einer großen Angst um seine Gemeinde, seine Heimatstadt und das eigene Leben durchzogen.946
5.5.1.3 Die Sorge um die Bedürftigen Die himmlischen Wesen der Thronwagenvision bieten Gregor im ersten Buch der Ezechielhomilien die Gelegenheit zu einer reichen allegorischen Deutung. So interpretiert er die Flügel der Wesen als Tugenden, die den Gläubigen zu Gott emporheben und sich in guten Werken äußern.947 Damit die Seele weiß, wann und wo Gutes getan werden muss, sind ihr die fünf Sinne als Dienstboten an die Seite gestellt. Sie sind die Verbindung der Seele nach außen und melden, wann immer Not zu lindern ist.948 Die konkreten Tugendwerke führt Gregor nicht aus, sondern belässt es bei exemplarischen Aufzählungen, in denen er am häufigsten das Almosen bzw. die Unterstützung Armer,949 die Speisung Hungernder950 und die Bekleidung 945 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 41 (CCSL 140, 320, 1–325, 141); V, 44 (CCSL 140, 329, 1–336, 203). Zum universalis-Streit und der umfangreichen Literatur darüber s. Kap. 6.3.2.2. 946 Vgl. z. B. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 6, 22 (CCSL 142, 312, 564–566); II, 10, 24 (CCSL 142, 397, 610 f.). 947 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 4, 5–7 (CCSL 142, 50, 124–53, 204); I, 7, 21 f. (CCSL 142, 96, 445–99, 523); I, 8, 1 (CCSL 142, 101, 8–29); I, 10, 31 f. (CCSL 142, 159, 532–161, 608), vgl. ebenso Greg.‑M. Mor. XXIX, 71 f. (CCSL 143B, 1483, 73–1485, 137). Diese Deutung übernimmt Gregor von Ambrosius, vgl. Ambr. Abr. 2, 8, 53 f. (CSEL 32/1, 606, 7–608, 21) und greift in den Ezechielhomilien damit auf die klassische Lehre der Kardinaltugenden (prudentia, fortitudo, iustitia und temperantia) zurück, vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 3, 8 (CCSL 142, 7, 130–144); II, 10, 18 (CCSL 142, 393, 470–394, 507). Im ersten Textabschnitt verwendet er den terminus technicus der principales uirtutes, die zweite Stelle spricht allgemein von uirtutes. Zur Entwicklung und Wirkungsgeschichte der Tradition und ihrer Terminologie s. Klein, U., Kardinaltugenden. In der Pastoralregel hatte sich der Papst noch von der Vorstellung vierer Haupttugenden abgesetzt und die caritas allen anderen Tugenden vorangestellt hatte, vgl. Kap. 5.2.2.3. 948 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 5, 5 (CCSL 142, 278, 110–279, 147). 949 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 7, 21 (CCSL 142, 97, 460 f.); I, 10, 9 (CCSL 142, 148, 140 f.); I, 10, 23 (CCSL 142, 156, 418 f.); I, 10, 32 (CCSL 142, 160, 593–161, 594); II, 5, 5 (CCSL 142, 279, 138 f.); II, 5, 5 (CCSL 142, 280, 191–194); II, 5, 14 (CCSL 142, 287, 390); II, 6, 18 (CCSL 142, 308, 441 f.); II, 6, 19 (CCSL 142, 309, 467); II, 8, 16 (CCSL 142, 348, 462 f.); II, 8, 18 (CCSL 142, 350, 516); II, 9, 12 (CCSL 142, 366, 377); II, 10, 19 (CCSL 142, 394, 513 f.). 950 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 7, 21 (CCSL 142, 97, 460 f.); II, 2, 8 (CCSL 142, 230, 190 f.); II, 2, 9 (CCSL 142, 231, 225 f.); II, 5, 5 (CCSL 142, 279, 134); II, 5, 12 (CCSL 142, 285, 355); II, 6, 18 (CCSL 142, 308, 442); II, 7, 16 (CCSL 142, 329, 504 f.); II, 9, 12 (CCSL 142, 366, 377 f.).
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Nackter951 nennt. Deutlich weniger Belege gibt es für die Krankenpflege952 sowie die Bestattung Toter.953 Letztere wird an dieser Stelle das erste Mal von Gregor dezidiert als Werk der vita activa und der Nächstenliebe beschrieben. Damit stellt er es nicht mehr allein als Pflicht aus gesellschaftlicher Tradition dar, sondern als christlich motivierte Handlung.954 Auffällig ist, dass Nahrungs- und Kleiderspenden vornehmlich im zweiten Buch aufgeführt sind, also zu einer Zeit, in der die Belagerung Roms schmerzvolle Realität geworden war und die Kriegsflüchtlinge für die reguläre Armenversorgung eine zusätzliche Belastung darstellten. Die Aufzählungen verdeutlichen, dass Gregor diese Formen der tätigen Nächstenliebe pars pro toto betrachtet. Sie sind vertraute Beispiele, denen problemlos weitere an die Seite gestellt werden können. Maßgebliches Kriterium ist allein der Nutzen des Nächsten.955 Die irdischen Güter sind kein Privatbesitz, sondern von Gott ad communem utilitatem geschenkt.956 Barmherzigkeit sollte nicht zögerlich, sondern freimütig geübt werden. Weder Angst vor eigener Armut, noch Habgier oder Trägheit darf sie hemmen.957 Was zählt, ist das vollbrachte Werk: „Von unserer Liebe zum Nächsten spricht also mehr die gute Tat als die Zunge.“958 Vor blindem Aktionismus warnt Gregor jedoch inständig und fordert eine gründliche Selbstreflexion, um Wankelmut959 und falsche Intentionen960 auszuschließen. Theologisch begründet der römische Bischof die Sorge um die Bedürftigen mit dem bereits bekannten Verweis auf die sühnende Wirkung der Almosen.961 Begangene Sünden können indes die Werke noch verstärken, weil das Schuldbewusstsein zu Buße und Demut führt.962 Auf diese Weise ebnet Gregor gezielt 951 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 7, 21 (CCSL 142, 97, 460 f.); II, 5,5 (CCSL 142, 279, 135 f.); II, 5, 12 (CCSL 142, 285, 355); II, 9, 12 (CCSL 142, 366, 378). 952 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 7, 21 (CCSL 142, 96, 453–97, 455); II, 2, 8 (CCSL 142, 230, 189 f.). 953 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 2, 9 (CCSL 142, 231, 226). 954 Vgl. Kap. 5.4.2.2. 955 „Dann sind die Flügel der Tugenden unter dem Firmament ausgebreitet, wenn einer das Gut, das er hat, für den anderen aufwendet.“ (Tunc pennae uirtutum sub firmamento rectae, quando bonum quod alter habet, hoc alteri impendit.) Greg.‑M. Hom. Ez. I, 7, 21 (CCSL 142,96, 446–448), vgl. auch Greg.‑M. Hom. Ez. I, 7, 21 (CCSL 142, 97, 479–482). 956 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 7, 21 (CCSL 142, 97, 482–98, 493) und Kap. 5.2.1.2. 957 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 3, 18 (CCSL 142, 43, 337–45, 384); II, 5,5 (CCSL 142, 278, 132–279, 142); II, 8, 15 (CCSL 142, 347, 429–348, 438); II, 8, 18 (CCSL 142, 350, 516 f.). 958 „Amorem itaque nostrum erga proximum plus bona operatio loquitur quam lingua“ Greg.‑M. Hom. Ez. II, 5, 6 (CCSL 142, 280, 166 f.). 959 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 3, 18 (CCSL 142, 44, 374–45, 384). 960 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 4, 10 (CCSL 142, 55, 263–294). 961 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 3, 18 (CCSL 142, 43, 343 f.); I, 4, 5 f. (CCSL 142, 51, 147–52, 184); II, 3, 12 (CCSL 142, 244, 241) und Kap. 5.2.2.4; 5.3.2.2 und 5.4.3.1. 962 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 7, 6 (CCSL 142, 320, 190–196) und ebenso Greg.‑M. Mor. XIV, 42 (CCSL 143A, 724, 18–22) sowie Kap. 5.6.3.1.1.
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auch denjenigen den Weg zum Heil, die kein reines, sündenfreies Leben führen. Wie bereits in den Evangelienhomilien lässt sich also auch in der Ezechielexegese eine demokratisierende Tendenz wahrnehmen, die zugleich ein askesekritisches Moment beinhaltet.963 Angesichts der akuten Bedrohung durch die Langobarden, die jede Sicherheit nahm, den nächsten Tag zu erleben, erinnert der Papst daran, dass dem Menschen seine Lebensspanne zu seinem Vorteil nicht bekannt ist. Auf diese Weise bemüht er sich umso eifriger in seinen Werken.964 Der Einfluss der bedrohlichen politischen Situation ist den Ausführungen zu den klassischen Taten der Nächstenliebe deutlich anzumerken. Als die Langobarden den Po überschritten und gegen Rom zogen, forderte er nachdrücklicher zur Armenfürsorge auf als je zuvor. Zudem nimmt er in seine theologische Argumentation die „homiletische Großwetterlage“ der alltäglichen Todesangst auf. Die Kriegssituation mit ihren Begleiterscheinungen wie Flüchtlingsströmen965 und Nahrungsmittelknappheit bedeutete für Verwaltung, Kirche und Gesellschaft eine außergewöhnliche Kraftanstrengung, insbesondere da die Stadt noch immer mit den Folgen der Naturkatastrophen und Epidemien der Vorjahre zu kämpfen hatte.966 Neben dem gestiegenen Bedarf an Mitteln für die Armenversorgung mahnt er zu zwei weiteren Formen der tätigen Nächstenliebe, die dem bedrohlichen Umfeld geschuldet sind.
5.5.1.4 Tätige Nächstenliebe im Kontext des Krieges 5.5.1.4.1 Der Schutz Unterdrückter In die zahlreichen Aufzählungen exemplarischer Werke der Barmherzigkeit nimmt Gregor den Schutz Unterdrückter auf – eine Aufgabe, die in seinen anderen Schriften deutlich seltener erwähnt wird.967 In den Ezechielhomilien hingegen ist das Eintreten für die oppressos ebenso häufig belegt wie die Speisung der Armen.968 Zwar wendet er sich dem Thema nicht ausführlicher zu, sondern ergänzt die Liste klassischer Werke lediglich um diesen Aspekt. Die Machtlosen werden stets oppressi genannt, ein einziges Mal wird pauperes als Synonym 963
Vgl. Kap. 5.3.1.3; 5.3.3.2; 5.3.5; 5.5.2.1 sowie 5.5.3.2. Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 5, 7 (CCSL 142, 280, 175–182) und Kap. 5.3.2.2. 965 Gregor berichtet im Jahr 597 in einem Brief an die Patrizierin Theoctista, dass die römische Gemeinde dreitausend (!) vor den Langobarden geflohene Asketinnen versorgen muss, vgl. Greg.‑M. Ep. VII, 23 (CCSL 140, 477, 86–98), allgemein zu Flüchtlingsströmen in Italien, vgl. Greg.‑M. Ep. V, 30 (CCSL 140, 297 10–14), s. auch Jenal, Italia I, 275. 966 Vgl. Kap. 2.1. 967 Vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 14, 1 f. (CCSL 141, 97, 12–98, 49); Greg.‑M. Dial. III, 34, 4 (SC 260, 402, 33); Greg.‑M. Mor. X, 6 (CCSL 143, 540, 94 f.). 968 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 7, 15 (CCSL 142, 92, 311); I, 7, 21 (CCSL 142, 96, 451 f.); I, 10, 32 (CCSL 142, 160, 583–585); II, 5, 5 (CCSL 142, 279, 139–141); II, 6, 19 (CCSL 142, 309, 468); II, 8, 16 (CCSL 142, 348, 463). 964
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verwendet.969 Als Subjekt des Beistandes nennt der römische Bischof explizit denjenigen, „der auf zeitliche Macht gestützt ist“.970 Dieser soll ohne Angst vor Konfrontationen für diejenigen eintreten, die unter Gewaltherrschaft leiden.971 Nur schwerlich sind in diesen Aussagen die aktuellen Umstände zu überhören, zumal Gregors Klagen über den mangelnden Beistand des Kaisers oder seines Exarchen überliefert sind.972 Für die Sicherheit der Bevölkerung Italiens trägt seiner Meinung nach allen voran der Kaiser die Verantwortung, welcher er bzw. seine Funktionsträger in der aktuellen Bedrohung nicht nachkommen. Der Papst erwartet, dass die staatliche Führung entweder in Verhandlungen mit den Eroberern eintritt oder die Truppen auf der Apennin-Halbinsel verstärkt, um eine militärische Lösung zu finden. Tatsächlich ist die Bevölkerung aber weiterhin der Gefahr durch die Langobarden ausgesetzt und leidet obendrein unter den Raubzügen der kaiserlichen Soldaten, die auf diese Weise ihren ausstehenden Sold eintreiben. Nicht nur in Briefen an besonders vertrauenswürdige Personen findet der Bischof deutliche Worte für die staatliche Angelegenheit.973 Er übt seine harsche Kritik ebenso vor dem vertrauten Publikum der Ezechielhomilien, wenn er die Machthabenden zum Schutz der Unterdrückten auffordert. Dabei fällt auf, dass die Hälfte der Belege dafür im ersten Buch zu finden sind. Gregor wird demnach nicht erst durch die akute Bedrohung für Rom zu den Aussagen angeregt, sondern nimmt schon vorher die Opfer der Langobarden in den anderen Gebieten Italiens in den Blick. Vielleicht sind diese ersten Textstellen auch Zeugnisse dafür, dass er zu diesem Zeitpunkt noch die Hoffnung auf eine Lösung in dem Konflikt hatte, bevor die Gefahr für Rom konkret wurde. Diese Hoffnung erstarb im Herbst 593, in der Zeit zwischen den beiden Vortrags-Zyklen, und er ergriff – enttäuscht von der staatlichen Schutzmacht – als Bischof schließlich selbst die Initiative und nahm Friedensverhandlungen mit den Langobarden auf.974
5.5.1.4.2 Die geduldige Feindesliebe Eine weitere Form der tätigen Nächstenliebe, die im Kontext des Krieges eine besondere Relevanz erhält, ist die Feindesliebe. Mehrfach fordert Gregor dazu auf, Anfeindungen und Kränkungen von Mitmenschen geduldig zu ertragen.975 969 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 5, 5 (CCSL 142, 279, 139–141). Die Unterdrücker der Machtlosen identifiziert Gregor indes nicht explizit. Die Langobarden können ebenso gemeint sein wie ein ungerechter Gutsbesitzer. 970 „[…] qui temporali potestate subnixus est“ Greg.‑M. Hom. Ez. I, 7, 21 (CCSL 142, 96, 451). 971 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 5, 5 (CCSL 142, 279, 139–141). 972 Vgl. Greg.‑M. Ep. II, 38 (CCSL 140, 123, 6–15); Müller, B., Führung, 182–183; Kessler, St., Exeget, 64–70. 973 Vgl. Greg.‑M. Ep. II, 38 (CCSL 140, 122, 3–123, 15). Vgl. Kap. 6.3.1. 974 Vgl. Kap. 6.3.1. 975 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 7, 12 (CCSL 142, 91, 266–280); I, 9, 22 (CCSL 142, 135,
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Als Vorbild können Aaron und Moses dienen, die trotz der Angriffe des Volkes Fürbitte leisteten.976 Die Tugend der Geduld erfordert mehr als ein rein äußeres Erdulden von Widrigkeiten. Im Inneren darf nicht trotzdem Groll gehegt werden, „denn die Geduld ist wahr, die auch den liebt, den sie erträgt.“977. Dem Gegner aus dem Weg zu gehen, ist keine zufriedenstellende Lösung, da so die Herausforderung nur vermieden, aber nicht gemeistert wird. Gerade die Asketen, die sich in die Einsamkeit zurückziehen und damit aus der Verantwortung in der Gemeinde stehlen, stehen in der Kritik.978 Auch Gregor selbst kennt die Verlockung der Weltflucht, wendet aber dagegen ein: „Wenn der Geist fehlt, nützt [auch] der Ort nicht.“979 Anstatt sich vom bösen Mitmenschen abzuwenden, ist es vielmehr geboten, ihn für Gott zu gewinnen und auf den rechten Pfad zu führen.980 Als biblisches Vorbild dafür dient Stephanus, der seinen Gegnern ihre Fehler vor Augen führte und dennoch im Angesicht des Todes für sie betete.981 Theologisch betrachtet Gregor die Feindesliebe neben anderen Werken und Tugenden als Kennzeichen der Neuen Schöpfung nach 2 Kor 5,17. Dafür greift er auf einen Leitsatz zurück, den er in ähnlicher Formulierung auch in den Evangelienhomilien und den Moralia äußert: Zur Neuschöpfung gehört es, „den Freund in Gott zu lieben, wegen Gott aber die zu lieben, die Feinde sind.“982 Anders als in den Evangelienhomilien liegt in den Ezechiel-Vorträgen der Fokus nicht auf dem innergemeindlichen Kontext. Dort beschreibt Gregor die Kirche als corpus permixtum und fordert zu Toleranz mit anderen Frömmig456–466); I, 10, 9 (CCSL 142, 148, 138 f.); II, 5, 7 (CCSL 142, 280, 191 f.); II, 5, 12 (CCSL 142, 285, 356); II, 5, 14 (CCSL 142, 287, 394–404); II, 8, 15 (CCSL 142, 347, 420–429); II, 9, 2 (CCSL 142, 357, 69–73). 976 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 7, 12 (CCSL 142, 91, 266–272), als weitere Leitpersonen werden Samuel und schließlich der verschmähte Christus am Kreuz genannt, vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 7, 12 (CCSL 142, 91, 274–280). 977 „Patientia enim uera est, quae et ipsum amat quem portat.“ Greg.‑M. Hom. Ez. II, 8, 15 (CCSL 142, 347, 423). Diese Formulierung verwendet Gregor gleich dreimal in den Homilien, vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 7, 12 (CCSL 142, 91, 272 f.); II, 5, 14 (CCSL 142, 287, 402 f.). Den gleichen Gedanken bieten Greg.‑M. Hom. Ez. I, 9, 22 (CCSL 142, 135, 456–466); II, 5, 7 (CCSL 142, 280, 191 f.). In diesem Punkt richtet sich Gregor besonders an die geistlich Fortgeschrittenen und Wächter über den Lebenswandel der Mitmenschen: „Wir klagen nämlich, warum nicht alle gut sind, die mit uns leben. Die Übel der Nächsten wollen wir nicht tragen, wir beschließen, dass alle schon heilig sein müssen.“ (Querimur etenim cur non omnes boni sunt qui nobiscum uiuunt. Mala proximorum ferre nolumus, omnes sanctos iam debere esse decernimus.) Greg.‑M. Hom. Ez. I, 9, 22 (CCSL 142, 135, 460–462). 978 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 9, 22 (CCSL 142, 136, 473–487). 979 „[…] si desit spiritus, non adiuuat locus.“ Greg-M. Hom. Ez. I, 9, 22 (CCSL 142, 475 f.). 980 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 5, 14 (CCSL 142, 287, 396 f.). 981 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 6, 14 (CCSL 142, 305, 339–360). 982 „[…] amicum in Deo diligere, propter Deum et eos qui inimici sunt amare“ Greg.‑M. Hom. Ez. I, 10, 9 (CCSL 142, 148, 140 f.), vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 9, 6 (CCSL 141, 63, 120 f.); II, 27, 1 (CCSL 141, 230, 13 f.); II, 38, 11 (CCSL 141, 371, 286 f.); Greg.‑M. Mor. XXII, 22 (CCSL 143A, 1108, 6–8). Diese Formulierung übernimmt Gregor von Augustin, vgl. Aug. conf. 4, 14 (CCSL 27, 47, 7 f.), vgl. Schambeck, Missio, 299 f.
5.5 Die Ezechielhomilien – Den Vorbildern nacheifern
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keitsformen und Traditionen auf. Die Feindesliebe gelange aber an ihre Grenzen, sobald der orthodoxe Glaube infrage gestellt wird.983 In den Ezechielhomilien hingegen setzt er einen anders gewichteten Schwerpunkt. Mit Ausnahme der Askesekritik spricht er über die allgemeine Erfahrung von Feindschaften. Mit seiner Wortwahl schlägt er einen merklich gewalttätigeren Ton an, die zu erduldenden Angriffe bezeichnet er als persecutiones,984 contumelia,985 aduersa,986 obiecta987 und mala.988 Die Gräueltaten der Eroberer waren im Alltagsleben Roms präsent. Die Berichte derjenigen, die den Langobarden entkommen waren, machten schnell ihre Runde in der Stadt.989 Es lässt sich nur mutmaßen, welche Ziele Gregor mit seiner Mahnung zur Feindesliebe verfolgte. Wollte er kampfeswütige Stimmungen in der Stadt und darüber hinaus990 besänftigen oder warb er um Zustimmung für seine Friedensverhandlungen? Vielleicht zielen seine Worte auch auf einen deutlich kleineren Wirkungskreis ab und sollen seinen engsten Mitstreitern und gerade ihm selbst Mut zusprechen in Zeiten, in denen die Verantwortung seines Amtes schwerer wog als zu jeder anderen Zeit des Pontifikats.
5.5.2 Theologische Begründungen tätiger Nächstenliebe 5.5.2.1 Die imitatio sanctorum Ein zentrales und stetig wiederkehrendes Motiv in den Ezechielhomilien ist die imitatio.991 Damit greift Gregor auf die verbreitete theologische und philosophische Idee zurück, dass sich der Mensch durch Nachfolge und Nachahmung Gott angleichen kann.992 Allerdings verändert der römische Bischof diese Vor983
Vgl. Kap. 5.3.1.4. Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 7, 12 (CCSL 142, 91, 269). 985 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 10, 9 (CCSL 142, 148, 138 f.); II, 5, 14 (CCSL 142, 287, 394); II, 8, 15 (CCSL 142,347, 420). 986 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 5, 7 (CCSL 142, 280, 191); II, 5, 12 (CCSL 142, 285, 356). 987 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 5, 14 (CCSL 142, 287, 394). 988 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 9, 2 (CCSL 142, 357, 72). 989 Gregor beschreibt die schockierenden Zustände in einer vielzitierten Passage, die Gregorovius treffend als „Leichenrede, welche der Bischof am Grabe Roms hielt“ (Gregorovius, Geschichte, 259) bezeichnet, vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 6, 22–24 (CCSL 142, 310, 524–313, 619). 990 Zu den Adressaten und Zuhörern zählten auch auswärtige Bischöfe, wie der Widmungsbrief an Marinianus von Ravenna zeigt, vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, praef. (CCSL 142, 3, 1–15), vgl. auch Müller, B., Führung, 254–256. 991 Auch in den anderen Schriften Gregors ist das Motiv zu finden, vgl. z. B. Greg.‑M. Hom. eu. I, 2, 8 (CCSL 141, 17, 122–19, 167); II, 22, 8 (CCSL 141, 189, 225–190, 248); Greg.‑M. Mor. II, 1 (CCSL 143, 59, 1–5); XVI, 41 (CCSL 143A, 823, 2–824, 29); XXV, 14 (CCSL 143B, 1239, 95–99). Die Verwendung des Wortstammes imita- ist im gregorianischen Œuvre breit gestreut, wie die entsprechenden Einträge im Thesaurus Sancti Gregorii Magni. Series A – Formae, curante CETEDOC, Turnhout 1986 belegen. 992 Vgl. Crouzel, Henri/Mühlenkamp, Christina, Art.: Nachahmung Gottes, RAC 25 (2013), 525–565. 984
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5 Das Ideal der tätigen Nächstenliebe im literarischen Werk Gregors
stellung, indem er vor allem die Imitation der Heiligen und Glaubenslehrer in den Mittelpunkt stellt. Damit knüpft er an seine Forderung nach guten exempla an: Führungspersonen im geistlichen wie auch im weltlichen Bereich hat er in der Pastoralregel gemahnt, ein gutes Vorbild zu sein.993 Die Gläubigen sollen ihnen nachfolgen bzw. deren Verhaltensweise, insbesondere die Tugenden imitieren. Grundlage für Gregors Forderung einer imitatio sanctorum ist das Verständnis der Schrift als Norm der Ethik, die zugleich den geistlichen Fortschritt vorbereitet: „Die äußere Schwelle der heiligen Schrift ist nämlich der Buchstabe, ihre innere Schwelle aber die Allegorie. […] Dort [scil. im Buchstaben] finden wir ja Vorschriften für das Werk und Beispiele der Tugend; dort wird befohlen, was wir auch leiblich tun müssen; dort wird das, was zu tun geboten ist, in der Handlung der heiligen und starken Männer gezeigt, damit wir, sobald die recht offenkundigen Gebote und Beispiele der Gerechten uns zur guten Tat gewiesen haben, danach, falls wir es können, die Schritte des Geistes zur inneren Schwelle lenken, das ist das mystische Verständnis der inneren Kontemplation.“994
Die Erzählungen der biblischen Väter995 dienen dabei in zweifacher Weise als Verteidigung gegen die Mächte des Bösen: Die unnachahmlichen Wundertaten, von denen die Schrift berichtet, sind einem massiven, immobilen Bollwerk vergleichbar, hinter dem der angefochtene Glaube sich bergen und sicheren Schutz finden kann. Der Schutz besteht darin, dass die Mirakel, die die Heiligen gewirkt haben, ihre Verkündigung bestätigen. Gerät der Glaube einmal in Zweifel über die Wahrhaftigkeit der Lehre, so findet er in den vollbrachten Wundern der biblischen Väter den Beweis ihrer Aufrichtigkeit. Auf der anderen Seite dienen die guten Werke der Väter als ein Schutzschild: Sie können von einem jeden aktiv imitiert werden und liegen somit buchstäblich in der Hand des Gläubigen. Mit diesem Schutzschild kann das Heer des Urfeindes abgewehrt werden.996 993
Vgl. Kap. 5.2.2.2. quippe Scripturae sacrae exterius littera, limen uero eius interius allegoria. […] Ibi quippe inuenimus praedicamenta operis et exempla uirtutis, ibi iubetur quid agere etiam corporaliter debemus, ibi hoc quod ad operandum praecipitur in sanctorum uirorum ac fortium actione monstratur, ut postquam nos apertiora praecepta atque exempla iustorum ad bonam operationem instruunt, tunc ad limen interius, id est ad intellectum mysticum intimae contemplationis, tendamus, si possumus, pedem mentis.“ Greg.‑M. Hom. Ez. II, 3, 18 (CCSL 142, 250, 427–440). Die imitatio patrum wird auch in einer früheren Homilie als Literalexegese beschrieben, vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 3, 4 (CCSL 142, 35, 67–73). 995 Gregor zählt hier mit Abel, Henoch, Noah, Abraham, Isaak, Jakob, Josef, Moses, Pinhas, Josua, Samuel, David, Johannes und Petrus – in Kongruenz zu seinem Publikum – ausschließlich männliche Vorbilder aus der Bibel auf, vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 3, 21 (CCSL 142, 252, 488–254, 559), eine ähnliche Liste bietet Greg.‑M. Mor. IV, 63 (CCSL 143, 207, 14–25). An anderen Stellen nennt er zudem Paulus, vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 6, 12 f. (CCSL 142, 302, 256– 305, 338), Hiob, vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 7, 20 (CCSL 142, 332, 593–334, 666) und Stephanus, vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 6, 14 (CCSL 142, 305, 339–360) sowie pauschal die sanctos Iudaeae patres, vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 10, 9 (CCSL 142, 386, 233). 996 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 3, 23 (CCSL 142, 254, 576–255, 606). 994 „Limen
5.5 Die Ezechielhomilien – Den Vorbildern nacheifern
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Neben die Vorbilder der Schrift stellt Gregor die Glaubenslehrer, die er auch als perfecti oder sancti bezeichnet.997 Signifikanterweise verweist er die Gläubigen auf die individuellen geistlichen Väter und Prediger. Außer auf die Beispiele der biblischen Heiligen bezieht er sich auf keine weiteren Personen der Vergangenheit – nicht auf die Märtyrer und auch nicht auf große Asketen der vorigen Jahrhunderte.998 Mit den Ezechielhomilien ruft er sein Publikum noch stärker in die Gegenwart als in den Dialogen und Evangelienhomilien. In diesen hatte er den Blick mithilfe der exempla-Erzählungen zwar zunehmend auf das italische Umfeld gelenkt, aber dennoch mitunter von vergangenen Zeiten berichtet. Nun fokussiert er die lebendigen Vorbilder, mit denen die Gläubigen in einem direkten, persönlichen Kontakt stehen und von ihnen zur himmlischen Heimat geführt werden. Immer wieder betont Gregor die interaktive Begegnung in der Verkündigung, das Gegenüber vom Lehrenden und den Hörenden.999 Die Lehrer sind in ihrer tiefen compunctio, aber auch in der Zuwendung zum Nächsten nachzuahmen.1000 Als Ideal beschreibt der römische Bischof erneut die vita mixta. Je vorbildlicher, ja heiliger der Glaubenslehrer indes ist, umso größeren Nutzen kann daraus der Lernende ziehen. Die große Heiligkeit ist einerseits Anreiz zum Nachahmen und dadurch zur Verbesserung der Lebensführung. Andererseits lehrt gerade die Einsicht in die Unnachahmlichkeit des Vorbildes Demut und damit macht der Glaube einen besonders zentralen Fortschritt.1001 Der Didaktik der Nachahmung liegt zudem ein pragmatischer Aspekt zugrunde: Diejenigen, die des Lesens unkundig sind und daher die biblischen Gebote nicht selbst erforschen können, „sehen im Lebenswandel der vielen Gläubigen das Gute, das sie nachahmen sollen.“1002 Mit der Aufforderung zur Imitation verfolgt Gregor abermals eine Demokratisierung des Heils.1003 Das individuelle Schriftstudium – ein Privileg der gebildeten Oberschicht sowie der monastischen Asketen – ist keine Voraussetzung für die Kenntnis des göttlichen Willens und ein ihm gefälliges Leben. Die Verkündigung sowie der vorbildliche Lebenswandel des Predigers ermöglichen allen Gemeindegliedern den Weg zu Gott. Trotz aller Vorteile birgt das Modell der Nachahmung dennoch eine Gefahr: die imitatio malorum. Die Schwachen in der Gemeinde könnten nicht nur 997
Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 7, 23 (CCSL 142, 99, 535–551). Ausnahme stellt die nicht näher erläuterte Nennung von „apostolos, martyres atque doctores“ dar, Greg.‑M. Hom. Ez. II, 9, 5 (CCSL 142, 360, 168); zur heilsgeschichtlichen Chronologie dieser drei Gruppen vgl. Fiedrowicz, Kirchenverständnis, 126–137. 999 Vgl. z. B. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 6, 8 (CCSL 142, 300, 167–180). 1000 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 7, 23 (CCSL 142, 99, 535–551). 1001 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 6, 8 (CCSL 142, 300, 174–180). Dieser Gedanke steht dem östlichen Mönchtum mit seiner Institution der Geronten nahe, vgl. Müller, A., Konzept, 274–286. 1002 „[…] certe in multorum fidelium conuersatione bona quae imitentur uident.“ Greg.‑M. Hom. Ez. II, 10, 18 (CCSL 142, 394, 501–503). 1003 Vgl. dazu Kap. 5.3.1.3; 5.3.3.2; 5.3.5; 5.5.1.3 und 5.5.3.1. 998 Eine
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guten, sondern auch schlechten Vorbildern folgen. Dies geschieht nicht immer willentlich: „Und wie die schlechte Luft, durch den unablässigen Atem eingesogen, den Körper vergiftet, so vergiftet die verkehrte Rede, beständig gehört, die Seele der Schwachen.“1004 Lediglich die bereits Vollkommenen sind „immun“ und können den Schlechten ohne „Infektionsgefahr“ begegnen und sie gar zum Guten bekehren.1005 Ein solch vorbildlicher Heiliger war Hiob: In Wohlstand und Gesundheit war er sich der Vergänglichkeit des Glückes bewusst. In Zeiten des größten Leids widerstand er den Schmähreden seiner Freunde und bewahrte sich die Hoffnung im Vertrauen auf Gott.1006 In seiner Nachfolge muss stets das Schlechte bedacht werden, das man bereits erlebt hat oder das noch drohen könnte, um auch im Glück die Demut zu wahren. Ebenso soll in schlechten Zeiten das vergangene oder bevorstehende Gute erinnert werden, damit die Hoffnung nicht verloren gehe. Besonders letztere Mahnung formuliert Gregor aus aktuellem Anlass: Die Schrecken der Gegenwart sieht er bei der Auslegung des Ezechielbuches unmittelbar vor sich und deutet sie als göttliches Strafgericht.1007 Angesichts des anbrechenden Endes der Welt ruft er seinen Brüdern zu: „Lasst uns aus ganzer Seele dieses gegenwärtige und doch tote Zeitalter verachten; lasst uns die Begierden der Welt beenden – wenigstens am Ende der Welt; lasst uns die Taten der Guten nachahmen, soweit wir können!“1008 Gerade in der Endzeit sollen sich die Menschen von allem Irdischen lösen und dem Beispiel der Heiligen nachfolgen. Angesichts der aktuellen Katastrophen kann die Vergänglichkeit dieses Äons nicht mehr geleugnet werden und die Sehnsucht nach dem unvergänglichen Reich Gottes stellt sich fast automatisch ein. Insofern ist die verheerende Situation keinesfalls zu beklagen, sondern vielmehr als letzter Weckruf und Motivation zur Umkehr zu verstehen. Wenngleich Gregor den Schwerpunkt auf die Nachahmung der Heiligen legt, erwähnt er an zwei Stellen ebenso die imitatio Christi bzw. Dei.1009 Genau wie 1004 „Et sicut malus aer assiduo flatu tractus inficit corpus, ita peruersa locutio assidue audita, infirmantium inficit animum“ Greg.‑M. Hom. Ez. I, 9, 23 (CCSL 142, 136, 501–503), vgl. auch Greg.‑M. Hom. Ez. I, 12, 18 (CCSL 142, 194, 344–346). 1005 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 9, 23 (CCSL 142, 136, 494–497). 1006 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 7, 20 (CCSL 142, 332, 593–334, 662); Ähnliches vermittelt Greg.‑M. Hom. Ez. II, 9, 5 (CCSL 142, 359,155–360, 180). 1007 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 6, 22 (CCSL 142, 310, 529–311, 531); II, 10, 24 (CCSL 142, 397, 622–398, 628). 1008 „Despiciamus ergo ex toto animo hoc praesens saeculum uel exstinctum; finiamus mundi desideria saltem cum mundi fine; imitemur bonorum facta quae possumus.“ Greg.‑M. Hom. Ez. II, 6, 24 (CCSL 142, 313, 601–604). Zu Gregors Deutung seiner Gegenwart als Weltende vgl. Markus, World, 51–54. 1009 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 2, 19 f. (CCSL 142, 28, 364–30, 445); I, 9, 19 (CCSL 142, 133,362–387).
5.5 Die Ezechielhomilien – Den Vorbildern nacheifern
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Paulus1010 sollen die Gläubigen Christi Gebote halten und seinem Lebenswandel nacheifern.1011 Exemplarisch führt Gregor u. a. Frömmigkeit, Sanftmut, Eifer für das Rechte, Demut und Feindesliebe auf.1012 Wer diesen jesuanischen Tugenden nachfolgt, ist heilig zu nennen.1013 Heiligkeit besteht demnach in der Christusähnlichkeit. Mit diesem Gedanken ist jede imitatio sanctorum mittelbar auch eine imitatio Christi.1014 Wer in dieser Welt sein Leben den Heiligen und damit Christus angleicht, erlangt den Gewinn dereinst in der himmlischen Heimat: „Nach dieser Ähnlichkeit (similitudo) aber, die man nun in den Lebensweisen verwirklicht, gelangt man irgendwann zur vergleichbaren Herrlichkeit (similitudo gloriae).“1015 Mit der Rezeption von 1 Joh 3,2 und Phil 3,20 f. verbindet Gregor die ethische Nachfolge Christi mit der eschatologischen Partizipation an dessen Herrlichkeit und verknüpft damit erneut die diesseitige Lebensführung mit dem jenseitigen Schicksal.1016 In den Ezechielhomilien wird indes nicht nur die Rolle der imitandes in den Blick genommen. Gregor wendet sich ebenso an die Vorbilder selbst, die er in seinem Publikum identifiziert.1017 Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, ob man für seine guten Werke die Öffentlichkeit suchen soll. Entscheidend ist einmal wieder die zugrundeliegende Intention:1018 Den eigenen Ruhm und das Lob zu suchen, ist verwerflich. Dennoch spricht sich der römische Bischof nicht generell für eine Geheimhaltung der Verdienste aus, können sie doch als Verkündigung dienen und zur Nachahmung anregen. Wer die eigenen Wohltaten mit dem Ziel der praedicatio bekannt macht, ahmt Gott selbst nach, der in der Schrift sein Lob verkündet.1019 Entscheidend ist, dass nur der Ruhm Gottes, der Nutzen des Nächsten oder die Rettung der eigenen Seele, nicht aber der eigene Ruhm in der Welt beabsichtigt werden.1020 Ähnlich soll der Umgang mit Kritikern gehandhabt werden: Mit Blick auf die eigene Person sind sie geduldig zu ertragen, mit Blick auf die geistlichen 1010
Vgl. 1 Kor 4,16. Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 2, 19 (CCSL 142, 28, 381–29, 390). 1012 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 2, 19 (CCSL 142, 29, 390–414). 1013 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 2, 19 (CCSL 142, 28, 374 f.). 1014 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 2, 21 (CCSL 142, 31, 453–455). 1015 „Post hanc uero similitudinem quae nunc in moribus tenetur, quandoque ad similitudinem gloriae peruenitur.“ Greg.‑M. Hom. Ez. I, 2, 20 (CCSL 142, 30, 428 f.), vgl. auch Greg.‑M. Hom. Ez. II, 1, 7 (CCSL 142, 213, 228 f.): „In das Bauwerk des himmlischen Reiches tritt derjenige ein, der in der heiligen Kirche die Wege der Guten nachzuahmen erwägt.“ (Caelestis ciuitatis aedificium ille intrat, qui in sancta ecclesia bonorum uias imitando considerat.). 1016 Vgl. Kap. 5.2.2.4.; 5.3.2.2.; 5.4.3.1. 1017 Unter den Zuhörenden sind vor allem Asketen und Kleriker zu vermuten, vgl. Kap. 5.5 sowie Leyser, Vulnerability, 180 f.; Müller, B., Führung, 175 f. 1018 Vgl. Kap. 5.3.3.2. und 5.5.2.3. 1019 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 9, 19 (CCSL 142, 133, 362–387). 1020 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 9, 20 (CCSL 142, 133, 388–134, 407). Zur Terminologie des „Nutzens“ vgl. Kap. 5.5.4. 1011
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Schüler muss man ihnen deutlich entgegentreten, damit die imitandes sich nicht abwenden und den Gegnern folgen.1021 Die Vorbilder müssen sich stets auf ihre Beweggründe hin kritisch prüfen. Legitim ist die Zurschaustellung der Werke nur mit dem Ziel, anderen – Gott oder dem Nächsten – zu nutzen. Der geistliche Lehrer besitzt keinen absoluten Wert, sondern definiert sich allein aus dem Dienst am Nächsten.1022 Die Rolle der Vorbilder versteht Gregor durchweg als eine tatkräftige. Ein Leben ausschließlich in der inneren Kontemplation kann ihr nicht so gerecht werden wie die aktive Lebensweise: „[D]a sie [scil. die vita activa] mal durch das Wort, mal durch das Beispiel die Nächsten zu ihrer Nachahmung anstiftet, zeugt sie im guten Werk viele Kinder.“1023 Diese Formulierung verdeutlicht, dass Gregor einerseits die Verkündigung als Werk der tätigen Nächstenliebe betrachtet und damit zur vita activa zählt.1024 Andererseits stellt er der Predigt das musterhafte Leben als alternative Kommunikationsform an die Seite. Die Vorbilder rufen zur Nachahmung sowohl durch das Wort als auch durch die Tat auf. Auf diese Weise werden sowohl die gebildeten Gesellschaftsschichten durch die eher kognitiv-rationale Ebene der praedicatio angesprochen als auch die restlichen Gemeindeglieder durch die niederschwellige handlungsorientierte Didaktik der Nachahmung. Damit fügt sich die Vorstellung der imitatio sanctorum in die bisher beschriebene Lehre Gregors von der tätigen Nächstenliebe ein: Sie lehrt das gottgefällige Leben und ermöglicht so der ganzen Gemeinde den Weg zur himmlischen Vaterstadt. Außerdem verweist sie auf das reziproke Dienstverhältnis in der Gemeinschaft: Die Glaubenslehrer sorgen durch ihr exemplum für den Nutzen der Gemeindeglieder, woraus sie selbst erst ihre Rolle und Aufgabe erlangen.
5.5.2.2 Gott als Ursprung guter Taten – zwischen Augustin und Pelagius In Anknüpfung an die imitatio-Vorstellung stellt sich die Frage nach der Herkunft der Tugenden. In ganz augustinischer Manier rechnet Gregor diese an einigen Stellen der Ezechielhomilien, für seine eher synergistische Theologie äußerst ungewöhnlich, nicht dem Menschen zu, sondern führt sie auf Gottes Gnadenhandeln zurück. Wenn die virtutes Christi nachgeahmt werden, so ist in ihm auch ihr Anfang und Ursprung zu suchen.1025 Zudem wirkt in den Vorbildern
1021
Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 9, 17 f. (CCSL 142, 132, 329–133, 361). Vgl. Kap. 5.5.1.1. 1023 „[…] dum modo per uerbum, modo per exemplum ad imitationem suam proximos accendit, multos in bono opere filios generat.“ Greg.‑M. Hom. Ez. II, 2, 10 (CCSL 142, 232, 253–255); zum Gegenüber von actio und contemplatio in den Ezechielhomilien s. Kap. 5.5.3.2. 1024 Vgl. Kap. 5.2.1; 5.3.1.1.; 5.5.1. 1025 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 2, 19 (CCSL 142, 29, 376–381). 1022
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der Heilige Geist und entzündet in den Gläubigen „das Feuer der Liebe“1026, damit sie die guten Werke nachahmen und weitertragen. Gott erfüllt die Jenseitssehnsucht und erhört die flehenden Gebete der Buße. Beides ist aber selbst bereits als Geschenk Gottes zu verstehen und somit auf ihn zurückzuführen.1027 Mit ihren Werken verdienen die Menschen zwar den himmlischen Lohn, dennoch geht der Impuls zur Tat auf Gott zurück. Zu Beginn der neunten Homilie des ersten Buches1028 erörtert der römische Bischof in einem knappen Exkurs das Verhältnis von „Verdienst und Gnade.“1029 Diesen begründet er als Widerlegung der Lehren von Pelagius und Caelestius,1030 der maßgeblichen Gegner Augustins im Pelagianischen Streit.1031 Ein aktueller Anlass für diesen Einschub lässt sich nicht erkennen, wahrscheinlich gab Gregors breite und gründliche Augustinlektüre die Inspiration zu dem Thema.1032 Dieser Abschnitt ist insofern bedeutsam, da sich Gregor hier zum ersten und einzigen Mal systematisch mit dem soteriologischen Dilemma der Spannung zwischen Werk und Gnade auseinandersetzt. Gute Werke kann der Mensch nur mithilfe göttlicher Gnade vollbringen, und zwar ist er auf sie gleich zweifach angewiesen: Zum einen gibt der Geist Gottes den ersten Impuls, zum anderen ermöglicht die göttliche Unterstützung die Vollendung der Tat.1033 Gegen die radikale Konsequenz, alles Gute auf Gott zurückzuführen, wie sie insbesondere der späte Augustin vertrat,1034 wendet Gregor 1026 „[…] ignem amoris“ Greg.‑M. Hom. Ez. I, 5, 10 (CCSL 142, 61, 157); zur Feuermetapher für die Liebe vgl. auch Kap. 5.1.3. 1027 „Denn alles, was durch die Tugenden der Heiligen gewirkt wird, gilt als Gnade dessen, der die Verdienste verteilt.“ (quia quidquid in Sanctorum uirtutibus agitur, eius est gratiae qui merita largitur.) Greg.‑M. Hom. Ez. I, 8, 2 (CCSL 142, 102, 44–46). 1028 Mit dieser Homilie beginnt Gregor die eigentliche Berufung des Ezechiel auszulegen, die bisherigen waren ausschließlich der Thronwagenvision von Ez 1 gewidmet. 1029 Mit dieser Überschrift charakterisiert Georg Bürke diesen Abschnitt in seiner Übersetzung, Gregor der grosse, Homilien, 162. 1030 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 9, 2 (CCSL 142, 124, 13–125, 47), der Hinweis auf Pelagius und Caelestius findet sich im vorletzten Satz. 1031 Vgl. Drecoll, Volker Henning, Die Auseinandersetzung um die Kindertaufe in Karthago 411–413, in: ders. (Hg.), Augustin Handbuch, Tübingen 2007, 179–183; Löhr, Winrich, Der Streit um die Rechtgläubigkeit des Pelagius 414–418, in: Drecoll, V. H. (Hg.), Augustin Handbuch, Tübingen 2007, 183–190 und Löhr, Winrich, Exkurs: Das Verhältnis zwischen Pelagius und Augustin und das theologische Anliegen des Pelagius, in: Drecoll, V. H. (Hg.), Augustin Handbuch, Tübingen 2007, 190–197. 1032 Ein konkretes Werk Augustins lässt sich indes nicht als Vorlage ausmachen, zumal Gregor in diesem Abschnitt inhaltlich die klassische Gnadenlehre Augustins abwandelt, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Insofern ist die knappe Aussage Stephan Kesslers, Gregor biete an dieser Stelle ein „Referat der augustinischen Gnadenlehre“ (Kessler, St., Exeget, 221), zu oberflächlich. 1033 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 9, 2 (CCSL 142, 123, 14–24), vgl. ähnlich Greg.‑M. Hom. Ez. II, 4, 3 (CCSL 142, 260, 104–123) und Mor. XXXIII, 38–40 (CCSL 143B, 1708, 41–1710, 55). 1034 Vgl. Drecoll, Volker Henning, Gnadenlehre, in: ders. (Hg.), Augustin Handbuch, Tübingen 2007, 488–497, hier: 497.
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ein, warum der Mensch dennoch nach himmlischem Lohn frage.1035 Aber auch das entgegengesetzte Extrem lehnt er ab: Denn wofür sei Gott überhaupt zu danken, wenn die Werke ganz dem Menschen zugeschrieben würden?1036 Der Papst vertritt demgegenüber einen Mittelweg: Die praeveniens gratia und die bona voluntas subsequens erwirken das Gute in Synergie.1037 Diese Position ist nicht mehr augustinisch zu nennen.1038 Vielmehr müsste sie in traditioneller Terminologie als „semipelagianisch“ bezeichnet werden. Der Einfluss Johannes Cassians ist deutlich wahrzunehmen.1039 Um den menschlichen Einfluss auf das jenseitige Heil1040 zu erhalten und den Mahnungen zur tätigen Nächstenliebe Nachdruck zu verleihen, löst sich der römische Bischof von der radikalen Lehre Augustins und mildert sie synergistisch ab.1041 Anteil hat daran mit Sicherheit ebenso seine monastische Prägung, die per se dem (asketischen) Werk eine große Bedeutung beimisst.
5.5.2.3 Die zweifache Liebe als Grundlage allen Handelns Ein weiterer theologischer Topos, den Gregor in den Ezechielhomilien wiederholt anführt, ist das Nebeneinander von Gottes- und Nächstenliebe. Angesichts seines asketisch geschulten Publikums setzt er das biblische Doppelgebot zumeist als bekannt voraus, ohne es ausführlich zu zitieren.1042 Ebenso unterstellt er seinen Zuhörern die Kenntnis von der zentralen Rolle dieses Textes in der heiligen Schrift. So kann er es ohne weitere Erläuterung – in späterer Terminologie formuliert – als „Mitte der Schrift“ identifizieren: „Denn dazu allein spricht Gott zu uns durch die ganze heilige Schrift, dass er uns zur Liebe zu ihm und zum Nächsten zieht.“1043 In der dritten Homilie des zweiten Buches führt der römische Bischof eine Liste an biblischen Geboten an, die zum gottgefälligen Leben anleiten sollen.1044 1035
Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 9, 2 (CCSL 142, 123, 24–27). Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 9, 2 (CCSL 142, 123, 27–29). 1037 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 9, 2 (CCSL 142, 123, 30–24, 45). Die schlechten Taten liegen indes in der Verantwortung allein des Menschen, vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 9, 2 (CCSL 142, 123, 29 f.). 1038 Gegen Kessler, St., Exeget, 221. 1039 Vgl. insbesondere Greg.‑M. Hom. Ez. I, 9, 2 (CCSL 142, 24, 35–45) mit Cassian. Coll. 13, 13 (SC 54, 168–170). 1040 Nichtsdestotrotz findet sich in den Ezechielhomilien ebenso ein singulärer, wenn auch markanter Prädestinationsgedanke, vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 1, 11 (CCSL 142, 217, 376–218, 397) und Kap. 5.3.2.2. 1041 Dies ist auch in den Evangelienhomilien zu beobachten, vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 9, 6 (CCSL 141, 62, 113–63, 126); I, 11, 4 (CCSL 141, 76, 71–76) und Kap. 5.3.3.1. 1042 Zur adressatenbezogenen Verwendung dieses Textes vgl. Kap. 5.2.2.1 und 5.3.2.1. 1043 „[…] quia ad hoc solum deus per totam nobis sacram scripturam loquitur, ut nos ad suum et proximi amorem trahat.“ Greg.‑M. Hom. Ez. I, 10, 14 (CCSL 142, 150, 219–221). Vgl. auch Greg.‑M. Hom. Ez. II, 9, 2 (CCSL 142, 356, 58–63), wo Gottes- und Nächstenliebe als die beiden Seiten des NT bezeichnet werden. 1044 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 3, 20 (CCSL 142, 251, 453–252, 487). Dies ist das einzige 1036
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Die Gebote der Gottes- bzw. der Nächstenliebe stehen zwar an der Spitze dieser Aufzählung, sind aber – anders als in den Evangelien – nicht gesondert hervorgehoben. Gregor mahnt sein Publikum zum Ausgleich von Gottes- und Nächstenliebe. Weder darf vor lauter Hingabe zu Gott der Nächste vernachlässigt werden, noch darf das Verlangen nach der patria caelestis unter der aktiven Unterstützung der Mitmenschen erlahmen.1045 Die Nächstenliebe gelangt zudem an ihre Grenze, wenn man ihretwegen selbst in Sünde gerät. Aus Rücksicht auf Mitmenschen darf die Wahrheit Gottes keinesfalls aufgegeben werden, selbst wenn daran Anstoß genommen wird.1046 Insofern muss die Nächstenliebe nicht nur im Vergleich zur Gottesliebe das Maß halten, sondern auch zur Sorge um das eigene Heil. In diesem Sinne versteht Gregor Selbstliebe als das Betrachten der eigenen Sünden in Gottesfurcht und Reue.1047 Mit dieser Definition offenbart sich eine enge Verbindung zwischen der Sorge für das eigene Seelenheil und der Verehrung Gottes.1048 An anderer Stelle ordnet der Papst „Glaube und Lebenswandel“1049 der Gottesliebe zu und „Geduld und Wohltätigkeit“1050 der Nächstenliebe. Eine signifikante Differenz zwischen den beiden Liebesarten liegt darin, dass die caritas proximi im Gegensatz zur caritas Dei in dieser Welt bereits vollständig geübt werden kann. Vollendet geliebt werden kann nur, was gekannt und gesehen wird. Die Fülle der Erkenntnis Gottes wird diesseitig auch dem Vollkommensten noch nicht in ihrer Gänze gewährt. Ihre Vollendung ist der himmlischen Heimat vorbehalten.1051 Mal in den Ezechielhomilien, dass Gregor das Doppelgebot – wenn auch in getrennten Teilen – zitiert. Ansonsten verweist er, wie auch in der Pastoralregel, nur implizit darauf, vgl. Kap. 5.2.2.1. 1045 „Wir müssen also sowohl diejenigen lieben, mit denen wir leben, als auch nach jenem mit aller Sehnsucht lechzen, in dem wir wahrhaft leben.“ (Debemus ergo et amare eos cum quibus uiuimus, et ad illum totis desideriis anhelare in quo ueraciter uiuamus.) Greg.‑M. Hom. Ez. II, 4, 3 (CCSL 142, 259, 82–84). 1046 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 7, 5 (CCSL 142, 85, 87–92). 1047 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 7, 22 (CCSL 142, 98, 494–511). 1048 „Unter diesen Flügeln [scil. der himmlischen Wesen der Thronwagenvision] können also auch die zwei Gebote der Liebe verstanden werden, nämlich die Gottes- und die Nächstenliebe. Denn in der Gottesliebe verfolgen wir unsere Übel in uns, das bedeutet, wir bedecken den Leib. In der Nächstenliebe aber strengen wir uns an, diesem zu helfen, soweit wir können, das bedeutet, wir strecken die Flügel aus zum anderen.“ (Possunt ergo etiam per has alas duo praecepta caritatis intellegi, amor scilicet Dei, et proximi. Amando enim deum nostra in nobis mala persequimur, id est corpus uelamus. Diligendo autem proximum, ei in quo prodesse possumus festinamus, id est alas ad alterum tendimus.) Greg.‑M. Hom. Ez. I, 7, 22 (CCSL 142, 98, 518–99, 523), vgl. auch Greg.‑M. Hom. eu. I, 17, 11 (CCSL 141, 125, 234–239) und Kap. 5.3.2.1. 1049 „[…] fides et uita“ Greg.‑M. Hom. Ez. II, 9, 2 (CCSL 142, 357, 65). 1050 „[…] patientia et benignitas“ Greg.‑M. Hom. Ez. II, 9, 2 (CCSL 142, 357, 66), vgl. auch Greg.‑M. Hom. Ez. I, 10, 6 (CCSL 142, 147, 87 f.): „demütig zu Gott, gütig zum Nächsten“ (humilis ad Deum, pia ad proximum). 1051 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 9, 10 (CCSL 142, 364, 313–365, 335).
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Die zweigestaltige Liebe stellt für Gregor die Grundlage der christlichen Ethik dar.1052 Der Liebe entgegengesetzt sind Stolz und Ruhmsucht.1053 Zentral ist die Gesinnung und Zielsetzung, die hinter den guten Werken stehen. Wie bereits in den Evangelienhomilien betont Gregor ebenso im Ezechiel-Zyklus die intentio.1054 Aber nicht nur die Absicht (intentio), auch der Antrieb (impetus) beeinflusst den Wert der guten Werke. So ist es ein erheblicher Unterschied, ob etwa Almosen aus Liebe gegeben werden oder wegen des biblischen Gebotes. Letzteres treibt inchoantes1055, Anfänger, an, ersteres ist die Motivation „der Vollkommenen, die nicht nur handeln, weil es befohlen ist, sondern im Handeln auch lieben, was befohlen ist.“1056 Das differierende Movens unterscheidet noch im größeren Maße die Erwählten von den Verworfenen: Jene wirken aus dem impetus spiritus heraus, diese aus dem impetus carnis. Dies offenbart insbesondere der Umgang mit irdischen Dingen: Überwiegt der Gebrauch (usus) oder der Genuss (voluptas)?1057 Ganz offensichtlich rezipiert Gregor erneut die augustinische Unterscheidung des uti und frui, wenn auch in freier Terminologie.1058 Ist die Liebe die Grundlage allen guten Handelns, so fungieren die Taten wiederum als Spiegel dieser Liebe. Sie bezeugen die Weite des Herzens und den geistlichen Fortschritt: „Denn was du bereits über die Heilige Schrift gelernt hast und wie sehr du stillschweigend den Nächsten liebst, zeigst du in der Breite des guten Werkes.“1059 Für Gregor stellt die Vorstellung, die Gesinnung und gar das Urteil coram Deo an äußeren Taten ablesen zu können, weder einen Widerspruch zur intentio-Lehre noch eine theologische Schwierigkeit dar. Für ihn ist die den Taten zugrundeliegende Absicht keinesfalls verborgen, sondern offenbar und für 1052 „Der Mensch soll sich stets mit allem, was er tut, in der Weite der Liebe ausdehnen, damit weder Furcht noch Hass einengen.“ (homo per omne quod agit semper se in caritatis amplitudine dilatet, ne hanc aut timor aut odia angustent.) Greg.‑M. Hom. Ez. II, 5, 14 (CCSL 142, 286, 386 f.), vgl. auch Greg.‑M. Hom. Ez. I, 4, 10 (CCSL 142, 55, 274–281); II, 9, 5 (CCSL 142, 360, 195–361, 202). 1053 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 4, 4 (CCSL 142, 49, 99–50, 101); II, 5, 14 (CCSL 142, 287, 390–393); II, 6, 17 (CCSL 142, 308, 432–440). 1054 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 4, 4 (CCSL 142, 50, 109 f.); I, 7, 2 (CCSL 142, 84, 36 f.); I, 10, 6 (CCSL 142, 147, 86 f.); II, 3, 5 (CCSL 142, 239, 87 f.); II, 5, 14 (CCSL 142, 287, 413–417); II, 6, 17 (CCSL 142, 308, 432–440); II, 8, 17 (CCSL 142, 349, 503–350, 507); II, 9, 16 (CCSL 142, 371, 534–539); II, 10, 16 (CCSL 142, 390, 376–392, 431) und Kap. 5.3.3.2. 1055 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 10, 31 (CCSL 142, 159, 549). 1056 „[…] perfectorum, qui non solum quia iubetur faciunt, sed etiam diligunt faciendo quod iubetur.“ Greg.‑M. Hom. Ez. I, 10, 31 (CCSL 142, 159, 549–551). 1057 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 5, 2 (CCSL 142, 57, 14–58, 36). 1058 Vgl. Kap. 5.3.1.3. In zwei weiteren Homilien finden sich ähnliche Formulierungen, wobei dem usus jeweils ein anderer, wenn auch semantisch vergleichbarer Begriff gegenübergestellt ist, vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 9, 30 (CCSL 142, 139, 594–597): usus – desiderium und Greg.‑M. Hom. Ez. II, 7, 17 (CCSL 142, 331, 542–544): usus – affectus. 1059 „Nam quid iam de Scriptura sacra didiceris et quantum proximum tacitus ames, in latitudine boni operis ostendis.“ Greg.‑M. Hom. Ez. II, 5, 5 (CCSL 142, 279, 145–147), vgl. a, Greg.‑M. Hom. Ez. I, 5, 6, (CCSL 142, 59, 87–90).
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einen jeden sichtbar. Damit entfernt er sich deutlich von der augustinischen Ekklesiologie eines corpus permixtum, das erst im Eschaton auf die beiden civitates aufgeteilt werden wird.1060 Diese Vorstellung hatte er in den Evangelienhomilien rezipiert, allerdings noch mit nur geringen Veränderungen.1061 Darüber hinaus konstatiert er nun, dass mit Mt 7,16 die innere Gesinnung gerade an den äußeren Taten gemessen werden kann: „Denn wir erkennen durch das, was wir sehen, den Geist des Handelnden, den wir nicht sehen […]. Wenn wir nämlich beobachten, dass einige Almosen verteilen, zu Niedergeschlagenen eilen, Unterdrückte unterstützen, dass diese nicht nach Ruhm in dieser Welt fragen, keinen Vorteil dieser Welt begehren, und wir sehen, dass andere das Fleisch unterwerfen, mit Tränen innehalten, sich mit den himmlischen Worten beschäftigen, keine vergängliche Ehre erstreben, müssen wir sie für anderes als vollkommen halten, sie als heilig ansehen?“1062
Aktive wie kontemplative Werke lassen demnach direkt auf die zugrundeliegende Ausrichtung der Seele, die Heiligkeit, schließen. Die Frage nach der intentio und den daraus resultierenden Liebestaten verknüpft Gregor sogleich mit der Eschatologie. Die Befolgung des Doppelgebotes ist die Voraussetzung für den Eingang in die jenseitige patria caelestis.1063 Sie schenkt Leben, indem sie von Sünden befreit, die den Tod bedeuten.1064 Dabei stellt die Liebe zu Gott und zum Nächsten eine hinreichende Bedingung für das himmlische Reich dar, „weil auch diejenigen, die in den Tugenden schwach sind, dem Bauwerk Gottes nicht fremd sind, sofern sie das Gute, das sie zu tun vermögen, mit Liebe nicht vernachlässigen.“1065 In der Konstante der caritas liegt mit Joh 13,35 der Unterschied zwischen den Erwählten und den Verworfenen, die sich vielleicht mit identischen Werken schmücken, diese aber aus Eitelkeit vollbringen.1066 Die Liebe als Grundlage allen Handelns hat nicht erst eschatologische Konsequenzen, sondern wirkt sich ebenso in der gegenwärtigen Welt aus. Dies gilt 1060
Vgl. Aug. ciu. 20, 7 (CCSL 48, 708, 1–712, 134). Vgl. Kap. 5.3.3.1, auch in den Evangelienhomilien ist die Erkennbarkeit der Gesinnung an den Werken erwähnt, vgl. Greg.‑M. Hom. eu. I, 19, 5 (CCSL 141, 148, 122–143). 1062 „Qui enim per hoc quod uidemus cognoscimus operantis animum quem non uidemus […]. Cum enim alios conspicimus largiri eleemosynam, afflictis concurrere, oppressis subuenire, nihil eos in hoc mundo gloriae quaerere, nullis huius mundi compendiis inhiare, atque alios uidemus carnem domare, lacrimis insistere, uerbis caelestibus occupari, nihil transitorii honoris appetere, quid aliud debemus nisi eos perfectos esse credere, sanctos aestimare?“ Greg.‑M. Hom. Ez. II, 6, 10 (CCSL 142, 308, 463–309, 472). 1063 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 4, 3 (CCSL 142, 259, 62–73; II, 5, 13 [CCSL 142, 286, 364–384]); II, 5, 14 (CCSL 142, 287, 404–423). 1064 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 7, 16 (CCSL 142, 93, 340–345). 1065 „[…] quia et qui in uirtutibus infirmantur, si ipsa bona quae possunt facere cum caritate non neglegant, a Dei aedificio alieni non sunt.“ Greg.‑M. Hom. Ez. II, 3, 15 (CCSL 142, 247, 336–338). 1066 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 5, 22 (CCSL 142, 292, 566–571). 1061
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insbesondere für die christliche Gemeinde, in der Gregor, wie schon in den Evangelienhomilien,1067 vielfältige Begabungen sieht. Wie die Menschen in verschiedenen Landstrichen unterschiedliche Früchte ernten und untereinander tauschen, gewähren sich auch die Christen gegenseitig Anteil an den mannigfaltigen Tugenden, da „sie alle in der einen Liebe verbunden sind.“1068 Explizit die Asketen erinnert er daran, dass sie alle aus unterschiedlichen Kontexten stammen und dennoch zur Einheit der Kirche gerufen sind.1069 In ihr ist schon jetzt der himmlische Tierfrieden1070 zu beobachten, wenn Räuber, Gutmütige, Sünder, Bußfertige, Zerknirschte, Grausame und Unschuldige „im Gehege der Kirche vereint sind. Siehe, welch Liebe ist es, die die Verschiedenheiten der Geister entzündet, verbrennt, einschmilzt und gleichsam in eine [einzige] Gestalt des Goldes neu formt.“1071 Die Christen sind durch die Liebe miteinander verbunden und eben nicht durch Zweitracht getrennt.1072 Auf diese Weise wird gemeinsam mit dem geliebten Nächsten Gott geliebt.1073 Das Doppelgebot der Liebe stellt für Gregor zwar keinen zentralen Text in dem Sinne dar, dass er ihn wiederholt zitiert. In der ethisch-theologischen Argumentation weist er ihm aber dennoch eine wesentliche Rolle zu. Am Gleichgewicht der zweigestaltigen Liebe werden alle Handlungen gemessen, obwohl die Gottesliebe vorerst nur unvollendet geübt werden kann. Die Liebe als Grundethos ermöglicht dereinst den Eintritt in die patria caelestis, aber auch in dieser Welt garantiert sie den Frieden in der Kirche. Sicher nicht ohne aktuellen Anlass ermahnt der römische Bischof explizit die Mönche zur Eintracht1074 und erinnert sie an die Vielfalt der Tugenden und Geistesgaben.
5.5.2.4 Trias oder Quartett? Gregors Verwendung von 1 Kor 13,13 Neben dem Doppelgebot der Liebe wird noch ein weiterer neutestamentlicher Text von Gregor mehrfach in den Ezechielhomilien rezipiert: 1 Kor 13,13. Fides, caritas und spes sind für ihn der Inhalt der apostolischen Verkündigung und Kennzeichen für die Ausbreitung des Evangeliums: „Aber nachdem die Predigt seiner [scil. Gottes] Göttlichkeit in der Welt verbreitet ist, wer kann sagen, wer kann abschätzen, wie viele Kleine, Ältere, starke Jünglinge, Schwache, 1067
Vgl. Kap. 5.3.3.1. in una omnes caritate iungantur.“ Greg.‑M. Hom. Ez. I, 10, 34 (CCSL 142, 162,
1068 „[…]
640 f.).
1069
Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 4, 3 (CCSL 142, 259, 84–90). Vgl. Jes. 11,6. 1071 „[…] in caulis sanctae Ecclesiae conuenerunt. Ecce qualis est caritas, quae diuersitates mentium accendit, concremat, conflat, et quasi in unam auri speciem reformat.“ Greg.‑M. Hom. Ez. II, 4, 3 (CCSL 142, 260, 99–102). 1072 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 7, 5 (CCSL 142, 319, 145–148). 1073 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 4, 3 (CCSL 142, 260, 123–125). 1074 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 9, 14 (CCSL 142, 367, 416–368, 436) sowie Kap. 5.2.3.3 und 5.3.3.1. 1070
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bekehrte Sünderinnen, betagte Jungfrauen sich durch Glaube, Hoffnung und Liebe zum Himmlischen emporschwingen?“1075
Die drei Tugenden sind die Voraussetzung für den Eintritt in die himmlische Heimat, ohne sie kann niemand gerettet werden.1076 Zudem sind sie – mit anderen Tugenden wie Demut, Reinheit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit – dauerhafte Gaben des Geistes und werden nicht nur kurzzeitig gewährt wie etwa die Prophetie oder Wunderkraft.1077 Im zweiten Buch werden die drei Tugenden aus 1 Kor 13,13 vornehmlich verwendet, um die in den Maß- und Zahlenangaben der Tempelvision häufig begegnende Drei allegorisch zu deuten. In der fünften Homilie etwa deutet der Papst die fides als Tor, „die in die Erkenntnis einführt.“1078 Die spes wird durch den inneren Vorhof (locum) versinnbildlicht und die Weite der caritas durch den gesamten äußeren Vorhof (atrium).1079 An anderer Stelle steht das Tor für den Glauben, der in der Länge an der Hoffnung und in der Breite an der Liebe gemessen wird. Die spes darf sich nicht auf das kurze, vergängliche Leben stützen, sondern soll in die Ewigkeit blicken. Der caritas hingegen fehlt die Breite, wenn sie durch die Begierde nach Irdischem und durch Feindschaften eingeengt wird.1080 Letztendlich steht die fides also in Abhängigkeit von der Gottesliebe (scil. die Ausrichtung auf die patria caelestis) sowie der Nächsten- bzw. Feindesliebe. Zumeist versteht Gregor die gesamte Trias als die drei Tore des inneren Torhofes, die gen Osten, Norden und Süden zeigen (Ez 40,6.20.24).1081 Dabei steht der Glaube für das östliche Tor, da durch den Glauben das wahre Licht in den Geist zuerst scheint.1082 Die Hoffnung hingegen zeigt nach Norden, den Gregor als Himmelsrichtung der Sünde deutet, weil jeder Sünder die Hoffnung auf Vergebung braucht.1083 Nach Süden ist schließlich die Liebe geöffnet, weil
1075 „Sed postquam diuinitatis eius praedicatio in mundo diffusa est, quanti iam paruuli, quanti grauiores, quanti fortes iuuenes, quanti imbecilles, quantae conuersae peccatrices, quantae anus uirgines per fidem, per spem, per amorem ad caelestia euolant, quis dicere, quis aestimare sufficiat?“ Greg.‑M. Hom. Ez. I, 8, 1 (CCSL 142, 101, 17–22); vgl. auch Greg.‑M. Hom. Ez. II, 8, 3 (CCSL 142, 337, 82–87). 1076 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 4, 4 (CCSL 142, 261, 147–153); I, 5, 11 (CCSL 142, 62, 183 f.); II, 5, 16 (CCSL 142, 288, 448–289, 459); II, 7, 13 (CCSL 142, 327, 426–428); II, 7, 20 (CCSL 142, 332, 593–597). 1077 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 5, 11 (CCSL 142, 62, 170–183). 1078 „[…] quae introducit ad intellegentiam“ Greg.‑M. Hom. Ez. II, 5, 16 (CCSL 142, 288, 453). 1079 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 5, 16 (CCSL 142, 288, 453–289, 458). 1080 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 7, 2 (CCSL 142, 316, 51–65). 1081 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 7, 13 (CCSL 142, 327, 411–418); II, 7, 20 (CCSL 142, 332, 593–597); II, 10, 7 (CCSL 142, 384, 172–174). 1082 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 7, 13 (CCSL 142, 327, 418–420). 1083 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 7, 13 (CCSL 142, 327, 420–423).
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dort das Feuer der Liebe brennt und „durch die Liebe das Licht des Glaubens in der Gottes- und Nächstenliebe emporgehoben wird.“1084 Gregor betont nachdrücklich, dass sowohl das Ost- als auch das Nordtor auf den Innenhof führen, also ebenso den Anfängern im Glauben und den Gestrauchelten der Weg zum Heil offensteht. Für das Südtor muss dies nicht weiter unterstrichen werden, „weil jeder weiß, dass diejenigen die inneren Freuden erreichen, die mit dem Eifer des Geistes in den Tugenden verharren.“1085 Der römische Bischof ermahnt die Asketen im Publikum also ein weiteres Mal, den weltlich Lebenden und den reuigen Sündern nicht die Heilsmöglichkeit abzusprechen.1086 Kurz bevor Gregor den Vortragszyklus endgültig abbricht, bietet er eine letzte, deutlich erweiterte Anwendung von 1 Kor 13,13. Anlass dafür bietet ihm Ez 40,47 mit den Außenmaßen des quadratischen Vorhofs. Die vier Seiten deutet er als die drei vollkommenen Tugenden spes, caritas und fides, denen er als vierte die operatio beifügt.1087 Alle vier haben dasselbe Maß der Vollkommenheit, für die die hundert Ellen stehen. Dennoch wird die Liebe – mit Paulus – für größer gehalten, da Glaube und Hoffnung in der kommenden Welt ihre Erfüllung erfahren und somit vergehen werden. Allein die Liebe bleibt bestehen.1088 Im gegenwärtigen Leben hingegen halten sich im Ideal Glaube, Liebe, Hoffnung und Tatkraft die Waage. Diese Erweiterung der paulinischen Trias in ein Quartett der christlichen Haupttugenden beweist nicht nur Gregors flexiblen Umgang mit den biblischen Texten. Vielmehr – und das ist für die Frage nach der theologischen Begründung tätiger Nächstenliebe beachtlich – hebt der römische Bischof dadurch die vita activa auf eine Ebene mit den geistlichen Tugenden. Trotz aller Sympathie für die kontemplative Ruhe und theologischer Hochschätzung der Askese1089 verpflichtet er auch alle, die sich ausschließlich der vita contemplativa widmen wollen, zum Dienst in der Gemeinde.1090
1084 „[…]
quia per caritatem lumen fidei in Dei et proximi dilectione subleuatur.“ Greg.‑M. Hom. Ez. II, 7, 13 (CCSL 142, 327, 425 f.). 1085 „[…] quia eos ad gaudia interna pertingere qui feruore spiritus in uirtutibus permanent nullus ignorat.“ Greg.‑M. Hom. Ez. II, 7, 13 (CCSL 142, 328, 437 f.), vgl. auch Greg.‑M. Hom. Ez. II, 10, 7 (CCSL 142, 384, 174–385, 199), wo die Liebe in paulinischer Tradition über die beiden anderen Tugenden erhoben wird. 1086 Vgl. Kap. 5.3.1.3; 5.3.3.2; 5.3.5; 5.5.1.3; 5.5.2.1 sowie 5.5.3.1. 1087 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 10, 17 (CCSL 142, 392, 432–441). 1088 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 10, 17 (CCSL 142, 392, 441–454). 1089 Vgl. Kap. 5.5.3.1. 1090 Barbara Müller resümiert prägnant: „monasticism had to serve the Church in general.“, Müller, B., Monasticism, 102.
5.5 Die Ezechielhomilien – Den Vorbildern nacheifern
213
5.5.3 Vielfalt und Wert verschiedener Lebensführungen Die Frage nach dem besten Verhältnis von aktivem und kontemplativem Leben ist in allen literarischen Werken Gregors zu beobachten1091 und kann mit Mirjam Schambeck treffend als „eigentliche Aufgabe seines Lebens“1092 bezeichnet werden. Die ausführlichste und tiefgründigste Diskussion führt er – abgesehen von den Moralia in Iob1093 – in den Ezechielhomilien. Diese hält er zwar wie auch die Auslegung zum Hohelied vor einem vorwiegend oder gar ausschließlich asketischen Publikum, aber als Bischof hat sich sein Leben inzwischen radikal verändert. Im Kreis seiner Vertrauten reflektiert er seine neue Rolle als Oberhirte und auch die Relation zwischen Asketen und den „Gemeindechristen“.
5.5.3.1 Das Gegenüber von actio und contemplatio Den Texten ist das Ringen Gregors um eine Position zu entnehmen, die sowohl das asketische Ideal bewahrt als auch der Verantwortung der gesamten Gemeinde gegenüber gerecht wird. Die beiden Extreme – der radikale Rückzug aus der Welt in die Einsamkeit einerseits, der Dienst am Nächsten ohne jegliche Ruhe der Meditation andererseits – sind für ihn keine praktizierbaren Optionen mehr.1094 Daher begibt er sich als Bischof und insbesondere in den Ezechielhomilien in immer neuen Argumentationsgängen1095 auf die Suche nach einer vermittelnden und ausgleichenden Position, die beiden Idealen gerecht wird. 1091
Vgl. Kap. 5.1.2; 5.2.2.2; 5.2.3.1 und 5.3.2.1. Schambeck, Mirjam, Actio und Contemplatio – Überlegungen zu einem Modell bei Gregor dem Großen, WiWei 62 (1999), 27–47, hier: 28. Die Literatur zu diesem Themenfeld der gregorianischen Theologie ist umfangreich, im letzten Jahrhundert sind nach meiner Kenntnis mindestens drei Monographien dazu erschienen, vgl. Butler, Cuthbert, Western Mysticism. The Teaching of SS Augustine, Gregory and Bernard on Contemplation and the Contemplative Life, London 21927; Walsh, Mary Charles, The Doctrine of Contemplation of St. Gregory the Great as found in three of his Sermons on Ezekiel, Diss. Masch., Creighton 1949 und zuletzt Schambeck, Missio. Aus dem weiten Feld der kürzeren Arbeiten und Abschnitten seien hier lediglich Frank, Karl Suso, Actio und Contemplatio bei Gregor dem Großen, TThZ 78 (1969), 283–295; McGinn, Bernard, Die Mystik im Abendland, Bd. 2: Entfaltung, Freiburg 1996, 63–130; Schambeck, Actio und Schambeck, Gott, genannt. 1093 Die Moralia werden wegen der historisierenden Methodik dieser Arbeit, die Gregors Theologie in ihrem jeweiligen Kontext betrachtet, angesichts ihrer umfangreichen und bisher noch nicht ausreichend erschlossenen Redaktion sowie ihrer späten Endredaktion als letztes der literarischen Werke Gregors untersucht, vgl. Kap. 5.6. 1094 Beide Möglichkeiten hatte er zuvor ausprobiert: Als praefectus urbi war er der Sehnsucht nach einem geistlichen Leben lange nicht nachgegangen, wie er selbst schreibt, vgl. Greg.‑M. Mor. dedic. 1 (CCSL 143, 1, 5–13). Andererseits ist bereits in seiner Hoheliedauslegung, die in seiner monastischen Phase entstand, der Drang zur aktiven Sorge für den Nächsten nachzuspüren, vgl. Kap. 5.1. Zur biographischen Verortung seiner Lehre der beiden Lebensweisen, vgl. Schambeck, Gott. 1095 Als besonders ergiebig für dieses Thema erweisen sich die dritte und fünfte Homilie des ersten, sowie die zweite des zweiten Buches. Darüber hinaus finden sich auch in weiteren Vorträgen Aussagen zur Problematik. 1092
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5 Das Ideal der tätigen Nächstenliebe im literarischen Werk Gregors
Im zweiten Vortrag des zweiten Buches stellt Gregor die unterschiedlichen Aufgaben der beiden Lebensweisen gegenüber: Die vita activa sorgt sich um die verschiedenen Bedürfnisse und Nöte der Nächsten. Dahingegen soll sich die vita contemplativa ausschließlich innerlich der Gottes- und Nächstenliebe widmen, „aber von äußerer Tätigkeit ruhen, allein der Sehnsucht nach dem Schöpfer anhaften, damit der Geist nicht mehr handeln will, sondern, indem er alle Sorgen mit Füßen tritt, danach entbrennt, das Gesicht des Schöpfers zu schauen.“1096 Neben dieser formalen Definition trifft der römische Bischof über die beiden Lebensführungen eine Vielzahl an wertenden Äußerungen, die in ihrer Gesamtheit kein einheitliches Bild ergeben. So stellt er die vita contemplativa diverse Male der aktiven Lebensweise klar voran. In traditioneller Weise verweist er auf das biblische Schwesternpaar Maria und Martha (Lk 10,38–42):1097 „Die eine diente durch den äußeren Dienst dem aktiven [Leben], die andere dem kontemplativen durch die Erhebung des Herzens zum Wort. Und obschon das aktive [Leben] gut ist, ist das kontemplative dennoch besser, weil jenes mit dem sterblichen Leben erlischt, dieses aber im unsterblichen Leben zur Vollständigkeit erwächst.“1098 Zumeist beschreibt Gregor die beiden Lebensweisen aber nicht als Gegensätze, sondern als eng miteinander verbunden und aufeinander folgend. Die actio stellt dabei zumeist die erste Stufe dar, sie ist die Voraussetzung für jede Kontemplation. Ohne vollbrachte Werke kann sich der Geist nicht zur Schau Gottes emporschwingen.1099 Das tätige Leben ist die Pflicht eines jeden Men1096
„[…] sed ab exteriore actione quiescere, soli desiderio Conditoris inhaerere, ut nil iam agere libeat, sed, calcatis curis omnibus, ad uidendam faciem sui Creatoris animus inardescat“ Greg.‑M. Hom. Ez. II, 2, 8 (CCSL 142, 230, 193–196). 1097 Origenes war der erste in einer langen Reihe von Exegeten, die diesen Text auf die beiden Lebensweisen deutete, vgl. Kemmer, Alfons, Maria und Martha. Zur Deutungsgeschichte von Lk 10,38 ff. im alten Mönchtum, EuA 40 (1964), 355–367, hier: 257 f. Zur Auslegungsgeschichte der Perikope vgl. Csányi, Daniel, Optima Pars. Die Auslegungsgeschichte von Lk 10, 38–42 bei den Kirchenvätern der ersten vier Jahrhunderte, StMon 2 (1960), 5–78; Bovon, François, Das Evangelium nach Lukas (Lk 9,51–14,35), EKK III/2, Neukirchen-Vluyn 22008, 112–115 und Kemmer, Maria. Vgl. auch Greg.‑M. Mor. VI, 61 (CCSL 143, 331, 206–215). 1098 „Vna actiuae seruiebat per exterius ministerium, altera contemplatiuae per suspensionem cordis in uerbum. Et quamuis actiua bona sit, melior tamen est contemplatiua, quia ista cum mortali uita deficit, illa uero in immortali uita plenius excrescit.“ Greg.‑M. Hom. Ez. I, 3, 9 (CCSL 142, 38, 157–39, 161), vgl. ebenso Greg.‑M. Hom. Ez. II, 2, 9 (CCSL 142, 230, 212–231, 232). Damit greift der Papst zudem auf die Auslegung Augustins zurück, der stets den Wert der Verdienste Marthas betont und die Schwestern als Sinnbilder für das gegenwärtige bzw. zukünftige, eschatologische Leben der Kirche versteht, vgl. Seelbach, Larissa Carina, Art.: Maria et Martha, AugL 3 (2010), 1169–1171, hier: 1169 f. und Bovon, Evangelium, 114. Auch bei Cassian findet sich eine ähnliche Aussage, vgl. Cassian. Coll, 1, 10 (SC 42, 88 f.). 1099 „Die aktive [Lebensweise] ist zeitlich früher als die kontemplative, weil man aus den guten Werken zur Kontemplation strebt.“ (actiua prior est tempore quam contemplatiua, quia ex bono opere tenditur ad contemplationem.) Greg.‑M. Hom. Ez. I, 3, 9 (CCSL 142, 37, 146–148), vgl. auch Greg.‑M. Hom. Ez. I, 3, 9–11 (CCSL 142, 37, 145–40, 218); I, 3, 17 (CCSL 142, 43, 325–337); I, 5, 12 (CCSL 142, 62, 200–64, 244); II, 2, 10–12 (CCSL 142, 231, 233–233, 291) sowie Schambeck, Missio, 301–304.
5.5 Die Ezechielhomilien – Den Vorbildern nacheifern
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schen,1100 wohingegen die Schau Gottes als Kür nur Wenigen offensteht.1101 Jegliche mystische Schau, ja die kontemplative Ruhe selbst ist abhängig von der zuvor praktizierten tätigen Nächstenliebe.1102 Ohne sie ist keine Erkenntnis Gottes möglich. Damit erhält die actio nicht nur den Vorrang zur contemplatio in der Chronologie, sondern auch in ihrer Bedeutung. In der Rezeption einer augustinischen Vorlage führt Gregor die beiden Ehefrauen Jakobs, Lea und Rachel, als Vergleich heran: Zur Ruhe in den Armen der geliebten Rachel findet der Erzvater erst, nachdem er in der Nacht Lea zu sich nahm. Die Ehe mit Lea, deren Namen Gregor wie Augustin als laboriosa übersetzt,1103 setzt er mit den diesseitigen Mühen und Werken gleich.1104 Durch den Dienst der Verkündigung und das Vorbild zur imitatio zeugen diese allerdings wie die fruchtbare Lea viele Söhne, wohingegen die Schau des kontemplativen Lebens wie Rachel ohne Nachkommen bleibt.1105
1100
Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 3, 10 f. (CCSL 142, 38, 168–40, 218). da uns beide Leben als Gnadengeschenk gegeben sind, wenigstens solange wir mit den Nächsten leben, obliegt uns das eine [Leben] in der Notwendigkeit, das andere aber im [eigenen] Willen. […] Ohne das aktive können sie aber nicht [scil. in das Himmelreich] eintreten, wenn sie das Gute vernachlässigen, das sie tun können. Dieses besteht also in der Notwendigkeit, jenes im [eigenen] Willen. Dieses in Knechtschaft, jenes in Freiheit.“ (Et cum utraeque uitae ex dono sint gratiae, quamdiu tamen inter proximos uiuimus, una nobis in necessitate est, altera in uoluntate. […] sine actiua autem intrare non possunt, si negligunt bona operari quae possunt. Illa ergo in necessitate haec in uoluntate est. Illa in seruitute, ista in libertate.) Greg.‑M. Hom. Ez. I, 3, 10 (CCSL 142, 38, 168–176). Mehrfach bezeichnet Gregor lediglich die contemplatio als Gnadengeschenk, vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 3, 11 (CCSL 142, 39, 204–207); II, 2, 10 (CCSL 142, 231, 233–232, 259). 1102 In Bezug auf die Glaubenslehrer konstatiert Gregor eine Abhängigkeit in umgekehrter Weise: „Aber in der Tat, die sie üben, oder in der Lehre des Wortes vertrockneten sie [scil. die Glaubenslehrer] schneller, sofern sie nicht durch den Eifer des Herzens stets besorgt zu dem Ort zurückkehrten, von dem sie ausgehen. Wenn sie nämlich nicht zum nach innen gekehrten Herzen zurückkehren und sich nicht in Liebe zum Schöpfer mit den Fesseln der Sehnsucht zusammenschnüren, erlahmt auch die Hand von dem, was sie tut, und verstummt die Zunge davon, was sie spricht.“ (Sed siue in operatione quam faciunt, seu in doctrine uerbis, citius siccarentur, nisi per intentionem cordis semper sollicite ad locum de quo exeunt redirent. Si enim introrsus ad cor non redeant ac sese in amore Conditoris desideriorum uinculis non astringant, et manus ab eo quod agebat deficit, et lingua ab eo quod loquebatur arescit.) Greg.‑M. Hom. Ez. I, 5, 16 (CCSL 142, 65, 306–66, 311). Diese Aussage ist allerdings singulär, wohingegen die Dependenz der Schau von der Tat häufig benannt wird, vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 3, 2 (CCSL 142, 34, 33–35); I, 3, 9–11 (CCSL 142, 37, 145–40, 218); I, 3, 17 (CCSL 142, 43, 336 f.). 1103 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 2, 10 (CCSL 142, 231, 235) und Aug. c. Faust. 22, 52 (CSEL 25, 645, 19 f.). Gregor gibt an, dass er seine Deutung der beiden Gattinnen Jakobs einer Vorlage entnimmt, ohne Augustin zu benennen, vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 2, 10 (CCSL 142, 231, 233) und für den ganzen Abschnitt Aug. c. Faust. 22, 52–54 (CSEL 25, 645, 11–650, 8). Vgl. auch Greg.‑M. Mor. VI, 61 (CCSL 143, 330, 176–190). 1104 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 2, 10 (CCSL 142, 231, 233–245). 1105 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 2, 10 (CCSL 142, 231, 45–232, 259) und Aug. c. Faust. 22, 54 (CSEL 25, 649, 13). 1101 „Und
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Damit sind bereits einige Grenzen der contemplatio im Blick: Ohne die actio besitzt sie keinen Wert1106 und wird durch sie erst ermöglicht.1107 Zudem vermag sie – anders als die guten Werke – nicht den Eintritt in die patria caelestis zu bewirken.1108 Die prägnanteste Einschränkung ist aber die zeitliche und qualitative Limitierung der Gottesschau. Während das aktive Leben unablässig und aus eigenem Antrieb geführt werden kann, gelingt der Aufschwung in mystische Höhen höchstens für einen kurzen Moment und ist obendrein für den Menschen unverfügbar.1109 Die Schau Gottes betrachtet Gregor als göttliches Gnadengeschenk, aus der man zwangsläufig wieder in die actio zurückkehrt, um auf einen erneuten Aufstieg zu hoffen.1110 Den transitorischen Charakter der Kontemplation versteht er als Demutsübung: In der mystischen Schau wird die verheißene Ewigkeit erkannt, durch die Rückkehr in die Welt die eigene Vergänglichkeit offenbart. Prägnant formuliert Gregor: „Im Gehen sollen sie verstehen, wo sie noch nicht sind, im Zurückkehren, was sie sind.“1111 Die Kontemplation schenkt indes nur eine unvollkommene Erkenntnis, sie schaut mit 1 Kor 13,12 gleichwie „durch einen Spiegel und in einem Rätsel,“1112 da die Seele den Ewigen nicht in Gänze erfassen kann. Anders als die Nächstenliebe kann die Gottesliebe demnach das Objekt der Liebe nicht vollends erkennen, „sondern beginnt noch zu sehen, was sie liebt.“1113 Letztendlich halten sich die Einschätzungen der beiden Verhaltensweisen ungefähr die Waage: Der contemplatio liegt der höhere Wert inne, dennoch ist sie auf die actio angewiesen und verbleibt in dieser Welt zwangsläufig unvollständig. Insofern wundert es nicht, dass sich in den Ezechielvorträgen ebenso eine dezidierte Gleichordnung findet: „Denn ob man auf das gute Werk oder aber auf die Kontemplation bedacht ist, dann [erst] ist das, was man tut, wahrhaft gut, wenn man dem zu gefallen ersehnt, aus dem man ist.“1114 Nicht die Lebensweise ist relevant, sondern allein die intentio, Gott zu gefallen.1115 1106 Besonders scharf formuliert dies die dritte Homilie: „Aber welche Tugend wäre das, wenn die Prediger den Glauben und die Schau des Herrn haben, nicht dessen heilige Werke aufwiesen?“ (Sed quae uirtus esset, fidem atque contemplationem Domini habentes si praedicatores illius sancta opera non haberent?) Greg.‑M. Hom. Ez. I, 3, 2 (CCSL 142, 34, 33–35). 1107 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 3, 9 (CCSL 142, 37, 145–148). Demnach ist eine reine vita contemplativa gar nicht erst möglich. 1108 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 3, 10 (CCSL 142, 38, 170–174). 1109 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 5, 12 (CCSL 142, 62, 195–63, 208); II, 2, 7 (CCSL 142, 229, 165–230, 186); II, 2, 12 (CCSL 142, 232, 270–291). 1110 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 5, 12 (CCSL 142, 63, 214–64, 244). 1111 „Euntes intelligant [sic!] ubi nondum sint, reuertentes quid sint.“ Greg.‑M. Hom. Ez. I, 5, 12 (CCSL 142, 64, 244). 1112 „[…] per speculum et in aenigmate“ Greg.‑M. Hom. Ez. I, 5, 12 (CCSL 142, 63, 211), vgl. auch Greg.‑M. Hom. Ez. I, 3, 13 (CCSL 142, 41, 265–268). 1113 „[…] sed adhuc inchoat uidere quod amat“ Greg.‑M. Hom. Ez. II, 2, 8 (CCSL 142, 230, 203 f.), vgl. Kap. 5.5.2.3. 1114 „Siue enim bono operi, siue uero inuigilet contemplationi, tunc ueraciter hoc quod agit bonum est, quando ei complacere concupiscit a quo est.“ Greg.‑M. Hom. Ez. I, 4, 4 (CCSL
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Durch die reziproke Abhängigkeit beider Lebensweisen sind diese aufs Engste miteinander verbunden und nach Gregors Überzeugung getrennt voneinander gar nicht zu verwirklichen.1116 Letztendlich stellt die vita mixta also die einzige Form einer gelungenen Lebensführung dar,1117 zumal bereits der Dekalog das kontemplative und das aktive Leben, die Gottes- mit der Nächstenliebe vereint.1118 Wie die Tatkraft stets Raum für die Sehnsucht nach Gott einräumen muss, um blinden und zermürbenden Aktionismus zu verhindern, kann und soll ebenso die kontemplative Schau nach der aktiven Gestaltung der Welt, insbesondere der Verkündigung des Erkannten, streben: „Actio, die nicht die Einkehr in die Contemplatio kennt, wird hohl; und Contemplatio, die sich nicht in der Actio verwirklicht, depraviert.“1119 Versteht man mit Mirjam Schambeck contemplatio als „Begegnung des Menschen mit Gott“1120, wird nachvollziehbar, warum die Gottesschau überhaupt zur Tat und zurück in die Welt drängt: Mit Mt 25,31–46 geschieht die Gottesschau eben nicht nur im Gebet, sondern insbesondere in der tätigen Nächstenliebe. Im Armen, Durstigen und Nackten kommt Christus selbst nah, aber erst durch die actio gelingt die Begegnung.1121 Mit der Verschränkung beider Lebensweisen steht Gregor auf traditionellem Boden.1122 Den totalen Rückzug in die Kontemplation forderten allenfalls radikale Bewegungen wie die Messalianer im 4. Jahrhundert.1123 Im Unterschied 142, 49, 97–99). Georg Bürke betrachtet die geübte Tat als Subjekt des letzten Relativsatzes, was ebenso möglich ist, vgl. Gregor der Grosse, Homilien, 82. 1115 Vgl. Schambeck, Gott, 288–290.293 f. sowie Kap. 5.3.3.2 und 5.5.2.3. 1116 „Es ist aber zu beachten, dass eine gute Lebensordnung ebenso von der aktiven zur kontemplativen strebt, wie sich der Geist zumeist mit Nutzen von der kontemplativen zur aktiven zurückwendet, damit dadurch, dass die kontemplative den Geist entzündet, die aktive vollkommener geführt wird. Die aktive muss uns also zur kontemplativen führen und dennoch muss bisweilen die kontemplative uns aus dem, was wir nach innen gekehrt im Geiste geschaut haben, besser zur aktiven zurückrufen.“ (Sed sciendum est quia sicut bonus ordo uiuendi est ut ab actiua in contemplatiuam tendatur, ita plerumque utiliter a contemplatiua animus ad actiuam reflectitur, ut per hoc quod contemplatiua mentem accenderit, perfectius actiua teneatur. Debet ergo nos actiua ad contemplatiuam transmittere, et aliquando tamen ex eo quod introrsus mente conspeximus contemplatiua melius ad actiuam reuocare.) Greg.‑M. Hom. Ez. II, 2, 11 (CCSL 142, 232, 260–266). 1117 Wobei Gregor individuelle Schwerpunktsetzungen für möglich und empfehlenswert betrachtet, vgl. Greg.‑M. Mor. VI, 57 (CCSL 143, 327, 87–328, 92) und Schambeck, Actio, 35 f. 1118 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 6, 5 (CCSL 142, 297, 86–91); Greg.‑M. Mor. XVI, 26 (CCSL 143A, 901, 58–61). 1119 Schambeck, Actio, 39, vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 3, 12 (CCSL 142, 40, 219–244). 1120 Schambeck, Gott, 287. 1121 Vgl. Schambeck, Gott, 295–297. 1122 Vgl. Luislampe, Pia, Die Kontemplation als wesentliche Dimension der benediktinischen Spiritualität, EuA77 (2001), 5–19, hier: 5 f. 10–15, die allerdings Gregors Askeseideal mit dem benediktinischen unhinterfragt gleichsetzt. Kritischer und gründlicher arbeitet Mirjam Schambeck, vgl. Schambeck, Gott, 297 f. und Schambeck, Missio, 355–359. 1123 Vgl. Kemmer, Maria, 356–362. Zu den Messalianern vgl. Fitschen, Klaus, Messalia-
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zu vorangegangenen Theologen weicht der römische Bischof aber die scharfen Grenzen der unterschiedlichen christlichen Lebensweisen auf. Wenn er die vita mixta als maßgebliche Lebensweise aller Christen beschreibt, fordert er damit nicht nur die Weltlichen zu Einkehr und Gotteserfahrung auf,1124 sondern ebenso die Asketen zu tätiger Nächstenliebe. Damit geht eine Neubewertung der Verdienstlichkeit der verschiedenen Lebensweisen einher.
5.5.3.2 Drei ordines Aus den Überlegungen zur Theorie der Kontemplation gelangt Gregor zu Schlüssen für die Praxis der Askese und dem Gegenüber von asketischen und weltlichen Lebensformen. Grundsätzlich steht er dem Mönchtum positiv gegenüber und stellt es dem ehelichen Leben deutlich voran. Im Vergleich zu diesem bedeutet es ein Ganzopfer, da es nicht nur die guten Werke der vita activa vollbringt, sondern sich zudem von allem Irdischen löst und allein die himmlische Heimat ersehnt.1125 Daneben äußert er aber scharfe Kritik an der tatsächlichen Askesepraxis. Die Konkretion seiner Beschreibungen lässt dabei darauf schließen, dass er bei seinen Anklagen reale Beispiele vor Augen hatte, die er in Rom beobachten musste. Allen voran kritisiert er Asketen, die in Hochmut verfallen und die nismus und Antimessalianismus. Ein Beispiel ostkirchlicher Ketzergeschichte, FKDG 71, Göttingen 1998. 1124 Gregors Forderung an alle Menschen nach contemplatio auf der einen Seite und ihrer exklusiven Zuordnung zum asketischen Lebensmodell auf der anderen stellt die Forschung vor Schwierigkeiten. Fraglich ist, ob Kontemplation in der Theologie Gregors einen allgemeinanthropologischen Topos darstellt oder lediglich den spirituellen „Hochleistungssportlern“ vorbehalten ist. Letztere Ansicht vertritt Carol Straw, vgl. Straw, Perfection, 45 f., beide Sichtweisen finden sich bei Claude Dagens, vgl. Dagens, Culture, 135.149 f. Mirjam Schambeck löst diese Frage anhand einer semantischen Differenzierung: Die contemplatio kann sowohl den exklusiven Lebensstil der Asketen bezeichnen als auch die Gottesbegegnung als das Ziel und die Aufgabe eines jeden Menschen. Die Relation von actio und contemplatio ist dabei eine doppelte: Einerseits sind sie verschiedene, ja gegensätzliche Lebensstile, die dennoch beide das gleiche Ziel, die Gottesbegegnung, verfolgen. Andererseits stellen sie Formen genau dieser Gottesbegegnung dar, die sich gegenseitig nicht ausschließen, sondern bedingen. Wie auf einer Spirale stacheln sie sich wechselseitig immer weiter an: die actio strebt zur contemplatio und bereitet diese vor, wohingegen die beglückende Gottesbegegnung zu neuer und verstärkter Tatkraft motiviert, vgl. Schambeck, Actio, insbes. 32–39. Diese differenzierte Semantik schärft das Verständnis des gregorianischen contemplatio-Begriffs und vermag die disparaten Aussagen in Teilen zu vereinen. Dennoch muss beachtet werden, dass diese verlockend klare Unterscheidung zwischen Lebensstil und Form der Gottesbegegnung keine Entsprechung in der Terminologie des römischen Bischofs findet: Die Begriffe der vita contemplativa und der contemplatio verwendet er oft synonym, vgl. z. B. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 2, 9–11 (CCSL 142, 230, 212–232, 269). Zusätzlich verwirrt die dreifache Semantik der contemplatio bei Mirjam Schambeck als Lebensstil, gelingende Gottesbeziehung und spezieller Weise der Gottesbegegnung. 1125 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 12, 30 (CCSL 142, 201, 606–202, 616); II, 8, 16 (CCSL 142, 348, 452–349, 480); II, 9, 12 (CCSL 142, 366, 370–390).
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nötige Reue vermissen lassen.1126 Um dies zu verhindern, mahnt er zu strikter Selbstreflexion und kritischer Prüfung, damit sich hinter den Entsagungen keine falsche Intention verberge.1127 Zudem fordert er das rechte Maß an Verzicht: Die leiblichen Bedürfnisse müssen selbstverständlich befriedigt werden, dürfen aber keinesfalls Überhand nehmen und maßlos werden.1128 Auf der anderen Seite muss die Askese entschlossen und konsequent geübt werden. Eine zögerliche oder sprunghafte Entscheidung für „das beste Teil“ bewirkt das Gegensätzliche: „Wenn der Fuß des Geistes auf dem Weg der Entscheidung zum Besseren wankelmütig gesetzt wird, so klagt dieser Wankelmut der Überlegung an.“1129 Askese erfordert demnach Entschiedenheit und Durchhaltevermögen. Schließlich wird der Verdienst der Askese auch durch Zwietracht gefährdet. Äußerst plastisch beschreibt Gregor, wie sich Asketen in Hochmut über die weltlich lebenden Mitmenschen erheben und so den Frieden der ganzen Kirche gefährden: „Groß ist nämlich die Tugend der Enthaltsamkeit, aber wenn jemand sich so von Speisen fernhält, dass er die anderen beim Mahl verurteilt und auch die Speisen verdammt, die Gott geschaffen hat, damit die Gläubigen sie mit einer Geste des Dankes empfangen, was ist diesem die Tugend der Enthaltsamkeit anderes geworden als der Fallstrick der Schuld?“1130
Letztendlich betrachtet der römische Bischof das asketische Leben lediglich als ein Werk, neben dem auch andere das Heil erwirken können. In zahlreichen Aufzählungen und Beispielen führt Gregor die Askese als einen Verdienst unter anderen auf.1131 Zumeist stellt er ihr dabei die Verkündigung sowie die barmherzige Fürsorge für den Nächsten an die Seite. Diese Trias an Werken repräsentiert zugleich die drei christlichen Lebensweisen: den Klerus (ordo praedicantium), die Asketen (ordo continentium) und die Verheirateten (ordo bonorum coniugum).1132 Diesen drei ordines liegt jeweils ein unterschiedlicher Stellenwert inne: Der Rang der Seelsorger übersteigt den der beiden anderen 1126 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 6, 17 (CCSL 142, 308, 434–440); II, 8, 17 (CCSL 142, 349, 481–498). 1127 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 4, 10 (CCSL 142, 55, 291–56, 297); II, 8, 17 (CCSL 142, 349, 498–350, 507); II, 10, 16 (CCSL 142, 390, 376–391, 407). Zur Forderung einer vita circumspecta vgl. Müller, B., Führung, 269–272. Vergleichbare Mahnungen finden sich ebenso in der Literatur der Wüstenväter, vgl. Müller, A., Konzept, 363–369. 1128 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 7, 19 (CCSL 142, 331, 568–332, 592). 1129 „[…] cum pes mentis in meliori gradu deliberationis inconstanter ponitur, hoc ipsa cogitationis inconstantia accusat.“ Greg.‑M. Hom. Ez. I, 3, 18 (CCSL 142, 44, 377–379). 1130 „Magna enim est uirtus abstinentiae, sed si quis ita ab alimentis abstineat, ut ceteros in cibo diiudicet, et alimenta eadem quae Deus creauit ad percipiendum cum gratiarum actione fidelibus etiam damnet, quid huic uirtus abstinentiae facta est nisi laqueus culpae?“ Greg.‑M. Hom. Ez. I, 8, 8 (CCSL 142, 106, 174–179). 1131 Vgl. z. B. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 10, 16 (CCSL 142, 390, 376–391, 407), vgl. Kap. 5.3.1.3. 1132 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 4, 5 (CCSL 142, 261, 165–168); s. auch Greg.‑M. Hom. Ez.
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5 Das Ideal der tätigen Nächstenliebe im literarischen Werk Gregors
Lebensweisen, und die Enthaltsamen überragen die Verheirateten.1133 Dennoch eint alle das gemeinsame Ziel der himmlischen Heimat: „Denn obgleich der Lohn der Einzelnen sich unterscheiden mag, so gibt es doch keine Differenz der Freuden, weil sich dennoch jeder, obgleich der eine weniger und der andere mehr jubelt, an der einen Freude über die Schau seines Schöpfers erfreut.“1134 Allen drei Lebensweisen steht der Eintritt ins himmlische Bauwerk offen1135 und in jeder von ihnen kann die göttliche Schau empfangen werden.1136 Die Askese überragt aber die weltliche Lebensweise, da sich in ihr der Mensch stärker von Irdischem befreit und demnach freier ist für die Sehnsucht zum Himmlischen. Allerdings kritisiert Gregor den Egoismus einiger Enthaltsamer, die sich dem Dienst am Nächsten und an der Gemeinde verweigern.1137 Letzendlich betrachtet er – trotz aller Klagen über weltliche Pflichten und Ablenkungen – sein Amt als die beste Lebensweise, da sie die Werke der beiden anderen vereint: die tätige Unterstützung des Nächsten sowie die Ruhe des Gebets.1138 Der kirchliche Dienst ist eine Pflicht aller dazu Berufenen, die nicht des eigenen Vorteils wegen gemieden und umgangen werden darf.1139 Mit diesen Ausführungen wendet sich Gregor gezielt an sein aktuelles Publikum aus Klerus und Asketen. Die einen will er in ihrem Dienst bestärken und motivieren, die anderen hingegen für einen solchen gewinnen.1140 Die Gemeinschaft der Christen stellt das Zentrum seines Ideals der tätigen Nächstenliebe dar. Er zielt nicht nur auf die Fürsorge für den einzelnen Bedürftigen ab, sondern hat stets die ganze Gemeinde mit ihren unterschiedlichen Ämtern, Lebensweisen und gesellschaftlichen Gruppen im Blick. Erneut zeigt sich, wie stark seine neue Rolle und Verantwortung als Bischof bis in seine Exegese hineinwirkt.
5.5.4 Die Terminologie der Nächstenliebe in den Ezechielhomilien In den Vorträgen zum Ezechielbuch nimmt Gregor intensiv die Dialektik von imperfectus/perfectus1141 auf, die er bereits im Hoheliedkommentar angewandt I, 8, 10 (CCSL 142, 107, 213–228); II, 1, 7 (CCSL 142, 213, 228–214, 263); Greg.‑M. Mor. I, 20 (CCSL 143, 34, 26–48); vgl. dazu Müller, B., Monasticism, 102–107. 1133 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 4, 6 (CCSL 142, 262, 185–199). 1134 „Nam etsi dispar erit meritum singulorum, non erit diuersitas gaudiorum, quia etsi alter minus atque alius amplius exsultat, omnes tamen unum gaudium de Conditoris sui uisione laetificat.“ Greg.‑M. Hom. Ez. II, 4, 6 (CCSL 142, 263, 211–214). 1135 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 1, 7 (CCSL 142, 214, 253–257). 1136 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 5, 19 (CCSL 142, 290, 494–505). 1137 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 5, 7 (CCSL 142, 59, 98–60, 113); I, 9, 22 (CCSL 142, 135, 456–136, 487). 1138 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 4, 6, (CCSL 142, 262,195–198). Zur Priorität des kirchlichen Dienstes vgl. Gregor.‑M. Hom. Ez. II, 10, 12 (CCSL 142, 388, 304–306). 1139 Vgl. Greg.‑M. Past. I, 5 (SC 381, 144, 1–148, 56). 1140 Ein ähnliches Ziel verfolgte Gregor bereits mit der Pastoralregel, vgl. Kap. 5.2.3.1 sowie Demacopoulos, Gregory’s Model, 214 und Müller, B., Monasticism, 99. 1141 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 9, 12 (CCSL 142, 366, 380–390) u. ö. Daneben verwendet
5.5 Die Ezechielhomilien – Den Vorbildern nacheifern
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hatte.1142 Obwohl er auch in diesem Werk die einschlägige Terminologie von reprobus/electus1143 verwendet, vertritt er dennoch keine konsequente Prädestinationslehre. Vielmehr beschreibt er einen Prozess, in dem sich der einzelne Christ vom oberflächlichen Glauben hin zur geistlichen Elite entwickeln kann. Charakteristisch dafür ist die attributive Gegenüberstellung von inchoans und fervens.1144 Die guten Werke können einen ersten Schritt dieser Entwicklung darstellen, da sie relativ niederschwellig sind und keine tiefen, inneren Erkenntnisse voraussetzen.1145 Ebenso praktizieren aber auch die Fortgeschrittenen tätige Nächstenliebe. Die vita activa ist unverzichtbar und auch im kontemplativen Leben nicht dauerhaft aufzugeben.1146 Den Unterschied zu den Taten der Anfänger stellt die zugrundeliegende Gesinnung dar.1147 Demnach können und sollen alle Christen, unabhängig von ihrem persönlichen geistlichen Entwicklungsstand, Täter der Nächstenliebe sein. Die Bezeichnung der Nächstenliebe ist in den Ezechielhomilien in einer Hinsicht beachtlich: Caritas begegnet hier mehrfach als die den Taten der Nächstenliebe zugrundeliegende Haltung oder Gesinnung.1148 Dagegen bezeichnen amor und dilectio bzw. diligere eher den Vollzug. Zumeist verwendet Gregor dennoch die drei Begriffe amor, caritas und dilectio weiterhin synonym und alternierend. Exemplarisch seien an dieser Stelle zwei Beispiele zitiert: „Denn nichts ist weiter, als alle in den Schoß der Liebe (amor) aufzunehmen und keine Engstirnigkeiten des Hasses beizubehalten. So weit ist nämlich die Liebe (caritas), dass sie in der Weite ihrer Liebe (dilectio) auch die Feinde erreichen kann.“1149 „Jener verkündet wahrhaft, der die Liebe (amor) zu Gott und zum Nächsten lehrt; und diese Gelehrtheit ist zuverlässig, die die Liebe (caritas) erbaut; und der Glaube ist stark, der sich in der Liebe (dilectio) zu Gott und dem Nächsten übt.“1150
Gregor zahlreiche ähnliche Paarungen, wie z. B. parvus/fortis, vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 5, 4 (CCSL 142, 277, 82–84). Zur dialektischen Struktur seiner Theologie vgl. Straw, Perfection. 1142 Vgl. Kap. 5.1.3. 1143 Vgl. z. B. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 5, 2 (CCSL 142, 57, 15). 1144 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 7, 14 (CCSL 142, 328, 468–471). 1145 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 3, 13 (CCSL 142, 245, 257–246, 285). 1146 Vgl. Kap. 5.5.3.1. 1147 Vgl. z. B. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 5, 2 (CCSL 142, 57, 15) und Kap. 5.5.2.3. 1148 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 4, 3 (CCSL 142, 259, 70–72); II, 7, 13 (CCSL 142, 327, 424–426); II, 9, 10 (CCSL 142, 364, 313–324), vgl. auch Greg.‑M. Mor. VII, 18 (CCSL 143, 345, 11–346, 15); XIII, 5 (CCSL 143A, 671, 9–15) und Kap. 5.6.5. 1149 „Nil enim latius quam omnes in sinu amoris recipere, et nullas odii angustias sustinere. Sic quippe lata est caritas, ut in amplitudine dilectionis suae capere etiam inimicos possit.“ Greg.‑M. Hom. Ez. II, 2, 15 (CCSL 142, 235, 379–236, 382). 1150 „[…] ille uere praedicat qui dei ac proximi amorem docet, et ipsa est certa scientia, quam caritas aedificat, et fides robusta est, quae se in dilectione dei ac proximi exercet.“ Greg.‑M. Hom. Ez. II, 4, 3 (CCSL 142, 260, 129–132).
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5 Das Ideal der tätigen Nächstenliebe im literarischen Werk Gregors
Zusätzlich bezeichnet der römische Bischof die tätige Nächstenliebe mitunter als pietas.1151 Gregors Grundverständnis der tätigen Nächstenliebe lässt sich an seiner variantenreichen Wortwahl ablesen: Relevant sind nicht die Taten an sich, sie können sich je nach Kontext unterscheiden. Konstitutiv für ein Werk der Nächstenliebe ist vielmehr, dass es auf den Nutzen für den Mitmenschen abzielt. Um dies auszudrücken verwendet der Papst sieben verschiedene Begriffe,1152 wobei die utilitas mit Abstand am häufigsten begegnet. Insofern lässt sich Gregors Ethik eben gerade nicht verunglimpfend einem „vulgären Typus des romanischen Katholizismus“1153 zuschreiben, wie es der Kulturprotestantismus gern getan hat. Der römische Bischof intendiert in erster Linie die Unterstützung der Bedürftigen. Die Verweise auf die Verdienstlichkeit der Werke in Bezug auf das Seelenheil fungieren mehr als Instrument der Motivation, stellen aber nicht den eigentlichen Wert dar.1154
5.5.5 Zusammenfassung Die Ezechielhomilien sind durch zwei Gegebenheiten besonders geprägt: das spezifisch asketische bzw. kirchliche Publikum auf der einen Seite und die militärische Bedrohung Roms durch die Langobarden auf der anderen. Beide Aspekte sind in Gregors Ausführungen immer wieder zu spüren. Durch den exegetischen Charakter des Werkes ist dennoch nur ein geringes Maß an Konkretion in der Beschreibung der Taten der Nächstenliebe zu beobachten. Im Vordergrund steht hauptsächlich die Verkündigung, die bereits in den anderen Schriften Gregors als Werk der Nächstenliebe beschrieben wird. In den Ezechielhomilien wird diese vor allem als Anteilgabe an den geistlichen Fortschritten der Glaubenslehrer charakterisiert. Durch die politische und militärische Bedrohung Roms waren zudem neue Formen der tätigen Nächstenliebe vonnöten, die in den anderen Werken keine oder nur eine marginale Rolle spielen. Allen voran ist die veränderte Perspektive der Feindesliebe zu nennen. Der römische Bischof bezieht sie nicht mehr ausschließlich auf innergemeindliche Widersacher, sondern hat vor allem die politi1151 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 7, 2 (CCSL 142, 84, 34–36); II, 7, 7 (CCSL 142, 321, 220–223); II, 7, 11 (CCSL 142, 324, 328). 1152 Utilitas vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 2, 3 (CCSL 142, 19, 67); prodesse vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 3, 12 (CCSL 142, 40, 224); ministerium bzw. ministrare vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 3, 12 (CCSL 142, 40, 243) und Greg.‑M. Hom. Ez. I, 12, 11 (CCSL 142, 189, 156); necessaria vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 7, 2 (CCSL 142, 84, 34); proficere vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 12, 16 (CCSL 142, 191, 250); provehere vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 1, 7 (CCSL 142, 214, 252); propinare vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 2, 4 (CCSL 142, 227, 88). 1153 von Harnack, Adolf, Dogmengeschichte, UTB 1641, Tübingen 81991, 333. 1154 Vgl. Demacopoulos, George E., Gregory the Great and the pagan Shrines of Kent, Journal of Late Antiquity 1 (2008), 353–369, hier: 363 und Kap. 5.6.4.
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schen Gegner im Blick. Zudem scheinen seine Mahnungen zur Armenspeisung und Einkleidung Nackter noch konkretere Situationen vor Augen zu haben. Gerade durch den Strom an Flüchtlingen aus dem Umland hat sich die Versorgungslage in Rom dramatisch verschlechtert. Schließlich fordert Gregor seine Zuhörer auf, den Unterdrückten beizustehen, auch dies ist sicher eine Reaktion auf die Umstände der langobardischen Bedrohung und der für ihn unerträglichen Passivität des Kaisers. Generell ruft Gregor sein Publikum stärker als je zuvor zu realen Taten auf. Nichts liegt ihm ferner als das geistige Verständnis von Nächstenliebe Augustins. Ein „Dilige, et quod vis fac!“1155 käme dem römischen Bischof sicher nicht über die Lippen. Vielmehr fokussiert er seine Ausführungen zum aktiven Leben auf den Nutzen des Gegenübers und entwickelt so, bedingt durch die bedrohlichen Umstände seiner Zeit, eine diakonische Theologie. Deshalb tut er sich auch so schwer damit, das Verhältnis von aktivem und kontemplativem Leben zu bestimmen. Die contemplatio, die ihm als Asketen besonders am Herzen liegt, versteht er als Fortschritt im Vergleich zur actio und damit im Grunde genommen als höherwertig. Dennoch laufen seine zahllosen Argumentationsgänge letztendlich immer auf einen Vorrang der vita activa hinaus: Im Gegensatz zur vita contemplativa ist sie dauerhaft und vollendet möglich, wohingegen jene nur kurzzeitig und gnadenhaft gewährt wird. Zudem ist das aktive Leben Grundlage und zugleich auch Nachfolge der mystischen Schau Gottes. Paradigmatisch für Gregors Wertschätzung der tätigen Lebensweise ist seine Erweiterung der paulinischen Trias von Glaube, Liebe, Hoffnung um die operatio. Damit stellt diese für den römischen Bischof eine vierte Grundtugend des christlichen Lebens dar. Da er die innere Kontemplation dennoch als erstrebenswert betrachtet, stellt die vita mixta die für ihn einzig mögliche und am wertvollsten zu erachtende Lebensweise dar. Sie vereint die Ruhe der mystischen Schau mit der tatkräftigen Unterstützung des Nächsten und der gesamten Gemeinschaft. Diese ist ein wichtiger Aspekt der gregorianischen Lehre von der tätigen Nächstenliebe. Stets zielt der römische Bischof auf die Einheit der Gemeinde ab und wendet sich mitunter unerwartet scharf gegen jeglichen Askeseegoismus. Gerade die Enthaltsamen fordert er auf, den gemeinschaftlichen Dienst nicht zu fliehen. Den geistlich noch nicht so Fortgeschrittenen sollen sie Anteil geben an der eigenen Erkenntnis. Erst durch den Dienst am Nächsten erhält die Rolle des Klerus und der Asketen ihren Wert, den sie für sich allein nicht besitzt. Damit stuft der Papst die monastisch Lebenden deutlich herab bzw. erhebt die weltlich Lebenden auf ihre Stufe: Alle drei ordines haben letztendlich denselben Verdienst, die eschatologische Schau Gottes. Gemessen werden die Werke der Nächstenliebe an ihrer Intention, der Liebe. Diese sucht in allem Handeln den Nutzen des Nächsten. Damit fungiert die 1155
Vgl. Kap. 4.4.
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5 Das Ideal der tätigen Nächstenliebe im literarischen Werk Gregors
Nächstenliebe als wichtiges Bindeglied der Gemeinde, da sie Täter und Empfänger der Hilfe vereint. Zudem ermöglicht sie, unabhängig von den geistlichen Fähigkeiten oder finanziellen Mitteln, allen Gemeindegliedern den Eintritt in die patria caelestis. Diese Tendenz zur „Demokratisierung des Heils“ lässt sich in den Ezechielhomilien verschiedentlich beobachten: Die Didaktik der imitatio verhilft auch den nicht Schriftkundigen zur Kenntnis des Willen Gottes. Zudem betont Gregor in der Deutung der drei Tore des himmlischen Tempels, dass auch die Anfänger im Glauben sowie die bereits der Sünde verfallenen Christen dennoch eine Möglichkeit zum Heil haben. Schließlich eröffnen alle drei Lebensweisen den Weg zu Gott, da die Befolgung des Doppelgebots hinreichend ist für das himmlische Reich. Gregor wendet sich mit seinen Vorträgen zu Ezechiel an eine geistliche Elite, umso bemerkenswerter sind diese Aussagen, die geistlichen Hierarchien in der Gemeinde zumindest ideell eine Absage erteilt. Er verlangt seinem Publikum ein Höchstmaß an Demut ab, wenn allen asketischen Leistungen der Mehrwert aberkannt wird und zudem der Schatz der kontemplativen Ruhe zugunsten der utilitas des Nächsten aufgegeben werden soll. Als guter Bischof stellt er in der Konsequenz die Gemeinde über die individuellen Interessen und fordert dieses Ideal auch von den übrigen geistlichen Führern.
5.6 Die Moralia in Iob – Dem Nächsten nutzen mit Herz und Hand In seinem opus magnum, den 35 Büchern1156 der Moralia in Iob, legt Gregor das gesamte Buch Hiob aus. Dabei verwendet er, wie in seinen übrigen exegetischen und homiletischen Werken, die Methode der allegorischen Schriftauslegung.1157 Im Widmungsbrief kündigt er an, dass er neben dem historischen auch den allegorischen und den moralischen Schriftsinn betrachten wolle, wobei nicht bei jeder Textstelle alle Perspektiven gewinnbringend seien.1158 Ein Schwerpunkt liegt, der Bitte der Zuhörer entsprechend, auf dem moralischen Sinn.1159 Dabei 1156 Gregor teilte im Rahmen der Überarbeitung das Gesamtwerk zudem in sechs Kodizes ein, vgl. Greg.‑M. Mor. dedic. 2 (CCSL 143, 3, 89 f.). 1157 Gregor legt die einzelnen Verse in der Regel mithilfe anderer biblischer Texte aus, deren Konnex in einem gemeinsamen Stichwort besteht. Mitunter ist die Verknüpfung nur schwer nachzuvollziehen. Zur intrabiblischen Hermeneutuík vgl. Greg.‑M. Mor. dedic. 1 (CCSL 143, 2, 50–53). Zu seiner exegetischen Methodik im Allgemeinen vgl. Hofmann, D., Auslegung; DeGregorio, Exegesis, und Kap. 5.2.2.1, speziell in den Moralia vgl. Gillet, Introduction, 10–13 und Greschat, Moralia, 9–21. 1158 Vgl. Greg.‑M. Mor. dedic. 3 f. (CCSL 143, 4, 106–6, 182) sowie Greschat, Moralia, 55–58 und Gillet, Introduction, 10–13. 1159 Vgl. Greg.‑M. Mor. dedic. 1 (CCSL 143, 2, 46–50). Dabei darf der Begriff des exercitium
5.6 Die Moralia in Iob – Dem Nächsten nutzen mit Herz und Hand
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dient die Typologie der biblischen Protagonisten als Verständnisschlüssel:1160 Hiob wird auf Christus bzw. die Kirche hin gedeutet, Elifas, Bildad und Zofar auf christliche Häretiker1161 und Elihu schließlich auf hochmütige Heuchler innerhalb der Kirche.1162 Für die Moralia in Iob greift Gregor auf diverse schriftliche Quellen zurück.1163 Deren Einfluss erstreckt sich weniger auf die Auslegung des Hiobbuches,1164 als vielmehr auf die spirituelle Terminologie (Augustin),1165 die Lehre von der patientia und den Kardinaltugenden (Ambrosius)1166 sowie asketischspirituelle Inhalte wie z. B. die Tugend- und Lasterlehre (Cassian bzw. Evagrius Ponticus).1167 Dennoch erweist sich Gregor als „un écrivain original“1168, der das ihm vertraute Gedankengut weiterentwickelt und etwa die rein monastische Perspektive Cassians auf andere Lebensweisen ausweitet und so zu innovativen Aussagen gelangt.1169 Nachdem die Moralia seit dem frühen Mittelalter als Standardwerk mystischer Theologie galten,1170 wurden sie in der historischen Forschung der letzten hundert Jahre eher stiefmütterlich behandelt.1171 Zudem sind äußerst pejorative Urteile gesprochen worden. Exemplarisch sei hier ein Abschnitt aus der Papstgeschichte Erich Caspars zitiert: „Das Werk trägt die Spuren solch uferlos sich ausbreitenden Schreibflusses. Es ist gemessen an patristischen Werken alter Bildungstradition von einer literarischen Ungestalt, welche die bedenklichen Seiten jener Absage des Zeitalters an die ‚Literatur‘ enthüllt. Die Moralia als Ganzes sind eine völlig ungenießbare Lektüre geworden.“1172 moralitatis nicht zu eng lediglich als ethische Verhaltensweise den Mitmenschen gegenüber verstanden werden, sondern erstreckt sich ebenso und insbesondere auf das geistig-spirituelle Leben coram Deo. Insofern beschreibt Robert Gillet die Intention des Gesamtwerks treffend als „le progrès spirituel des lecteurs“, Gillet, Introduction, 12, vgl. auch Greschat, Moralia, 53–55. 1160 Vgl. Greg.‑M. Mor. praef. 14–19 (CCSL 143, 19, 24–23, 18) sowie Fiedrowicz, Kirchenverständnis, 58–61 und Greschat, Moralia, 71–74. 1161 Vgl. Greschat, Moralia, 207–227. 1162 Gregor spricht wechselnd von den arrogantes und hypocrites, vgl. dazu Greschat, Moralia, 228–241 und Fiedrowicz, Kirchenverständnis, 258–260. 1163 Vgl. Gillet, Introduction, 81–109; Schambeck, Missio, 355–359. 1164 Zur Hiobexegese vor Gregor und seiner Unkenntnis derselben vgl. Greschat, Moralia, 31–46 und Gillet, Introduction, 84–86. 1165 Vgl. Gillet, Introduction, 20–81.86–89. 1166 Vgl. Ambr. Off. II, 9, 48 f. (CCSL 15, 114, 1–115, 18) und Gillet, Introduction, 84 f. 1167 Vgl. Evagr. Pont. cap. pract. 6–39 (SC 506, 1–590, 3); Gillet, Introduction, 89–102 und Schambeck, Missio, 355–359. Damit sind erneut konkrete östliche Einflüsse auf Gregor zu identifizieren, vgl. Kap. 3.4. 1168 Gillet, Introduction, 14. 1169 Vgl. Gillet, Introduction, 102. 1170 Vgl. Berschin, Biographie 1, 316. 1171 Vgl. Schambeck, Missio, 14, Anm. 58 und Greschat, Moralia, 9 f. 1172 Caspar, Geschichte II, 357.
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Neben der umfangreichen und schier unbegrenzten Allegorese des biblischen Textes1173 erschwert zudem die komplexe und bisher nicht befriedigend erforschte Redaktionsgeschichte einen historisch abgesicherten Zugang zu diesem opus. Den Anstoß zur Hiobauslegung gaben in der Zeit Gregors als Apokrisiar1174 seine mitgereisten Mönchsbrüder und insbesondere Leander von Sevilla,1175 den er in Konstantinopel kennengelernt hatte. Vor diesen und weiteren spirituell und exegetisch interessierten Personen1176 hielt er die Hiobvorträge,1177 die er später nach seinen eigenen Aussagen im Widmungsbrief um schriftlich formulierte Teile ergänzte und dem gesamten Werk einen einheitlichen Stil verlieh.1178 Weitere Hinweise auf die Redaktionsgeschichte der Moralia in Iob bietet der päpstliche Briefwechsel:1179 Im April 591 sandte Gregor Leander eine Reihe von Werken, die angeforderte Hiobauslegung fehlte aber, da sie noch bei den Abschreibern lag.1180 Im Juli 5951181 schickte er ein Exemplar nach Sevilla, dem allerdings der vierte und der fünfte Teil (Bücher XI–XXII) fehlten, da von ihnen bereits alle Exemplare an Klöster ausgeteilt waren.1182 Schließlich klagte 1173 Gregor beschreibt selbst die grenzenlose Vielfalt der Schriftauslegung in einem Brief an den armenischen Metropoliten Domitian: „In der Auslegung der heiligen Schrift darf nichts verworfen werden, was auch immer dem gesunden Glauben nicht widerspricht. Wie nämlich aus dem einen Gold mal Halsketten, mal Ringe und mal Armreifen zur Zierde gefertigt werden, so stellen alle Ausleger aus der Einsicht der heiligen Schrift gleichwie vielfältige Schmuckstücke zusammen, die dennoch alle der Zierde der himmlischen Braut dienen.“ ([…]in intellectu sacrae scripturae respui non debet, quicquid sanae fidei non resistit. Sicut enim ex uno auro alii murenas, alii anulos, alii dextralia ad ornamentum faciunt, ita ex una scripturae sacrae scientia expositores quique per innumeros intellectus quasi uaria ornamenta componunt, quae tamen omnia ad decorem caelestis sponsae proficiunt.) Greg.‑M. Ep. III, 62 (CCSL 140, 212, 41–46). 1174 Marcus Adriaen gibt als zeitlichen Rahmen die Jahre 579–585/586 an, vgl. Adriaen, Prolegomena, VI. 1175 Vgl. Greg.‑M. Mor. dedic. 1 (CCSL 143, 2, 43–53). 1176 Die genaue Besetzung des Konstantinopler Zirkels ist nicht bekannt, zumindest einige Personen lassen sich erschließen, vgl. Müller, B., Führung, 99–101 und Greschat, Moralia, 28–30. 1177 Wie die Ezechielhomilien sind auch die Moralia in keinem liturgischen Kontext zu verorten. Vielmehr sind die Vorträge mit Robert Gillet als „conférences monastiques“ (Gillet, Introduction, 10) vor einer spirituell-exegetischen Diskussionsrunde zu betrachten. 1178 Gregor berichtet, dass ihm für die Angleichung des dritten Teils (Bücher XI–XVI) keine Zeit mehr blieb, vgl. Greg.‑M. Mor. dedic. 2 (CCSL 143, 3, 72–90). 1179 Der Widmungsbrief ist nicht datiert: Barbara Müller verortet ihn ohne weitere Begründung im Jahr 595, vgl. Müller, B., Führung, 102. Katharina Greschat hingegen nimmt das Frühjahr 591 an, da Gregor im April Leander mitteilt, ihm die Moralia gewidmet zu haben, vgl. Greg.‑M. Ep. 1, 41 (CCSL 140, 49, 57) und Greschat, Moralia, 36. Zur Verlässlichkeit dieser Aussage s. u. 1180 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 41, (CCSL 140, 49, 50–59). 1181 Katharina Greschat nennt hier irrtümlich das Jahr 596, vgl. Greschat, Moralia, 27. 1182 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 53 (CCSL 140, 348, 10–12). Ebenso ist eine nicht näher datierte schriftliche Anfrage des Bischofs Licinianus aus dem spanischen Cartagena überliefert, der Gregor um die Zusendung „dieses Werkes über das Buch des heiligen Hiobs“ (opus ipsum de
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Gregor im Januar 602 über fehlerhafte Abschriften des Werkes, die zumindest in Ravenna kursierten und konfisziert werden sollten.1183 Schlussendlich ist bisher nicht zweifelsfrei geklärt, zu welchem Zeitpunkt die Überarbeitung der Vorträge stattgefunden hat. Der Brief an Leander im Frühjahr 591 mit der Zusage, das Werk liege bereits bei den Kopisten, ist kein zweifelsfreier Beleg für einen terminus ad quem.1184 Diese Äußerung könnte ebenso gut als Apologie eines in Zeitnot geratenen Autors gelesen werden, der angesichts seiner neuen Amtsgeschäfte bereits getroffene Zusagen nicht einhalten kann.1185 Das wäre zudem eine Erklärung dafür, warum weitere vier Jahre vergingen, bis Gregor das Werk im Sommer 595 nach Sevilla sandte. Dass er doch deutlich über seinen Amtsantritt hinaus an der Hiobauslegung gearbeitet haben muss, beweist der Vergleich mit seinen anderen, späten Werken.1186 Mit dem Versand der Moralia ist der Abschluss der Überarbeitung sicher zu greifen, wobei vereinzelte spätere Einfügungen nicht auszuschließen sind.1187 Das Problem der noch nicht exakter erschlossenen redaktionellen Schichtung des Werkes und die damit einhergehende Schwierigkeit, die Texte zuverlässig zu kontextualisieren, ist nicht zu leugnen.1188 Bisher ist dieser Schwierigkeit nur mit zwei radikalen, letztendlich aber unbefriedigenden Verfahren begegnet worden. Entweder wurden die Moralia berücksichtigt, dafür aber das erklärte Ziel der libro sancti Iob), Lic. Ep. I, 41a (MGH.Ep. 1, 61, 1 f.), bittet. Davon hatte er durch Leander erfahren, der auf seiner Rückreise aus Konstantinopel 585/586, in Cartagena vorbeigekommen war. Die mitgeführten Vortragsmitschriften ließ der Bischof von Sevilla aus Zeitgründen aber nicht von Licinianus kopieren. Als dieser erfuhr, dass die Moralia auch der Büchersendung von April 591 nicht beigelegt waren, wandte er sich selbst und direkt an den Papst, vgl. Lic. Ep. I, 41a (MGH.Ep. 1, 60, 29–34). 1183 Vgl. Greg.‑M. Ep. XII, 6 (CCSL 140A, 976, 59–68). 1184 So Greschat, Moralia, 26 und Kessler, St., Exeget, 39. 1185 Dass solche Begebenheiten keinesfalls nur in der Spätantike zu beobachten waren, beweisen die tadelnden Worte Julius Wellhausens in seinem Brief vom 6. April 1916 an Enno Littmann: „Wie Sie sich erinnern, hat Eugen Mittwoch schon vor 2 Jahren Ihre abessinischen Denkmäler zur Anzeige in den GGA übernommen und dabei versprochen, gleich an die Arbeit zu gehn [sic!]. Es ist mir wegen G. Reimer unangenehm, daß er die Sache schlüren läßt. Hol ihn der Kukkuk! Die Professoren müßten unter militärisches Commando. Der Wunsch, daß ein General der Kavallerie an die Spitze des Cultusministeriums träte, ist schon vor Jahren im Abgeordnetenhause ausgesprochen worden.“ Wellhausen, Ep. 1069 (Smend, 645). Ich danke Susanne Rudnig-Zelt für diese Argumentation sowie den Hinweis auf das Wellhausenzitat. 1186 Vgl. Kap. 5.6.1. 1187 Darauf deutet zumindest der berühmte, wenn auch nicht eindeutige Hinweis auf die Angelsachsenmission ab 596 in Greg.‑M. Mor. XXVII, 21 (CCSL 143B, 1346, 66–70) hin, vgl. Gillet, Introduction, 10; Greschat, Moralia, 27 f.; gegen Kessler, St., Exeget, 38. Der Herausgeber der Moralia im CCSL, Marcus Adriaen, gibt daher sehr vage die Jahre 600–602 als Zeitpunkt des definitiven Redaktionsschlusses an, vgl. Adriaen, Prolegomena, V. 1188 Dies ist in der Forschung zahlreich benannt worden, vgl. Schambeck, Missio, 15; McGinn, Mystik, 67; Müller, B., Führung, 7.103 f.; Markus, Rector, 137–139; Gillet, Introduction, 10; Fiedrowicz, Kirchenverständnis, 24; Demacopoulos, Gregory’s Model, 211, FN 23.
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Historisierung stillschweigend aufgegeben1189 bzw. durch eine unkritische Geringschätzung der redaktionellen Überarbeitung vorschnell abgetan.1190 Im anderen Extrem wird die Hiobauslegung Gregors gänzlich beiseitegelassen, ohne überhaupt eine Kontextualisierung zu versuchen.1191 Ich werde im Folgenden hingegen grundsätzlich von der vorliegenden Endredaktion des Werkes ausgehen, da der römische Bischof diese letztendlich – unabhängig von den vorangegangenen Redaktionsschritten – als abgeschlossene Einheit veröffentlichte. Insofern ist das frühe Pontifikat der historische Kontext für das Gesamtwerk,1192 selbst wenn einige Passagen zusätzlich auf die Zeit in Konstantinopel verweisen und somit zwei Sitze im Leben aufweisen.1193 Damit soll im vorliegenden Kapitel gezeigt werden, dass weder auf die Untersuchung des größten und auslegungsgeschichtlich bedeutenden Werkes Gregors verzichtet werden muss noch auf die historische Einordnung desselben. Freilich ist an dieser Stelle keine umfassende Analyse möglich. Sie bleibt weiterhin ein dringendes Desiderat. Die folgenden redaktionsgeschichtlichen Beobachtungen, die das Stadium der Selektivität nicht übersteigen, sollen einer solchen vielmehr den Weg bereiten.
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In diese Kategorie ist Mirjam Schambecks moraltheologische Untersuchung, Schambeck, Missio, einzuordnen, vgl. Greschat, Moralia, 6, Anm. 30. Michael Fiedrowicz bietet in ähnlicher Weise eine systematische Gesamtschau der Ekklesiologie bei Gregor, ohne die unterschiedlichen Werke in ihren jeweiligen Kontexten zu betrachten, Fiedrowicz, Kirchenverständnis. 1190 Katharina Greschat fordert dezidiert die Kontextualisierung der Texte, klärt die Redaktionsgeschichte aber nicht wirklich gründlich, sondern erwähnt spätere Nachträge, ohne diese weiter zu beachten, vgl. Greschat, Moralia, 3–6.27 f. Claude Dagens spricht sich mit dem Postulat einer inhaltlichen Stringenz dezidiert gegen jegliche redaktionsgeschichtliche Schichtung der Moralia aus, vgl. Dagens, Culture, 13. 1191 Zuletzt wählte Barbara Müller diesen Weg, welche die Moralia in ihrer Habilitationsschrift nicht eigens berücksichtigte, vgl. Müller, B., Führung, 7. Dies ist besonders zu bedauern, da Gregor sich gerade hier ausführlich zum Themenfeld weltlicher und geistlicher Führung äußert, vgl. z. B. Greg.‑M. Mor. XXIV, 54 f. (CCSL 143B, 1127, 49–1129, 104); XXV, 35–41 (CCSL 143B, 1260, 43–1265, 208). Eine Ausnahme stellt die kurze Studie zum rectorBegriff von Robert Markus dar, der von frühen und späten Schichten spricht und diese separat untersucht, vgl. Markus, Rector. 1192 Vgl. Demacopoulos, Ascetic, 207 N. 58. 1193 Vgl. etwa die Diskussion um den Auferstehungsleib mit Eutychius von Konstantinopel, die deutlich in Gregors Apokrisiariat verweist, vgl. Greg.‑M. Mor. XIV, 72–77 (CCSL 143A, 743, 1–746, 17) und Greschat, Moralia, 149–155; Müller, B., Führung, 79–84; Duval, Yves-Marie, La discussion entre l’aprocrisiaire Grégoire et le patriarche Eutychios au sujet de la résurrection de la chair. L’arrière-plan doctrinal oriental et occidental, in: Fontaine, J. et al. (Hgg.), Grégoire le Grand. Chantilly, Centre culturel Les Fontaines, 15–19 septembre 1982, Colloques Internationaux du CNRS, Paris 1986, 347–366; Kisić, Patria, 233–237.
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5.6.1 Redaktionsgeschichtliche Beobachtungen – ein Vergleich mit den Werken aus der Zeit des Pontifikats Die Moralia in Iob sind durchgehend als literarische Einheit gestaltet,1194 so finden sich Querverweise auf andere Stellen desselben Werkes.1195 Der Vortragscharakter ist nicht erhalten geblieben. In seinen Homiliesammlungen zu den Evangelien bzw. dem Propheten Ezechiel hingegen ist dieser anhand der abschließenden Gebete und Doxologien1196 sowie der Verweise auf den liturgischen Kontext1197 bzw. auf die Fortsetzung der Auslegung am nächsten Tag1198 deutlich zu beobachten. Insofern ist davon auszugehen, dass Gregor das gesamte Werk der Moralia stilistisch grundlegend überarbeitet und umformuliert hat. Darüber hinaus weisen auch Selbstbezeichnungen Gregors als Bischof auf ein späteres Datum hin.1199 Ein erst vor zwanzig Jahren entdecktes Manuskript aus dem 12. Jahrhundert, das unbearbeitete Teile der Hiobauslegung Gregors enthält, beweist für einen kurzen Ausschnitt des Werkes, wie umfangreich der Papst seine Moralia ergänzte.1200 Da die Überarbeitung der Hiobauslegung bis ins Jahr 595 andauerte, fällt sie in dieselbe Zeit wie die übrigen Werke Gregors mit Ausnahme der Expositio in Canticum Canticorum. Daher ist grundsätzlich eine gegenseitige Beeinflussung vorstellbar. Der Vergleich mit diesen Schriften Gregors zeigt in der Tat zahlreiche Parallelen, die z. T. wortgetreue, z. T. lediglich inhaltliche Analogien darstellen. Am eindeutigsten fällt der Vergleich der Moralia mit der Pastoralregel aus. Im zweiten Buch derselben verweist Gregor, der gerade erst ins Papstamt ge1194 Die Stildifferenz im dritten Teil, auf die Gregor selbst mehrfach hinweist, vgl. Greg.‑M. Mor. dedic. 2 (CCSL 143, 3, 84–86); XI, 1 (CCSL 143A, 585, 1–5); XVI, 83 (CCSL 143A, 849, 26–30) beschränkt sich letztendlich auf eine knappere und weniger ausladende Exegese. Merkmale eines Vortrags, wie z. B. die direkte Anrede der Hörer, sind auch hier nicht zu finden. 1195 Vgl. z. B. Greg.‑M. Mor. XIV, 1 (CCSL 143A, 699, 1–5). 1196 Vgl. z. B. Greg.‑M. Hom. eu. I, 17, 18 (CCSL 141, 134, 447–449) und Hom. Ez. I, 1, 19 (CCSL 142, 16, 390–393). 1197 Vgl. z. B. Greg.‑M. Hom. eu. I, 3, 3 (CCSL 141, 21, 26–18); I, 8, 1 (CCSL 141, 54, 1 f.). 1198 Vgl. z. B. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 6, 19 (CCSL 142, 81, 506–508). 1199 „[…] nos episcopi“ Greg.‑M. Mor. XIX, 23 (CCSL 143A, 975, 76) bzw. „nos pastores“ Greg.‑M. Mor. XXII, 53 (CCSL 143A, 1132, 9). Eine ledigliche Umformulierung legt sich an beiden Stellen aus inhaltlichen Gründen nicht nahe, vgl. auch Markus, Rector, 139 f. Anders verhält es sich hingegen mit Greg.‑M. Mor. XXVI, 46 (CCSL 143, 1301, 105–1302, 126), wo sich Gregor zum Kreis der rectores zählt. Die Bezeichnung rector ist semantisch weit und kann sämtliche Verantwortungsträger in Kirche und Gesellschaft umfassen, vgl. Markus, Rector, 138–144; Müller, B., Führung, 123–129 und Kap. 5.2. Interessanterweise übernimmt Gregor diesen Textabschnitt in seiner Pastoralregel, wechselt aber weitgehend von der 1. zur 3. Pers. Pl., vgl. Greg.M. Past. II, 6 (SC 381, 210,118–212, 137). Bruno Judic deutet dies als einen Wechsel „d’un usage réflexif, méditatif, interne du texte à un usage normatif, pratique, externe de ce même texte.“ Judic, Introduction, 20. 1200 Vgl. die Gegenüberstellung des Handschriftentextes und der entsprechenden edierten Moralia-Fassung in Meyvaert, Work, 56–62.
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wählt worden ist, auf seine früheren Ausführungen „in den Moralbüchern“1201. Tatsächlich lassen sich drei Abschnitte aus der Hiobauslegung als Vorlagen für das entsprechende sechste Kapitel finden sowie zahlreiche weitere textliche Parallelen im restlichen Werk beobachten.1202 Besonders für das umfangreiche dritte Buch greift der römische Bischof auf seine Vorarbeiten in den Moralia zurück.1203 Angesichts der sehr kurzen Entstehungsphase der Pastoralregel,1204 der konkreten Präparationen in der Hiobauslegung, auf die er selbst zurückverweist, und der nicht-exegetisch-homiletischen Gattung ist keine wechselseitige Beeinflussung beider Werke anzunehmen. Es ist schwer vorstellbar, dass Gregor in den ersten Amtsmonaten neben der Abfassung der Regula Pastoralis auch noch die Überarbeitung der Moralia in Angriff nahm. Viel wahrscheinlicher ist, dass er anlässlich seines Amtsantrittes seine vorhandenen Ausführungen aus den Hiobvorträgen für die Pastoralregel zusammenstellte und erweiterte, um mit diesem Handbuch das eigene Amtsverständnis festzuhalten. Die Revision der Moralia, sollte er damit bereits begonnen haben, ruhte zu dieser Zeit wahrscheinlich. Der Vergleich der Hiobauslegung mit den Dialogen offenbart zwei umfangreiche, in Teilen wörtliche Textparallelen: die Erörterung über die verschiedenen Ursprünge von Träumen einerseits1205 und die Frage nach der Endlichkeit der Höllenqualen andererseits.1206 Beide Doppelüberlieferungen sind bereits mehrfach beobachtet worden, die bisherige Forschung war dabei übereinstimmend der Überzeugung, dass Gregor die Ausführungen aus den Moralia in die Dialoge einarbeitete.1207 Beide Passagen stechen aber aus ihrem Kontext in der Hiob auslegung heraus, wie selbst von vehementen Verfechtern der Originalität des Werkes beobachtet wird.1208 Ebenso könnte aber eine spätere Einarbeitung der 1201
„[…] in libris moralibus“ Greg.‑M. Past. II, 6 (SC 381, 202,9). Vgl. Greg.‑M. Mor. XX, 14 (CCSL 143A, 1012, 80–101); XXI, 22 f. (CCSL 143A, 1082, 14–39); XXVI, 44–46 (CCSL 143B, 1299, 20- 1302, 129). Bruno Judic listet insgesamt elf textliche Parallelen zwischen den Moralia und der Pastoralregel auf, vgl. Judic, Introduction, 18 f. Auffällig ist zudem die weitgehend wörtliche Parallele zwischen Greg.‑M. Past. II, 10 (SC 381, 238, 3–252,209) und Mor. XXVI, 7–10 (CCSL 143B, 1271, 29–1274, 150), die inhaltlich auch in Greg.‑M. Hom. Ez. I, 12, 20–33 (CCSL 142, 195, 368–203, 653) und I, 11, 9–11 (CCSL 142, 173, 158–174, 220) zu finden ist. Die veränderte Reihenfolge ist durch die kursorische Auslegung der Ezechielhomilien bedingt. 1203 Vgl. Greg.‑M. Mor. XXX, 14 f. (CCSL 143B, 1500, 151–1502, 199). 1204 Gregor verfasste das Werk in den ersten Monaten seines Pontifikats zwischen September 290 und Februar 291, vgl. Judic, Introduction, 22. 1205 Vgl. Greg.‑M. Mor VIII, 42 f. (CCSL 143, 413, 57–415, 113) mit Greg.‑M. Dial. IV, 50, 1–6 (SC 265, 172, 1–176, 45). 1206 Vgl. Greg.‑M. Mor. XXXIV, 35–38 (CCSL 143B, 1758, 16–1760, 91) mit Greg.‑M. Dial. IV, 46, 1–9 (SC 265, 160, 1–166, 73). 1207 Vgl. de Vogüé, Introduction, 30; Clark, Dialogues II, 563–572. 1208 Katharina Greschat bezeichnet die Widerlegung der „Origenisten“ in den Moralia als „exkursartige[n] Auseinandersetzung“, Greschat, Moralia, 210, und selbst Francis Clark, der die Dialoge ohnehin nur als späteres Konglomerat von authentischen Texten Gregors und 1202
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Textabschnitte in dieses opus angenommen werden. Im Folgenden möchte ich eine alternative Sichtweise auf das Verhältnis der beiden Werke aufzeigen, die die allgemein akzeptierte, aber bisher nicht weiter berücksichtigte umfangreiche Überarbeitung der Moralia einbezieht. Im achten Buch der Hiobauslegung sowie im letzten der Dialoge differenziert Gregor sechs Ursachen für Träume: Völlegefühl, Hunger, Illusionen, menschliches Nachdenken in Verbindung mit Illusionen, göttliche Offenbarung und schließlich menschliches Nachdenken in Verbindung mit göttlicher Offenbarung.1209 Die letzten vier Kategorien belegt er mit diversen biblischen Beispielen und warnt vor einem unkritischen, leichtgläubigen Umgang mit Träumen.1210 Im Anschluss werden beide Texte unterschiedlich fortgesetzt: In den Dialogen erklärt Gregor seinem Dialogpartner Petrus, dass die heiligen Männer die verschiedenen Träume dank „einer gewissen inneren Erkenntnis“1211 unterscheiden können und daher der Versuchung widerstehen.1212 In den Moralia hingegen folgt eine Erörterung über die Versuchungen des Teufels, die sich nicht nur auf den Tag, sondern ebenso auf die nächtlichen Träume erstrecken. Damit wird ein zentrales Thema des Werkes, das Wirken des Widersachers,1213 aufgegriffen. Diese Thematik erscheint deutlich komplexer und entwickelter als der Abschluss des Themas in den Dialogen, was auf ein jüngeres Stadium hindeutet. Als Nächstes ist zu fragen, wie die Textpassage in den Kontext eingebunden ist, da Brüche eine spätere Einfügung andeuten können, wohingegen enge Verzahnungen Ursprünglichkeit vermuten lassen. Die Erörterung der unterschiedlichen Träume unterbricht die Auslegung von Hi 7,13 f.,1214 die im Anschluss erneut aufgenommen und rekapituliert wird.1215 Mit dieser ist sie nur lose über die Stichworte per somnia et per uisiones des biblischen Textes verknüpft. Die Originalität des Kontextes ist demnach nicht zwingend. Ergänzungen des sogenannten „Dialogisten“ betrachtet, beschreibt „the character of a selfcontained appendix“ in den Moralia, Clark, Dialogues II, 571. Tatsächlich geht er davon aus, dass Gregor unabhängig von der Hiobauslegung und natürlich den Dialogen eine eigenständige oder in einem unbekannten Kontext eingebundene Erörterung über Träume verfasst und diese in Ausschnitten in die Moralia eingearbeitet habe. Dem Dialogisten lagen dann sowohl das Großwerk als auch das vollständige Traktat vor, vgl. Clark, Dialogues II, 571 f. 1209 Vgl. Greg.‑M. Mor. VIII, 42 (CCSL 143, 413, 59–62) sowie Dial, IV, 50, 2 (SC 265, 172, 3–10). 1210 Vgl. Greg.‑M. Mor. VIII, 42 f. (CCSL 143, 413, 65–414, 88) und Dial. IV, 50, 3–6 (SC 265, 172, 11–174, 38). Das Zitat von Sir 34, 7 entspricht lediglich in den Dialogen der Vulgata, die Formulierung der Moralia ist freier. Auf diesen Umstand wird später noch eingegangen werden. 1211 „[…] quodam intimo sapore“ Greg.‑M. Dial. IV, 50, 6 (SC 265, 40). 1212 Vgl. Greg.‑M. Dial. IV, 50, 6 (SC 265, 174, 38–176, 45). 1213 Vgl. Kap. 5.6.3.1.2. 1214 Vgl. Greg.‑M. Mor. VIII, 41 (CCSL 143, 411, 1–413,56). 1215 Vgl. Greg.‑M. Mor. VIII, 43 (CCSL 143, 414, 101–415, 113).
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Im vorletzten Buch der Moralia widerlegt Gregor die Behauptung, die Höllenqualen könnten zu einem Ende kommen, dieselbe Diskussion findet sich in fast buchstäblicher Entsprechung im 46. Kapitel des vierten Buches der Dialoge. Beide Texte basieren in weiten Teilen auf der Darstellung und Widerlegung jener Position durch Augustin.1216 Seinen Ausgang nimmt der Abschnitt in den Moralia in der Auslegung von Hi 41,23. Gregor deutet diesen Vers dahingehend, dass der Leviathan den Verworfenen die Endlichkeit der Hölle einflüstert. Anschließend diskutiert der Exeget die Möglichkeit nichtewiger Höllenstrafen in dialogischer Form und schließt mit dem Hinweis, dies diene zur Widerlegung der „Origenisten“.1217 Es ist unklar, wen Gregor damit bezeichnet.1218 Der Begriff begegnet in seinem gesamten Œuvre kein weiteres Mal. Zwar stellt Konstantinopel, wo die origenistische Lehre erst 543 durch Justinian verurteilt worden war,1219 eine naheliegende Verbindung dar, ist aber keinesfalls notwendig, da das entsprechende Bindeglied zu Origenes und seinen Schülern bereits von Augustin genannt wird.1220 Damit verweist die Nennung der „Origenisten“ nicht zwangsläufig in die Zeit Gregors am Kaiserhof. Gerade durch den dialogischen Stil fällt der gesamte Abschnitt in den Moralia aus dem Rahmen. Diese Form begegnet kein weiteres Mal in dieser Schrift. Deutlich adäquater erscheint sie hingegen im anderen Werk, das seinem Namen entsprechend durchgängig als Gespräch gestaltet ist. Dort ist die Thematik besser eingebettet, da sich das gesamte vierte Buch der Dialoge, das den historischen Kern des Werkes darstellt,1221 mit der Eschatologie auseinandersetzt. Zusammenfassend sind folgende Beobachtungen festzuhalten: Beide Textpassagen fügen sich formal und thematisch gut in den Kontext der Dialoge ein und sind mit dessen ursprünglicher Themensetzung und Planung eng verbunden. Insofern ist hier nicht von einer sekundären Einarbeitung auszugehen, zumal – im Gegensatz zu den Moralia in Iob – keine umfangreiche redaktionelle Überarbeitung dieses Werkes bekannt ist. Demgegenüber ist die Einbettung beider Abschnitte in die Hiobauslegung nicht zwangsläufig originär, der Exkurscharakter fällt an beiden Stellen deutlich ins Auge. Insofern ist es wahrscheinlicher, dass Gregor diese Passagen in die Rohfassung der Moralia einarbeitete, als er die Dialoge verfasste. Den Anlass dafür boten die thematische Nähe sowie die semantischen Stichwortverknüpfungen. 1216
Vgl. Aug. ciu. 21, 18 (CCSL 48, 784, 1–785, 69); 21, 24 (CCSL 48, 790, 43–47). „[…] Origenistas“ Greg.‑M. Mor XXXIV, 38 (CCSL 143B, 1760, 92–1761, 93). 1218 Nach Katharina Greschat legt es Gregor ohnehin nicht auf eine dogmatische Diskussion mit konkreten Personen und Gruppierungen an, vgl. Greschat, Moralia, 207 f. Damit kann die nachklappende Bezeichnung auch lediglich eine beiläufige, oberflächliche Identifikation darstellen. 1219 Vgl. Greschat, Moralia, 208. 1220 Vgl. Aug. ciu. 21, 17 (CCSL 48, 783, 7–10). 1221 Vgl. de Vogüé, Introduction, 53 f. und Müller, B., Führung, 227 f. 1217
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Allerdings diente kein fertig abgeschlossener Text als Vorlage für das Insert. Die Parallelen wurden vielmehr zur gleichen Zeit formuliert: einmal im Rahmen des neuen Buchprojektes und einmal im Zuge der Revision der Hiobvorträge. Zuletzt ist noch eine Auffälligkeit in die These zu integrieren: In beiden Textpassagen der Moralia entspricht, anders als in den Dialogen, jeweils ein Bibelzitat nicht der Lesart der Vulgata.1222 Adalbert de Vogüé versteht diese Beobachtung als Beweis für die Sekundarität der Dialoge.1223 Gregor hätte demnach die Bibelzitate bei der Einfügung des vorhandenen Textes aus den Moralia in die Dialoge überprüft und korrigiert. Ebenso denkbar ist es aber auch, dass Gregor zum Abschluss der Dialoge diese noch einmal durchsah und alle biblischen Zitate an den Text der Vulgata anglich. Diesen Aufwand betrieb er hingegen für sein opus magnum nicht, zumal er im Widmungsbrief die Verwendung verschiedener Schriftversionen ankündigt.1224 Die spannendste Relation besteht indes zwischen Gregors Hiob- und seiner Ezechielauslegung. Schon bei einer oberflächlichen Lektüre fallen zahlreiche thematische Kohärenzen ins Auge. So finden sich in den Moralia durchgängig Aussagen zum Verhältnis der zuvorkommenden Gnade Gottes und des darauf reagierenden freien Willens des Menschen.1225 Diesen augustinischen Topos rezipiert der Papst auch in den Ezechielhomilien im Rahmen der neunten Ezechielhomilie und richtet sich damit gegen Pelagius und Coelestius.1226 Außerdem bietet Gregor in beiden Werken eine ausführliche, wenn auch über verschiedene Textabschnitte verteilte Kontemplationslehre.1227 Die grundlegende mystische Erkenntnis, dass jedes kontemplative Erleben der Schau Gottes nur von kurzer Dauer ist und dann zur actio zurückkehrt, begegnet in beiden Texten1228 ebenso wie die Überzeugung, dass der contemplatio stets die 1222 Sir 34,7 wird in Greg.‑M. Dial. IV, 50, 3 (SC 265, 174, 13 f.) wortgetreu wiedergegeben mit „Multos enim errare fecerunt somnia, et exciderunt sperantes in illis.“, Greg.‑M. M. Mor. VIII, 42 (CCSL 143, 413, 67) formuliert hingegen „Multos errare fecerunt somnia et illusiones uanae.“ Greg.‑M. Dial. IV, 46, 7 (SC 265, 164, 51–53) übernimmt 2 Tim 2,25 f. exakt mit „Vt det illis Deus paenitentiam ad cognoscendam ueritatem et resipiscant a diaboli laqueis, a quo capti tenentur ad ipsius uoluntatem?“ Mor. XXXIV, 38 (CCSL 143B, 1760, 72–74) lässt ad cognoscendam ueritatem aus. Diese Lesart ist auch von Augustin bezeugt und kann so nachvollzogen werden, vgl. Aug. ciu. 21, 24 (CCSL 48, 789, 27–29). 1223 Vgl. Greg.‑M. Dial. IV, 46, 7 (SC 265, 165, FN 7). 1224 Vgl. Greg.‑M. Mor. dedic. 5 (CCSL 143, 7, 225–229). Lohnenswert wäre eine Untersuchung dazu, wie wortgetreu Gregor die Schrift in seinen unterschiedlichen Werken zitiert. 1225 Vgl. u. a. Greg.‑M. Mor. XVI, 30 (CCSL 143A, 815, 1–816, 42); XVII, 22 (CCSL 143A, 864, 14–865, 28); XXIV, 24 (CCSL 143B, 1204, 1–10); XXXIII, 40 (CCSL 143B, 1710, 49–56) und Kap. 5.6.3.1.1. 1226 Vgl. dazu Kap. 5.5.2.2. 1227 Eine detaillierte Darstellung in Bezug auf die Moralia bietet Mirjam Schambeck, vgl. Schambeck, Missio, 232–447. Zur contemplatio in den Ezechielhomilien vgl. Kap. 5.5.3.1. 1228 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 5, 12 (CCSL 142, 62, 195–63, 208); II, 2, 7 (CCSL 142, 229, 165–230, 186); II, 2, 12 (CCSL 142, 232, 270–291) und Greg.‑M. Mor. VI, 60 (CCSL 143, 330,
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actio vorangehen muss.1229 Auch die Vorstellung der unterschiedlichen Tugendbegabungen der Menschen und der reziproken Partizipation an denselben findet sich hier wie dort.1230 Auffälligerweise sind diese Aussagen jeweils mit Ez 3,12 f. verbunden. Darüber hinaus lassen sich besonders prägnante Deutungen einzelner Ezechielverse beobachten, die in beiden Werken eine analoge Auslegung erfahren: Die Länge des Messrohrs in Ez 40,5 von sechs Ellen und einer Handbreit wird als Symbol für die vollkommene actio und die diesseits nur unvollkommen gewährte contemplatio verstanden.1231 Der traditionellen Deutung der biblischen Schwestern Maria und Martha als Typoi für die zwei Lebensweisen1232 stellen Augustin und ihm folgend Gregor die beiden Ehefrauen Jakobs, Lea und Rachel, an die Seite.1233 Zusätzlich verknüpft der römische Bischof damit die menschlichen Hände unter den Flügelpaaren der himmlischen Wesen, die in Ez 1,8 bzw. 10,8 beschrieben sind.1234 Obwohl die Deutung der Flügel als menschliche Tugenden ebenfalls der Tradition entnommen ist,1235 ist die Verbindung der drei Perikopen unter der Thematik der aktiven bzw. kontemplativen Lebensweise originär Gregor zuzuschreiben. Diese auffälligen Exegesen und Verknüpfungen biblischer Texte müssen nicht zwangsläufig auf ein enges literarisches Verhältnis hindeuten. Eine naheliegende Erklärung wäre die Verwendung eines „exegetischen Karteikastens“, in dem Gregor Auslegungen und Assoziationen zu biblischen Texten vermerkt hat und bei Bedarf erneut darauf zurückgreifen konnte. Bemerkenswerterweise widmen sich alle genannten Stellen dem Verhältnis von vita activa und vita contemplativa bzw. dem Ideal der vita mixta. Insofern könnte auch eine thematisch sortierte Kartei angenommen werden.1236 172–175); X, 31 (CCSL 143, 559, 123–140); XXX, 8 (CCSL 143B, 1495, 53–1496, 94); XXX, 53 (CCSL 143B, 1527, 18–1528, 46); XXXI, 49 (CCSL 143B, 1584, 71–1585, 93). 1229 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 3, 9 (CCSL 142, 37, 145–148) und Greg.‑M. Mor. VI, 60 f. (CCSL 143, 329, 160–331, 215). 1230 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 10, 31–36 (CCSL 142, 159, 529–162, 666) und Greg.‑M. Mor XXIV, 19 (CCSL 143B, 1201, 127–1202, 168). 1231 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. II, 2, 7–11 (CCSL 142, 229, 165–232, 269) und Greg.‑M. Mor. XXX, 53 (CCSL 143B, 1527, 32–1528, 46). 1232 Zur spätantiken Auslegungsgeschichte von Lk 10,38–42 vgl. Csányi, Pars; Bovon, Evangelium, 112–114 und Kemmer, Maria. 1233 Vgl. Aug. Contra Faustum 22, 52–54 (CSEL 25, 645, 11–650, 8) und Greg.‑M. Hom. Ez. II, 2, 10 (CCSL 142, 231, 233–232, 259) und Greg.‑M. Mor. VI, 61 (CCSL 143, 330, 176–190). 1234 Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 3, 7–10 (CCSL 142, 36, 125–39, 189) und Greg.‑M. Mor. VI, 61 (CCSL 143, 331, 206–215). 1235 Vgl. Ambr. Abr. 2, 8, 53 f. (CSEL 32, 1, 606 f.) und Kap. 5.5.1.3. 1236 Eine weitere, inhaltlich sehr nahe Entsprechung findet sich in der Überlegung, weshalb die Gabe der Predigt gewährt oder vorenthalten wird, die Ez 3,26 u. a. mit Mt 23,3 und 1 Sam 3,13 verbindet, vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 12, 16 (CCSL 142, 191, 244–192, 276) und Greg.‑M. Mor. XXX, 82 f. (CCSL 143B, 1547, 26–1548, 63).
5.6 Die Moralia in Iob – Dem Nächsten nutzen mit Herz und Hand
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Diese inhaltlichen und exegetischen Parallelen zwischen den Ezechielhomilien und den Moralia in Iob deuten darauf hin, dass die Abfassung bzw. Revision der beiden Werke in zeitlicher Nähe geschehen sein muss. Eine direkte literarische Abhängigkeit im Sinne einer Einfügung eines Textabschnittes aus dem einen Werk in das andere, habe ich nicht belegen können.1237 Aber gerade die nicht wörtlichen Entsprechungen zeugen von einem zeitnahen „gedanklichen Wiederkäuen“ derselben Themen in zwei unterschiedlichen literarischen Kontexten. Mit größeren zeitlichen Abständen hätte der Papst wohl eher auf wörtliche Exzerpte zurückgegriffen, anstatt die Gedanken aus dem Gedächtnis niederzuschreiben. Insbesondere die Begründung und Stärkung der vita activa nehmen die Schwierigkeiten Gregors in seinen ersten Amtsjahren auf und führen sie zu der Synthese einer vita mixta.1238 Die thematische Verwandtschaft mit den Ezechielhomilien sowie die eindeutigen Parallelen zu den Dialogen sind starke Argumente für eine zeitliche Nähe dieser Werke zu der ausführlichen Überarbeitung der Moralia. Diese war demnach nicht schon 590/591 abgeschlossen, sondern dauerte mindestens bis zum Winter 593/594 an. Das erklärt ebenso, warum Leander von Sevilla das ersehnte Werk erst im Jahr 595 erhielt.
5.6.2 Formen tätiger Nächstenliebe In den Moralia in Iob werden durch den exegetischen Charakter des Werkes – ähnlich wie im Hoheliedkommentar und den Ezechielhomilien – weniger die konkreten Formen der tätigen Nächstenliebe beschrieben. Nicht das wie der Liebeswerke nimmt Gregor in den Fokus, sondern das dass ihres Vollzugs. Mit seiner geistlich-moralischen Auslegung will er seine Leser zu einer christlich geprägten Lebensführung motivieren, die sich aus dem eigenen, spirituellen Fortschritt heraus unverzichtbar dem Nächsten zuwendet. Insofern betont er regelmäßig die Notwendigkeit guter Werke,1239 die Gott in seinem Richten minutiös prüft.1240 Die Gläubigen sollten demnach darauf achten, zahlreiche gute Taten zu üben und diese auch stets selbst kritisch zu hinterfragen, damit sich keine hochmütige Intention dahinter verberge.1241 1237 Dies halte ich im Rahmen einer ausführlichen und demnach gründlicheren Untersuchung aber durchaus für möglich. 1238 Vgl. dazu Müller, B., Führung, 311. 1239 Vgl. Greg.‑M. Mor. VIII, 66 (CCSL 143, 432, 5–7); XXI, 33 (CCSL 143A, 1089, 2–8). 1240 Vgl. Greg.‑M. Mor. VIII, 32 (CCSL 143, 404, 12–405, 31). Dabei können die Menschen durchaus auf himmlische Zeugen hoffen. Insbesondere die Armen, denen Almosen gewährt wurde, treten als Patrone der Wohltäter auf, vgl. Greg.‑M. Mor. XIII, 28 (CCSL 143A, 684, 40– 685, 47); XXI, 30 (CCSL 143A, 1086, 36–1087, 52) sowie Greg.‑M. Hom. eu. II, 40, 10 (CCSL 141, 406, 329–407,356). 1241 Vgl. Greg.‑M. Mor. I, 55 (CCSL 143, 56, 123–57, 167); IX, 53 (CCSL 143, 494, 33–495, 68). Zur besonderen Rolle der Intention bei Gregor vgl. Kap. 5.3.3.2, 5.5.2.3 und 5.6.4. Deutlich
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5 Das Ideal der tätigen Nächstenliebe im literarischen Werk Gregors
Grundsätzlich ist das Gute zu tun und zugleich das Schlechte zu unterlassen. Als uneingeschränktes Vorbild kann hierfür Hiob dienen: „Denn er ist gerecht in seinen Taten, liebevoll1242 bei den Schwächen der Nächsten, tatkräftig in den Bedürfnissen der Armen.“1243 Die gebotene Nächstenliebe ist umgrenzt durch die beiden Fassungen der Goldenen Regel, die Gregor in den Moralia gleich mehrfach als Maßstab anführt.1244 Von dieser Basis ausgehend „erstreckt sich das Herz zu unzähligen Diensten der Tugenden.“1245 Exemplarisch benennt Gregor Konkretionen der Nächstenliebe, ohne die summarische Aufzählungen genauer zu erläutern.1246 Genannt werden dabei vornehmlich die klassischen Formen wie das Almosen,1247 die Speisung und Bekleidung der Armen,1248 die Hilfe für Schwache, Witwen und Waisen,1249 die Gastfreundschaft,1250 die Feindesliebe,1251 der Einsatz für Frieden,1252 aber auch das Fürbittgebet für den Nächsten.1253
liegen hier augustinische Ideen zugrunde, vgl. dazu Alici, Intentio, 664, aber auch Vorstellungen der Wüstenasketen, vgl. Kap. 5.5.3.2. 1242 Zur Semantik von pius/pietas bei Gregor s. Kap. 5.6.5. 1243 „Iustus quippe est in actionibus suis, pius in infirmitatibus proximorum, strenuus in negotiis pauperum.“ Greg.‑M. Mor. XIX, 42 (CCSL 143A, 990, 4–6). 1244 Vgl. Greg.‑M. Mor. VI, 54 (CCSL 143, 323, 16–19); X, 8 (CCSL 143, 539, 61–540, 70); XIX, 35 (CCSL 143A, 984, 8–12), zur Goldenen Regel vgl. Theissen, Gerd, Gesetz und Goldene Regel. Die Ethik des Matthäusevangeliums zwischen Regel- und Empathieorientierung, in: Lampe, P. (Hg.), Neutestamentliche Exegese im Dialog. Hermeneutik, Wirkungsgeschichte, Matthäusevangelium. Festschrift Ulrich Luz, Neukirchen-Vluyn 2008, 237–254. 1245 „[…] cor ad innumera uirtutum ministeria tenditur“ Greg.‑M. Mor. X, 8 (CCSL 143, 540, 71 f.). 1246 Vgl. Greg.‑M. Mor. X, 8 (CCSL 143, 540, 74–541, 113). Mitunter lässt sich Gregor vom biblischen Text zur Nennung konkreter Werke der Nächstenliebe anregen, z. B. durch Hi 29,12 f., vgl. Greg.‑M. Mor. XIX, 29 (CCSL 143A, 980, 4–7). 1247 Vgl. Greg.‑M. Mor. praef. 7 (CCSL 143, 13, 11–13); I, 5 (CCSL 143, 27, 7 f.); VIII, 68 (CCSL 143, 434, 74–76); VIII, 84 (CCSL 143, 449, 134); X, 8 (CCSL 143, 540, 91); XII, 57 (CCSL 143A, 2 f.); XVI, 50 (CCSL 143A, 828, 17 f.); XVIII, 69 (CCSL 143A, 935, 70 f.); XIX, 33 (CCSL 143A, 983, 33–35); XX, 68 (CCSL 143A, 1053, 2–6); XXI, 30 (CCSL 143A, 1087, 63 f.); XXII, 28 (CCSL 143A, 1112, 21–23); XXVII, 72 (CCSL 143B, 1387, 15–17); XXXIV, 29 (CCSL 143B, 1755, 100–102). 1248 Vgl. Greg.‑M. Mor. XIV, 56 (CCSL 143A, 731, 6 f.). 1249 Vgl. Greg.‑M. Mor. XVII, 26 (CCSL 143A, 866, 3 f.); XIX, 29 (CCSL 143A, 980, 4–6). 1250 Vgl. Greg.‑M. Mor. praef. 7 (CCSL 143, 12, 5–13, 7); IX, 52 (CCSL 143, 493, 20 f.); XVI, 50 (CCSL 143A, 828, 17); XXII, 27 (CCSL 143A, 1112, 5–9). 1251 Vgl. Greg.‑M. Mor. VII, 54 (CCSL 143, 374, 94–376, 141); IX, 24 (CCSL 143, 474, 63–475, 92); XI, 15 (CCSL 143A, 594, 39–41); XVI, 50 (CCSL 143A, 828, 18 f.); XXII, 22 (CCSL 143A, 1108, 3–1109, 20). 1252 Vgl. Greg.‑M. Mor. X, 8 (CCSL 143, 540, 89–91). 1253 Vgl. Greg.‑M. Mor. IX, 24 (CCSL 143, 474, 63–475, 92); X, 40 (CCSL 143, 565, 5); XXIII, 8 (CCSL 143B, 1149, 235); XXXV, 21 (CCSL 143B, 1787, 1–6). Gregor begründet die Fürbitte als Werk der Nächstenliebe auch damit, dass sie die Gebete für den Beter selbst verstärkt, vgl. Greg.‑M. Mor. XXXV, 21 (CCSL 143B, 1787, 6–18), vgl. Catry, L’amour, 303. S. auch Kap. 5.6.2.2.
5.6 Die Moralia in Iob – Dem Nächsten nutzen mit Herz und Hand
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Das Almosen war sicherlich die üblichste Form der tätigen Nächstenliebe im Rom des 6. Jahrhunderts.1254 Dementsprechend fordert Gregor seine Leser gezielt zu diesem Werk auf und begründet es nachdrücklich: Angesichts der Endlichkeit alles Irdischen ist auch materieller Besitz nicht von Dauer und geht zwangsläufig verloren. Gewinn bringt er hingegen nur, wenn er großzügig verteilt wird und so himmlische Schätze erwirkt.1255 Zudem stellt das Almosen nicht nur für den Armen eine Hilfe dar, sondern auch für den Wohltäter, der so von der Last des Reichtums befreit wird.1256 Allerdings betont der römische Bischof, dass sich die Gläubigen nicht allein auf die finanzielle Unterstützung Bedürftiger beschränken dürfen. Vielmehr fordert er seine Leser auf, sich dem einzelnen Menschen auch emotional zuzuwenden. Anstelle einer distanzierten Spende sollte idealerweise eine gemeinsame Mahlzeit, ja ein gemeinsames Leben stehen.1257 Gregor zielt auf die Einheit seiner Kirche und Stadt ab: Die Gemeindeglieder aus den unterschiedlichen Gesellschaftsschichten sollen miteinander in Kontakt treten und sich auf Augenhöhe begegnen.1258 Die jeweiligen Bedürfnisse müssen wahrgenommen und eingeschätzt werden. Die Wohltäter sollen einerseits den Nächsten in seiner Not nicht warten lassen,1259 andererseits reicht es, das Nötigste zu schenken und nicht auch das Ersehnte.1260 Auf diese Weise soll die Habgier des Armen bekämpft werden. Die Voraussetzung jeder guten Begegnung stellen dabei Demut und der gegenseitige Respekt dar. Ebenso, wie der Arme nicht hochmütig Güter einfordern darf, muss der Wohltäter sich vor Überheblichkeit hüten, um den Bedürftigen nicht zu verachten.1261
1254
Vgl. Kap. 5.3.1.2. Greg.‑M. Mor. XVIII, 28 (CCSL 143A, 902, 2–903, 18); vgl. auch Cypr. Eleem. 9 (CCSL 3A, 60, 173–61, 201). 1256 Vgl. Greg.‑M. Mor. XXII, 5 (CCSL 143A, 1095,1–15), vgl. ebenso Greg.‑M. Past. III, 26 (SC 382, 442, 55–58); Greg.‑M. Hom. eu. II, 37, 1 (CCSL 141, 348, 3 f.), sowie Kap. 5.3.1.2 und 5.3.2.2. Zur ambivalenten Bewertung des Reichtums in der Spätantike vgl. Ulrich, Jörg, Clemens Alexandrinus’ „Quis dives salvetur“ als Paradigma für die Beurteilung von Reichtum und Geld in der Alten Kirche, JBTh 21 (2006), 213–238 und Brown, Peter, Augustine and a crisis of wealth in late Antiquity, AugStud 36 (2005), 5–30. 1257 Vgl. Greg.‑M. Mor. XXI, 27.33 (CCSL 143A, 1084, 1–1085, 10. 1089, 2–33). 1258 Vgl. Kap. 5.6.2.2 und 5.6.3.3. 1259 Vgl. Greg.‑M. Mor. XXI, 26 (CCSL 143A, 1084, 23–33). 1260 Vgl. Greg.‑M. Mor. XXI, 25 (CCSL 143A, 1083, 2–1084, 22). Eine ähnliche Aussage vermitteln zwei Geschichten von dem Abt Isaak: Er wird von ‚falschen Armen‘ um Kleiderspenden gebeten, die ihre eigenen Kleider vorher versteckt haben. Durch seine prophetische Begabung weiß er davon, lässt die verborgene Kleidung holen und sie den Lügnern als Spende aushändigen. Ein anderes Mal veruntreute ein Knecht einen Teil einer Nahrungsspende. Isaak warnte den untreuen Diener vor der Schlange, die in den verborgenen Korb gekrochen war, vgl. Greg.‑M. Dial. III, 14, 8 f. (SC 260, 308, 84–310, 114), vgl. auch Catry, L’amour, 322. 1261 Vgl. Greg.‑M. Mor. XXI, 29 f. (CCSL 143A, 1085, 4–1087, 72). 1255 Vgl.
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5 Das Ideal der tätigen Nächstenliebe im literarischen Werk Gregors
Gregor nimmt, wie vor ihm bereits Augustin getan hat,1262 ebenso die Besitzlosen in die Pflicht. Sie können durch geistliche Taten ohne eigenen Reichtum Werke der Nächstenliebe vollbringen. Dementsprechend stellt Gregor die Vergebung über die materielle Spende: „Unser Geben erstreckt sich nämlich auf die Dinge, die wir äußerlich besitzen, das Vergeben aber auf das Nachlassen des Schmerzes, den wir innerlich wegen fremder Schuld empfinden. Aber man muss wissen, dass wer vergibt und nicht gibt, dennoch den besseren Teil der Barmherzigkeit bewahrt, obgleich er nicht vollkommen handelt. Wer aber gibt und keinesfalls vergibt, übt überhaupt keine Barmherzigkeit, weil vom allmächtigen Gott die Gabe aus der Hand nicht angenommen wird, die durch ein in Bosheit gebundenes Herz dargebracht wird.“1263 Dem rein materiellen Almosen wird der Geist des Gebens übergeordnet.1264 Keinesfalls lässt sich aber in diesen Aussagen eine Spiritualisierung der Nächstenliebe ablesen. Gregor erklärt nicht die Irrelevanz der eigentlichen Tat, sondern fordert eine mitfühlende Gemeinschaft zwischen Geber und Empfänger ein, die sich in materieller Teilhabe konkretisiert.1265 Über die klassische Almosengabe und die anderen genannten Werke hinaus lassen sich zwei Arbeitsfelder identifizieren, die in den Moralia in Iob einen herausgehobenen Stellenwert einnehmen und von Gregor dezidiert mit dem Gebot der Nächstenliebe verbunden werden: Die correctio des Glaubens und Lebens des Nächsten sowie die affektive compassio.
5.6.2.1 Die Sorge um den Glauben und die Lebensweise des Nächsten Gregor betont den engen Zusammenhang zwischen dem tatsächlich geübten Werk, das er als unumgänglich und heilsnotwendig betrachtet, und dem Glauben. Die Werke zeigen den Glauben und den Wert einer Seele.1266 Insbesondere die Nächstenliebe dient als Beweis der Heiligkeit und unterscheidet die Kirche von den Häretikern.1267 Der rechte Glaube manifestiert sich zwangsläufig in geübten Werken1268 und wird diesen gar explizit untergeordnet, da mangelnde 1262 Vgl. Fitzgerald, Almsgiving, 446; Kessler, A., Eleemosyna, 762 f.; Müller, A., Caritas, 21 und Kap. 4.4. 1263 „Dare namque nostrum ad res pertinet quas exterius habemus, dimittere autem ad relaxandum dolorem quem interius ex aliena culpa contraximus. Sed sciendum est quia qui dimittit et non dat, etsi non plene operatus est, meliorem tamen partem misericordiae tenuit. Qui autem dat et minime dimittit, omnino misericordiam nullam facit, quia ab omnipotente Deo munus ex manu non accipitur, quod corde obligato in malitia profertur.“ Greg.‑M. Mor. XXII, 27 (CCSL 143A, 1112, 13–20). 1264 Vgl. Greg.‑M. Mor. XXII, 28 (CCSL 143A, 21–1113, 44). 1265 Vgl. Greg.‑M. Mor. XX, 69 (CCSL 143A, 1054, 16–1055, 47). Zur compassio als Werk s. Kap. 5.6.2.2. 1266 Vgl. Greg.‑M. Mor. XX, 43 (CCSL 143A, 1034,1–1035, 44). 1267 Vgl. Greg.‑M. Mor. XX, 17 (CCSL 143A, 1015, 2–1016, 41); XXII, 22 (CCSL 143A, 1108, 3–8). 1268 Vgl. Greg.‑M. Mor. I, 36 (CCSL 143, 44, 2–45, 11); VI, 12 (CCSL 143, 290, 1–291, 18); XIV, 9 (CCSL 143A, 703, 32–34); XVIII, 12 (CCSL 143A, 892, 2–25).
5.6 Die Moralia in Iob – Dem Nächsten nutzen mit Herz und Hand
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Erkenntnis in himmlischen Dingen durch die praktizierte Nächstenliebe kompensiert werden kann,1269 ohne sie aber verloren geht.1270 Die Sorge für den rechten Glauben und eine christliche Lebensweise obliegt vor allem den Bischöfen. Diese stehen damit auch in den Moralia in Iob im Fokus.1271 Demzufolge werden darin ähnlich wie in der Pastoralregel1272 pastorale Aufgaben in den Blick genommen wie die Predigt bzw. Lehre,1273 Ratschläge und Ermahnung von Sündern1274 und schließlich allgemein die Fürsorge für die Untergebenen.1275 Die kirchliche Verantwortung, zumindest in Zeiten des Friedens ohne Verfolgungen des Christentums, teilt Gregor in den Bereich äußerer Dinge und die Sorge für die Seelen auf.1276 Obwohl die „Verwaltung irdischer Angelegenheiten“1277 schwieriger und mit größeren Gefahren für die Geistlichen verbunden ist,1278 gewährt er dennoch der Predigt deutlichen Vorrang. Diese darf keinesfalls unter den weltlichen Aufgaben leiden, sie stellt die eigentliche Pflicht dar.1279 Er charakterisiert die Verkündigung als Dienst am Nächsten, dem sie sich zuwendet und dessen Nutzen sie intendiert.1280 Ihn soll sie von schlechten Taten abhalten und zu guten Werken sowie der Sehnsucht nach Gott anleiten.1281 1269
Vgl. Greg.‑M. Mor. VI, 12 (CCSL 143, 291, 1–292, 33). Vgl. Greg.‑M. Mor. XV, 17 (CCSL 143A, 757, 2–758, 19). 1271 Entsprechend hat Gregor auch vor allem episkopale Adressaten im Blick: In einem Brief an den Ravennater Subdiakon Johannes kritisiert er im Jahr 602, dass der dortige Bischof Maximianus die Moralia öffentlich in den Vigilien verlesen ließ. Dies bittet er zu unterlassen, „weil jenes Werk nicht für das Volk bestimmt ist und den ungebildeten Zuhörern mehr Hindernis als Fortschritt schafft.“ (quia non est illud opus populare et rudibus auditoribus impedimentum magis quam prouectum generat.) Greg.‑M. Ep. XII, 6 (CCSL 140A, 975, 48 f.), vgl. auch Greg.‑M. Ep. X, 16 (CCSL 140A, 845, 26–32) und Greschat, Moralia, 28–30, die die kirchlichen rectores und praedicatores als Zielgruppe ausmacht. 1272 Vgl. Kap. 5.2. 1273 Vgl. Greg.‑M. Mor. II, 72 (CCSL 143, 102, 40–42); IV, 62 (CCSL 143, 206, 39–42); V, 31 (CCSL 143, 239, 3–19); VI, 55 f. (CCSL 143, 324, 2–326, 55); VIII, 7 (CCSL 143, 385, 22–32); VIII, 84 (CCSL 143, 449, 135 f.); IX, 8 (CCSL 143, 460, 2–461, 31); IX, 37 (CCSL 143, 481, 2–482, 25); XI, 22 (CCSL 143A, 598, 2–16); XIII, 1 (CCSL 143A, 669, 7 f.); XVIII, 55 (CCSL 143A, 922, 9–11); XVIII, 69 (CCSL 143A, 935, 69–71). 1274 Vgl. Greg.‑M. Mor. VII, 56 (CCSL 143, 377, 2–23); X, 8 (CCSL 143, 540, 91 f.); X, 12 (CCSL 143, 544, 9–545, 48); XVII, 28 (CCSL 143A, 867, 2–4); XIX, 31 (CCSL 143A, 981,42–982, 70); XXXI, 24 f. (CCSL 143B, 1567, 69–1568,113). Zur Buße selbst soll die Kirche den Sünder anleiten, vgl. Greg.‑M. Mor. XIII, 22 (CCSL 143A, 681,7–12). 1275 Vgl. Greg.‑M. Mor. VIII, 72 (CCSL 143, 438, 14–19); XIII, 24 (CCSL 143A, 682, 1–8); XXXI, 80 (CCSL 143B, 1605, 2–1606, 31). 1276 Vgl. Greg.‑M. Mor. XIII, 46 (CCSL 143A, 693, 10–12). 1277 „[…] terrenorum rerum dispensationes“ Greg.‑M. Mor. XIII, 46 (CCSL 143A, 693, 12). 1278 Vgl. Greg.‑M. Mor. XIII, 46 (CCSL 143A, 693, 12–25). 1279 Vgl. Greg.‑M. Mor. XXV, 31 (CCSL 143B, 1256, 9–18). Gregor versteht die Prediger als Säulen des Himmels, vgl. Greg.‑M. Mor. XVII, 42 (CCSL 143A, 875, 2–12). 1280 Vgl. Greg.‑M. Mor. XX, 79 (CCSL 143A, 1061, 31–33); XXI, 15 (CCSL 143A, 1076, 2–14); XXXIII, 8 (CCSL 143B, 1149, 243–249). Zur Rolle des Nutzens für den Nächsten als Movens der Werke s. Kap. 5.6.4. 1270
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Wie bereits in den Ezechielhomilien1282 legt Gregor seiner Homiletik die Pädagogik der Erfahrung zugrunde: Geistlich-spirituelle Inhalte werden durch Fortgeschrittene gelehrt, die den Mitmenschen ihre eigenen Einsichten vermitteln.1283 Die Aufgabe der Verkündigung gelangt erst im Jüngsten Gericht zu einem Ende, wenn die Schau und das Urteil Gottes unmittelbar sein wird.1284 In diesem Leben aber ist sie wichtiger gar als die Bestattung, da diese lediglich den toten und vergänglichen Leib versorgt, jene aber die Seele zum ewigen Leben führt.1285 Damit verdeutlicht Gregor, dass er die spätantike Hochschätzung des Totendienstes durchaus anerkennt und teilt, aber dennoch die eschatologischspirituelle Perspektive auf das Sterben dominiert.1286 Die praedicatio ist durch eine Vielzahl Faktoren bedingt: Die Gläubigen bzw. die Kirche gewähren dem Prediger finanzielle Unterstützung.1287 Zudem wird dieser „zur Rede durch die Kraft der caritas angetrieben,“1288 die den Nutzen des Nächsten intendiert. Der Prediger muss stets beachten, dass er „aber die ganze Gnade der Weisheit, die er zum Reden empfangen hat, nicht als seinen Verdienst betrachtet, sondern dass er sie durch die Fürbitten derer empfangen hat, zu denen er spricht.“1289 Das zentrale Geschehen des pastoralen Dienstes, zu dem Gregor die Bischöfe beständig auffordert und ermahnt, führt er nicht auf diese allein zurück. Indem er die Verantwortung auch den Mitchristen sowie letztendlich Gott1290 selbst zuspricht, will er die Prediger vor der Gefahr des Hochmuts bewahren. 1281 Vgl. Greg.‑M. Mor. VIII, 72 (CCSL 143, 438, 14–19); IX, 8 (CCSL 143, 461, 14–21); IX, 37 (CCSL 143, 482, 14–25). 1282 Vgl. Kap. 5.5.1.1. 1283 Vgl. Greg.‑M. Mor. II, 49 (CCSL 143, 88, 5–89, 20). 1284 Vgl. Greg.‑M. Mor. XXVII, 45 (CCSL 143B, 1365, 57–69). 1285 Vgl. Greg.‑M. Mor. XIX, 42 (CCSL 143A, 990, 10–19). 1286 Zur Bedeutung der Bestattung in Antike und Spätantike vgl. Graen, Tod, 9 f. 1287 Vgl. Greg.‑M. Mor. XIX, 22 (CCSL 143A, 974, 20 f.); XXII, 53 (CCSL 143A, 1132, 2–6). Ein arbeitsscheuer Verkündiger wird weder der Verpflichtung gegenüber Gott noch derjenigen der Spender gerecht und ist daher streng zu tadeln, vgl. Greg.‑M. Mor. XXII, 53 (CCSL 143A, 1132, 7–13). In diesem eindeutig späten Textabschnitt bezieht Gregor den Tadel durch die Formulierung nos pastores auch auf sich. Insofern scheinen sich die Aussagen weniger auf konkrete Fälle der Dienstverweigerung zu beziehen. Vielmehr sind sie als Demutsgestus und zur Skizzierung des Amtsideals zu verstehen. 1288 „[…] ad loquendum ui caritatis impellitur“ Greg.‑M. Mor. XXIII, 8 (CCSl 143B, 1149, 246 f.), vgl. auch Greg.‑M. Mor. XXII, 53 (CCSL 143A, 1132, 27–30). 1289 „[…] atque omnem sapientiae gratiam, quam ut loqueretur accepit, non suis se aestimat meritis, sed eorum intercessionibus pro quibus loquitur accepisse.“ Greg.‑M. Mor. XXIII, 8 (CCSL 143B, 1149, 233–235). 1290 Gregor weist die göttliche Mitwirkung am Predigtgeschehen dem Schöpfer oder dem Heiligen Geist zu bzw. spricht allgemein vom Allmächtigen, ohne das Werk dezidiert einer trinitarischen Person zuzuordnen, vgl. Greg.‑M. Mor. XI, 15 (CCSL 143A, 594, 27–34); XXIX, 49 (CCSL 143B, 1467, 12–15); XXX, 16 (CCSL 143B, 1502, 205–209). Zur Pneumatologie Gregors, vgl. Catry, Patrick, Les voies de l’ Esprit chez Grégoire, in: Fontaine, J. et al. (Hgg.),
5.6 Die Moralia in Iob – Dem Nächsten nutzen mit Herz und Hand
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Doch der römische Bischof legt bei den kirchlichen Amtsträgern nicht nur Wert auf die Tugend der Demut, sondern fordert insgesamt eine tadellose und dadurch vorbildliche Lebensführung.1291 Diese wirkt sich gleich in zweifacher Weise positiv auf seine Predigt aus: Zum einen wird der Prediger für ein gerechtes Leben mit Eloquenz belohnt,1292 zum anderen ermöglicht erst die Übereinstimmung des Lebens der kirchlichen Führer mit ihrer Lehre den Erfolg derselben.1293 Dieser Erfolg ist vor allem an der Anzahl derjenigen zu erkennen, die zur Gottesliebe und einem gerechten Leben, ergo der Nächstenliebe, bekehrt werden.1294 Eine erfolgreiche Verkündigung motiviert zudem den Prediger selbst weiter zu lehren.1295 Grégoire le Grand. Chantilly, Centre culturel Les Fontaines, 15–19 septembre 1982, Colloques Internationaux du CNRS, Paris 1986, 207–214. 1291 Vgl. Greg.‑M. Mor. VII, 56 (CCSL 143, 377, 2–23); XXIV, 54 (CCSL 143B, 1227, 49–1228, 76). Die Kombination von Verkündigung und Vorbildlichkeit hebt die Prediger von den Asketen ab, die nur letztere vorzuweisen haben, vgl. Greg.‑M. Mor. XIV, 44 (CCSL 143A, 725, 2–17); XXVII, 12 (CCSL 143B, 1338, 2–1339,30). Zur pastoralen Vorbildfunktion vgl. Kap. 5.2.2.2. 1292 Vgl. Greg.‑M. Mor. VI, 55 (CCSL 143, 324, 2–17). 1293 Vgl. Greg.‑M. Mor. VI, 55 (CCSL 143, 324, 17–325, 27); XXI, 16 (CCSL 143A, 1076, 18–1077, 40). Auf den Zusammenhang von Lehre und Leben verweist Gregor in den Moralia wie auch in seinen übrigen Werken zahlreiche Male, vgl. u. a. Greg.‑M. Mor. V, 32 (CCSL 143, 240, 2–21); XI, 6 (CCSL 143A, 598, 2–599, 29), siehe dazu Kap. 5.2.2.2, 5.2.3.1 und 5.5.1.1. 1294 Vgl. auch Greg.‑M. Mor. XIV, 56 (CCSL 143A, 731, 18 f.). 1295 „Denn ein jeder, der recht lebt und gewohnt ist, dies auch andere zu lehren, besitzt quasi so viele Kleidungsstücke, wie Zuhörer ihm einträchtig anhängen. Die Natur der Kleidungsstücke ist es nämlich, dass sie nicht durch sich selbst warm sein können, sondern durch die Verbindung mit dem lebenden Körper. Weil sie die atmenden Poren der Glieder bedecken, halten sie die von innen entweichende Wärme zurück; durch diese Wärme werden nämlich diese Kleidungsstücke erwärmt, jedoch geben die erwärmten die Wärme, die sie empfangen haben, erhaltend zum Körper zurück. Was also ist durch die dem lebendigen Körper anhängenden Kleidungsstücke ausgedrückt, wenn nicht das Leben der Schüler, das mit gut lebenden Lehrern verbunden ist? Dieses empfängt gleichwie durch Poren die Wärme, weil es durch das Beispiel der Tat und den Impuls der Ermahnung zur Gottesliebe entflammt wird. Dieses weist zum Beispiel die eigene Kälte zurück, wenn es von dem ehemaligen Unrecht Abschied nimmt, die Wärme, die es empfangen hat, erhält, weil es in dem Eifer stark wird, den es durch die Verkündigungen erlangt hat. Die heiligen Lehrer erglühen aber selbst stärker in der Tugend der Lehre, weil sie erleben, dass ihre Zuhörer in der Gottesliebe Fortschritte machen. Und weil sie beobachten, dass diese zum Höchsten entbrennen und erglühen, entzünden sie sich noch stärker zur guten Predigt der himmlischen Heimat.“ (Vnusquisque enim qui recte uiuit, atque hoc et alios docere consueuit, quasi tot uestimenta habet, quot auditores ei concorditer inhaerent. Natura namque uestimentorum est ut per semetipsa calere non possint, sed adiuncta uiuenti corpori, dum exhalantes membrorum poros contegunt, emanantem ab intimis calorem premunt; quo nimirum calore haec eadem uestimenta calefiunt, sed calefacta calorem quem acceperint retinendo ad corpus reddunt. Quid ergo per uestimenta uiuenti corpori adhaerentia nisi discipulorum uita magistris bene uiuentibus coniuncta signatur? Quae quasi per poros calorem accipit, quia ad amorem Dei exemplo actionis et impulsu exhortationis ignescit. Quae uelut frigus proprium respuit, dum a pristina iniquitate discedit, calorem quem accepit retinet, quia in eo quem per praedicamenta sumpserit feruore conualescit. Doctores autem sancti dum auditores suos in amorem Dei proficere sentiunt, ipsi amplius in doctrinae uirtute feruescunt; et quia eos ad summa inardescere et ferues-
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Die Schwierigkeit in der Zurechtweisung von Sündern besteht vornehmlich darin, einen Ausgleich von Strenge und Milde zu finden. Einerseits sollen Sünden verhindert, andererseits der Nächste auch nicht verletzt werden.1296 Sündern darf nicht geschmeichelt werden. Ihnen muss eine angemessene Strafe auferlegt werden.1297 Dennoch darf kein hochmütiger Übereifer in der correctio geübt werden, vielmehr ist mit den Sündern in ihren Strafen mitzuleiden.1298 In Aussagen wie diesen machen sich die Jahre des kirchlichen Dienstes bemerkbar. Gregor ist nicht mehr der radikale Asket, sondern erweist als Seelsorger einen realistischen und pragmatischen Blick auf seine Gemeindeglieder, die er nur mit Geduld und Mitgefühl erreichen kann. Die Tugend der Demut erfordert es, dass der Prediger zuerst auf seine eigene Schwäche schaut und auch zu sprechen kommt, bevor er die Fehler der Untergebenen in den Blick nimmt. In seinem Mitgefühl sollte er obendrein vor allem auf die vorhandenen guten Seiten der Sünder schauen oder auf die unverdiente Gnade hoffen.1299 Da in der Predigt Hohes den Adressaten entsprechend in niedriger Weise vermittelt werden soll,1300 muss der praedicator zuvor in der Stille der Kontemplation dieses Hohe erkannt haben.1301 Nur dann kann die Lehre wahr und daher gut sein.1302 Da Gregor die Wahrheit an die subjektiv erfahrene Erkenntnis Gottes bindet, legt er keine eindeutigen und insbesondere nachprüfbaren Kriterien fest. Dennoch nennt er in den Moralia konkrete homiletische Inhalte, die die Predigt der Kirche von derjenigen der Häretiker abgrenzt: die beiden Naturen Christi,1303 cere conspiciunt, ad praedicanda bona caelestis patriae ualidius succenduntur.) Greg.‑M. Mor. XXVII, 64 (CCSL 143B, 1381, 24–1382,42). Mit dieser Erläuterung legt Gregor Hi 37,17 aus. 1296 Vgl. Greg.‑M. Mor. VIII, 9 (CCSL 143, 386, 31–388, 79). Der Gegensatz mansuetudo und severitas findet sich zahlreich im Gesamtwerk Gregors, vgl. auch Greg.‑M. Hom. eu. I, 17, 12 (CCSL 141, 126, 240–261); Past. III, 21 (SC 382, 394, 1–400, 102) sowie Kap. 5.3.2.3. und 5.3.3.3. 1297 Vgl. Greg.‑M. Mor. XVIII, 8 (CCSL 143A, 890, 2–19). 1298 „Denn zweifelsfrei sind diejenigen wahre Lehrer, die, während sie durch den Eifer der Disziplin Väter sind, durch das Herzblut der Liebe Mütter zu sein wissen.“ (quia nimirum illi ueri doctores sunt, qui cum per uigorem disciplinae patres sunt, per pietatis uiscera esse matres nouerunt.) Greg.‑M. Mor. XXX, 43 (CCSL 143B, 1521, 192–194). Zur Metapher der viscera pietatis bzw. caritatis vgl. Kap. 5.6.2.2. Vgl. auch Greg.‑M. Mor. XV, 13 (CCSL 143A, 755, 2–7856, 30); XXVI, 6 (CCSL 143B, 1270, 1–1271,26); XXVI, 78 (CCSL 143B, 1324, 2–1325, 33); XXVII, 59 (CCSL 143B, 1377, 2–1378, 27). 1299 Vgl. Greg.‑M. Mor. XXIII, 25 (CCSL 143B, 1162, 43–1163, 63); XXVI, 78 (CCSL 143B, 1324, 2–7). 1300 Vgl. Greg.‑M. Mor. XVII, 37 f. (CCSL 143A, 871, 35–873, 84); XX, 4 (CCSL 143A, 1004, 26–47). 1301 Vgl. Greg.‑M. Mor. XXIII, 38 (CCSL 143B, 1172, 32–1173, 57), s. dazu Kap. 5.5.3.1. 1302 Vgl. Greg.‑M. Mor. XVI, 20 (CCSL 143A, 810, 3–21). 1303 Vgl. Greg.‑M. Mor. XXVII, 46 (CCSL 143B, 1366, 83–102) und Greschat, Moralia, 163–183. Zur Christologie Gregors und deren Beeinflussung durch Kyrill von Alexandrien, vgl. Green, Bernard, The Theology of Gregory the Great. Christ, Salvation and the Church, in: Neil, B./ Dal Santo, M. (Hgg.), A Companion to Gregory the Great, Brills Companions to the Christian Tradition 47, Leiden 2013, 135–156.
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die Trinität und die vier Kardinaltugenden,1304 Gerechtigkeit und Gnade Gottes1305 und schließlich das Gegenüber von „den Schrecken des Jüngsten Gerichts“1306 und den himmlischen Freuden in der patria caelestis.1307 Dahinter stehen vermutlich die aktuellen Konflikte im Rahmen des Drei-Kapitel-Streits sowie die christologischen Debatten der Zeit. Angesichts der Häufigkeit, mit der der römische Bischof das Verkündigungshandeln thematisiert, fällt dennoch auf, wie selten er dessen theologische Inhalte bespricht. Viel zentraler ist, dass die Predigt auf die geistliche und moralische Erbauung der Zuhörer abzielt.1308 Auch in der Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Häretikern, für die die Freunde Hiobs als Typoi dienen, wird der orthodoxe Glaube kaum ausführlicher dargelegt. Die Predigt soll einerseits die Kirche gegen die falschen Lehren verteidigen.1309 Andererseits gebietet die Feindesliebe die Sorge um die Irrenden und Abtrünnigen. Sie sollen mit Worten und Gebeten belehrt und zur Um- bzw. Rückkehr gebracht werden.1310 Auch ihnen gegenüber muss wohlwollendes Mitgefühl geübt werden, anstatt Freude über ihren Fall oder Ärger über ihren Fortschritt zu hegen.1311 Vergleichbar den dogmatischen Topoi nennt Gregor zwar auch konkrete Häresien, ohne diese aber konkreter inhaltlich darzustellen.1312 Die Namen der Häresiarchen und ihrer Schüler sind größtenteils aus den entsprechenden Listen der spätantiken christlichen Literatur bekannt:1313 Er benennt 1304 Vgl.
Greg.‑M. Mor. XXIX, 72 (CCSL 143B, 1483, 91–1485, 137), diese auf den ersten Blick ungewöhnliche Zusammenstellung resultiert aus der bei Gregor häufig angewandten Zahlensymbolik für die Zahlen 3 und 4 sowie ihrer Summe bzw. ihres Produktes. Zur Zahlenmystik bei ihm, insbesondere der genannten Zahlen vgl. Cremascoli, Guiseppe, Les symbolisme des nombres dans les œuvres de Grégoire le grand, in: Fontaine, J. et al. (Hgg.), Grégoire le Grand. Chantilly, Centre culturel Les Fontaines, 15–19 septembre 1982, Colloques Internationaux du CNRS, Paris 1986, 445–454, bes. 446. Zur Rezeption der Kardinaltugendlehre vgl. Kap. 5.5.1.3. 1305 Vgl. Greg.‑M. Mor. XX, 13 (CCSL 143A, 1010, 27–1012, 71). Gregor verwendet nicht die übliche Terminologie von Gesetz und Evangelium, sondern betitelt den Topos mit de pietate et iustitia Redemptoris (Greg.‑M. Mor. XX, 13 [CCSL 143A, 1010, 27 f.]). 1306 „[…] aeterni iudicii terrores“ Greg.‑M. Mor. XXX, 14 (CCSL 143B, 1501, 158). 1307 Vgl. Greg.‑M. Mor. XXX, 14 (CCSL 143B, 1500, 151–1501. 183). 1308 Keinesfalls sollte die Predigt die Weisheit des Predigers erweisen und proklamieren, vgl. Greg.‑M. Mor. XXIV, 38 f. (CCSL 143B, 1216, 2–1217, 15). 1309 Vgl. Greg.‑M. Mor. XXIII, 8 (CCSL 143B, 1149, 245–248). 1310 Vgl. Greg.‑M. Mor. VIII, 3–7 (CCSL 143, 383, 32–385, 32); X, 40 (CCSL 143, 565, 2–566, 10); XVIII, 18 (CCSL 143A, 897, 2–17); XIX, 47 (CCSL 143A, 994, 27–31); XX, 77 (CCSL 143A, 1060, 2–1061, 36); XXXV, 12 (CCSL 143B, 1781, 17–33). 1311 Vgl. Greg.‑M. Mor. praef. 18 (CCSL 143, 22, 17–28); XVIII, 42 (CCSL 143A, 912, 69–913, 91); XXII, 22 (CCSL 143A, 1108, 8–1109, 20). 1312 In Greg.‑M. Mor. XIX, 27 (CCSL 143A, 978,11–979, 20) werden zweimal zwei diametral entgegengesetzte Lehren in jeweils einem Satz charakterisiert, zwischen denen die Kirche den Mittelweg beschreitet. 1313 Zu den häresiologischen Handbüchern der Zeit vgl. McClure, Judith, Handbooks
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Arius,1314 Sabellius,1315 Mani,1316 Jovinian,1317 Photinus,1318 Macedonius,1319 Nestorius,1320 Eutyches,1321 Dioscorus,1322 Severus1323 und die bereits erwähnten Origenisten,1324 deren Lehre der endlichen Höllenqualen ausführlich diskutiert wird.1325 Außerdem ist die Auseinandersetzung Gregors mit dem Patriarchen Eutychius von Konstantinopel zu nennen, die er noch in seiner Zeit am Kaiserhof führte.1326 Nach seiner eigenen Darstellung war er als Apokrisiar mit dem Patriarchen unversöhnlich in Streit über die Leiblichkeit der Auferstehung geraten, den erst das Eingreifen des Kaisers Tiberius Constantinus beenden konnte. Dieser entschied letztendlich für die Position Gregors, der die leibliche Identität des Auferstandenen mit dem irdischen Christus betonte und eine rein spiritualistische Auferstehungsvorstellung ablehnte. Zudem spricht Gregor in seinem Großwerk mehrfach aktuelle Schismen an, ohne dass der konkrete Bezug identifiziert werden kann.1327 Sicherlich hatte er vor allem die Spaltungen im Rahmen des Drei-Kapitel-Streits vor Augen, die vornehmlich in Norditalien und Istrien vorherrschten. Mit diesem Konflikt war er nachweislich sowohl in Konstantinopel beschäftigt, als er das Traktat an die abtrünnigen Bischöfe im Namen von Pelagius II. verfasste,1328 als auch in den Jahren seines Pontifikats.1329 Insofern lässt sich damit trotz der nur vagen against heresy in the west, from the late fourth to the late sixth centuries, JThS N. S. 30, 1979, 186–197. 1314 Vgl. Greg.‑M. Mor. XIX, 27 (CCSL 143A, 978, 11 f.); XX, 16 (CCSL 143A, 1015, 34). 1315 Vgl. Greg.‑M. Mor. XIX, 27 (CCSL 143A, 978, 13 f.). 1316 Vgl. Greg.‑M. Mor. XIX, 27 (CCSL 143A, 978, 18 f.). Mit den Manichäern setzt sich Gregor auch in Greg.‑M. Mor. IX, 74 f. (CCSL 143, 508, 3–509, 42) auseinander. Evtl. sind diese auch mit den „Anthropomorphisten“ gemeint in Greg.‑M. Mor. XXXII, 7 (CCSL 143B, 1631, 6–1633,85), vgl. Greschat, Moralia 210–212. 1317 Vgl. Greg.‑M. Mor. XIX, 27 (CCSL 143A, 978, 19–979, 20). 1318 Vgl. Greg.‑M. Mor. XX, 16 (CCSL 143A, 1015, 34). 1319 Vgl. Greg.‑M. Mor. XX, 16 (CCSL 143A, 1015, 34). 1320 Vgl. Greg.‑M. Mor. XX, 16 (CCSL 143A. 1015, 35), ohne explizite Namensnennung vgl. Greg.‑M. Mor. XVIII, 85 (CCSL 143A, 948,32–949,70), vgl. Greschat, Moralia, 165 f. 1321 Vgl. Greg.‑M. Mor. XX, 16 (CCSL 143A, 1015, 35). 1322 Vgl. Greg.‑M. Mor. XX, 16 (CCSL 143A, 1015, 35). 1323 Vgl. Greg.‑M. Mor. XX, 16 (CCSL 143A, 1015, 35). 1324 Vgl. Kap. 5.6.1. 1325 Vgl. Greg.‑M. Mor. XXXIV, 35–38 (CCSL 143B, 1758, 16–1761, 94). Zu den in den Moralia kurz erwähnten Häresien vgl. Moreschini, Claudio, Gregorio Magno e le eresie, in: Fontaine, J. et al. (Hgg.), Grégoire le Grand. Chantilly, Centre culturel Les Fontaines, 15–19 septembre 1982, Colloques Internationaux du CNRS, Paris 1986, 337–346, hier: 342–344, sowie für das Gesamtwerk Fiedrowicz, Kirchenverständnis, 240–242. 1326 Vgl. Greg.‑M. Mor. XIV, 72–77 (CCSL 143A, 743, 1–746, 17), vgl. dazu Duval, Discussion; Müller, B., Führung, 81–84; Greschat, Moralia, 149–155; Kisić, Patria, 233–237. 1327 Vgl. u. a. Greg.‑M. Mor. XVIII, 41 (CCSL 143A, 912, 60 f.); XXXV, 33 (CCSL 143B, 1796, 267–270). 1328 Vgl. Pelag. II. Ep. Episc., MGH.EP. 2, App. III, 442–467 und Meyvart, Letter. 1329 Vgl. Kap. 2.2; 6.3.2.1.
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Andeutungen der historische Kontext konkreter fassen. Für Gregor stellte die zerrissene Einheit der Kirche, besonders in der nächsten Umgebung, eine schmerzhafte und nicht zu tolerierende Tatsache dar.1330 Daher stellt er – ebenso wie in der direkten Auseinandersetzung mit den Schismatikern1331 – nicht die irrigen Lehrpositionen und deren Widerlegung ins Zentrum. Die genannten Häresiarchen sind Stellvertreter für all diejenigen, die der kirchlichen Lehre, in welcher Detailfrage auch immer, widersprechen und damit jenseits des Leibes Christi stehen.1332 Dies wird besonders deutlich in der Aussage, dass die verschiedenen Häresien Extrempositionen verträten, wohingegen die Kirche mit ihrer orthodoxen Lehre stets den gemäßigten Mittelweg einnehme.1333 Gregor bietet eine Charakterisierung der Lehr- und Lebensweisen, die alle Schismatiker und Häretiker verbinden. Die Intention dieser Beschreibung ist vor allem nach innen gerichtet: Sie soll es den Christen erleichtern, die falschen Lehrer zu erkennen. Ebenso nutzt er diese Negativbeispiele, um den positiven Gegensatz, die wahren Christen und die wahre Kirche, darzustellen.1334 Jene Falschlehrer mischen in ihrer Homiletik die irrigen Lehren unter allgemein und eben auch von der Kirche anerkannte Aussagen, um nicht zu schnell entlarvt und widerlegt zu werden.1335 Auf diese Weise werden sie insbesondere den Schwachen gefährlich, die diesen Trick nicht durchschauen und sie auch in ihren schlechten Werken nachahmen. Deshalb dürfen die Prediger nicht müde werden, die Kirche zu verteidigen.1336 Endgültig besiegt sein wird alle Häresie erst am Jüngsten Tag. Daher ist jeglicher Stolz auf den Sieg über eine Falschlehre unangemessen, da er nur temporär und partiell sein kann,1337 zumal die Häretiker oft „durch die Patronate der weltlichen Machthaber geschützt werden.“1338 Diese Aussage verdeutlicht die Enttäuschung Gregors über das Verhalten des Kaisers und seines Exarchen gegenüber den Drei-Kapitel-Schismatikern. Die staatlichen Stellen bremsten den Papst in der vehementen Bekämpfung des Schismas aus und gewährten den Abtrünnigen in Teilen sogar militärischen Schutz.1339 In 1330
Zur Bedeutung der Einheit der Kirche in den Moralia s. Kap. 5.6.3.3. Vgl. Kap. 6.3.2.1. 1332 Katharina Greschat beobachtet einen christologischen Fokus in Gregors Beurteilung einer Lehre als Häresie, vgl. Greschat, Moralia, 211–214. Das entspricht durchaus dem theologischen Zeitgeist des 6. Jahrhunderts, in dem vor allem christologische Fragen diskutiert wurden, vgl. Grillmeier, Alois, Jesus, der Christus im Glauben der Kirche II/2: Die Kirche von Konstantinopel im 6. Jahrhundert, Freiburg/Basel/Wien 1989, 4. 1333 Vgl. Greg.‑M. Mor. XIX, 27 (CCSL 143A, 978, 6–979, 27). 1334 Vgl. dazu Kap. 5.6.3.3. 1335 Vgl. Greg.‑M. Mor. V, 28 (CCSL 143, 237, 262–292). 1336 Vgl. Greg.‑M. Mor. XIII, 9 (CCSL 143A, 673, 2–19). 1337 Vgl. Greg.‑M. Mor. XVI, 18 (CCSL 143A, 808, 2–809, 23). 1338 „[…] potentum saeculi patrociniis fulciuntur.“ Greg.‑M. Mor. XVIII, 27 (CCSL 143A, 902, 15). 1339 Vgl. Kap. 2.1 und 6.3.2.1. Dagegen verweist Claudio Moreschini etwas vage auf den Kontext in Konstantinopel, vgl. Moreschini, Eresie, 340. Vgl. Greschat, Moralia, 212–214. 1331
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vergleichbarer Weise ergriff der Kaiser auch im Streit um den Titel des Ökumenischen Patriarchen Partei für den Gegner Roms. Neben ihrer falschen und überheblichen Predigt1340 zeichnen sich die Häretiker zudem durch mangelnde Werke aus. Ihnen fehlt nicht nur die rechte Gottesliebe, sondern auch die Liebe dem Nächsten gegenüber.1341 Letzterer misst Gregor gar die größere Bedeutung bei. Als perversus gilt, wer zwar „den rechten Glauben im Schoß der allgemeinen Kirche zu halten scheint, […] aber es dennoch verachtet, die Werke des Glaubens zu halten.“1342 Wann immer Gregor das Werk der correctio des Nächsten thematisiert, wird deutlich, dass er weniger ein Ringen um den rechten Glauben und die orthodoxe Lehre intendiert als vielmehr eine christliche Lebensführung. Unter dieser versteht er die vollständige Ausrichtung auf Gott und die jenseitige Heimat und die damit einhergehende Loslösung von Vergänglichem einerseits und die Sorge um den Nächsten andererseits. Ebenso fällt auf, dass Gregor mit seinen Moralia weniger auf die moralischen Fortschritte seiner Leser abzielt. Diese sollen vielmehr in ihrer episkopalen Funktion als Multiplikatoren dienen und ihre Gemeindeglieder zu einem gottgefälligen Leben führen. Ebenso sollen die Häretiker zur Buße gebracht und für die patria caelestis gewonnen werden. Sie stellt Gregor nicht als zu besiegende Feinde dar, sondern als verirrte Seelen, die von den Bischöfen auf den rechten Pfad zurückgeführt werden sollen. Auch auf sie erstreckt sich die pastorale Pflicht der Seelsorge. Obwohl der römische Bischof die verschiedenen Häresien auffällig oberflächlich darstellt, hatte er mit den homöischen Langobarden sowie den Schismatikern in Norditalien und Istrien dennoch konkrete Auseinandersetzungen vor Augen. Die unkonkrete, keineswegs auf die Lehrinhalte fokussierte Darstellung kann durchaus beabsichtigt gewesen sein, um ebenso für andere Konfliktsituationen als Hilfestellung und Handlungsanweisung dienen zu können. Für Gregor stellen nicht die differierenden dogmatischen Inhalte das größte Problem dar, sondern der Bruch mit der Kirche. Die Einheit allein muss äußerlich wiederhergestellt und innerlich durch Werke der Nächstenliebe verwirklicht werden.
5.6.2.2 Die compassio als Werk der Nächstenliebe Bereits in seinen Evangelienhomilien hatte Gregor betont, dass die guten Werke durch den Affekt des Mitleids und der emotionalen Anteilnahme am Leiden des Nächsten begleitet werden müssen.1343 In den Moralia in Iob nimmt er diese Forderung erneut auf und geht noch einen Schritt weiter: In seinem Großwerk 1340
Vgl. Greg.‑M. Mor. XVII, 6 (CCSL 143A, 853, 5–8). Vgl. Greg.‑M. Mor. XX, 17 (CCSL 143A, 1015, 2–7). 1342 „[…] rectam fidem in sinu uniuersalis Ecclesiae tenere uideatur, […] sed tamen fidei opera tenere contemnit“ Greg.‑M. Mor. XVII, 7 (CCSL 143A, 854, 10–13). 1343 Vgl. Kap. 5.3.3.3. 1341
5.6 Die Moralia in Iob – Dem Nächsten nutzen mit Herz und Hand
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erscheint die compassio gar als selbstständiges Werk der Nächstenliebe und nicht nur ein die übrigen Taten auslösender Affekt.1344 In der Terminologie zeigt Gregor eine große Varianz, die emotionale Anteilnahme am Leiden des Nächsten kann er mit compassio bzw. compati,1345 consolatio bzw. consolari,1346 affectio compassionis exercere,1347 mulcere,1348 afflictio miserere,1349 infirmitas sentire,1350 misericordia1351 oder pietas1352 beschreiben. „Die Barmherzigkeit (misericordia) wird aber aufgrund eines elenden Herzens (a misero corde) so genannt, weil ein jeder, der einen Elenden anschaut und mit ihm mitleidet, wenn er vom Schmerz des Geistes berührt wird, selbst sein Herz elend macht und beabsichtigt, diesen vom Elend zu befreien.“1353
Das Nachempfinden fremder Not kann und soll bis zur Bereitschaft der stellvertretenden Übernahme ausgedehnt werden, um den Nächsten davon zu befreien.1354 Pate hierfür steht das stellvertretende Leiden Christi, der das körperliche Leid und den Tod nachempfand und freiwillig auf sich nahm, obwohl er dank seiner göttlichen Allmacht auch so die Erlösung hätte bewirken können.1355 Ebenso wie den äußerlichen Werken der Nächstenliebe liegt auch der compassio die Tugend der Liebe zugrunde.1356 In Mitgefühl neigt sich die caritas dem am Boden liegenden Nächsten zu und erlangt dadurch das Geschenk der contemplatio und die Stärke, irdische Widrigkeiten zu erdulden.1357 Die 1344 Vgl. Greg.‑M. Mor. VII, 17 (CCSL 143, 345, 6–14); IX, 52 (CCSL 143, 493, 9–11); X, 8 (CCSL 143, 540, 92 f.), X, 51 (CCSL 143, 573, 67); XII, 53 (CCSL 143A, 661, 29–31); XIII, 5 (CCSL 143A, 671, 4–28); XIX, 18 (CCSL 143A, 969, 7–13); XX, 68 (CCSL 143A, 1053, 2–1054, 15), gegen Patrick Catry, der Gastfreundschaft und Almosen als Konkretion der compassio benennt, vgl. Catry, L’amour, 322. 1345 Vgl. z. B. Greg.‑M. Mor. XII, 53 (CCSL 143A, 661, 29 f.). 1346 Vgl. Greg.‑M. Mor. V, 23 (CCSL 143, 233, 146). 1347 Vgl. Greg.‑M. Mor. IX, 52 (CCSL 143, 9 f.). 1348 Vgl. Greg.‑M. Mor. X, 8 (CCSL 143, 540, 93 f.). 1349 Vgl. Greg.‑M. Mor. XIII, 5 (CCSL 143A, 671, 11 f.). 1350 Vgl. Greg.‑M. Mor. XIII, 5 (CCSL 143A, 671, 15). 1351 Vgl. Greg.‑M. Mor. XX, 63 (CCSL 143A, 1049, 40). 1352 Vgl. Greg.‑M. Mor. XX, 69 (CCSL 143A, 1054, 16). 1353 „Misericordia autem a misero corde uocata est, eo quod unusquisque intueatur quempiam miserum, atque ei compatiens, dum dolore animi tangitur, ipse cor miserum facit, ut eum a miseria liberet cui intendit.“ Greg.‑M. Mor. XX, 63 (CCSL 143A, 1049, 41–44). Diese Etymologie übernimmt Gregor von Augustin, vgl. Aug. s. 358A (Morin 606, 5 f.). 1354 Vgl. Greg.‑M. Mor. XX, 68 (CCSL 143A, 1054, 13–15). 1355 Vgl. Greg.‑M. Mor. XX, 69 (CCSL 143A, 1054, 16–1055, 57); XXX, 74 (CCSL 143B, 1542, 123–126); vgl. Catry, L’amour, 318 f. Zur Vorbildfunktion Christi und seiner Nachahmung, s. Kap. 5.5.2.1. 1356 „Denn durch die Liebe weiß er [scil. der geistliche Lehrer], mit den bedrängten Schülern mitzuleiden.“ (enim per caritatem compati afflictis discipulis nouit.) Greg.‑M. Mor. XXX, 35 (CCSL 143B, 1515, 167 f.). Zur Liebe als Grundtugend aller Werke vgl. Greg.‑M. Mor. XXXI, 27 (CCSL 143B, 1569, 11–14) und Kap. 5.5.2.3. 1357 Vgl. Greg.‑M. Mor. VII, 18 (CCSL 143, 345, 2–346, 22). Gregor betont mehrfach den
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Grundtugend der Liebe umschreibt Gregor häufig mit der traditionellen1358 körperlichen Metapher der viscera (Eingeweide).1359 Diese Voraussetzung lassen Hochmütige vermissen, sie haben keine viscera caritatis, um Mitgefühl mit den Nächsten zu empfinden.1360 Auch den Heuchlern fehlt die caritas, weshalb sie weder Gott noch den Nächsten lieben, sondern ausschließlich den eigenen Ruhm suchen.1361 Beachtlicherweise stellt Gregor die compassio sogar über die Inhalte und die äußeren Vollzüge1362 des Glaubens: „Oft aber halten die Verworfenen an demselben Glauben fest, durch den wir leben, empfangen dieselben Sakramente des Glaubens, werden durch dieselbe Einheit der Religion gehalten, aber dennoch kennen sie nicht die viscera des Mitgefühls. Die Kraft der Liebe zu Gott und zum Nächsten, durch die wir brennen, erkennen sie nicht.“1363
Trotz seiner Betonung der kirchlichen Einheit1364 stellen nicht die Kirchenmitgliedschaft oder das orthodoxe Bekenntnis das Zentrum der christlichen Existenz dar. Gregor unterstreicht die persönliche und emotionale Partizipation an der Gemeinschaft, dem Leib Christi.1365 Er fordert einen respektvollen und wertschätzenden Umgang untereinander, in den auch die Armen eingeschlossen sind.1366 Alle Menschen sind durch ihre jenseitigen Lohn für das empathische Mitleiden in dieser Welt, vgl. auch Greg.‑M. Mor. XXX, 35 (CCSL 143B, 1515, 167–177). 1358 Vgl. u. a. Aug. Conf. 5, 17 (CCSL 27, 66, 24 f.). 1359 Der Begriff wird mit unterschiedlichen Genitivattributen verwendet: uiscera misericordiae, vgl. Greg.‑M. Mor. I, 44 (CCSL 143, 49, 20); pietatis uiscera, vgl. Greg.‑M. Mor. II, 78 (CCSL 143, 107, 83); caritatis uiscera, vgl. Greg.‑M. Mor. III, 40 (CCSL 143, 141, 36); compassionis uiscera, vgl. Greg.‑M. Mor. VII, 30 (CCSL 143, 354, 8 f.); timoris uiscera, vgl. Greg.‑M. Mor. XXXI, 16 (CCSL 143A, 1562, 36); uiscera ueritatis, vgl. Greg.‑M. Mor. XXXIII, 52 (CCSL 143B, 1719, 28). Die Metapher begegnet in diesen Composita im gesamten Werk Gregors, im Briefregister sind zudem die Formulierungen condescensionis uiscera, vgl. Greg.‑M. Ep. I, 24 (CCSL 140, 27, 206 f.), und uiscera humanitatis, vgl. Greg.‑M. Ep. VI, 26 (CCSL 140, 398, 40), zu finden. 1360 Vgl. Greg.‑M. Mor. XXVI, 6 (CCSL 143B, 1270, 22–1271, 26). 1361 Vgl. Greg.‑M. Mor. XV, 20 (CCSL 143A, 761, 5–10). 1362 Die Sakramente werden im Werk Gregors ohnehin nur am Rande thematisiert, vgl. Schambeck, Missio, 224 f. Eine Ausnahme stellt der Spezialfall der Messfeier für Verstorbene dar, vgl. Kap. 5.4.2.2. Zu den tatsächlichen liturgischen Konsequenzen, vgl. Vogel, Cyril, Deux conséquences de l’eschatologie grégorienne: la multiplication des messes privées et les mainesprêtres, in: Fontaine, J. et al. (Hgg.), Grégoire le Grand. Chantilly, Centre culturel Les Fontaines, 15–19 septembre 1982, Colloques Internationaux du CNRS, Paris 1986, 267–276. 1363 „Saepe uero reprobi eamdem fide qua uiuimus, retinent, eadem fidei sacramenta percipiunt, eiusdem religionis unitate continentur; sed tamen compassionis uiscera nesciunt, caritatis uim qua in Deum flagramus et proximum, non agnoscunt.“ Greg.‑M. Mor. VII, 30 (CCSL 143, 354, 6–10). 1364 Vgl. Kap. 5.6.3.3. 1365 Zur christologisch geprägten Ekklesiologie Gregors vgl. Fiedrowicz, Kirchenverständnis 70–75.337–342 und Greschat, Moralia, 155–163. 1366 Vgl. Greg.‑M. Mor. XXI, 29 (CCSL 143A, 1085, 4–1086, 35) und Catry, L’amour, 322. S. a. Kap. 5.6.2.
5.6 Die Moralia in Iob – Dem Nächsten nutzen mit Herz und Hand
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Natur verbunden und so wird auch vermeintlich Unbekannten die compassio geschuldet, da jeder durch sein Menschsein ein Bekannter ist.1367 Im Nächsten gilt es nicht nur die eigene Natur wiederzuentdecken. Aufgrund des selbst erfahrenen Leides kennt man die geeignetsten Hilfsmaßnahmen und kann demnach in besonderer Weise die Not des Nächsten lindern.1368 In der Liebe zu Gott erkennt der Mensch auf schmerzhafte Weise die eigene Unvollkommenheit und entwickelt so die Fähigkeit, sich ebenso um den Nächsten in dessen Leid und Schuld zu sorgen.1369 Die Mahnung zum Mitgefühl begründet Gregor zudem mit der allgemeinen Erfahrung, dass geteiltes Leid zwar kein halbes Leid ist, aber zumindest nur als halb so schlimm empfunden wird: „Einen Leidenden nämlich zu trösten ist ebenso wie [selbst] im Leiden zu verharren, weil die Ansicht eines Mitleidenden eine Milderung des Leidens darstellt. Ebenso wird der Weg, wenn man auf der Reise von einem Gefährten begleitet wird, freilich nicht verkürzt, aber dennoch die Mühe des Weges durch die Gesellschaft des Gefährten gemildert.“1370
Neben dem Empfänger der compassio trägt auch der Geber einen Nutzen davon. Zum einen gewährt Gott demjenigen Beter, der seine Fürbitte mitfühlend ausspricht, auch Gehör in den eigenen Bitten.1371 Zum anderen hat sie ebenso wie die übrigen guten Werke eine sühnende Wirkung und wird damit im Himmel gute Frucht bringen. Und schließlich vollendet das Mitgefühl mit dem bedürftigen Nächsten die Askese.1372 Aber auch das Almosen steht in enger Verbindung zur compassio und wird von dieser übertroffen: „Denn oft, wie wir [bereits] gesagt haben, schafft der Überfluss die Großzügigkeit der Spende und nicht die Tugend des Mitleids. Denn wer mit dem Bedrängten vollkommen mitleidet, teilt dem Bedürftigen meistens auch das aus, an dem es ihm selbst mangelt, wenn er gegeben hat. Und dann ist das Mitleid unseres Herzens erfüllt, wenn wir nicht 1367 Vgl. Greg.‑M. Mor. VI, 54 (CCSL 143, 322, 2–323, 16); XXI, 31 (CCSL 143A, 1087, 73–83) und Catry, L’amour, 315 f. 1368 Vgl. Greg.‑M. Mor. VI, 54 (CCSL 143, 323, 16–324, 36). 1369 Vgl. Greg.‑M. Mor. VI, 42 (CCSL 143, 314, 2–315, 37), zum traditionsge schichtlichen Hintergrund dieses Abschnittes vgl. Doignon, Jean, „Blessure d’affliction“ et „blessure d’amour“ (Moralia, 6, 25, 42): une jonction de thèmes de la spiritualité patristique de Cyprien à Augustin, in: Fontaine, J. et al. (Hgg.), Grégoire le Grand. Chantilly, Centre culturel Les Fontaines, 15–19 septembre 1982, Colloques Internationaux du CNRS, Paris 1986, 297– 303. 1370 „Laborantem quippe consolari, est pariter in labore persistere, quia subleuatio laboris est uisio collaborantis; sicut cum in itinere comes iungitur, uia quidem non abstrahitur, sed tamen de societate comitis labor itineris leuatur.“ Greg.‑M. Mor. V, 7 (CCSL 143, 223, 14–18). 1371 Vgl. Greg.‑M. Mor. XX, 71 (CCSL 143A, 1055, 58–72); XXXV, 21 (CCSL 143B, 1787, 2–18). 1372 Vgl. Greg.‑M. Mor. VI, 53 (CCSL 143, 322, 14–17). Zur Abhängigkeit der Askese von der Nächstenliebe vgl. Kap. 5.2.3.3 und 5.3.1.3.
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fürchten, das Übel der Armut für den Nächsten zu übernehmen, um jenen vom Leid zu befreien.“1373
Insofern ist es notwendig, zuerst das Leid nachzuempfinden und erst anschließend durch das äußere Werk die Not zu lindern.1374 Das Mitgefühl ist aus zwei Gründen höher zu bewerten als das Almosen: Zum einen bewahrt es vor dem Hochmut, das Leid durch das eigene Handeln zu besiegen.1375 Zum anderen verteilt die materielle Spende lediglich etwas Äußeres, wohingegen die compassio das Leid selbst nachempfindet und der Wohltäter somit etwas Eigenes teilt. Wer das Leid des Nächsten wirklich mitempfindet, kann letztendlich auch keine äußere Gabe vorenthalten.1376 Das Almosen ist letztlich die automatische Konsequenz aus dem Mitleid. Demzufolge kommt der compassio im Kreis der guten Werke eine Sonderrolle zu. Sie vollendet die übrigen Taten, ja letztlich wird die ethische Vollkommenheit an ihr gemessen: „Jemand ist nämlich in dem Maße vollkommen, wie vollkommen er fremde Leiden empfindet.“1377 Mitgefühl und Anteilnahme am Leid des Nächsten bezieht anders als die unpersönliche Almosengabe neben der materiellen Ebene zusätzlich die soziale Perspektive mit ein. Auf diese Weise rückt eine Gemeinschaft enger zusammen und ihre Einheit wird gestärkt.1378 Die Forderung nach der compassio verweist deutlich auf die schwierige Situation der römischen Gemeinde am Ende des 6. Jahrhunderts. Angesichts der anhaltenden politischen Unsicherheit sah Gregor sich nicht nur der akuten Bedrohung durch Pest und feindliche Überfälle ausgesetzt, sondern auch mit der Emigration der vermögenden Elite nach Konstantinopel konfrontiert.1379 Die Gesellschaft Roms geriet durch den Verlust der finanziell potenten Oberschicht aus dem Gleichgewicht, wodurch die Not sich vergrößerte und immer akuter wurde. Es ist gut vorstellbar, dass der römische Bischof seine Mahnung nach emotionaler Anteilnahme gerade an den Adel richtete, der das alltägliche Elend nicht mehr vor der eigenen Haustür haben 1373 „Nam saepe ut praediximus, largitorem muneris rerum facit abundantia, et non uirtus compassionis. Qui enim afflicto perfecte compatitur, plerumque et hoc indigenti tribuit, in quo ipse si dederit angustatur. Et tunc plena est cordis nostri compassio, cum malum inopiae pro proximo suscipere non metuimus, ut illum a passione liberemus.“ Greg.‑M. Mor. XX, 68 (CCSL 143A, 1054, 10–15). Im Folgenden schränkt Gregor ein, dass es dennoch besser sei, weniger zu geben, als anschließend über den eigenen Mangel zu klagen, vgl. Greg.‑M. Mor. XX, 69 (CCSL 143A, 1054, 32–37). 1374 Vgl. Greg.‑M. Mor. XX, 68 (CCSL 143A, 1053, 2–9) und Catry, L’amour, 321 f. 1375 Vgl. Greg.‑M. Mor. XX, 69 (CCSL 143A, 1054, 39–1055, 47). 1376 Vgl. Greg.‑M. Mor. XX, 70 (CCSL 143A, 1055, 51–57), vgl. Straw, Theology, 191. 1377 „Tanto enim quisque perfectus est, quanto perfecte sentit dolores alienos.“ Greg.‑M. Mor. XIX, 28 (CCSL 143A, 969, 12 f.), vgl. Catry, L’amour, 320 f. 1378 Vgl. Kap. 5.6.3.3. 1379 Davon zeugen auch die Briefe Gregors an die nach Konstantinopel ausgewanderte Patrizierin Rusticiana, der er mangelnden Patriotismus vorwirft, vgl. Greg.‑M. Ep. VIII, 22 (CCSL 140A, 541, 2–542, 24).
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wollte und daher das neue Rom anvisierte. Die Beschwichtigung, die Heimat auch aus der Ferne unterstützen zu wollen, ließ der Papst nicht gelten: Perfectio erfordert Mitgefühl und das gemeinsame Leben mit den Armen.
5.6.3 Theologische Begründungen tätiger Nächstenliebe Die tätige Nächstenliebe stellt sicher kein Zentralthema der Moralia in Iob dar, obgleich der Titel dieses vielleicht vermuten lässt. Gregor zielt mit seiner Auslegung zwar auf eine gottgefällige Lebensweise seiner Leser bzw. deren Gemeindeglieder ab, unter dieser versteht er aber nicht zuerst ethisches Verhalten dem Mitmenschen gegenüber. „Es geht in diesen 35 Büchern nicht um Moral im engen Sinn, sondern um den auf den Menschen bezogenen Sinn der Schrift, das geistige Leben.“1380 Dem folgt die Mahnung zur Umsetzung der göttlichen Gebote und auch, aber eben erst auf einer sekundären Ebene, die Nächstenliebe.1381 Dementsprechend verknüpft Gregor seine Auslegung nur gelegentlich mit Mahnungen bezüglich des Zusammenlebens der Menschen in der Welt. An diesen Stellen macht er aber deutlich, welchen herausgehobenen Stellenwert er der tätigen Nächstenliebe zuschreibt. Eine mögliche Erklärung für diese Auffälligkeit ist, dass sich diese vereinzelten Passagen der Überarbeitung in der Zeit seines Pontifikats verdanken. Im Amt entwickelt sich Gregor in seinen Schriften deutlich wahrnehmbar vom asketischen Mystiker zum praktisch orientierten Kirchenführer. Seine konkreten Forderungen nach gegenseitiger Unterstützung und seine paulinisch geprägte Ekklesiologie1382 entstanden nicht mehr in der Ruhe der Mönchszelle, sondern in den tobenden Stürmen des bischöflichen Alltags.1383 Trotz der eher marginalen Thematisierung der tätigen Nächstenliebe in den Moralia in Iob bildet der römische Bischof in dem Werk pointierte Stränge einer Theologie der tätigen Nächstenliebe, die in seinen vorangegangenen Werken bisher nur am Rande vorgezeichnet sind. In einem der umfangreichsten Kommentare der christlichen Literatur der Spätantike überhaupt1384 bietet er in seinen zahllosen Exkursen ausreichend Gelegenheit, diese ersten Fasern aufzunehmen und zu stabilen Fäden zu spinnen. Allen voran ist hier der Anteil des göttlichen Wirkens an den guten Taten der Menschen, aber auch das entgegengesetzte Agieren des Teufels zu nennen. Zudem kommt Gregor mehrfach auf die 1380
Berschin, Biographie 1, 323. Gillet konkludiert, dass Gregor keine dogmatischen Spekulationen fokussiert, sondern eine Besserung des Lebens der Christen intendiert, die sich allerdings vornehmlich als eine vie mystique beschreiben lässt, vgl. Gillet, Introduction, 10. 1382 Vgl. Kap. 5.6.3.3 und Fiedrowicz, Kirchenverständnis, 179–187. 1383 Der Widerspruch zwischen der Sehnsucht nach asketisch-mystischer tranquilitas und der Mahnung zum gemeinsamen Leben mit den Armen ist ein deutlicher Hinweis auf die Textgeschichte, vgl. etwa Greg.‑M. Mor. XVIII, 68 (CCSL 143A, 933, 1–935,54) und XXI, 33 (CCSL 143A, 1089, 2–33). 1384 Zu diesem Ergebnis kommt Bernard McGinn, vgl. McGinn, Mystik, 67. 1381 Robert
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schwierige Frage nach der Berechenbarkeit des jenseitigen Heils zu sprechen, in der er sich zwangsläufig mit der profilierten Position Augustins auseinandersetzt. Diese nimmt er zwar auf, verbindet sie aber mit entgegengesetzten (semi-) pelagianischen Aussagen in der Tradition Cassians, was erneut in einer inkonsequenten Soteriologie resultiert. Schließlich ist noch die bereits angesprochene paulinische Leib-Glieder-Ekklesiologie mit der gegenseitigen Partizipation darzulegen, der in den Moralia ein großer Stellenwert zukommt.
5.6.3.1 Der Einfluss himmlischer Kräfte auf Tugenden und Werke Bereits in den Ezechielhomilien ist die Spannung zwischen der eschatologischen Verdienstlichkeit menschlicher Werke einerseits und das Verständnis der Tugenden als göttliche Gnadengaben (dona) zu beobachten. Das dort nur äußerst knapp und unbefriedigend erläuterte Verhältnis der zuvorkommenden Gnade und des freien Willens des Menschen1385 wird in der Hiobauslegung ausführlicher dargelegt, freilich ohne zu einer abschließenden Lösung zu kommen. Wiederholt betont der Papst die herausgehobene Rolle des göttlichen Gnadenwirkens, ohne dabei den Menschen von seiner soteriologischen Eigenverantwortung für das Heil freizusprechen. Neben dem Einfluss Gottes wird zudem vor dem Teufel als wirkmächtigem Akteur im Wettstreit um das menschliche Heil gewarnt.
5.6.3.1.1 Die zuvorkommende Gnade Gottes Ein theologischer Topos, der sich durch die gesamte Hiobauslegung Gregors zieht, ist die zuvorkommende Gnade Gottes, die gratia praeveniens. Der römische Bischof will alles Gute auf den himmlischen Vater zurückgeführt wissen: Gott erwirkt das Hören der Predigt und damit auch die Umkehr zum guten Leben.1386 Ebenso sind die Tugenden als göttliche Gnadengaben zu verstehen,1387 insbesondere die Trias aus Glaube, Liebe und Hoffnung.1388 Als Paradigma hierfür nennt er den reuigen Schächer am Kreuz: Aus Gnade wird er zur Um1385
Vgl. Greg.‑M. Hom. Ez. I, 9, 2 (CCSL 142, 124, 13–125, 47) und Kap. 5.5.2.2. Greg.‑M. Mor. XI, 15 (CCSL 143A, 594, 27–34); XXIX, 49 (CCSL 143B, 1467, 9–1468, 31); XXX, 16 (CCSL 143B, 200–209). 1387 Vgl. Greg.‑M. Mor. II, 78 (CCSL 143, 106, 46–107, 91); II, 91 (CCSL 143, 113, 50–66); IX, 3 (CCSL 143, 457, 2–458, 29). Aus der Tradition rezipiert Gregor mehrfach die Rede von der siebenfachen Gabe des Heiligen Geistes, die auf Jes 11,1–3 sowie den Charismenlisten der neutestamentlichen Episteln basiert und lange entsprechend variabel blieb, vgl. z. B. Greg.‑M. Mor. praef. 17 (CCSL 143, 22, 7–16); I, 38 (CCSL 143, 45, 4–13); XXIX, 74 (CCSL 143B, 1486, 169– 187), zur Lehre der sieben Gaben des Geistes vgl. Ducros, Xavier, Art.: Charismes, D. S. 2,1 (1953), 503–507, hier: 505. 1388 Vgl. Greg.‑M. Mor. I, 38 (CCSL 143, 45, 13–46,17); X, 12 (CCSL 143, 545, 35–48); XV, 20 (CCSL 143A, 760, 2–761, 7); XXVII, 76 (CCSL 143B, 1389, 22–24). 1386 Vgl.
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kehr gebracht, der an Händen und Füßen gebunden selbst nicht mehr handeln kann. Ihm wird der Glaube an Christus verliehen, die Hoffnung geschenkt, dass dieser ihn retten kann, und schließlich die Liebe gegeben, um sich verkündigend an den anderen Gekreuzigten zu wenden und ihn zu bekehren.1389 Nicht nur die Nächstenliebe ist auf Gott zurückzuführen,1390 auch ihr Pendant, die Liebe zu Gott, nimmt ihren Ausgang bei diesem selbst. Selbst in die leeren, gänzlich tugendfreien Herzen der teuflischen Rotten kann er aus Gnade die Gottesfurcht geben und sie so zum Heil führen.1391 Letztlich sind auch die guten Werke als „himmlisches Geschenk“1392 zu verstehen und nicht dem Menschen zuzuschreiben.1393 Damit ist der Bereich der Soteriologie erreicht: Ohne Gnade wären auch die Gerechten verloren.1394 Die Heiligen wissen, dass sie seit dem Sündenfall ihre Verderbnis nicht aus sich selbst tilgen können. Erst durch Gnade können sie zu besseren Wünschen und Taten geführt werden. Alles Böse, das ihnen widerfährt, ist durch ihre sterbliche Abstammung verdient, aber alles Gute ist auf Gott zurückzuführen.1395 Mit dieser absoluten Gnade verknüpft Gregor die Prädestinationslehre: Gott ist zugleich gerecht und gnädig. Er rettet die Erwählten aus Gnade und überlässt die Verworfenen ihrem verdienten Urteil. Keine menschlichen Werke kommen der göttlichen Gnade zuvor, insofern kann sie auch nicht eingefordert werden. Wird sie gewährt, so entscheidet Gott dies aus freien Stücken und nicht als Schuldner (debitor).1396 Dennoch ist Gott nicht gnädig, ohne dabei gerecht zu sein: Die Erwählten züchtigt er in diesem Leben, sei es als zeitliche Strafe oder pädagogisches Mittel.1397 Ebenso richtet er die Verworfenen nicht ohne jede 1389
Vgl. Greg.‑M. Mor. XVIII, 64 (CCSL 143A, 929, 90–930, 117). Vgl. Greg.‑M. Mor. XX, 71 (CCSL 143A, 1055, 65–68). 1391 Vgl. Greg.‑M. Mor. XVII, 34 (CCSL 143A, 870, 2–9). 1392 „[…] ex superno munere“ Greg.‑M. Mor. VIII, 66 (CCSL 143, 433, 30). 1393 Vgl. Greg.‑M. Mor. II, 84–92 (CCSL 143, 110, 36–114, 91); XXI, 28 (CCSL 143A, 1085, 3–14); XXII, 21 (CCSL 143A, 1108, 2–10); XXIII, 53 (CCSL 143B, 1186, 2–1187, 30). 1394 Vgl. Greg.‑M. Mor. VIII, 32 (CCSL 143, 404, 12–405, 31). Das Heil ist indes erst durch den Kreuzestod Christi ermöglicht. Das Gesetz konnte zuvor zwar die Sünde aufdecken, aber nicht tilgen, vgl. Greg.‑M. Mor. XVIII, 73 (CCSL 143A, 937, 2–938, 32). Zur Bedeutung der Christologie in den Moralia vgl. Schambeck, Missio, 118–138 und Straw, Theology, 193–195. 1395 Vgl. Greg.‑M. Mor. XVII, 22 (CCSL 143A, 865, 1528); XXII, 20 (CCSL 143A, 1107, 13–1108, 19). Deutlich sind die Anklänge an Augustins Erbsündenlehre, vgl. dazu Greschat, Moralia, 85–88. 1396 Vgl. Greg.‑M. Mor. XXXIII, 38 (CCSL 143B, 1708, 2–1709, 33). In seinen Briefen behauptet Gregor dennoch, dass der Wohltäter durch seine Spende Gott zum Schuldner macht, vgl. z. B. Greg.‑M. Ep. I, 60 (CCSL 140, 71, 11 f.). 1397 Vgl. Greg.‑M. Mor. XXXIII, 39 (CCSL 143B, 1709, 34 f.), zu den verschiedenen Aspekten der Bedrängnis vgl. Straw, Theology, 197 und Straw, Carole, „Adversitas“ et „Prosperitas“: une illustration du motif structurel de la complémentarité, in: Fontaine, J. et al. (Hgg.), Grégoire le Grand. Chantilly, Centre culturel Les Fontaines, 15–19 septembre 1982, Colloques Internationaux du CNRS, Paris 1986, 277–288. 1390
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5 Das Ideal der tätigen Nächstenliebe im literarischen Werk Gregors
Gnade, sie erduldet er bis zum Jüngsten Gericht und gewährt ihnen die Möglichkeit, sich aus freiem Willen in dieser Welt himmlischen Lohn zu verdienen.1398 Damit kommt erneut das zentrale Paradox in Gregors Soteriologie zum Vorschein: Auf der einen Seite schreibt er die Erlösung sowie die guten Werke der göttlichen Gnade zu, auf der anderen Seite erkennt er den freien Willen und die Mitverantwortlichkeit des Menschen für das eigene Heil an. Als Versuch, diese Spannung zu lösen, beschreibt der Papst einen chronologischen Fortschritt.1399 Den voraussetzungslosen Anfang bildet die zuvorkommende Gnade (gratia praeveniens). Ohne jeglichen Zwang erlöst Gott den sündigen Menschen und ermöglicht ihm, gute Werke zu vollbringen. Dazu muss sich dieser aber aus freiem Willen (ex libero arbitrio) und aus eigener Kraft (ex labore) entscheiden, damit ihm im Gericht die Werke angerechnet werden.1400 Als biblische Gewährsstelle dient dabei stets 1 Kor 15,10.1401 Auf das göttliche Gnadenhandeln, das sowohl als gratia prima den freien Willen und den Impuls zum Guten schenkt, als auch als gratia continua das Gute vollbringen hilft,1402 folgen die guten Werke als Antwort des Menschen.1403 In diesem Sinn lässt sich die Mahnung Gregors verstehen, nicht auf Vollbrachtes, sondern auf Unterlassenes zu schauen:1404 Für jenes ist Gott zu danken, für dieses trägt der Mensch die Bringschuld. Die guten Werke und demzufolge das Heil des Menschen sind damit aber nicht mehr allein Gott zuzuschreiben, wie Carol Straw treffend formuliert: „Salvation is a cooperative venture.“1405 Mit diesem Synergismus1406 entfernt sich 1398
Vgl. Greg.‑M. Mor. XXXIII, 39 (CCSL 143B, 1709, 35–48). Schambeck, Missio, 306, die eine temporale Reihenfolge von Gnade Gottes und Handeln des Menschen als Missverständnis ablehnt und stattdessen nur ein Kausalitätsverhältnis beider sieht. Meines Erachtens schließt sich beides nicht aus, sondern verbindet sich, zumal Gregor die Gnade als ein dem freien Willen zeitlich vorausgehendes Geschehen beschreibt, dem dieser dann folgt, vgl. u. a. Greg.‑M. Mor. XXIV, 24 (CCSL 143B, 1204, 2–4). 1400 Vgl. Greg.‑M. Mor. XVI, 30 (CCSL 143A, 815, 2–816, 42); XVII, 22 (CCSL 143A, 864, 2–865, 28); XVIII, 65 (CCSL 143A, 930, 118–128); XIX, 52 (CCSL 143A, 998, 2–16); XXIV, 24 (CCSL 143B, 1204, 2–13); XXXIII, 40 (CCSL 143B, 1710, 49–56), vgl. auch Greg.‑M. Hom. Ez. I, 9, 2 (CCSL 142, 124, 13–125, 47) und Kap. 5.5.2.2 sowie Straw, Theology, 194 f. 1401 Vgl. Greg.‑M. Mor. XVI, 30 (CCSL 143A, 816, 17–27); XIX, 52 (CCSL 143A, 998, 11–16); XXIV, 24 (CCSL 143B, 1204, 4–10). 1402 Vgl. Greg.‑M. Mor. IX, 81 (CCSL 143, 512, 56–513, 77); XXII, 20 (CCSL 143A, 1108, 19–32). 1403 Vgl. Greg.‑M. Mor. IX, 64 (CCSL 143, 503, 2–12); XI, 57 (CCSL 143A, 617, 2–618, 33). 1404 Vgl. Greg.‑M. Mor. XXII, 12 (CCSL 143A, 1101, 40–1102, 64), vgl. auch Greg.‑M. Mor. XV, 23 (CCSL 143A, 763, 325); XXIII, 48 (CCSL 143B, 1181, 86–100). 1405 Straw, Theology, 194, vgl. Schambeck, Missio, 305–308. 1406 Mirjam Schambeck lehnt diese Kategorisierung für die Gnadenlehre Gregors ab, da sie unter Synergismus dasjenige Konzept fasst, welches „das Wirken der Gnade bzw. das freie Willensvermögen des Menschen als Größen versteht, die beim Tun des Guten nebeneinander ablaufen.“ Schambeck, Missio, 306. Damit unterliegt sie einem Irrtum, synergistische Entwürfe zielen – schon dem Wortsinn nach – auf die Kooperation und das Ineinandergreifen beider Wirkungen, vgl. Link, Christian, Art.: Synergismus I., RGG4 7 (2004), 1956 f. 1399 Gegen
5.6 Die Moralia in Iob – Dem Nächsten nutzen mit Herz und Hand
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Gregor klar von der augustinischen Gnadenlehre und rezipiert in asketischer Tradition das Gedankengut Cassians.1407 Die reiche Gnade Gottes ermöglicht den gerechten Menschen ein Leben nicht allein aus Furcht vor dem Jüngsten Gericht, sondern in Liebe. Diese stellt eine höhere Stufe des geistlichen Fortschritts dar, als die Furcht vor der göttlichen Strafe.1408 Die Furcht (timor) ist der Liebe unterlegen, da sie lediglich restriktiv Laster verhindert, wohingegen die caritas produktiv Tugenden und Taten bewirkt.1409 Insbesondere die Erfahrung der Gnade, dass begangene Sünden vergeben wurden, überwindet die Furcht und setzt einen größeren Drang nach Gerechtigkeit frei.1410 In seiner Soteriologie lehnt sich Gregor auf den ersten Blick stark an die augustinische Gnadenlehre an. Deren Konsequenz vermeidet er aber, um dem Menschen Freiräume zum Handeln und Einwirken auf das eigene Heil zu geben. Dadurch bewegt er sich im Spannungsfeld zwischen Gnade und Werken aber immer weiter in Richtung einer Heilswirksamkeit guter Werke. Als Bischof der unter Katastrophen ächzenden Stadt Rom erkennt er wohl, dass eine strikte theozentrische Erlösungslehre sowie die daraus resultierende (doppelte) Prädestinationsvorstellung weder für die seelsorglichen noch die sozialen Nöte eine Hilfe darstellt. Der Verzweiflung der Menschen kann er nicht lediglich die Gerechtigkeit des göttlichen Strafhandelns angesichts der Sündenschuld entgegensetzen. Vielmehr will er seiner Kirche und den einzelnen Gläubigen mit der Betonung der Relevanz menschlicher Werke eine Perspektive der Hoffnung aufzeigen. Da die staatlichen Strukturen Schwäche und Passivität offenbaren, ist Gregor zudem als Bischof zunehmend für die Versorgung der Stadt und ihrer Bevölkerung verantwortlich und dafür auf die Mitwirkung und Großzügigkeit der Gemeindeglieder angewiesen. Auch diese pragmatischen Gründe lassen ihn sich von der strengen Gnadenlehre Augustins entfernen und sich der synergistischen Soteriologie zuwenden.1411 Dennoch finden sich in den Moralia für beide, miteinander unvereinbaren Lehren, Formulierungen. Gnadenmonopol und Relevanz der Werke bleiben seltsam unverbunden nebeneinander stehen. 1407 Vgl.
Schambeck, Missio, 355–359 und Straw, Theology, 194 FN 112. bezüglich des guten Werkes ist es nämlich ein erster Schritt für Anfänger, dass, wer seinen Nächsten noch nicht zu lieben weiß, dennoch schon beginnt, das himmlische Urteil zu fürchten.“ (Et quidem in bono opere primus incipientium gradus est ut qui adhuc nescit proximum sicut se diligere, iam tamen incipiat iudicia superna formidare.) Greg.‑M. Mor. XIX, 41 (CCSL 143A, 989, 6–8). 1409 Vgl. Greg.‑M. Mor. I, 37 (CCSL 143, 45, 1–21); IX, 64 (CCSL 143, 503, 13–25); XXXI, 27 (CCSL 143B, 1569, 11–14) sowie Greg.‑M. In Cant. 31 (CCSL 144, 31, 596–600) und Kap. 5.1.2. 1410 Vgl. Greg.‑M. Mor. XIV, 42 (CCSL 143A, 724, 18–22), vgl. ebenso Greg.‑M. Hom. Ez. II, 7, 6 (CCSL 142, 320, 190–196) und Kap. 5.5.1.3. 1411 Vgl. die prägnante Formulierung Carol Straws: „Christ’s redemption means a just universe in which human actions are not dismissed out of hand by an omnipotent God; they matter.“, Straw, Theology, 195. 1408 „Und
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5.6.3.1.2 Die Versuchungen durch den Teufel Neben der göttlichen Gnade beschreibt Gregor eine weitere überirdische Macht, die Einfluss auf die Tugenden und Werke des Menschen nimmt: den Teufel. In den Moralia in Iob greift der römische Bischof auf die facettenreiche Satanologie und Dämonenlehre der christlichen Tradition zurück.1412 Dafür verwendet er eine variable Terminologie und spricht sowohl singularisch von dem Erzfeind Gottes als auch kollektiv von dessen Dämonen und Engeln.1413 In Bezug auf das gute Handeln des Menschen sind an dieser Stelle zwei Aspekte besonders relevant: die Gefahr der Versuchung durch den Widersacher einerseits und dessen Unterordnung unter und Dienstbarkeit für Gott andererseits.1414 Mit seinen unablässigen Versuchungen intendiert der Teufel, den Menschen von guten Taten fernzuhalten. Hierfür setzt er auf allen drei Entwicklungsstufen eines Werkes zum Angriff an: Gleich zu Beginn versucht er die gute Intention in Ruhmsucht zu verkehren und somit den Wert der gesamten Tat ins Gegenteil zu verkehren. Ist dem Widersacher dieses nicht möglich, stellt er sich der konkreten actio in den Weg und sorgt so durch Ablenkung dafür, den Wohltäter von der Handlung abzuhalten.1415 Erweist sich der Mensch bis hierhin als ausreichend standhaft, lässt der Teufel zum Schein mit seinen Versuchungen ab und lässt ihn sich in falschem Frieden wähnen, um ihn zuletzt doch noch zu Fall zu bringen.1416 Vor den Fallstricken des Widersachers ist der Mensch zu keinem Zeitpunkt des Lebens geschützt. Ununterbrochen muss er auf seine Taten, Gedanken und insbesondere seine Beweggründe achten,1417 damit der Eifer für den Nächsten nicht zum Erliegen kommt und Schläfrigkeit und Passivität überhandnehmen.1418 Speziell im irdischen Leitungsamt droht Gefahr: Je größer die Verantwortung ist, die man für andere Menschen trägt, umso zahlreicher sind „die Speerspitzen des verborgenen Feindes.“1419 1412 Neben der klassischen Vorstellung Luzifers als gefallenem Engel rezipiert Gregor ebenso die Idee eines corpus diaboli als Antithese zur Kirche, die Lehre vom endzeitlichen Antichristen sowie verschiedene Deutungen des Sieges Christi über den Teufel, zur Traditionsgeschichte und ihrer Rezeption bei Gregor vgl. Fiedrowicz, Kirchenverständnis, 260–272; Schambeck, Missio, 125–130 und Savon, L’Antéchrist. 1413 Vgl. Fiedrowicz, Kirchenverständnis, 262. 1414 Diese Ambivalenz ist bereits im Alten Testament zu beobachten, vgl. Rudnig-Zelt, Susanne, Der Teufel und der alttestamentliche Monotheismus, in: dies. et al. (Hgg.), Das Böse, der Teufel und Dämonen – Evil, the Devil and Demons, WUNT 2. Reihe 412, Tübingen 2016, 1–20, und Kelly, Henry Ansgar, Art.: Teufel V. Kirchengeschichtlich, TRE 33 (2002), 124–134, hier: 124. 1415 Vgl. auch Greg.‑M. Ep. II, 24 (CCSL 140, 110, 4–14). 1416 Vgl. Greg.‑M. Mor. I, 51–54 (CCSL 143, 51, 19–56, 122). 1417 Vgl. Greg.‑M. Mor. II, 72–74 (CCSL 143, 101, 6–103, 23). Zur Rolle der Intention, vgl. Kap. 5.3.3.2, 5.5.2.3 und 5.6.4. 1418 Vgl. Greg.‑M. Mor. II, 72 (CCSL 143, 102, 39–53). 1419 „[…] occulti hostis iaculis“ Greg.‑M. Mor. II, 74 (CCSL 143, 103, 10).
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Da der Urfeind jede noch so kleine Unaufmerksamkeit ausnutzt, sind die stete Wachsamkeit sowie die unablässige Bereitschaft zur Buße die einzigen Mittel, die der Mensch der Versuchung entgegenhalten kann.1420 Auch der caritas, die die übrigen Tugenden zusammenhält, kommt eine Schutzfunktion zu.1421 Neben seiner Rolle als Widersacher Gottes, des Menschen und der Kirche wird in den Moralia in Iob der Teufel zudem als Instrument des göttlichen Handelns beschrieben. Indem Gott die Anfechtungen und Versuchungen zulässt, wird dem Menschen einerseits die Möglichkeit gegeben, seine Tugendhaftigkeit zu beweisen, die erst in Anfechtung offenbar wird.1422 Andererseits schützt gerade die Versuchung und die durch sie ausgelöste Einsicht in die Notwendigkeit der Buße vor der Ursünde des Hochmuts.1423 Das diabolische Wirken erfüllt also einen äußerst positiven Zweck für das Heil des Menschen, der durch die Versuchung gereinigt wird und seine Zugehörigkeit zu Gott belegen kann.1424 In den Ausführungen Gregors ist der Teufel nicht der jenseitige Höllenfürst, dem die bußunwilligen Sünder dereinst übereignet werden.1425 Vielmehr sieht er dessen Wirken konsequent immanent: Ihm kommt eine didaktische Funktion in der Soteriologie zu, da er die Sünder zurück auf den rechten Pfad und in das Gnadenwirken Gottes führt.1426 Auf diese Weise wird sowohl die Allmacht und Gerechtigkeit Gottes gewahrt, dem kein adäquater Gegner gegenübergestellt ist und der nicht grundlos Leiden zulässt, als auch die Einflussmöglichkeit des Menschen auf das eigene Heil erhalten.
5.6.3.2 Die Unsicherheit des Heils Mit der Betonung der unverdienten Gnade Gottes einerseits und der zu allen Lebzeiten drohenden Versuchung durch den Teufel wird die Spannung zwischen einem vom menschlichen Handeln unabhängigen Gnadenmonopol und einer ausschließlichen Werkgerechtigkeit nicht aufgelöst. Obwohl Gregor mehrfach auf den direkten Zusammenhang von guten Werken und jenseitigem Heil verweist,1427 betont er dennoch die Unsicherheit und Unberechenbarkeit desselben. Aus dem irdischen Leben lässt sich das jenseitige Schicksal nicht zweifelsfrei ableiten, so sind Stärken zwar für jedermann erkennbar, die Schwächen liegen aber bis zum Jüngsten Gericht zumeist im Inneren verborgen.1428 Zudem kann 1420
Vgl. Greg.‑M. Mor. II, 73 (CCSL 143, 102, 54–74). Vgl. Greg.‑M. Mor. XXVIII, 46 (CCSL 143B, 1432, 3–1433, 51). 1422 Vgl. Greg.‑M. Mor. praef. 6 (CCSL 143, 11, 42–12, 66). 1423 Vgl. Greg.‑M. Mor. II, 83 (CCSL 143, 109, 20–110, 35). 1424 Zur göttlichen Pädagogik mithilfe von Strafen vgl. Greschat, Moralia, 99–110. 1425 Vgl. Kelly, Teufel, 128 f. 1426 Vgl. Straw, Theology, 195–198. 1427 Vgl. Greg.‑M. Mor. IV, 70 (CCSL 143, 214, 2–215, 18); VI, 43 (CCSL 143, 316, 9–13); VII, 38 (CCSL 143, 363, 11–13); XXVI, 51 (CCSL 143B, 1305, 56–65). 1428 Vgl. Greg.‑M. Mor. XXXI, 25 (CCSL 143B, 1568, 91–113), vgl. auch Greg.‑M. Mor. XIV, 6 (CCSL 143A, 701, 12–702, 23). 1421
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das irdische Ergehen vielfältige kausale Hintergründe haben: Leid kann Prüfstein, Strafe oder lediglich das Vorzeichen künftiger Pein sein, wohingegen Wohlergehen Gottgefälligkeit bezeugen oder eine Versuchung des Teufels darstellen kann.1429 Insofern ist dem Vorbild der Erwählten zu folgen, die trotz ihrer guten Werke stets Reue und Angst bezüglich des eigenen Lebens und des kommenden Gerichts empfinden.1430 Dieses ist umso mehr geboten, da viele Sünden, insbesondere die vor den Mitmenschen leicht zu verbergenden Gedankensünden, nur schwer zu vermeiden sind.1431 Zudem beinhalten Werke auch Gefahren, weshalb auf sie kein Vertrauen gesetzt werden sollte.1432 Insbesondere Hochmut kann durch gute Taten gefördert werden und so irrtümliche Heilssicherheit bewirken.1433 Diesen betrachtet Gregor mit Sir 10,15 als Anfang aller Sünde,1434 der den Fall Adams verursachte1435 und selbst durch Almosen, das Werk der tätigen Nächstenliebe schlechthin, nicht gesühnt werden kann.1436 Ebenso zerstört der neidvolle Blick auf das Glück des Nächsten den Verdienst der bereits geleisteten Werke.1437 Wirklich gerecht ist allein derjenige, der auf allen Ebenen Gutes tut und den Versuchungen niemals erliegt.1438 Dieses Ziel zu erlangen, ist kaum jemandem vergönnt, selbst die geistlichen Vorbilder, die Asketen, erweisen allzu oft ihre menschliche Fehlbarkeit.1439 Mit den eigenen Werken sollte man nicht nur wegen des drohenden Hochmuts nicht prahlen,1440 sondern auch, weil ihr Wert coram Deo den Menschen ebenso unbekannt ist wie sein Ratschluss zwischen Gnade und Gerechtigkeit.1441 1429 Vgl. Greg.‑M. Mor. V, 1 (CCSL 143, 218, 1–219, 47) und Straw, Theology, 197; Straw, Adversitas. 1430 Vgl. Greg.‑M. Mor. V, 15 (CCSL 143, 227, 2–228, 23). 1431 Vgl. Greg.‑M. Mor. XVIII, 11 (CCSL 143A, 891, 35–892, 49). 1432 Vgl. Greg.‑M. Mor. XXIII, 48 (CCSL 143B, 1180, 65–1181, 100). 1433 Vgl. Greg.‑M. Mor. I, 47 (CCSL 143, 50, 9–16); IX, 37 (CCSL 143, 481, 2–482, 25). Lob für Taten stellt eine besondere Gefahr dar, vgl. Greg.‑M. Mor. VIII, 75 (CCSL 143, 440, 25–441, 59). 1434 Vgl. u. a. Greg.‑M. Mor. XIV, 16 (CCSL 143A, 708, 10–709, 12). 1435 Vgl. dazu Greschat, Moralia, 85–88. 1436 Vgl. Greg.‑M. Mor. XXI, 30 (CCSL 143A, 1087, 61–72). 1437 Vgl. Greg.‑M. Mor. V, 85 (CCSL 143, 282, 32–53). 1438 Vgl. Greg.‑M. Mor. XIX, 32 f. (CCSL 143A, 982, 2–983, 46). Zur Wankelmütigkeit des menschlichen Geistes vgl. Greg.‑M. Mor. IV, 71 (CCSL 143, 215, 19–216, 45). 1439 Vgl. Greg.‑M. Mor. V, 55 (CCSL 143, 256, 36–258, 82); VII, 40 (CCSL 143, 365, 37–45); VIII, 72 (CCSL 143, 438, 28–42). Ohnehin ist der asketische Verzicht niemals in Perfektion zu üben: Essen, trinken und schlafen müssen auch die radikalsten Eiferer, vgl. Greg.‑M. Mor. IV, 68 (CCSL 143, 212, 26–29). Zu Gregors Kritik am Stolz der Asketen vgl. Kap. 5.2.3.3; 5.3.1.3; 5.5.3.2 und Schambeck, Missio, 305–308, die Carol Straws Überbetonung der Askese zurecht einschränkt, vgl. Straw, Perfection, 111 f. 182. 1440 Vgl. Greg.‑M. Mor. VIII, 81 f. (CCSL 143, 445, 2–448, 101). 1441 Vgl. Greg.‑M. Mor. V, 12 (CCSL 143, 226, 12–227, 46); XXIX, 34 (CCSL 143B, 1457, 65–1458, 104); XXXIII, 23 (CCSL 143B, 1693, 36–1694, 70). Auch das Sakrament der Taufe bietet keine Garantien, da der weitere Lebensweg des Menschen ebenso unergründlich ist wie
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Dennoch warnt Gregor davor, die Hände in den Schoß zu legen: Vergebung wird nur derjenige erfahren, der anderen Menschen gegenüber selbst Barmherzigkeit geübt hat.1442 Nur gute Taten gewähren eine Chance, den sonst sicheren Höllenstrafen zu entfliehen.1443 Die Gelegenheit dazu besteht allerdings nicht auf Dauer, denn das Leben kann schon bald vorbei sein, wie das Beispiel von Lazarus und dem reichen Mann beweist.1444 Trotz aller Verantwortung, die er den Christen für ihr eigenes Heil zuspricht, hütet sich Gregor davor, es vollends berechenbar und Gott damit zum Schuldner zu machen. Die Gnade Gottes bleibt ein unverfügbares und unverdientes Gut und dennoch kann der Mensch Einfluss auf sein jenseitiges Schicksal nehmen.1445
5.6.3.3 Die Einheit des Leibes Christi Die Kirche dient für Gregor als fundamentale Einheit, auf der seine gesamte Theologie, insbesondere seine Ausführungen in den Moralia in Iob, aufbaut.1446 Eine individuelle Privatreligion ist für den Papst der Spätantike nicht vorstellbar. Neben der rein institutionellen Größe stellt die Kirche zudem das Zentrum seiner gemeinschaftsorientierten Ethik sowie den Ort der Heilsaneignung dar. Ähnlich wie Augustin betrachtet Gregor die Kirche als corpus permixtum aus Erwählten und Verworfenen.1447 Anders als dieser sieht der römische Bischof aber in der Kirche auch für die Verworfenen die Möglichkeit zum Heil.1448 Die das Urteil Gottes, vgl. Greg.‑M. Mor. XXVII, 7 (CCSL 143, 1334, 22–1335, 39), zur Funktion, die Gregor der Taufe bzgl. der Gottesnähe zuspricht, vgl. Schambeck, Missio, 224 f. 1442 Vgl. Greg.‑M. Mor. X, 30 (CCSL 143, 558, 86–559, 122). 1443 Vgl. Greg.‑M. Mor. IX, 104 (CCSL 143, 530, 95–108). 1444 Vgl. Greg.‑M. Mor. VIII, 28 f. (CCSL 143, 401, 1–403, 26). Auf die Perikope Lk 16,19–31 verweist Gregor in den Moralia ganze vierzehn Mal, zumeist betont er damit die Notwendigkeit der Werke, vgl. Greg.‑M. Mor. I, 8 (CCSL 143, 29, 21–23); III, 46 (CCSL 143, 144, 11–145, 14); IV, 56 (CCSL 143, 47–49); V, 1 (CCSL 143, 218,7–9); VIII, 29 (CCSL 143, 5–9); IX, 101 (CCSL 143, 528, 38–529, 48); X, 49 (CCSL 143, 572, 13–16); XII, 56 (CCSL 143, 662, 8 f.); XV, 32 (CCSL 143, 768, 29–31); XV, 60 (CCSL 143, 787, 6–8); XVIII, 29 (CCSL 143, 904, 60–65); XVIII, 30 (CCSL 143, 904, 4–905, 6); XXV, 31 (CCSL 143, 1256, 20–1257, 28); XXXIV, 53 (CCSL 143, 1770, 154–156). 1445 „On one hand, Christians have reason to hope as sinners have the power to cleanse sins. Christ’s propitiation of God means that human actions can count, but it does not guarantee God’s acceptance.“ Straw, Theology, 204. 1446 Vgl. dazu Fiedrowicz, Kirchenverständnis, 79–105. 1447 Vgl. Greg.‑M. Mor. XXXI, 28 (CCSL 143B, 1570, 32–51) sowie Greschat, Moralia, 110–116; Fiedrowicz, Kirchenverständnis, 281–283 und Kap. 5.3.3.1. 1448 „Nur können aber in dieser [scil. der Kirche] weder die Guten ohne die Schlechten sein, noch die Schlechten ohne die Guten. Denn in diesem Zeitalter sind beide Teile vereint und stimmen miteinander überein, damit sowohl die Schlechten durch das Beispiel der Guten verändert werden als auch die Guten durch die Prüfungen der Schlechten gereinigt werden.“ (Modo uero esse in ea nec boni sine malis, nec mali sine bonis possunt. Hoc enim tempore coniuncta utraque pars sibi necessario congruit, ut et mali mutentur per exempla bonorum et boni purgentur per temptamenta malorum.) Greg.‑M. Mor. XXXI, 28 (CCSL 143B, 1570, 51–55). Vgl. auch Greg.‑M. Hom. eu. I, 11, 4 (CCSL 141, 76, 71–76). Katharina Greschat und Michael Fiedrowicz
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vermischte Existenz der Kirche bedeutet einen doppelten Gewinn: Die Guten können sich beweisen und durch Demut von kleineren Sünden gereinigt werden, den Schlechten aber steht der Weg zum Heil dank guter Vorbilder offen. Darin liegt die soteriologische Funktion der Kirche, sie soll die Menschen der Macht der Sünde entreißen und zu wahrhaften Gliedern verwandeln.1449 Gregor betont allerdings, sicher in seiner Verantwortung für die Einheit des gesamten westlichen Christentums und mit Blick auf aktuelle Schismen und dogmatische Irrlehren,1450 dass das Heil nur innerhalb der Kirche zu finden ist. Häretiker, die im Hiobbuch durch die Freunde versinnbildlicht sind, müssen buchstäblich not-wendig in sie zurückkehren.1451 Werke und Opfer werden coram Deo allein im Schoß der „katholischen“ Gemeinschaft durch die Fürbitten der Gerechten angenommen.1452 Der Weg aus dem Schisma bzw. aus der Häresie in die Orthodoxie steht jederzeit offen, sofern man, anders als der Heuchler Elihu, bereit ist, die hochmütige Irrlehre abzulegen.1453 Die Eintracht der Kirche ist durch das Band der Liebe gestiftet,1454 das die Gemeinschaft der Heiligen über alle Zeiten hinweg verbindet.1455 Auch ehemalige Sünder werden durch die Gnade des Heiligen Geistes in die Einheit der Liebe eingefügt.1456 „Die Liebe vermag nämlich, Getrenntes zu einen.“1457 Die Mahnung zur concordia wird im Doppelgebot der Liebe verdeutlicht: Wer die Wahrheit Gottes durch Irrlehren verleugnet und ihn so nicht in rechter Weise liebt oder aus Mangel an Liebe im Schisma den Nächsten als Gefährten zurückweist, zerbricht die Eintracht.1458 Vor diesem Horizont ist das Verhältnis von universaler und partieller Kirche zu verstehen: Verbunden durch das Band der benennen zwar die läuternde Funktion der reprobi für die Erwählten, lassen aber die Option zur Besserung der Verworfenen unerwähnt, vgl. Greschat, Moralia, 116 und Fiedrowicz, Kirchenverständnis, 293 f. 1449 Vgl. Greg.‑M. Mor. XVIII, 56 (CCSL 143A, 923, 36 f.). Gregor stellt die Kirche an dieser Stelle wie so oft der Synagoge gegenüber, die er als verstockt herabwürdigt. Zur Rolle, die der Antijudaismus in seiner Theologie spielt, vgl. Fiedrowicz, Kirchenverständnis, 164–171; zu den Vorlagen aus der christlichen Tradition vgl. Schreckenberg, Heinz, Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte und ihr literarisches und historisches Umfeld (1.–11. Jh.), EHS.T 172, Frankfurt 1982, I, 171–424. 1450 Vgl. Kap. 2.2. 1451 Vgl. Greg.‑M. Mor. praef. 17 (CCSL 143, 21, 1–22, 16); XXXV, 14 (CCSL 143B, 1782, 60–1783, 82). Damit greift er erneut auf Cyprian und sein bekanntes Votum „salus extra ecclesiam non est“ zurück, Cypr. Ep. 73, 21, 2 (CCSL 3C, 555, 380). 1452 Vgl. Greg.‑M. Mor. XXXV, 13 (CCSL 143B, 1781, 34–1782, 59). 1453 Vgl. Greg.‑M. Mor. praef. 18 f. (CCSL 143, 22,17–23, 18). 1454 Vgl. Greg.‑M. Mor. XXVIII, 46 (CCSL 143B, 1432, 9–1433, 51) und Kol 3,14; Eph 4,3. S. a. Kap. 5.3.3.1. 1455 Vgl. Greg.‑M. Mor. X, 9 (CCSL 143, 541, 114–543, 172) und Catry, L’amour, 323–325. 1456 Vgl. Greg.‑M. Mor. XXX, 22 (CCSL 143B, 1506, 11–14). 1457 „Caritas enim quae diuisa unire consueuit“ Greg.‑M. Mor. XXX, 31 (CCSL 143B, 1512, 13 f.). 1458 Vgl. Greg.‑M. Mor. XVIII, 41 f. (CCSL 143A, 911, 45–913, 91), vgl. Catry, L’amour, 325–327.
5.6 Die Moralia in Iob – Dem Nächsten nutzen mit Herz und Hand
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Liebe stellt sie trotz der großen Vielfalt von Riten und Sprachen eine Einheit dar.1459 Ebenso durch die Liebe verbunden sind die verschiedenen Glieder der einzelnen Gemeinde, die eine Vielzahl an Begabungen und Aufgaben aufweisen.1460 Ausführlicher als in den Evangelienhomilien rezipiert Gregor in den Moralia in Iob die paulinische Leib-Metapher und identifiziert die Varianz als fundamental notwendig: „Was nämlich ist die Kirche, wenn nicht der Leib des himmlischen Hauptes? In ihr hat der eine als Auge Höheres zu betrachten, der andere als Hand das Rechte zu tun, ein weiterer als Fuß zum Auftrag zu laufen, ein anderer als Ohr die Stimme der Gebote zu vernehmen, ein letzter als Nase den Gestank des Schlechten und den Duft des Guten zu unterscheiden. Diese ergeben – gemäß der Sitte der Glieder eines Leibes – aus allen einzelnen einen einzigen Leib, solange sie sich gegenseitig die übernommenen Dienste erweisen; und obwohl sie in Liebe Verschiedenes vollbringen, verhindern sie, wo sie verbunden sind, getrennt zu sein. Wenn aber alle Eines täten, so wären sie keinesfalls ein Leib, der aus vielen besteht, weil kein vielfältig Zusammengefügtes existierte, wenn nicht die einträchtige Vielfalt der Glieder gehalten würde.“1461
Erst die Vielfalt der Gaben und der gegenseitige (invicem) Dienst ermöglichen die Existenz und den Fortbestand der Kirche.1462 Zudem betont Gregor mehrfach, dass kein Mensch alle Tugenden und Begabungen besitzt, sondern stets auf die Hilfe des Nächsten angewiesen ist.1463 So ist z. B. nicht jedermann für ein kontemplatives Leben geschaffen, für die meisten ist die vita activa die geeignetere Lebensform.1464 Dementsprechend warnt er 1459 Vgl. Greg.‑M. Mor. VI, 50 (CCSL 143, 320, 2–14); XIX, 19 (CCSL 143A, 970, 13–17); XXX, 22 (CCSL 143B, 1506, 19–25) und Fiedrowicz, Kirchenverständnis, 219 f. sowie Kap. 6.2.2.1; 6.3.2.3. In seinen Briefen betont Gregor mehrfach, dass die Liebe die Menschen auch über größte geographische Distanzen hinweg eint, vgl. z. B. Greg.‑M. Ep. III, 48 (CCSL 140, 193, 8–14). 1460 Vgl. Greg.‑M. Mor. XIX, 44 (CCSL 143, 991, 59–69); XXVIII, 22 (CCSL 143B, 1413, 28–38); XXX, 24 (CCSL 143B, 1507, 40–1508, 82) und auch Greg.‑M. Hom. eu. I, 20, 13 (CCSL 141, 164, 270–166, 319); Greg.‑M. Ep. II, 40 (CCSL 140, 127, 13–21). 1461 „Quid enim sancta ecclesia, nisi superni sui capitis corpus est? In qua alius alta uidendo oculus, alius recta operando manus, alius ad iniuncta discurrendo pes, alius praeceptorum uocem intellegendo auris, alius malorum fetorem bonorum que fragrantiam discernendo naris est. Qui, corporalium more membrorum, dum uicissim sibi accepta officia impendunt, unum de semetipsis omnibus corpus reddunt; et cum diuersa in caritate peragunt, diuersum esse prohibent ubi continentur. Si autem unum quid cuncti agerent, corpus utique quod ex multis continetur non essent, quia uidelicet multipliciter compactum non exsisteret, si hoc concors membrorum diuersitas non teneret.“ Greg.‑M. Mor. XXVIII, 23 (CCSL 143B, 1414, 56–67). 1462 Vgl. Greg.‑M. Mor. XIX, 23 (CCSL 143A, 974, 48–975, 84); XIX, 43 (CCSL 143A, 991, 40–58). 1463 Vgl. Greg.‑M. Mor. XXVIII, 21 f. (CCSL 143B, 1412, 3–1414, 55); XXIX, 74 (CCSL 143B, 1486, 177–1487, 208). Lediglich Christus selbst vereint etwa alle sieben Gaben des Geistes, vgl. Greg.‑M. Mor. XXIX, 74 (CCSL 143B, 1486, 169–177). 1464 Vgl. Greg.‑M. Mor. VI, 57 (CCSL 143, 326, 56–328, 109); XXXII, 4 (CCSL 143B, 1629, 43–53) sowie Schambeck, Missio, 320 f. und Kap. 5.5.3.1.
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davor, sich selbst zu erheben. Gott hat jedem Menschen eine individuelle Begabung und Aufgabe verliehen und auch Grenzen gesetzt, um dem Hochmut vorzubeugen.1465 Wer die Tugend seines Nächsten beobachtet und dadurch seine eigene Unvollkommenheit erkennt, wird zur Demut geleitet.1466 Trotz der unterschiedlichen Begabungen sind dennoch grundsätzlich alle Menschen gleich. Die Hierarchie in der Kirche bzw. der Gesellschaft stellt kein Werturteil dar, sondern vielmehr ein gottgegebenes Ordnungsprinzip.1467 Im gleichen Atemzug warnt der Papst die Führer davor, sich durch ihre Vorrangstellung zu Hochmut verleiten zu lassen.1468 Zwar ist nicht die Macht an sich sündig, aber der Stolz, der sich ihr schnell hinzugesellt.1469 Im Zentrum sollten nicht die eigene Position und der daraus resultierende Vorteil stehen, sondern vielmehr der gegenseitige Dienst und der Nutzen des Nächsten: „Denn was sind wir alle, die wir unter der Verwaltung des Schöpfers durch den einander stellvertretenden Dienst vereint sind unter dem einen und wahren Herrn, anderes als gegenseitige Diener? Wenn also derjenige, der unterstellt ist, zum Gehorsam dient, verbleibt ohne Zweifel, dass derjenige, der vorsteht, zur Wortverkündigung dient. Wenn derjenige, der unterstellt ist, den Befehlen gehorcht, muss derjenige, der vorsteht, die Fürsorge in Sorgfalt und Liebe aufbringen. Und so geschieht es, dass wir nun erstreben, uns einander eifrig durch Liebe zu dienen, und dereinst mit dem wahren Herrn gemeinsam in Frohlocken herrschen.“1470
Die christliche Gemeinschaft gründet nicht allein auf dem einheitlichen Glauben, sondern realisiert sich in der geübten Nächstenliebe. Für diese benennt Gregor in seiner Hiobauslegung in Anlehnung an 1 Kor 13,4 zwei zentrale Tugenden, Wohltätigkeit (benignitas) und Geduld (patientia).1471 Die Nöte des Nächsten 1465
Vgl. Greg.‑M. Mor. XXVIII, 24 (CCSL 143B, 1414, 74–1415, 92). Greg.‑M. Mor. XXIV, 19 (CCSL 143B, 1201, 127–1202, 168). Zur Bedeutung der Demut in den Moralia in Iob, vgl. Schambeck, Missio, 233–239. 1467 Vgl. Greg.‑M. Mor. XXI, 22 (CCSL 143A, 1082, 2–6) und Catry, L’amour, 328 f.; Greschat, Moralia, 116–120; Evans, Faith, s. auch die Parallelstelle Greg.‑M. Past. II, 6 (SC 381, 202,1–218,214) sowie Kap. 5.2.2.2. 1468 Vgl. Greg.‑M. Mor. XXI, 22 (CCSL 143A, 1082, 6–17); XXVII, 45 (CCSL 143B, 1300, 61–1301, 96). Ebenso werden die Untergebenen zur Demut ermahnt, sollten sie Kritik an den Leitungspersonen äußern, vgl. Greg.‑M. Mor. XXV, 37 (CCSL 143B, 1262, 99–114), vgl. Greg.‑M. Past III, 4 (SC 382, 280, 72–282, 117). 1469 Vgl. Greg.‑M. Mor. XXVI, 48 (CCSL 143B, 1303, 147–164). Zum traditionellen Wortspiel prodesse/praeesse vgl. Congar, Ausdrücke, 111–114 und Kap. 5.2.3.1. 1470 „Omnes namque qui sub dispensatione conditoris uicario nobis ministerio iungimur sub uno ac uero Domino, quid nobis aliud nisi inuicem serui sumus? Cum igitur is qui subest seruit ad obsequium, restat procul dubio ut is qui praeest seruiat ad uerbum. Cum is qui subest iussis obtemperat, oportet ut is qui praeest curam sollicitudinis ac pietatis impendat. Sicque fit ut dum studiose nunc seruire nobis inuicem per caritatem nitimur, quandoque cum uero Domino communi exsultatione dominemur.“ Greg.‑M. Mor. XXII, 53 (CCSL 143A, 1132, 22–30), vgl. Kap. 5.6.4. 1471 Vgl. Greg.‑M. Mor. VIII, 2 (CCSL 143, 382, 2–383, 31). 1466 Vgl.
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müssen durch Wohltaten gelindert werden, zudem ist er auch in seinen Fehlern zu erdulden.1472 Der Geduld kommt dabei gerade bezüglich der Einheit der Gemeinde eine fundamentale Bedeutung zu, da durch mangelnde patientia zwangsläufig die concordia zerbricht: „Insofern kündigt nämlich derjenige, der sich weigert, Geduld zu üben, das soziale Leben schneller auf. Die Schulter fällt nämlich aus dem Gelenk [vgl. Hi 31,22], wenn der Geist keine Widrigkeit ertragen will und die brüderliche Eintracht verlässt […]. Denn die Eintracht kann niemals gewahrt werden, wenn sie nicht einzig durch Geduld gestärkt ist.“1473
Die Fähigkeit zur Geduld sieht Gregor in der Liebe gegründet.1474 Der Kirche weist er eine hervorgehobene Bedeutung für die Soteriologie zu. Insofern die zuvorkommende Gnade sowie die Versuchungen des Teufels das gute Handeln des Christen erfordern, benötigt dieser für die Werke die Gemeinschaft. Gute Taten sind nur im sozialen Kontext möglich. Der Mensch braucht einen Nächsten, dem er Gutes tun kann. Zudem gewährt allein die Mehrheitskirche Sühnemittel wie Fürbitten und Sakramente. Aus diesen Gründen ist die Einheit mit der Kirche heilsnotwendig. Gregors enge Verzahnung von Ekklesiologie und Soteriologie ist sicherlich durch seine päpstliche Verantwortung für die äußere Einheit der Kirche bedingt, zumal der Drei-KapitelStreit ihn sowohl in den Jahren in Konstantinopel als auch in seinem Pontifikat beschäftigte. Aber auch die Realität innerhalb der Kirche ist im 6. Jahrhundert alles andere als einheitlich. Mithilfe der paulinischen Leib-Ekklesiologie bindet der römische Bischof dennoch gerade die Varianz an Riten und gesellschaftlichen Gruppierungen in sein modern anmutendes Ideal der Einheit in Verschiedenheit, zumindest in Bezug auf Lebensweisen, Riten und sozialer Herkunft, ein.1475 Eintracht erfordert keine Einheit im Sinne einer Uniformität. Vielmehr stellt die Vielfalt an Aufgaben und Begabungen einen Gewinn für die Gesamtheit dar, solange die Eintracht durch Liebe geschaffen und durch Toleranz bewahrt wird. Obwohl die Kontemplation in den Moralia breiten Raum einnimmt, so tritt die Askese, wie in allen Werken aus der Zeit seines Pontifikats, als ausschließliche Lebensform deutlich in den Hintergrund bzw. wird z. T. harsch kritisiert.1476 1472 Vgl. Greg.‑M. Mor. V, 33 (CCSL 143, 241, 23–41); V, 78–81 (CCSL 143, 275, 2–279, 120). Dennoch wird damit keinesfalls die Aufgabe der correctio obsolet, vgl. Greg.‑M. Mor. V, 82 f. (CCSL 143, 279, 121–281, 179) und Kap. 5.6.2.1. 1473 „Quia nimirum qui patientiam seruare contemnit socialem uitam citius per impatientiam deserit. A iunctura etenim humerus cadit, cum aduersitatis aliquid ferre animus non ualens, fraternam concordiam relinquit […]. Neque enim umquam seruari concordia nisi per solam patientiam ualet.“ Greg.‑M. Mor. XXI, 33 (CCSL 143A, 1089, 20–26). 1474 Vgl. Greg.‑M. Mor. V, 34 (CCSL 143A, 1089, 34–1090, 47). 1475 Vgl. Meyvaert, Paul, Diversity within Unity. A Gregorian Theme, HeyJ 4 (1963), 141–162. 1476 Vgl. Greschat, Moralia, 194–199.
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Gregor warnt die Asketen vor der Arroganz ihres Standes und verpflichtet sie zum Dienst in der Gemeinde. Die vita mixta stellt für ihn weiterhin das Ideal christlichen Lebens dar.1477 Anders als im Hoheliedkommentar spricht in der Hiobauslegung nicht mehr der Mönch im Kreis seiner Brüder, sondern der Papst vor (potentiellen) Mitbischöfen, die ebenso wie er Verantwortung auch und gerade für nicht asketisch Lebende tragen. Mit dem ekklesiologischen Modell des reziproken Dienstes will Gregor zudem die unterschiedlichen Gruppen und Traditionen unter dem Dach der Kirche vereinen, ohne dabei die Vielfalt durch Vereinheitlichung aufzugeben. Alle Varianz ist erhaltenswert, sofern sie der Gesamtheit dient und sie erhält. Andererseits ist die Gemeinschaft der Christen weit mehr als eine lose, beliebige Verknüpfung unterschiedlicher Gruppen. Vielmehr sind die Christen, so verschieden sie auch leben, arbeiten und Gottesdienste feiern, durch die Liebe und den gegenseitigen Dienst eng miteinander verbunden.
5.6.4 Die utilitas proximi als Motivation und Zielsetzung der tätigen Nächstenliebe Die Intention einer Handlung betont Gregor wie bereits in seinen beiden Homilie-Zyklen auch in den Moralia in Iob, denn sie bestimmt maßgeblich den Wert einer Tat.1478 Wie Geldwechsler müssen die Christen ihre Werke penibel prüfen, damit sie der äußere Goldschimmer der guten Tat nicht über den wertlosen Kupferkern der schlechten Intention hinwegtäuscht.1479 Diese besteht zumeist in dem Streben nach irdischem Ruhm.1480 Insbesondere die Heuchler bezwecken mit ihren Taten Irdisches wie Lob und Ehre anstelle des himmlischen Lohns.1481 Sie besitzen nicht die Wurzel der Liebe, die aller Ruhmsucht konträr entgegensteht.1482 Denn sie sucht nicht den eigenen Vorteil, sondern den Nutzen des Nächsten.1483 Sie stellt die Sorgen des Mitmenschen über die eigenen.1484 1477 Vgl. u. a. Greg.‑M. Mor. VI, 56–62 (CCSL 143, 325,1 -332, 252). Zum Verhältnis von actio und contemplatio vgl. Greschat, Moralia, 195–285; Schambeck, Actio; Schambeck, Missio, 310–336 und Kap. 5.5.3.1. 1478 Vgl. Greg.‑M. Mor. I, 54 (CCSL 143, 55, 106–56, 122); XI, 63 (CCSL 143A, 621, 3–622, 14); XII, 61 (CCSL 143A, 666, 50–55); XV, 38 (CCSL 143A, 772, 2–7); XXVIII, 30 (CCSL 143B, 1218, 91–1419, 123) und Kap. 5.3.3.2 und 5.5.2.3. 1479 Vgl. Greg.‑M. Mor. XXXIII, 60 (CCSL 143B, 1724, 27–1726, 71). 1480 Vgl. Greg.‑M. Mor. I, 36 (CCSL 143, 44, 2–45, 11); X, 41 (CCSL 143, 566, 2–567, 38); XI, 19 (CCSL 143A, 597, 32–41); XII, 61 (CCSL 143A, 666, 55–74); XXVIII, 31 f. (CCSL 143B, 1419, 2–1420, 37). 1481 Vgl. Greg.‑M. Mor. VIII, 68 (CCSL 143, 434, 58–435, 98). 1482 Vgl. Greg.‑M. Mor. XX, 31 (CCSL 143A, 1026, 151–1027, 169). 1483 Vgl. Greg.‑M. Mor. XVIII, 14 (CCSL 143A, 894, 51–66) und Catry, L’amour, 308–315. 1484 Vgl. Greg.‑M. Mor. XXXI, 17 (CCSL 143B, 1562,2–1563, 42); XXXI, 80 (CCSL 143B, 1605, 2–1606, 31).
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In der utilitas proximi sieht Gregor – neben der Sehnsucht nach der himmlischen Heimat – die wahrhaft gute Intention menschlichen Handelns.1485 So sollten Diebe allein um deren Heil willen zu einem gerechten Leben bekehrt werden, nicht aber nur zum Schutz des eigenen Besitzes.1486 Ebenso sind gute Taten nicht um des Lobes willen bekannt zu machen, sondern zur Nachahmung durch den Mitmenschen und demzufolge zu dessen Fortschritt.1487 Einen ähnlichen Standpunkt vertritt Gregor in der Frage nach der Freude über das gute Ansehen: „Freilich freuen sich manchmal auch heilige Männer über ihren guten Ruf; aber wenn sie erwägen, dass durch diesen die Hörenden zu besseren Taten fortschreiten, freuen sie sich doch nicht über den eigenen Ruf, sondern über den Nutzen der Nächsten. Denn es ist etwas Anderes, Beifall zu erheischen als über Nutzen zu jubeln.“1488
Schließlich ist das Vermögen zur heiligen Lebensführung von Gott vornehmlich zu diesem Zweck verliehen worden.1489 Gegebenenfalls ist der eigene spirituelle Fortschritt sogar hintanzustellen, sollten die Mitmenschen durch ihn in Anfechtung geraten.1490 Mit dem Hinweis auf den Nutzen der Nächsten begründet der römische Bischof ebenso die Übernahme von Leitungsämtern in Kirche und Staat,1491 die stets zu einer gottgefälligen Lebensweise anleiten sollen.1492 Der einzige Zweck des Predigtamtes etwa liegt darin, die Lebensführung der Gemeinde zu verbessern.1493 Im Bedarfsfall muss der Bischof aber zum Nutzen der Mitmenschen Sorge auch für irdische Bedürfnisse tragen.1494 Ebenso führt ein flexibler Umgang mit Vorschriften mitunter zu einem größeren Gewinn in der correctio als eine strikte Handhabe,1495 wie Gregor in 1485 Vgl. Greg.‑M. Mor. II, 72 (CCSL 143, 102, 39–53); X, 31 (CCSL 143, 559, 128 f.); XI, 46 (CCSL 143A, 612, 52–71). 1486 Vgl. Greg.‑M. Mor. XXXI, 22 (CCSL 143B, 1566, 40–1567, 55). 1487 Vgl. Greg.‑M. Mor. XIX, 36 f. (CCSL 143A, 985, 3–987, 83). Ausführlich diskutiert Gregor die Frage nach Veröffentlichung oder Geheimhaltung von guten Werken bereits in Hom. Ez. I, 9, 19 f. (CCSL 142, 133, 326–134, 407), vgl. dazu Kap. 5.5.2.1. 1488 „Quamuis nonnumquam etiam sancti uiri de bona sua opinione gaudeant; sed cum per hanc ad meliora proficere audientes pensant, non iam de opinione sua, sed de proximorum gaudent utilitate quia aliud est fauores quaerere, et aliud de profectibus exsultare.“ Greg.‑M. Mor. XXII, 18 (CCSL 143A, 1106, 10–14). 1489 Vgl. Greg.‑M. Mor. II, 91 (CCSL 143, 113, 50–66). 1490 Vgl. Greg.‑M. Mor XXVIII, 28 (CCSL 143B, 1416, 53–1417, 67). 1491 Vgl. Greg.‑M. Mor. XII, 59 (CCSL 143A, 664, 19–41); XXV, 40 (CCSL 143B, 1264, 68–70) und Greschat, Moralia, 127–139. 1492 Vgl. Greg.‑M. Mor. XXIV, 54 (CCSL 143B, 1227, 49–1228, 76). 1493 Vgl. Greg.‑M. Mor. XI, 22 (CCSL 143A, 598, 2–16). 1494 Vgl. Greg.‑M. Mor. IX, 8 (CCSL 143, 461, 14–17). 1495 Vgl. Greg.‑M. Mor. XXVIII, 29 (CCSL 143B, 1417, 68–1418, 90). Ein schönes Beispiel hierfür findet sich in den Dialogen, als Benedikt von seiner Schwester durch ein Wunder vom Bruch der monastischen Regel überzeugt wird, vgl. Greg.‑M. Dial. II, 33, 1–5 (SC 260, 230, 1–234, 56), vgl. Catry, L’amour, 303 f.
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5 Das Ideal der tätigen Nächstenliebe im literarischen Werk Gregors
seiner eigenen Amtsführung bewies.1496 Der Führer muss sein Leitungshandeln strikt nach dem Nutzen der Untergebenen ausrichten. Sie sind relevant und nicht allein der tote Buchstabe des Gesetzes. Wie sehr das verantwortungsvolle Amt um Ausgleiche ringen muss, beschreibt der römische Bischof in einer Charakterisierung desselben, in der er auffällig zwischen der abstrakten 3. Person und der ihn miteinschließenden 1. Person Plural wechselt: Der Anführer muss zukünftige Dinge in den Blick nehmen, ohne die gegenwärtigen Gegebenheiten aus den Augen zu verlieren. Zwischen Nachlässigkeit und Übereifer muss er ebenso einen Mittelweg finden wie zwischen Kommunikation und Schweigen. Obendrein belasten die gedanklichen Erwägungen und die Vielzahl an Verantwortlichkeiten das ganze Leben so stark, dass oftmals die Nacht zum Tag gemacht werden muss.1497 Je gehobener die Position ist, umso größer sind die Sorgen und die Lasten der anderen, die vom Anführer zu schultern sind.1498 Auch muss der Leiter das rechte Maß an Autorität und Gleichberechtigung finden, um sowohl den Nutzen für die Untergebenen zu gewährleisten als auch den Versuchungen der Macht zu widerstehen.1499 Mit der Macht geht zwar stets die Gefahr des Hochmuts einher, dennoch ist sie zum Nutzen des Nächsten zu ergreifen, um so Gott in seiner Macht zum Heil der Menschen nachzuahmen.1500 Für diese Aufgabe sind die geistlich Fortgeschrittenen, die Asketen, ausdrücklich geeignet,1501 insbesondere in Zeiten, die weltlicher Führungspersonen ermangeln.1502 Damit spielt Gregor offensichtlich auf die ausbleibende Unterstützung Roms gegen die Langobarden durch den Kaiser und seinen Exarchen an. In der politischen Zwangslage blieb ihm als römischen Bischof nichts Anderes übrig, als die staatlichen Aufgaben zusätzlich zu seinen kirchlichen zu übernehmen. Die entsprechenden Aussagen in den Moralia in Iob wollen wohl diese Entscheidung verteidigen und mit dem Nutzen der Gemeinde begründen. Darüber hinaus nennt er auch theologische Argumente für den Rückgriff auf asketisches Führungspersonal. Gerade die Sehnsucht zur patria caelestis bewirkt die Nächstenliebe: „Wenn diese [scil. die Seele] vollkommen in Liebe zur himmlischen Heimat hingerissen ist, wird sie auch vollends in der Nächstenliebe gefestigt. Denn wenn sie nichts Irdisches ersehnt, gibt es auch nichts, was ihrer 1496
Vgl. Kap. 6.2.1. Greg.‑M. Mor. II, 75 (CCSL 143, 103, 5–104, 34). Letztendlich achtet eine kompetente Leitungsperson insbesondere auf einen Ausgleich aus der Verantwortung für andere und sich selbst, vgl. Greg.‑M. Mor. II, 75 (CCSL 143, 104, 44–105, 52). 1498 Vgl. Greg.‑M. Mor. XVII, 31 (CCSL 143A, 868, 19–869, 34). 1499 Vgl. Greg.‑M. Mor. XXVI, 45 (CCSL 143B, 1300, 70–75). 1500 Vgl. Greg.‑M. Mor. XXVI, 48 (CCSL 143B, 130, 147–164) sowie Greschat, Moralia, 134 f. 1501 Katharina Greschat stellt zutreffend fest, dass Gregor in den Moralia in Iob diese nie explizit benennt, vgl. Greschat, Moralia, 127 f. Dennoch hat er sie im Blick, wenn er eine ausschließliche vita contemplativa ablehnt und die Kontemplativen stattdessen auf den Dienst am Nächsten und in der Gemeinde verpflichtet. 1502 Vgl. Greg.‑M. Mor. XIX, 45 (CCSL 143A, 70–992, 89). 1497 Vgl.
5.6 Die Moralia in Iob – Dem Nächsten nutzen mit Herz und Hand
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Fürsorge (caritas) für den Nächsten widerspricht.“1503 Wer sein Leben auf Gott und das jenseitige Reich ausrichtet, steht mit dem Mitmenschen nicht mehr in Konkurrenz um Irdisches und kann die Güter umso leichter austeilen. Insofern sind nach Gregor insbesondere die Asketen in die Verantwortung und den leitenden Dienst zu nehmen.1504 Sie sollten dem Willen Gottes demütig folgen und das Amt antreten.1505 Allerdings geht mit dem Leitungsamt zwangsläufig eine Gefahr für die asketische Konzentration einher: Es ist immer mit zeitlicher Sorge verbunden und macht jede radikale Weltentsagung unmöglich.1506 Da hilft es nur, sich trotz der Hast des Tagesgeschäfts regelmäßig auf das Gebot der Gottesliebe und das Gebet zu besinnen.1507 Gregor ruft die Mönche aus der Abgeschiedenheit der Klöster zurück in die Welt, wo sie zum Preis ihrer Ruhe Dienst am Nächsten tun sollen. Um ihnen diesen Schritt ein wenig zu erleichtern, betont er den eigenen geistlichen Zugewinn1508 und die Funktion der Gemeinschaft.1509 Da er die Gemeinschaft der Christen vornehmlich soteriologisch und damit mit dem Fokus auf den Handelnden begründet, verpflichtet er diesen umso nachdrücklicher darauf, sein Agieren strikt auf den Nächsten auszurichten. Somit verhindert er, dass die tätige Nächstenliebe lediglich zum Mittel zum Zweck des eigenen Heils verkommt. Indem jede Tat aus der Perspektive des Mitmenschen betrachtet wird und diese zur Maßgabe allen Handelns avanciert, wird die intendierte Gemeinschaft gefestigt. In den äußeren Taten zum Nutzen des Nächsten konkretisiert sich die innere Verbundenheit aus Liebe.
5.6.5 Die Terminologie der Nächstenliebe in den Moralia in Iob Die große Bedeutung, die Gregor dem Nutzen des Nächsten zukommen lässt, ist auch im Variantenreichtum seiner Terminologie zu beobachten. So spezifiziert er die utilitas mit verschiedenen Attributen1510 oder verwendet necessitas als 1503 „Quae si perfecte in amore caelestis patriae rapitur, plene etiam in proximi dilectione solidatur; quia cum nulla terrena desiderat, nihil est quod eius erga proximum caritati contradicat.“ Greg.‑M. Mor. V, 86 (CCSL 143, 283, 67–71), vgl. auch Greg.‑M. Mor. XIV, 9 (CCSL 143A, 702, 19–703, 36). 1504 Vgl. Greg.‑M. Mor. XVIII, 70 (CCSL 143A, 935, 73–936, 111). 1505 Vgl. Greg.‑M. Mor. V, 5 (CCSL 143, 222, 8–11), vgl. dazu Greg.‑M. Past. I, 6 (SC 381, 148, 1–150, 14). Wer sich dennoch dem Leitungsamt verweigert, darf dann keine Kritik an den Führern üben, vgl. Greg.‑M. Mor. XXV, 39 (CCSL 143B, 1264, 164–167). Zum spätantiken Topos der Amtsflucht, vgl. Müller, B., Amtsflucht. 1506 Vgl. Greg.‑M. Mor V, 5 (CCSL 143, 222, 1–8); XXV, 38 (CCSL 143B, 1262, 114–1263, 130). 1507 Vgl. Greg.‑M. Mor. V, 19 (CCSL 143, 231, 54–73). 1508 Vgl. Greg.‑M. Mor. V, 5 (CCSL 143, 222, 16–21). 1509 Vgl. Kap. 5.6.3.3. 1510 Z. B. utilitas fraterna vgl. Greg.‑M. Mor. II, 72 (CCSL 143, 102, 47); utilitas aliorum vgl.
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Synonym.1511 Zudem nutzt er prodesse,1512 proficere1513 und erudire1514, um den Zugewinn für den Nächsten ausdrücken. In der Begrifflichkeit für die Nächstenliebe bleibt Gregor seiner Variabilität treu, er verwendet amor,1515 caritas,1516 dilectio1517 und auch pietas1518 absolut oder als Komposita mit den Genitivattributen proximi oder proximorum. Mitunter begegnet auch humanitas in ähnlicher Semantik.1519 Darüber hinaus dienen die drei erstgenannten ebenso als Begriffe für die Gottesliebe, in absoluter Form1520 wie auch als Komposita.1521 Die Liebe Gottes (als genitivus subiectivus) wird als amor1522 oder mit diligere1523 bezeichnet. Für die Jenseitsliebe werden amor,1524 das Verb diligere1525 und pietas1526 verwendet, erstere beiden auch für die irdische Liebe1527 sowie die nicht zwangsläufig negativ konnotierte Liebe zu sich selbst.1528 Verweist Gregor auf die zwei Gebote der Liebe, die er mehrfach praecepta caritatis nennt,1529 verwendet er für beide Liebesformen denselben Begriff, der amor, caritas oder dilectio lauten kann.1530 Greg.‑M. Mor. II, 72 (CCSL 143, 113, 51 f.); utilitas proximi vgl. Greg.‑M. Mor. VI, 56 (CCSL 143, 326, 31 f.); utilitas multorum vgl. Greg.‑M. Mor. XII, 59 (CCSL 143A, 664, 26); utilitas subditorum vgl. Greg.‑M. Mor. XXV, 38 (CCSL 143B, 1263, 129 f.). 1511 Vgl. z. B. Greg.‑M. Mor. VI, 60 (CCSL 143, 330, 170). 1512 Vgl. z. B. Greg.‑M. Mor. II, 72 (CCSL 143, 102, 40). 1513 Vgl. z. B. Greg.‑M. Mor. V, 5 (CCSL 143. 222, 14). 1514 Vgl. z. B. Greg.‑M. Mor. XIX, 20 (CCSL 143A, 972, 61). 1515 Vgl. z. B. Greg.‑M. Mor. VI, 54 (CCSL 143, 323, 7) und Greg.‑M. Mor. VI, 53 (CCSL 143, 322, 16). 1516 Vgl. z. B. Greg.‑M. Mor. X, 7 (CCSL 143, 539, 44) und Greg.‑M. Mor. V, 86 (CCSL 143, 283, 70). 1517 Vgl. z. B. Greg.‑M. Mor. X, 12 (CCSL 143, 545, 33) und Greg.‑M. Mor. VI, 54 (CCSL 143, 324, 39). 1518 Pietas steht meistens absolut, in Verbindung mit proximus begegnet lediglich die Formulierung pietas ad proximum vgl. Greg.‑M. Mor. XX, 63 (CCSL 143A, 1049, 40), in absoluter Form vgl. Greg.‑M. Mor. I, 44 (CCSL 143, 49, 19). 1519 Vgl. z. B. Greg.‑M. Mor. VI, 48 (CCSL 143, 319, 33). 1520 Amor vgl. z. B. Greg.‑M. Mor. V, 67 (CCSL 143, 210, 31); caritas vgl. z. B. Greg.‑M. Mor. I, 37 (CCSL 143, 45, 14); dilectio vgl. z. B. Greg.‑M. Mor. V, 58 (CCSL 143, 260, 10). 1521 Amor vgl. z. B. Greg.‑M. Mor. I, 37 (CCSL 143, 45, 15); caritas vgl. z. B. Greg.‑ M. Mor. XVII, 35 (CCSL 143A, 870, 10); dilectio vgl. z. B. Greg.‑M. Mor. VI, 52 (CCSL 143, 322, 43). 1522 Vgl. z. B. Greg.‑M. Mor. VII, 21 (CCSL 143, 347, 4). 1523 Vgl. z. B. Greg.‑M. Mor. X, 27 (CCSL 143, 557, 44). 1524 Vgl. z. B. Greg.‑M. Mor. V, 1 (CCSL 143, 219, 43). 1525 Vgl. z. B. Greg.‑M. Mor. VIII, 69 (CCSL 143, 436, 113). 1526 Vgl. z. B. Greg.‑M. Mor. V, 5 (CCSL 143, 222, 12). 1527 Amare vgl. z. B. Greg.‑M. Mor. V, 2 (CCSL 143, 221, 36); diligere vgl. z. B. Greg.‑M. Mor. IV, 58 (CCSL 143, 203, 72). 1528 Amor vgl. z. B. Greg.‑M. Mor. VI, 42 (CCSL 143, 315, 27); dilectio vgl. z. B. Greg.‑M. Mor. IX, 53 (CCSL 143, 494, 38). 1529 Vgl. Greg.‑M. Mor. II, 29 (CCSL 143, 78, 35); XXX, 14 (CCSL 143B, 1501, 175). 1530 Amor vgl. z. B. Greg.‑M. Mor. II, 29 (CCSL 143, 78, 35 f.); caritas vgl. z. B. Greg.‑M. Mor.
5.6 Die Moralia in Iob – Dem Nächsten nutzen mit Herz und Hand
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Schließlich lassen einige Textstellen vermuten, dass Gregor mit dem jeweiligen Liebesbegriff die den Taten zugrundeliegende Tugend bezeichnet. Dies gilt sowohl für die pietas1531 als auch für die caritas.1532 Letztere kann aber demgegenüber ebenso die Werke bezeichnen, die zu vollbringen sind.1533 Diese Beobachtungen legen deutlich dar, wie variabel der römische Bischof die Terminologie der Liebe einsetzt, ohne dass damit semantische Schattierungen einhergehen.1534 Dennoch fällt auf, dass er den Wortstamm am- (amor, amare) signifikant häufiger verwendet. Dies gipfelt sogar in der Doppelbezeichnung des amor caritatis als Begriff für die Gottes- bzw. die Nächstenliebe.1535
5.6.6 Zusammenfassung Die Moralia in Iob leiten nicht nur, wie stets gesehen wurde, als mystisches Werk zu einer tiefen, kontemplativen Lebensausrichtung an, sondern bieten ebenso eine bislang kaum beobachtete pragmatische Kybernetik, die auf den eigenen Erfahrungshorizont des Autors schließen lässt. Ermöglicht wird diese zweite Leseweise durch die konsequente Kontextualisierung des Werkes in seiner Endredaktion in die ersten Jahre des Pontifikats Gregors. Dafür spricht u. a. die deutliche Nähe zu den Ezechielhomilien und den Dialogen. Mit dieser hermeneutischen Voraussetzung lassen sich diverse historische Anknüpfungspunkte für die Auslegungen identifizieren. Zum einen ist es nun nachvollziehbar, warum Gregor die Predigt und die episkopale Sorge für den Glauben und die Lebensführung der Gemeindeglieder in den Mittelpunkt stellt: Einerseits richtet er sich an Bischöfe konkreter Kirchen, deren Rolle und Verantwortung er gründlich reflektiert. Andererseits hatte er inzwischen selbst dieses Amt übernommen und wusste daher, wovon er sprach. Zum anderen sind die zahllosen Verweise auf Häresien und Schismen sowie deren Unterstützung durch weltliche Herrscher nun konkret zu fassen. Gregor hat die eigenen Konflikte mit den Abtrünnigen im Drei-Kapitel-Streit vor Augen sowie die mangelnde Bereitschaft des Kaisers, Rom gegen die homöischen Langobarden zu beschützen. Dass der römische Bischof diese Begebenheiten
XX, 17 (CCSL 143A, 1015, 6); dilectio vgl. z. B. Greg.‑M. Mor. XXVIII, 46 (CCSL 143B, 1432, 16). 1531 Vgl. Greg.‑M. Mor. I, 44 (CCSL 143, 49, 19–21). 1532 Vgl. Greg.‑M. Mor. VII, 18 (CCSL 143, 345, 11–346, 15); XIII, 5 (CCSL 143A, 671, 9–15). 1533 Vgl. Greg.‑M. Mor. XIX, 18 (CCSL 143A, 970, 28 f.). 1534 So sind mehrfach synonyme Ersetzungen der jeweiligen Termini innerhalb desselben Kontextes zu beobachten, vgl. z. B. Greg.‑M. Mor. VI, 56 (CCSL 143, 326, 46–51); XXX, 24 (CCSL 143B, 1507, 40–59); XXX, 31 (CCSL 143B, 1512, 55–64). 1535 Gottesliebe, vgl. Greg.‑M. Mor. XXI, 5 (CCSL 143A, 1067, 83); Nächstenliebe, vgl. Greg.‑M. Mor. XXVI, 8 (CCSL 143B, 1272, 76).
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nicht explizit benennt, ist darin begründet, dass er seine Ausführungen auch für andere Situationen offen gestalten will. Schließlich bilden die Flucht der römischen Eliten nach Konstantinopel sowie die tatsächliche Rekrutierung von Asketen für den kirchlichen Dienst historische Haftpunkte für die Ausführungen der Hiobauslegung des Papstes. Auch in diesem Werk fordert er seine Leser (und deren Gemeinden) nachdrücklich zur tätigen Nächstenliebe auf. Für diese bietet er vielschichtige Begründungen. Die Reichen erinnert er daran, dass das Almosen sie von der Last ihres Besitzes befreit. Die Sünder ermahnt er, dass nur derjenige auf Barmherzigkeit hoffen kann, der sie selbst übt. Die Hochmütigen weist er auf die eine Natur hin, die alle Menschen eint und verbindet, so dass der Dienst am Fremden zum Dienst am Bekannten wird. Er begründet die Kohärenz von Glauben und Werken und verweist als Beleg auf die fehlenden Taten der Nächstenliebe bei den Irrgläubigen. Schließlich rezipiert er die augustinische Lehre von der gratia praeveniens und variiert sie dahingehend, dass der Gnade stets aus freiem Willen die menschliche Handlung als Antwort folgen muss. Auf diese Weise spannt der römische Bischof ein weites Feld von der Psychologie bis zur Soteriologie, um zu Werken der Nächstenliebe zu ermahnen, ohne eine falsche Heilssicherheit zu suggerieren. Den Fokus seiner Ausführungen zur Nächstenliebe in den Moralia in Iob legt Gregor auf die Gemeinschaft der Christen. Die Kirche stellt für ihn eine Größe der Vielfalt dar, in der jeder seine Aufgabe hat. Die Herrschenden verpflichtet er ebenso auf die Dienstgemeinschaft wie die Untergebenen. Die auf Almosen angewiesenen Armen können und sollen ihren Anteil leisten, wie auch die Asketen in die Pflicht gerufen werden. Die Verbindung der unterschiedlichsten Gruppen wird durch das einende Band der Liebe geschaffen und konkretisiert sich im gegenseitigen Dienst. Die Glieder der Gemeinde partizipieren reziprok an ihren Tugenden und Taten – sodass auch die Predigt erst durch die Gemeindeglieder ermöglicht wird. Anstelle einer rein materiellen Hilfsbereitschaft fordert Gregor eine viel engere Verbundenheit ein: Das gemeinsame Leben soll neben der materiellen vor allem die zwischenmenschliche Ebene umfassen. Obwohl der Gemeinschaft für den Einzelnen auch eine individuelle soteriologische Funktion inneliegt, die das Heil ermöglicht, verpflichtet der Papst seine Leser und deren Hörer auf einen radikalen Perspektivwechsel: Nicht mehr die eigenen Vorteile sollen das Handeln des Einzelnen bestimmen, sondern der Nutzen des Nächsten stellt den Fluchtpunkt aller actio dar. Diesem Ideal fühlt sich Gregor selbst verpflichtet, wenn er sich im Widmungsbrief als servus servorum Dei bezeichnet.1536
1536
Vgl. z. B. Greg.‑M. Mor. dedic. (CCSL 143, 1, Cap.).
5.7 Zwischenfazit
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5.7 Zwischenfazit Die Lektüre der literarischen Werke Gregors offenbart eine beachtliche Entwicklung seines Ideals der tätigen Nächstenliebe: Stellte die Zuwendung zum Mitmenschen anfangs lediglich eine Etappe neben anderen auf dem Weg zur mystischen Schau dar, rückte sie im Laufe des Pontifikats immer weiter ins Zentrum, bis sie schließlich zum Kern seiner Ekklesiologie und der damit eng verbundenen Soteriologie wurde. Dabei überrascht die Auswahl der konkreten Formen tätiger Nächstenliebe, die der römische Bischof einfordert, wenig. In seinen exemplarischen Aufzählungen bewegt er sich weitgehend auf traditionellen Bahnen: Am häufigsten nennt er das Almosen sowie die vergleichbare Armenspeisung und -einkleidung. Daneben mahnt er – sowohl innerhalb der eigenen Gemeinde als auch mit Blick auf die aktuelle militärische Bedrohung – zur Feindesliebe und dem Schutz für Unterdrückte. In den Dialogen erwähnt der Papst, durch das Themenfeld des vierten Buches bedingt, zudem zahlreiche Taten der Nächstenliebe im Kontext des Sterbens, wie die Tröstung von Trauernden und Sterbenden, Darreichung des viaticum, Versorgung und Bestattung des Leichnams. Obwohl er letzteren Vollzug nicht als dezidiert kirchliches Handeln charakterisiert, sondern eher im Kontext der Familie verortet, macht er dennoch deutlich, dass die Verantwortung für den Mitmenschen keinesfalls mit dessen Tod endet. Vielmehr geht sie in ihrem eigentlichen Zweck darüber hinaus: Mithilfe von Fürbitten, Messstiftungen und der gezielten Auswahl der Grabstelle kann der Seele, sofern sie sich diese Unterstützung zu Lebzeiten verdient hat, der Eingang in die himmlische Heimat ermöglicht werden. Nach Gregors Verständnis stellt die Sorge um geistliche Belange, die buchstäbliche Seel-Sorge, den zentralen Aspekt der Nächstenliebe dar. Insofern führt er in allen literarischen Werken „das Almosen des Wortes“ als wichtigste Form der Nächstenliebe auf. Diesen Aussagen legt er ein sehr breites semantisches Verständnis der praedicatio zugrunde: Mit ihr bezeichnet er nicht nur die bischöfliche Predigt, sondern jegliche Mahnung zur Ausrichtung auf die patria caelestis und dem daraus resultierenden gottgefälligen Leben. Nach diesem Verständnis kann das Werk der Verkündigung nicht nur von Bischöfen oder anderen mit der Predigt beauftragten Personen geübt werden, sondern von einem jeden Christen, der seinen Nächsten im Zwiegespräch auf Fehler hinweist und zur Umkehr ermahnt. Im engeren Sinne kommen Predigt und Katechese freilich dennoch den Bischöfen zu, welche die Hauptadressaten der meisten Schriften Gregors darstellen. Sie fordert er beständig auf, neben eher äußeren Aufgaben wie der Armenfürsorge, dem Freikauf Gefangener und der finanziellen Verwaltung vor allem die geistliche Versorgung der Gemeinde nicht zu vernachlässigen. Auffälligerweise benennt er nur am Rande konkrete Predigtinhalte. Einen essentiellen
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homiletischen Grundstock führt er selbst in der Pastoralregel, dem Handbuch für das kirchliche Führungsamt, nicht auf. Wichtiger als eine dogmatische Themensetzung ist ihm stets die geistliche Erbauung der Hörerschaft. Diese soll an dem spirituellen Vorsprung des Predigers Anteil bekommen und selbst auf dem Weg zur Erkenntnis Gottes fortschreiten. Die Vermittlung gelingt nicht nur durch die homiletische Verkündigung, sondern ebenso durch die nachahmenswerte Lebensführung des Predigers. Die Übereinstimmung von Lehre und Leben ist eine zentrale Forderung, die Gregor zumindest in den Werken aus der Zeit seines Pontifikats beständig repetiert. Eine vergleichbare Vorbildfunktion kommt den Asketen zu, auch ihnen sollen die Christen nacheifern. Durch ihre kontemplativen Einsichten erlangen die Mönche eine besondere Eignung für den Dienst der Verkündigung und der Seelsorge. Entsprechend fordert Gregor deren Engagement in der Kirche, um die spirituellen Ressourcen und Kompetenzen nicht ungenutzt zu lassen, sondern sie in die Gemeinde einzubinden. In den Erzählungen der Dialoge wird deutlich, wie er sich den Gemeindedienst der Asketen vorstellt: Dort sind einzelne, besonders vorbildliche Mönche mit der Seelsorge und Katechese betraut. Diese Forderung lässt sich bereits in Ansätzen im Hoheliedkommentar beobachten und zieht sich anschließend wie ein roter Faden durch die gesamten Schriften Gregors. Das Mönchtum soll keinesfalls eine elitäre Parallelgesellschaft neben der Weltkirche darstellen, sondern muss konstitutiv in diese integriert werden. Damit einhergehend übt er eine mitunter äußerst scharfe Askesekritik, obwohl seine persönliche monastische Prägung und asketischen Ideale keinesfalls zu leugnen sind. Dennoch klagt er neben gebrochenen oder geheuchelten Gelübden auch Hochmut über andere Lebensformen sowie den egoistischen Selbstzweck der reinen vita contemplativa an. Anstatt in seinem Ideal einer vita mixta sich der himmlischen Schau und zugleich dem bedürftigen Nächsten zu widmen, haben die Nonnen und Mönche lediglich den eigenen spirituellen Fortschritt im Sinn. Demgegenüber beschreibt Gregor in enger Anlehnung an die paulinische Leib-Glieder-Ekklesiologie die Kirche als Dienstgemeinschaft. Die unter schiedlichen gesellschaftlichen Klassen und kirchlichen Gruppen sind reziprok aufeinander angewiesen, keiner kann das Heil aus sich selbst und für sich allein erlangen. Die Kirche ist gekennzeichnet durch eine große Vielfalt an Gaben und Aufgaben, an denen die einzelnen Glieder durch den gegenseitigen Dienst partizipieren. Der Papst unterstreicht, dass die himmlische Heimat nur gemeinschaftlich zu erreichen ist, und knüpft damit, wenn auch nicht mit dessen sakramentstheologischen Fokus, an Cyprians extra ecclesiam salus non est an. Die verschiedenen Ämter in der Kirche sieht Gregor als konstitutives Element in der göttlichen Ordnung und ausschließlich zum Nutzen des Nächsten begründet. Die strikte Relationalität von kirchlichem Dienst und der Gemeinde
5.7 Zwischenfazit
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offenbart sein konsequent funktionales Amtsverständnis. Alle Hierarchie beruht zwar auf einem spirituellen Fortschritt, beinhaltet aber keinen priesterlichen Heilsvorteil. Die drei ordines, Klerus, Asketen und Verheiratete, bedeuten lediglich unterschiedliche Lebensführungen sowie Aufgaben, aber keine Differenz im Wert coram Deo. Hier wird das Moment der „Demokratisierung des Heils“ deutlich, das sich bei Gregor an unterschiedlichen Stellen beobachten lässt. Ihm ist als Oberhaupt der römischen Kirche daran gelegen, allen Gemeindegliedern die Möglichkeit des Heils aufzuzeigen, anstatt eine Zwei-Stufen-Ethik zu propagieren, die er in seinem Erstlingswerk noch vertreten hat. Stattdessen überbrückt er den amtstheologischen Graben zwischen Klerus und den Laien und betont die gegenseitige Abhängigkeit. In ähnlicher Weise ist sein Konzept der erfahrungsbasierten Pädagogik zu verstehen, in der die Asketen und Kleriker ihre mystischen Erkenntnisse den übrigen Gemeindegliedern vermitteln und so der breiten Masse die Kontemplation erschließen. Durch die Verkündigung und die Vorbildfunktion der Geistlichen sind zudem nicht mehr das persönliche Bibelstudium und demzufolge die Alphabetisierung elitäre Voraussetzungen für ein gottgefälliges Leben. Ebenso zeigt Gregor den Besitzlosen durch geistige Formen der Nächstenliebe wie Fürbitte und Vergebung Wege zu verdienstvollen Werken auf. In das Zentrum der päpstlichen Lehre von tätiger Nächstenliebe ist die Gemeinschaft gerückt. Sie wird dort realisiert, wo der Nächste mit seinen Bedürfnissen im Fokus steht. Anstatt auf das Subjekt der Nächstenliebe richtet Gregor den Fokus auf ihr Objekt. Jegliche Handlung soll den Nächsten in den Blick nehmen und ihm zugutekommen. Die Verweise auf die Verdienstlichkeit dienen eher als Motivationshilfe, die eigentliche Intention der Handlung soll im Nutzen des Mitmenschen liegen. Ebenso bietet die utilitas proximi den Maßstab aller guten Werke. So weist diese etwa dem geistlichen Lehrer im Umgang mit Sündern das rechte Maß aus Strenge und Milde, aus Macht und Demut. Erst die Intention des Nutzens macht eine Handlung letztendlich gottgefällig und somit verdienstvoll. Genau wie die konsequente Fokussierung auf den Mitmenschen soll auch die compassio Gemeinschaft in der Kirche stiften. Durch Mitgefühl werden die verschiedenen gesellschaftlichen Schichten miteinander verbunden: Der Reiche verteilt nicht mehr distanziert das äußere Almosen, sondern nimmt zuvor innerlich Anteil am Leid des Armen und macht es zu seinem eigenen Leiden. Die Gefahr einer nur geistigen Anteilnahme besteht indes nicht. Nach Gregor konkretisiert sich die mitfühlende Gemeinschaft stets in materieller Teilhabe. Erst durch gegenseitigen Respekt der verschiedenen Gruppen und Schichten, auch für die Verachteten der Gesellschaft, wird die Eintracht der Gemeinde ermöglicht. Sie alle sind durch das Band der Liebe miteinander verbunden. Die Einheit der Kirche besteht nicht nur in der äußerlichen Mitgliedschaft und dem
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5 Das Ideal der tätigen Nächstenliebe im literarischen Werk Gregors
Vollzug der Sakramente, sondern vornehmlich in der compassio. In ihr liegt die grundlegende Differenz zu den Häretikern und Schismatikern und weniger in dogmatischen Feinheiten oder rituellen Unterschieden. Da den Abtrünnigen die christliche Grundtugend der Liebe fehlt, vollbringen sie keine Werke der Nächstenliebe. Mehrfach betont Gregor den Zusammenhang von Glauben und Werken. Insbesondere in den Dialogen wird deutlich, dass heiliges Leben sich dem Nächsten zuwendet. Wenn er betont, dass das Heil nicht nur den Heiligen offensteht, sondern auch Sündern die Möglichkeit zur Umkehr bleibt, verweist er dennoch auf die konstitutiven Werke der Nächstenliebe. Erst an der geübten Tat vervollkommnet sich die conversio. Ohne die operatio, die der römische Bischof gar zur vierten christlichen Grundtugend erhebt, bleibt sie defekt. Insofern mahnt Gregor seine Leserschaft und sein Publikum beständig zur tätigen Nächstenliebe, für die er immer neue Begründungen findet: So befreit das Almosen mal von der Last des Reichtums, mal ist es ohnehin als Besitz der Armen zu verstehen. Schließlich erlangt man seinetwegen jenseitige Fürsprache durch die Almosenempfänger oder auch die Heiligen, an deren Gräbern die Gaben verteilt wurden. In der geübten Nächstenliebe realisiert sich die imitatio Christi, der sich in seinem Wirken stets den bedürftigen Mitmenschen zuwandte. Zudem kann diese in Friedenszeiten, besser noch als die Askese, das Martyrium ersetzen. Letztlich laufen alle Argumentationsgänge auf einen individualeschatologischen Fokus hinaus. Die Zeit des irdischen Lebens ist für gute Werke zu nutzen, um den himmlischen Richter milde zu stimmen und jenseitigen Gewinn zu erlangen. Mit dieser Hochschätzung der menschlichen Taten und ihres Einflusses auf das Urteil im Jüngsten Gericht tritt Gregor in deutliche Distanz zu Augustin und dessen Gnadenlehre, obwohl er sie explizit rezipiert. Dieser mengt er aber Elemente anderer Traditionen, allen voran der cyprianischen Soteriologie und Almosenlehre, bei. Diese theologische Mixtur ist nicht bis ins Letzte konsequent durchdacht, sondern bleibt – bedingt durch die Unterschiedlichkeit der jeweiligen Kontexte und Sitze im Leben der verschiedenen Aussagen – unverbunden nebeneinander stehen. Schlussendlich lässt sich Gregors Heilslehre am ehesten mit derjenigen Cassians vergleichen und als Synergismus charakterisieren. Abgeschwächt wird der werkegerechte Impetus lediglich durch den bereits erwähnten Perspektivwechsel. Indem der Fokus nicht mehr auf den Täter der Nächstenliebe, sondern auf ihren Empfänger mit seinen Bedürfnissen und der utilitas gelegt wird, tritt die Heilswirksamkeit der Handlung in den Hintergrund. Mit seiner großen Erfahrung in der asketischen lectio divina und der daraus resultierenden herausragenden Schriftkenntnis sichert Gregor seine Ausführungen stets mit Verweisen auf übereinstimmende oder entsprechend zu deutende
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biblische Aussagen der Heiligen Schrift ab. Dafür nutzt er häufig in phantasievoller Weise die allegorische Exegese. Es ist deutlich zu beobachten, dass der römische Bischof seinen Umgang mit den biblischen Texten auf die jeweiligen Adressaten seiner Werke abstimmt. Im Vergleich zu den volkstümlichen Werken der Evangelienhomilien und der Dialoge zitiert er in den mystisch-exegetischen Werken klassische Texte der Nächstenliebe nicht, sondern setzt sie als bekannt voraus und verweist nur implizit auf deren Aussagen. In der Pastoralregel sowie in den Moralia dient das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter nicht als Mahnung zur Versorgung Kranker oder Beistand für Raubopfer, sondern mit der Wundversorgung mit Wein und Öl als Allegorie für das Gegenüber von Milde und Strenge. Seinen biblisch und exegetisch geschulten Hörern bzw. Lesern mutet Gregor für klassische und offensichtliche Texte über die Nächstenliebe weitergehende und tiefe Deutungen zu. Der breiten Hörerschaft seiner Evangelienhomilien hingegen gibt er zu seiner Forderung nach mitfühlender Kondeszendenz zu Elenden den Standardtext par excellence, Mt 25,31–46, an die Hand und erläutert die Identifikation des Armen mit Christus ausführlich. Am auffälligsten ist indes seine Verwendung des Doppelgebots der Liebe. In den Evangelienhomilien legt er es mehrfach inklusive der wörtlichen Wiedergabe ausführlich aus, wohingegen es in der Pastoralregel und den Ezechielhomilien an keiner Stelle, in den Moralia nur ein einziges Mal zitiert wird. Dennoch kommt diesem Text im gesamten gregorianischen Œuvre eine zentrale Bedeutung für seine Theologie der tätigen Nächstenliebe zu. Er sieht in dem Gebot die Hauptaussage der gesamten Schrift und macht sie zur Grundlage seiner Ethik. Die beiden Liebesformen sind aufs engste verbunden und nicht voneinander zu trennen. Wer die Nächstenliebe verweigert, liebt auch Gott nicht. Und das aufrichtige Bekenntnis zu Gott muss stets zur Sorge um den Mitmenschen leiten. Die Gottesliebe sieht Gregor vornehmlich in der contemplatio, die Nächstenliebe in der actio konkretisiert. Daher rührt sein beständiges Ringen um einen Ausgleich aus beiden, aus aktiver und kontemplativer Lebensweise. Letztendlich vertritt er das Ideal einer vita mixta, die sich beide Perspektiven zueigen macht, obwohl er der konkreten Tat – mit ihrer Ausrichtung auf das himmlische Ziel – der weltvergessenen Mystik einen Vorzug zukommen lässt. Die Untersuchung der Terminologie Gregors hat erwiesen, dass er keinen Zentralbegriff für die tätige Nächstenliebe verwendet. Die klassischen LiebesTermini amor, caritas und dilectio begegnen durchgehend synonym und können sowohl die Nächsten- als auch die Gottesliebe (als genitivus subiectivus und obiectivus) bezeichnen. In gleicher Bedeutung nutzt der römische Bischof die pietas. An einigen wenigen Stellen scheint er zudem mit caritas die den Werken zugrundeliegende Tugend zu benennen, allerdings ist diese Entwicklung nicht stark ausgeprägt.
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5 Das Ideal der tätigen Nächstenliebe im literarischen Werk Gregors
Im Unterschied zum sonstigen spätantiken Gebrauch, insbesondere bei Augustin, lässt Gregor der eleemosyna in neutestamentlicher Tradition nur eine enge Semantik als Geldzuwendung zukommen. Geistige Werke der Nächstenliebe konnte Augustin ebenso als Almosen bezeichnen. Dieses Verständnis übernimmt Gregor zwar, greift aber nicht auf dessen Terminologie zurück. In seinen Ausführungen zur tätigen Nächstenliebe offenbart Gregor eine Entwicklung von der individuellen, mystischen Askese zu einer sozial ausgerichteten Theologie der Anteilnahme, in der der Nächste und nicht mehr vornehmlich der eigene spirituelle Fortschritt im Vordergrund steht. Diese Entwicklung ging mit den Wendungen in seiner eigenen Biographie einher: Allein der Hoheliedkommentar entstand im ausschließlich monastischen Kontext, alle anderen Schriften, auch die Moralia in der berücksichtigten Endfassung, stehen in Verbindung mit seinem Pontifikat. Merklich hat das kirchliche Amt seine Sicht auf die aktive Fürsorge für die Mitmenschen geprägt. Als Bischof trug Gregor große Verantwortung für das geistliche, aber zunehmend auch das leibliche Wohl der Kirche Roms und des gesamten Westens. Insbesondere die Hungersnot infolge von Naturkatastrophen und den Kriegszuständen ließen ihn zu Almosen mahnen. Die Überfälle der Langobarden machten zudem den Freikauf von Gefangenen und den Beistand für Unterdrückte notwendig. Neben der rein materiellen Versorgung betont der Papst zunehmend die Einheit und Eintracht der Kirche. Einerseits ist er mit dem Schisma infolge des Drei-Kapitel-Streits konfrontiert, das für ihn Anlass zu einer Gegenüberstellung von Rechtgläubigen und den häretischen Abtrünnigen bietet. Ebenso scheint er sich auch innerhalb der römischen Kirche mit scharfen Konflikten auseinandersetzen müssen. Seine harrsche Kritik am Hochmut der Asketen und die Mahnung zu Toleranz und Geduld sprechen da eine deutliche Sprache. Die streitenden Parteien versucht er mit der paulinischen Betonung der Vielfalt an Gaben und Lebensweisen zu versöhnen und durch sein Konzept der compassio echte Gemeinschaft zu stiften. Auf diese Weise appelliert er zudem an das Verantwortungsgefühl der verschiedenen Schichten und Gruppierungen für den gegenseitigen Dienst. Die nach Konstantinopel emigrierende Elite ruft er zum gemeinsamen Leben mit den Bedürftigen nach Rom zurück und die auf das eigene spirituelle Leben bedachten Asketen will er in die Gemeinde integrieren. Ihrer monastischen Tradition fühlt er sich selbst verpflichtet, weshalb er gerade sie für den kirchlichen Dienst gewinnen will. Die in der Bevölkerung verbreitete Wahrnehmung, dass das Ende der Welt unmittelbar bevorstehe, nimmt er auf und mahnt zu einer konsequenten Orientierung an der himmlischen Heimat und zu daraus resultierender und darauf vorbereitender diesseitige Fürsorge. Diese beiden Pole seiner eschatologischen Ethik lassen ihn um die Verantwortung und Einflussmöglichkeiten des Menschen ringen. Einerseits fühlt er sich der augustinischen Gnadenlehre verpflichtet, andererseits vertritt er aus seelsorglichen und auch verwaltungstechnischen
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Gründen einen Pragmatismus: Den Christen will er einen Weg der Hoffnung aufzeigen und zugleich ihre Tatkraft für das Wohl der Stadt aktivieren. Auf diese Weise nehmen die aktuellen Umstände des ausgehenden 6. Jahrhunderts einen enormen Einfluss auf das Denken des römischen Bischofs und lassen ihn eine diakonisch-karitative Theologie entwickeln in dem Sinne, dass der Dienst am Nächsten (diaconia) in der Liebe und dem Mitgefühl (caritas) gegründet ist.
6 Die Praxis der tätigen Nächstenliebe im Handeln Gregors des Großen Nachdem das Ideal der tätigen Nächstenliebe aus den literarischen Werken Gregors herausgearbeitet worden ist, soll nun die Praxis in den Blick genommen werden, die er in seinem Pontifikat selbst übte. Zwei seiner Biographen, Johannes Diaconus und Paulus Diaconus, zeichnen ihn als großen Wohltäter, der durch seine gewirkte Nächstenliebe einem jeden Gläubigen seiner Gemeinde das tägliche Brot ausgab.1 Dieses Bild ist zweifelsfrei gattungsgemäß legendarisch überformt. Daher wird an dieser Stelle ausschließlich auf die zeitgenössische Überlieferung zurückgegriffen. Als zentrale Quelle dafür dient das umfangreiche Briefregister. Es umfasst in vierzehn Büchern, die nach dem staatlichen Indiktionszyklus2 gezählt sind und die Jahre seines Pontifikats abbilden, beachtliche 849 Briefe.3 Ausgehend von dem mit 240 Briefen wohl am besten überlieferten neunten Buch (September 598 – August 599) und einem Vergleich der beiden maßgeblichen Handschriften postuliert Robert Markus, dass die überlieferten Briefe nur etwa 40 % des ursprünglichen Gesamtwerks darstellen, ca. 1380 Episteln seien hingegen verloren.4 Das Register enthält neben den zahlreichen Verwaltungsvorgängen und Handlungsanweisungen auch Gregors persönlichen Briefwechsel mit Bischofskollegen und engen Freunden.5 Das ermöglicht einen Einblick in sein Wirken und Handeln sowohl in seiner Funktion als Bischof von Rom als auch als Privatperson. Dabei werden die Handlungen, die im vorangegangenen Abschnitt als ideale Werke der Nächstenliebe herausgearbeitet worden sind, nun als Kategorien dienen: die materielle Unterstützung Bedürftiger, die Sorge um den 1 Vgl.
Joh.‑Diac. Vit. Greg. II, 26–30 (PL 75, 97 f.); P.‑Diac. Vit. Greg. 16.29 (PL, 75, 49.58). 2 Zur Indiktionszählung vgl. Seeck, Otto, Art.: Indictio, RE 9/2 (1916), 1327–1332. 3 Diese Zahl beruht auf der aktuellsten Edition des Briefwerks durch Dag Norberg im Corpus Christianorum, CCSL 140+140A. Robert Markus hingegen zählt ca. 860, vgl. Markus, World, 206, Ernst Pitz 866 Briefe, vgl. Pitz, Ernst, Papstreskripte im frühen Mittelalter. Diplomatische und rechtsgeschichtliche Studien zum Brief-Corpus Gregors des Großen, BGQMA 14, Sigmaringen 1990, 33, Jeffrey Richards hingegen 854, vgl. Richards, Leben, 101. 4 Vgl. Markus, World, 206. Ernst Pitz geht gar von 20.000 ursprünglich abgefassten Briefen aus, die zu großen Teilen aufgrund ihres Reskript-Charakters nicht überliefert worden sind, vgl. Pitz, Papstreskripte, 250–252. 5 Zu den unterschiedlichen Briefgattungen vgl. Pitz, Papstreskripte, 39–240.
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6 Die Praxis der tätigen Nächstenliebe im Handeln Gregors des Großen
rechten Glauben und das Engagement für Frieden sowohl im staatlichen als auch kirchlichen Bereich. Zudem wird der Bezug auf das Asketentum in den Blick genommen: In welcher Weise tritt Gregor als Förderer und Schutzherr desselben auf? Inwieweit bindet er die Mönche und Nonnen tatsächlich in das kirchliche Leben ein, wie er es in seinen literarischen Werken forderte? Auf den ersten Blick mag überraschen, dass im Folgenden die Situation in Rom selbst nur am Rande betrachtet wird. Dies ist durch die besondere Quellensituation bedingt: Kein einziger Brief im Register ist an einen römischen Empfänger adressiert.6 Das lässt sich damit erklären, dass Gregor für den lokalen Kontext eher auf mündliche Kommunikationswege zurückgriff. Warum hätte der Papst den großen Zeit- und Kostenaufwand der Schriftform7 wählen sollen, anstatt die Information im direkten Gespräch oder mithilfe eines Boten zu übermitteln? Diese These erläutert ebenso den „blinden Fleck“ der Geschichtsschreibung in Bezug auf die Institution der Diakonien innerhalb Roms: Für diese fehlen für die frühe Zeit des 6. und beginnenden 7. Jahrhunderts schlichtweg aussagekräftige Quellen.8 Die ersten literarischen Zeugnisse für Diakonien in Rom bietet der Liber Pontificalis nicht vor dem späten 7. Jahrhundert, archäologische Funde u. a. in S. Maria in Cosmedin lassen dennoch auf eine frühere Zeit schließen.9 Das Verhältnis der Diakonien zur staatlichen Annonen-Versorgung ist nicht eindeutig zu bestimmen. Direkte Kontinuitäten bezüglich der Gebäude lassen sich nicht beweisen,10 aber diverse DiakonieStandorte finden sich zumindest in unmittelbarer Nähe zu (ehemaligen) staatlichen Verteilungsstellen.11 Ebenso unsicher ist, ob die staatliche cura annonae zur Zeit des Pontifikats Gregors noch funktionstüchtig war,12 oder ob sie nach ihrer Reinstallation durch Justinian in seiner Pragmatischen Sanktion von 553/554 schon bald wieder versiegt war.13 Im Briefwerk finden sich zumindest 6 Vgl. die Karte mit den Zielorten der Briefe bei Markus, World, xxf. Auch Informationen über römische Wohlfahrtsinstitutionen sind nur in wenigen Briefen zu finden, vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 63 (CCSL 140A, 619, 1–620, 17); IX, 67 (CCSL 140A, 622, 1–623, 35); IX, 83 (CCSL 140A, 637, 1–638, 36); IX, 131 (CCSL 140A, 681, 1–682, 37) und Kap. 6.1.1. 7 Eine, wenn auch z. T. sehr hypothetische, Vorstellung der Arbeitsweise des päpstlichen scrinium bietet Pitz, Papstreskripte, 241–287. 8 Zur Quellenlage für die stadtrömischen Diakonien vgl. Hermes, Diakonien, 2 f.; Müller, A., Christianisierung, 164–166. 9 Vgl. Müller, A., Christianisierung, insbes. 167–171. 10 So lautete die in ihrer Absolutheit inzwischen weitgehend widerlegte These Jean Lestocquoys, vgl. Lestocquoy, Jean, Administration de Rome et Diaconies du VIIe au IXe siècle, RivAC 7 (1930), 261–295, hier: 272. 11 Vgl. Hermes, Diakonien, 34; Krautheimer, Rom, 91 und Müller, A., Christianisierung, 174. 12 So u. a. Bertolini, Ottorino, Per la storia delle diaconie Romane nell’alto medio evo sino alla fine del secolo VIII, ASRSP 70 (1947), 1–145, hier: 137; Richards, Leben, 95. 13 So Hermes, Diakonien, 9–11. Eine vermittelnde Position nimmt Andreas Müller ein, der die staatlichen praefecti annonae als offizielle Leiter, die Kirche aber als die Ausführende der Getreideverteilung ansieht, vgl. Müller, A., Christianisierung, 174.
6.1 Die Armenfürsorge
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Belege für ein Ineinanderfließen von staatlicher und kirchlicher Verantwortung für die Getreideverteilung in Italien.14 Außerdem ist umstritten, welche Tradition in den römischen und insgesamt den westkirchlichen Diakonien aufgegriffen wurde. Henri Marrou entwickelte die These, dass die Wohlfahrtsinstitution der Diakonie auf Vorbilder des ägyptischen Mönchtums im 4. Jahrhundert zurückzuführen sei.15 Thomas Sternberg hat diese direkte Ableitung mithilfe begriffsgeschichtlicher Untersuchungen bei Johannes Cassian widerlegen können. Unter diaconia ist noch keine ausschließlich armenfürsorgliche Institution in monastischer Trägerschaft zu verstehen, sondern die bloße Verteilung (synonym zu dispensatio) von Getreide.16 Darauf aufbauend modifiziert Raimund Hermes die Marrou’sche These und vermutet nach Rom emigrierte byzantinische Mönche als Tradenten.17 Demgegenüber findet Andreas Müller überzeugende Argumente für eine Gleichzeitigkeit der institutionellen Entwicklung im östlichen und westlichen Reichsgebiet. Auf das ägyptische Mönchtum ist sicherlich die Bezeichnung der Diakonie zurückzuführen, aber nicht die konkrete Organisationsform der Einrichtung.18 Da sich die vorliegende Untersuchung ausschließlich auf die Zeit des gregorianischen Pontifikats beschränkt und in dieser Anfänge institutioneller Diakonien in Rom allenfalls zu vermuten, quellenmäßig aber nicht zu belegen sind, wird hier kein weiteres Licht in das Dunkel der Institutionengeschichte der stadtrömischen Diakonien gebracht werden können. Auch deren traditionsgeschichtliche Verortung wird kein Gegenstand der Untersuchung sein. Vielmehr werde ich aufzeigen, wie Gregor durch seine Verwaltung und Neustrukturierung des Patrimoniums Petri die Zeit des Umbruchs von einer staatlichen zu einer kirchlichen Versorgung aktiv mitgestaltete, den kirchlichen Einfluss mehrte und so den Weg für die kommenden Institutions- und Organisationsformen bereitete.
6.1 Die Armenfürsorge Die pekuniäre und naturale Unterstützung Bedürftiger ist eine maßgebliche Intention im Wirken Gregors. Da er die Erträge der kirchlichen Landgüter für die Armen verwendet wissen wollte, sorgte er für eine gewinnbringende und 14 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 116 (CCSL 140A, 669, 1–670, 29) und Müller, A., Christianisierung, 182–184 sowie Kap. 6.1.2, gegen Hermes, Diakonien, 32. 15 Vgl. Marrou, Henri-Irénée, L’origine orientale des diaconies romaines, MAH 57 (1940), 95–142, hier: 101. Auch Adolf Karlsbach sieht eine Vorzeitigkeit der östlichen Entwicklung sowie eine strikte Verbindung von Diakonie und Kloster, vgl. Kalsbach, Adolf, Art.: Diakonie, RAC 3 (1957), 909–917, hier: 916. 16 Vgl. Sternberg, Thomas, Der vermeintliche Ursprung der westlichen Diakonien in Ägypten und die Conlationes des Johannes Cassia, JbAC 31 (1998), 173–209. 17 Hermes, Diakonien, 19 f. 18 Vgl. Müller, A., Christianisierung, 174–186.
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nachhaltige Verwaltung des Patrimoniums. In traditioneller Weise19 sprach er wiederholt von den kirchlichen Besitztümern als „Unterhalt der Armen“20 bzw. „Gütern des heiligen Petrus und seiner Armen.“21 Den Fokus der Verwaltung legte er indes so stark auf die Versorgung der Bedürftigen, dass er den Gewinn der Kirche sogar der utilitas pauperum unterordnete22 und dies dezidiert zu einer allgemeinen Regel erhob.23 Darin sah er – wie viele seiner Zeitgenossen – die Amtspflicht eines Bischofs.24 Deshalb verurteilte er z. B. die Weigerung des Marinianus, des Erzbischofs von Ravenna, Almosen zu verteilen mit beißendem Sarkasmus: „Aber es ist doch wunderlich, wenn derjenige, der Kleidung besitzt, der Silber besitzt, der Speisekammern besitzt, nichts zum Geben hat, was er den Armen schuldet.“25 Überraschenderweise verwies Gregor in dieser Sache nicht auf den monastischen Hintergrund des Marinianus, der vor seinem Episkopat Mönch im Andreaskloster gewesen war und dort auch eine leitende Funktion innegehabt hatte.26 Die Armenfürsorge verband der römische Bischof demnach nicht spezifisch oder vornehmlich mit einer asketischen Lebensform. Neben den Bischöfen sah Gregor ebenso den Adel und die reichen Gesellschaftsschichten in der Pflicht. Er lobte z. B. den gallischen Patrizier Asclepiodotus für dessen Eifer in der Armenfürsorge.27 Tatsächlich finden sich im Register diverse Dankesbriefe an noble Persönlichkeiten für großzügige Spenden: Aus Konstantinopel sind neben Kaiser Mauricius (30 Pfund Gold)28 auch dessen 19 Vgl. Scholz, Sebastian, Stadtrömische Armenfürsorge der Päpste im Frühen Mittelalter (5.–8. Jahrhundert), in: Lutz, R./Uerlings, H. (Hgg.), Zwischen Ausschluss und Solidarität. Modi der Inklusion/Exklusion von Fremden und Armen in Europa seit der Spätantike, Inklusion/Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart 6, Frankfurt et al. 2008, 111–132, hier: 118 f.; Jenal, Georg, Gregor der Große und die Stadt Rom (590–604), in: Prinz, Friedrich, Herrschaft und Kirche. Beiträge zur Entstehung und Wirkungsweise episkopaler und monastischer Organisationsformen, MGMA 33, Stuttgart 1988, 109–145, hier: 132 f.; Laudage, Caritas, 45; zu möglichen traditionsgeschichtlichen Vorlagen und entsprechenden Belegen aus Gallien in derselben Zeit vgl. Sternberg, Orientalium, 33–36. 20 „[…] pauperum alimoniis“ Greg.‑M. Ep. VI, 54 (CCSL 140, 427, 20 f.), vgl. auch Greg.‑M. Ep. VI, 5 (CCSL 140, 373, 21 f.); IX, 239 (CCSL 140A, 822, 14). 21 „[…] res sancti Petri et pauperum eius“ Greg.‑M. Ep. VI, 56 (CCSL 140, 429, 17), vgl. Richards, Leben, 133. 22 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 42 (CCSL 140, 51, 67 f.); I, 53 (CCSL 140, 66, 1–5). 23 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 42 (CCSL 140, 56, 233–237). 24 Vgl. Greg.‑M. Ep. IV, 14 (CCSL 140, 232, 14–19) und Sternberg, Orientalium, 36–43; Scholz, Armenfürsorge, 115; Noethlichs, Materialien, 39–41; Caspar, Geschichte II, 324–326; Jenal, Stadt, 111–114. 25 „Et miror si is qui uestes habet, argentum habet, cellaria habet, quod pauperibus debeat dare non habet.“ Greg.‑M. Ep. VI, 33 (CCSL 140, 406, 20 f.). Die Schärfe der Äußerung ist auch bedingt durch die Auseinandersetzung um den Ravennater Palliumsgebrauch, die er zur selben Zeit mit Marinianus führt, vgl. Kap. 6.3.2.3. 26 Vgl. Greg.‑M. Ep. VIII, 17 (CCSL 140A, 536, 1–3); vgl. auch Greg.‑M. Ep. V, 51 (CCSL 140, 345, 13–15) und Müller, B., Führung, 45. 27 Vgl. Greg.‑M. Ep. XI, 43 (CCSL 140A, 940, 1–8). 28 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 30 (CCSL 140, 297, 8–10).
6.1 Die Armenfürsorge
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Schwester Theoctista (30 Pfund Gold)29 und Leibarzt Theodor (zwei ungenannte Summen),30 sowie die Patrizierin Rusticiana (10 Pfund Gold sowie eine ungenannte Summe)31 zu nennen. Aus Numidien übersandten die nicht näher bekannten Savinella, Columba und Galla Almosen.32 Gregors Aufforderung zur Großzügigkeit, die sich in seinen literarischen Werken zahlreich findet, ist in der Praxis Folge geleistet worden. Die kirchliche Armenfürsorge finanzierte sich nicht nur aus den Einkünften des Patrimoniums, sondern sicherlich in weiten Teilen aus den oblationes der Gläubigen.33 Im Gegenzug beschwerte sich Gregor gegenüber Maurentius, einem magister militum, dass Nachkommen die Fortdauer eines Almosens einklagten, das dem Vorfahren jährlich gewährt worden war.34 Er bat den Heermeister dafür zu sorgen, „dass aus einer frommen Gabe in der genannten insula keine vorbestimmte Last entstehe.“35 Wie in seinen literarischen Werken stellte Gregor ebenso in seinem Briefwerk mehrfach den hohen Wert36 der Armenfürsorge als Form der tätigen Nächstenliebe ins Zentrum und sorgte auf diese Weise für die tatsächliche Praxis derselben. Im Folgenden soll insbesondere die institutionelle, also von kirchlichen Stellen verantwortete Praxis der Versorgung Bedürftiger in den Blick genommen werden. Nach der Darstellung der von Gregor explizit genannten Institutionen als Träger der Armenfürsorge sowie der Verwaltung des Patrimoniums als finanzieller Basis sollen exemplarisch konkrete Unterstützungsformen aufgeführt werden, die anhand der Empfänger (Witwen und Waisen, Arme, oppressi und Gefangene) kategorisiert sind.
6.1.1 Institutionen und Orte der Armenfürsorge Da Gregor die Armenfürsorge als bischöfliche Amtspflicht betrachtet, ist zuerst das episcopium37 zu betrachten. Im Briefregister finden sich acht Belege für diesen Begriff,38 allerdings werden damit ausschließlich die bischöfliche Woh29
Vgl. Greg.‑M. Ep. VII, 23 (CCSL 140, 477, 73–78). Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 46 (CCSL 140, 339, 10–12); VII, 25 (CCSL 140, 480, 1–3). 31 Vgl. Greg.‑M. Ep. VIII, 22 (CCSL 140A, 542, 25 f.); XI, 26 (CCSL 140A, 899, 37 f.). 32 Vgl. Greg.‑M. Ep. XII, 2 (CCSL 140A, 969, 5–7). 33 Vgl. dazu Sternberg, Orientalium, 23–26; Jones, Arnold H. M., Church Finance in the Fifth and Sixth Centuries, JThS 11 (1960), 84–94, hier: 84 f. 34 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 53 (CCSL 140A, 611, 17–27). 35 „[…] ut pietatis administratio in praefata insula onus praeiudicii non imponat.“ Greg.‑M. Ep. IX, 53 (CCSL 140A, 612, 26 f.). 36 Er betont auch in den Briefen die soteriologische Funktion des Almosens, wenn er es als „ertragreiches Darlehen“ (mutuum […] multiplicato […] fructu) bezeichnet, Greg.‑M. Ep. X, 8 (CCSL 140A, 833, 2 f.). 37 Zum episcopium vgl. Pallas, Demetrios, Art.: Episkopion, RBK 2 (1971), 335–371 und Sternberg, Orientalium, 59–68. 38 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 11 (CCSL 140, 13, 17); III, 35 (CCSL 140, 181, 18); VI, 42 (CCSL 30
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nung bzw. der Haushalt derselben bezeichnet. In Rom wurde dieser durch einen Diakon verwaltet39 und umfasste sowohl die Gewänder des Bischofs, als auch sämtliche anderen episkopalen Besitztümer. Daher waren diese Dinge allesamt nicht an Nachkommen vererbbar.40 Dennoch weisen zwei Stellen zumindest sekundär auf geübte Nächstenliebe im Umfeld der bischöflichen Wohnung: Petrus, der Bischof Korsikas, bat Gregor um Erlaubnis für den Bau eines episcopium in direkter Nachbarschaft zur Kirche, was dieser gern gewährte, „weil man, je größer die Nähe ist, den dort verweilenden Seelen umso besser nutzen kann.“41 Den schwer erkrankten Ravennater Erzbischof und ehemaligen Mitmönch im Andreaskloster Marinianus lud Gregor für einen längeren Aufenthalt – sei es zur Genesung oder zum Sterben42 – zu sich in die römische Bischofswohnung ein. Die Abwesenheit von der eigenen Gemeinde sei in dieser Ausnahmesituation möglich, sofern Marinianus eine personale Vertretung für die Liturgie, die Verwaltung des episcopium, die „Gastfreundschaft und Verantwortlichkeiten“43 sowie die Aufsicht über die Klöster organisieren könne.44 Die Aufnahme, Unterbringung und Versorgung ankommender Gäste war demnach sowohl in Ravenna als auch in Rom eine Aufgabe, die im Kontext der bischöflichen Wohnung getätigt wurde. Im Registrum Epistularum sind verschiedene Fürsorge-Einrichtungen erwähnt, wobei zumeist kaum Informationen geboten werden, die über den reinen Namen hinausgehen. Ein einziger Beleg findet sich für ein hierochomion (Altersheim). An den Abt Johannes auf dem Berg Sinai45 sandte Gregor für das dortige Altenheim diverses Material für die Schlafstätten, an dem es mangelte.46 Ptochia, Armenhäuser, führte der römische Bischof zum einen für Sardinien an, für das Sklaven erworben werden sollten.47 Zum anderen gestattete er Petrus, dem Subdiakon und Rektor des Patrimoniums, sich die Ausgaben, die er für das dortige ptochium getätigt hatte, aus dessen Einkünften oder, sollten diese nicht ausreichen, vom römischen Diakon erstatten zu lassen.48 140, 415, 7); VIII, 1 (CCSL 140A, 514, 25); IX, 195 (CCSL 140A, 749, 13); XI, 21 (CCSL 140A, 891, 10. 892, 26); XII, 10 (CCSL 140A, 983, 16). 39 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 11 (CCSL 140, 13, 16 f.). 40 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 195 (CCSL 140A, 749, 12–20), vgl. auch Greg.‑M. Ep. III, 35 (CCSL 140, 181, 16–25). 41 „[…] quia quantum uicina fuerit, tantum prodesse animabus illic consistentibus amplius poterit.“ Greg.‑M. Ep. VIII, 1 (CCSL 140A, 514, 27 f.). Zur direkten Nachbarschaft von Kirche und episcopium vgl. auch Sternberg, Orientalium, 59–61. 42 Vgl. Greg.‑M. Ep. XI, 21 (CCSL 140A, 891, 13–22) und Hack, Krankheit, 259–262. 43 „[…] hospitalitatem et susceptiones“ Greg.‑M. Ep. XI, 21 (CCSL 140A, 891, 10 f.). 44 Vgl. Greg.‑M. Ep. XI, 21 (CCSL 140A, 891, 4–16). 45 Vielleicht ist der Adressat mit Johannes Sinaites zu identifizieren, zur passenden Chronologie vgl. Müller, A., Konzept, 21–56. 46 Vgl. Greg.‑M. Ep. XI, 2 (CCSL 140A, 860, 20–25). 47 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 124 (CCSL 140A, 675,1–11). 48 Vgl. Greg.‑M. Ep. II, 50 (CCSL 140, 124–145, 128).
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Für die vieldiskutierte Institution der diaconia49 findet sich bei Gregor kein zweifelsfreier Beleg. Zwei der drei Stellen, an denen er den Begriff verwendet, scheinen eher die Dienstleistung der (Getreide-) Verteilung zu bezeichnen.50 Lediglich ein einziges Mal ist mit diaconia eine wohltätige Stiftung in Pesaro gemeint, ohne dass weitere Informationen gegeben werden.51 Auch die vor allem in Gallien weit verbreiteten Armenmatrikel erwähnte Gregor zweimal.52 An beiden Stellen setzte er für den Bischof von Tarent, der Gewalt gegen „eine Frau der Matrikel“53 angeordnet haben soll, einen zweimonatigen Ausschluss vom Altardienst als Strafe an. Dass unter Gregor aber ein umfangreicher Matrikelband entstand, wie sein Biograph Johannes Diaconus behauptet,54 ist aus dem Register selbst nicht zu belegen. Deutlich zahlreicher sind die Belege für Xenodochien, sie werden im Briefregister über dreißig Mal erwähnt.55 Auf diese Weise werden solche Institutionen der Armenfürsorge in Rom,56 u. a. in direkter Nähe zur Peterskirche,57 mehrere in Cagliari auf Sardinien,58 in Palermo,59 in Autun sowie in Jerusalem60 bezeugt. Die ausführlichsten Informationen sind über das von der fränkischen Königin Brunhilde in Autun gestiftete Xenodochium erhalten. Dessen Privilegien bestätigte Gregor in einer Urkunde, die im Register bewahrt ist.61 Als Leiter 49 Vgl. Bertolini, Storia; Hermes, Diakonien; Marrou, L’origene; Kalsbach, Diakonie; Müller, A. Christianisierung; Sternberg, Ursprung, zur Forschungsdiskussion s. Hermes, Diakonien, 13–17. 50 Vgl. Greg.‑M. Ep. X, 8 (CCSL 140A, 834, 9–12); XI, 17 (CCSL 140A, 886, 6–13), vgl. dazu Müller, A., Christianisierung, 175 f. 51 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 25 (CCSL 140, 292, 24–293, 27), Andreas Müller vermutet eine „eher kommerzielle Einrichtung mit karitativer Ausrichtung“, Müller, A., Christianisierung, 175. 52 Vgl. Greg.‑M. Ep. III, 44 (CCSL 140, 189, 18); III, 45 (CCSL 140, 1920, 11). Zu den gallischen Matrikeln und ihren Unterschieden zu den Diakonien vgl. Sternberg, Orientalium, 105–145; Rouche, Michel, La matricule des pauvres. Evolution d’une institution de charité du Bas Empire jusqu’à la fin du Haut Moyen Age, in: Mollat, M. (Hg.), Etudes sur l’histoire de la pauvreté, Publications de la Sorbonne, Bd. 1, Sèr. Etudes 8, Paris 1974, 83–109. 53 „[…] mulierem de matriculis“ Greg.‑M. Ep. III, 44 (CCSL 140, 189, 18). An der anderen Stelle bezeichnet Gregor die Frau als „Matriculam“ Greg.‑M. Ep. III, 45 (CCSL 140, 190, 11). Thomas Sternberg nimmt irrtümlich ein Konkubinat als Anlass der Strafe an, darüber berichtet jeweils der erste Abschnitt beider Briefe. Die Misshandlung der Frau von der Matrikel hingegen ist ein zweiter, davon unabhängiger Tatbestand, vgl. Sternberg, Orientalium, 106, FN 9. 54 Vgl. Joh.‑Diac. Vit. Greg. II, 30 (PL 75,98), ihm folgen Jenal, Stadt, 133; Dudden, Place I, 247 f.; Caspar, Geschichte II, 337. 55 Die Zahl habe ich dem Thesaurus Sancti Gregorii Magni. Series A – Formae, curante CETEDOC, Turnhout 1986 entnommen. 56 Vgl. Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 67 (CCSL 140A, 623, 10 f.); IX, 83 (CCSL 140A, 637, 11 f.). 57 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 63 (CCSL 140A, 619, 1–620, 5); IX, 131 (CCSL 140A, 681, 4 f.). 58 Vgl. Greg.‑M. Ep. IV, 24 (CCSL 140, 242, 7 f.); XIV, 2 (CCSL 140A, 1066, 1–12). 59 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 8 (CCSL 140A, 570, 7 f.); IX, 35 (CCSL 140A, 594, 4–595, 7); IX, 171 (CCSL 140A, 729, 6); XIII, 12 (CCSL 140A, 1012, 12 f.). 60 Vgl. Greg.‑M. Ep. XIII, 26 (CCSL 140A, 1027, 5 f.). 61 Vgl. Greg.‑M. Ep. XIII, 9 (CCSL 140A, 1004, 1–1006, 74), vgl. Boshof, Armenfürsorge,
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sollte grundsätzlich der Abt des angeschlossenen Männerklosters dienen, der in Absprache mit dem Konvent vom König bestimmt wurde.62 Das Privileg ist entsprechend an „Senatori presbytero et abbati xenodochio Francorum“63 adressiert. Zum Schutz des Xenodochiums untersagte Gregor unter Androhung der Exkommunikation und gegebenfalls der Amtsenthebung64 jegliche Veräußerung von Gütern. Die bisherigen Besitztümer des Xenodochiums und auch die zukünftigen Zustiftungen sollten – dem römischen Recht entsprechend65 – unwiderruflich der Einrichtung gehören und ihrem Unterhalt dienen,66 deren Zielgruppe er mit den „Armen und Fremden und weiteren“67 identifizierte. Ebenso bestimmte er eine strikte Trennung zwischen dem Xenodochium und der Bischofskirche: Eine Personalunion für den dortigen Abbat und Episkopat untersagte er, damit keinesfalls die Güter des Armenhauses zu denen des Bistums gezählt würden.68 Auf diese Weise sollte sicherlich auch ein zu großer Einfluss des Bischofs auf die Einrichtung verhindert werden. Deshalb durfte eine Amtsenthebung des Abtes nicht der Autuner Bischof allein vollziehen, sondern nur in Union mit sechs weiteren Bischöfen und nur wegen eines schwerwiegenden Verbrechens (causa specialiter criminis).69 Aus demselben Grund und zum Fortbestand des Armenhauses wurde angeordnet, dass der Bischof keine Mönche des Klosters für den Kirchendienst bestimmen durfte,70 „damit der Missbrauch seines [scil. des bischöflichen] Einflusses nicht bis dahin geführt wird, dass die Orte, die durch Zufluss von Menschen aufzubauen sind, durch Wegnahme zerstört werden.“71 Gregor hegte gegenüber den Bischöfen Galliens ein großes Misstrauen, da dort die Kirchenführer zumeist dem Adel entstammten und Kirche und weltliche Herrschaft daher eine enge Verbindung eingingen.72 Zu jeder Gelegenheit übte 158. Mit weitgehend identischen Privilegien werden zwei weitere Stiftungen Brunhildes, ein Frauenkloster sowie die Martinskirche in der Subura Autuns, ausgestattet, vgl. Greg.‑M. Ep. XIII, 10 f. (CCSL 140A, 1007, 1–1011, 61). Zu den inzwischen widerlegten Zweifeln an der Authentizität der drei Urkunden vgl. Sternberg, Orientalium, 228 f. Zu allen Stiftungen s. auch den Brief an Brunhilde, vgl. Greg.‑M. Ep. XIII, 5 (CCSL 140A, 997, 10–998, 27), der Anfang dieses Briefes ist verloren, vgl. den textkritischen Apparat der Stelle sowie Sternberg, Orientalium, 228 FN 180. 62 Vgl. Greg.‑M. Ep. XIII, 9 (CCSL 140A, 1005, 30–37). 63 Greg.‑M. Ep. XIII, 9 (CCSL 140A, 1064, 1 f.). 64 Vgl. Greg.‑M. Ep. XIII, 9 (CCSL 140A, 1006, 60–74); vgl. Greg.‑M. Ep. XIII, 10 (CCSL 140A, 1008, 46–1009, 60); XIII, 11 (CCSL 140A, 1010, 47–1011, 61). 65 Vgl. C.‑Iust. I, 2, 21 (CIC II, 16) und Kap. 4.1. 66 Vgl. Greg.‑M. Ep. XIII, 9 (CCSL 140A, 1005, 13–1005, 24). 67 „[…] pauperibus ac peregrinus uel ceteris“ Greg.‑M. Ep. XIII, 9 (CCSL 140A, 1006, 53). 68 Vgl. Greg.‑M. Ep. XIII, 9 (CCSL 140A, 1006, 48–54). 69 Vgl. Greg.‑M. Ep. XIII, 9 (CCSL 140A, 1005, 38–47). 70 Vgl. Greg.‑M. Ep. XIII, 9 (CCSL 140A, 1006, 54–59). 71 „[…] ne huius rei usque ad hoc usurpatio perducantur, ut loca quae acquisitione hominum construenda sund ablatione destruantur.“ Greg.‑M. Ep. XIII, 9 (CCSL 140A, 1006, 57–59. 72 Zum gallischen Episkopat der Merowingerzeit vgl. Gassmann, Peter, Das Episkopat in
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der Papst harsche Kritik an der Praxis der Simonie73 und versuchte diese durch eine Synode sowie das Einwirken des Königshauses zu bekämpfen.74 Zumindest die Institutionen der tätigen Nächstenliebe wie das Xenodochium in Autun wollte er von dem durch Machthunger und Geldgier korrumpierten Einfluss des Bischofs fernhalten und das für die Armen bestimmte Gut vor simonistischem Missbrauch schützen.75 Es ist auffällig, dass die Leitung und Unterhaltung des Xenodochiums in Autun allein in monastischer Hand lag und dem Einwirken des Ortsbischofs entzogen war. Für die übrigen im Register erwähnten Armenhäuser lässt sich eine vergleichbare Einheit mit einem Kloster nicht belegen, vielmehr sind diese eng mit der bischöflichen Verantwortung verbunden. Das zeigt sich insbesondere an dem Führungspersonal, das durchweg dem Bistumsklerus entstammte: Als Leiter der verschiedenen Xenodochien werden Diakone,76 ein Subdiakon77 sowie ein Erzpriester und oeconomus78 erwähnt. Dies ist weder ein Zufall noch der nur lückenhaften Quellenlage geschuldet, sondern entspricht dem Ideal des Papstes, Armenhäuser ausschließlich von Klerikern leiten zu lassen. Denn diese religiosi unterstanden der direkten bischöflichen Gerichtsbarkeit und konnten nicht vor weltliche Gerichte gezerrt werden. In der direkten Kontrolle der xenodochi, der Anstaltsleiter,79 durch den Bischof und dem Schutz vor Zivilklagen sah Gregor die „Güter der Armen“, den Besitz des Xenodochiums, am besten gewahrt.80 Gallien im 5. Jahrhundert, Bonn 1977; Pietri, Luce, Die wechselvolle Geschichte der Kirchen im westlichen Abendland B. Gallien, in: dies. (Hg.), Der lateinische Westen und der byzantinische Osten (431–642), GCh 3, Freiburg/Basel/Wien 2001, 222–263, hier: 231–237; zu Gregors Verhältnis dazu, vgl. Pietri, Luce, Grégoire le Grand et la Gaule: Le projet pour la Réforme de l’église Gauloise, in: Gregorio Magno e il suo Tempo, Bd. I: Studi storici, SEAug 33, Rom 1991, 109–128; Langgärtner, Georg, Die Gallienpolitik der Päpste im 5. und 6. Jahrhundert. Eine Studie über den apostolischen Vikariat von Arles, Theophaneia, Beiträge zur Religions- und Kirchengeschichte des Altertums 16, Bonn 1964, 166–183. 73 Vgl. Kap. 6.2.3.5. 74 Vgl. u. a. Greg.‑M. Ep. V, 59 f. (CCSL 140, 357, 1–362, 62). Zur diplomatischen Nutzung der Pallienverleihung vgl. Demacopoulos, Ascetic, 135–138. 75 Gregor wandte sich explizit gegen die Stiftung von Simonie-Geldern für wohltätige Zwecke, vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 219 (CCSL 140A, 785, 70–80). 76 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 8 (CCSL 140A, 570, 6–8); XIII, 12 (CCSL 140A, 1012, 10–13). In beiden Fällen handelt es sich um ein Xenodochium in Palermo, ob ein und dasselbe gemeint ist, bleibt unklar. 77 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 83 (CCSL 140A, 637, 12–14), hier wird auf das römische Armenhaus verwiesen. 78 Vgl. Greg.‑M. Ep. XIV, 2 (CCSL 140A, 1066, 6–10). Dieser hatte die Verantwortung für das Xenodochium in Vertretung für den schwer erkrankten Bischof übernommen, war dieser aber nicht ausreichend nachgekommen. Daher tadelt Gregor zudem den defensor und Rektor des Patrimoniums, der die Oberaufsicht innehatte. 79 Dieser Terminus ist in dieser Bedeutung auch im Codex Iustinianus belegt, vgl. C.‑Iust. I, 3, 33, 7 (CIC II, 23). 80 Vgl. Greg.‑M. Ep. IV, 24 (CCSL 140, 242, 10–20). Diese Überzeugung betraf auch die
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Die Einkünfte, die vor unrechtem Zugriff geschützt werden mussten, wurden aus den Erträgen der Ländereien bestritten, die dem jeweiligen Armenhaus bei seiner Gründung oder zu späteren Zeiten gestiftet wurden,81 was mehrfach zu Grenzstreitigkeiten mit anderen kirchlichen Einrichtungen führte.82 Neben den Ausgaben des Hauses wurde aus den Einnahmen ebenso der Lohn für den actionarius, wohl einen Verwaltungsangestellten, entnommen.83 Zudem mussten Abgaben, pensiones, geleistet werden, die gemeinsam mit der jährlichen Abrechnung nach Rom bzw. an den jeweiligen Ortsbischof gesandt wurden, dem die Aufsicht zukam.84 Gregor achtete penibel auf eine vollständige und exakte Rechnungsaufstellung, wie ein Brief aus dem April 599 beweist. In diesem befahl er dem defensor Romanus, bei dem Rechnungsschluss eines Erbes zu helfen, der das neunte und zehnte Indiktionsjahr, also den Zeitraum September 590 – August 592 betraf. Das Erbe sollte nun endlich den Armen zum Nutzen gereichen.85 Die utilitas pauperum stellte den alleinigen Zweck aller Institutionen der Nächstenliebe dar, hierin stimmen die spärlichen Informationen aus dem Briefregister zu konkreten Einrichtungen mit den theoretischen Erörterungen in Gregors literarischen Werken überein. Die Organisationsformen der Häuser divergierten hingegen voneinander, in Italien oblag dem Bischof die Aufsicht der Institutionen, deren Leitung ausschließlich in klerikaler Hand lag. Dahingegen sorgte der Papst in Gallien, zumindest in Autun, für eine strikte Trennung zwischen Xenodochium und Bistum.
6.1.2 Das Patrimonium Petri als Finanzquelle der Armenfürsorge Seit Konstantin war es der Kirche erlaubt, Grundbesitz zu erwerben bzw. durch Erbschaften und Stiftungen übereignet zu bekommen.86 Bis zum Pontifikat Gregors war es der römischen Kirche gelungen, sich zum größten Grundbesitzer in Italien zu entwickeln.87 Der gesamte Landbesitz der römischen Kirche bestand aus fünfzehn Einzel-Patrimonien, von denen vier außerhalb Italiens lagen (Gallien, Numidien, Illyricum und Sardinien/Korsika).88 Während diese externen Ländereien vornehmlich außenpolitische Bedeutung hatten, sicherten Verwaltung des Patrimoniums, vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 205 (CCSL 140A, 765, 50–55). 81 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 35 (CCSL 140A, 594, 1–595, 20); IX, 63 (CCSL 140A, 619, 1–620,17). 82 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 67 (CCSL 140A, 622, 1–623, 35); IX, 83 (CCSL 140A, 637, 1–638, 36); IX, 171, 729, 1–22). 83 Vgl. Greg.‑Ep. I, 42 (CCSL 140, 56, 211 f.). 84 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 42 (CCSL 140, 55, 210–56, 211); II, 50 (CCSL 140, 142, 55–143, 59); IV, 24 (CCSL 140, 242, 1–10). 85 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 131 (CCSL 140A, 681, 1–682, 37). 86 Vgl. C.‑Th. XVI, 2, 4 (Mommsen I/2, 836,1–5) = C.‑Iust. I, 2, 1 (CIC II, 12) und Kap. 4.1. 87 Vgl. Markus, World, 112; Jenal, Stadt, 139. 88 Vgl. Richards, Leben, 134 f.; Dudden, Place I, 296–320; Markus, World, 112 f.; Jenal, Stadt, 138–141.
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die italischen Gebiete, allen voran dasjenige auf Sizilien, die finanziellen und naturalen Einkünfte der Kirche in Rom.89 Einen der nachhaltigsten und bedeutendsten Aspekte seines Wirkens stellt Gregors Sorge für diesen Grundbesitz, das Patrimonium Petri, dar.90 Allein die Menge der Briefe, die sich mit der Verwaltung der kirchlichen Güter beschäftigen,91 bezeugt, welchen Stellenwert er dieser Aufgabe zukommen ließ. Bereits in dem ersten überlieferten Brief setzte er einen Rektor für das Patrimonium auf Sizilien ein, wo besonders arge Missstände herrschten.92 Das Rektorenamt für die Patrimonien beinhaltete eine Vielzahl an Aufgaben: Zur reinen Verwaltungsarbeit zählten die Kontrolle und Weiterleitung der Abgaben an kirchliche und staatliche Stellen, die Aufsicht über die Pächter sowie die Schlichtung von Streitfällen. Daneben kamen den rectores auch dezidiert kirchliche Verantwortlichkeiten zu, z. B. die Auswahl von geeigneten Kandidaten für eine Bischofswahl, die Visitation vakanter Bistümer, Bestrafung gefallener Asketen und Kleriker. Beachtlich ist, dass die Rektoren trotz ihrer geringen Hierarchiestufe mitunter sogar die Bischöfe kontrollieren und richten sollten, was nicht selten zu Konflikten führte.93 Schließlich konnte der Rektor auch als Repräsentant und Stellvertreter (vicarius) des Papstes fungieren und übernahm daher auch diplomatische Aufträge.94 Gregor wählte für das Rektorenamt stets römische Kleriker (Presbyter, Diakon, Subdiakon)95 oder zumindest päpstliche Verwaltungsbeamten (defensor, 89 Vgl.
Richards, Leben, 135 f. Dudden, Place I, 320; Richards, Leben, 133. 91 Robert Markus beziffert sie mit 25 % der gesamten Korrespondenz Gregors, vgl. Markus, World, 112. 92 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 1 (CCSL 140, 1,12, 22) und Müller, B. Führung, 176–178; Richards, Leben, 144–146. 93 Vgl. z. B. Greg.‑M. Ep. VI, 11 (CCSL 140, 380, 29–37); vgl. Markus, World, 116 f. Damit schränkte Gregor seine Forderung, sich der gottgegebenen Hierarchie unterzuordnen, ein, wie er sie u. a. in der Pastoralregel erläuterte, vgl. Kap. 5.2.2.2. Allerdings ist diese bereits durch die Sünden der gefallenen Bischöfe beschädigt, worauf auch Untergebene hinweisen dürfen und sollen. 94 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 1 (CCSL 140, 1, 5–7). Umfassende Zusammenstellungen der Aufgaben der Rektoren finden sich bei Markus, World, 114–119, und Richards, Leben, 137 f. 95 Der Einsatz von Klerikern ermöglichte die direkte Kontrolle durch die bischöfliche Gerichtsbarkeit und stellte explizit die Idealbesetzung für Gregor dar, vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 205 (CCSL 140A, 765, 50–55), vgl. Caspar, Geschichte II, 329–331; Markus, World, 113; Richards, Leben, 139–142. Bezeichnend ist, dass Gregor den Patrizier Dynamius, der als Laie das kleine Patrimonium in der Provençe verwaltet hatte, durch einen römischen (!) Presbyter ersetzte, vgl. Greg.‑M. Ep. III, 33 (CCSL 140, 179, 1–13); VI, 10 (CCSL 140, 378, 1–379, 16). Offensichtlich befürchtete der Papst, dass diese römische Einflussnahme auf Widerstand in den gallischen Kirchen sowie dem Königshaus stoßen würde, weshalb er Candidus jedem seiner gallischen Kontakte wärmstens empfahl, vgl. u. a. Greg.‑Ep. VI, 5 (CCSL 140, 373, 14–31); VI, 54 (CCSL 140, 427, 18–27). Zu den unterschiedlichen Klerus- und Laienämtern in der römischen Kirche zur Zeit Gregors vgl. Pietri, Charles, Clerics et serviteurs laïcs de l’Eglise romaine au temps de Grégoire le Grand, in: Fontaine, J. et al. (Hgg.), Grégoire le Grand. Chantilly, Centre 90 Vgl.
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Notar) aus. Ausschlaggebend war für ihn allerdings weniger die Weihestufe, als vielmehr das Vertrauen, das er zu der entsprechenden Person hegte.96 Zumeist blieben die Rektoren dennoch nicht lange in ihrem Amt. Entweder wurden sie zu höheren Weihen geführt oder in anderen Bereichen eingesetzt.97 Auf diese Weise gelang es dem römischen Bischof, die Verwalter beständig unter seiner Kontrolle zu halten und eventuellen Missbräuchen schnell Einhalt zu gebieten.98 Während die Verwaltung fest in der Hand des römischen Klerus lag, wurden die Äcker von örtlichen Bauern, sog. coloni bestellt. Diese waren zwar grundsätzlich freie Bürger,99 aber dennoch erblich an die jeweiligen Bodengüter gebunden.100 Die jeweils festgelegten Ernteabgaben wurden von aus dem Kreis der coloni gewählten conductores eingesammelt und an den Rektor geliefert, der sie im Herbst (September/Oktober) nach Rom verschiffen ließ.101 Die conductores waren die eigentlichen Pächter der Grundstücke, wobei ihre Verträge stets befristet waren.102 culturel Les Fontaines, 15–19 septembre 1982, Colloques Internationaux du CNRS, Paris 1986, 107–122. 96 Für Sizilien setzte er etwa zuerst den römischen Subdiakon Petrus ein, vgl. Greg.‑M. Ep. I, 1 (CCSL 140, 1, 5 f.), später teilte er das Patrimonium zwischen Syrakus und Palermo auf, vgl. Greg.‑M. Ep. II, 50 (CCSL 140, 142, 51–143, 59). Für das übergeordnete und wichtigere Syrakus beauftragte er zuerst den Diakon Cyprian, erstmals erwähnt in Greg.‑M. Ep. III, 55 (CCSL 140, 204, 1–13), dem später der defensor Romanus nachfolgte, vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 22 (CCSL 140A, 582, 1–26). 97 Der Subdiakon Petrus übernahm nach seiner Abberufung aus Sizilien die Verwaltung des Patrimoniums in Campanien, vgl. Greg.‑M. Ep. III, 1 (CCSL 140, 146, 1–147, 35). Jeffrey Richards identifiziert ihn zusätzlich auch mit dem Bischof von Triocala, was aber nicht ohne Zweifel bleibt, da Gregor auch später noch von ihm als „diaconus, tunc autem subdiaconus et rector patrimonii“ spricht, Greg.‑M. Ep. V, 28 (CCSL 140, 295, 4), vgl. Richards, Leben, 142. 98 Vgl. Richards, Leben, 143–146. 99 Theodor Mommsen bezeichnet sie als „unfreie oder halbfreie Kleinbauern“: Mommsen, Theodor, Die Bewirthschaftung der Kirchengüter unter Papst Gregor I., ZSWG 1 (1893), 43–59, hier: 47. 100 Vgl. C.‑Iust. XI, 48–53 (CIC II, 440–443); Greg.‑M. Ep. I, 42 (CCSL 140, 50, 21–52, 89) und Mommsen, Bewirthschaftung, 47–51. Zur Kolonen-Gesetzgebung unter Justinian, vgl. Sirks, Adriaan Johan Boudewijn, The Colonate in Justinian’s Reign, JRS 98 (2008), 120–143; zur Entwicklung dieser Rechtsform insgesamt vgl. Schipp, Oliver, Der weströmische Kolonat von Konstantin bis zu den Karolingern (332 bis 861), Studien zur Geschichtsforschung des Altertums 21, Hamburg 2009. 101 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 70 (CCSL 140, 79, 15–17); II, 12 (CCSL 140, 99, 6–11); V, 31 (CCSL 140, 298, 1–299, 27) und Caspar, Geschichte II, 331 f.; Mommsen, Bewirthschaftung, 52–56. Die weit entlegenen Patrimonien übermittelten statt Naturalien Geldzahlungen, was aber im Falle Galliens zu weiteren Problemen führte: Die gallischen solidi entsprachen nicht der römischen Münzqualität, weshalb Gregor auftrug, für die Gelder vor Ort u. a. Kleidung zu kaufen, die dann nach Rom gesandt und dort an Bedürftige ausgeteilt werden sollten, vgl. Greg.‑M. Ep. VI, 10 (CCSL 140, 378, 1–12). Philip Grierson vermutet das gallische Patrimonium gar als Geburtsstätte der sog. Pseudo-imperialen solidi, vgl. Grierson, Philip, The Patrimonium Petri in Illis Partibus, and the Pseudo-Imperial coinage in Frankish Gaul, RBNS 105 (1959), 95–111. 102 Vgl. Caspar, Geschichte II, 331 f.
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Neben dem Kolonat existierte auch die Erbpacht (emphyteusis). Hierbei pachteten wohlhabendere Bauern die kirchlichen Güter auf Lebenszeit und zahlten die Pacht in monetärer Weise.103 Dieser Wirtschaftsform stand Gregor äußerst kritisch gegenüber, da sie nur einen geringen Ertrag für die Kirche versprach und obendrein ihr Einfluss als Eigentümerin durch die lebenslange Pacht weitgehend annulliert war und daher Missbräuche an der Tagesordnung waren.104 Der römische Bischof war auf eine dauerhafte Stabilität der kirchlichen Besitztümer und Einnahmen bedacht. Deshalb knüpfte er an die bürokratische Verwaltung seiner Vorgänger an105 und baute sie entscheidend aus: Die Abgaben der einzelnen Ländereien ließ er in Grundbücher eintragen, um sowohl der Kirche als auch den Pächtern zuverlässige Verträge zu garantieren.106 Zudem führte er eine akribische Rechnungsprüfung ein. Die Rektoren mussten ihre Jahresabrechnungen (rationes) nach Rom schicken,107 für deren Korrektheit sowohl der Ortsbischof als auch der Rektor persönlich hafteten.108 Tatsächlich sprach Gregor mehrfach Tadel wegen Veruntreuung und Korruption aus.109 Auch Testamente von Bischöfen waren genau zu prüfen, damit deren Nachlass, der rechtlich der Kirche zustand, nicht unrechtmäßig an hinterbliebene Angehörige verteilt würde.110 Sein ökonomisches Geschick bewies Gregor, indem er auch im kleinen Kontext Kosten sparte: In der Milchviehhaltung war darauf zu achten, altersschwache Tiere, die keine Melkleistung mehr brachten, ebenso zu verkaufen wie die Stiere, um zumindest noch einen Mindestertrag zu erwirtschaften. Die große Pferdezucht wurde aufgelöst, da die Kosten für die Pferdewirte die Einnahmen deutlich überstiegen. Die Pferde sollten verkauft bzw. an die conductores verteilt werden, wohingegen die Pferdewirte als Erntehelfer eingesetzt wurden.111 Die colones durften nicht zusätzlich zu ihrem Dienst auf den Feldern des Patrimo-
103 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 126 (CCSL 140A, 676, 7–677, 14); Iust. Nouell. 120 (CIC III, 578– 591) und Mommsen, Bewirthschaftung, 47.53; Richards, Leben, 136; Caspar, Geschichte II, 332. 104 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 70 (CCSL 140, 79, 24–31); IX, 79 (CCSL 140A, 633, 1–634, 10). 105 Seit Gelasius I. wurde im Lateran ein Kontobuch, das polypticum, geführt, in dem die Güter, sowie die Ein- und Ausgaben der einzelnen Patrimonien verzeichnet wurden, vgl. Caspar, Geschichte II, 327 f. und Richards, Leben, 139. Das Buch wurde von Gregor weitergeführt, vgl. Greg.‑M. Ep. II, 50 (CCSL 140, 142, 32–36) und Markus, World, 121. 106 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 42 (CCSL 140, 50, 34–51, 43). 107 Vgl. Greg.‑M. I, 80 (CCSL 140, 87, 1–88, 19); III, 22 (CCSL 140, 168, 25–38); XI, 14 (CCSL 140A, 880, 7–11). 108 Vgl. Greg.‑M. Ep. II, 6 (CCSL 140, 94, 15–23); III, 22 (CCSL 140, 168, 16–24). 109 Vgl. u. a. Greg.‑M. Ep. I, 10 (CCSL 140, 12, 11–17); III, 22 (CCSL 140, 167, 10–168, 16). 110 Vgl. Greg.‑M. Ep. VI, 23 (CCSL 140, 290, 1–9); VII, 1 (CCSL 140, 369, 1–370, 32). 111 Vgl. Greg.‑M. Ep. II, 50 (CCSL 140, 141, 13–24).
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niums noch bei Privatpersonen arbeiten, was zum Nachteil der Kirche gereicht wäre.112 Um eine einheitliche Verwaltung zu schaffen, akute Missstände zu beseitigen und die Versorgung der Armen zu sichern, sollten sich die Bischöfe Siziliens jährlich zu einer Regionalsynode versammeln.113 Ebenso sollten sie in regelmäßigen Abständen, notfalls gegen den Willen des Prätors, zu Synoden nach Rom reisen.114 Ebenso zum Besitz der Kirche und damit zum Bereich „des Vermögens der Armen“115 zählte der Kirchenschatz und insbesondere die vasa sacra. Auf ihren Schutz war der römische Bischof bedacht, wenn er genaue Inventurverzeichnisse erstellen ließ, kontrollierte und gegebenfalls zur Korrektur zurückschickte.116 Weil diverse Bischöfe vor den Langobarden nach Sizilien geflohen waren und die Geräte dabei mit sich genommen hatten, waren diese über die ganze Insel verstreut und z. T. sogar verkauft worden. Diese sollten aufgesucht, inventarisiert und durch einen Notar gegebenfalls zurückgekauft werden, worüber dem Bischof von Syrakus die Aufsicht oblag.117 Diese unvollständige Aufzählung an Maßnahmen beweist, wie detailliert Gregor die Bewirtschaftung des Patrimoniums auf den verschiedenen hierarchischen Ebenen kontrollierte und beeinflusste. Dennoch ist ihm keinesfalls eine Gewinnsucht zu unterstellen. Vielmehr war ihm stets an Rechtssicherheit, Gesetzestreue und Gerechtigkeit gelegen, wie auch seine juristische Handreichung für den nach Spanien entsandten defensor belegt.118 Jegliche Form des Missbrauchs, sei es durch Falschgewichte,119 überhöhte Abgaben,120 Nötigung121 oder gewaltsame Enteignung,122 verbot und verfolgte er rigoros. Alle unrechtmäßig erworbenen Mittel waren den Opfern zurückzuerstatten.123 In einem Brief an Petrus, den Rektor Siziliens, formuliert Gregor prägnant: „Denn wir
112
Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 204 (CCSL 140A, 762, 18–26). Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 1 (CCSL 140, 1, 10–2, 22). 114 Vgl. Greg.‑Ep. I, 70 (CCSL 140, 78, 1–9); VII, 19 (CCSL 140, 470, 1–12) und Richards, Leben, 96 f. 115 „[…] facultatis pauperum“ Greg.‑M. Ep. IV, 11 (CCSL 140, 229, 34), diese Formulierung bezieht Gregor explizit auf die vasa sacra. 116 Vgl. Greg.‑M. Ep. III, 41 (CCSL 140 186, 1–16); IV, 11 (CCSL 140, 229, 27–36); IX, 19 (CCSL 140A, 579, 1–10). 117 Vgl. Greg.‑M. Ep. IV, 15 (CCSL 140, 233, 1–15); VIII, 26 (CCSL 140A, 547, 1–12), zur Veräußerung des liturgischen Geräts mit dem Zweck des Gefangenenloskaufs vgl. Kap. 6.1.3.3. 118 Vgl. Greg.‑Ep. XIII, 49 (CCSL 140A, 1058, 1–1064, 136), vgl. auch Greg.‑M. Ep. V, 57a, 3 (MGH.Ep. I, 364, 1–11) und Richards, Leben, 139. 119 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 42 (CCSL 140, 51, 44–49); XIII, 35 (CCSL 140A, 1037, 8–1038, 20). 120 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 42 (CCSL 140, 50, 21–34). 121 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 53 (CCSL 140, 66, 1–25). 122 Vgl. Greg.‑M. Ep. III, 43 (CCSL 140, 188, 1–13). 123 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 42 (CCSL 140, 52, 84–89); XIII, 35 (CCSL 140A, 1038, 21–35). 113
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wollen nicht, dass der Geldbeutel der Kirche durch schändliche Gewinne beschmutzt wird.“124 Den Bedürftigen wies der Papst – der Tradition folgend – ein Viertel der Einnahmen zu, die anderen Viertel waren für bischöfliche Aufgaben, den Klerus und die Instandhaltung der Gebäude vorgesehen.125 Auch das Personal verpflichtete er auf die Armenfürsorge.126 Ernennungsurkunden für defensores beinhalteten stets folgende Formulierung: „Und was immer dir zum Nutzen der Armen von uns aufgetragen wird, sollst du unbestechlich und mit Eifer ausführen.“127 Zum selben Zweck war das Diakonenamt bestimmt, weshalb Gregor auf der römischen Synode von 595 bemängelte, dass Diakone, die in der Messe Kantorenaufgaben übernahmen, wegen ihrer Stimme, nicht aber wegen ihrer Rechtschaffenheit ausgewählt würden. Insofern ließ er den Beschluss fassen, dass Diakone im Gottesdienst nur noch das Evangelium zu lesen bzw. zu singen hatten, alle anderen Rezitationen oblagen den niederen Klerikern.128 Neben dem Werterhalt der kirchlichen Güter, der den Bedürftigen durch die Fürsorgeleistungen sekundär zugutekam, ergriff Gregor zusätzlich Maßnahmen zum Schutz der Armen und insbesondere der Bauern des Patrimoniums. Seinem 124 „[…] quia nos sacculum ecclesiae ex lucris turpibus nolumus inquinari.“ Greg.‑M. Ep. I, 42 (CCSL 140, 52, 93 f.). In Gregors Anweisungen zu individuellen Streitfällen finden sich zudem häufig Verweise auf staatliche und kirchliche Gesetzesgrundlagen (legibus canonibusque), vgl. u. a. Greg.‑M. Ep. II, 25 (CCSL 140, 111, 24). 125 Vgl. Greg.‑M. Ep. IV, 11 (CCSL 140, 228, 8–229, 17); V, 27 (CCSL 140, 294, 1–10); VIII, 7 (CCSL 140A, 524, 10–30); XIII, 45 (CCSL 140A, 1051, 7–16) und Richards, Leben, 101 f.; Jones, Finance, 91 f.; Tobei, Johannes, Bischofsamt und Caritas. Das Amtsethos des Bischofs als Pater pauperum im Decretum Gratiani, Freiburg 1964, 67–69; Neil, Brownen, The Papacy in the Age of Gregory the Great, in: Neil, B./ Dal Santo, M. (Hgg.), A Companion to Gregory the Great, Brills Companions to the Christian Tradition 47, Leiden 2013, 3–27, hier: 14; Scholz, Armenfürsorge, 112 und Jedin, Hubert, Bona ecclesiae – Bona Pauperum. Zur Vierteilung vor und auf dem Tridentinum, in: Gatz, E. (Hg.), Römische Kurie, kirchliche Finanzen, vatikanisches Archiv. Festschrift H. Hoberg, MHP 45, Rom 1979, 405–413, hier: 405 f. Andere Regelungen existierten in Spanien, Gallien, sowie in den östlichen Kirchen, vgl. Jones, Finance, 92–94; Sternberg, Orientalium, 36–39. Barbara Müller nimmt irrtümlich eine flexiblere Handhabe Gregors an, vgl. Müller, B., Führung, 323.402, vgl. Kap. 5.4.2.3.1. Lediglich für den Sonderfall einer durch die schwere Erkrankung eines Bischofs notwendigen Visitation befahlt Gregor, die beiden Viertel für den Bischof und die Gebäude zwischen dem Erkrankten, dem Visitator und den Bauten zur dritteln, vgl. Greg.‑M. Ep. V, 48 (CCSL 140, 341, 15–342, 20). Zu den Umständen der Erkrankung des Castorius und den Konflikten in der Gemeinde vgl. Richards, Leben, 178–180. 126 Anthemius, den Subdiakon und Rektor des Patrimoniums in Campanien, ermahnt Gregor mehrfach zur tätigen Armenfürsorge, vgl. Greg.‑M. Ep. I, 23 (CCSL 140, 21, 1–9); I, 37 (CSL 140, 44, 1–5); I, 53 (CCSL 140, 66, 1–6) und Richards, Leben, 142. 127 „[…] et quicquid pro pauperum commodis tibi a nobis iniunctum fuerit, incorrupte et nauiter exsequaris“ Greg.‑M. Ep. V, 26 (CCSL 140, 293, 5 f.) = IX, 98 (CCSL 140A, 651, 3–5). Zu dem Ernennungsprozess der defensores sowie der schola defensorum und ihrer staatlichen Vorläufer vgl. Pitz, Papstreskripte, 152–155; Caspar, Geschichte II, 334–336. 128 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 57a, 1 (MGH.Ep. I, 363, 4–15) und Müller, B. Führung, 175 f.; Caspar, Geschichte II, 405 f. Zur Historizität der traditionellen Verbindung Gregors mit dem Sacramentarium Gregorianum vgl. Richards, Leben, 125–132.
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Stellvertreter auf Sizilien trug er auf, verlässliche Kornpreise und fixe, möglichst niedrige Abgaben für die Bauern festzusetzen, um jeder Willkür vorzubeugen.129 Außerdem sollte den Bauern die Zahlung der staatlichen Steuer (burdatio), die u. a. am 1. Mai und damit vor der Ernte fällig war, durch zinsfreie Darlehen erleichtert werden.130 Diese Hilfestellung begründete Gregor gleich zweifach: Einerseits entstand auf diese Weise der Kirche keinerlei Schaden, andererseits trug der Bauer einen großen Nutzen (utilitas) davon. In Zeiten der Not – und davon gab es in den Jahren seines Pontifikats zahlreiche – ließ Gregor aus den kirchlichen Magazinen (horrea) Getreide verteilen. So beauftragte er im Herbst 595 seinen Rektor auf Sizilien, 1000, wenn möglich auch 2000 Scheffel Weizen an Zenon, den Bischof von Epirus, zu schicken, wo eine Hungersnot herrschte.131 Um solche Nothilfe zu jeder Zeit leisten zu können, achtete der Papst auch in Zeiten der Missernte darauf, die kirchlichen Silos gut zu füllen, selbst wenn dafür zusätzlich Getreide im Ausland angekauft werden musste.132 Damit kam die kirchliche Fürsorge der staatlichen Getreideversorgung, der cura annonae nahe.133 Diese war zwar von Justinian in Italien nach dem Sieg über die Ostgoten wieder in Kraft gesetzt worden, erscheint aber gegen Ende des 6. Jahrhunderts zunehmend labil, insbesondere aufgrund der Langobardeneinfälle.134 Gregors Einstellung zur staatlichen cura annonae erweist sich im Briefwerk als wechselvoll. Im zweiten Brief des Registers wandte er sich an den Prätor Siziliens, den höchsten Staatsbeamten der Insel,135 und ermahnte ihn, ausreichend Getreide nach Rom zu liefern, was dieser, trotz gegenteiliger Aussage, bisher nicht getan hatte.136 Offensichtlich hatte es einen Disput zwischen dem Prätor und Citonatus, wohl dem Annonenpräfekten in Rom,137 gegeben, denn Gregor erinnerte ersteren daran, „dass, falls weniger hierher geliefert wird, nicht nur ein gewisser, einzelner Mann [scil. Citonatus], sondern zugleich das ganze Volk dahingerafft werden.“138 Deutlich ist, dass Gregor grundsätzlich den Staat in der 129
Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 42 (CCSL 140, 50, 6–34), vgl. Richards, Leben, 144. Greg.‑M. Ep. I, 42 (CCSL 140, 51, 50–61); V, 7 (CCSL 140, 274, 29–37) und Mommsen, Bewirthschaftung, 55 f.; Richards, Leben, 145 f. Der Zinssatz bei gewerblichen Geldleihern konnte mitunter bei 25 % liegen, vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 108 (CCSL 140A, 661, 1–7). 131 Vgl. Greg.‑M. Ep. VI, 4 (CCSL 140, 372, 1–10). 132 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 70 (CCSL 140, 78, 10–79, 23). 133 Zur cura annonae vgl. Kap. 4.1. 134 Zur Diskussion über den Fortbestand der staatlichen Getreideversorgung s. Kap. 6. 135 Vgl. Iust. Nouell. 75 (CIC III, 378) und Caspar, Geschichte II, 410. 136 Vgl. Greg.‑Ep. I, 2 (CCSL 140, 3, 24–26). 137 Vgl. Richards, Leben, 95. 138 „[…] quia si quid minus hic transmittitur non unus quilibet homo sed cunctus simul populus trucidatur.“ Greg.‑M. Ep. I, 2 (CCSL 140, 3, 27 f.). Die Situation war in Rom besonders bedrückend, da im Winter 589/590 die kirchlichen Kornmagazine durch die große Tiberflut zerstört worden waren und die Kirche demnach der staatlichen Versorgung nicht zur Seite 130 Vgl.
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Verantwortung für die Getreideversorgung sah und nicht beabsichtigte, dass die Kirche an dessen Stelle trat. Dennoch wurde er zunehmend misstrauischer und sorgte für eine parallele Absicherung, wie die bereits erwähnten Zukäufe für die kirchlichen Magazine beweisen.139 Diese kirchliche Alternative wurde schon kurze Zeit später in Angriff genommen: Im Kontext der langobardischen Belagerung Roms im Jahr 593 waren Vorwürfe gegen Gregor laut geworden, dass er im Vorhinein nicht für ausreichend Vorräte gesorgt hatte. Der römische Bischof verteidigte sich zwei Jahre später bei dem Kaiser, er hätte schon mehrfach darauf hingewiesen, dass Getreide in der Stadt aufgrund der Nähe der kirchlichen horrea zum Tiber nicht über längere Zeiträume hinweg gelagert werden kann.140 Die Versorgungslage wurde in den folgenden Jahren noch prekärer, sodass im Februar 599 selbst die Palastangestellten Hunger litten und auf Anweisung des Kaisers außer der Reihe zusätzliches Korn aus den staatlichen Magazinen in Sizilien geordert werden musste.141 Obwohl der Kaiser zu diesem Zeitpunkt die cura sitonici wieder übertragen hatte, nämlich an einen gewissen Cyridanus, waren die staatliche und die kirchliche Nahrungsverwaltung miteinander verwoben. In den kirchlichen Magazinen lagerte staatliches Getreide und wurde von defensores verteilt.142 Im Folgejahr kritisierte Gregor den Prätorianerpräfekten Italiens, weil dieser der diaconia Neapels die gewohnten staatlichen Getreidelieferungen entzogen hatte.143 Zu diesem Zeitpunkt hatten die Kirchen in Neapel und Rom die Ausgabe des kaiserlichen Korns übernommen, der Staat sollte nur noch die Waren liefern.144 Letztendlich sah Gregor aber dennoch den Staat in der Pflicht, das Volk mit ausreichend Nahrung zu versorgen. Die kirchliche Vorratshaltung betrieb er als Absicherung, da er dem Kaiser und dessen Beamten zunehmend misstraute, die ihn auch in anderen Belangen wie der Langobardenpolitik145 bereits schwer enttäuscht hatten. Er strebte die weitgehende Unabhängigkeit der kirchlichen Getreidevorräte von staatlichen Einflüssen an, um nicht in Verbindlichkeiten zu geraten, sondern frei im Schutz der Armen wirken zu können.146 stehen konnte, vgl. Vgl. Greg.‑T. Hist. X,1 (FSGA.A 3, 320, 32–322, 2) und Greg.‑M. Dial. III, 19, 2 (SC 260, 346, 7–11). 139 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 70 (CCSL 140, 78, 10–79, 23). 140 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 36 (CCSL 140, 396, 78–307, 84) und Jenal, Stadt, 134 f. 141 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 107 (CCSL 140A, 659, 1–660, 13). 142 VGl. Greg.‑M. Ep. IX, 116 (CCSL 140A, 660, 1–670, 29) und Jenal, Stadt, 135; Müller, A., Christianisierung, 183; Richards, Leben, 95. Cyridanus verdächtigte indes die kirchlichen Verwalter der Unterschlagung und unterstellte die Verteilung wieder staatlichen Personen. 143 Vgl. Greg.‑M. Ep. X, 8 (CCSL 140A, 833, 1–834, 26). 144 Vgl. Müller, A., Christianisierung, 175; gegen Richards, Leben, 95, der hinter der Beschwerde Gregors eine staatliche Beschlagnahmung kirchlicher Güter vermutet. Matthew Dal Santo sieht darin eine reguläre bischöfliche Aufgabe im justinianischen Staatskonzept, vgl. Dal Santo, Empire, 75 f. 145 Vgl. Kap. 6.3.1. 146 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 48 (CCSL 140, 342, 29–36).
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Es ist auffällig, dass er die Verwaltung des Patrimoniums Petri stets unter dem Fokus der Armenfürsorge ausübte. Seine Mühen um die Stabilisierung und Maximierung der Einkünfte betrieb er nicht auf Kosten der Armen, sondern zu deren Nutzen. Standen die Interessen der Kirche und der Bedürftigen einmal unvereinbar gegeneinander, verzichtete er auf den Vorteil des Patrimoniums. Zur Unterstützung der Armen scheute er keinen Konflikt mit verschiedenen Magnaten aus kirchlicher, gesellschaftlicher oder staatlicher Hierarchie. Seine Forderung verknüpfte er wie auch in seinen literarischen Werken147 mit Hinweisen auf die Vorteile im Jüngsten Gericht, die aus der Armenfürsorge entstünden.148
6.1.3 Konkrete Fürsorge für personae miserae In zahlreichen Briefen an kirchliche Amtsträger finden sich Anweisungen Gregors zur konkreten Unterstützung einzelner Personen, die in Not geraten waren. Dabei nutzte er nicht nur seine päpstliche Autorität, sondern auch knappe theologische Argumentationen, um seine Adressaten zum Handeln zu bewegen. Hierbei traf er Aussagen, die bereits in seinen literarischen Werken zu beobachten sind: Witwen und Waisen zu helfen, heißt Christus nachzuahmen (imitari).149 Wer mit Bedürftigen Mitleid empfindet und ihnen aufhilft, begegnet nach Mt 25,40 dem Herrn selbst.150 Auf diese Weise können himmlische Verdienste gesammelt werden.151 Dennoch überreizt Gregor mitunter seine Intention, den Briefempfänger zum guten Werk zu motivieren, und lässt sich zu übersteigerten soteriologischen Thesen hinreißen, die er in den Moralia in Iob noch klar abgewiesen hatte: „[Eure Brüderlichkeit] weiß, dass sie wegen solcher Sachen sich auch den Herrn zum Schuldner (debitor) macht.“152 Zu den Empfängern der direkten Hilfeleistung sind vornehmlich die klassischen personae miserae zu zählen: Arme, Witwen und Waisen. Daneben mahnt Gregor, wie in seinen theoretischen Werken, auch in der Praxis zum Beistand für die Unterdrückten. Durch die Kriegssituation waren zudem viele Einwohner Roms und Italiens in Geiselhaft und Kriegsgefangenschaft geraten. Insofern strebte der römische Bischof danach, für diese die Freiheit zu ermöglichen. 147
Vgl. Kap. 5.2.2.4; 5.3.2.2.; 5.4.3.1; 5.5.2.2; 5.6.3.1.1. Vgl. z. B. Greg.‑M. Ep. I, 2 (CCSL 140, 2, 11–3, 23). 149 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 60 (CCSL 140, 71, 1–6), vgl. Kap. 5.5.2.1. 150 Vgl. Greg.‑M. Ep. II, 25 (CCSL 140, 111, 9–11); IX, 226 (CCSL 140A, 800, 9–12). 151 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 61 (CCSL 140, 72, 15), vgl. Kap. 5.2.2.4; 5.3.2.2; 5.4.3.1; 5.5.2.2; 5.6.3.1.1. 152 „[…] sciens quia de huiuscemodi rebus et Dominum sibi debitorem faciat“ Greg.‑M. Ep. I, 60 (CCSL 140, 71, 11 f.) = I, 62 (CCSL 140, 73, 9 f.); vgl. Greg.‑M. Ep. II, 25 (CCSL 140, 111, 7–9), dagegen Greg.‑M. Mor. XXXIII, 38 (CCSL 143B, 1708, 2–1709, 33) und Kap. 5.6.3.1.1. Damit nähert sich Gregor noch weiter einer cyprianischen Almosentheologie an, vgl. Cypr. Eleem. 26 (CCSL 3A, 72, 542–549). 148
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6.1.3.1 Arme, Waisen und Witwen An Einrichtungen wie den Xenodochien und auch dem episcopium wurden regelmäßig Bedürftige versorgt. In einem Brief wird zudem eine wiederkehrende Armenspeisung, die sog. mensa pauperum erwähnt, mit deren Verwaltung der religiosus Johannes beauftragt worden ist. Zur Erleichterung derselben befreite ihn Gregor in für ihn völlig untypischer Weise von der Pflicht, eine Abrechnung über die Einnahmen aufzustellen.153 Es ist unklar, wo diese Versorgung stattfand und ob sie zum regulären kirchlichen Fürsorgesystem zu zählen ist oder nicht vielmehr eine Sonderstellung einnahm. Über die regelmäßig praktizierte Verteilung hinaus wurden Arme auch anlassbezogen verpflegt. Ganz im Geiste der antiken liberalitas agierte Gregor als Euerget154 und befahl zur Weihe eines Oratoriums eines Klosters ein umfangreiches Festmahl, zu dem gerade die Bedürftigen geladen werden sollten: „Anlässlich des Weihefestes sollst Du als Spende für die Armen zehn goldene solidi, dreißig Amphoren Wein, zweihundert annonas [scil. Brote]155, zwei Fässer Öl, zwölf Hammel, hundert Hühner austeilen, die später in Deinen Rechnungen verzeichnet werden können.“156 Die pagane Tradition des panem et circences war offensichtlich auch im ausgehenden 6. Jahrhundert noch bekannt.157 Ebenso wird an diesem Zitat deutlich, dass Gregor die materielle Unterstützung Bedürftiger zu den Routine-Aufgaben der Patrimonien-Rektoren zählte, die sie in ihrer jährlichen Kostenaufstellung verzeichnen mussten.158 Offensichtlich wurde für diese Zwecke zudem an den Kirchen in langer Tradition159 eigens eine Armenkasse geführt, aus der die Kleriker Hilfe leisten konnten.160 In be153 Vgl. Greg.‑M. Ep. XI, 17 (CCSL 140A, 886, 6–13). Zur Verwaltung der diaconia, die einen weiteren Teil der Beauftragung darstellt und der Deutung dieser als Getreideverteilung, vgl. Kap. 6.1.1 und Müller, A., Christianisierung, 175 f. 154 Zum paganen Euergetismus vgl. Bolkestein, Hendrik, Art.: Almosen. A: Nichtchristlich, RAC 1 (1950), 301 f.; zur Rezeption dieses Ideals im Christentum vgl. Müller, Andreas, Konstantin und die Wohlfahrt, in: Popescu, E./Ioniţă, V. (Hgg.), Cruce și misiune. Sfinții Împărați Constantin şi Elena – promotori ai libertății religioase şi apărători ai Biseicii II, Bukarest 2013, 427–446; Klein, R., Liberalitas; Markschies, Dimension. 155 Zu dieser Deutung vgl. den textkritischen Apparat zur Stelle. 156 […] ad celebrandam dedicationem dare debeas ad erogandum pauperibus in auro solidos decem, uini amphoras triginta, annonas ducentas, olei orcas duas, ueruices duodecim, gallinas centum, quae tuis postmodum possint rationibus imputari.“ Greg.‑M. Ep. I, 54 (CCSL 140, 67, 10–13). 157 Vgl. auch Greg.‑M. Ep. XI, 56 (CCSL 140A, 961, 16–962, 28). 158 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 37 (CCSL 140, 44, 10 f.); I, 50 (CCSL 140, 64, 31); II, 50 (CCSL 140, 145, 135 f.). 159 Vgl. Hauschild, Wolf-Dieter, Art.: Armenfürsorge II. Alte Kirche, TRE 4 (1979), 14–23, hier: 18–20. 160 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 42 (CCSL 140, 54, 147–149): „Wir wollen, dass Du von den solidi der Kirche in Canusium etwas den Klerikern dieser Kirche gibst, damit auch diejenigen, die nun Not leiden, irgendeine Unterstützung haben.“ (De solidis ecclesiae Canusinae uolumus ut aliquid clericis eiusdem ecclesiae largiaris, quatenus et hi qui nunc inopiam patiuntur sustentationem
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sonderen Engpässen unterstützten sich die verschiedenen Kirchen gegenseitig, so sind im Briefregister großzügige Geldsendungen zwischen Rom und Syrakus für die jeweilige Armenfürsorge bezeugt.161 Darüber hinaus forderte Gregor seine Verwalter zu gezielter Unterstützung, zumeist in Form von Bargeld oder Nahrungsmitteln162 auf. Als Empfänger werden u. a. Blinde,163 Schwache und Versehrte,164 Flüchtlinge und Asketinnen,165 Waisen,166 eine Witwe,167 ein Adliger,168 ein defensor,169 ein Exprätor170 sowie zwei Bischöfe171 berücksichtigt, die allesamt in finanzielle Not geraten waren. So breit die Adressatenschaft der Armenfürsorge auch gestreut war, Gregor zog dennoch konkrete Grenzen: Almosen waren vornehmlich denen zu gewähren, die in der Einheit mit der Kirche standen. Schismatiker hingegen sollten hintangestellt werden.172 Ebenso von jeglicher Hilfe ausgeschlossen waren Verbrecher, ihre Unterstützung hätte dem Ruf der Kirche geschadet.173 In den meisten Fällen umfasste die Unterstützung Geldzahlungen174 oder Nahrungsmittel. Ebenso wurden Dinge des täglichen Bedarfs gespendet, wie Kleidung,175 Betten176 und Geschirr.177 Außerdem erleichterte der Papst Bedürftigen den Weg in die christliche Gemeinschaft und förderte so zugleich seine Missionsbemühungen, indem er ihnen die weißen Taufkleider kostenlos zur Verfügung stellte.178 aliquam habeant.). Vgl. auch Greg.‑M. Ep. III, 50 (CCSL 140, 204, 10–13); XIII, 21 (CCSL 140A, 1022, 9–11). Eine eigene Bezeichnung für die Armenkasse gebraucht Gregor nicht. 161 Vgl. Greg.‑M. Ep. II, 50 (CCSL 140, 143, 87–90); VII, 9 (CCSL 140, 458, 1–13). 162 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 37 (CCSL 140, 44, 1–10); I, 50 (CCSL 140, 64, 26–31); II, 50 (CCSL 140, 145, 136–142). 163 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 65 (CCSL 140, 75, 4–10); V, 30 (CCSL 140, 297, 15); IX, 235 (CCSL 140A, 818, 26–819, 32). 164 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 30 (CCSL 140, 297, 15). 165 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 23 (CCSL 140, 21, 1–9); VII, 23 (CCSL 140, 477, 86–95). 166 Vgl. Greg.‑M. Ep. X, 2 (CCSL 140A, 828, 22–31). 167 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 63 (CCSL 140, 73, 1–11). 168 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 137 (CCSL 140A, 688, 1–8). 169 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 110 (CCSL 140A, 662, 1–10). 170 Vgl. Greg.‑M. Ep. X, 12 (CCSL 140A, 839, 18–23). 171 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 195 (CCSL 140A, 749, 1–11); XIV, 15 (CCSL 140A, 1088, 1–10). 172 Vgl. Greg.‑M. Ep. II, 38 (CCSL 140A, 124, 51–65). Johannes, der Ravennater Bischof, hatte vorgeschlagen, das von den Langobarden zerstörte Aquileia mit Almosen zu unterstützen. Dies lehnte Gregor mit dem Hinweis auf deren schismatischen Bischof Severus ab und mahnte, das Geld stattdessen ins orthodoxe Fano zu schicken. Zum Schisma in Folge des Drei-KapitelStreits vgl. Kap. 6.3.2.1. 173 Vgl. Greg. Ep. IX, 80 (CCSL 140A, 634, 1–15); X, 17 (CCSL 140A, 846, 10–20). 174 Mehrfach ordnete der römische Bischof auch eine jährliche Zahlung an, vgl. Greg.‑M. Ep. I, 57 (CCSL 140, 69, 6–8); IX, 110 (CCSL 140A, 7 f.). 175 Vgl. Greg.‑M. Ep. X, 12 (CCSL 140A, 839, 18–23); XIV, 15 (CCSL 140A, 1088, 1–10). 176 Vgl. Greg.‑M. Ep. VII, 23 (CCSL 140, 477, 86–95); XI, 2 (CCSL 140A, 860, 20–24). 177 Vgl. Greg.‑M. Ep. VI, 57 (CCSL 140, 430, 20–22). 178 Vgl. Geg.‑M. Ep. V, 17 (CCSL 140, 285, 28–30); VIII, 1 (CCSL 140A, 513, 20 f.), VIII,
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Neben diesen Geld- und Sachspenden, die akute Not kompensieren sollten, ergriff Gregor zudem Maßnahmen, die Armut langfristig abwenden oder schon vorab verhindern sollten. Zum einen verzichtete die Kirche mehrfach auf ihr zustehendes Erbe,179 bot einen Zahlungsaufschub für Schuldner an180 oder erließ im Einzelfall die Schulden ganz.181 Die Begründung hierfür ist der Argumentation für die zinslosen Darlehen für Bauern sehr ähnlich: „Durch den Verzicht auf das kleine Gut wird die Kirche nicht belastet, der armen Waise aber wird barmherzig geholfen.“182 Ebenso erlaubte Gregor einem Stifter, seine einst zugesagten Unterhaltszahlung für eine Kirche zu reduzieren, die er derzeit nicht aufbringen konnte.183 Einen verarmten Bischof stattete er mit Ländereien und einem Weingut aus, um diesen Zeit seines Lebens versorgt zu wissen. Die obligatorischen Pachtabgaben ließ er dabei besonders gering ansetzen.184 Beachtlich ist auch der Fall des römischen Geldwechslers Johannes. Dieser hatte für den palatinus Importunus gebürgt und war dadurch derart in Not geraten, dass er sich ins Kirchenasyl begab. Gregor bat daraufhin den Ravennater Bischof, bei dem Prätorianerpräfekten einen Freispruch zu erwirken. Dabei betonte er mehrfach die Aufrichtigkeit und die guten Werke des Delinquenten sowie die Bedeutung seines Gewerbes für Bedürftige.185 Insbesondere da er die letzte Wechselstube Roms betrieb, solle der Bischof sich um diesen ereifern, „damit durch dessen Freispruch vielen Unterstützung gegeben werden kann und der Weg der Abhilfe, wie wir gesagt haben, zu seinen Zeiten nicht geschlossen wird.“186 Erneut stellt Gregor über die eigentliche Situation hinausgehend den Nutzen Bedürftiger in den Fokus. Diese Perspektive stellt ein Charakteristikum seines Denkens und Handelns für den Nächsten dar.
6.1.3.2 Die oppressi Insbesondere in den Ezechielhomilien hatte Gregor zum Beistand für die Unterdrückten aufgerufen. Ebenso erinnerte er in seinen Briefen die Bischofskollegen 23 (CCSL 140A, 543, 17–21). Zu den Missionsvorhaben Gregors vgl. Kap. 6.2.2. Die Tradition, dass Täuflinge das Taufkleid geschenkt bekamen, findet sich später auch in der Mission Nordeuropas, vgl. Notker. Balb. Gest. II, 19 (MGH SS rer. Germ. N. S. 12, 90, 2–30). 179 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 63 (CCSL 140, 73, 1–11); IX, 48 (CCSL 140A, 607, 1–26); IX, 200 (CCSL 140A, 758, 1–14). 180 Vgl. Greg.‑M. Ep. XIII, 23 (CCSL 140A, 1023, 1–1024, 9). 181 Vgl. Greg.‑M. Ep. III, 21 (CCSL 140, 166, 1–167, 14); III, 55 (CCSL 140, 204, 1–13). 182 „[…] ex paruae rei cessione nec ecclesia grauatur et orfano atque pauperi misericorditer subuenitur.“ Greg.‑M. Ep. IX, 48 (CCSL 140A, 607, 25 f.). 183 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 191 (CCSL 140A, 746, 1–16). 184 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 195 (CCSL 140A, 749, 1–11). 185 Vgl. Greg.‑M. Ep. XI, 16 (CCSL 140A, 884, 1–885, 23). 186 „[…] ut in huius absolutione multis possit ferre consultum et haec uia remedii eius, sivut diximus, temporibus non claudatur.“ Greg.‑M. Ep. XI, 16 (CCSL 140A, 885, 21–23).
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daran, dass dies Teil ihrer Amtspflicht sei.187 Dieser kam er auch persönlich nach, indem er sich besonders für diejenigen einsetzte, die von staatlichen Stellen bedrängt wurden. Für die Stadt Gallipoli bat er den zuständigen Tribun darum, die Abgaben und Frondienste zu verringern, um die Einwohner zu entlasten und eine weitere Emigration zu verhindern.188 Das geriete letztlich zum Nachteil der Kirche, weil deren Felder ohne ansässige Bauern nicht mehr bestellt werden konnten. Zusätzlich bat er den Ortsbischof um Unterstützung in der Angelegenheit und ließ diesen die kirchlichen Abgaben der verschiedenen Landgüter der Stadt überprüfen und gegebenfalls nach unten anpassen.189 Den Prätorianerpräfekten Afrikas bat er zu verhindern, dass dessen Beamte die staatlichen Abgaben zweifach eintrieben.190 Ähnlich bedrängend war die Situation auf Sardinien, wo der dux Theodorus sein Unwesen trieb, wogegen sich Gregor sowohl an den Exarchen,191 als auch über seinen Apokrisiar an Kaiser Mauricius selbst wandte.192 Auf diesen setzte der römische Bischof wiederum dessen Gattin, Kaiserin Konstantina, an. Sie sollte ihren Mann dazu bewegen, auf Sardinien, Korsika und Sizilien wieder für eine rechtsgetreue Verwaltung zu sorgen.193 Insbesondere auf Korsika trieben zu viele Beamte ihr Unwesen mit der Eintreibung von Steuern, so dass die Bürger das Geld nicht einmal durch den Verkauf ihrer Kinder in die Sklaverei aufzubringen vermochten und es daher vorzogen, in langobardische Gebiete überzusiedeln.194 Generell sei es doch besser, riet Gregor nicht ganz uneigennützig, die staatlichen Einnahmen in Italien zu belassen und nutzbringend einzusetzen.195 Der Papst versuchte demnach, seinen Einfluss bis in die höchsten staatlichen Kreise zu nutzen, um die Rechtsbrüche und Repressionen im Land zu beenden.196 Mitunter reichten aber gute Worte allein nicht aus. Aus Misstrauen den militärischen scribones gegenüber trug er seinem Rektor in Sizilien auf,
187 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 1 (CCSL 140, 1, 14); I, 35 (CCSL 140, 42, 1–43, 4); XIII, 27 (CCSL 140A, 1028, 1–12). 188 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 206 (CCSL 140A, 765, 1–766, 21). 189 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 207 (CCSL 140A, 766, 1–767,23). Jeffrey Richards interpretiert für mich nicht nachvollziehbar den Brief dahingehend, dass Gregor den Bischof als Rektor für den Bezirk eingesetzt hätte, vgl. Richards, Leben, 142 f. 190 Vgl. Greg.‑M. Ep. XI, 7 (CCSL 140A, 869, 1–15). 191 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 59 (CCSL 140, 70, 1–71, 27). 192 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 47 (CCSL 140, 61, 1–20). 193 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 38 (CCSL 140, 6–314, 51). 194 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 38 (CCSL 140, 312, 18–313, 24). 195 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 38 (CCSL 140, 313, 35–41). 196 Berühmt ist die Episode um die Zunft der Seifensieder Neapels, die „von einer Mafia unter der Leitung des uir clarissimus palatinus Johannes terrorisiert“ wurde, Müller, B. Führung, 318, wogegen Gregor notfalls auch den Präfekten einschalten wollte, vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 114 (CCSL 140A, 666, 1–667, 33) und Richards, Leben, 98.
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sich diese mit „irgendeinem kleinen Gastgeschenk“197 gewogen zu machen. In gleicher Weise konnte sogar das örtliche Gericht bestochen werden.198 Gerichtliche Prozesse, also die (Wieder-)Herstellung von Recht und Gerechtigkeit, sind ein zentrales Thema, mit dem sich Gregor in seinem Briefwerk auseinandersetzte. Insgesamt befassen sich knapp 20 % aller Briefe199 mit gerichtlichen Angelegenheiten.200 Fast ebenso häufig wie mit Personalangelegenheiten des Klerus war Gregor in seinem Pontifikat damit beschäftigt, in Rechtsverfahren einzugreifen.201 Lagen Gesetzesbrüche vor, forcierte er eine gerechte Bestrafung, selbst wenn die Täter dem Klerus entstammten.202 Außerdem sorgte er für Schutz vor ungerechten Eingriffen weltlicher Richter in den Besitz von Privatpersonen: Einer Witwe, die unrechtmäßig enteignet wurde, stellte er seinen Rektor Petrus an die Seite. Er sollte ihr vor Gericht beistehen und zugleich als Stellvertreter des römischen Bischofs auftreten, was als Autorität den Ausgang des Verfahrens beeinflussen konnte.203 Häufig handelte es sich allerdings um zivilrechtliche Prozesse, in denen Unstimmigkeiten um ein Erbe oder Vorwürfe der unrechtmäßigen Unterdrückung geklärt werden mussten.204 Hierbei forderte Gregor schnelle Urteilssprüche ein, um dem Geschädigten umgehend zu seinem Recht zu verhelfen und dem Täter sein Vergehen vor Augen zu führen.205 Neben den juristischen Auseinandersetzungen kümmerte sich der Papst ebenso um Beistand in außergerichtlichen Konflikten. Insbesondere älteren Witwen, die um ihre alltägliche Versorgung kämpfen mussten, ließ er Unterstützung zukommen, indem er die Kinder zu Unterhaltszahlungen verpflichtete.206 Witwen waren zudem häufig Verleumdungen und Beleidigungen ausgeliefert. Sie zählten zu den schwächsten Gliedern der Gesellschaft, weshalb sich die Kirche ihrer besonders annehmen musste.207 Trotz seines Einsatzes ist Gregor dennoch nicht ausschließlich als „Kämpfer für den kleinen Mann“ zu sehen. Als Mensch seiner Zeit dachte und handelte er strikt in den Hierarchien des Staates und der Kirche.208 Diese betrachtete er als 197
„[…] parum aliquid exenium“ Greg.‑M. Ep. II, 50 (CCSL 140, 143, 80). Vgl. für beides Greg.‑M. Ep. II, 50 (CCSL 140, 143, 79–84). 199 Diese Zahl basiert auf dem Index nach Ernst Pitz, vgl. Pitz, Papstreskripte, 350–366. 200 Zu den unterschiedlichen Kategorien, vgl. Pitz, Papstreskripte, 158–203. 201 Mitunter schickte Gregor Personal zur Unterstützung der weltlichen Gerichte, vgl. Greg.‑M. Ep. III, 1 (CCSL 140, 146, 1–147, 28). 202 Vgl. z. B. Greg.‑M. Ep. I, 53 (CCSL 140, 66, 1–25). 203 Vgl. Greg.‑M. Ep. III, 5 (CCSL 140, 150, 1–11). Zusätzlich ersparte dieses Vikariat erhebliche Reisekosten für die Bittsteller, die sich sonst in Rom an Gregor wandten, vgl. Greg.‑M. Ep. III, 5 (CCSL 140, 150, 11–15). 204 Vgl. z. B. Greg.‑M. Ep. IX, 210 (CCSL 140A, 769, 1–11). 205 Vgl. Greg.‑M. Ep. II, 34 (CCSL 140, 119, 1–9). 206 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 36 (CCSL 140A, 595, 1–596, 21); IX, 87 (CCSL 140A, 641, 1–20). 207 Vgl. Greg.‑M. Ep. VI, 37 (CCSL 140, 411, 1 f.). 208 Einen Aufstand einiger Sklaven gegen ihre Herrin sowie den Bischofsvertreter ließ 198
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von Gott gegeben.209 Allerdings fügte er der ordnungstheologischen Überzeugung die Perspektive der utilitas aliorum hinzu. Alle Macht und Vorrangstellung hatten den Zweck, die Untergebenen auf dem rechten Pfad zu leiten und so zu Gott zu führen. Blieb diese Intention aber auf der Strecke, musste eingegriffen und Kritik geübt werden.
6.1.3.3 Gefangene Die Überfälle der Langobarden brachten nicht nur Raub und Zerstörung über Italien, ebenso gerieten zahllose Menschen in Gefangenschaft. Der Verkauf ihrer Geiseln in die Sklaverei und die Lösegeldzahlungen waren wichtige Einnahmequellen der langobardischen Herzöge.210 In aller Regel wurden die Geiseln mit eigenem oder geliehenem Geld oder durch Familienangehörige bzw. im Falle von Sklaven durch ihre Herren ausgelöst. Dies war aber, gerade in den Zeiten der Krise, nicht immer im Bereich des finanziell Möglichen, zumal die geforderten Lösegelder stark variierten.211 In solchen Fällen sorgte Gregor dafür, dass die Kirche die Gelder zur Verfügung stellte: Entweder tilgte sie Darlehen, die für die Lösegeldzahlungen aufgenommen worden und vom Schuldner unmöglich abzuleisten waren,212 oder trat selbst in die Rückkaufverhandlungen ein.213 Die Bedeutung, die der römische Bischof diesem Werk beimaß, ist daran ersichtlich, dass sich die entsprechenden Briefe ausschließlich dem einen Thema widmen. Gregor war also nicht bereit, darauf zu warten, bis ohnehin ein Brief mit weiteren Anweisungen an den jeweiligen Adressaten versandt wurde, sondern setzte stets umgehend ein Schreiben auf, um keine Zeit verstreichen zu lassen.214 Die BrieGregor umgehend und strikt ahnden, vgl. Greg.‑M. Ep. III, 1 (CCSL 140, 146, 1–147, 28), zur sog. Neapelaffäre vgl. Müller, B. Führung, 210 f.; Richards, Leben, 170–173; Llewellyn, Peter, Rome in the Dark Ages, London 1971, 127 f. 209 Vgl. Kap. 5.2.2.2. 210 Das war in dieser Zeit eine weit verbreitete Sitte, vgl. Greg.‑T. Hist. III, 15 (FSGA.A 2, 164, 10–25). 211 Gregor berichtet von Lösegeldern zwischen acht und 330 solidi, vgl. Greg.‑M. Ep. VII, 35 (CCSL 140, 498, 5); IX, 85 (CCSL 140A, 639, 3). 212 Vgl. Greg.‑M. Ep. III, 40 (CCSL 140, 185, 12–186, 18); IX, 52 (CCSL 140A; 610, 1–15); IX, 85 (CCSL 140A, 639, 1–10). 213 Vgl. Greg.‑M. Ep. II, 38 (CCSL 140, 124, 55–62); III, 16 (CCSL 140, 163, 1–11); IV, 17 (CCSL 140, 235, 1–236, 20); VI, 32 (CCSL 140, 405, 1–20); VII, 13 (CCSL 140, 462, 1–463, 17); VII, 21 (CCSL 140, 472, 1–11); VII, 35 (CCSL 140, 498, 1–19). Es fällt auf, dass die Anweisungen zum Freikauf Gefangener mit zwei Ausnahmen ausschließlich an Bischöfe ergingen und nicht an die Rektoren. Die Verhandlungen oblagen demnach wohl in der Regel dem Haupt der Gemeinde, vgl. Grieser, Heike, Art.: Loskauf II (Gefangener), RAC 23 (2010), 510–526, hier: 520.522; Noethlichs, Materialien, 40 f. 214 Eine Ausnahme stellt der Brief an den Ravennater Bischof Johannes dar, worin Gregor den Freikauf Gefangener als alternativen Spendenzweck zur Almosengabe an eine schismatische Gemeinde vorschlägt. In diesem Schreiben werden noch weitere Themen angesprochen, die aber allesamt im Kontext des Krieges zu verorten sind, vgl. Greg.‑M. Ep. II, 38 (CCSL 140, 122, 1–125, 72).
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fe, die sich mit dem Loskauf Gefangener beschäftigen, beschränken sich auf den Zeitraum zwischen Juli 592 und Januar 599. Dies entspricht in etwa der Phase der akuten Bedrohung durch die Langobarden, die sich durch den Friedensschluss im Oktober 598 zumindest bis ins Jahr 601 deutlich abschwächte.215 Das Handeln Gregors war demnach stark durch die äußeren Umstände bedingt. Grundsätzlich setzte er sich für Gefangene aus allen gesellschaftlichen Schichten ein, besonders betonte er aber die Pflicht, Kirchendiener zu befreien.216 Finanziert wurden die Freikäufe aus dem jeweiligen bischöflichen Etat, wobei Gregor bei Bedarf erhebliche Bargeldsummen aus Rom zusenden ließ.217 Für diesen Zweck hatte er gezielte Spenden erhalten: Er bedankte sich für großzügige Zuwendungen zum Freikauf Gefangener bei der Schwester des Kaisers (30 Pfund Gold),218 dem kaiserlichen Leibarzt219 und der Patrizierin Rusticiana (10 Pfund Gold).220 Es ist denkbar, dass er seine Kontaktpersonen in Konstantinopel konkret um Unterstützung für dieses Anliegen gebeten hatte. Im Gegenzug sicherte er den Wohltätern zu, dass die Empfänger des Almosens für sie beteten.221 Prinzipiell war seit Konstantin die Veräußerung der kirchlichen Besitztümer, insbesondere des Altargerätes (vasa sacra) verboten und unter Strafe gestellt.222 An diesem Grundsatz hielt Gregor weiterhin fest und empfand es als Sakrileg, wenn Kirchensilber verkauft worden war. In einem Fall wurden vasa sacra an einen Juden verkauft, woraufhin der Papst umgehend den Rückkauf forderte.223 In einem weiteren, besonders skandalösen Kasus hatte der Bischof von Salona Altargerät und Gewänder seinen Eltern feilgeboten, um so seine ausschweifenden Gastmähler zu finanzieren.224 Seit Ambrosius von Mailand gab es für den rigorosen Schutz der vasa sacra dennoch eine Ausnahme: den Freikauf Gefangener.225 Dieser Linie folgte auch der römische Bischof, in zwei Ausnahmefällen gestattete er die Veräußerung von Altargerät. Allerdings betonte er jeweils die Gesetzmäßigkeit dieser außergewöhnlichen Maßnahme, die für ihn mit Sicherheit nur die ultima ratio darstellte.226 Dem Bischof Fortunatus von Fano gab er diese Erlaubnis, nachdem 215 Vgl.
Müller, B., Führung, 314–317 und Kap. 6.3.1. Vgl. Greg.‑M. Ep. IV, 17 (CCSL 140, 236, 14 f.); VI, 32 (CCSL 140, 405, 4–13). 217 Vgl. Greg.‑M. Ep. VI, 32 (CCSL 140, 405, 4–7). 218 Vgl. Greg.‑M. Ep. VII, 23 (CCSL 140, 477, 73–86). 219 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 46 (CCSL 140, 339, 10–16); VII, 25 (CCSL 140, 480, 2–4). 220 Vgl. Greg.‑M. Ep. VIII, 22 (CCSL 140A, 542, 25 f.). 221 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 46 (CCSL 140, 339, 17–31), vgl. auch Cypr. Ep. 62, 4 (CCSL 3C, 388, 74–85). 222 Vgl. C.‑Iust. I, 2, 21 (CIC II, 16) und Kap. 4.1. 223 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 66 (CCSL 140, 75, 2–76, 16) und Sternberg, Aurum, 143. 224 Vgl. Greg.‑M. Ep. II, 15 (CCSL 140, 102, 2–103, 43). Zu den disziplinarischen Maßnahmen in diesem Fall vgl. Müller, B., Führung, 209 f. 225 Vgl. Ambr. Off. II, 28, 136–143 (CCSL 15, 146, 1–149, 81); Iust. Nouell. 120, 10 (CIC III, 589) sowie Sternberg, Aurum, 128–131. 226 Vgl. Greg.‑M. Ep. VII, 13 (CCSL 140, 462, 2–5); VII, 35 (CCSL 140, 498, 2 f.). 216
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dieser für die Auslösung von Geiseln Darlehen aufnehmen musste, die er nicht mehr zurückzahlen konnte.227 Allerdings befürchtete der Papst zugleich den Unmut der Bevölkerung gegen dieses Vorgehen, weshalb er nachdrücklich betonte, nur so viel des Kirchenschatzes zu Geld zu machen, wie für die Tilgung der Schulden vonnöten war.228 Im zweiten Fall229 beauftragte er den Bischof von Messana, das Kirchensilber der leerstehenden Kirche von Merì zu veräußern, um einem Vater, der sich zur Befreiung seiner Tochter eine erhebliche Summe geliehen hatte, bei dessen Kredittilgung zu helfen. Sollte die dortige Kirche noch ein Barvermögen besitzen, sollte dieses verwendet werden, ansonsten blieb nur noch der Verkauf der vasa sacra: „Denn wie es schlimm ist, unnötig Kirchengeräte230 zu verkaufen, so ist es wiederum eine Schuld, bei einer solchen drohenden Bedürftigkeit den Besitz einer vollkommen verlassenen Kirche den Gefangenen vorzuziehen und mit deren Freikauf zu zögern.“231
Trotz aller Achtung gegenüber dem liturgischen Gerät stellte der römische Bischof, der christlichen Tradition entsprechend,232 dennoch die Bedürfnisse und den Nutzen des Nächsten zweifelsfrei voran. Ähnlich wie bei den bisher erörterten Werken der tätigen Nächstenliebe sind auch bei diesen „frommen Angelegenheiten“233 des Freikaufs Gefangener zwei Schwerpunkte zu beobachten, die Gregor setzte: Mehrfach verwies er auf die gesetzlichen Vorschriften und Grundlagen, sowohl was die Pflicht zur Befreiung betraf, als auch die diesbezügliche Ausnahme von dem Verbot der Veräußerung kirchlichen Gutes.234 Zum anderen agierte er auch in dieser Angelegenheit als korrekter und verantwortungsvoller Verwalter mit einem schützenden Blick auf die kirchliche Kasse. Obwohl er den Bischöfen in den Verhandlungen um die Lösegeldsumme mitunter völlig freie Hand ließ,235 bat er dennoch darum, sich 227 Vgl. Greg.‑M. Ep. VII, 13 (CCSL 140, 462, 2–463, 11). Auf die prekäre Situation der Stadt hatte Gregor bereits vier Jahre zuvor hingewiesen, als er Johannes von Ravenna bat, die gesammelten Spenden lieber dorthin zu senden als ins schismatische Aquileia, vgl. Greg.‑M. Ep. II, 38 (CCSL 140, 124, 51–62) und Kap. 6.1.3.1. 228 Vgl. Greg.‑M. Ep. VII, 13 (CCSL 140, 463, 11–17). 229 Vgl. Greg.‑M. Ep. VII, 35 (CCSL 140, 498, 2–499, 19). 230 Zu dieser Spezialbedeutung von ministeria vgl. das entsprechende Lemma im Mittellateinischen Wörterbuch2 2002, 899. 231 „Nam sicut omnino graue est frustra ecclesiastica ministeria uenundare, sic iterum culpa est imminente huiuscemodi necessitate res maxime desolatae ecclesiae captiuis suis praeponere et in eorum redemptione cessare.“ Greg.‑M. Ep. VII, 35 (CCSL 140, 499, 15–19). Vgl. sehr ähnlich Ambr. Off. II, 28, 137 (CCSL 15, 146, 13–147, 26). 232 Vgl. dazu Sternberg, Aurum, 133–143. 233 „[…] piis […] causis“ Greg.‑M. Ep. III, 16 (CCSL 140, 163, 2). 234 Vgl. Greg.‑M. Ep. IV, 17 (CCSL 140, 235, 2 f.); VII, 13 (CCSL 140, 462, 2–5); VII, 35 (CCSL 140, 498, 2 f.); IX, 52 (CCSL 140A, 610, 2 f.) und C.‑Iust. I, 2, 21 (CIC II, 16). 235 Vgl. Greg.‑M. Ep. II, 38 (CCSL 140, 124, 61 f.).
6.2 Die Sorge um den rechten Glauben
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mit den Geiselnehmern auf einen möglichst geringen Preis zu einigen.236 Abschließend forderte er eine genaue Aufstellung über Namen, Wohnort und Beruf der befreiten Personen sowie den gezahlten Lösepreis.237
6.2 Die Sorge um den rechten Glauben Die Untersuchung der literarischen Werke Gregors hat gezeigt, dass er nicht nur die „klassischen“ Handlungen wie etwa Armenfürsorge und Krankenpflege als Werke der Nächstenliebe verstand, sondern ebenso die Sorge um den Glauben und das geistliche Heil. Diese stellte er sogar allen anderen Formen der Nächstenliebe voran. In Zeiten, in denen Bischöfen vor allem durch die justinianische Gesetzgebung zunehmend weltliche Verantwortung zukam,238 setzte Gregor einen Kontrapunkt und erinnerte an die Kernaufgabe des kirchlichen Amtes. Das geistliche Wohl der Untergebenen sollte das zentrale Anliegen der pastoralen, aber auch der allgemeinen Nächstenliebe sein. Die Sorge um materielle Güter und für die leibliche Existenz war lediglich deren Voraussetzung.239 Ein vergleichbarer Schwerpunkt ist anhand des Briefregisters auch in seiner Praxis als Papst zu beobachten. Unablässig war er mit der Einsetzung und der Kontrolle von Klerikern in den verschiedenen Kirchen beschäftigt, um überall die pastorale Versorgung sicherzustellen. Darüber hinaus stieß er mehrere Missionsvorhaben an und forcierte den Kampf gegen verschiedene häretische Auswüchse im Bereich der westlichen Kirche. Schließlich handelte er selbst als Seelsorger, der sich Kranken und Trauernden zuwandte und Sünder auf den rechten Pfad zurückleiten wollte.
6.2.1 Pastorale Versorgung Obwohl Gregor insbesondere in den Evangelienhomilien auch die Laien zur Verkündigung, zum „Almosen des Wortes“ aufforderte,240 wies er diese Aufgabe in der Regel doch vornehmlich dem Klerus zu. Diesem oblag außerdem die Sakramentsverwaltung, ein Aspekt des kirchlichen Dienstes, der im literarischen Œuvre Gregors kaum Erwähnung gefunden hat.241 In seinen Briefen klagte er hingegen mehrfach darüber, dass in den Kirchen aufgrund fehlender Priester und Bischöfe Menschen ohne Beichte (paenitentia) bzw. Kinder ohne Taufe 236
Vgl. Greg.‑M. Ep. VI, 32 (CCSL 140, 405, 16–20). Vgl. Greg.‑M. Ep. VI, 32 (CCSL 140, 405, 13–16); IX, 85 (CCSL 140A, 639, 8–10). 238 Vgl. Eich, Bischof, 35–53. 239 Vgl. Greg.‑M. Past. II, 7 (SC 381, 226, 114–228, 133) und Kap. 5.2.1.1. 240 Vgl. Kap. 5.3.1.1. 241 Vgl. Kap. 5.3.1.5. Eine Ausnahme stellt die Erörterung der Heilswirksamkeit des Messopfers am Ende der Dialoge dar, vgl. Greg.‑M. Dial. IV, 59–62 (SC 265, 196, 1–206, 30). 237
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verstarben242 und damit jeglicher Chance auf jenseitiges Heil beraubt wären. Insofern ist es nachvollziehbar, dass er beständig auf die pastorale Versorgung der verschiedenen Gemeinden bedacht war. Im Vordergrund standen dabei zumeist die neu zu besetzenden Bischofssitze im suburbikarischen Italien. Das Briefregister ermöglicht hierfür einen detaillierten Einblick in das reguläre Verfahren: Nachdem der Papst vom Tod eines Bischofs erfahren hatte, beauftragte er in der Regel den benachbarten Bischof als Visitator, der sowohl die Vakanzvertretung übernahm als auch die Aufsicht über die Bischofswahl innehatte.243 In dieser Funktion sollte er geeignete Kandidaten vor Ort auswählen, aus denen dann von Klerus, Adel und Volk der jeweiligen Stadt gewählt wurde. Der Designierte reiste anschließend mit der Wahlurkunde und dem Eignungszeugnis, das der Visitator auszustellen hatte, nach Rom.244 Dort weihte Gregor den neuen Bischof oder bestätigte zumindest dessen Wahl, falls die Weihe in einer anderen Metropolie stattfinden sollte.245 War der Papst aber aufgrund von moralischen Fehlern, mangelnder Bildung oder kanonischer Weihehindernisse des Kandidaten nicht mit dessen Wahl einverstanden, forderte er den Visitator zur erneuten Suche auf. Mitunter schlug Gregor auch selbst Personen seines Vertrauens vor, wie er es insbesondere zu Beginn seines Pontifikats für Sizilien handhabte.246 Die Bischofswahlen gestalteten sich nicht immer problemlos: Neben rivalisierenden Parteien innerhalb einer Stadt247 klagte Gregor auch über einen raum242 Vgl.
Greg.‑M. Ep. I, 15 (CCSL 140, 15, 2–4); I, 32 (CCSL 140, 39, 7–9); I, 51 (CCSL 140, 64, 2–65, 4). Liturgiegeschichtlich sind an diesen Belegen zwei Dinge interessant: Zum einen ist für das späte 6. Jahrhundert die Kindertaufe als selbstverständlich vorausgesetzt. Ein Taufaufschub bis zum Lebensende wie im 4. und 5. Jahrhundert war nicht mehr üblich. Zur Entwicklung der Kindertaufe vgl. Müller, Andreas, Tauftheologie und Taufpraxis vom 2. bis zum 19. Jahrhundert, in: Öhler, M. (Hg.), Themen der Theologie 5, UTB 3661, Tübingen 2012, 83–135, hier: 98 f. Zum anderen wird die Aufgabe der Taufe in der Zeit sowohl dem Bischof als auch, zumindest in kleineren Orten, den Priestern zugerechnet. Zur zeitgenössischen Praxis, vgl. Jilek, August, Die Taufe, in: Schmidt-Lauber, H.‑C. et al. (Hgg.), HbLit. Liturgiewissenschaft in Theologie und Praxis der Kirche, Göttingen 32003, 285–318, hier: 291–294. 243 Vgl. u. a. Greg.‑M. Ep. II, 22 (CCSL 140, 108, 2–109,20), dieses Formular findet sich neun weitere Male im Register. 244 Zur obligatorischen Zustimmung Roms zu Bischofswahlen vgl. Greg.‑M. Ep. IV, 16 (CCSL 140, 234, 1–24). 245 Vgl. Richards, Leben, 148; Pitz, Papstreskripte, 117–125; Markus, World, 108. Der Sonderfall bezieht sich auf Mailand, wo Deusdedit als Nachfolger für Constantius gewählt worden war, vgl. Greg-M. Ep. XI, 6 (CCSL 140A, 867, 1–22); XI, 14 (CCSL 140A, 880, 1–6). Mit der Rückkehr in die Mehrheitskirche aus dem Drei-Kapitel-Schisma hatte sich die Metropolie Mailands Rom untergeordnet. Markus, World, 136 f.); Pitz, Papstreskripte, 123 f. 246 „Kandidaten für Bischofssitze in Sizilien wurden in Gregors Anfangszeit, und bis 595, faktisch durch päpstliche Berufungen rekrutiert“ Müller, B., Führung, 179, vgl. Richards, Leben, 150–168. 247 Dies war insbesondere in Neapel der Fall, vgl. Müller, B., Führung, 210 f.; Richards, Leben, 170–176; Markus, World, 108–110. Zu weiteren konfliktreichen Wahlen vgl. Dudden, Place I, 376–381.
6.2 Die Sorge um den rechten Glauben
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greifenden Mangel an geeigneten Kandidaten und die Konkurrenz der einzelnen Kirchen um die besten Köpfe.248 Diese zeichnete ein bunter Strauß an Fähigkeiten und Tugenden aus, von denen Gregor die meisten bereits in der Pastoralregel beschrieben hatte:249 Eifer im Gebet und in der Almosengabe,250 Bildung und Kenntnis der Schriften,251 Enthaltsamkeit252 und vor allem eine vorbildliche Lebensführung, die er als Abbild der Heiligen Schrift für Analphabeten253 und „Heil […] der Untergebenen“254 verstand. Diesen ethischen Ansprüchen an den Episkopat fügte Kaiser Mauricius durch eine Gesetzesnovelle eine weitere hinzu, die Gregor vehement zu verhindern suchte.255 Dieses Gesetz verschärfte die 123. Novelle Justinians dahingehend, dass nicht nur Staatsbeamte vom Kirchendienst ausgeschlossen wurden, sondern auch Soldaten. Zusätzlich wurde dieses Verbot auf den Klostereintritt ausgedehnt.256 Insbesondere gegen Letzteres begehrte der Papst auf, da er dadurch zwei ganze Berufsgruppen vom Heil ausgeschlossen sah.257 Den historischen Kontext der Gesetzesänderung stellte offensichtlich, wie Gregor selbst vermutete,258 der Versuch zahlreicher Soldaten dar, durch Klostereintritt den Kriegseinsatz zu umgehen. Er versuchte jegliche Eskalation zu vermeiden, indem er dem Kaiser gegenüber betont demütig auftrat und den Brief statt auf dem offiziellen Dienstweg über den Apokrisiar auf privatem Weg über den kaiserlichen Leibarzt Theodorus versandte.259 Dennoch ließ er in seiner 248
Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 40 (CCSL 140, 319, 26–320, 41); IX, 232 (CCSL 140A, 814, 10–17). Vgl. Kap. 5.2.3.1. 250 Vgl. Greg.‑M. Ep. IV, 26 (CCSL 140, 245, 30 f.). 251 Vgl. Greg.‑M. Ep. II, 31 (CCSL 140, 118, 17); IV, 26 (CCSL 140, 245, 31); VII, 11 (CCSL 140, 460, 11). Gregor lehnte für den Ravennater Bischofsstuhl einen Kandidaten ab, weil dieser die Psalmen nicht auswendig kannte. Als Alternative einigte man sich auf Marinianus, der durch seine langjährige Askese im Andreaskloster auf diesem Gebiet untadelig war, vgl. Greg.‑M. Ep. V, 51 (CCSL 140, 345, 8–16). Zu den Bildungsansprüchen an den Episkopat der Spätantike vgl. Gemeinhardt, Christentum, 276–306.493 f. und Scheibelreiter, Bischof, 51–98. Zur deutlich schlechteren Bildung des übrigen Klerus der Zeit, vgl. Krause, Überlegungen, 435. 252 Vgl. Greg.‑M. Ep. II, 31 (CCSL 140, 118, 16 f.). Auch für die Subdiakone forderte Gregor, wie seit Leo üblich, den Zölibat, vgl. Greg.‑M. Ep. IV, 34 (CCSL 140, 254, 1–20), vgl. Richards, Leben, 117 f. 253 Vgl. Greg.‑M. Ep. III, 13 (CCSL 140, 160, 20–24). 254 „[…] salus […] subditorum“ Greg.‑M. Ep. VI, 7 (CCSL 140, 375, 9). Umgekehrt rechtfertigte Gregor seine Praxis der konsequenten Ahndung von Missetaten des Klerus der fränkischen Königin Brunhilde gegenüber damit, dass die sündigen Priester durch ihr Verhalten das ganze Volk in die Irre führten, vgl. Greg.‑M. Ep. XI, 46 (CCSL 140A, 943, 1–944, 28). 255 Zur Diskussion um die Gesetzesnovelle vgl. Müller, B., Führung, 297–299; Müller, B., Monasticism, 96 f.; Dal Santo, Empire, 73 f.; Markus, World, 87–89; Eich, Bischof, 175 f. und Caspar, Geschichte II, 465–468. 256 Vgl. Iust. Nouell. 123, 15 (CIC III, 605) und Greg.‑M. Ep. III, 61 (CCSL 140, 209, 8–18). Das Gesetz des Mauricius ist nicht überliefert, vgl. Müller, B., Führung, 297 FN 129 und Caspar, Geschichte II, 466 FN 1. 257 Vgl. Greg.‑M. Ep. III, 61 (CCSL 140, 209, 21–26). 258 Vgl. Greg.‑M. Ep. III, 64 (CCSL 140, 214, 14–17). 259 Vgl. Greg.‑M. Ep. III, 61 (CCSL 140, 209, 2–7. 210, 63–211, 68); III, 64 (CCSL 140, 214, 249
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theologischen Argumentation keinen Zweifel aufkommen und verwies auf das Herrscherethos sowie die kaiserliche Verantwortung für das Heil der Soldaten und das Urteil darüber im Jüngsten Gericht.260 Sechs Jahre später übermittelte Gregor den Metropoliten eine abgeschwächte Regelung, in denen Staatsbeamten nach erfolgter Rechenschaftsbekundung und Soldaten nach einer Frist von drei Jahren der Eintritt ins Kloster oder den Kirchendienst gestattet wurde.261 Ob der Kaiser das Gesetz letztendlich entschärfte262 oder Gregors milde Lesart lediglich stillschweigend duldete,263 muss offenbleiben. Nicht nur für Soldaten war der kirchliche Dienst attraktiv,264 da er ein regelmäßiges Einkommen bot. Gregor achtete darauf, dass nicht nur die Mitglieder des höheren Klerus finanzielle Unterstützung bekamen, sondern generell jeglicher Kirchendienst – gestaffelt nach seinem hierarchischen Status – entlohnt wurde.265 Regulär entfiel ein Viertel sämtlicher Einnahmen auf die Versorgung des Klerus unterhalb des Bischofs,266 während in Stiftungen der Spender dafür Sorge zu tragen bzw. ausreichend Ländereien mit entsprechenden Einkünften zu verleihen hatte.267 Über die reguläre Besetzung und Entlohnung des Kirchendienstes hinaus traf Gregor Regelungen für den Fall einer schweren Erkrankung eines Bischofs oder Presbyters:268 Diese sollten weiterhin ihren gewohnten Lohn ausgezahlt bekommen269 und keinesfalls wegen ihrer Krankheit ihres Amtes enthoben werden, auch wenn der Kaiser selbst dies wünschte. Kaiser Mauricius hatte aus Sorge um die Sicherheit der Stadt die Absetzung des durch ein Kopfleiden beeinträchtigten Bischofs von Prima Iustiniana verlangt, was Gregor mit Verweis auf das kanonische Recht ablehnte. Stattdessen ließ er dem Kranken einen dispensator an die Seite stellen, der ihn sowohl in der Kirchenleitung (regimen ecclesiae) als auch in 1–215, 32) sowie Markus, World, 88 f. und Caspar, Geschichte II, 467, die den Vergleich mit Ambrosius und Gelasius I. ziehen. 260 Vgl. Greg.‑M. Ep. III, 61 (CCSL 140, 210, 37–62) und Müller, B., Führung, 297 f. 261 Vgl. Greg.‑M. Ep. VIII, 10 (CCSL 140A, 527, 1–528, 26). Diese Frist geht über die in der justinianischen Gesetzgebung sowie z. B. in der Regula Benedicti geforderte hinaus, vgl. Caspar, Geschichte II, 267 f. 262 So Müller, B., Führung, 299 FN 139; Dal Santo, Empire, 74; Eich, Bischof, 177. 263 So Caspar, Geschichte II, 468. 264 Darauf deutet das Auftreten von falschen defensores hin, die sich durch den Titelmissbrauch Vorteile versprachen, vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 22 (CCSL 140A, 582, 2–5). 265 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 27 (CCSL 140, 294, 2–10); V, 57 (CCSL 140, 352, 35–353, 52); VI, 50 (CCSL 140, 423, 8–12); IX, 19 (CCSL 140A, 579, 11–17). 266 Vgl. Kap. 6.1.2. 267 Vgl. Greg.‑M. Ep. VI, 58 (CCSL 140, 431, 14–23). 268 Zu dieser Thematik und auch der im Folgenden dargestellten Fälle vgl. Hack, Krankheit, 237–270. 269 Vgl. Greg.‑M. Ep. II, 7 (CCSL 140, 95, 4–11); XIII, 6 (CCSL 140A, 1001, 20 f.). Gregor erläuterte, dass der Kirchenlohn in diesem Falle eher als Almosen denn als Belohnung zu verstehen sei, vgl. Greg.‑M. Ep. II, 7 (CCSL 140, 95, 15 f.).
6.2 Die Sorge um den rechten Glauben
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der Obhut der Stadt (custodia civitatis) unterstützen sollte.270 Vergleichbar war die Lage in den Jahren 595–599 in Rimini. Der Bischof der Stadt weilte bereits seit vier Jahren in Rom und war aufgrund seiner Erkrankung zur Rückreise nicht fähig. Obwohl das Volk bereits mehrfach um einen Nachfolger gebeten hatte, gestattete der Papst die Neuwahl erst, nachdem der Amtsinhaber ihn um die Entlassung aus dem Amt ersucht hatte.271 An dem Grundsatz, dass ein Bischof wegen einer Krankheit nur auf eigenen Wunsch aus dem Dienst scheiden kann, hielt Gregor konsequent fest. So war er im Jahr 602 mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass ein gallischer Bischof schwer an Demenz erkrankt war und seinen Aufgaben in der Gemeinde nicht mehr nachkommen konnte. Anstatt ihn mit Zwang aus dem Amt zu entfernen, bat der Papst Aetherius, den Bischof von Lyon und zuständigen Metropoliten, den Erkrankten in einem Moment der geistigen Klarheit zum Rücktritt zu bewegen. Für den Fall, dass dieser keine wachen Phasen mehr erlebte, sollte ein Vertreter eingesetzt werden, der dann nach dem Tod des Bischofs zu dessen Nachfolger geweiht würde.272 Neben den auftretenden Krankheiten der Kleriker bedeutete insbesondere die Kriegssituation eine Gefahr für die geregelte pastorale Versorgung im gesamten Land. Die Kriegshandlungen und Fluchtbewegungen sorgten für entvölkerte Landstriche, wohingegen andere Gegenden, insbesondere Rom als Zentrum, überlaufen wurden. Diesem Chaos versuchte Gregor ein Mindestmaß an Ordnung und Normalität entgegenzusetzten. Er ordnete an, dass Bischofssitze nur in äußerster Gefahr verlassen bzw. verlegt werden durften und möglichst bald nach Kriegsende wieder reaktiviert werden sollten.273 Verlassene Gemeinden fusionierte er mit Nachbarkirchen, um jegliches Gebiet unter kirchliche Aufsicht gestellt zu wissen.274 Agnellus, den Bischof von Fondi, setzte er in Personalunion zusätzlich auch für die Kirchenleitung in Terracina ein, „weil wegen des feindlichen Unheils ohnehin weder [s]eine Stadt noch die Kirche bewohnt werden kann.“275 Dennoch blieb dieser aber weiterhin für die Diözese Fondi zuständig, die er nicht vernachlässigen sollte, sobald diese wieder bevölkert wäre.276 Als umsichtiger Verwalter nutzte Gregor in der Ausnahmesituation des Krieges 270 Vgl. Greg.‑M. Ep. IV, 13 (CCSL 140, 231, 1–27). Dieser Fall beweist, wie stark der Schutz der Stadt auch außerhalb Roms bereits in bischöflicher Verantwortung lag, vgl. auch Greg.‑M. Ep. XI, 29 (CCSL 140A, 917, 2–918, 23). 271 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 139 (CCSL 140A, 690, 2–691, 21). 272 Vgl. Greg.‑M. Ep. XIII, 6 (CCSL 140A, 1000, 1–1001, 27). Über den Fall und das weitere Vorgehen informierte der römische Bischof auch die fränkische Königin, vgl. Greg.‑M. Ep. XIII, 5 (CCSL 140A, 998, 37–999, 57). 273 Vgl. Greg.‑M. Ep. II, 13 (CCSL 140, 99, 1–100, 10); II, 31 (CCSL 140, 117, 1–118, 15). 274 Vgl. u. a. Greg.‑M. Ep. II, 37 (CCSL 140, 121, 1–122, 19). 275 „Quia igitur ob cladem hostilitatis nec in ciuitate nec in ecclesia tua est cuiquam habitandi licentia“ Greg.‑M. Ep. III, 13 (CCSL 140, 160, 8–10). 276 Vgl. Greg.‑M. Ep. III, 13 (CCSL 140, 160, 32–38). Tatsächlich forderte ein knappes Jahr später der Bischof der benachbarten Kirche in Formia seine Presbyter und Diakone zurück, die
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jede Gelegenheit, mit den wenigen fähigen und vertrauenswürdigen Klerikern die Ordnung und die pastorale Versorgung in den Kirchen vor Ort aufrecht zu erhalten. Dabei verlor er nicht die Hoffnung auf ein Ende des Krieges,277 weshalb er dafür stets vorsorgliche Regelungen fand. Er kümmerte sich aber nicht nur um die reine Versorgung der Kirchen mit einer ausreichenden Zahl an Klerikern, sondern beaufsichtigte auch deren Dienst. So befahl er dem Bischof des sardinischen Cagliari, an der Tradition einer halbjährlichen Synode zur gegenseitigen Kontrolle und correctio festzuhalten.278 Beständig sorgte er selbst dafür, dass Bischöfe, die sich versündigt hatten, angemessen bestraft wurden. Häufig sprach er eine Exkommunikation aus, die entweder befristet war279 oder erst am Tag des Todes aufgehoben wurde.280 Zusätzlich wurden zahlreiche Missetäter zur Buße in ein Kloster verbannt, das für deren Aufnahme entschädigt wurde.281 Zumeist stand ihnen dabei keine Möglichkeit der Rückkehr in die vorherige Position offen.282 Mitunter rief er aber einen Kleriker nach aufrichtiger Reue in sein Amt zurück.283 Um die einzelnen Fälle besser zu beurteilen und ein angemessenes Urteil zu fällen, beauftragte Gregor Bischöfe oder Vertrauenspersonen in anderen kirchlichen Positionen damit, die Vorwürfe genauestens zu untersuchen und ihm Bericht zu erstatten. Diese Informationen bildeten dann die Grundlage für den päpstlichen Richtspruch über Strenge oder Milde.284 Eine einheitliche Linie ist in der Bestrafungspraxis Gregors nicht zu beobachten, vielmehr zeichnet seine Jurisdiktion eine gewisse Flexibilität aus.285 Neben der von ihm selbst erwähnten individuellen Bußwilligkeit und Reue mögen sicherlich auch der pastorale Personalmangel, die persönliche Eignung des Sünders sowie schlichtweg Sympathien Einfluss auf die jeweilige Entscheidung gehabt haben. War ein Bischof zur Bußaskese in ein Kloster geschickt, sollte darunter keinesfalls seine Kirche leiden und durch seine Abwesenheit keinen Zugang zu den offensichtlich nach Sizilien geflohen und dort in den kirchlichen Dienst übernommen worden waren, vgl. Greg.‑M. Ep. IV, 42 (CCSL 140, 263, 1–9). 277 Zu seinem Engagement für dieses Ziel vgl. Kap. 6.3.1. 278 Vgl. Greg.‑M. Ep. IV, 9 (CCSL 140, 226, 37–42). 279 Z. B. 30 Tage für eine ungerechte Absetzung eines Mitbischofs, vgl. Greg.‑M. Ep. III, 6 (CCSL 140, 151, 1–152, 58). 280 Vgl. u. a. Greg.‑M. Ep. V, 5 (CCSL 140, 270, 1–13). Gregor wollte die Delinquenten also nicht gänzlich vom jenseitigen Heil ausschließen, sondern ihnen durch die Spendung des viaticum die letzte Möglichkeit zur Buße und Vergebung gewähren. 281 Vgl. u. a. Greg.‑M. Ep. I, 18 (CCSL 140, 17, 1–12); I, 42 (CCSL 140, 54, 151–166), vgl. Müller, B., Führung, 179; Müller, B., Monasticism, 98. Zur Rolle der Klöster für die gregorianische Gemeindestruktur vgl. Kap. 6.4.2. 282 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 18 (CCSL 140, 285, 1–14). 283 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 57 (CCSL 140, 352, 16–24). 284 Im Brief an Johannes, den Bischof von Korinth, bespricht Gregor vielfältige Fälle gemäß diesem Vorgehen, Greg.‑M. Ep. V, 57 (CCSL 140, 351, 1–353, 52). 285 Vgl. Demacopoulos, Gregory’s Model, 221.
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Sakramenten haben. Diese Aufgaben konnten von den Presbytern der Gemeinde übernommen werden. Waren aber keine solchen vorhanden, sollte der mit der Visitation beauftragte Bischof geeignete Kandidaten für diesen Dienst weihen, um die pastorale Versorgung der Stadt zu gewährleisten.286 Gregor war über die gesamte Zeit seines Pontifikats um die flächendeckende Versorgung der Kirche mit ausreichend Kirchendienern bemüht. Stand in seinem ersten Amtsjahr insbesondere die Bereinigung der korrupten Strukturen auf Sizilien im Fokus, so rückte mit den fortschreitenden Auswirkungen des Krieges die Neustrukturierung der Diözesen und die pastorale Gewährleistung durch die Suche nach fähigen Nachwuchskräften in den Mittelpunkt. Doch er achtete nicht allein auf die Besetzung freier Bischofsstühle und die Bestrafung gewichtiger Verfehlungen im Amt, sondern mahnte die Episkopen beständig, ihrer wichtigsten Aufgabe, der Verkündigung und der Lehre des rechten Glaubens, nachzukommen.287 Für wie wichtig Gregor die bischöfliche Aufgabe des Unterrichts erachtete, ist an seinen Mahnungen im Kampf gegen die Bischofsweihe an Laien abzulesen: „Aber durch unüberlegten Ehrgeiz wird zum Lehrer gemacht, wer niemals ein Schüler war. Und weil er nicht gelernt hat, was er lehren könnte, führt er nur dem Namen nach die Priesterschaft aus, in der Predigt und im Werke bleibt er ein Laie.“288 Ebenso zählte er in den Briefen, wie bereits in seinen literarischen Werken, die correctio von Missetätern zu einer zentralen Aufgabe eines jeden Bischofs.289 Ein Bischof, der Verbrechen duldete, musste selbst bestraft werden.290 Die Katechese machte in Gregors eigenem Amtsverständnis einen gewichtigen Anteil aus, wie er zu Beginn seines Pontifikats in einem Antwortschreiben an Dominicus von Karthago reflektierte: Als Bischof müsse er die Seelen der Untergebenen für Gott gewinnen, denn sie seien die ihm anvertrauten Talente, über die er im Jüngsten Gericht dereinst Rechenschaft ablegen werden muss.291 Cyriacus von Konstantinopel gratulierte er zur Bischofswahl und dankte ihm, dass er die klösterliche Ruhe zugunsten der Lehre und damit der utilitas proxi286 Vgl. Greg.‑M. Ep. VI, 40 (CCSL 140, 413, 1–14). Kleinere Kirchen wurden ohnehin bloß von Priestern versorgt, vgl. Greg.‑M. Ep. II, 12 (CCSL 140, 99, 1–11); VI, 10 (CCSL 140, 378, 12–379, 16). 287 Vgl. Greg.‑M. Ep. III, 13 (CCSL 140, 160, 17–26); V, 12 (CCSL 140, 278, 7–12). 288 „Et qui discipulus non fuit, inconsiderata ambitione magister efficitur, et quoniam quod possit docere non didicit, sacerdotium tantummodo gerit in nomine, nam laicus in sermone perseuerat et opere.“ Greg.‑M. Ep. V, 60 (CCSL 140, 361, 20–23), vgl. Greg.‑M. Ep. V, 58 (CCSL 140, 356, 48–59). 289 Vgl. Greg.‑M. Ep. III, 49 (CCSL 140, 194, 1–195, 13); VIII, 11 (CCSL 140A, 529, 17–19). 290 Vgl. Greg.‑M. Ep. IV, 12 (CCSL 140, 230, 16–20). 291 Vgl. Greg.‑M. Ep. II, 40 (CCSL 140, 128, 26–43). Vgl. auch Greg.‑M. Ep. III, 20 (CCSL 140, 166, 16–21); III, 54 (CCSL 140, 202, 79–203, 98). Auch für die christliche Erziehung des kaiserlichen Kronprinzen sorgte er sich, dessen Taufpate er war, vgl. Greg.‑M. Ep. VII, 23 (CCSL 140, 476, 64–477, 72), vgl. Dal Santo, Empire, 62 f.
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morum verlassen habe.292 Die pastorale Versorgung der Gemeinden war also eng verknüpft mit dem Ziel der Ausbreitung und Erhaltung des rechten christlichen Glaubens.
6.2.2 Ausbreitung des rechten Glaubens Die Verkündigung des christlichen Glaubens war Gregor in seinem theologischen Denken, und – wie nun zu zeigen sein wird – ebenso in seinem päpstlichen Handeln ein zentrales Anliegen.293 So ermahnte er den Bischof von Narni gerade angesichts der Pest, in seiner Predigt nicht nachlässig zu werden. Gott möge die bekehrten Heiden und Häretiker wegen ihrer Konversion am Leben erhalten „oder, falls er sie doch tödlich heimsucht, sie vergehen von ihren Freveln freigesprochen, was noch mehr zu hoffen ist.“294 Bezüglich der Mission von Nichtchristen, seien es Juden oder die auch im 6. Jahrhundert noch präsente pagane Bevölkerung, betonte Gregor die Freiwilligkeit und innere Zustimmung zur Bekehrung.295 Diesem Ideal blieb er in der Mission in England treu. Im Umgang mit den Juden setzte er jedoch neben der Überzeugungskraft der Predigt auch auf Druckmittel finanzieller Art.296 Im Kampf gegen pagane Riten wandte er schließlich gar scharfe Verfolgung, harte Strafen und rohe Gewalt an.297
6.2.2.1 Die Mission der Angelsachsen Das bekannteste Projekt Gregors zur Ausbreitung des christlichen Glaubens ist die Bekehrung der Angelsachsen in England. Über dieses Vorhaben berichten drei Quellen: Die unmittelbarste stellt das Briefregister Gregors dar, welches Schreiben an die entsandten Missionare,298 an das angelsächsische Königshaus299 sowie zahlreiche Empfehlungsbriefe an fränkische Empfänger mit der Bitte um Unterstützung300 enthält. Daneben bietet die Historia ecclesiarum 292
Vgl. Greg.‑M. Ep. VII, 5 (CCSL 140, 448, 20–23). Richards, Leben, 235. 294 „[…] aut, si eos migrari contigerit, a suis, quod et magis optandum est, transeunt facinoribus absoluti.“ Greg.‑M. Ep. II, 2 (CCSL 140, 91, 9–11). 295 Vgl. Greg.‑M. Ep. II, 14 (CCSL 140, 100, 1–12). 296 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 7 (CCSL 140, 273, 7–23); vgl. Demacopoulos, Gregory’s Model, 223. 297 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 205 (CCSL 140A, 764, 29–40). 298 Vgl. Greg.‑M. Ep. VI, 53 (CCSL 140, 426, 1–19); XI, 36 (CCSL 140A, 925, 1–929, 115); XI, 39 (CCSL 140A, 934, 1–935, 38); XI, 56 (CCSL 140A, 961, 1–962, 41). 299 Vgl. Greg.‑M. Ep. XI, 35 (CCSL 140A, 923, 1–924, 44); XI, 37 (CCSL 140A, 929, 1–932, 71). 300 Vgl. Greg.‑M. Ep. VI, 51 (CCSL 140, 423, 1–424, 23); VI, 52 (CCSL 140, 425, 1–15); VI, 54 (CCSL 140, 427, 1–17); VI, 55 (CCSL 140, 428, 1–15); VI, 56 (CCSL 140, 429, 1–9); VI, 57 (CCSL 140, 430, 1–19); VI, 59 (CCSL 140, 432, 1–15); VI, 60 (CCSL 140, 433, 1–25); XI, 34 (CCSL 140A, 922, 22–923, 26); XI, 38 (CCSL 140A, 934, 38–42); XI, 40 (CCSL 140A, 937, 293 Vgl.
6.2 Die Sorge um den rechten Glauben
313
gentis Anglorum des Beda Venerabilis weitere Informationen, die insbesondere das historische Umfeld beleuchten.301 In dieser ist wiederum der Libellus responsionum enthalten,302 der, abgesehen von einer zweifachen redaktionellen Umgestaltung,303 im Kern auf Gregor zurückzuführen ist.304 Diese Quelle umfasst neun Fragen Augustins von Canterbury, des Leiters der Mission, bezüglich der liturgischen und kirchenrechtlichen Praxis, sowie die Antworten Gregors.305 Obwohl Gregor gegenüber Syagrius, dem Bischof von Lyon, behauptete, er hätte die Mission der Angelsachsen „schon lange erwogen,“306 erweist sich sein erstes Vorgehen als regelrecht planlos: Ohne jegliche Kenntnisse über die politische und kulturelle Situation in England307 schickte er eine Gruppe von 32–38); XI, 41 (CCSL 140A, 938, 1–20); XI, 42 (CCSL 140A, 939, 26–940, 33); XI, 45 (CCSL 140A, 942, 1–943, 20); XI, 47 (CCSL 140A, 946, 23–30); XI, 48 (CCSL 140A, 946, 1–947, 31); XI, 50 (CCSL 140A, 950, 19–28); XI, 51 (CCSL 140A, 950, 1–951, 21). 301 Vgl. Bed. Hist. I, 23, 1–34, 2 (SC 489, 192, 1–264, 13). 302 Vgl. Bed. Hist. I, 27, 2–28 (SC 498, 208, 1–240,32). 303 Vgl. Müller, B., Führung, 341–345; Meyvaert, Paul, Bede’s Text of the Libellus Responsionum of Gregory the Great to Augustine of Canterbuy, in: Clemoes, P. (Hg.), England before the conquest. Studies in primary sources presented to Dorothy Whitelock, Cambridge 1971, 15–33. 304 Die Echtheit wurde schon von Bonifatius angezweifelt, zuletzt lehnte sie Hans Suso Brechter ab, vgl. Brechter, Hans Suso, Die Quellen zur Angelsachsenmission Gregors des Großen. Eine historiographische Studie, Münster 1940. Die Forschung Paul Meyvaerts hat diese These aber widerlegen können, vgl. Meyvaert, Text und Meyvaert, Paul, Le libellus responsionum à Augustin de Canterbéry. Une œuvre authentique de saint Grégoire le Grand, in: Fontaine, J. et al. (Hgg.), Grégoire le Grand. Chantilly, Centre culturel Les Fontaines, 15–19 septembre 1982, Colloques Internationaux du CNRS, Paris 1986, 543–550. Zur Forschungsdiskussion vgl. Chadwick, Henry, Gregory the Great and the Mission to the Anglo-Saxons, in: Gregorio Magno e il suo Tempo, Bd. I: Studi storici, SEAug 33, Rom 1991, 199–212, hier: 207–212; Müller, B., Führung, 343–345. 305 Ausführlich zum Libellus, vgl. Müller, B., Führung, 341–360. 306 „[…] quam diu cogitans“ Greg.‑M. Ep. IX, 223 (CCSL 140A, 795, 14). Eine northumbrische Legende berichtet, ein Zusammentreffen Gregors mit anglischen Sklaven hätte den Anstoß zu dem Vorhaben gegeben, vgl. Bed. Hist. II, 1, 11 f. (SC 489, 284, 1–288, 14); Anon.Whitby Vit. Greg. 9 (Colgrave 90). Tatsächlich berichtete er der fränkischen Königin Brunhilde, er habe erfahren, das Volk der Angeln wolle sich dem christlichen Glauben zuwenden, vgl. Greg.‑M. Ep. VI, 60 (CCSL 140, 433, 6–9), vgl. auch Greg.‑M. Ep. VI, 51 (CCSL 140, 424, 7–10). Auch sein Auftrag aus dem Vorjahr an den Verwalter des gallischen Patrimoniums, anglische Sklaven anzukaufen und zur Ausbildung zum Klerus nach Rom zu schicken, deuten auf ein neu erwachtes Interesse an dem Volk der Angelsachsen, vgl. Greg.‑M. Ep. VI, 10 (CCSL 140, 378, 4–9), vgl. Richards, Leben, 245–247; Müller, B., Führung, 333. 307 Noch die Anweisungen, die Gregor mit dem zweiten Missionstrupp 601 an Augustin schickte, zeugen von der päpstlichen Ignoranz der Gegebenheiten auf der Insel: Er befahl, in London und York, also den alten Zentren der ehemaligen römischen Provinz Britannien, Metropolien mit jeweils 12 Suffraganen einzurichten, vgl. Greg.- M. Ep. XI, 39 (CCSL 140A, 935, 7–34). Offensichtlich war ihm nicht bekannt, dass Aethelbert als oberster König der Angelsachsen seinen Herrschaftssitz in Canterbury aufgerichtet hatte, vgl. Richards, Leben, 249 f.; Chadwick, Mission, 200 f.; Markus, World, 179–181.
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6 Die Praxis der tätigen Nächstenliebe im Handeln Gregors des Großen
Mönchen aus dem Andreaskloster308 auf die Reise. Die Leitung übertrug er Augustin, der zu ihrem Abt bestimmt und schließlich zum Bischof geweiht wurde.309 Schon bald verließ sie der Mut – sicherlich auch angesichts der fehlenden Sprachkenntnisse und der Ermangelung von Dolmetschern –310 und sie sandten Augustin mit der Bitte um Abbruch des Vorhabens zurück nach Rom. Diesen ließ der Papst aber umgehend wieder umkehren und schickte ihn, mit einem Trostbrief an die mutlosen Brüder311 sowie zahllosen Empfehlungsschreiben an die gallischen Bischöfe und fränkischen Herrscher312 ausgestattet, erneut auf die Mission. Ebenso bat er um gallisches Personal als Unterstützung in der Überwindung der kulturellen Unkenntnis.313 Diese Bitte verstärkte er mit dem Hinweis, die Mission geschähe „zum Nutzen der Seelen.“314 Mit diesem für sein Denken charakteristischen Argument erinnerte er die gallischen Bischöfe an die Verantwortung, die ihrem Amt inne lag. Ebenso ist es ein Hinweis auf Gregors Intention, mit der er das Missionsvorhaben umsetzte: Seiner soteriologischeschatologischen Theologie treubleibend fokussierte er die Sorge für das geistliche Heil der noch nicht zu Christus geführten Angelsachsen.315 Beda berichtet, dass sich Augustin und seine Brüder gleich nach ihrer Ankunft in England an König Aethelbert gewandt hatten, der sie gastfreundlich versorgte. Obwohl er deutlich der germanisch-paganen Religiosität verpflichtet war,316 stand er dem christlichen Missionsplan wohlwollend gegenüber.317 Er 308 Beda berichtet von einer Gruppe von 40 Brüdern, vgl. Bed. Hist. I, 25, 1 (SC 498, 200, 12–14). 309 Vgl. Greg.‑M. Ep. VI, 53 (CCSL 140, 426, 8–10). Zur Diskussion um den Ort und den Ordinator vgl. Richards, Leben, 254–256. 310 Vgl. Bed. Hist. I, 23, 1 (SC 498, 194, 14). 311 Vgl. Greg.‑M. Ep. VI, 53 (CCSL 140, 426, 1–19). 312 Vgl. Greg.‑M. Ep. VI, 51 (CCSL 140, 423, 1–424, 23); VI, 52 (CCSL 140, 425, 1–15); VI, 54 (CCSL 140, 427, 1–17); VI, 55 (CCSL 140, 428, 1–15); VI, 56 (CCSL 140, 429, 1–9); VI, 57 (CCSL 140, 430, 1–19); VI, 59 (CCSL 140, 432, 1–15); VI, 60 (CCSL 140, 433, 1–25). 313 Vgl. Greg.‑M. Ep. VI, 51 (CCSL 140, 424, 13–16); VI, 60 (CCSL 140, 433, 15 f.). Im Briefregister sind auch Schreiben enthalten, in denen der Papst sich für die geleistete Unterstützung der Mission bedankt, vgl. Greg.‑M. Ep. VIII, 4 (CCSL 140A, 520, 64–70); IX, 223 (CCSL 140A, 795, 14–21). 314 „[…] pro utilitate animarum“ Greg.‑M. Ep. VI, 52 (CCSL 140, 425, 9 f.), vgl. auch Greg.‑M. Ep. VI, 54 (CCSL 140, 427, 9 f.): „[…] pro animarum […] compendio“. 315 In der Forschung ist vermutet worden, Gregor wolle sich durch die Ausweitung seines Einflussbereichs nach Nordwesten unabhängiger von Konstantinopel machen. Dagegen wird in neueren Untersuchungen vornehmlich die pastorale Motivation des römischen Bischofs betont, vgl. Chadwick, Mission, 204–206.; Richards, Leben, 252; Markus, World, 185–187; Müller, B., Führung, 333 f.; Ricci, Cristina, Gregory’s Missions to the Barbarians, in: Neil, B./ Dal Santo, M. (Hgg.), A Companion to Gregory the Great, Brills Companions to the Christian Tradition 47, Leiden 2013, 29–56, hier: 55 f.; Dal Santo, Empire, 78. 316 Nach Bedas Bericht traute sich der König aus abergläubischer Furcht vor Magie nicht, mit den Fremden in einem geschlossenen Raum zu sprechen, weshalb er ihnen eine Audienz im Freien gewährte, vgl. Bed. Hist. I, 25, 2 (SC 489, 200, 1–202, 5) und Richards, Leben, 249. 317 Bereits bei seiner Vermählung mit der fränkischen Königstochter Bertha hatte er dieser zugestanden, ihren christlichen Glauben beizubehalten und Bischof Liudhard als Kaplan mit
6.2 Die Sorge um den rechten Glauben
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gestand ihnen freies Predigt- und Missionsrecht zu, übereignete ihnen Gebäude zur Nutzung als Kloster und Kirche und erlaubte die Errichtung neuer Kirchen in seinem Herrschaftsgebiet.318 Schon im Sommer 598 konnte Gregor Eulogius von Alexandrien von großen Erfolgen der Unternehmung berichten: Allein am Weihnachtstag seien zehntausend Angelsachsen getauft worden.319 Wahrscheinlich ist zu dieser wohl übertriebenen Anzahl an Neuchristen auch der angelsächsische König Aethelbert zu zählen.320 Im Jahr 601 sandte Gregor einen zweiten Missionstrupp nach England, den er erneut mit zahlreichen Empfehlungsschreiben ausstattete.321 In diesen bat er die gallischen Bischöfe und Herrscher um weitere Unterstützung, u. a. um personellen Nachschub,322 die er dieses Mal mit dem Argument der Partizipation am guten Werk des anderen begründete: „Denn wer das Gute eines anderen unterstützt, macht es zu seinem [eigenen].“323 Ebenso sah er aber das angelsächsische Königspaar in der Verantwortung – ganz im Geist der Spätantike und insbesondere des 6. Jahrhunderts.324 Dessen Rolle stellte er in die Nachfolge des ersten christlichen Kaisers.325 Mit Verweis nach England zu bringen, vgl. Bed. Hist. I, 25, 1 (SC 489, 200, 21–27), Chadwick, Mission, 205; Markus, World, 178. 318 Vgl. Richards, Leben, 249; Markus, World, 178 f. 319 Vgl. Greg.‑M. Ep. VIII, 29 (CCSL 140A, 51, 20–552, 37). 320 Vgl. Bed. Hist. II, 5, 1–2 (SC 489, 308, 1–312, 2); Richards, Leben, 253 f.; Müller, B., Führung, 380 und Chadwick, Mission, 201 f. Robert Markus geht neuerdings von einem Taufaufschub bei gleichzeitiger großer Sympathie für das Christentum aus, vgl. Markus, World, 182 FN 79. Die Taufe Aethelberts wäre eine Erklärung für die große Zahl an Taufen, da nach germanischer Sitte der Stamm der Konversion des Königs folgte. Arnold Angenendt hat allerdings herausgearbeitet, dass keinesfalls der gesamte Stamm getauft wurde, insbesondere die Königssöhne verharrten häufig beim traditionellen Glauben, vgl. Angenendt, Arnold, Kaiserherrschaft und Königstaufe. Kaiser, Könige und Päpste als geistliche Patrone in der abendländischen Missionsgeschichte, AFMF 15, Berlin et al. 1984, 179. 321 Vgl. Greg.‑M. Ep. XI, 34 (CCSL 140A, 922, 22–923, 26); XI, 38 (CCSL 140A, 934, 38– 42); XI, 40 (CCSL 140A, 937, 32–38); XI, 41 (CCSL 140A, 938, 1–20); XI, 42 (CCSL 140A, 939, 26–940, 33); XI, 45 (CCSL 140A, 942, 1–943, 20); XI, 47 (CCSL 140A, 946, 23–30); XI, 48 (CCSL 140A, 946, 1–947, 31); XI, 50 (CCSL 140A, 950, 19–28); XI, 51 (CCSL 140A, 950, 1–951, 21). 322 Vgl. Greg.‑M. Ep. XI, 38 (CCSL 140A, 934, 38–42); XI, 41 (CCSL 140A, 938, 2–15). 323 „Nam qui alterius bonum adiuuat, suum facit.“ Greg.‑M. Ep. XI, 48 (CCSL 140A, 947, 19 f.), vgl. Greg.‑M. Ep. XI, 41 (CCSL 140A, 938, 15–20); XI, 42 (CCSL 140A, 939, 2–12.26–940, 33) und Kap. 5.3.3.1. 324 Vgl. Demacopoulos, Shrines, 357–360 und Kap. 5.2.1.1. 325 „Denn so brachte der frömmste Kaiser Konstantin einst den römischen Staat von den schlechten Götzenkulten ab, unterstellte ihn mit sich dem allmächtigen Gott, unserem Herrn Jesus Christus, und bekehrte sich mit den untergebenen Völkern mit ganzem Geist zu diesem. Daher geschah es, dass jener Mann den Namen der alten Kaiser mit seinem Lob überstrahlte und seine Vorgänger sowohl im Ruf als auch im guten Werk überragte. Und deshalb beeile sich Eure Herrlichkeit nun, die Kenntnis von dem einen Gott, dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist, den Königen und den Euch unterstellten Völkern auszubreiten, dass auch sie die alten Könige Eures Volkes in Lob und Verdiensten übersteigt. So besteht sie, je mehr sie die fremden Sünden unter Euren Untertanen tilgt, umso unbekümmerter die furchtbare
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6 Die Praxis der tätigen Nächstenliebe im Handeln Gregors des Großen
auf die bereits zu beobachtenden Anzeichen des nahenden Weltendes326 mahnte er Aethelbert, den Götzendienst zu verfolgen, die Tempel zu zerstören und sein Volk durch „Ermahnung, Schrecken, Ausmalen, Verbesserung und vorbildliche Beispiele des guten Werkes“327 zum christlichen Glauben zu erziehen. Seine rigorose Forderung nach der Zerstörung aller paganer Heiligtümer schwächte Gregor wenige Wochen später in einer dem gerade abgereisten Trupp nachgesandten Nachricht wieder ab.328 Nach reiflicher Überlegung sei er zu dem Schluss gekommen, es sei doch ratsamer, das angelsächsische Volk behutsam an den neuen Glauben und seine Riten zu gewöhnen. Daher sollen die Tempel nicht abgerissen werden, sondern lediglich von den Götzenstatuen befreit und mithilfe von Weihwasser zu christlichen Kirchen umgewidmet werden.329 Ebenso soll es auch eine festive Kultkontinuität geben, indem die alten Tieropfer durch große Schlachtfeste zu Ehren Gottes anlässlich von Kirchweihfeiern oder Märtyrergedenktagen ersetzt werden.330 Dieses gemäßigte Vorgehen begründete Gregor in zweifacher Weise, einerseits fürchtete er Unmut und Misstrauen als mögliche Reaktion auf die Tempelzerstörung.331 Andererseits wollte er dem angelsächsischen Volk eine allmähliche und möglichst niederschwellige Umund Eingewöhnung in den neuen Kultus ermöglichen. Gerade ein Verbot der beliebten Festlichkeiten, die eine wichtige soziale Bedeutung erfüllten, wäre eine schlechte Voraussetzung für die Bekehrung zum Christentum.332 Diese religionspsychologischen Einsichten sowie die daraus resultierenden recht pragmatischen Missionsstrategien beabsichtigten weniger ein schnelles, von oben verordnetes Bekenntnis der Gesamtheit des Volkes, sondern inPrüfung über die eigenen Sünden vor dem allmächtigen Gott.“ (Sic enim Constantinus quondam piissimus imperator Romanam rempublicam a peruersis idolorum cultibus reuocans omnipotenti Deo domino nostro Iesu Christo secum subdidit seque cum subiectis populis tota ad eum mente conuertit. Vnde factum est ut antiquorum principum nomen suis uir ille laudibus uincere et tanto in opinione praecessores suos, quanto et in bono opere superaret. Et nunc itaque uestra gloria cognitionem unius Dei patris et filii et spiritus sancti regibus ac populis sibimet subiectis festinet infundere, ut et antiquos gentis suae reges laudibus ac meritis transeat et, quanto in subiectis suis etiam aliena peccata deterserit, tanto etiam de peccatis propriis ante omnipotentis Dei terribile examen securior fiat.) Greg.‑M. Ep. XI, 37 (CCSL 140A, 930. 18–30), vgl. auch Greg.‑M. Ep. XI, 35 (CCSL 140A, 923, 11–924, 24). 326 Vgl. Greg.‑M. Ep. XI, 37 (CCSL 140A, 931, 43–932, 60), vgl. Müller, B., Führung, 381 f. 327 „[…] exhortando, terrendo, blandiendo, corrigendo et boni operis exempla monstrando“ Greg.‑M. Ep. XI, 37 (CCSL 140A, 930, 14 f.). Zur Einbindung des Königs in die Mission vgl. Markus, World, 181 f.; Müller, B., Führung, 379–382; Dal Santo, Empire, 78; Angenendt, Kaiserherrschaft, 1–4.165–196. 328 Dieses mit einem Eilboten verschickte Schreiben stellt ein Unikum innerhalb des Registers dar, vgl. Markus, World, 183.208. Das unterstreicht die Bedeutung, die Gregor den veränderten Anweisungen beilegte. 329 Vgl. Greg.- M. Ep. XI, 56 (CCSL 140A, 961, 4–14). 330 Vgl. Greg.- M. Ep. XI, 56 (CCSL 140A, 961, 16–962, 22). 331 Vgl. Greg.- M. Ep. XI, 56 (CCSL 140A, 961, 14–16). 332 Vgl. Greg.- M. Ep. XI, 56 (CCSL 140A, 962, 22–34).
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tendierten eine langfristige Bekehrung jedes Einzelnen aus persönlicher Überzeugung.333 Die langfristige Perspektive der Angelsachsenmission wird ebenso aus weiteren Anweisungen an Augustin deutlich: Der Papst wies den Bischof an, in England solide kirchliche Strukturen mit Metropolien in London und York mit jeweils zwölf unterstellten Bistümern einzurichten. Die Oberhoheit über die englische Kirche sollte Augustin in London innehaben, nach seinem Tod sollte der Vorrang demjenigen Metropoliten zustehen, der sein Amt zuerst angetreten hatte.334 Entgegen der Anweisung des römischen Bischofs wählte Augustin nicht London, sondern Canterbury zu seinem Metropolitansitz, da dies auch die Residenzstadt Aethelberts war.335 Auch bezüglich der kirchlichen Einnahmen und der Armenfürsorge traf der Papst Regelungen: Die Einkünfte der verschiedenen Kirchen sollten wie gewohnt jeweils geviertelt werden, 25 % waren für die Armenversorgung vorgesehen.336 Sollten die Einkünfte der Kleriker, die nach Gregors Wunsch in monastischer Gemeinschaft leben sollten,337 für die eigenen Bedürfnisse nicht vollständig aufgebraucht sein, sollten die Überschüsse als Almosen verteilt oder für die 333 George Demacopoulos will diese neuen Anweisungen nicht wie u. a. Robert Markus und Barbara Müller als Gegensatz (countermand) zum Brief an Aethelbert verstanden wissen, vgl. Markus, World, 183 f.; Markus, Robert A., Gregory the Great and a Papal Missionary Strategy, in: SCH(L) 6 (1970), 29–38, hier: 34; Müller, B., Führung, 384. Stattdessen unterstreicht er die differierenden Intentionen und Adressaten. Auf der einen Seite stehen das Lob und die geistliche Erbauung des Königs mit den typischen Verhaltensweisen, die von einem christlichen Herrscher erwartet werden. Auf der anderen Seite sind die problem- und lösungsorientierten Hinweise für den tatsächlichen Akteur der Mission zu betrachten, vgl. Demacopoulos, Shrines, bes. 361–367, gegen Markus, Strategy. Vergleichbar spricht Henry Chadwick von Unterschieden „in tactics rather than in strategy“ Chadwick, Mission, 203 FN 18. Sicherlich ist bei beiden Aussagen für eine verantwortete Interpretation der Adressat zu berücksichtigen. In einer Königsparänese, die zudem den ersten direkten Kontakt des Papstes mit dem Herrscher darstellt, sind sicherlich keine fein differenzierten, sondern zuerst einmal pauschale Aussagen zu erwarten. Dennoch stellen die Anweisungen aus dem nachgesandten Brief eine deutliche Varianz zu den ursprünglichen Plänen dar. Diese Differenz äußerte der Papst im Übrigen Augustin gegenüber explizit, vgl. Greg.- M. Ep. VI, 36 (CCSL 140A, 925, 10 f.), gegen Demacopoulos, Shrines, 368. Zu dieser Veränderung habe sich Gregor nach eigener Aussage erst „nach langem Nachdenken“ (diu mecum […] cogitans, Greg.‑M. Ep. XI, 56 [CCSL 140A, 961, 8]) entschlossen – er bezeugt demnach selbst den eigenen Kurswechsel. Die wahrscheinliche Wahrheit liegt wie so oft zwischen den Extremen: Die Radikalität der Aussage Aethelbert gegenüber ist mit Blick auf den Kontext in ihrer tatsächlichen Relevanz abzumildern, andererseits hat Gregor die Hinweise zum konkreten Missionsvorgehen an seine religionspsychologische Einsicht angepasst. 334 Vgl. Greg.‑M. Ep. XI, 39 (CCSL 140A, 934, 1–935, 38). 335 Insofern ist nicht wirklich davon zu reden, dass Gregor 601 mit der Situation in England vertraut gewesen wäre, so Markus, World, 182. 336 Vgl. Bed. Hist. I, 27, 3 (SC 489, 208, 4–9) = Lib. Resp. 1, vgl. Kap. 6.2.1. 337 Allerdings zeigte er sich in dieser Hinsicht deutlich liberaler als gewöhnlich, da er dem niederen Klerus gar ein eheliches Leben zugestand, vgl. Bed. Hist. I, 27, 4 (SC 489, 210, 1–12) = Lib. Resp. 2, und Müller, B., Führung, 355.357 f.; Demacopoulos, Shrines, 361.
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6 Die Praxis der tätigen Nächstenliebe im Handeln Gregors des Großen
Gastfreundschaft verwendet werden.338 Auch in der englischen Kirche wollte er demnach der Armenfürsorge eine hervorgehobene Bedeutung zukommen lassen. Die Flexibilität, die Gregor bei seinen Vorschriften zum Umgang mit den paganen Tempeln bewies, gestand er Augustin in seinem Libellus responsionum ebenso in liturgischen Dingen zu: „Meinetwegen wähle aus dem, was Du entweder in der römischen oder der gallischen oder auch einer anderen Kirche gefunden hast, mit Bedacht das aus, was dem allmächtigen Gott besser gefallen könnte, und führe in die Kirche der Angeln, die im Glauben noch neu ist, durch hervorragenden Unterricht das ein, was Du aus den vielen Kirchen sammeln konntest. Denn man muss die Bräuche (res) nicht wegen der Orte, sondern die Orte wegen der guten Bräuche lieben. Aus den einzelnen jeweiligen Kirchen wähle also die frommen, gottesfürchtigen und rechten Bräuche aus und führe sie gesammelt wie ein Bündel in die Gewohnheit im Geist der Angeln ein.“339
In der Mission der Angelsachsen stellte Gregor also die Individualität der Gemeinden und die jeweiligen Bedürfnisse über die rituelle Einheitlichkeit der Gesamtkirche, wie er es theologisch bereits in den Moralia in Iob erwogen hatte.340 Sein Interesse lag in der Gewinnung jeder einzelnen Seele für Gottes Reich. Dabei gab er sich nicht mit einem rein äußerlichen Bekenntnis zufrieden, sondern intendierte die tatsächliche, innere Bekehrung. Die conversio begriff er dabei weniger als einmalige Wende zum christlichen Glauben, sondern vielmehr als lebenslangen Prozess der Ausrichtung auf die patria caelestis und ein gottgefälliges Leben.341 Diese Fokussierung auf die Entwicklung der geistlichen Anfänger anstelle einer Bekehrung des Volkes durch Loyalität zum Herrscher entsprach dem Ideal der condescensio, wie es Gregor in seinen literarischen Werken immer wieder erörterte. Der im Glauben Fortgeschrittene soll sich zu den Niedrigen und ihm Untergebenen hinabbeugen, um sie zu Gott emporzuheben.342 338
Vgl. Bed. Hist. I, 27, 4 (SC 489, 210, 12–15) = Lib. Resp. 2. mihi placet ut, siue in Romana siue in Galliarum seu in qualibet ecclesia aliquid inuenisti, quod plus omnipotenti Deo possit placere, sollicite eligas, et in Anglorum ecclesia, quae adhuc ad fidem noua est, institutione praecipua, quae de multis ecclesiis colligere potuisti, infundas. Non enim pro locis res, sed pro bonis rebus loca amanda sunt. Ex singulis ergo quibusque ecclesiis quae pia, quae religiosa, quae recta sunt elige, et haec quasi in fasciculum collecta apud Anglorum mentes in consuetudinem depone.“ Bed. Hist. I, 27 (SC 489, 210, 3–212, 11) = Lib. Resp. 2. Entsprechend freie Hand gab Gregor bezüglich divergierender Taufpraktiken in Spanien und auf Sardinien, solange die Einheit des Glaubens nicht gefährdet war, vgl. Greg.‑M. Ep. I, 41 (CCSL 140, 48, 35–49); IV, 26 (CCSL 140, 245, 40–246, 45) und vgl. Müller, B., Führung, 356; Richards, Leben, 251. 340 Vgl. Kap. 5.6.3.3. und Meyvaert, Diversity. 341 Claude Dagens hat diese Beobachtung als Erster formuliert, vgl. Dagens, Conversion, die auf breite Zustimmung gestoßen ist, vgl. u. a. Demacopoulos, Shrines, 354–357; Straw, Perfection, 194–235. 342 Vgl. Kap. 5.2.2.2; 5.5.3.2 und 5.6.2.1. George Demacopoulos liegt meines Erachtens gänzlich daneben, wenn er die condescensio als zielgerichtete Akzeptanz und Toleranz der Sünde deutet, vgl. Demacopoulos, Shrines, 360 f. 339 „Sed
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Dennoch kam dem König eine gewichtige Rolle in der Mission zu: Er war der erste Kontakt der Mönche, stellte die Infrastruktur zur Verfügung und sollte nach Gregors Wunsch durch die Regierung dem christlichen Glauben den Weg bereiten. Insofern ist das Konzept sicher nicht eine „Mission von unten“343 zu nennen. Vielmehr setzte sie oben an, war aber konsequent nach unten ausgerichtet.
6.2.2.2 Die Bekehrung der Juden Anders als für die pagane Bevölkerung Englands war die christliche Religion für die Juden in Italien keine unbekannte Größe, vielmehr lebten sie in einem seit mehreren Jahrhunderten weitgehend christlich geprägten Umfeld. Dabei gestaltete sich das Miteinander von Juden und Christen im römischen Reich als größtenteils friedliche Koexistenz, was die kaiserliche Gesetzgebung ermöglicht hatte.344 Diese bildete für Gregor den wichtigsten Maßstab für seinen praktischen Umgang mit dem Judentum, der sich deutlich toleranter gestaltete als seine antijudaistische Hermeneutik in den exegetischen und homiletischen Werken vermuten lässt.345 Mehrfach verteidigte er, mit Verweis auf die Gesetzeslage,346 jüdische Gemeinden gegen Übergriffe auf Synagogen.347 In Cagliari hatten am Ostertag radikalchristliche Eiferer unter der Führung eines neugetauften ehemaligen Juden Petrus eine Synagoge gestürmt und sie durch die Aufstellung von Marienund Christusbildnissen, eines Kreuzes sowie des Taufkleids des Petrus entweiht. Gregor befahl, die christlichen Gegenstände zu entfernen und das Gotteshaus den Juden zurückzugeben.348 Solange der christliche Gottesdienst nicht durch 343
Müller, B., Führung, 385. C.‑Iust. 1, 9 f. (CIC II, 61 f.). Zur gesetzlichen Stellung der Juden im Römischen Reich vgl. Linder, Amnon, The Jews in Roman Imperial Legislation, Detroit 1987; Blumenkranz, Bernhard, Juifs et chrétiens dans le monde occidental, 430–1096, Paris 1960. 345 Zu Gregors Rezeption und Varitation des in der patristischen Literatur weit verbreiteten Antijudaismus vgl. Katz, Solomon, Pope Gregory the Great and the Jews, JQR 24 (1933), 113–136; Markus, Robert A., The Jew as a Hermeneutic Device: The Inner Life of a Gregorian Topos, in: Cavadini, J. (Hg.), Gregory the Great. A Symposium, NDST 2, Notre Dame et al. 2001, 1–15 und Fiedrowicz, Kirchenverständnis, 164–171; zu seinen Vorlagen vgl. Schreckenberg, Adversus-Judaeos-Texte. 346 Vgl. C.‑Iust. I, 9, 14 (CIC II, 62) und Neil, Papacy, 19 f. 347 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 34 (CCSL 140, 42, 1–10); VIII, 25 (CCSL 140A, 546, 1–547, 18); IX, 38 (CCSL 140A, 597, 1–27); IX, 196 (CCSL 140A, 750, 1–751, 34) und Bammel, Ernst, Gregor der Große und die Juden, in: Gregorio Magno e il suo Tempo, Bd. I: Studi storici, SEAug 33, Rom 1991, 283–291, hier: 284 f.; Markus, World, 77; Richards, Leben, 236. 348 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 196 (CCSL 140A, 1–23). In einem ähnlichen Fall in Palermo war die Rückgabe nicht mehr möglich, da die ehemalige Synagoge bereits zu einer christlichen Kirche geweiht worden war. Daher ordnete der Papst Reparationszahlung sowie zumindest die Aushändigung der jüdischen Kultgegenstände an, vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 38 (CCSL 140A, 597, 1–22). 344 Vgl.
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Störungen, etwa durch Psalmengesang, beeinträchtigt wurde, waren Synagogen in der Umgebung zu tolerieren.349 Deutliche Grenzen zeigte Gregor den Juden hingegen als Sklavenhalter auf: Gesetzlich war es ihnen untersagt, christliche Sklaven zu besitzen.350 Diese Bestimmung stellt mit Abstand den häufigsten Grund dar, weshalb der Papst im Briefregister auf das Judentum zu sprechen kam.351 Mehrfach rief er Mitbischöfen352 das entsprechende Gesetz in Erinnerung353 und forderte sie auf, für die darin garantierte kostenfreie Freilassung der christlichen Sklaven zu sorgen.354 Um den Wissensschatz der seit Jahren in der Landwirtschaft erfahrenen Sklaven nicht gänzlich zu verlieren, schlug er vor, dass diese den jüdischen Grundbesitzern freiwillig als Pächter erhalten blieben, ohne dass ihnen zusätzliche Zahlungen aufgebürdet würden oder sie lebenslang gebunden wären.355 Den Prätor Siziliens tadelte er dafür, einen jüdischen Sklavenbesitzer gegen Bestechung straffrei gelassen zu haben, obwohl dieser Christen gar zu einem Opferkult verführt hatte.356 In seiner Korrespondenz mit den fränkischen Herrschern warb Gregor dafür, dass in den dortigen Gebieten ein entsprechendes Gesetz eingeführt würde. Wie kann das Haupt verehrt werden, wenn die Glieder des Leibes Christi den Feinden ausgeliefert werden?357 Dem westgotischen König Reccared in Spanien 349 Vgl. Greg.‑M. Ep. II, 45 (CCSL 140, 137, 1–15). In diesem Fall empfahl der römische Bischof, der jüdischen Gemeinde einen anderen Versammlungsort zuzuweisen, der sich in größerer Distanz zur Kirche befand. Damit setzte er sich über ein Gesetz des Kaisers Theodosius II. hinweg, das den Neubau von Synagogen untersagte, vgl. C.‑Iust. I, 9, 19 (CIC II, 62). Dieses war Gregor bekannt, da er sich in späteren Jahren selbst darauf berief, vgl. Greg.- M. Ep. IX, 196 (CCSL 140A, 751, 16–23). 350 Vgl. C.‑Iust. I, 10 (CIC II, 62) sowie u. a. Greg.‑M. Ep. II, 45 (CCSL 140, 137, 19 f.). 351 Vgl. Markus, World, 78; Richards, Leben, 236 f. 352 Auffällig ist, dass er sich in dieser Angelegenheit stets an Episkopen und nicht an seine Rektoren wandte. Offensichtlich nahm er damit die kirchliche Rechtsprechung in den Blick. Die einzige Ausnahme stellt der Brief an den Presbyter Candidus, welcher der rector des Patrimoniums in Gallien war, wo es kein entsprechendes Gesetz gab, vgl. Greg.‑M. Ep. VII, 21 (CCSL 140, 472, 1–11). 353 Vgl. Greg.- M. Ep. II, 45 (CCSL 140, 137, 19 f.); IV, 21 (CCSL 140, 239, 8–10). 354 Vgl. Greg.- M. Ep. IV, 9 (CCSL 140, 226, 43–51); IV, 21 (CCSL 140, 239, 1–12); VI, 29 (CCSL 140, 401, 1–402, 30); VI, 30 (CCSL 140, 402, 1–403, 13); VIII, 21 (CCSL 140A, 540, 1–541, 23). Von seiner konsequenten, gesetzestreuen Linie wich Gregor lediglich in einem Fall ab: Aus Gallien waren u. a. auch christliche Sklaven an jüdische Besitzer verkauft worden. Da sich unter den Käufern einflussreiche Richter befanden, verzichtete der Papst auf die strikte Forderung nach Freilassung und schlug stattdessen als Kompromiss eine Frist von 40 Tagen vor, innerhalb derer die christlichen Sklaven an Halter desselben Glaubens verkauft werden mussten, vgl. Greg.- M. Ep. IX, 105 (CCSL 140A, 657, 1–658, 28) und Richards, Leben, 237. 355 Vgl. Greg.- M. Ep. IV, 21 (CCSL 140, 239, 12–24). 356 Vgl. Greg.- M. Ep. III, 37 (CCSL 140, 182, 1–183, 22), eine hypothetische Deutung des unklaren Altarkultes zu Ehren Elias’ bietet Ernst Bammel, vgl. Bammel, Juden, 286–291. 357 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 214 (CCSL 140A, 774, 64–775, 72); IX, 216 (CCSL 140A, 779, 74–83) und Markus, World, 78.
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dankte er hingegen dafür, dass er gegen erheblichen Widerstand eine solche Verordnung verabschiedet hatte.358 Der römische Bischof setzte sich also für ein friedliches Zusammenleben von Juden und Christen ein, bei dem die gesetzlich fixierten Rechte der einen wie der anderen gewahrt würden. Ähnlich milde und zurückhaltend ging Gregor auch in missionarischen Belangen vor: Zwangstaufen und jegliche Anwendung von gewaltsamer Judenmission lehnte er strikt ab,359 stattdessen setzte er auf die freiwillige Konversion. Zwang würde zu einem baldigen Rückfall führen,360 wohingegen „mit Milde, Güte, Ermahnung und Überzeugung“361 mehr Erfolg zu erwarten sei. Gregor setzte wie auch innerhalb der christlichen Gemeinde auf Predigt und geistlichen Unterricht, insbesondere auf Beweise aus den beiden Religionen gemeinsamen Schriften.362 War die Konversionsbereitschaft einmal geweckt, sollte sie sich keinesfalls in langer Wartezeit auf die Taufe wieder verlieren. Insofern gab Gregor die Erlaubnis, auch jenseits des üblichen Termins an Ostern zu taufen.363 Zudem wurde bedürftigen Katechumenen das Taufkleid auf Kosten der Kirche gestellt.364 Die weitreichendste Werbemaßnahme war aber die Pachtreduktion für konvertierte Juden: Jedem jüdischen colonus der kirchlichen Patrimonien, der sich zum Christentum bekehrte, wurden 30 % der jährlichen Abgaben erlassen.365 In diesem Vorgehen sah Gregor nach eigener Reflexion einen guten Ausgleich aus missionarischem Eifer und wirtschaftlichen Interessen.366 Obwohl ihm bewusst war, dass ein materieller Vorteil allein keine innere Konversion bewirken konnte, bezweckte er damit einen langfristigen und erfolgreichen Gewinn von Seelen für Gott: „Wir machen dies aber nicht ohne Nutzen, wenn wir diese durch die Reduktion der Pachtlasten zur Gnade Christi führen, weil, auch wenn diese selbst weniger gewissenhaft [zum Glauben] kommen, dennoch diejenigen, die von ihnen geboren werden, schon gewissenhafter getauft werden.“367
358
Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 229 (CCSL 140A, 807, 51–808, 68) und Markus, World, 78. Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 34 (CCSL 140, 42, 1–17); I, 45 (CCSL 140, 59, 1–29); IX, 196 (CCSL 140A, 751, 23–34); XIII, 13 (CCSL 140A, 1013, 1–1014); 26). 360 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 45 (CCSL 140, 59, 18–20). 361 „[…] mansuetudine, benignitatem, admonendo, suadendo“ Greg.‑M. Ep. I, 34 (CCSL 140, 42, 11 f.). 362 Vgl. Greg.‑M. Ep. XIII, 13 (CCSL 140A, 1014, 17–20) und Markus, Jew, 2 f. 363 Vgl. Greg.‑M. Ep. VIII, 23 (CCSL 140A, 543, 1–17). 364 Vgl. Greg.‑M. Ep. VIII, 23 (CCSL 140A, 543, 17–21). Gregor sorgte auch langfristig für Unterstützung konvertierter Juden, um sie vor Demütigungen und Übergriffen durch ihre alten Glaubensgenossen zu schützen, damit sie keine Reue wegen ihrer Bekehrung empfänden, vgl. Greg.‑M. Ep. I, 69 (CCSL 140, 77, 1–78, 17); IV, 31 (CCSL 140, 251, 1–8). 365 Vgl. Greg.‑M. Ep. II, 50 (CCSL 140, 141, 9–12); V, 7 (CCSL 140, 273, 7–17). 366 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 7 (CCSL 140, 273, 17 f.). 367 „Nec hoc inutiliter facimus, si pro leuandis pensionis oneribus eos ad Christi gratiam 359
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Vergleichbar zu seinem toleranten und niederschwelligen Umgang mit den paganen Kultstätten der Angelsachsen ist auch die Vorgehensweise in der Konversion der jüdischen Pächter als „long-term approach“368 zu bezeichnen, der auf einen inneren, aufrichtigen Glauben abzielte. Dennoch ist im Briefregister Gregors kein Plan einer systematischen Judenmission zu beobachten. Zumeist kam er mit den Anhängern dieser Religion nur in Konfliktfällen in Kontakt, sei es aufgrund von Beschwerden der jüdischen Gemeinde an ihn oder bei Konversionen von Sklaven jüdischer Besitzer zum Christentum. Die Sorge um den rechten Glauben richtete er hingegen allein an die jüdischen Sklaven und Pächter auf den kirchlichen Gütern.369 Letztendlich war sein Ziel im Umgang mit den Juden eine friedliche Koexistenz.370 Mehrfach formulierte er seinen Grundsatz, dass sie nicht stärker, aber eben auch nicht weniger eingeschränkt werden sollten, als die Gesetze es vorsahen.371
6.2.2.3 Die Beseitigung paganer Riten Ein gänzlich anderes missionarisches Vorgehen als bei den Angelsachsen sowie den Juden bewies Gregor gegen die in einigen ländlichen Gebieten Italiens, besonders auf den Inseln, praktizierten paganen Kulte. Zumeist setzte er anstelle von Predigt und Katechese372 auf Zwang und sogar Gewalt.373 Dafür nahm er nicht nur Kleriker, sondern auch staatliche Amtsträger wie Militärführer und Statthalter374 oder den örtlichen Adel und die Landbesitzer375 in die Pflicht. Ihnen allen sprach er Bischöfen vergleichbar die Verantwortung für das geistliche perducamus, quia, etsi ipsi minus fideliter ueniunt, hi tamen qui de eis nati fuerint iam fidelius baptizantur. Aut ipsos ergo aut eorum filios lucramur. Non est graue, quicquid de pensione pro Christo dimittimus.“ Greg.‑M. Ep. V, 7 (CCSL 140, 273, 19–23), vgl. auch Demacopoulos, Gregory’s Model, 223. 368 Demacopoulos, Gregory’s Model, 223. 369 Anders Richards, Leben, 235. 370 Gregors vergleichsweise milder Umgang mit den Juden ist in der Forschung oft betont worden, vgl. Markus, World, 77.79; Müller, B., Führung, 188; Bammel, Juden, 290. 371 Vgl. Greg.‑M. Ep. VIII, 25 (CCSL 140A, 546, 2–4); IX, 38 (CCSL 140A, 597, 22–27). Seine Sorge vor jüdischen Missionsversuchen fußte auf der realen Erfahrung, dass in Rom eine Gruppe von Christen das jüdische Kultgesetz wiedereinführen und den Sabbat achten wollte, vgl. Greg.‑M. Ep. XIII, 1 (CCSL 140A, 991, 1–992,3, 54) und Richards, Leben, 236; Bammel, Juden, 291. Juden war es untersagt, Proselyten anzuwerben, vgl. C.‑Iust. I, 9, 18 (CIC II, 62). 372 Eine Ausnahme stellt der Brief an den Bischof Venantius dar, in dem Gregor um die Weihe von Priestern und Diakone für missionarische Zwecke bat, vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 103 (CCSL 140A, 655, 1–15). Allerdings kam der Anstoß hierfür von staatlicher Stelle, nämlich dem örtlichen magister militum. 373 Vgl. u. a. Greg.‑M. Ep. IX, 205 (CCSL 140A, 764, 29–40). 374 Vgl. Greg.‑M. Ep. III, 59 (CCSL 140, 207, 8–208, 12); VIII, 19 (CCSL 140A, 539, 8–11); XI, 12 (CCSL 140A, 878, 1–13). 375 Vgl. Greg.‑M. Ep. IV, 23 (CCSL 140, 241, 1–242, 31); XIV, 1 (CCSL 140A, 1065, 7–9).
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Heil der Untergebenen zu, wie er es bereits in der offenen rector-Terminologie der Pastoralregel angelegt hatte.376 In seinem Pontifikat intervenierte Gregor an drei Orten, wo pagane Kulte noch bzw. wieder existierten. Auf Sizilien beklagte der Bischof Eutychius, dass sich Mächtige schützend vor Götzendiener und Anhänger der Lehrer der Angelliorum stellten, „wohl eine trinitarische Häresie alexandrinischen Ursprungs.“377 Für die Rückführung in die Einheit der Kirche – offensichtlich waren diese vom Christentum abgefallen – bat Gregor den Prätor Siziliens um Hilfe.378 Auch auf Korsika hatte sich eine Gruppe von der Kirche ab- und einem Götzenkult zugewendet, wogegen der korsische Bischof Petrus konsequent vorgehen sollte. Für die apostatischen Christen ordnete Gregor eine mehrtägige Buße an.379 Sollten zudem Ungetaufte vorgefunden werden, seien sie „zu ermahnen, zu bitten, mit dem kommenden Gericht zu erschrecken und auch mit der Einsicht auszustatten, dass Hölzer und Steine nicht verehrt werden dürfen.“380 Das meiste Engagement erforderte indes die Situation auf Sardinien. Zum einen verharrten diverse Bauern in paganem Götzendienst.381 Die Adligen und Landbesitzer ermahnte Gregor deshalb, sich inständig um deren Bekehrung zu bemühen, und erbat einen detaillierten Erfolgsbericht, womit er sicherlich den Druck und die Kontrolle zu erhöhen suchte. Zudem sandte er zur missionarischen Unterstützung den Bischof Felix und den Abt Cyriacus, die zu diesem Zweck wohl von ihren sonstigen Pflichten entbunden waren.382 Zu seinem Erschrecken war Gregor berichtet worden, dass auch auf kirchlichen Ländereien pagane Bauern beschäftigt waren. Vom zuständigen Bischof Januarius von Cagliari forderte er mit Nachdruck eine Null-Toleranz-Haltung ein. Ab sofort durften keine ungläubigen rustici mehr auf den Gütern der Kirche angestellt sein. Wer sich einer Konversion verweigerte, „war mit so viel Abgabenlasten zu belegen, dass die Strafe ihrer Abgaben selbst dazu [zwang], zur Wahrheit zu eilen.“383 Fünf Jahre 376 „Denn dazu sind jene Euch anvertraut, dass sie zu Eurem Nutzen auf Erden dienen können und Ihr durch Eure Vorsorge für die Werte ihrer Seelen sorgt, die ewig sind.“ (Ad hoc quippe illi uobis commissi sunt, quatenus et ipsi uestrae utilitati ualeant ad terrena seruire, et uos per uestram prouidentiam eorum animabus ea quae sunt aeterna prospicere.) Greg.‑M. Ep. IV, 23 (CCSL 140, 241, 11–13), vgl. Kap. 5.2 und Müller, B., Führung, 123–129; Demacopoulos, Gregory’s Model, 211; Markus, Rector, bes. 138–142. 377 Müller, B., Führung, 288. 378 Vgl. Greg.‑M. Ep. III, 59 (CCSL 140, 207, 1–208, 15). 379 Vgl. Greg.‑M. Ep. VIII, 1 (CCSL 140A, 513, 6–11). 380 „[…] admonendo, rogando, de uenturo iudicio terrendo, rationem quoque reddendo quia ligna et lapides colere non debent“ Greg.‑M. Ep. VIII, 1 (CCSL 140A, 513, 11–13). 381 Vgl. Greg.‑M. Ep. IV, 23 (CCSL 140, 241, 3–242, 31); IV, 26 (CCSL 140, 245, 12–22). 382 Vgl. Greg.‑M. Ep. IV, 23 (CCSL 140, 241, 24–242, 31) und Müller, B., Führung, 289. Für den seit langer Zeit vakanten Bischofsstuhl in Fausiana stieß Gregor zudem das Wahlverfahren an, Victor, Episkop dieser Stadt, wurde aber erst fünf Jahre später das erste Mal erwähnt, vgl. Greg.‑M. Ep. IV, 29 (CCSL 140, 247, 1–248, 12); IX, 203 (CCSL 140A, 760, 3). 383 „[…] tanto pensionis onere grauandus est, ut ipsa exactionis suae poena compellatur ad rectitudinem festinare.“ Greg.‑M. Ep. IV, 26 (CCSL 140, 245, 20–22).
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später war der Ton noch schärfer geworden: Nun sollte Januarius pagane Sklaven mit „Schlägen und Qualen“384 zur Umkehr treiben. Freie hingegen sollten zur Buße in Klosterhaft genommen werden, damit „wenigstens die körperliche Qual diese zu der ersehnten Gesundheit des Geistes zurückführen kann.“385 Deutlich ist die Verärgerung und die Ungeduld des Papstes wahrzunehmen.386 An die Stelle von langfristiger Bekehrung durch Predigt und Katechese ist der Wunsch nach schnellem Erfolg getreten, der zumindest auf den kirchlichen Gütern mit allen Mitteln erzielt werden sollte. Zum andern lebte auf der Insel das Volk der Barbaricini, das von den Vandalen aus Afrika vertrieben worden war.387 Außer dem Herzog Hospiton waren alle seine Untertanen noch keine Christen. Dies zu ändern war erklärtes Ziel des Missionsauftrags an Felix und Cyriacus, die sowohl von Hospiton als auch vom sardinischen Herzog Zabarda unterstützt werden sollten, der die Konversion des Volkes zur Bedingung für den Frieden mit den Barbaricini gemacht hatte.388 Die Unterschiede im Umgang mit dem Götzenkult auf den italischen Inseln zu demjenigen in England ist frappant. Während den Angelsachsen das Christentum – nach Gregors Überzeugung, die von seiner Unkenntnis der tatsächlichen Situation der englischen Kirche zeugt389– gänzlich unbekannt war und sie damit keine Schuld für ihren Unglauben traf, sah er die pagane Bevölkerung in Italien als widerspenstig und heilsunwillig an. Sie hätten seit Generationen ausreichend Gelegenheit gehabt, sich an den christlichen Glauben und seine Riten zu gewöhnen und zu konvertieren. Der Papst war zu keiner weiteren Tolerierung dieser Kulte bereit, da er auch langfristige Missionskonzepte, vergleichbar der niederschwelligen Annäherung an den christlichen Festkalender in England, für die Situation in Italien nicht als erfolgversprechend ansah. Hier setzte er auf schnell sichtbare und äußere Ergebnisse, die gegebenfalls durch Gewalt herbeizuführen waren.390 Anders als die Juden war die pagane Bevölkerung zudem 384
„[…] uerberibus cruciatibusque“ Greg.‑M. Ep. IX, 205 (CCSL 140A, 764, 36). cruciatus saltem eos corporis ad desideratam mentis ualeat reducere sanitatem.“ Greg.‑M. Ep. IX, 205 (CCSL 140A, 764, 39 f.). 386 In der Zwischenzeit hatten Felix und Cyriacus berichtet, dass der örtliche Richter das Götzenopfer gegen Dispenszahlungen duldete und diese Gelder auch nach erfolgter Taufe und damit dem Ende des Kultes einforderte, um seine Wahlschulden zu tilgen, vgl. Greg.‑M. Ep. V, 38 (CCSL 140, 312, 6–18). 387 Vgl. Müller, B., Führung, 290. 388 Vgl. Greg.‑M. Ep. IV, 25 (CCSL 140, 244, 1–15); IV, 27 (CCSL 140, 246, 1–17). 389 Vgl. Markus, World, 178. 390 Barbara Müller ist darin zu widersprechen, dass Gregor sein Predigtideal gerade nicht deshalb aufgab und die herrscherliche Zwangsbekehrung einführte, weil er die Langwierigkeit der Konversion einsah, vgl. Müller, B., Führung, 291. Diese Erkenntnis leitete ihn ebenso in seiner Mission der Angelsachsen sowie der jüdischen Pächter. Vielmehr hatte er die Hoffnung auf eine wahre, innerliche Bekehrung der paganen Bevölkerung in Italien aufgegeben und wollte mit Gewalt zumindest äußerlich für Ruhe und Ordnung sorgen. 385 „[…]
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nicht durch Gesetze geschützt, womit dem römischen Bischof keine Grenzen gesetzt waren.
6.2.3 Der Umgang mit christlichen Häresien Neben der Bekehrung neuer Glaubensgeschwister innerhalb und außerhalb Italiens beschäftigte sich Gregor ebenso mit christlichen Lehren und Gruppierungen, die jenseits der orthodoxen Kirche standen. Vergleichbar seinem missionarischen Vorgehen in England tolerierte er auch innerhalb der althergebrachten Kirche die Vielfalt liturgischer Traditionen, „weil ein unterschiedlicher Brauch der heiligen Kirche angesichts des einen Glaubens gar nicht schadet[e].“391 Solange also die Einheit des Glaubens gewahrt wurde, war Varianz möglich.392 Wurde aber von der dogmatischen Lehre der Kirche abgewichen, bestand eine große Ansteckungsgefahr, der möglichst frühzeitig durch Unterricht und Ermahnung entgegengewirkt werden musste.393 Bereits in seinen Moralia in Iob hatte Gregor keine konkreten und eindeutigen Kriterien für die rechtgläubige Lehre benannt.394 Im Kontext der Drei-KapitelStreitigkeiten395 stellte die Treue zu den ökumenischen Konzilen, insbesondere den beiden von Chalcedon (451) und Konstantinopel (553), eine natürliche Grenze dar.396 Bezüglich anderer Irrlehren verweist er im Register gleich zweimal auf die Häresiologien des Philaster397 und Augustins,398 die offensichtlich seine Standardwerke darstellten.399 Am häufigsten wandte sich Gregor gegen Simonie, die er als erste und zugleich schlimmste Häresie bezeichnete.400 Sie zerstöre das Priestertum von innen her, 391 „[…] quia in una fide nil officit sanctae ecclesiae consuetudo diuersa.“ Greg.‑M. Ep. I, 41 (CCSL 140, 48, 36 f., Hervorhebung durch die Verfasserin. 392 Paul Meyvaert benennt Gregors Ansatz treffend „Diversity in Unity“, Meyvaert, Diversity. 393 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 197 (CCSL 140A, 754, 40–42). Zur „Infektionsprophylaxe“ waren mehr noch als die Häretiker die Christen selbst zu unterrichten, um sie gegen Häresien zu „immunisieren“, vgl. Greg.‑M. Ep. II, 44 (CCSL 140, 135, 79–91). Der Aufgabe einer umgehenden Belehrung kam der römische Bischof selbst nach, wie seine Belehrung zweier konstantinopolitanischer Kleriker über die Höllenfahrt Christi beweist, vgl. Greg.‑M. Ep. VII, 15 (CCSL 140, 465, 1–466, 49). 394 Vgl. Kap. 5.6.2.1. 395 Diese werden aufgrund der im Vergleich zur Dogmatik überwiegenden (kirchen-)politischen Aspekte in Kap. 6.3.2.1 dargestellt. 396 Um sich auf die dort beschlossenen Kanones verlassen zu können, forderte Gregor bei den anderen Patriarchen Vergleichsexemplare für die textkritische Untersuchung der im päpstlichen scrinium aufbewahrten Konzilsakten an, vgl. z. B. Greg.‑M. Ep. VII, 31 (CCSL 140, 493, 26–50). 397 Filastr. Diversarum haereseon liber (CCSL 9, 217, 1–324, 105). 398 Aug. haer. (CCSL 46, 286, 1–345, 66). 399 Vgl. Greg.‑M. Ep. VII, 15 (CCSL 140, 466, 31–39); VII, 31 (CCSL 140, 493, 45–50), zu dieser Literaturgattung und ihrer Verbreitung in der Alten Kirche vgl. Mcclure, Handbooks. 400 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 58 (CCSL 140, 356, 44–47); IX, 214 (CCSL 140A, 773, 26–28); IX,
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welches in der Folge auch äußerlich Schaden nehmen werde.401 Durch sein hierarchisches Amtsverständnis, das den Vorgesetzten jeweils die Verantwortung für das geistliche Heil ihrer Untergebenen zukommen ließ,402 fürchtete er durch den Fehltritt der Kirchenführer auch einen Irrweg der Gemeinde und damit einen immensen Schaden für die ganze Kirche bzw. das Reich Gottes. Zudem argwöhnte er, dass die Unsitte zu einer Kandidatenauswahl nach finanzieller Potenz anstelle von geistlicher und moralischer Kompetenz führen würde.403 Besonders frappant war die Situation in Gallien,404 wo Gregor vermutete, dass jedes kirchliche Amt nur durch Bestechung erlangt werden konnte.405 Insofern wandte er sich nicht allein an die dortigen Bischöfe, sondern insbesondere an die unterschiedlichen fränkischen Königshäuser.406 Schon in seinen ersten Briefen an die fränkischen Herrscher im Spätsommer 595 sprach er die mutmaßlichen407 Missstände an und bat um Unterstützung.408 Vier Jahre später wartete er mit einer konkreten Strategie auf: Die Simonie sollte auf einer gesamtgallischen Synode, die von den weltlichen Herrschern einberufen werden sollte, verdammt und dadurch ausgerottet werden.409 Als „religiöses 216 (CCSL 140A, 777, 14–17). Zur Bezeichnung der Simonie als Häresie vgl. Leclerq, Jean, ‚Simoniaca haeresis‘, SGSG 1 (1947), 523–530. 401 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 58 (CCSL 140, 355, 31–33). Gregor führte zu diesem Thema gleich sechsmal eine jeweils fast wortgleiche allegorische Auslegung der Tempelaustreibung durch Jesus an: Dessen Wut gegen die Taubenverkäufer sei als Verurteilung derjenigen zu verstehen, die gegen Geldzahlungen den Heiligen Geist durch Handauflegung verliehen. Ebenso wie die Stühle (cathedrae) der Tempelhändler umstürzten, würden auch die Simonisten ihrer Macht beraubt werden, vgl. Greg.‑M. Ep. V, 58 (CCSL 140, 355, 33–40); V, 62 (CCSL 140, 365, 30–38); V, 63 (CCSL 140, 368, 38–46); VI, 7 (CCSL 140, 376, 33–41); IX, 219 (CCSL 140A, 784, 43–51); XI, 28 (CCSL 140A, 916, 67–74); vgl. auch Greg.‑M. Hom. Eu. I, 17, 13 (CCSL 142, 126, 268–127, 281). Zur Formelhaftigkeit dieser Auslegung und der daher zu übenden Vorsicht bzgl. der tatsächlichen Zustände in den jeweiligen Kirchen vgl. Markus, World, 172. 402 Vgl. Kap. 5.2.2.2. 403 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 216 (CCSL 140A, 777, 19–778, 36). 404 Zur gallischen Kirche im 6. Jahrhundert vgl. Pietri, L., Gaule; Pietri, L., Kirche. 405 So paraphrasiert er explizit die Berichte an ihn, vgl. Greg.‑M. Ep. V, 58 (CCSL 140, 355, 29–31). Die Simonie-Problematik sprach Gregor in vielen seiner Briefe nach Gallien an, vgl. Greg.‑M. Ep. V, 58 (CCSL 140, 355, 29–356, 47); V, 59 (CCSL 140, 360, 63–67); V, 60 (CCSL 140, 361, 39–362, 62); VIII, 4 (CCSL 140A, 520, 42–52); IX, 214 (CCSL 140A, 773, 24–39); IX, 216 (CCSL 140A, 777, 14–778, 45); IX, 219 (CCSL 140A, 783, 23–786, 95); IX, 220 (CCSL 140A, 792, 54–62); IX, 223 (CCSL 140A, 795, 24–31); XI, 38 (CCSL 140A, 2–28); XI, 40 (CCSL 140A, 936, 10–937, 25); XI, 42 (CCSL 140A, 939, 13–25); XI, 47 (CCSL 140A, 945, 5–946, 22); XI, 49 (CCSL 140A, 948, 9–949, 30); XI, 50 (CCSL 140A, 949, 6–950, 18); XI, 51 (CCSL 140A, 951, 22–33). 406 Es ist auffällig, dass die Hälfte aller nach Gallien versandten Briefe, in denen die Simonie thematisiert wird, an weltliche Herrscher gerichtet ist. 407 Robert Markus zieht die historische Aussagekraft der Vorwürfe Gregors in Zweifel, da dieser in seiner Anklage stets fast formelhaft auf Berichte über die Missstände verweist. Markus vermutet, dass Gregor das durchaus begründete Misstrauen gegen die gallische Kirche nach und nach auf alle entfernten und ihm unbekannten Kirchen ausweitete, vgl. Markus, World, 172. 408 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 60 (CCSL 140, 361, 39–362, 62). 409 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 214 (CCSL 140A, 774, 40–58); IX, 216 (CCSL 140A, 779, 65–73);
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Oberhaupt“410 hatten diese ebenso Einfluss auf die nationalen Konzile wie auf die Bischofswahlen, was Gregor weitgehend akzeptierte,411 Die rege Korrespondenz mit den fränkischen Königshöfen bezeugt zudem, wie groß das Misstrauen des römischen Bischofs in die gallischen Episkopen war.412 Trotz seiner beständigen Aufforderungen zur Veranstaltung eines Konzils413 und der Entsendung eines päpstlichen Legaten zu diesem Zweck414 scheint der Einfluss Gregors auf die Leitung der gallischen Kirche nicht ausgereicht zu haben: Die Synode fand nie statt.415 Den Vorwurf der Simonie richtete der Papst indes nicht nur nach Gallien, sondern klagte über dieselben Missstände in Antiochien,416 Ravenna,417 Korinth,418 Epirus,419 Jerusalem420 und Alexandrien.421 Ebenso tadelte er den Ämterkauf in Nordafrika,422 wo er zudem noch immer die häretische Gegenkirche der „Donatisten“ wähnte. Robert Markus und Yvette Duval haben zeigen können, dass diese Vorstellung nicht der Realität entsprochen hat.423 Anders als im 5. Jahrhundert gab es zu Gregors Zeit wohl keine parallelen Strukturen mehr, vielmehr sind einige donatistische Traditionen in die Mehrheitskirche IX, 219 (CCSL 140A, 789, 184–790, 199); IX, 220 (CCSL 140A, 792, 54–62); IX, 223 (CCSL 140A, 796, 52–797, 62) und Markus, World, 173 f.; Müller, B., Führung, 375. 410 Pietri, L., Kirche, 824. 411 Vgl. Pietri, L., Kirche, 808–812; Pietri, L., Gaule, 124. 412 Vgl. Müller, B., Führung, 375. Eine andere Erklärung bietet Robert Markus, der vielmehr allein die kirchenstrukturellen Bedingungen betrachtet, die die Bischöfe von Weisung und Leitung des Herrschers abhängig machte, vgl. Markus, World, 173. 413 Vgl. Greg.‑M. Ep. XI, 38 (CCSL 140A, 933, 22–28); XI, 40 (CCSL 140A, 936, 10–937, 25); XI, 47 (CCSL 140A, 945, 5–946, 22); XI, 49 (CCSL 140A, 1–949, 30); XI, 50 (CCSL 140A, 949, 2–950, 18); XI, 51 (CCSL 140A, 951, 22–33). 414 Vgl. Greg.‑M. Ep. XIII, 5 (CCSL 140A, 999, 63–74). 415 Vgl. Markus, World, 174. 416 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 136 (CCSL 140A, 687, 59–65). 417 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 24 (CCSL 140, 291, 8–18). Diese Mahnung fällt deutlich aus dem Rahmen des üblichen Formulars zur Eröffnung einer Bischofswahl. Es ist demnach ein konkreter Hintergrund anzunehmen, vgl. Pitz, Papstreskripte, 120 f. 418 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 62 (CCSL 140, 365, 23–26). 419 Vgl. Greg.‑M. Ep. VI, 7 (CCSL 140, 376, 30–55). 420 Vgl. Greg.‑M. Ep. XI, 28 (CCSL 140A, 916, 58–74). 421 Vgl. Greg.‑M. Ep. XIII, 42 (CCSL 140A, 1046, 2–1047, 25). Damit tadelte der römische Bischof alle anderen Patriarchen, mit Ausnahme des Bischofs von Konstantinopel, mit dem er ohnehin kein gutes Verhältnis pflegte, vgl. Kap. 6.3.2.2. Gregor nahm sein Ideal der brüderlichen admonitio demnach ernst. 422 Vgl. Greg.‑M. Ep. II, 39 (CCSL 140, 125, 10–16). 423 Vgl. Markus, Robert A., The Problem of „Donastism“ in the Sixth Century, in: Gregorio Magno e il suo Tempo, Bd. I: Studi storici, SEAug 33, Rom 1991, 159–166; Duval, Yvette, Grégoire et l’Église d’Afrique. Les „Hommes du Pape“, in: Gregorio Magno e il suo Tempo, Bd. I: Studi storici, SEAug 33, Rom 1991, 129–158. Zur Situation der afrikanischen Kirche im 6. Jahrhundert vgl. Modéran, Yves, Die Kirchen und die byzantinische Rückeroberung A. Afrika, in: Pietri, L. (Hg.), Der lateinische Westen und der byzantinische Osten (431–642), GCh 3, Freiburg/Basel/Wien 2001, 749–766.
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Nordafrikas integriert worden.424 Erneut zeigt sich die päpstliche Unkenntnis der abgelegenen Kirchen. Nichtsdestotrotz ging Gregor von der Existenz dieser „häretischen Religion“425 aus und traf Vorkehrungen zu deren Bekämpfung. Die afrikanische Kirche unterschied sich von den anderen Gegenden im Westen vor allem in ihrer Organisationsstruktur. Die Leitung der einzelnen Provinzen oblag einem Primas, dessen Amt – mit Ausnahme von Karthago – nicht an einen festen Bischofssitz gebunden war, sondern nach Dienstalter bestimmt wurde.426 Diese flexible Struktur akzeptierte und bestätigte Gregor nur zähneknirschend, wobei er zumindest „donatistische“ Bischöfe kategorisch vom Primasamt ausschloss.427 Obwohl der Primas von Karthago eine gewisse Autorität über die übrigen Provinzen Afrikas innehatte und Gregor eine freundschaftliche Korrespondenz mit ihm pflegte428, machte er ihn nicht zum päpstlichen Vikar. Vielmehr setzte er erneut auf staatliche Unterstützung und band den Exarchen sowie den Prätorianerpräfekten in den Kampf gegen „die Feinde der Kirche“429 ein.430 Die weltlichen Amtsträger erinnerte er wie gewohnt an die Rechenschaft, die sie im Jüngsten Gericht für ihre Untertanen ablegen werden müssen.431 Das päpstliche Vorgehen gegen Häretiker in Afrika lässt sich in drei Phasen unterteilen: Anfangs reagierte Gregor auf konkrete Vorwürfe gegen simonistische „Donatisten“ und verfolgte vornehmlich den Irrweg der Simonie, wogegen eine Synode Abhilfe schaffen sollte.432 Bezüglich der Irrlehre forderte er die Bischöfe zur Unterrichtung und Belehrung der Christen auf, um ihrer Apostasie vorzubeugen.433 Im Sommer 594 gelangte der Bericht des Bischofs Paul nach Rom, der die bisherigen Vermutungen434 über „donatistische“ Wiedertaufen und Expansio424 Vgl. Markus, World, 192; Markus, Problem, 161–164; Richards, Leben, 202–204. Luce Pietri spricht von „einer Art Osmose“ der beiden Kirchen, Pietri, L., Westen, 916. 425 „[…] haeretica religionis“ Greg.‑M. Ep. I, 72 (CCSL 140, 80, 8). 426 Vgl. Modéran, Afrika, 753–755. 427 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 75 (CCSL 140, 83, 8–84, 21). Im Brief an den afrikanischen Exarchen bekannte Gregor ganz offen, dass er eine solide und verlässliche Ämterfolge wie in Italien bevorzugt hätte, vgl. Greg.‑M. Ep. I, 72 (CCSL 140, 80, 14–81, 21). 428 Vgl. Greg.‑M. Ep. II, 40 (CCSL 140, 127, 1–1239, 62); V, 3 (CCSL 140, 268, 1–269, 27); VI, 19 (CCSL 140, 389, 1–22); VI, 63 (CCSL 140, 437, 1–439, 61); VII, 32 (CCSL 140, 495, 1–496, 19); VIII, 31 (CCSL 140A, 554, 1–555, 34); X, 20 (CCSL 140A, 850, 1–851, 46); XII, 1 (CCSL 140A, 967, 1–968, 40) und Pietri, L., Westen, 915. 429 „[…] inimicis ecclesiae“ Greg.‑M. Ep. I, 72 (CCSL 140, 80, 3). 430 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 72 (CCSL 140, 80, 1–81, 32); IV, 7 (CCSL 140, 223, 1–21); IV, 32 (CCSL 140, 251, 1–252, 24) und Müller, B., Führung, 189 f. 292. 431 Vgl. Greg.‑M. Ep. IV, 32 (CCSL 140, 252, 12–17). 432 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 82 (CCSL 140, 89, 2–7); II, 39 (CCSL 140, 125, 1–127, 57) und Duval, L’Eglise, 140. Bezeichnenderweise duldete Gregor die Zuteilung einzelner Gemeinden an „donatistische“ Kleriker, sofern die Formulierung „ex Donatistis“ nicht ehemalige Donatisten bezeichnet, vgl. Greg.‑M. I, 75 (CCSL 140, 84, 18–21), zur semantischen Offenheit vgl. Pietri, L., Westen, 916; Markus, World, 191 FN 11. 433 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 75 (CCSL 140, 84, 21–33). 434 Vgl. Greg.‑M. Ep. II, 39 (CCSL 140, 126, 33–49).
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nen zu bestätigen schien. Deshalb stieß Gregor nun ein schärferes Vorgehen an: Der Prätorianerpräfekt sollte die Härte des Gesetzes gegen die Häretiker umsetzen,435 wohingegen Gregor die Bischöfe Victor und Columbus inständig dazu aufforderte, umgehend eine Synode gegen die „Donatisten“ einzuberufen.436 Durch die frühzeitige Therapie dieser „Seelenkrankheit“ (animarum mors) sollte das Leben vieler Seelen gerettet werden, die ansonsten durch den sich ausbreitenden Frevel der Wiedertaufe getötet würden.437 Obwohl der gregorianischen Darstellung nach Yvette Duval nur eine beschränkte Aussagekraft bezüglich der tatsächlichen Umstände in Afrika zuzurechnen ist,438 wird dennoch deutlich, dass Gregor um das Seelenheil der afrikanischen Christen fürchtete und deren Bischöfe auf die Verantwortung ihnen gegenüber verpflichtete. Die letzte Phase der päpstlichen Einflussnahme in Nordafrika lässt sich als taktierende Zurückhaltung charakterisieren. Gregor lobte im Herbst 594 Dominicus von Karthago zwar für sein rigoroses Vorgehen gegen die „Donatisten“. Den dortigen Synodalbeschluss, alle Bischöfe, die diese Pflicht vernachlässigten, ihres Amtes zu entheben, schätzte er aber dennoch als zu radikal und als eine Gefahr für den Frieden mit den übrigen afrikanischen Provinzbischöfen ein.439 Zugunsten der Einheit der afrikanischen Kirche verzichtete Gregor ab sofort auf die konsequente Verfolgung der „Donatisten“, zumal er die Schilderungen des inzwischen exkommunizierten Bischofs Paul letztlich als Schutzbehauptung erkannt hatte.440 Der Terminus „Donatist“ war zur Diffamierung verkommen und entbehrte einer tatsächlichen Grundlage, weshalb Gregor ihn ab 596 gar nicht mehr verwendete.441 Eine deutlich dogmatischere Auseinandersetzung führte der römische Bischof über zwei weitere, im ausgehenden 6. Jahrhundert nur noch marginal vorhandene Häresien. Die Bischöfe aus der Hiberia, dem heutigen Georgien, hatten sich mit der Frage an Gregor gewandt, wie mit konversionswilligen Nestorianern umzugehen sei. Insofern bei dieser christlichen Gruppe eine trinitarische Taufe vorauszusetzen war, riet er von einer erneuten Taufe ab. Stattdessen sollten diejenigen, die sich der Großkirche zuwenden wollten, durch Salbung, Handauflegung oder lediglich ein öffentlich gesprochenes Bekenntnis aufgenommen werden.442 Unverzichtbar war indes, dass die Konvertiten Nestorius sowie seine Lehre ver435
Vgl. Greg.‑M. Ep. IV, 32 (CCSL 140, 251, 2–252, 19). Vgl. Greg.‑M. Ep. IV, 35 (CCSL 140, 255, 24–28). 437 Vgl. Greg.‑M. Ep. IV, 35 (CCSL 140, 255, 5–33). 438 Vgl. Duval, L’Eglise, 143. 439 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 3 (CCSL 140, 268, 1–269, 27) und Müller, B., Führung, 292; Pietri, L., Westen, 917. 440 Vgl. Greg.‑M. Ep. VI, 36 (CCSL 140, 411, 33–45); VI, 62 (CCSL 140, 436, 2–18); VI, 64 (CCSL 140, 439, 2–32). 441 Vgl. Duval, L’Eglise, 153; Pietri, L., Westen, 917 f. 442 Vgl. Greg.‑M. Ep. XI, 52 (CCSL 140A, 952, 12–16). 436
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dammten und die kirchlichen Konzile anerkannten.443 Zur Vorbereitung sollten sie einen gründlichen Unterricht in der orthodoxen Christologie mit ihrer Zwei-Naturen-Lehre empfangen, deren Grundzüge Gregor seinen Amtskollegen anhand diverser biblischer Zeugnisse ausführlich darlegte.444 War dieses alles gewährleistet, sollten die Personen unter Berücksichtigung ihres alten Standes (ordo) in die Kirche aufgenommen werden, um ihnen die Rückkehr möglichst leicht und entbehrungsarm zu gestalten.445 Sofern die Treue zu den kirchlichen Konzilen gegeben war, erwies sich das Vorgehen als äußerst konziliant. Die andere, eher inhaltliche Auseinandersetzung bot sich Gregor im Kontext der Anklagen wegen Häresie gegen den Chalcedonenser Presbyter Johannes und zwei isaurische Mönche, von denen einer, Athanasius von Lykaonien, ebenfalls Priester war. Ihren Anfang nahm die nur schwer zu greifende Episode damit, dass die drei in Konstantinopel trotz ihres Standes mit Schlägen gezüchtigt wurden, weshalb Gregor im Juli 593 den dortigen Patriarchen Johannes tadelte.446 Ob zu diesem Zeitpunkt bereits der Vorwurf der Häresie im Raum stand, ist heute nicht mehr zu sagen. In den folgenden Jahren muss es jedenfalls in der Kaiserstadt zu einer Verurteilung der Isaurier wegen Pelagianismus und gegen den Presbyter Johannes als Anhänger der „Marcianisten“ gekommen sein.447 Welche Lehre sich dahinter verbarg, wussten nicht einmal die Ankläger, wie Gregor beständig betonte.448 Johannes der Presbyter appellierte an den Papst,449 der ihn auf einer römischen Synode, wohl derjenigen von 595,450 vom Verdacht der Häresie freisprach. Im Anschluss sandte er ihn mit Empfehlungsschreiben an den Patriarchen von Konstantinopel, den Kaiser und dessen Verwandten Theoctistus zurück. In diesen bestätigte er nach gründlicher Prüfung der Akten sowie der Anhörung des Johannes, die ein umfassendes Bekenntnis zu den kirchlichen
443 Vgl. Greg.‑M. Ep. XI, 52 (CCSL 140A, 955, 82–87). Ein ähnliches Vorgehen schlug Gregor auch dem Bischof von Thessaloniki vor, in dessen Gemeinde ein Presbyter des Nestorianismus beschuldigt worden war, vgl. Greg.‑M. Ep. XI, 55 (CCSL 140A, 960, 29–42). 444 Vgl. Greg.‑M. Ep. XI, 52 (CCSL 140A, 953, 30–955, 81). 445 Vgl. Greg.‑M. Ep. XI, 52 (CCSL 140A, 955, 87–956, 97). Es ist also zu vermuten, dass sich unter den Konvertiten auch Kleriker befanden, vgl. Müller, B., Führung, 389; Modesto, Nachfolger, 226 f. 446 Vgl. Greg.‑M. Ep. III, 52 (CCSL 140, 197, 7–18). 447 Vgl. Greg.‑M. Ep. VI, 25 (CCSL 140, 385, 20–28). 448 Vgl. Geg.‑M. Ep. VI, 15 (CCSL 140, 384, 15–385, 18); VI, 16 (CCSL 140, 386, 17–19); VI, 17 (CCSL 140, 387, 11–13). 449 Der römische Bischofsstuhl fungierte in der Zeit noch als letzte Berufungsinstanz in Klerikerverfahren, obwohl Justinian dieses bereits gesetzlich ausgeschlossen hatte, vgl. Iust. Nouell. 123, 22 (CIC III, 611 f.); Demacopoulos, George E., Gregory the Great and the SixthCentury Dispute over the Ecumenical Title, TS 70 (2009), 600–621, hier: 604 FN 19. 450 In den überlieferten Synodalbeschlüssen wird dieser Fall allerdings nicht erwähnt, vgl. Dudden, Place II, 207.
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Lehren und Konzilen beinhalteten, dessen Rechtgläubigkeit und bat um dessen Schutz vor weiteren Verleumdungen.451 Schwieriger fiel die Entkräftung der Vorwürfe gegen die Isaurier. Bei Athanasius war ein Kodex offensichtlich häretischen Inhaltes gefunden worden.452 Zudem verwies Johannes von Konstantinopel auf Widersprüche gegen Anathematismen des Konzils von Ephesus (431), die Gregor in den römischen Akten allerdings nicht finden konnte.453 Die Klärung dieser Sachlage sowie die Rücksprache mit dem Patriarchat in Konstantinopel nahmen einige Zeit in Anspruch, zumal Johannes von Konstantinopel im September 595 verstarb und die offizielle Korrespondenz mit seinem Nachfolger Cyriacus noch lange stockte. Schließlich bestätigte Gregor dem Athanasius die Rechtgläubigkeit, nachdem sich dieser zu allen fünf Konzilen bekannt hatte.454 Die Konflikte um Johannes und Athanasius waren allerdings nicht nur dogmatischer Natur, sondern sind bereits Vorboten des Streits zwischen Rom und Konstantinopel um den Titel des Ökumenischen Patriarchen, der kurze Zeit später eskalierte.455 Zuletzt ist noch die vermeintlich häretische Frömmigkeitspraxis zu nennen, gegen die Serenus, der Bischof von Marseille, kämpfte.456 In der Abwehr gegen 451 Vgl. Greg.‑M. Ep. VI, 15 (CCSL 140, 384, 1–385, 34); VI, 16 (CCSL 140, 385, 1–386, 44); VI, 17 (CCSL 140, 387, 1–20). 452 Gregor identifizierte ihn als manichäisch, die Glossierung aber als pelagianisch, vgl. Greg.‑M. Ep. VI, 14 (CCSL 140, 382, 4–383, 8). 453 Er vermutete eine bewusste Fälschung durch die Kirche von Konstantinopel, vergleichbar zur vermeintlichen Fälschung des 28. Kanons von Chalcedon, und bat für den textkritischen Vergleich den comes Narses um Zusendung der ältesten Handschriften, vgl. Greg.‑M. Ep. VI, 14 (CCSL 140, 383, 29–384, 41). Zur Streitfrage des Kanon 28 vgl. Flusin, Bischöfe, 549–551; Dagron, Naissance, 476–481; Michel, Anton, Der Kampf um das politische oder petrinische Prinzip der Kirchenführung, in: Grillmeier, A./Bacht, H. (Hgg.), KonChal 2: Entscheidung um Chalkedon, Würzburg 1953, 491–562; Martin, Thomas Owen, The Twenty Eighth Canon of Chalkedon. A Background Note, in: Grillmeier, A./Bacht, H. (Hgg.), KonChal 2: Entscheidung um Chalkedon, Würzburg 1953, 433–458; Hermann, Emil, Chalkedon und die Ausgestaltung des konstantinopolitanischen Primats, in: Grillmeier, A./Bacht, H. (Hgg.), KonChal 2: Entscheidung um Chalkedon, Würzburg 1953, 459–490. 454 Vgl. Greg.‑M. Ep. VI, 65 (CCSL 140, 440, 1–442, 52). Interessanterweise bestand Gregor auf den von Pelagius bestrittenen Seelentod Adams und die in ihm begründete Sünde der Menschen, vgl. Greg.‑M. Ep. VI, 14 (CCSL 140, 383, 8–21); VII, 31 (CCSL 140, 494,56–77). Trotz seiner mitunter zumindest „semipelagianisch“ anmutenden Werkelehre bekannte er: „Denn wenn wir durch Adam nicht in der Seele gestorben sind, […] sind wir umsonst erlöst.“ (Si enim nos per Adam in anima mortui non sumus, […] uacue redempti sumus) Greg.‑M. Ep. VI, 14 (CCSL 140, 383, 28 f.). 455 Vgl. dazu Kap. 6.3.2.2. Gregor ließ die Angelegenheit selbst nach dem Wechsel im Konstantinopler Patriarchat nicht ruhen und versuchte, sowohl den neuen Amtsträger durch eine Warnung vor Verleumdungen gegen Johannes und Athanasius zu beeinflussen, als auch die Patriarchen von Antiochien und Alexandrien, auf seine Seite zu ziehen, vgl. Greg.‑M. Ep. VII, 4 (CCSL 140, 446, 1–447, 39); VII, 31 (CCSL 140, 493, 51–495, 96). 456 Zu diesem Fall vgl. Markus, Robert A., The Cult of Icons in Sixth-Century Gaul, JTS 29 (1978), 151–157; Chazelle, Celia Martin, Pictures, books and the illiterate: Pope Gregory
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den paganen Götzendienst hatte er seinen Eifer gegen bildliche Darstellungen in christlichen Kirchen457 gerichtet und diese zerstört. Gregor erkannte zwar dessen Absicht an, die Anbetung menschlicher Schöpfungen zu verhindern.458 Dennoch tadelte er ihn dafür, dass er den katechetischen Gewinn der Bilder (imagines/ picturae) nicht erkannt und genutzt hatte: „Denn ein Bild wird deshalb in den Kirchen angebracht, damit diejenigen, die nicht lesen können, wenigstens mit dem Blick auf die Wände lesen, was sie in den Büchern nicht lesen können.“459 Der Konflikt eskalierte noch weiter, auch weil Serenus die Aussagen Gregors in Zweifel zog.460 Ein Großteil der Gemeinde hatte sich abgespalten.461 Diese sollte Serenus zurückgewinnen mit einer aufrichtigen Entschuldigung, der Erlaubnis, neue Bilder herzustellen, und nicht zuletzt einem gründlichen Unterricht über den rechten Gebrauch von Bildern.462 Diese durften, wie Gregor abermals betonte, allein pädagogischen Zwecken dienen, um Analphabeten die biblischen Geschichten nahezubringen. Verehrt werden (adorare/prosternare) hingegen durften die Darstellungen nicht, sondern allein die Dreieinigkeit. Mit dieser Marschrichtung, die den späteren Umgang der Kirche mit Bildern entschieden prägte,463 bewies Gregor erneut, wie sehr er das pastorale Handeln am geistlichen Fortschritt und Nutzen des Nächsten orientiert wissen wollte. Rituale, Liturgien und pädagogische Hilfsmittel durften frei gewählt und den jeweiligen örtlichen Begebenheiten angepasst werden, solange sie den rechten Glauben unterstützen. Diesen wiederum sah er in den ökumenischen Konzilen ausreichend definiert, weshalb er nur selten dogmatische Erläuterungen und Diskussionen in seine Briefe aufnahm.464 Wer sich zur konziliaren Lehre bekannte, der glaubte in rechter Weise.
I’s letters to Serenus of Marseille, Word and Image 6 (1990), 138–153; Müller, B., Führung, 368–370. 457 Robert Markus vermutet eine ikonostasenartige Altarraumgestaltung durch östliche Einflüsse, vgl. Markus, Cult, 154 f. 458 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 209 (CCSL 140A, 768, 10 f.). 459 „Idcirco enim pictura in ecclesiis adhibetur, ut hi qui litteras nesciunt saltem in parietibus uidendo legant, quae legere in codicibus non ualent.“ Greg.‑M. Ep. IX, 209 (CCSL 140A, 768, 12–14). Zur vergleichbaren östlichen Bildtheologie, vgl. Lange, Günther, Bild und Wort. Die katechetischen Funktionen des Bildes in der griechischen Theologie des sechsten bis neunten Jahrhunderts, Ikon Bild + Theologie, Paderborn 21999, 13–16. 460 Vgl. Greg.‑M. Ep. XI, 10 (CCSL 140A, 873, 5–9). 461 Vgl. Greg.‑M. Ep. XI, 10 (CCSL 140A, 874, 36–38). 462 Vgl. Greg.‑M. Ep. XI, 10 (CCSL 140A, 874, 40–875, 62). 463 Vgl. Thümmel, Hans Georg, Die Konzilien zur Bilderfrage im 8. und 9. Jahrhundert. Das 7. Ökumenische Konzul in Nikaia 787, KonGe.D, Paderborn 2005, 79–86.215–230.285– 289.301–303. 464 Vgl. Eich, Bischof, 136.
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6.2.4 Individuelle Seelsorge Neben den Anweisungen an die Bischöfe und das übrige pastorale Personal, die den geistlichen Fortschritt der Untergebenen fördern sollten, enthält das Briefregister auch Schreiben an Privatpersonen, um die sich Gregor ganz persönlich sorgte. Er leistete tröstenden Beistand für Kranke und Trauernde, die er dazu mahnte, ihr Leid als von Gott gegeben anzunehmen. Ebenso trat er als geistlicher Lehrer auf, wenn er den jeweiligen Adressaten auf Fehler hinwies und zur Besserung aufforderte.
6.2.4.1 Trost für Kranke und Trauernde Da Gregor unter seiner Gichterkrankung selbst stark litt,465 fiel es ihm nicht schwer, leidenden Briefempfängern gegenüber Mitgefühl zu empfinden und die Tugend der compassio zu üben. Entsprechende Trostworte richtete er sowohl an Mitbischöfe466 als auch an Privatpersonen aus dem Laienstand.467 Neben der reinen Anteilnahme bot der römische Bischof seinen Adressaten häufig theologische Deutungen der Leiden an, die helfen sollten, das Schicksal anzunehmen. In diesen griff er zumeist auf die vertraute Soteriologie zurück: Die Krankheit sei als Sühne und reinigendes Moment anzusehen,468 gebe eindrücklichen Anstoß zur Buße469 und könne so durch körperliche Schmerzen die Seele heilen. Durch endliches Leid werde ewige Freude gewonnen.470 Eulogius von Alexandrien, der von seinem Augenleiden genesen war, überlieferte er Glückwünsche und betonte die Bedeutung der Heilung für dessen Gemeinde: „Wir wissen nämlich, dass Euer Leben durch den Beistand des allmächtigen Gottes das Heil vieler bedeutet. Denn dann segeln Seemänner in den Fluten sicher, wenn ein gelehrter und erfahrener Kapitän am Steuer sitzt.“471 465 Vgl. u. a. Greg.‑M. Ep. IX, 148 (CCSL 140A, 698, 9–699, 12); IX, 232 (CCSL 140A, 814, 4–10); XI, 20 (CCSL 140A, 890, 7–20). Er äußerte letztlich gar die Sehnsucht nach dem Tod, vgl. Greg.‑M. Ep. XIII, 24 (CCSL 140A, 1025, 9–14). Zur Krankengeschichte Gregors und seiner Deutung derselben vgl. Hack, Krankheit, 37–77.105–139. 466 Vgl. Greg.‑M. Ep. XII, 1 (CCSL 140A, 967, 7–968, 37); XIII, 43 (CCSL 140A, 1047, 2–1048, 16). 467 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 102 (CCSL 140A, 654, 2–17); IX, 232 (CCSL 140A, 814, 2–7); XIII, 24 (CCSL 140A, 1025, 2–9). 468 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 102 (CCSL 140A, 654, 3–17). 469 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 232 (CCSL 140A, 814, 17–815, 25); XII,1 (CCSL 140A, 967, 12–968, 37). 470 Vgl. Greg.‑M. Ep. XIII, 24 (CCSL 140A, 1025, 6–9). In ähnlicher Weise sprach Gregor auch Verleumdeten und Verarmten seinen Trost zu, vgl. Greg.‑M. Ep. VII, 27 (CCSL 140, 483, 2–484, 25); X, 12 (CCSL 140A, 838, 2–839, 17); XI, 1 (CCSL 140A, 867, 2–859, 38); XI, 27 (CCSL 140A, 902, 8–903, 44); XIII, 23 (CCSL 140A, 1024, 9–26). 471 „Scimus enim quia in omnipotentis Dei adiutorio multorum salus est uita uestra. Nam tunc inter fluctus nautae securi nauigant, quando gubernator doctus atque artifex ad claui regimen sedet.“ Greg.‑M. Ep. XIII, 43 (CCSL 140A, 1048, 13–16).
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Zu Beginn seines Pontifikats lobte Gregor den Ravennater Bischof Johannes für die Fürsorge an einem erkrankten Episkopen. Jener hatte Castorius, den Bischof Riminis, an dessen Krankenbett besucht und ihn schließlich zur medizinischen Versorgung in Ravenna beherbergt.472 Diese Danksagung, die im Briefregister ein Unikum darstellt, unterstrich der Papst mit den Beweggründen für dieses Werk der Nächstenliebe: Jesus hatte es geboten,473 Gott gewönne man auf diese Weise als Schuldner (debitor) und schließlich werde nach Mt 25,40 im Kranken Christus selbst gedient.474 Weit über die compassio hinaus sorgte Gregor im Jahr 601 für seinen alten Freund Marinianus aus den Tagen im Andreaskloster, der inzwischen Bischof von Ravenna geworden und schwer an Hämatemesis (vomitus sanguinis) erkrankt war. Ihm schickte der Papst Ärzte und Therapieempfehlungen, lud ihn zur Pflege nach Rom ein475 und untersagte ihm schließlich aus freundschaftlicher Sorge gar die asketische Fastenübung: „Weder rede ich Dir zu noch ermahne ich Dich, sondern ich befehle Dir strikt, keinesfalls das Fasten zu wagen.“476 In ähnlicher Weise sorgte sich Gregor um Trauernde, indem er ihnen sein Mitleid aussprach477 und zugleich an die christliche Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod erinnerte.478 Den Bischof Aregius, der um nahe Angehörige trauerte, mahnte er zudem, möglichst bald die pastorale Arbeit wieder aufzunehmen. Ein langer Trauerprozess widerspräche der eigenen Lehre von der patria caelestis. Wenn die Untergebenen in der Gemeinde erkennen müssten, dass Lehre und Leben des Bischofs nicht übereinstimmten, geriete ihr Vertrauen zu ihm und damit zu Gott in Gefahr.479 Trotz aller Empathie für den Mitbischof behielt Gregor dennoch dessen Verantwortung für das Seelenheil der Gemeindeglieder im Blick.480 Es fällt auf, dass fast alle Briefe der persönlichen Anteilnahme an Krankheit, Verleumdung und Trauer erst 599 oder später geschrieben wurden, also in einer Zeit, in der Gregor einerseits sich in sein Amt eingelebt und eine gewisse Routine entwickelt hatte und in der andererseits der temporäre Friedenschluss mit den 472
Vgl. Greg.‑M. Ep. II, 25 (CCSL 140, 111, 4–7). Vgl. Greg.‑M. Ep. II, 25 (CCSL 140, 111, 2–4). 474 Vgl. Greg.‑M. Ep. II, 25 (CCSL 140, 111, 7–11). 475 Vgl. Greg.‑M. Ep. XI, 21 (CCSL 140A, 891, 2–892, 27). 476 „[…] nec hortor nec admoneo sed stricte praecipio ut ieiunare minime praesumas.“ Greg.‑M. Ep. XI, 21 (CCSL 140A, 892, 28 f.). Diese Empfehlung verschärfte er zwei Jahre später nochmals, vgl. Greg.‑M. Ep. XIII, 28 (CCSL 140A, 1029, 3–1030, 15). 477 An den gallischen Bischof Aregius schrieb er: „Weil die Liebe (caritas) uns aus zweien zu einem vereint, empfinden wir, dass unser Herz sich in eurem Leid besonders aufzehrt. ([…] quia nos de duobus caritas unum fecit, cor nostrum in uestris specialiter uri tribulationibus sentiremus.) Greg.‑M. Ep. IX, 220 (CCSL 140A, 790, 4 f.). 478 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 11 (CCSL 140, 13, 7–13); IX, 218 (CCSL 140A, 781, 3–782, 17); IX, 220 (CCSL 140A, 790, 5–791, 14). 479 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 220 (CCSL 140A, 791, 14–792, 40). 480 Vgl. auch Greg.‑M. Ep. X, 20 (CCSL 140A, 850, 2–851, 46). 473
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Langobarden für eine weitgehende politische Ruhe gesorgt hatte. Erst in dieser Situation, in der der Papst zudem nach eigener Auskunft durch seine Krankheit ans Bett gefesselt war,481 fand er die Zeit für persönliche, empathische Seelsorge. Ob er zusätzlich Seelsorge im direkten Gespräch geübt hat, wie er es z. B. in der Pastoralregel gefordert hatte,482 lässt sich aus Gründen der fehlenden Quellen nicht mehr sagen.
6.2.4.2 Mahnung zur rechten Lebensführung Wann immer Gregor seine Ansprüche an das pastorale Amt formulierte, betonte er die Bedeutung der admonitio und der correctio in der Seelenleitung.483 Nach seiner festen Überzeugung war es nicht ausreichend, sich in der Taufe einmalig dem christlichen Glauben zuzuwenden. Vielmehr war ein lebenslanger Prozess der immerwährenden Reue und der Ausrichtung auf den dreieinigen Gott und dessen Reich erforderlich.484 Auf diesem Weg sei es notwendig, durch einen geistlich Fortgeschrittenen begleitet zu werden, der auf Fehler hin- und auf ein gottgefälliges Leben zurückweist.485 Dieser Aufgabe versuchte er selbst in seiner Korrespondenz nachzukommen, wobei er sich vornehmlich der gesellschaftlichen Elite zuwandte.486 Die intensivste geistliche Betreuung ließ er seinem Freund Venantius, einem besonders einflussreichen Mann Siziliens, zukommen. Dieser hatte sich einst für ein monastisches Leben entschieden, das er aber schon bald wieder aufgab und die Patrizierin Italica heiratete. Obwohl dies alles noch vor Gregors Erhebung zum Papst geschehen war, fühlte dieser sich dennoch von Amts wegen zum Tadel verpflichtet.487 Mit zahlreichen Schriftzitaten und sogar einer Seneca-Sentenz488 versuchte er – letztendlich erfolglos –, ihn zur Rückkehr in den Mönchsstand zu bewegen und ihm somit den Zugang zum Heil aufzuzeigen. Hin- und hergerissen zwischen der freundschaftlichen Liebe und der Verachtung über die Entscheidung für die Welt und gegen das monastische Leben489 fand sich der 481 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 232, 814, 4–7) und Hack, Krankheit, 63–65; Müller, B., Führung, 365 f. 482 Vgl. Kap. 5.2.1.1. 483 Vgl. Kap. 5.2.1.1; 5.3.1.1; 5.5.1.1; 5.6.2.1. 484 Vgl. Dagens, Conversion; Demacopoulos, Ascetic, 140; Straw, Perfection, 194–235. 485 Ähnliche Aussagen begegnen im östlichen Mönchtum, vgl. Müller, A., Konzept, 205–247. 486 Dies erforderte ein wohlüberlegtes und sensibles Gleichgewicht aus pastoraler Strenge und höfischer Demut, das Erich Caspar im Vergleich zum Vorgehen mit anderen gesellschaftlichen Schichten als „zweierlei Maß“ kritisiert, Caspar, Geschichte II, 421. 487 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 33 (CCSL 140, 39, 2–40, 22). 488 „Mit Freunden ist alles zu prüfen, zuerst aber diese selbst.“ (cum amicis omnia tractanda sunt, sed prius de ipsis) Greg.‑M. Ep. I, 33 (CCSL 140, 41, 64) vgl. Sen. Ep. Mor. I, 3, 2 (Reynolds 1, 4, 11 f.): Tu vero omnia cum amico delibera, sed de ipso prius. Dieses Klassikerzitat stellt eine Rarität im Briefregister Gregors dar, vgl. Caspar, Geschichte II, 421 FN 4. 489 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 33 (CCSL 140, 41, 67–76).
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römische Bischof dennoch mit seinem Misserfolg ab.490 Trotz weiterer eklatanter Vorfälle491 hielt er den Kontakt mit der noblen Familie aufrecht. So tröstete er bei Krankheit und verwies auf die Jenseitsorientierung.492 Sein Hauptanliegen war aber stets, den Freund zur Umkehr und damit zur Rückkehr zum Mönchtum zu bewegen. Das gemeinsame Gichtleiden deutete er entsprechend als Anlass zur Buße oder – bei ausbleibender Einsicht – als Vorgeschmack auf die ewigen Strafen.493 Als sich der Gesundheitszustand des Venantius so stark verschlechterte, dass der Tod nahe schien, wandte sich Gregor zusätzlich an den Syracuser Bischof, damit auch dieser auf Venantius einwirke: „Eure Heiligkeit darf also als erste diese Sorge nicht vernachlässigen, dass sie sich um dessen Seele kümmert durch Ermahnen, Bitten, Ankündigen des fürchterlichen Gerichtes Gottes und Verheißen seiner unaussprechlichen Barmherzigkeit, damit er [scil. Venantius] wenigstens am Lebensende zu seinem Mönchsgewand zurückkehrt, dass ihm nicht im Jüngsten Gericht das Gewand so großer Schuld erwartet.“494
Neben der Sorge um das Seelenheil des Vaters fühlte sich Gregor ebenso für die hinterbliebenen Töchter Barbara und Antonina verantwortlich. Ihre Versorgung hatte er seinem Freund zugesagt, wobei dieser zusätzlich am Kaiserhof um Schutz und Unterstützung für die Waisen gebeten hatte.495 Neben der materiellen Versorgung kümmerte sich der Papst um die geistliche Entwicklung der beiden jungen Frauen. Sie planten im Jahr 601 eine Reise nach Rom zum Grab Petri, was Gregor sehr begrüßte.496 Im gleichen Atemzug mahnte er sie zum fleißigen Bibelstudium und tadelte sie für die kleine Lüge, die Mäntel, die sie ihm geschickt hätten, seien von ihnen selbst bestickt worden.497 490 Dies widersprach seiner sonstigen Praxis, abtrünnige und flüchtige Asketen mit Gewalt ins Kloster zurückzubringen, vgl. z. B. Greg.‑M. Ep. II, 26 (CCSL 140, 112, 3–20) und Caspar, Geschichte II, 421; Müller, B., Führung, 192 f. 491 Mit Italica geriet Gregor im Jahr 493 in einen nicht genauer zu eruierenden Streit im Kontext der Armenfürsorge durch das Patrimonium, in dem er erneut äußerst konziliant agierte und auf einen Gerichtsprozess verzichtete, vgl. Greg.‑M. Ep. III, 57 (CCSL 140, 205, 2–206, 33) und Dudden, Place II, 194; Müller, B., Führung, 305. Venantius hingegen überwarf sich mit dem Syracuser Bischof Johannes, der aufgrund von Gewaltanwendungen und Drohungen durch Venantius sich fortan weigerte, dessen Spenden zu akzeptieren und eine Messe auf dessen Anwesen zu feiern. Gregor gestand Johannes zwar zu, im Recht zu sein, forderte aber dennoch von beiden die Versöhnung ein, vgl. Greg.‑M. Ep. VI, 42 (CCSL 140, 414, 2–415, 27); VI, 43 (CCSL 140, 415, 2–416, 18) und Caspar, Geschichte II, 422 f. 492 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 232 (CCSL 140A, 814, 2–815, 25) und Kap. 6.2.4.1. 493 Vgl. Greg.‑M. Ep. XI, 18 (CCSL 140A, 887, 2–888, 45). 494 „Vestra igitur sanctitas primam quam debet curam neglegere non debet, ut de anima eius cogitare debeat exhortando, rogando, Dei terribile iudicium proponendo, ineffabilem eius misericordiam promittendo, ut ad habitum suum redire uel in extremum debeat, ne ei reatus tantae culpae in aeterno iudicio obsistat.“ Greg.‑M. Ep. XI, 25 (CCSL 140A, 896, 7–12). 495 Vgl. Greg.‑M. Ep. XI, 23 (CCSL 140A, 894, 8–19); XI, 25 (CCSL 140A, 896, 12–897, 46); XI, 59 (CCSL 140A; 965, 2–966, 15) und Müller, B., Führung, 392 f. 496 Vgl. Greg.‑M. Ep. XI, 59 (CCSL 140A, 966, 12–20). 497 Vgl. Greg.‑M. Ep. XI, 59 (CCSL 140A, 966, 23–30).
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Seine Sorge um einen geistlichen Fortschritt ließ der römische Bischof auch anderen Personen, insbesondere am Kaiserhof in Konstantinopel, angedeihen. Der kaiserlichen Kammerdienerin sagte er die Lossprechung von den gebeichteten Sünden zu, warnte sie aber zugleich vor einer falschen Sicherheit und der daraus resultierenden Nachlässigkeit.498 Den kaiserlichen Leibarzt forderte er zu einer regelmäßigen Lesung der Bibel auf.499 Für ein eifriges Studium hingegen lobte er die Schwester des Kaisers.500 Dieselbe bat er, für eine gute christliche Erziehung der Prinzen zu sorgen und auch Bericht von den geistlichen Studien und Fortschritten der Kaiserin zu erstatten.501 In ähnlicher Weise kümmerte sich Gregor um die religiöse Erziehung am langobardischen Königshof, dessen Thronfolger trotz der homöischen Tradition des Volkes und der Sympathie der Königin für die schismatische Partei im Drei-Kapitel-Streit zur Freude Gregors katholisch getauft wurde.502 Darüber hinaus enthält das Briefregister die geistliche Ermahnung einer Patrizierin, die sich über die Maße über Beleidigungen erregte und nicht die Tugenden der Geduld und Nachsicht übte,503 Mahnungen zur Jenseitsorientierung504 sowie Zeugnisse eines exegetischen Unterrichts zu ausgewählten Bibeltexten.505 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich Gregor trotz der hohen Anforderungen seines Amtes für die individuelle Seelsorge Zeit nahm. Diese ließ er vornehmlich der gesellschaftlichen Elite, insbesondere in den Herrschaftspalästen, zukommen. Die Breite der Gemeinde behielt er dabei aber ebenso im Blick, indem er sie in seinen Anweisungen den jeweiligen Bischöfen anempfahl. Die Sorge für das geistliche Wohl jedes einzelnen Christen stellte er dabei mitunter über das Wohlempfinden des Hirten, wie die Mahnung an Bischof Aregius beweist, der schon bald nach der Trauerphase ins Amt zurückkehren sollte. 498
Vgl. Greg.‑M. Ep. VII, 22 (CCSL 140, 472, 2–474, 56). aber die Heilige Schrift etwas Anderes als ein Brief des allmächtigen Gottes an sein Geschöpf? Und sicherlich, wenn sich Eure Herrlichkeit wo auch immer befände und ein Schreiben des irdischen Kaisers empfinge, würde sie nicht zögern, nicht ruhen, den Augen keinen Schlaf geben, bevor sie nicht erfahren hätte, was der irdische Kaiser ihr geschrieben hätte? Der Kaiser des Himmels, der Herr über Menschen und Engel hat Dir für Dein Leben seine Schreiben gesandt, und dennoch weigert Ihr Euch, ehrbarer Sohn, genau diese Schreiben eifrig zu lesen.“ (Quid autem est scriptura sacra nisi quaedam epistula omnipotentis Dei ad creaturam suam? Et certe sicubi esset uestra gloria alibi constituta et scripta terreni imperatoris acciperet, non cessaret, non quiesceret, somnum oculis non daret, nisi prius quid sibi imperator terrenus scripsisset agnouisset. Imperator caeli, dominus hominum et angelorum pro uita tua tibi suas epistulas transmisit, et tamen, gloriose fili, easdem epistulas ardenter legere neglegis.) Greg.‑M. Ep. V, 46 (CCSL 140, 339, 37–340, 44). 500 Vgl. Greg.‑M. Ep. VII, 23 (CCSL 140, 474, 2–475, 15). 501 Vgl. Greg.‑M. Ep. VII, 23 (CCSL 140, 475, 15–477, 72). 502 Vgl. Greg.‑M. Ep. XIV, 12 (CCSL 140A, 1082, 2–15), s. a. Kap. 6.3.1. 503 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 86 (CCSL 140A, 639, 2–640, 39. 504 Vgl. Greg.‑M. Ep. XIII, 33 (CCSL 140A, 1034, 2–1035, 17). 505 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 13 (CCSL 140A, 575, 2–13). 499 „Ist
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6.2.5 Kollektive Seelsorge: Der Bußzug durch Rom Neben den individuellen geistlichen Beratungen ist auch ein Akt der kollektiven, die ganze Gemeinde und Stadt umfassenden Seelsorge Gregors überliefert: der siebenförmige Bußzug durch Rom.506 Angesichts der grassierenden Pest sowie des weit über die Ufer getretenen Tibers rief der frisch gewählte Papst im Februar 290507 das Volk zu einem Sternmarsch der conversio quer durch die Stadt auf. In seiner Predigt deutete er die gegenwärtigen Leiden als Strafen Gottes (flagella Dei), die das sündige Volk zur Umkehr drängten.508 Gerade die Plötzlichkeit des Pesttodes, dem kaum eine Zeit des Siechens vorausging, offenbarte die Dringlichkeit der Buße: Für einen Aufschub blieb keine Zeit, die Seuche wütete in allen Gesellschaftsschichten (cuncta plebs).509 Insofern war die gesamte Gemeinde in der Pflicht zu handeln, ein jeder (unusquisque) musste umgehend zu Gott um Gnade flehen.510 Seine drängende, apokalyptische Warnung ergänzte Gregor mit Worten des Trostes.511 Die biblischen Erzählungen beweisen, dass Gott nach aufrichtiger Buße auch die schlimmen Sünden verzeihen kann und will, wie er es bei den Niniviten oder dem Schächer am Kreuz getan hat.512 Sofern sich das römische Volk umgehend vom falschen Weg abwendete und Gott mit Gebeten und Werken um Gnade bäte, würde dieser im Gericht Barmherzigkeit üben.513 In sieben Zügen zog schließlich die gesamte Gemeinde – aufgeteilt nach den einzelnen Ständen und Gruppen514 – unter Psalmengesang und Kyrie-Rufen zur Marienbasilika (Santa Maria Maggiore). Der anwesende Diakon aus Tours berichtete, dass in der Stunde der Prozession achtzig Menschen verstarben, 506 Von der Litanei berichten Gregor von Tour, vgl. Greg.‑T. Hist. X, 1 (FSGA.A 3, 324, 2–328, 1) und Paulus Diaconus, vgl. P.‑Diac. Hist. Lang. III, 24 (Schwarz 206). Außerdem ist die Predigt Gregors in fast identischer Form im Briefregister für den September 603 überliefert, vgl. Greg.‑M. Ep. App. IX (CCSL 140A, 1102, 1–1104, 55) und Demacopoulos, Ascetic, 115–117. 507 Gregor von Tours bezeichnet in seinem Bericht über die Litanei seinen Namensvetter noch als sacerdos dandus, Greg.‑T. Hist. X, 1 (FSGA.A 3, 326, 32), insofern war dieser noch nicht geweiht worden. Zur Diskussion um die genaue Datierung und die strittige Identifizierung mit der jährlichen Prozession am 25. April vgl. Müller, B., Führung, 117 f. und Caspar, Geschichte II, 375 f. FN 4. 508 Vgl. Greg.‑T. Hist. X, 1 (FSGA. A. 3, 324, 4–8). 509 Vgl. Greg.‑T. Hist. X, 1 (FSGA. A. 3, 324, 8–16). 510 Vgl. Greg.‑T. Hist. X, 1 (FSGA. A. 3, 324, 16–22). 511 Vgl. Baun, Eschatology, 160–164. 512 Vgl. Greg.‑T. Hist. X, 1 (FSGA. A. 3, 324, 22–27). 513 Vgl. Greg.‑T. Hist. X, 1 (FSGA. A. 3, 324, 27–326, 9). 514 Folgende Ausgangskirchen legte Gregor für die einzelnen Gruppen fest: Santi Cosma e Damiano (Klerus), Santi Gervasio e Protasio (Äbte und Mönche), Santi Marcellino e Pietro (Äbtissinen und Nonnen), Santi Giovanni e Paolo (Kinder), San Stefano (Laien), Sant’ Eufemia (Witwen), San Clemente (Ehefrauen). Die einzelnen Gruppen wurden jeweils von der Priesterschaft eines der sieben Stadtbezirke begleitet, vgl. Greg.‑T. Hist. X, 1 (FSGA.A 3, 326 [10–25]).
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was den römischen Bischof noch drängender zum unablässigen Gebet mahnen ließ.515 Mit dieser großen Litanei, die in ihrem Bußcharakter und der Aktualität auf keine Vorbilder zurückgriff,516 setzte Gregor sein ekklesiologisches Modell des reziproken Dienstes bereits vor Beginn seiner Amtszeit in die Tat um. Die an der paulinischen Leib-Metapher orientierte Wertschätzung der vielgestaltigen, aber grundsätzlich gleichwertigen und aufeinander angewiesenen Lebensweisen innerhalb der Gemeinde sollte er in seinen literarischen Werken erst sukzessive entwickeln und immer schärfer profilieren.517 In der Praxis hingegen handelte er von Beginn an in dem Geist, dass allen gesellschaftlichen und kirchlichen Gruppen wichtige Aufgaben und Rollen zukamen und die Kirche nur als geschlossene Einheit zum Heil gelangen konnte. Und so stellte er den Zügen des Klerus und der asketischen Männer und Frauen diejenigen der Laien, Ehefrauen und sogar Kinder an die Seite. Ihnen allen kam die Verantwortung für das Heil der Stadt und ihrer Einwohner zu. Sie alle traten für den Nutzen und die Rettung des Nächsten ein. Neben dieser Perspektive auf das kollektive Werk der Nächstenliebe lässt sich die Litanei und insbesondere die vorausgegangene Predigt ebenso als eine Handlung Gregors zum Nutzen seiner Gemeinde betrachten. In seiner Funktion als Verkündiger und geistlicher Lehrer stellte er den Menschen seiner Kirche die Schrecken des göttlichen Gerichts vor Augen, rief sie zur Umkehr auf und erfüllte damit die pastorale Kernaufgabe der correctio. Aber er ließ seine Herde in dem großen Leid und ihrer Verzweiflung nicht allein, sondern zeigte ihr als empathischer Seelsorger zugleich einen Weg zum Heil und spendete auf diese Weise Trost.518
6.3 Engagement für Frieden Gregors Pontifikat war geprägt von Spannungen und Konflikten sowohl im Land als auch im kirchlichen Bereich. Die Rückeroberung Italiens von den Ostgoten durch Justinians Truppen hatte nur für kurze Zeit die kaiserliche Vorherrschaft gesichert, da bereits 568 die Langobarden auf der Halbinsel einfielen.519 Die andauernden Kämpfe und Belagerungen bedrückten die italische Bevölkerung immens, weshalb sich Gregor aktiv in die Friedensverhandlungen einschaltete 515
Vgl. Greg.‑T. Hist. X, 1 (FSGA. A. 3, 326, 29–328, 1). Müller, B., Führung, 117. 517 Vgl. Kap. 5.1.2; 5.2.3.3; 5.3.3.1; 5.5.3.2; 5.6.4. 518 Auf das dialektische Gegenüber von Gerichtsverkündigung und Aufzeigen von Heilsmöglichkeiten in der Verkündigung Gregors verweist Carole Straw, vgl. Straw, Theology, 200–204, und Kap. 5.6.3.1.1. 519 Zu der politischen Situation Italiens vgl. Kap. 2.1. 516 Vgl.
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6 Die Praxis der tätigen Nächstenliebe im Handeln Gregors des Großen
und damit seinen bischöflichen Aufgaben- und Einflussbereich weit in den politischen hinein ausdehnte.520 Darüber hinaus war er mit bedeutenden kirchlichen Konflikten konfrontiert. Die meisten Sorgen bereitete ihm das Schisma in Folge des Drei-Kapitel-Streits, das auch er nicht beenden konnte.521 Mit vergleichbarer Leidenschaft, aber divergierender Kompromissbereitschaft rang er in den Streitigkeiten mit Konstantinopel und Ravenna um den Titel des ökumenischen Patriarchen bzw. den legitimen Gebrauch des Palliums. Gregor bat seine Gegner inständig, den gefährdeten Frieden der Kirche zu bewahren, und erinnerte sie an das einende Band der gegenseitigen Liebe.522 Insofern ist neben der Sorge für den äußeren, politischen Frieden auch sein Drängen auf die kirchliche Einheit als Werk der tätigen Nächstenliebe zu verstehen.
6.3.1 Die Friedensverhandlungen mit den Langobarden Der drängendste Konflikt in Gregors Pontifikat waren die Eroberungs- und Belagerungszüge der Langobarden. Während seiner gesamten Amtszeit sorgte er sich um die Sicherheit der römischen Bevölkerung, aber ebenso der Einwohner der übrigen Teile des Landes.523 Zahlreiche Klagen und Berichte im Briefregister bieten Momentaufnahmen aus Rom und dem Umfeld und verdeutlichen die Gefahr und die Angst, in denen die Menschen lebten.524 Unablässig fürchteten sie sich vor „der täglichen […] Plünderung oder Verstümmelung und Tötung durch die Schwerter der Langobarden.“525 Obendrein drohten Hungersnöte, da die Versorgung mit Lebensmitteln, insbesondere Getreide aus Sizilien, wegen der 520 Die Perspektive auf den Nutzen des Nächsten im politischen Handeln Gregors betont auch George Demacopoulos, vgl. Demacopoulos, Ascetic, 103. 521 Zu den Hintergründen vgl. Kap. 2.2. 522 Zur zentralen Bedeutung der Einheit der Kirche und der Rezeption paulinischer Ekklesiologie vgl. Kap. 5.3.3; 5.5.3.2 und 5.6.3.3. 523 Explizit verwies er mehrfach auf das drohende Schicksal für die anderen Ortschaften und Inseln, sollte der Abschluss einer pax generalis scheitern, vgl. Greg.‑M. Ep. V, 34 (CCSL 140, 302, 20–22); VI, 33 (CCSL 140, 406, 9 f.). 524 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 3 (CCSL 140, 4, 15–17); II, 38 (CCSL 140, 122, 3–5); III, 29 (CCSL 140, 175, 37–40); V, 43 (CCSL 140, 328, 3–5); V, 45 (CCSL 140, 338, 27–31); VI, 61 (CCSL 140, 435, 27–30); VII, 23 (CCSL 140, 477, 80–86); VIII, 2 (CCSL 140A, 516, 49–51); IX, 240 (CCSL 140A, 823, 26–824, 39); X, 15 (CCSL 140A, 842, 2–13); XII, 16 (CCSL 140A, 990, 14–16). 525 „[…] a gladiis in cotidiana […] depraedatione uel detruncatione atque interitu“ Greg.‑M. Ep. VI, 61 (CCSL 140, 435, 27 f.) Obwohl die schlimmsten Zeiten der wahllosen Raubzüge 584 mit der Restitution des langobardischen Königtums ein Ende fanden, so waren die traumatischen Erfahrungen tief ins kollektive Gedächtnis der Bevölkerung Italiens eingeprägt und somit dennoch präsent. Zudem hielten die Kampfhandlungen fortwährend an. Die außerordentliche Grausamkeit dieses Volksstammes ist nicht nur von Gregor, sondern auch bei Paulus Diaconus und Gregor von Tours bezeugt, vgl. Greg.‑M. Dial. III, 28, 1 (SC 260, 374, 1–13); P.‑Diac. Hist. Lang. II, 32 (Schwarz, 180–182) und Greg.‑T. Hist. IV, 41 (FSGA.A 2, 252, 27–29).
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langen Belagerungen nicht durchgängig möglich war.526 Gerade in den ersten Jahren seines Pontifikats nahm ihn das Thema so sehr in Anspruch, dass er dem Quästor Johannes in Konstantinopel klagte, er sei „nicht Bischof der Römer geworden, sondern der Langobarden.“527 Die unruhige politische Situation wirkte sich selbstverständlich auf den bischöflichen Aufgabenbereich aus, der sich aus Liebe zum Nächsten und zum Nutzen desselben deutlich erweiterte und zunehmend weltliche Verantwortung umfasste. Am ehesten noch in den klassischen Bereich seiner Amtspflichten zählte die Sorge für die zahlreichen Flüchtlinge, die ihre Heimatorte aus Angst vor den Feinden verließen. Genaue Zahlen zu den Migrationsbewegungen gibt es nicht, aber wahrscheinlich wurden in Rom annähernd die Bevölkerungsverluste durch die Pest und die Auswanderung der Eliten kompensiert, wenn auch auf Kosten einer ausgeglichenen Sozialstruktur.528 In einem Dankesbrief für eine großzügige Geldspende aus Konstantinopel berichtete Gregor im Jahr 597, dass er in Rom neben anderen Flüchtlingen auch dreitausend geflohene Nonnen zu versorgen hatte.529 Die Aufnahme und Unterstützung der Vertriebenen, insbesondere der Bischöfe,530 war durch den Kaiser den Menschen und Episkopen in den (noch) nicht betroffenen Landesteilen befohlen worden. Diese Hilfe sei, so mahnte Gregor, aber zuvor schon vom „himmlischen […] Kaiser“531 geboten worden und somit als Tat der Gottes- und Nächstenliebe ohnehin obligatorisch.532 Die akute Nothilfe für Vertriebene wollte er zugleich langfristig sichern, indem er versuchte, die Flüchtlingsströme zu verteilen, um die Belastungen und Beeinträchtigungen für die Aufnahmeregionen und besonders deren Klöster so gering wie möglich zu halten.533 Über die Unterstützung bedürftiger Flüchtlinge hinaus wandte Gregor immense finanzielle Summen aus der kirchlichen Kasse auf, weil er die Maßnahmen der staatlichen Stellen für nicht ausreichend hielt. Um die Gefahr 526
Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 36 (CCSL 140, 306, 81–307, 84). „[…] non Romanorum sed langobardorum episcopus factus“ Greg.‑M. Ep. I, 30 (CCSL 140, 37, 9 f.). 528 Vgl. Kap. 2.1. und Rouche, Situation, 44; Müller, B., Führung, 16 f.; Jenal, Italia I, 275. 529 Vgl. Greg.‑M. Ep. VII, 23 (CCSL 140, 477, 86–98), dieser Zahl wird in der Forschung weitgehend Glauben geschenkt, die einzige Ausnahme stellt George Demacopoulos dar, der aber diesen Brief offensichtlich nicht zur Kenntnis genommen hat, sondern die Zahl erst bei Johannes Diaconus verbürgt sieht, vgl. Demacopoulos, Ascetic, 204 N 17. 530 Die Bischöfe, die dem Kaiser und dem Papst die Treue erwiesen, wurden von den Langobarden vertrieben, wohingegen die Bischofsstühle, die sich im Zuge des Drei-KapitelSchismas von Rom lossagten oder sich zu den neuen Herrschern bekannten, zumeist intakt blieben, vgl. Hauptfeld, Georg, Zur langobardischen Eroberung Italiens. Das Heer und die Bischöfe, MIÖG 91 (1983), 37–94, hier: 88–92. 531 „[…] caelesti […] principi“ Greg.‑M. Ep. I, 43 (CCSL 140, 57, 13). 532 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 43 (CCSL 140, 57, 7–23). 533 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 48 (CCSL 140, 62,2–63, 27) und Müller, B., Führung, 184. 527
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6 Die Praxis der tätigen Nächstenliebe im Handeln Gregors des Großen
für die Stadt und ihre Bevölkerung zu bannen, zahlte er zeitweise den Sold für die wenigen in Rom verbliebenen Soldaten aus,534 kaufte Geiseln bei den Langobarden frei535 und scheint obendrein eine Art Schutzgeld an die Eroberer gezahlt zu haben.536 Schließlich bediente sich der Staat in Person des Exarchen selbst aus der kirchlichen Schatzkammer in Ravenna für militärische Ausgaben, ohne das „Darlehen“ zurückzuzahlen.537 Nicht ohne einen gewissen Zynismus bezeichnete Gregor sich der Kaiserin gegenüber als saccellarius, der wie der kaiserliche Schatzmeister in Ravenna die täglichen Ausgaben bestritt, allerdings ohne Zahlungen aus Konstantinopel zu erhalten.538 Des Weiteren übernahm er militärstrategische Aufgaben. Als Ariulf, der Herzog von Spoleto, auf seinen Eroberungszügen 592 gen Rom zog und den Korridor nach Ravenna versperrte, plante Gregor mit den magistri militum,539 deren Heere in der näheren Umgebung lagerten, die Verteidigung:540 Ein Teil der in Rom stationierten Soldaten541 sollte in das Umland abgezogen werden, um von dort gemeinsam mit den anderen Truppenkontingenten den Langobarden in den Rücken zu fallen, sofern diese die Stadt angriffen.542 Die Loyalität der Bevölkerung suchte er einerseits dadurch zu sichern, dass er sie auf den Gehorsam 534 Gleich zu Beginn seines Pontifikats klagte Gregor bereits über einen Aufstand der Soldaten innerhalb der Stadt, vgl. Greg.‑M. Ep. I, 3 (CCSL 140, 4, 15–17). Ein halbes Jahr später berichtete er dem Bischof von Ravenna, dass der Exarch alle Truppen aus Rom abgezogen hatte. Lediglich eine kleine Gruppe an Soldaten sei zum Schutz der Stadtmauer verblieben, verweigerte aber den Dienst, da ihr Sold schon länger nicht ausgezahlt worden war, vgl. Greg.‑M. Ep. II, 38 (CCSL 140, 123, 27–33). Erst im März 595 bedankte sich der römische Bischof beim Kaiser für Zahlungen an das Heer, die das Murren beendeten, vgl. Greg.‑M. Ep. V, 30 (CCSL 140, 297, 21–26). Noch im August 599 während des Waffenstillstandes forderte er ausstehende Soldzahlungen ein. Erneut war nicht einmal die Mauerwache in Rom gewährleistet und die Stadt wäre im Falle eines Wiederaufflammens der Kriegshandlungen ihrer Vernichtung schutzlos ausgeliefert, vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 240 (CCSL 140A, 824, 30–39). Zur schlechten Bezahlung des Heeres und Gregors Bereitschaft, militärische Ausgaben zu bestreiten, vgl. Jenal, Stadt, 126 f.; Demacopoulos, Ascetic, 106; Müller, B., Führung, 182.206. 535 Vgl. Greg.‑M. Ep. VII, 23 (CCSL 140, 477, 80–86), vgl. auch Kap. 6.1.3.3. 536 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 45 (CCSL 140, 338, 27–31). 537 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 240 (CCSL 140A, 823, 11–824, 30) und Markus, World, 101 f. 538 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 39 (CCSL 140, 316, 69–317, 73). 539 Jeffrey Richards mutmaßt, dass mit Martius kein kaiserlicher Militär, sondern Herzog Maurisio von Perusia, ein langobardischer Föderat gemeint sei, vgl. Richards, Leben, 189. 540 Es ist nicht zu klären, ob die Heeresführer den Kontakt mit dem Papst gesucht haben, wie Georg Jenal vermutet, vgl. Jenal, Stadt, 125, oder ob die Initiative von Gregor ausging, so Markus, World, 100. Zu den strategischen Absprachen vgl. Pietri, L., Westen, 903; Richards, Leben, 189–191. 541 Die Angaben Gregors zur militärischen Präsenz in der Stadt sind nicht konsistent, eine völlige Abwesenheit ist sicher nicht anzunehmen, vgl. Markus, World, 101. Wahrscheinlich überzeichnete Gregor die bedrohlichen Zustände in dramatischer Weise, wenn er um zusätzliche Hilfe aus Ravenna oder Konstantinopel bat. 542 Vgl. Greg.‑M. Ep. II, 4 (CCSL 140, 92, 2–13); II, 27 (CCSL 140, 113, 2–114, 15). Zudem empfahl Gregor, die Lager der Feinde zu plündern, um ihren Angriff nachhaltig zu schwächen, vgl. Greg.‑M. Ep. II, 28 (CCSL 140, 114, 18–115, 22).
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gegenüber dem jeweiligen Befehlshaber verpflichtete.543 Andererseits zog er in Betracht, im Falle der Untreue Geiseln zu nehmen.544 Zu letzterer, geradezu unchristlicher Maßnahme545 gab er indes keinen direkten Auftrag, sondern beließ die Ausführung im Ermessen der Militärführer, die für die utilitas rei publicae das geeignetste Mittel wählen sollten.546 In späteren Jahren mahnte Gregor wiederholt zu Schutz- und Verteidigungsmaßnahmen für die Städte,547 insbesondere in Zeiten, in denen die Friedensverträge noch nicht in Kraft getreten waren oder kurz vor dem Auslaufen standen und daher Angriffe drohten. Zum Wachdienst waren ohne Ausnahme alle Bürger verpflichtet, Privilegien für den Klerus schloss der römische Bischof aus.548 Die wichtigste Tätigkeit Gregors in Bezug auf die Langobarden war indes sein ausdauerndes Ringen um Frieden, wofür er sogar sein grundsätzlich gutes Verhältnis zu Kaiser Mauricius ernsthaft gefährdete.549 Den Plan, Frieden 543
Vgl. Greg.‑M. Ep. II, 10 (CCSL 140, 97, 2–12); II, 47 (CCSL 140, 138, 2–139, 13). Greg.‑M. Ep. II, 28 (CCSL 140, 114, 2–15) und Jenal, Stadt, 125 f.; Markus, World, 100. 545 Zum Zwiespalt zwischen Gregors christianitas und romanitas vgl. Richards, Leben, 190 f. et passim. Gregor selbst reflektierte, dass er zwischen zwei Stühlen saß, einerseits wünschte er sich den Sieg über die Feinde, andererseits verbot seine Gottesliebe jegliche Beteiligung am Töten von Menschen, vgl. Greg.‑M. Ep. V, 6 (CCSL 140, 271, 20–272, 27) und Müller, B., Führung, 280; Kisić, Patria, 36; Pietri, L., Westen, 903; Richards, Leben, 188. Es ist beachtlich, dass dieses Dilemma sich in ganz ähnlicher Weise auch im 21. Jahrhundert noch stellt, wie die Reaktion der Bundeskanzlerin auf die Tötung Osama bin Ladens und die darauf folgende Pressediskussion gezeigt haben. 546 Vgl. Greg.‑M. Ep. II, 28 (CCSL 140, 114, 15–18). Auffälligerweise argumentierte Gregor hier nicht wie üblich mit dem Nutzen des Nächsten, also einer christlichen Metaphorik, sondern verwies im militärischen Kontext auf das Staatswohl. Die Argumentation mit einem staatlichen Gewinn ist im Briefregister außer in dieser Angelegenheit lediglich im Gespräch mit dem afrikanischen Exarchen belegt, vgl. für den afrikanischen Kontext Greg.‑M. Ep. I, 59 (CCSL 140, 70, 15 f.); I, 73 (CCSL 140, 82, 25–29), für den Konflikt mit den Langobarden vgl. Greg.‑M. Ep. II, 4 (CCSL 140, 92, 7–10); II, 10 (CCSL 140, 97, 2–5); II, 47 (CCSL 140, 138, 2–139, 4); V, 36 (CCSL 140, 305, 36–39). Gregor wählte seine Worte und Argumente also sehr bewusst nach dem jeweiligen Gesprächspartner und der angesprochenen Situation aus. 547 Überliefert sind Schreiben nach Terracino, Sardinien und Cagliari, vgl. Greg.‑M. Ep. VIII, 19 (CCSL 140A, 539, 12–17); IX, 11 (CCSL 140A, 572, 14–20); IX, 196 (CCSL 140A, 752, 35–46). Den Sizilianern hingegen empfahl der Papst eine geistliche Antwort auf die drohende Gefahr: Sie sollten zweimal in der Woche Bußzüge veranstalten und zu Gott flehen, dass er die Langobarden, die Strafe für die Sünden der Christen, vertreibe, vgl. Greg.‑M. Ep. XI, 31 (CCSL 140A, 919, 2–920, 29) und Müller, B., Führung, 390. Die Maßnahmen innerhalb Roms sind nicht bezeugt, da sie wahrscheinlich mündlich angewiesen wurden, s. Kap. 6. 548 Vgl. Greg.‑M. Ep. VIII, 19 (CCSL 140A, 539, 12–17). Allerdings bat er den magister militum Maurentius um eine Befreiung oder zumindest Reduktion von den Wachpflichten für den Abt Theodosius und seinen Konvent in Campania, vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 163 (CCSL 140A, 721, 2–13). 549 Wegen Gregors eigenmächtigen und etwas naiven Verhandlungen erteilte ihm Mauricius eine harsche Rüge und bezeichnete ihn als Dummkopf (fatuus), vgl. Greg.‑M. Ep. V, 36 (CCSL 140, 304, 4–6). 544 Vgl.
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am Verhandlungstisch und nicht auf dem Schlachtfeld zu schaffen, verfolgte Gregor trotz der geschilderten militärstrategischen Anweisungen bereits von Anfang an. Nur wenige Wochen nach den Aufträgen an die magistri militum berichtete er dem Ravennater Bischof, dass der Exarch Romanus den Vorschlag zu Friedensverhandlungen mit Ariulf strikt ablehnte, auf der anderen Seite aber auch keinen Schutz für Rom aufbieten wollte.550 Da die staatlichen Stellen ihrer Verantwortung für die alte Hauptstadt nicht gerecht zu werden schienen, ergriff er selbst die Initiative und verhandelte mit dem Feind.551 Tatsächlich zog sich Ariulfs Heer zurück, ohne Rom größeren Schaden zugefügt zu haben. Vielleicht hatte Gregor hierfür eine erhebliche Summe gezahlt.552 Diese Einigung berücksichtigte Romanus nicht, eventuell aus Unkenntnis,553 sondern zog die kaiserlichen Truppen für einen Gegenangriff zusammen. Dadurch fühlte sich wiederum Agilulf, der langobardische König, zu einer Reaktion provoziert und zog 593 anstatt Ariulf gegen Rom.554 Damit war die Situation für Gregor und seine Stadt so brenzlig wie nie zuvor oder jemals wieder in seinem Pontifikat.555 Aus Sorge um Rom und seine Bevölkerung brach er seine Ezechielvorträge ab556 und bot sich zudem als Mittler für Friedensverhandlungen zwischen Agilulf und Romanus an, die offensichtlich nicht direkt miteinander ins Gespräch kommen wollten.557 Tatsächlich wandte sich Agilulf anderthalb Jahre später für Friedensverhandlungen an ihn und nicht nach Ravenna. Unter Vereinbarung von gegenseitigen Reparationsleistungen war der Langobardenkönig zu einer pax generalis mit dem Kaiserreich bereit. Diese stellte für Gregor das „diplomatisch[e] Hauptziel seines Pontifikats“558 dar, weshalb er über den scholasticus Severus umgehend Romanus über das Angebot in Kenntnis setzte. Damit dieser nicht weiterhin in Passivität verharrte, erhöhte der römische Bischof den Druck und verwies auf die ebenso in Aussicht gestellte kleine Lösung eines Separatfriedens ausschließ550 Vgl. Greg.‑M. Ep. II, 38 (CCSL 140, 122, 3–123, 15). Gleich dreimal in dem Brief bat Gregor seinen Mitbischof darum, den Exarchen umzustimmen und in Verhandlungen einzutreten. 551 Vgl. Markus, World, 102; Demacopoulos, Ascetic, 107 f.; Pietri, L., Westen, 903. 552 Darauf deutet ein späterer Brief an den Kaiser hin, in dem Gregor auf den Frieden hinweist, der „ohne jegliche Kosten für den Staat“ (sine ullo reipublicae dispendio) geschlossen worden war, Greg.‑M. Ep. V, 36 (CCSL 140, 306, 75), vgl. Markus, World, 102, dagegen Demacopoulos, Ascetic, 205 N29. Dagegen spricht allerdings, dass Gregor selbst davon sprach, die Forderungen Ariulfs nicht allein aufbieten zu können, vgl. Greg.‑M. Ep. II, 38 (CCSL 140, 123, 10–15) und Richards, Leben, 191; Müller, B., Führung, 206; Jenal, Stadt, 126. 553 So Demacopoulos, Ascetic, 108; Markus, World, 102. 554 Vgl. Greg.‑M. Hom Ez. II, praef. (CCSL 142, 205, 1–6); P.‑Diac. Hist. Lang. IV, 8 (Schwarz 226); Müller, B., Führung, 206; Caspar, Geschichte II, 472 f. 555 Vgl. Demacopoulos, Ascetic, 109. 556 Vgl. Kap. 5.5. 557 Vgl. Greg.‑M. Ep. IV, 2 (CCSL 140, 219, 25–30). 558 Richards, Leben, 193.
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lich mit Rom. Dies geriete allerdings zum Nachteil für das erschöpfte Heer, dem eine Kampfpause guttäte, und der italischen Bevölkerung außerhalb Roms.559 Eindeutig präferierte Gregor den umfassenden Friedensschluss, da er die Nöte nicht nur der Bewohner Roms im Blick hatte. Die Verantwortung für ganz Italien war ihm derart wichtig, dass er es sogar wagte, sich vor dem Kaiser nicht nur gegen die Vorwürfe der Blauäugigkeit zu verteidigen, sondern diesen zugleich scharf zu kritisieren. Anstatt ihm, dem Bischof, zu glauben, hätte der Herrscher auf zwielichtige Personen vertraut.560 Vorwurfsvoll mahnte er Mauricius, fortan „zum Nutzen des Staates aber und der Befreiung Italiens“561 sein Handeln ausschließlich auf Tatsachen und nicht auf Gerüchten basieren zu lassen. Ein größerer Affront gegen den Herrscher ist kaum vorstellbar.562 Begründet war dies gerade in Gregors Anerkennung der kaiserlichen Herrschaft über Rom. Weil er für die Friedensverhandlungen ausschließlich die staatlichen Stellen, Exarchat und Kaiserhof, für zuständig erachtete, verfolgte er das Angebot des Separatfriedens nicht, sondern versuchte Romanus und Mauricius an den Verhandlungstisch mit Agilulf zu bringen.563 Tatsächlich fanden im Frühjahr 596 Friedensgespräche statt, in denen Gregor nur aus dem Hintergrund agierte: Er sandte dem Verhandlungsführer, einem Mönch Secundus, durch seinen Notar Anweisungen.564 Diese Einflussnahme versuchte er geheim zu halten: Der Brief wurde dezidiert ohne Durchschlag an den Ravennater Hof geschickt und die inhaltlichen Details lediglich auf mündlichem Wege weitergegeben.565 Etwa zur gleichen Zeit starb der Exarch Romanus, dessen schlechtes Verhältnis zu Gregor eine der Hauptursachen für den lange verzögerten Friedensprozess darstellte. Während Gregor stets die akute Bedrohung schnell abwenden wollte und daher auch zu Konzessionen bereit war, legte Romanus eine langfristige, strikt militärstrategische Herangehensweise an den Tag. Gregor hatte man – durchaus zu Recht – vorgeworfen, dass er die taktischen Konsequenzen nicht berücksichtigte. Andererseits zeigte der Exarch keinerlei Empathie für die Not und Angst der Bevölkerung.566 Als Nachfolger für Romanus wurde im Früh559
Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 34 (CCSL 140, 301, 2–302, 25). Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 36 (CCSL 140, 304, 2–305, 30). 561 „[…] de utilitate uero reipublicae et causa ereptionis Italiae“ Greg.‑M. Ep. V, 36 (CCSL 140, 305, 37 f.). 562 Im Hintergrund stand zudem eine Kompetenzüberschreitung des Kaisers, was im Brief nur am Rande thematisiert wird. Der Herrscher hatte Gregor mit Verweis auf die Strafen des Jüngsten Gerichtes zur Räson bringen wollen und sich damit die geistliche Lehrerschaft angemaßt, vgl. Greg.‑M. Ep. V, 36 (CCSL 140, 307, 96–110). 563 Vgl. Richards, Leben, 194; Jenal, Stadt, 126 f. 564 Vgl. Greg.‑M. Ep. VI, 33 (CCSL 140, 406, 2–10); Jenal, Stadt, 127. 565 Vgl. Greg.‑M. Ep. VI, 33 (CCSL 140, 406, 1). In der Residenzstadt gab es eine starke Opposition gegen Gregor, die mit Vorwürfen, Gerüchten und sogar Flugblättern agierte und hinter der er Bischof Marinianus vermutete, vgl. Greg.‑M. Ep. VI, 33 (CCSL 140, 406, 3–7); VI, 34 (CCSL 140, 407, 1–408, 31). 566 Vgl. Jenal, Stadt, 119; Kisić, Patria, 25 f. 560
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jahr 597 Callinicus bestimmt, mit dem der Papst deutlich enger und harmonischer kooperierte.567 Dieser schloss im Oktober 598 dann einen Frieden mit Agilulf, den mit dem Abt Probus erneut ein Asket vermittelt hatte.568 Allerdings waren vor dem Inkrafttreten des Vertrages noch zwei diplomatische Klippen zu umschiffen: Einerseits knüpfte Ariulf, der Herzog von Spoleto, seinen Eid auf den Frieden an untragbare Zusatzbedingungen, so dass Gregor am Zustandekommen der Einigung zweifelte.569 Andererseits erwartete König Agilulf eine Unterschrift des Papstes, der auf diese Weise in eine Zwickmühle geriet. Zwar wollte er keinesfalls den Langobarden düpieren und ein Scheitern verursachen, aber ebenso wenig wollte er Kaiser und Exarch verärgern, indem er als ebenbürtiger Verhandlungspartner auftrat. Insofern betonte er seine Mittlerrolle und verweigerte mit dem wohl taktischen Verweis auf eine zurückliegende verbale Entgleisung Agilulfs die Unterschrift, ernannte aber einen zeichnungsberechtigten Stellvertreter.570 Der Friedensschluss kam zustande und hatte bis 601 weitgehend Bestand.571 Gregor richtete seinen Dank an das langobardische Königspaar und deutete ihr Ringen um Frieden als Beweis ihrer Gottesliebe und christianitas. Zudem betonte er den Nutzen für beide Völker, denen nun viel Blutvergießen erspart blieb.572 Als der Vertrag auslief, nutzte der Exarch Callinicus die derzeitige Schwäche der Langobarden573 für einen Angriff aus und nahm die Tochter Agilulfs in Geiselhaft. Dieser rächte sich, indem er in der Allianz mit den Awaren und Slawen in Istrien einfiel.574 Unterdessen durchlebte auch das Kaiserreich unerwartet Turbulenzen: Im November ließ Phocas Kaiser Mauricius samt Gattin und Söhnen ermorden und erklomm selbst den Thron.575 Obendrein berief er 567 Vgl.
Caspar, Geschichte II, 483 f.; Markus, World, 105. Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 11 (CCSL 140A, 572, 12–20); Jenal, Stadt, 127. 569 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 44 (CCSL 140A, 602, 12–23). 570 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 44 (CCSL 140A, 602, 24–603, 40); Müller, B., Führung, 317; Pietri, L., Westen, 904. 571 Im August 599 befürchtete Gregor zu Unrecht, Agilulf würde keinen Folgevertrag des ursprünglich wohl nur auf ein Jahr beschlossenen Friedens unterzeichnen, vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 196 (CCSL 140A, 752, 35–46). Auch das irrtümliche Gerücht vom Tod Agilulfs führte zu keinem neuen Kriegsausbrauch, vgl. Greg.‑M. Ep. X, 16 (CCSL 140A, 845, 17–22); Müller, B., Führung, 317. 572 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 66 (CCSL 140A, 621, 2–622, 20); IX, 68 (CCSL 140A, 624, 2–13); vgl. auch Greg.‑M. Ep. XIV, 12 (CCSL 140A, 1083, 41–46). 573 In Spoleto tobte ein Kampf um die Nachfolge des verstorbenen Ariulf und im Norden sah sich Agilulf mit aufständischen Herzögen konfrontiert, vgl. Richards, Leben, 197. 574 Vgl. P.‑Diac. Hist. Lang. IV, 20.24 (Schwarz 234). 575 Vgl. Pfeilschifter, Rene, Der Kaiser und Konstantinopel. Kommunikation und Konfliktaustrag in einer spätantiken Metropole, Millenium-Studien 44, Berlin 2013, 252–293. In der Forschung ist Gregor häufig für sein überschwängliches Begrüßungsschreiben und seine wohlwollende Haltung gegenüber dem Usurpator kritisiert worden, vgl. Greg.‑M. Ep. XIII, 32 (CCSL 140A, 1033, 2–1034, 35) sowie u. a. Fraisse-Coué, Osten, 941 f.; Dal Santo, 568
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Callinicus aus Ravenna ab und setzte Smaragdus wieder als Exarchen ein, der das Amt bereits bis 588 innegehabt hatte. Dieser bemühte sich umgehend um einen neuen Frieden, der dank einer Zahlung von 12.000 solidi bis April 605 anhielt.576 Obwohl Gregor die Sorge für politische Ruhe und ein Ende des Krieges grundsätzlich in staatlicher Verantwortung sah,577 agierte er in den Verhandlungen mit den Langobarden äußerst unabhängig. Sobald er eingesehen hatte, dass vom Kaiserhof kaum Unterstützung zu erwarten war und der Exarch mit seiner militärischen Ausrichtung auf den Gesamtsieg keine Hilfe für Rom darstellte, ergriff er selbst die Initiative.578 Dennoch suchte er stets nach der Rückbindung und Legitimierung durch die politischen Führer.579 Ähnlich wie bereits bei der Übernahme der Getreideversorgung580 war er auch im friedenspolitischen Bereich bereit, kirchliches Gut und Personal einzusetzen, wenn der Staat seiner Verantwortung nicht gerecht wurde. Die Verpflichtung dazu gewann er aus seinem Fokus auf den Nutzen bzw. die Bedürfnisse des Volkes.581 Nur deshalb sprang er über seinen Schatten und trat in Kontakt mit den Langobarden, die er am liebsten tot gesehen hätte. Die Not der Bevölkerung hatte er im Blick, wenn er Kaiser und Militär zum Handeln drängte. Für die Rettung dankte er Agilulf und Theodelinde jeweils, nachdem ein Friedensvertrag geschlossen wurde. Auffälligerweise stellte die Mission kein zentrales Thema in der Korrespondenz mit den oder über die Langobarden dar.582 Lediglich zu Beginn seines Empire, 79 f.; Modesto, Nachfolger, 231–233; Richards, Leben, 233, etwas differenzierter Müller, B., Führung, 397 f. Es muss aber berücksichtigt werden, dass Gregor auch an dieser Stelle seine Einflussmöglichkeiten realistisch einschätzte und pragmatisch zum besten Nutzen der italischen Bevölkerung handelte. Phocas war nun der neue Kaiser, dem Gregor als Bürger Gehorsam schuldete und den er obendrein als von Gott eingesetzt ansah, vgl. Kisić, Patria, 33 f.; Caspar, Geschichte II, 489. Zu Gregors Hierarchieverständnis vgl. Dal Santo, Empire, 80 f.; Evans, Faith. Tatsächlich bat Gregor in seinen beiden ersten Briefen an den neuen Kaiser sogleich um Hilfe und Unterstützung für das von den Langobarden schwer bedrückte Italien, vgl. Greg.‑M. Ep. XIII, 32 (CCSL 140A, 1033, 16–1034, 29); XIII, 39 (CCSL 140A, 1042, 22–1043, 30). 576 Vgl. Greg.‑M. Ep. XIII, 34 (CCSL 140A, 1036, 36–1037, 42); P.‑Diac. Hist. Lang. IV, 32 (Schwarz, 238); Jenal, Stadt, 129. 577 Darauf verwies er noch im Juli 599, also Jahre nach seinen ersten Alleingängen, vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 196 (CCSL 140A, 752, 42–44). 578 Müller, B., Führung, 314. 579 Vgl. Jenal, Stadt, 129 f. 580 Vgl. Kap. 6.1.2. 581 Vgl. Demacopoulos, Ascetic, 111 f. 582 Gegen George Demacopoulos, der in der Bekehrung einen der drei zentralen Punkten von Gregors kontinuierlichen Langobardenstrategie sah. Da die Quellen keinerlei dortige Mission bezeugen, flüchtet er sich in die gewagte Hypothese: „Given Gregory’s efforts to convert the local populations in Gaul, Sardinia, and Kent (as well as the leaders in those regions), it would seem out of character that he did not make equal efforts among the Lombards. Indeed, it might be more likely that subsequent editors of Gregory’s correspondence erased the record of Gregory’s mission to the Lombards.“ Demacopoulos, Ascetic, 110.
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6 Die Praxis der tätigen Nächstenliebe im Handeln Gregors des Großen
Pontifikats hatte Gregor die Bischöfe Italiens zur Mission der Langobarden aufgerufen. Damit reagierte er auf den Tod König Autharis, der mehrheitskirchliche Taufen verboten hatte.583 In den folgenden Jahren verlor er darüber aber kein weiteres Wort mehr, vielmehr schien er aus friedenspolitischen Gründen den „Arianismus“ der Eroberer toleriert zu haben.584 Lediglich im Briefwechsel mit Theodelinde warb Gregor regelmäßig um Rechtgläubigkeit: Einerseits versuchte er die Langobardenkönigin aus dem Schisma im Zuge des Drei-Kapitel-Streits zurückzugewinnen,585 andererseits mahnte er sie zur Bekehrung ihres „arianischen“ Gatten.586 Beides gelang ihm zwar nicht,587 aber zu seiner Freude wurde immerhin der Thronfolger Adoald im mehrheitskirchlichen Ritus getauft.588 Für den römischen Bischof stellte ein stabiler, politischer Frieden offensichtlich eine obligatorische Bedingung für ein Missionsvorhaben dar, da in Kriegssituationen die jeweilige Religionszugehörigkeit automatisch ein Politikum darstellte. Weil das äußerliche, leibliche Wohl eine grundlegende Voraussetzung für das geistliche Wohl war, stellte Gregor das Ringen um dauerhaften Frieden in Italien der Sorge um den rechten Glauben der Langobarden voran.
6.3.2 Die Sorge für die Eintracht der Kirche In zahlreichen Briefen an Mitbischöfe betonte Gregor die einende Liebe, die alle Distanzen überwinden kann.589 In vergleichbarer Weise verdeutlichten die liturgische Verwendung der Diptycha und die Gebete füreinander die Einheit der universellen Kirche über die Grenzen der einzelnen Gemeinde hinweg.590 War diese Eintracht durch Streit gestört, so resultierten daraus seiner Meinung nach materielle,591 vor allem aber soteriologische Nachteile: Gott habe keinen Gefallen an Zwietracht und achte alle Werke außerhalb der Kirche für nichtig.592 Peter Eich formuliert Gregors Prinzip der kirchlichen Verbundenheit prägnant: „Die Einheit der Kirche stand für ihn [scil. Gregor] über allem, sie durfte nie und von niemanden riskiert werden. Gott konnte nur innerhalb dieser einen Kirche verehrt werden – Häretiker hatten den Zugang zu ihm verloren.“593 Aus diesem 583
Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 17 (CCSL 140. 16, 2–17, 13). Pietri, L., Westen, 904; Markus, World, 106; Richards, Leben, 198 f. 585 Vgl. Greg.‑M. Ep. IV, 33 (CCSL 140, 252, 1–253, 35) und Kap. 6.3.2.1. 586 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 68 (CCSL 140A, 624, 14–20). 587 Gegen Pietri, L., Westen, 904. 588 Vgl. Greg.‑M. Ep. XIV, 12 (CCSL 140A, 1082, 2–15). 589 Vgl. u. a. Greg.‑M. Ep. VI, 61 (CCSL 140, 434, 2–8). 590 Vgl. Greg.‑M. Ep. IV, 37 (CCSL 140, 258, 19–30). Auch den Gebrauch der Diptycha, dem Gregor viel abgewinnen konnte, erhob er dennoch nicht zur absoluten Pflicht, sondern stellte deren Einführung den Gemeinden frei. 591 Er befürchtete, dass der Streit zu Ausfällen in den Einnahmen der Gemeinden führen könnte, vgl. Greg.‑M. Ep. III, 26 (CCSL 140, 171, 13–17). 592 Vgl. Greg.‑M. Ep. IV, 33 (CCSL 140, 253, 25–27). 593 Vgl. Eich, Bischof, 136. 584 Vgl.
6.3 Engagement für Frieden
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Grund war Gregor stets darum bemüht, Konflikte wie den Drei-Kapitel-Streit, die Frage nach dem Titel des Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel sowie die Auseinandersetzung um den rechten Gebrauch des Palliums in Ravenna beizulegen. Dafür zeigte er sich häufig zu Kompromissen bereit, gerade bezüglich liturgischer und ritueller Fragen strebte er keine Uniformität aller Gemeinden an.594 Der Autonomie der einzelnen Kirche waren aber dann ihre Grenzen zu stecken, wenn sie die Rechte einer anderen Gemeinde beschnitt oder die Autorität des römischen Stuhls untergrub, welche Garantin der Ordnung und damit des Friedens im westlichen Patriarchat war.595
6.3.2.1 Der Drei-Kapitel-Streit Das Schisma in Norditalien, das nach dem zweiten Konzil von Konstantinopel 553 entstanden war,596 stellte eine der größten Herausforderungen des Pontifikats Gregors dar. Keiner seiner Vorgänger hatte den Drei-Kapitel-Streit beenden können. Noch immer lehnten die Kirchen in den Provinzen Venetien und Istrien die Verurteilung der unter dem Begriff der „Drei Kapitel“ subsummierten Werke Theodors von Mopsuestia, Theodorets von Cyrus und Ibas’ von Edessa ab und übten keine Gemeinschaft mit der römischen Kirche. Die Frage nach der kirchlichen Einheit war obendrein eng verknüpft mit geopolitischen Aspekten, weshalb sich ebenso die Kaiser – trotz ihres Desinteresses an theologischen Debatten – regelmäßig in die Angelegenheit einmischten.597 Gregor war mit der Auseinandersetzung bereits in seinem Diakonat, wahrscheinlich in seiner Zeit in Konstantinopel,598 in Berührung gekommen. Nachdem Pelagius II. sich in zwei Briefen ohne jeglichen Erfolg an die Schismatiker gewandt hatte,599 arbeitete sein Apokrisiar ein umfangreiches Schreiben aus, das erneut unter dem Namen des Papstes versandt und tradiert wurde.600 Im Hauptteil verteidigte er ausführlich die Verdammung der Drei Kapitel und 594
Vgl. Greg.‑M. IX, 26 (CCSL 140A, 586, 2–587, 50); Meyvaert, Diversity, 155–162. Greg.‑M. Ep. I, 40 (CCSL 140, 128, 52–129, 58). Zur Frage des Verhältnisses der Patriarchate untereinander vgl. Kap. 6.3.2.2. 596 Zur Vorgeschichte vgl. Kap. 2.2. 597 Vgl. Richards, Popes, 141; Caspar, Geschichte II, 423. 598 Die detaillierten Verweise auf die Konzilsakten und die übrigen, z. T. griechischen Quellen in dem Gregor zugeschriebenen Brief deuten auf diesen Kontext hin, vgl. Sotinel, Dilemma, 482; Müller, B., Führung, 76 f.; Markus, World, 128. Ein erster Berührungspunkt mit dem Konflikt bot sich allerdings bereits im Jahr 573, als Gregor als Stadtpräfekt die Wiederaufnahme der Mailänder Kirche in die Gemeinschaft mit Rom bezeugte, vgl. Greg.‑M. Ep. IV, 2 (CCSL 140, 218, 10 f.) und Kap. 2.2. 599 Vgl. Pelag. II. Ep. Episc. 1 f. (MGH.Ep. 2 App. III, 442, 10–449, 16). Carole Straw behauptet gar eine kontraproduktive Konsequenz dieser Briefe, welche das Zerwürfnis nur verstärkt hätten, vgl. Straw, Much, 122. 600 Vgl. Pelag. II. Ep. Episc. 3 (MGH.Ep. 2 App. III, 449, 21–467, 16). Paul Meyvaert hat die Autorenschaft überzeugend nachgewiesen, die bereits Paulus Diaconus behauptete, vgl. P.‑Diac. Hist. Lang. III, 20 (Schwarz 202) und Meyvaert, Letter. 595 Vgl.
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6 Die Praxis der tätigen Nächstenliebe im Handeln Gregors des Großen
konstatierte mit quellenbasierten Argumenten sowie dem Verweis auf sprachliche Irrtümer der Lateiner die Treue des Konzils von 553 zu demjenigen von Chalcedon.601 Auf diese Weise sollten die istrischen Bischöfe mit sachlichen Argumenten wieder für die Einheit der Kirche gewonnen werden. Anstatt der geschickten, wenn auch nicht immer wahrheitsgetreuen Rhetorik des Traktats602 interessieren an dieser Stelle besonders Gregors Mahnung zur Einheit und ihre Begründung. Gleich zu Beginn des Schreibens machte er deutlich, dass die Liebe, die Mutter aller Tugenden,603 ihn bzw. Pelagius II. dazu treibe, die Abtrünnigen zurück zur Kirche zu führen.604 In seinem Amt trage der Papst die Verantwortung für die Gemeinschaft der Christen. Ihm obliege es, wie ein Arzt die Wunde der Trennung zu verbinden und zu heilen.605 Deutlich zeichnet sich bereits hier, fünf Jahre vor seiner eigenen Wahl zum römischen Bischof, das Hirtenideal der Fürsorgepflicht für die anvertrauten Seelen ab, auf das Gregor in seinen späteren literarischen Werken,606 aber auch in seinem Wirken wiederholt zurückgriff.607 Verbunden durch die compassio litt der Papst gemeinsam mit dem gesamten Leib Christi unter der Verletzung der Einheit: „Denn weder freut sich das gesunde Haupt über kraftlose Arme, noch jubelt die Brust, dass sie geradezu unversehrt ist, weil sie von den Schmerzen der untergeordneten Organe berührt wird. Das ganze Gefüge des Körpers wird nämlich geschwächt, wenn ein Teil von ihm oder eine Extremität verletzt wird.“608 Insofern hatte das anhaltende Schisma nicht nur eine soteriologische Konsequenz für die Abtrünnigen. Auch die übrigen Christen litten unter der zerrissenen Kirche. Der Streit trübte als Schatten den Glanz der weltweiten Kirche.609 Und zuletzt würde sich der Papst 601 Insbesondere die seit Pelagius I. von der römischen Seite propagierte Unterscheidung zwischen den causae fidei und den speciales causae des Konzils von Chalcedon griff Gregor in dem Brief auf und bot darin erstmals eine ausführliche Erläuterung, vgl. Straw, Much, 123–125 et passim. 602 Carole Straw beschreibt den Brief in ihrer ausführlichen und kritischen Untersuchung der Argumentationsstruktur als „web of fact and fiction“ Straw, Much, 122; vgl. auch Müller, B., Führung, 77–79; Sotinel, Dilemma, 482. 603 Vgl. Kap. 5.2.2.3. 604 Vgl. Pelag. II. Ep. Episc. 3 (MGH.EP. 2 App. III, 449, 24–26). 605 Gregor greift auf die medizinische Metaphorik aus Jer 8,22 sowie aus der Hirtenrede Ezechiels Ez 34,4 zurück, vgl. Pelag. II. Ep. Episc. 3 (MGH.EP. 2 App. III, 450, 30–35) und Müller, B., Führung, 78. 606 Vgl. Kap. 5.2.2.2 und 5.6.2.1. 607 Vgl. Kap. 6.2, insbesondere 6.2.1; 6.2.4 und 6.2.5. 608 „Neque enim sanum caput brachiis marcentibus gaudet, nec se quasi incolume esse pectus laetatur, cum subiectorum viscerum doloribus tangitur; tota namque corporis compago afficitur, si pars eius vel extrema laceratur.“ Pelag. II. Ep. Episc. 3 (MGH.EP. 2 App. III, 450, 22–25); vgl. Straw, Much, 158 f.; Müller, B., Führung, 78. Zu Gregors Rezeption der paulinischen Leib-Metapher vgl. Kap. 5.3.3.1 und 5.6.3.3; zur Tugend der compassio vgl. Kap. 5.3.3.3 und 5.6.2.2. 609 Vgl. Pelag. II. Ep. Episc. 3 (MGH.EP. 2 App. III, 450, 20 f.); Straw, Much, 127 f.
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im Jüngsten Gericht dafür verantworten müssen, ob er die verirrten Schafe zur Herde zurückgeführt habe. Während Gregor das Streben nach Eintracht und Mitgefühl in der Mehrheitskirche betonte, stellte er hingegen den istrischen Bischöfen ein vernichtendes Urteil aus: Bei ihnen vermisste er jegliche Liebe und Friedenswillen. Im Gegenteil seien ihre Schreiben von „Herzenskälte“610 durchzogen. In der fehlenden Liebe aber sah er den eigentlichen Grund des Zerwürfnisses.611 Sie stellte eine notwendige und auch hinreichende Bedingung für die Überwindung der Trennung dar: „Das Feuer der Liebe wollte ich entzünden, so sehr ich konnte, und den so großen Brand der Spaltung löschen.“612 Trotz der ausführlichen und sachlichen Darlegung der Argumente forderte Gregor die istrischen Bischöfe schließlich dazu auf, die Sachfragen beiseite zu legen und durch Liebe das Schisma zu beenden.613 Auf äußerst diplomatische Weise zeigte er den Gegnern auf, dass diese Umkehr keinen Ehrverlust bedeutete: Wie Petrus sich bezüglich der Heidenmission eines Besseren belehren ließ, hatten auch die Päpste Vigilius und Pelagius I. nach einem Erkenntnisgewinn ihre Meinung geändert.614 Implizit forderte er damit die Schismatiker auf, dem apostolischen Beispiel zu folgen.615 Diese irenische Diskussionskultur behielt Gregor nach seiner Wahl zum Papst 590 allerdings nicht bei. Severus, der Bischof von Aquileia, war zwar 588 vom Exarchen Smaragdus und dem Bischof Ravennas mit Gewalt zur Kirchengemeinschaft gezwungen worden, entschied sich aber bald nach seiner Rückkehr aus dem Exil erneut für das Schisma.616 Über diesen Rückfall erbost tadelte Gregor ihn scharf und beorderte ihn auf Befehl des Kaisers zu einer Synode nach Rom.617 Dabei schreckte er vor Waffengewalt nicht zurück und schickte einen Tribun und einen Excubitor samt Soldaten, um seiner Einladung Nachdruck zu verleihen. Severus wandte sich, ebenso wie die schismatischen 610
„[…] mentis frigore“ Pelag. II. Ep. episc. 3 (MGH.EP. 2 App. III, 450, 8). Gleich neunmal verwendet er in der knapp anderthalb Seiten umfassenden Einleitung des Briefes einen der verschiedenen Liebes-Begriffe, wobei die zweimalige Anrede der Adressaten mit „dilectio vestra“ nicht mitgezählt ist. Zur Liebes-Terminologie vgl. Kap. 6.5. 612 „Ignem, quantum valui, caritatis accendi et tantae scissionis exurere rubiginem volui“ Pelag. II. Ep. Episc. 3 (MGH.EP. 2 App. III, 450, 3 f.). 613 Vgl. Pelag. II. Ep. Episc. 3 (MGH.EP. 2 App. III, 466, 4–467, 14). Carole Straw wertet dieses Vorgehen kritisch: „The unity of the Church necessitated compromises; the relative truth of historical fact would be subordinate to the absolute truth of love.“ Straw, Much, 153. Die Nebensächlichkeit des eigentlichen Streitpunktes betonte allerdings bereits Pelagius II., vgl. Sotinel, Dilemma, 481. 614 Pelag. II. Ep. Episc. 3 (MGH.EP. 2 App. III, 455, 3–456, 13.); Markus, World, 128 f. 615 Vgl. Müller, B., Führung, 78. 616 Vgl. Sotinel, Dilemma, 482–484; Markus, World, 129. 617 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 16 (CCSL 140, 16, 1–14). Zu dieser Angelegenheit vgl. Caspar, Geschichte II, 424 f.; Richards, Leben, 238 f.; Markus, World, 129–131; Sotinel, Dilemma, 484 f.; Pietri, L., Westen, 910. 611
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Bischöfe um Aquileia und Grado an den Kaiser.618 Sie erinnerten Mauricius daran, dass er ihnen bereits zugesagt hatte, in Ruhe gelassen zu werden, als Pelagius II. wenige Jahre zuvor den Vorgänger des Severus nach Rom zwingen wollte.619 Sobald die Langobarden aus Italien vertrieben seien, wollten sie sich in Konstantinopel vor dem Kaiser selbst versammeln, der neutraler richten könne als der römische Bischof.620 Sollte die Waffengewalt aber andauern, würden sie ihre Loyalität zum Kaiser einschränken und sich fortan nach Gallien orientieren.621 Aufgrund dieser Erpressung untersagte Mauricius dem Papst, weitere Unruhe zu stiften und die Schismatiker zur Union zu drängen, solange Italien nicht befriedet war.622 Die Eskalation in Gregors Vorgehen lässt sich damit erklären, dass Severus für ihn kein unwissender Verirrter mehr war, der zu bekehren sei, sondern jemand, der bewusst zum falschen Weg zurückgekehrt war.623 Obwohl Gregor mit Sicherheit sehr unzufrieden war, dass ihm in diesem zentralen kirchlichen Konflikt die Hände gebunden waren, fügte er sich dem kaiserlichen Verbot.624 Ab sofort übte er keinen direkten Druck mehr auf die Schismatiker aus.625 Stattdessen suchte er andere Möglichkeiten, zumeist materieller Art, die Rückkehr in die Mehrheitskirche schmackhaft zu machen. So riet er Bischof Johannes von Ravenna, nicht dem niedergebrannten Grado ein Almosen zu schicken, sondern lieber einer anderen, in der Gemeinschaft mit Rom stehenden Stadt 618 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 16a (MGH.EP. 1, 17, 12–21, 23). Überliefert ist lediglich das Schreiben aus Grado. 619 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 16a (MGH.EP. 1, 18, 24–35). Zur Vorgeschichte unter Pelagius II. vgl. Markus, World, 129; Sotinel, Dilemma, 482–484. 620 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 16a (MGH.EP. 1, 20, 29–21, 11). 621 Greg.‑M. Ep. I, 16a (MGH.EP. 1, 20, 18–29). Tatsächlich suchten und fanden einige Verteidiger der Drei Kapitel Unterschlupf in Franken, worauf Gregor Königin Brunhilde hinwies, vgl. Greg.‑M. Ep. VIII, 4 (CCSL 140A, 520, 71–521, 85). 622 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 16b (MGH.EP. 1, 22, 1–23, 4). Barbara Müller bezweifelt mit Verweis auf diesen Brief, dass Mauricius überhaupt den Befehl zur Vorladung des Severus gegeben hätte, vgl. Müller, B., Führung, 185. Das kaiserliche Verbot ist aber als Reaktion auf die Drohung der Istrier zu verstehen. Insofern gehe ich davon aus, dass Mauricius ursprünglich mit der Maßnahme einverstanden gewesen war, zumal es nur schwer vorstellbar ist, dass Gregor ohne kaiserliche Bestätigung über den Tribun und den Excubitor mit ihren Soldaten verfügen konnte, vgl. Richards, Leben, 238; Caspar, Geschichte II, 424; Sotinel, Dilemma, 484; Markus, World, 130. 623 Vgl. Greg.‑M. Ep. 1, 16 (CCSL 140, 16, 5–10). 624 Johannes von Ravenna gegenüber deutete er zwar an, er wolle versuchen, den Kaiser noch umzustimmen. Ein entsprechendes Schreiben nach Konstantinopel ist aber nicht überliefert, vgl. Greg.‑M. Ep. II, 38 (CCSL 140, 123, 16–26) und Caspar, Geschichte II, 425. 625 Im August 592 versuchte er eine Gruppe von schismatischen Bischöfen mit sachlichen Argumenten zur Rückkehr zu überzeugen, die sich aufgrund von Verfolgungen an ihn gewandt hatten. Ihnen sandte er den dritten Brief des Pelagius II. in der Hoffnung zu, dass dessen Lektüre alle Widerstände abbaue, vgl. Greg.‑M. Ep. II, 43 (CCSL 140, 131, 1–132, 51). Zur nicht möglichen geographischen Einordnung dieser Bischöfe vgl. Caspar, Geschichte II, 425 f. FN 6.
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zu helfen, „weil ja Barmherzigkeit zuerst den Gläubigen und danach erst den Feinden der Kirche zu leisten ist.“626 Im Gegenzug bemühte er sich, in den Schoß der rechtgläubigen Kirche zurückgekehrte Personen finanziell zu unterstützen und vor Verfolgung durch die Abtrünnigen zu beschützen.627 Einige Rückkehrer wurden sogar in den kirchlichen Dienst übernommen.628 Gesprächsbereite Schismatiker lud Gregor zu sich nach Rom, sicherte eine Übernahme der Reisekosten zu und versprach eine sachliche Diskussion ohne jegliche Schikane, wenngleich er natürlich davon ausging, dass sie zu seiner Wahrheit finden würden.629 Durch das Verbot des Kaisers hatten sich die beiden Parteien in Italien in einer weitgehend friedlichen Koexistenz eingerichtet: die Verteidiger der Drei Kapitel in den langobardischen Gebieten und die Mehrheitskirche in den kaiserlichen Landstrichen. Allerdings kam es in Mailand nach der Wahl des Constantius,630 eines Vertreters der mehrheitskirchlichen Position, noch einmal zu Tumulten. Drei Suffraganbischöfe versagten ihm die Gefolgschaft, weil dieser dem Papst die Verdammung der Drei Kapitel schriftlich bestätigt haben soll (cautionem fecisse).631 Nur nach einer eidesstattlichen Erklärung des Constantius, dass er dies 626 „Quia misericordia prius fidelibus ac post est ecclesiae hostibus facienda.“ Greg.‑M. Ep. II, 38 (CCSL 140, 124, 54 f.), vgl. Richards, Leben, 239; Markus, World, 131; Pietri, L., Westen, 911. 627 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 14 (CCSL 140, 14, 2–15, 6); VI, 38 (CCSL 140, 412, 1–8); VI, 47 (CCSL 140, 419, 1–420, 13); VII, 34 (CCSL 140, 497, 1–498, 20); IX, 149 (CCSL 140A, 704, 1–705, 14); IX, 151 (CCSL 140A, 706, 2–9); IX, 202 (CCSL 140A, 760, 1–8); XII, 13 (CCSL 140A, 986, 1–987, 24). Eine Besonderheit stellt der Fall der Gemeinde der Insel Caprea dar. Diese wollte zur Gemeinschaft mit Rom zurückkehren, ihr Bischof nahm von diesem Plan jedoch Abstand, nachdem die Schismatiker ihn massiv unter Druck gesetzt hatten. Sollte er sich weiterhin den Verfolgern beugen, befahl Gregor, einen neuen Bischof zu wählen, vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 153 (CCSL 140A, 708, 24–709, 36); IX, 156 (CCSL 140A, 712, 2–713, 40). Zusätzlich bat er nun erstmals wieder den Exarchen Callinicus um militärischen Schutz für sie. Dieser zögert allerdings und verwies auf das Verbot des Kaisers aus dem Jahr 591, woraufhin der Papst die Freiwilligkeit der Konversion betonte, vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 142 (CCSL 140, 693, 1–694, 23); IX, 155 (CCSL 140A, 710, 1–711, 41) und Richards, Leben, 239 f. 628 Vgl. Greg.‑M. Ep. IV, 14 (CCSL 140, 232, 1–21); VII, 34 (CCSL 140, 498, 13–18); IX, 142 (CCSL 140A, 693, 1–694, 23) und Markus, World, 132. Sein milder und kompromissbereiter Umgang mit zurückgekehrten Ex-Schismatikern wurde allerdings nicht von allen geteilt. Ein unbekannter Bußwilliger warf dem Ravennater Bischof, der wohl eher zu den orthodoxen Hardlinern zu zählen ist, Unbarmherzigkeit vor, weil dieser die Buße nicht annehmen wolle, ganz im Gegenteil zu Gregor, vgl. Müller, B., Führung, 288. 629 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 56 (CCSL 140, 350, 1–351, 32); IX, 151 (CCSL 140A, 706, 9–707, 22). Gregor empfahl Constantius von Mailand zudem, in einem Rechtsstreit mehr Besitztümer zurückzuerstatten, als das Gesetz vorsah, um ihnen auf diese Weise die Rückkehr nahezubringen, vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 187 (CCSL 140A, 743, 2–17). 630 Zu den Unregelmäßigkeiten und der päpstlichen Einflussnahme vgl. Markus, World, 140–142; zur Bedeutung des Vorgängerbischofs Laurentius für den Konflikt vgl. Richards, Leben, 199. 631 Vgl. Greg.‑M. Ep. IV, 2 (CCSL 140, 218, 2–14); IV, 3 (CCSL 140, 219, 1–220, 23) und Müller, B., Führung, 286 f.; Richards, Leben, 199 f.; Markus, World, 139 f. Einem ähn-
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6 Die Praxis der tätigen Nächstenliebe im Handeln Gregors des Großen
nicht getan hätte, wären sie bereit, Frieden mit ihm zu schließen. Ein schriftlich fixiertes Bekenntnis zu den Drei Kapiteln untersagte Gregor ihm, stattdessen empfahl er ihm, lediglich seine Treue zu Chalcedon versichern.632 Pikanterweise schloss sich den Aufständischen Königin Theodelinde an, die Gregors Kontaktperson am langobardischen Hof war.633 Um weder diesen wertvollen Kontakt zu verlieren noch die mehrheitskirchliche Position aufzugeben, betonte er, dass die Beschlüsse des Konzils von Chalcedon nie infrage gestellt wurden. Das strittige Konzil von Konstantinopel hingegen erwähnte er gar nicht.634 Zudem drohte er an, dass ihre guten Werke verloren wären, wenn sie außerhalb der Kirche stände.635 Diese Gesprächstaktik erwies sich insofern als erfolgreich, dass sich das Verhältnis zur Langobarden-Königin deutlich entspannte.636 Damit war die diplomatische Taktik gefunden, mit der Gregor innerhalb des vom Kaiser eng gesteckten Rahmen dennoch für die kirchliche Einheit warb: „Ambiguity, silence and obfuscation were essential tactics in the dispute.“637 Die Beschlüsse des Konzils von 553, die der römische Bischof in seinem Traktat für Pelagius II. noch sehr breit ausgeführt hatte, ließ er nun stillschweigend unter den Tisch fallen.638 Deutlich trat die Diskussion inhaltlicher Fragen zunehmend in den Hintergrund.639 Inzwischen war, ähnlich wie im Umgang mit anderen christlichen Häresien,640 nur noch das formale Bekenntnis zur Kirchengemeinschaft von Relevanz. Obwohl der plötzliche Thronwechsel in Konstantinopel und der von Phocas erneut als Exarch eingesetzte Smaragdus noch einmal die Gelegenheit zu einer lichen Vorwurf sah sich auch Marinianus von Ravenna ausgesetzt, vgl. Greg.‑M. Ep. VI, 2 (CCSL 140, 370, 1–371, 19). 632 Vgl. Greg.‑M. Ep. IV, 37 (CCSL 140, 257, 2–258, 18). 633 Vgl. Greg.‑M. Ep. IV, 2 (CCSL 140, 218, 15–219, 24) und Sotinel, Dilemma, 487. 634 In einer ersten Version des Briefes verwies der römische Bischof noch explizit darauf. Da Constantius aber darin einen Anstoß für die Langobardin befürchtete, leitete er ihn erst gar nicht weiter, sondern ließ Gregor einen zweiten verfassen, der diesen Punkt beiseiteließ, vgl. Greg.‑M. Ep. IV, 4 (CCSL 140, 220, 1–221, 29); IV, 33 (CCSL 140A, 252, 1–253, 35); IV, 37 (CCSL 140, 258, 31–45) und Müller, B., Führung, 287 f. 635 Vgl. Greg.‑M. Ep. IV, 33 (CCSL 140, 253, 22–25). 636 Obwohl sie ihren Sohn Adoald nach mehrheitskirchlichem Ritus taufen ließ, verließ sie selbst das Schisma nicht, vgl. Richards, Leben, 200 f.; Balzaretti, Theodelinda, 205. Ihr Berater, der Abt Secundus warb schließlich in der römischen Kirche für die Drei Kapitel, weshalb Gregor ihm über Theodelinde die Konzilsakten zukommen ließ, vgl. Greg.‑M. Ep. XIV, 12 (CCSL 140A, 1082, 16–1083, 34). Der Ton dieses Briefes zeigt indes nicht mehr die Schärfe, die Gregor zu Beginn seines Pontifikats an den Tag gelegt hatte, vgl. Markus, World, 138. 637 Markus, World, 136. 638 Diese Strategie ist bereits bei Pelagius II. zu beobachten, vgl. Pelag. II. Ep. Episc. 2 (MGH.EP 2 App. III, 445, 35–449, 16) und Sotinel, Dilemma, 481 f.; Markus, World, 126. 639 Der Brief an die istrischen Bischöfe im August 592 und das umfassende Schreiben an den Asketen Secundinus stellen seltene Ausnahmen dar. Letzterem, der mit Robert Markus vielleicht als Theodelindes Berater, Abt Secundus, identifiziert werden kann, legte Gregor ausführlich seinen Standpunkt dar, vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 148 (CCSL 140A, 700, 52–704, 159) und Markus, World, 138. 640 Vgl. Kap. 6.2.3.
6.3 Engagement für Frieden
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aggressiveren Strategie eröffneten,641 scheint sich Gregor letztlich weitgehend mit der Situation abgefunden zu haben. Zugunsten einer kirchlichen Einheit Italiens, wenn auch nur auf der Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners, war er zu dogmatischen Unschärfen und Grauzonen bereit, die im Osten des Reiches sicher keine Zustimmung gefunden hätten.642 Dennoch hatte sich in den langobardischen Gebieten durch die Trennung vom Kaiserreich eine ebenso von Rom unabhängige Territorialkirche entwickelt, die erst durch die Synode von Pavia 698 wieder in die Mehrheitskirche eingegliedert wurde.643 Neben den reichs- und kirchenpolitischen Aspekten der Rückgewinnung von Schismatikern war Gregor zudem an der pastoraltheologischen Bedeutung gelegen. Bereits mehrfach ist deutlich geworden, dass er die tätige Nächstenliebe auch und insbesondere im geistlichen Bereich verwirklicht sehen wollte. Der Abschied vom Schisma und die Rückkehr in den Schoß der Kirche verstand er als Konversion zum rechten Glauben. Auf diesem Weg sollte der reuige Schismatiker in jeglicher Hinsicht unterstützt, vor Verfolgung bewahrt und mit offenen, vergebungsbereiten Armen empfangen werden. Der Nutzen (utilitas) des Zurückgekehrten musste dem eigenen gleichgestellt werden.644 In bekannter Weise motivierte Gregor hierzu mit dem Verweis auf den eigenen geistlichen Gewinn: „Ihr werdet in dieser Angelegenheit einen Vergelter Eurer Werke haben, den Schöpfer der Rechtschaffenheit und Integrität.“645 Insbesondere die Kirche sah er in der Verantwortung für die Orthodoxie der Gläubigen und für die Einheit ihrer selbst verpflichtet. Denn nur diese konnte die soteriologische Relevanz der Werke gewährleisten. Paradoxerweise ging die immense Sorge um den rechten Glauben nicht einher mit einem Eifer um dogmatische Korrektheit. Gregor eifert im DreiKapitel-Streit nicht um theologische Spitzfindigkeiten, sondern tolerierte eine große Bandbreite an Standpunkten, solange die Einheit mit der römischen Kirche gegeben war. Von diesem Bekenntnis machte er andere Werke der tätigen Nächstenliebe abhängig, wie die Ablehnung des Almosens für Grado belegt. Jegliche materielle Unterstützung knüpfte er an die Zugehörigkeit zur Mehrheitskirche. Die berühmte Formel Cyprians „salus extra ecclesiam non est“ erhielt so eine sehr konkrete, diesseitige Perspektive. 641 Im Falle des von den Schismatikern bedrängten Bischofs Firminus von Triest erinnerte Gregor Smaragdus an dessen früheres Eingreifen und bat ihn um vergleichbare Unterstützung, vgl. Greg.‑M. Ep. XIII, 34 (CCSL 140A, 1035, 2–1036, 35) und Müller, B., Führung, 399 f.; Richards, Leben, 240 f.; Caspar, Geschichte II, 489; Markus, World, 132 f. 642 Vgl. Müller, B., Führung, 288. 643 Vgl. Richards, Leben, 241. Andererseits war es Gregor durch den Konflikt gelungen, in den kaiserlichen Gebieten des Nordens die Autorität der römischen Kirche auszubauen, vgl. Markus, World, 139 f. 644 Vgl. Greg.‑M. Ep. XII, 13 (CCSL 140A, 987, 25–28). 645 „Habetis in hac causa retributorem vestri operis, rectitudinis ac integritatis auctorem.“ Greg.‑M. Ep. XIII, 34 (CCSL 140A, 1036, 31 f.), vgl. Markus, World, 131 f.
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6 Die Praxis der tätigen Nächstenliebe im Handeln Gregors des Großen
6.3.2.2 Die Auseinandersetzung um den Titel des ökumenischen Patriarchen Um die Eintracht innerhalb der Kirche rang Gregor am intensivsten und mit großer Ausdauer im Kontext der Diskussion mit den Patriarchen von Konstantinopel646 um den Titel οἰκουμενικὸς πατριάρχης bzw. patriarcha universalis.647 Diesen hatte Johannes der Faster in den Akten bzgl. der isaurischen Mönche,648 die er Gregor auf dessen Anfrage zugesandt hatte, „beinahe auf jeder Zeile“649 für sich verwendet. Die Konfliktträchtigkeit des Titels resultierte aus seinem breiten semantischen Spektrum: Neben dem vornehmlich auf der lateinischen Übertragung universalis gründenden Verständnis einer absoluten Vorrangstellung kann damit auch lediglich die Rolle innerhalb des eigenen Patriarchats oder der besondere Bezug auf die Hauptstadt des weltlichen Reiches ausgedrückt werden, das die ganze οἰκουμένη umfasste.650 Während Pelagius II. und Gregor das erste Verständnis ihrem Protest zugrunde legten und demzufolge einen Angriff auf die Rechte der römischen sowie der übrigen Kirchen beobachteten, ist es nicht eindeutig zu sagen, wie Johannes oder auch der ihm zur Seite stehende Kaiser den Titel verstanden.651 Die häufig gebotene Erklärung,652 Gregor sei lediglich einem sprachlichen Missverständnis aufgesessen und hätte daher zu Unrecht Protest eingelegt, 646 Zu der Auseinandersetzung vgl. u. a. Demacopoulos, Dispute; Modesto, Nachfolger, 47–173.272–279; Tuilier, André, Grégoire le Grand et le titre de patriarche œcuménique, in: Fontaine, J. et al. (Hgg.), Grégoire le Grand. Chantilly, Centre culturel Les Fontaines, 15–19 septembre 1982, Colloques Internationaux du CNRS, Paris 1986, 69–82; Tuilier, André, Le sens du mot œcuménique dans la tradition patristique, TU 92 (1966), 413–424; Vailhé, Siméon, Le titre de patriarche œcuménique avant Saint Grégoire le Grand, EOr 11 (1908), 161–171; Markus, World, 91–95; Eich, Bischof, 32–37; Fraisse-Coué, Osten, 945–948 et passim; Caspar, Geschichte II, 366 f. 452–465; Müller, B., Führung, 324–329; Richards, Leben, 224–228; Dudden, Place II, 201–228. 647 Der Titel begegnet seit dem frühen 6. Jahrhundert als Ehrenbezeichnung vornehmlich für die Patriarchen von Konstantinopel, aber auch die römischen Päpste. Als Selbstbezeichnung verwendete ihn jedoch zuerst Johannes der Faster in den Akten der Synode von Konstantinopel 588, vgl. Eich, Bischof, 133; Demacopoulos, Dispute, 603; gegen Caspar, Geschichte II, 455; Markus, World, 91. Gegen die Selbsttitulierung protestierte Gregors Vorgänger, Pelagius II., harsch, kassierte die Synodalbeschlüsse bzw. bestätigte sie nicht und untersagte obendrein seinem Apokrisiar die Abendmahlsgemeinschaft mit der Kirche von Konstantinopel, vgl. Greg.‑M. Ep. V, 39 (CCSL 140, 315, 29–33); V, 41 (CCSL 140, 320, 9–321, 18); V, 44 (CCSL 140, 329, 11–330, 18); IX, 157 (CCSL 140A, 714, 9–715, 20). Zur Begriffsgeschichte des Titels vgl. Vailhé; Titre, 66 f.; Tuilier, Sens; Tuilier, Titre, 71–73; Modesto, Nachfolger, 272–275; Fraisse-Coué, Osten, 945 f. 648 Vgl. zu dem Fall Kap. 6.2.3. 649 „[…] paene per omnem uersum“ Greg.‑M. Ep. V, 45 (CCSL 140, 337, 9 f.). 650 Zum Facettenreichtum des Begriffs sowie unterschiedlichen Deutungsweisen vgl. Demacopoulos, Dispute, 616–619; Modesto, Nachfolger, 272–279; Tuilier, Sens. 651 Auf die zwangsläufige Einseitigkeit aller Darstellungen aufgrund der auf Gregors Briefe beschränkten Quellenüberlieferung verweist Peter Eich, vgl. Eich, Bischof, 133. 652 Vgl. Richards, Leben, 228; Caspar, Geschichte II, 367; Tuilier, Titre, 72 f. 77; Eich, Bischof, 133; Modesto, Nachfolger, 147 f.
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ist nur bedingt überzeugend. Ein solches hätte spätestens nach seinem ersten Brief in der Sache sehr leicht aufgeklärt werden können, was aber offensichtlich nicht geschehen war.653 Vielmehr hielten Johannes und sein Nachfolger Cyriacus an dem Begriff mit seiner spätestens jetzt offensichtlichen Mehrdeutigkeit bewusst fest.654 Insofern ist davon auszugehen, dass sie die hierarchische Bedeutungsebene des Titels zumindest in Teilen mit intendierten, um die Rolle ihrer Kirche im Vergleich zu derjenigen Roms zu stärken. Gregor hatte Johannes den Faster in seiner Zeit als Apokrisiar kennen und für dessen strenge Askese schätzen gelernt.655 Allerdings war ihr Verhältnis bereits durch den erwähnten Häresieprozess gegen die Isaurier abgekühlt: Gregor hatte dessen übertriebene Fastenpraxis kritisiert und deren Aufrichtigkeit in Frage gestellt.656 Johannes wiederum war Gregors Einmischung in die Angelegenheit der konstantinopolitanischen Kirche mit Sicherheit ein Dorn im Auge gewesen. Auffällig ist, dass Gregor bereits zu diesem Zeitpunkt und in der vergleichsweisen kleinen Affäre eine andauernde Zwietracht befürchtete, die letztlich zum Schutz der canones dennoch einzugehen war.657 Der Verweis auf die kirchlichen Gesetze sollte im Streit um den universalis-Titel erneut begegnen. Anfangs hatte Gregor Johannes durch seinen Apokrisiar Sabinianus ausschließlich auf mündlichem Wege darum gebeten, den Titel fortan nicht mehr zu verwenden.658 Dennoch hatte dieses Vorgehen für Aufsehen in Konstantinopel gesorgt, sodass der Kaiser Gregor aufforderte, mit Johannes Frieden zu schließen.659 Nun unversehens selbst zur Verteidigung genötigt, verschärfte der Papst deutlich den Ton. Im Brief an Johannes warf er ihm unverblümt vor, die Verwendung dieser „überheblichen und törichten Bezeichnung“660 zeuge von einem Hochmut teuflischen Ausmaßes,661 der seiner Aufgabe als Lehrer der Demut diametral entgegenstehe und den Frieden der ganzen Kirche zerstöre.662 Da die Apostel selbst allesamt nur Glieder unter dem einen Haupt Christi waren, 653 Vgl.
Richards, Leben, 228. Demacopoulos, Dispute, 618. Jeffrey Richards geht noch einen Schritt weiter und vermutet, der Begriff sollte auf die Verärgerung des römischen Bischofs abzielen, vgl. Richards, Leben, 228. 655 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 41 (CCSL 140, 324, 102–109); Fraisse-Coué, Osten, 943. 656 Vgl. Greg.‑M. Ep. III, 52 (CCSL 140, 198, 21–28). 657 Vgl. Greg.‑M. Ep. III, 52 (CCSL 140, 198, 39–48). 658 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 44 (CCSL 140, 336, 199–201). 659 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 37 (CCSL 140, 308, 25–309, 28); V, 39 (CCSL 140, 315, 26 f.); Markus, World, 91. Es ist durchaus denkbar, wenn auch nicht zu belegen, dass Johannes den Kaiser um Hilfe ersucht hatte, dies vermutete Gregor selbst, vgl. Greg.‑M. Ep. V, 45 (CCSL 140, 337, 18–338, 21). 660 „[…] superbi et stulti uocabuli“ Greg.‑M. Ep. V, 44 (CCSL 140, 330, 41). 661 Zur Apokalyptik und der Antichrist-Metaphorik in dieser Auseinandersetzung vgl. Markus, World, 93; Savon, L’Antéchrist, 398–400. 662 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 44 (CCSL 140, 330, 31–331, 62). 654 Vgl.
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dürfe sich kein einzelner Bischof einen Vorrang anmaßen. Deshalb hatten auch die Päpste auf die Ehrenbezeichnung „universalis“ zugunsten des Patriarchenkollegiums verzichtet, die ihnen auf dem Konzil von Chalcedon zugesprochen worden war.663 Inständig forderte Gregor, den Titel abzulegen, der die Kirche spaltete (scindere).664 Obwohl er seine Liebe zu Johannes betonte, drohte er, seinen Standpunkt bis zum Äußersten, notfalls bis zur Exkommunikation des Johannes zu verteidigen,665 da er die „evangelischen Gebote, die kanonischen Einrichtungen und den Nutzen (utilitas) der Brüder“666 nicht preisgeben könne. Gleich zu Beginn der Auseinandersetzung trat Gregor also unnachgiebig und scharf anklagend auf. Außer an Johannes wandte er sich ebenso an Kaiser Mauricius,667 der ihn ja zur Versöhnung mit dem Patriarchen aufgefordert hatte. Obwohl er dessen Engagement für die kirchliche Eintracht lobte und seinen eigenen Friedenswillen unterstrich, fand er auch hier deutliche Worte: Das Wohl des Staates sei abhängig von der Einheit der Kirche sowie der Schuldlosigkeit der Bischöfe, und die Bedrohung durch die Langobarden sei letztendlich eine Folge der Sünden des Johannes.668 Trotz der Formulierung in der ersten Person Plural bezogen sich die (Selbst-)Anklagen vornehmlich auf Johannes und dessen nur vorgetäuschte Demut und Askese: „Die Gebeine schmälern wir mit Fasten, aber im Geist strotzen wir. Den Köper bedecken wir mit dürftigen Kleidern, aber sind in der Überheblichkeit des Herzens teurer als Purpur. Wir liegen in Asche, aber halten uns für erhaben. Anstatt Lehrer der Niedrigen sind wir Anführer des Hochmuts und verbergen die Wolfszähne unter der Gestalt des Schafs.“669
Mitnichten war Gregor bereit, seine Vorwürfe fallenzulassen, vielmehr forderte er den Kaiser direkt auf, der Überheblichkeit des Johannes ein Ende zu bereiten und diesen nötigenfalls gefangen zu nehmen. Immerhin verstieß die Verwendung des eitlen Titels gegen kaiserliche Gesetze, Synodalbeschlüsse und sogar den Rat Christi selbst.670 Damit war es nicht nur Gregors persönliche 663
Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 44 (CCSL 140, 332, 80–95). Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 44 (CCSL 140, 335, 176–178). 665 Mit Verweis auf Mt 18,15–17 klagte Gregor den Bischof von Konstantinopel nun vor der ganzen Kirche an, höre er immer noch nicht, sei er ein „Heide und Zöllner“, vgl. Greg.‑M. Ep. V, 44 (CCSL 140, 336, 189–203). 666 „[…] praeceptis euangelicis, institutionibus canonum, utilitatibus fratrum“ Greg.‑M. Ep. V, 44 (CCSL 140, 336, 206 f.). 667 Zudem bat der römische Bischof die Kaiserin um Unterstützung, vgl. Greg.‑M. Ep. V, 39 (CCSL 140, 314, 1–316, 65). 668 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 37 (CCSL 140, 308, 2–25). 669 „Ossa ieiuniis etteruntur, et mente turgemus. Corpus despectis uestibus tegitur, et elatione cordis purpuram superamus. Iacemus in cinere, et excesa despicimus. Doctores humilium, duces superbiae ouina facie lupinos dentes abscondimus.“ Greg.‑M. Ep. V, 37 (CCSL 140, 308, 20–24). 670 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 37 (CCSL 140, 309, 30–37). Den Verweis auf den Bruch der statuta evangelica und der canonum decreta bzw. sacratissimi canones bot der Papst in der Korres664
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Angelegenheit, sondern die der Kirche, des Reiches und Gottes, wie er gleich zweifach betonte.671 Über die reine Feststellung hinaus, er würde sich auch mit dem Schwert nicht zur Duldung des Titels zwingen lassen,672 legte er dem Kaiser seine Argumente dar: Trotz des besonderen Auftrags an Petrus673 und obwohl das Konzil von Chalcedon (451) es dem römischen Bischof zugestand, haben weder der Apostel noch die Päpste das Attribut universalis für sich in Anspruch genommen.674 Nur das pentarchiale Kollegium675 garantiere den dauerhaften Frieden und insbesondere die Rechtgläubigkeit der Kirche. Wenn aber ein einzelner Patriarch sich über die anderen erhob, wie es Johannes nun getan hatte, würde er alle ihm untergeordneten Bischöfe und damit die gesamte Christenheit im Falle eines dogmatischen Abfalls ins Verderben führen. Die Fehlbarkeit von Patriarchen hatte insbesondere die Kirche Konstantinopels bereits mehrfach erfahren.676 Gregor schloss den Brief mit der deutlichen, wenn auch unkonkreten Drohung, sollte der Kaiser seinen Bischof nicht zur Vernunft bringen, werde das schlimme Folgen haben.677 Die römische Reaktion auf die Friedensmahnung des Kaisers ist als äußerst selbstbewusst und geradezu aufmüpfig zu beschreiben.678 Den Tadel, er hätte den Konflikt verursacht und sei nicht zum Friedensschluss bereit, ließ er nicht auf sich sitzen. Die Einheit der Kirche sah er gerade durch den universalis-Titel in Gefahr und formulierte die Vorwürfe gegen Johannes sowie die Ratschläge an den Kaiser direkt und unverblümt.679 pondenz zu diesem Streitfall mehrfach, vgl. auch Greg.‑M. Ep. V, 37 (CCSL 140, 310, 62 f.); V, 39 (CCSL 140, 315, 37–39); V, 41 (CCSL 140, 321, 39–322, 42); V, 44 (CCSL 140, 336, 206–208). 671 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 37 (CCSL 140, 309, 30 f.; 53–58). Dagegen sieht Robert Markus den Konflikt verkürzend lediglich auf einer persönlichen Ebene: „Gregory saw the patriarch’s use of the title as the act of an individual bishop’s anti-Christian pride, threatening a breach of the Church’s peace and holiness. It was not an issue between Church and State, nor even a conflict over the status of the two sees, Rome and Constantinople.“ Markus, World, 93. 672 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 37 (CCSL 140, 310, 92–95). 673 Mit Joh 21,17; Lk 22,31 und Mt 16,18 f. führt Gregor die klassischen Belegtexte des späteren römischen Primatanspruchs an, freilich mit einer gänzlich anderen Intention, vgl. Greg.‑M. Ep. V, 37 (CCSL 140, 309, 38–47) und Modesto, Nachfolger, 149 f. 674 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 37 (CCSL 140, 309, 38–310, 83). 675 Zur Entwicklung des Pentarchie-Gedanken und der Differenz zwischen Ideal und Wirklichkeit vgl. Gahbauer, Ferdinand, Die Pentarchie-Theorie. Ein Modell der Kirchenleitung von den Anfängen bis zur Gegenwart, FTS 42, Frankfurt 1993. 676 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 37 (CCSL 140, 310, 65–83); vgl. Greg.‑M. Ep. V, 41 (CCSL 140, 324, 121–124); VII, 24 (CCSL 140, 479, 36–39). Gregor verwies an dieser Stelle auf Nestorius und Macedonius. 677 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 37 (CCSL 140, 310, 96–311, 116). 678 Insofern kann ich Barbara Müller nicht zustimmen, die in dem Brief „Respekt vor dem Kaiser“ entdeckt, Müller, B., Führung, 329. Die freundlichen und untertänigen Formulierungen sind vor allem dem gängigen Hofprotokoll geschuldet, das Gregor seit seiner Zeit als Apokrisiar gut vertraut war. 679 In ähnlicher Weise wandte er sich zwei Jahre später erneut an den Kaiser, vgl. Greg.‑M. Ep. VII, 30 (CCSL 140, 490, 1–491, 51).
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In den beiden Patriarchen von Antiochien und Alexandrien suchte Gregor Verbündete zu finden. An beide schickte er zeitgleich zu den Schreiben nach Konstantinopel einen Brief, in dem er die bereits bekannten Argumente aufführte.680 Stärker als gegenüber dem Kaiser verdeutlichte er aber die Konsequenz des strittigen Attributs für das Amt und die Kirchen der beiden Patriarchen. Ihr Ansehen werde dadurch geschmälert, schließlich erhebe sich der vom Satan verführte Johannes über alle anderen Glieder Christi. Um die Einheit und Eintracht der Bischöfe zu wahren, müsse die kollegiale Pentarchie unbedingt verteidigt werden.681 Insofern forderte Gregor Eulogius und Anastasius auf, die eigenen Kirchen zu schützen und diesen Titel, der ihnen selbst Schaden zufügte, keinesfalls zu tolerieren oder in Briefen nach Konstantinopel zu verwenden.682 Obwohl er eingangs betont hatte, vom Kaiser sei keine Repression zu fürchten,683 forderte er im letzten Absatz des Briefes, gegebenenfalls mit dem eigenen Leben für die Wahrheit einzustehen.684 Dieser Widerspruch ist nur damit zu erklären, dass Gregor die Ernsthaftigkeit seines Kampfes für die Einheit der Kirche unterstreichen und seiner Bitte um Unterstützung mit allen Mitteln Nachdruck verleihen wollte. Diese erhielt er indes von beiden Patriarchen nicht: Anastasius von Antiochien verstand die ganze Aufregung um ein einzelnes Wort nicht und empfahl wie der Kaiser, die Sache auf sich beruhen zu lassen.685 Eulogius von Alexandrien hingegen reagierte auf das päpstliche Schreiben zuerst gar nicht und versuchte auf diese Weise Gras über die strittige Sache wachsen zu lassen.686 Auf das erneute Nachhaken des römischen Bischofs hin erklärte er sich schließlich bereit, den Titel fortan nicht mehr zu verwenden.687 Dennoch verärgerte er Gregor erneut, indem er dessen Bitte als „Befehl“688 titulierte und ihn obendrein als papa universalis ansprach689 – offensichtlich hatte er das Anliegen nicht verstanden.690 Zu Gregors Enttäuschung wurde ihm also auch in Antiochien und Alexandrien keine Unterstützung, ja nicht einmal Verständnis zuteil. Nachdem der Nachfolger des im Sommer 595 verstorbenen Johannes, Cyriacus, den strittigen 680 Gregor verwies auf die Vorgeschichte des Konfliktes und das Vorbild seines Agierens unter Pelagius II., wovon er die Akten und Korrespondenz als Beleg beifügte, vgl. Greg.‑M. Ep. V, 41 (CCSL 140, 320, 3–321, 25). Ebenso erwähnte er das Konzil von Chalcedon, das dem römischen Bischof „den Namen der Universalität“ (uniuersitatis nomen) zugeeignet, den dieser aber nie in Anspruch genommen hatte, vgl. Greg.‑M. Ep. V, 41 (CCSL 140, 321, 26–36). 681 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 41 (CCSL 140, 323, 78–324, 121). 682 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 41 (CCSL 140, 321, 37–322, 46; 324, 125–325, 132). 683 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 41 (CCSL 140, 321, 39–322, 42). 684 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 41 (CCSL 140, 325, 132–141). 685 Vgl. Greg.‑M. Ep. VII, 24 (CCSL 140, 479, 23–480, 44); Demacopoulos, Dispute, 612. 686 Vgl. Greg.‑M. Ep. VI, 61 (CCSL 140, 435, 31–38); Markus, World, 94. 687 Vgl. Greg.‑M. Ep. VIII, 29 (CCSL 140A, 552, 43–51). 688 „[…] iussionis“ Greg.‑M. Ep. VIII, 29 (CCSL 140A, 552, 51). 689 Vgl. Greg.‑M. Ep. VIII, 29 (CCSL 140A, 552, 56–553, 68). 690 Vgl. Eich, Bischof, 135.
6.3 Engagement für Frieden
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Titel trotz der Warnungen aus Rom691 weiterhin führte, hielt der Papst daran fest, seinem Apokrisiar in Konstantinopel die Messgemeinschaft mit dem Patriarchen zu untersagen.692 Zudem verschärfte er abermals den Ton und drohte explizit das Schisma an: „Denselben Bruder aber habe ich eifrig ermahnt, dass er sich von solchem Aberglauben abkehrt, weil er, falls er diesen nicht bessert, mit uns keinesfalls Frieden haben wird.“693 Tatsächlich ist aus den verbleibenden knapp sieben Jahren lediglich ein weiterer Brief an Cyriacus erhalten. In diesem warnte Gregor erneut vor einer Trennung aufgrund des stolzen Titels.694 Der direkte Kontakt zwischen den beiden Patriarchaten war also, sofern nicht just Briefe an diese Adresse in der Überlieferung verloren gegangen sind, fast vollständig zum Erliegen gekommen. Auch in seiner Korrespondenz jenseits von Konstantinopel geriet das Thema nicht aus dem Blick. Als 599 in der Hauptstadt eine Synode abgehalten wurde, wandte sich der Papst an die illyrischen Bischöfe,695 die zwar offiziell Rom unterstanden, dennoch aber zu der Synode der pars Orientis geladen waren – wohl ohne vorherige Rücksprache mit Gregor.696 Er verbat ihnen zwar nicht die Teilnahme an der Versammlung, versuchte sie aber dennoch bezüglich des Titelstreits auf seine Linie zu bringen: Er informierte sie über die Vorgeschichte zu Zeiten seines Vorgängers Pelagius II. und seinem eigenen Festhalten an den Anweisungen für die Messfeiern in Konstantinopel. Zudem legte er ihnen seine Sicht der Dinge dar: Johannes bzw. Cyriacus wurden vom Teufel dazu verführt, diesen stolzen und überheblichen Titel zu beanspruchen, der die Kirche spaltete (discissio) und alle übrigen Kirchenoberhäupter herabsetzte. „Denn wenn einer, 691 Vgl. Greg.‑M. Ep. VII, 4 (CCSL 140, 446, 15–447, 30); VII, 5 (CCSL 140, 451, 120–452, 147); VII, 28 (CCSL 140, 486, 8–19). 692 Dies stieß sowohl beim Kaiser als auch bei den Patriarchen von Antiochien und Alexandrien auf Missbilligung, weshalb sich Gregor zur Rechtfertigung gezwungen sah und betonte, er gewähre in Rom den Abgesandten des Cyriacus selbstverständlich die Konzelebration, vgl. Greg.‑M. Ep. VII, 30 (CCSL 140, 490, 2–491, 31); VII, 31 (CCSL 140, 10–25). 693 „Eundem uero fratrem admonere studui ut se a tali superstitione corrigat, quia, si hanc non correxerit, pacem nobiscum nullomodo habebeit.“ Greg.‑M. Ep. VII, 31 (CCSL 140, 492, 23–25). 694 Vgl. Greg.‑M. Ep. XIII, 41 (CCSL 140A, 1045, 1–1046, 26)=XIII, 44 (CCSL 140A, 1050, 1–26); Eich, Bischof, 135; Richards, Leben, 228; Fraisse-Coué, Osten, 948. Diese Tatsache ist in der umfangreichen Literatur zu der Auseinandersetzung häufig übersehen worden. Zumeist wird behauptet, Gregor hätte seine Niederlage eingesehen und ein normales Verhältnis zu Cyriacus gepflegt, vgl. Markus, World, 94; Modesto, Nachfolger, 235; Caspar, Geschichte II, 463. Repräsentativ dafür steht das Resümee George Demacopoulos’: „[I]t is curious that Gregory’s campaign against the title essentially came to a close in the year 600, four years and more than 100 letters before his death.“ Demacopoulos, Dispute, 615. In FN 85 auf derselben Seite wird der Brief an Cyriacus zwar erwähnt, diese schließt aber mit der These, Gregor hätte das Thema auf sich beruhen lassen, um kein Schisma zu eröffnen bzw. die inzwischen besseren Kontakte zum Kaiserhof und Exarchat nicht zu gefährden. 695 Zur komplexen kirchlichen Struktur des Illyricums im 5. und 6. Jahrhundert vgl. Flusin, Bischöfe, 576–578; Caspar, Geschichte II, 437–442. 696 Vgl. Fraisse-Coué, Osten, 947; Tuilier, Titre, 71; Eich, Bischof, 135.
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6 Die Praxis der tätigen Nächstenliebe im Handeln Gregors des Großen
wie er glaubt, ein allgemeiner [Bischof] ist, resultiert daraus, dass ihr keine Bischöfe seid!“697 Abschließend warnte er sie davor, auf der Synode das strittige Attribut zu nutzen oder auch nur zu tolerieren,698 andernfalls drohte ihnen die Trennung von Rom (segregatus a beati Petri apostolorum principis pace).699 Gegenüber allen seinen Gesprächspartnern und in der Summe immerhin fünfmal sprach der römische Bischof ein Schisma als letzte Konsequenz der Auseinandersetzung an. Dazu ist es letztendlich nicht gekommen, da Gregor nicht zum Urheber der Trennung werden wollte, wie er Eulogius im Sommer 599 gestand.700 Allerdings hatte er weder seine Position noch seinen Widerstand gegen den universalis-Titel aufgegeben.701 Vielmehr hoffte er nach seiner eigenen Aussage darauf, dass andere, im Speziellen Eulogius von Alexandrien auf der Synode von 599, diesen Kampf für ihn ausfochten.702 Tatsächlich wurde auf der Bischofsversammlung wohl kein Beschluss gefasst, der den strittigen Titel enthielt.703 In der Auseinandersetzung um den Titel des ökumenischen Patriarchen fallen Gregors scharfer Tonfall und seine Unnachgiebigkeit auf. Anders als in anderen Streitfällen und Konflikten704 kam er seinem Gegenüber nicht einen Schritt entgegen und war zu keinem Kompromiss bereit. Hier ging es nicht um eine Frage der liturgischen Praxis oder die Akzeptanz eines für Rom ohnehin nicht so positiv konnotierten Konzils, sondern um die Einheit der Kirche, die er in ihren Grundfesten gefährdet sah.705 Sicherlich begehrte Gregor auch gegen den Bedeutungszuwachs des konstantinopolitanischen Bischofsstuhls und den damit einhergehenden Machtverlust Roms auf.706 Allerdings forderte er an keiner Stelle der Auseinandersetzung einen Vorrang des Stuhles Petri oder gar einen universalen Primat.707 Vielmehr 697 „Nam si unus, ut putat, uniuersalis est, restat ut uos episcopi non sitis.“ Greg.‑M. Ep. IX, 157 (CCSL 140A, 715, 42 f.). 698 Zusätzlich merkte er an, dass Synodalbeschlüsse ohne die nachträgliche Zustimmung Roms ohnehin nichtig wären, vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 157 (CCSL 140A, 715, 50 f.). 699 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 157 (CCSL 140A, 716, 69–73); vgl. Müller, B., Führung, 326; Demacopoulos, Dispute, 614. 700 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 176 (CCSL 140A, 733, 8–10). 701 Diese Behauptung findet sich allerdings häufig in der umfangreichen Literatur zu der Auseinandersetzung, vgl. Markus, World, 94; Modesto, Nachfolger, 235; Caspar, Geschichte II, 463. 702 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 176 (CCSL 140A, 733, 10–14); X, 21 (CCSL 140A, 852, 14–19). 703 Vgl. Greg.‑M. Ep. X, 31 (CCSL 140A, 852, 12–14); Demacopoulos, Dispute, 614. Allerdings hatte Gregors Apokrisiar Anatolius die Synode vorzeitig verlassen, sodass er dessen nicht ganz sicher war, vgl. Greg.‑M. Ep. X, 21 (CCSL 140A, 852, 14–16). 704 Vgl. Kap. 6.3.2.1 und 6.3.2.3. 705 Vgl. Modesto, Nachfolger, 165. 706 So Müller, B., Führung, 327 f. 707 Dieser Terminus wird insbesondere von römisch-katholischen Forschern wie Frederick Dudden und Erich Caspar, neuerdings aber auch von Peter Eich gebraucht, der meines Erachtens aber gänzlich anachronistisch ist, vgl. Demacopoulos, Dispute, 614. Auch Johannes
6.3 Engagement für Frieden
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hielt er an der kollegialen Pentarchie auf Augenhöhe fest, die seiner Meinung nach als Einzige die Eintracht und Einheit der Kirche garantieren konnte.708 Der kirchliche Frieden sei von Christus selbst geboten und die concordia stelle einen Aspekt der Nächstenliebe dar. Darüber hinaus besitze gerade die Eintracht der Bischöfe untereinander eine enorme soteriologische Relevanz: Die Kirche kann nur als intakter Leib Christi das Heil vermitteln. Durch ihre Vorbildfunktion führen zerstrittene Hirten die ihnen untergebenen Gläubigen zwangsläufig in die Irre.709 Mit diesem Blick auf die utilitas fratrum führte Gregor den Kampf um die Einheit der Kirche, für die er notfalls bis in den Tod gegangen wäre.710
6.3.2.3 Der Palliumsstreit mit Ravenna Als weiterer großer Konflikt erstreckte sich der Palliumsstreit mit der Kirche in Ravenna über viele Jahre des Pontifikats Gregors.711 Hinter der auf den ersten Blick nicht ganz so bedeutenden Frage nach dem legitimen Gebrauch liturgischer Kleidung verbarg sich indes die wachsende Konkurrenz zwischen den Kirchen in Rom und Ravenna. Während jener als einzigem Patriarchat im Westen seit jeher eine Vorrangstellung zukam, erlangte diese seit der Zeit Justinians einen enormen Bedeutungszuwachs, der das Exarchat gezielt nicht in Rom, sondern in Ravenna eingerichtet hatte.712 Dadurch standen sich die alte Hauptstadt des römischen Reiches und die Vertretung der neuen gegenüber. In diesen Wettstreit gerieten zunehmend auch die Kirchen beider Städte.713 Modesto verwendet ihn, obwohl er ihn von Gregor nicht gefordert sieht, vgl. Modesto, Nachfolger, 277. Zur Geschichte des römischen Primatsanspruchs vgl. Schatz, Klaus, Der römische Primat. Seine Geschichte von den Ursprüngen bis zur Gegenwart, Würzburg 1990. 708 Vgl. Demacopoulos, Dispute, 611; Eich, Bischof, 134. In einem weiteren Brief an Eulogius von Alexandrien, der wahrscheinlich ebenso auf den Konflikt verweist, nahm Gregor die Lehre von den drei petrinischen Bischofsstühlen auf, vgl. Greg.‑M. Ep. VII, 37 (CCSL 140, 500, 2–501, 39) und Müller, B., Führung, 326 FN 104; zur Entwicklung der Lehre vgl. Schatz, Klaus, Allgemeine Konzilien – Brennpunkte der Kirchengeschichte, UTB 1976, Paderborn 22008, 64 f. Zur erst späten Behauptung einer apostolischen Tradition für Konstantinopel vgl. Dvornik, Francis, The Idea of Apostolicity in Byzantium and the Legend of the Apostle Andrew, DOS 4, Cambridge 1958. 709 Vgl. Kap. 5.2.2.2. 710 Zudem vermutete er, dass dem Titelgebrauch vornehmlich die superbia, die Mutter aller Laster, zugrunde lag, vgl. Demacopoulos, Dispute, 602 f. Insofern kann der vehemente Protest Gregors zudem als brüderliche correctio, also einer zentralen geistlichen Form der tätigen Nächstenliebe verstanden werden, vgl. Kap. 6.2.4.2. 711 Zu dieser Angelegenheit vgl. Richards, Leben, 119–121; Eich, Bischof, 124 f.; Modesto, Nachfolger, 119 f.; Dudden, Place I, 434–442; Müller, B., Führung, 293 f. 712 Vgl. Richards, Leben, 119; Richards, Popes, 154–156 und Sotinel, Claire, Die Kirchen und die byzantinische Rückeroberung B. Italien, in: Pietri, L. (Hg.), Der lateinische Westen und der byzantinische Osten (431–642), GCh 3, Freiburg/Basel/Wien 2001, 767–785, hier: 781–784. 713 Robert Markus betont, dass das Verhältnis der beiden Kirchen vorerst aber noch weitgehend kooperativ und harmonisch war, obwohl Rom den Metropolitanstatus Ravennas
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6 Die Praxis der tätigen Nächstenliebe im Handeln Gregors des Großen
Das Pallium war ein schmaler, heller, mitunter mit Kreuzen verzierter Stoffstreifen, der im Westen ab 500 begegnet und anfangs ausschließlich als Insignie des römischen Bischofs fungierte.714 In den folgenden Jahrzehnten wurde das Pallium vom Papst an verdiente Episkopen verliehen, ohne dass damit weitergehende Rechte einhergingen.715 Vielmehr sollte damit der ausgezeichnete Bischof eng an den römischen Stuhl gebunden werden.716 Sollte die Insignie an einen Empfänger außerhalb des Kaiserreiches überreicht werden, musste der Kaiser zustimmen.717 Üblicherweise wurde das Pallium als Element der liturgischen Kleidung und ausschließlich während der Messzelebration getragen. Im Juli 593 tadelte Gregor den Ravennater Bischof Johannes II. scharf, weil dieser die Insignie bereits bei der Begrüßung der Gemeinde in der Sakristei vor Beginn der Messfeier und ebenso bei Prozessionen durch die Straßen der Stadt trug.718 Obwohl er Johannes, der ursprünglich aus Rom stammte, ansonsten sehr schätzte,719 wies er ihn in dieser Angelegenheit deutlich in die Schranken. Die selbstständige Abänderung der überlieferten Tradition verdeutliche die fehlende Demut des Ravennater Bischofs.720 Zudem fürchtete er um den Frieden zwischen den verschiedenen Kirchen in Italien, weil andere Metropoliten, denen ebenfalls das Pallium verliehen worden war, den Sonderweg Ravennas als Bevorzugung und Vorrangstellung werten konnten. Insofern untersagte Gregor die Fortführung des unerlaubten Palliumsgebrauchs, falls Johannes keinen Nachweis über die Vorrechte (priuilegia) vorlegen konnte.721 Zuletzt drohte der römische Bischof, durchgängig ignorierte, vgl. Markus, Robert A., Ravenna and Rome. 544–604, Byz. 51 (1981), 566–578, hier: 566–572. 714 Vgl. Schrenk, Sabine/Weckwerth, Andreas/Zanella, Francesco Art.: Pallium, RAC 26 (2016), 803–831, hier: 821. Im Osten hatte sich schon etwa ein Jahrhundert früher das vergleichbare Omophorion entwickelt, dass allerdings von allen Bischöfen getragen wurde, vgl. Schrenk/Weckwerth/Zanella, Pallium, 823–825; Dudden, Place I, 435. 715 Die vormals wohl übliche Verknüpfung mit einer obligatorischen Zahlung an die römische Kirche verbot Gregor auf der römischen Synode von 595 als simonistisches Vorgehen, vgl. Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 57a, 5 (MGH.Ep. I, 364,23–365, 11). 716 Schrenk/Weckwerth/Zanella, Pallium, 821–823. 717 Vgl. Greg.‑M. Ep. VIII, 4 (CCSL 140A, 519, 13–41); Richards, Leben, 120. 718 Vgl. Greg.‑M. Ep. III, 54 (CCSL 140, 200, 13–16). 719 Ihm hatte er seine Pastoralregel gewidmet, vgl. Greg.‑M. Past. Prol. (SC 381, 124, 1 f.), Kap. 4.6 und Müller, B., Führung, 119–123. Außerdem lobte er ihn für den Umgang mit den istrischen Schismatikern und übertrug ihm die Aufsicht über diejenigen Bischöfe der römischen Metropolie, die aufgrund der langobardischen Belagerung nicht mehr nach Rom reisen konnten, vgl. Greg.‑M. Ep. II, 25 (CCSL 140, 111, 16–25); II, 38 (CCSL 140, 123, 16–26); Richards, Leben, 181; Dudden, Place I, 437, Pietri, L., Westen, 909. 720 Vgl. Greg.‑M. Ep. III, 54 (CCSL 140, 200, 16–201, 30). 721 Im römischen Bischofsarchiv war kein entsprechendes Schriftstück aufzufinden und auch Augenzeugen konnten den Brauch nicht bezeugen, vgl. Greg.‑M. Ep. III, 54 (CCSL 140, 201, 49–202, 63). Die überlieferte Urkunde zur Palliumsverleihung an Ravenna, die von Papst Johannes III. im September 569 ausgestellt worden war, enthält keine weiteren Angaben zum konkreten Gebrauch, vgl. Greg.‑M. Ep. App. 7 (CCSL 140A, 1100, 1–14).
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ihm das Pallium gänzlich zu entziehen, sollte er sich an das Verbot nicht halten.722 In seinem Antwortschreiben bekannte sich Johannes zwar zum Gehorsam gegenüber dem römischen Stuhl und wollte den strittigen Gebrauch des Palliums bis zur endgültigen Klärung aussetzen. Dennoch bestand er auf die lange Tradition des Privilegs, welche zahlreiche Menschen der Stadt bezeugen konnten, und erwartete die offizielle Erlaubnis aus Rom.723 In dem Schreiben wird deutlich, wie stark Johannes für die Interessen Ravennas – zum Nachteil Roms – eintrat. Da Johannes im weiteren Verlauf des Konfliktes einflussreiche Unterstützung durch den Exarchen, den Präfekten und hochrangige Vertreter des Stadtadels gewinnen konnte,724 ließ sich Gregor zähneknirschend auf folgenden Kompromiss ein, obwohl sich für die Praxis lediglich ein einziger Zeuge finden ließ: Der Ravennater Bischof durfte an vier Gelegenheiten im Jahr (an den Gedenktagen Johannis, Petri und des Ortsheiligen Apollinaris sowie am Jahrestag der eigenen Bischofsweihe) mit dem Pallium bekleidet eine Prozession durch die Stadt durchführen. In Vorbereitung der Messfeier sollte das Pallium aber erst nach der Begrüßung des Volkes in der Sakristei angelegt werden, um es keinesfalls als Schmuck der eigenen Person zu missbrauchen.725 Doch der Friede hielt nicht lange an, denn Gregor erfuhr, dass Johannes fortwährend regelmäßig das Pallium außerhalb der Kirche trug und obendrein schlecht über ihn redete. In äußerster Wut schrieb dieser: „Jedenfalls danke ich dem allmächtigen Gott, dass die Langobarden zu der Zeit, als mir berichtet wurde, was meinen Vorgängern niemals zu Ohren gekommen war, zwischen mir und der Stadt Ravenna standen. Denn sonst hätte ich vielleicht den Menschen bewiesen, wie streng ich zu sein weiß!“726
Dennoch versuchte er, die Brücke des Friedens nicht abzubrechen, sondern betonte seine Wertschätzung Ravenna gegenüber und seine Liebe (caritas) zu Johannes. Bezüglich des Palliumsgebrauchs wollte er zudem die Recherche ausweiten und nun auch im Osten des Reiches nach der dortigen Praxis der Metropoliten fragen lassen.727 722 Vgl. Greg.‑M. Ep. III, 54 (CCSL 140, 202, 63–78); Richards, Leben, 120. Deutlich kompromissbereiter zeigte sich Gregor in der ebenso strittigen Frage, ob der Ravennater Klerus Manipel (mappulae) tragen durfte, was eigentlich ein Privileg des römischen war. Gregor gestattete den Gebrauch durch den ersten Diakon in Ravenna, vgl. Greg.‑M. Ep. III, 54 (CCSL 140, 203, 99–111); Müller, B., Führung, 293. 723 Vgl. Greg.‑M. Ep. App. 6 (CCSL 140A, 1097, 1–1099, 70); Dudden, Place I, 438 f. 724 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 11 (CCSL 140, 277, 3–6); Richards, Leben, 120. 725 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 11 (CCSL 140, 277, 6–19). 726 „Et quidem ago omnipotenti Deo gratias, quia eo tempore quo ad me hoc peruenit, quod ad aures decessorum meorum numquam peruenat, Langobardi inter me et Rauennatem ciuitatem positi fuerunt. Nam ostendere forsitan hominibus habui quantum scio esse districtus.“ Greg.‑M. Ep. V, 15 (CCSL 140, 281, 21–25). 727 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 15 (CCSL 140, 281, 26–35). Auch im Osten, wo in Entsprechung
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Kurze Zeit später, im Februar 595, verstarb Johannes II. und der Papst weihte nach einer schwierigen Wahl728 schließlich seinen langjährigen Vertrauten, den Mönch Marinianus aus dem römischen Andreaskloster, zum Bischof Ravennas, obwohl diesem die Amtspflicht widerstrebte.729 Gleich zu Beginn von dessen Episkopat verlieh Gregor ihm das Pallium und bestätigte das bereits Johannes zugesagte Privilegium, die Insignie zu den vier genannten Gelegenheiten für Prozessionen außerhalb der Kirche tragen zu dürfen.730 Die Hoffnung auf ein Ende des Konflikts, die gewiss hinter dieser Personalentscheidung gestanden hatte, ging nicht in Erfüllung: In den folgenden Jahren erreichten ihn weiterhin Bitten aus Ravenna, er möge doch den regelmäßigen Palliumsgebrauch für Prozessionen durch die Stadt erlauben, wie es vermeintlich schon lange Tradition gewesen sei.731 Erneut zeigte sich Gregor bereit, auf die Ravennater Gemeinde zuzugehen und beauftragte seinen dortigen Notar, all diejenigen Kleriker zu befragen, die bereits unter Johannes II. im Kirchendienst gewesen waren. Falls sie den regelmäßigen Gebrauch des Palliums auf den Straßen bestätigten und dieses mit einem Eid am Grab des Märtyrers Apollinaris bezeugten, war er zu dem noch weitergehenden Kompromiss bereit, den Palliumsgebrauch generell auch außerhalb der Kirche zu gestatten.732 Er versuchte also weiterhin, Licht in das Dunkel dieser Angelegenheit zu bringen, „damit wir weder dieser Kirche versagen, was schon länger Brauch war, noch gestatten, was als Neues zu erbitten gewagt wird.“733 Aus dem Briefregister geht nicht zweifellos hervor, ob die Frage endgültig geklärt werden konnte.734 Wahrscheinlich verlief sie im Sande oder wurde von Gregor mit Blick auf die herausragende politische Stellung Ravennas aus strategischen Gründen fallengelassen. Sicherlich hatte sein gutes persönliches Verhältnis mit beiden Ravennater Bischöfen die Eskalation weitgehend verhindert. Außerdem wollte und durfte er durch den Streit nicht die Verbindung zur dortigen Kirche und damit den Einfluss auf das kaiserliche Exarchat verzum westlichen Pallium zwar jeder Bischof das Omophorion trug, war die Insignie an die Liturgie der Messe gebunden, vgl. Schrenk/Weckwerth/Zanella, Pallium, 824. 728 Den Favoriten des Exarchen lehnte Gregor aus ungenannten Gründen ab, der Alternativkandidat war aufgrund mangelnder Psalmenkenntnis ungeeignet, vgl. Greg.‑M. Ep. V, 51 (CCSL 140, 345, 2–16). Zur Ravennater Bischofswahl von 595 vgl. Richards, Leben, 180–183; Caspar, Geschichte II, 429 f. 729 Dies brachte er in seiner Amtsführung wiederholt zum Ausdruck, die durch Passivität und Verzögerung geprägt war, vgl. Richards, Leben, 182 f. 730 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 61 (CCSL 140, 363, 2–18). 731 Vgl. Greg.‑M. Ep. VI, 31 (CCSL 140, 403, 2–12); IX, 168 (CCSL 140A, 726, 2–6). 732 Vgl. Greg.‑M. Ep. VI, 31 (CCSL 140, 403, 12–404, 44); IX, 168 (CCSL 140A, 727, 21–32). 733 „[…] ut neque quod usus fuit intiquior eidem ecclesiae denegemus neque quod nouo ausu appetitum est concedamus.“ Greg.‑M. Ep. VI, 31 (CCSL 140, 404, 29–31). 734 Frederick Homes Dudden mutmaßt, dass diese Untersuchung nie durchgeführt worden ist, vgl. Dudden, Place I, 443.
6.4 Die Asketen
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spielen.735 Daher bemühte er sich, stets im Kontakt mit dem Opponenten zu bleiben. Er bewegte sich auf dem schmalen Grat zwischen Konzessionen für die Ravennater Gemeinde auf der einen Seite und der Wahrung der eigenen Autorität und Vorrangstellung in Italien auf der anderen. Er musste einen Ausgleich suchen zwischen den Bemühungen um Frieden im lokalen Kontext, wofür er gern zu Kompromissen und Zugeständnissen bereit war, und den Auswirkungen derselben auf die globale Kirche, für deren Ordnung verlässliche Regelungen unverzichtbar waren. In diesem Umfeld ist der Palliumsstreit zu verorten. Hinter den Forderungen Ravennas, die nicht der Tradition und insbesondere nicht dem Gebrauch der anderen Kirchen entsprachen, vermutete er eine Arroganz der Bischöfe, um sich von ihren Amtskollegen abzusetzen.736 Da diese Intention in der Zukunft unweigerlich zu weiteren Konflikten geführt hätte, intervenierte Gregor umgehend, als er von dem Missbrauch der Insignie erfuhr, um langfristig den Frieden in der universalen und zwischen den einzelnen Kirchen zu wahren.
6.4 Die Asketen In der Vergangenheit ist Gregor zutreffend als erster „Mönchspapst“737 der Geschichte bezeichnet worden, der in besonderer Weise die monastischen Ideale in die römische Gemeinde und insbesondere den Klerus integrierte. Darüber hinaus förderte er das bereits vorhandene Mönchtum, das in den Jahrzehnten zuvor ein enormes Wachstum gezeigt hatte.738 Askese und verfasste Kirche stellten im ausgehenden 6. Jahrhundert keine scharfen Gegensätze oder Antipoden mehr dar.739 Vielmehr hatte die justinianische Gesetzgebung die Klöster in den bischöflichen Kontrollbereich integriert.740 Der Ortsbischof trug die Verantwortung für die Einhaltung asketischer 735 Jeffrey Richards formuliert treffend: „Gregors Bereitwilligkeit, Kompromisse zu schließen, spiegelt vermutlich die politische Lage wider, in der er es sich nicht erlauben konnte, sich der Reichsobrigkeit in Ravenna noch weiter zu entfremden.“ Richards, Leben, 121; vgl. Müller, B., Führung, 294; Dudden, Place I, 440. 736 Gregor ging es hierbei nicht um Abweichungen von der allgemeinen liturgischen Praxis, denn in diesem Bereich verwies er mehrfach auf eine große Toleranz und Flexibilität, vgl. Greg.‑M. Ep. I, 41 (CCSL 140, 48, 35–49); IV, 26 (CCSL 140, 245, 40–246, 45); IX, 26 (CCSL 140A, 586, 2–587, 50) sowie Bed. Hist. I, 27 (SC 489, 210, 3–212, 11) = Lib. Resp. 2. 737 Vgl. z. B. Kessler, St., Exeget, 165, vgl. auch Müller, B., Monasticism, 91 f. 738 Vgl. Greg.‑M. Ep. III, 39 (CCSL 140, 184, 10–185, 19); VII, 26 (CCSL 140, 481, 2–483, 42); VII, 27 (CCSL 140, 484, 36–485, 70) und Kap. 2.2. An dieser Stelle sei noch einmal an den Konflikt Gregors mit Kaiser Mauricius um die Gesetzesnovelle erinnert, die Soldaten und anderen Staatsbediensteten den Eintritt in ein Kloster verweigerte, vgl. Kap. 6.2.1. 739 Vgl. Müller, B., Monasticism, 92 f. 740 Vgl. Müller, A., Konzept, 122–127; Prinz, Friedrich, Das westliche Mönchtum zur Zeit Gregors des Großen, in: Fontaine, J. et al. (Hgg.), Grégoire le Grand. Chantilly, Centre
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Ideale, musste aber ebenso für den Schutz und das materielle Auskommen der Klöster sorgen.741 Dieser Aufgabe stellte sich Gregor in der Zeit seines Pontifikats, wie der folgende Abschnitt kurz darlegt. Dennoch sollte die Bedeutung des römischen Bischofs in der Entwicklung des westlichen Mönchtums nicht überschätzt werden, da er weitgehend auf rechtliche Grundlagen bzw. monastische Traditionen zurückgriff.742 Als weitaus origineller ist hingegen seine enge Einbindung und Verpflichtung der Asketen in seine Ekklesiologie der reziproken Dienstgemeinschaft zu werten.743
6.4.1 Die Sorge um die Asketen Das finanzielle Erbe seines Vaters nutzte Gregor für die Gründung mehrerer Klöster auf Sizilien sowie des Andreasklosters auf dem Monte Caelio in Rom, in das er sich vorerst selbst vom weltlichen Dienst zurückzog.744 Auch nach seiner Wahl zum Papst stellte die Förderung des monastischen Lebens einen erheblichen Anteil in seinem Handeln dar: Annähernd ein Viertel seiner überlieferten Briefe befassen sich mit aktuellen Situationen der Asketen.745 Mit seinem Agieren bewegte sich der römische Bischof weitgehend auf traditionellem Terrain. Insbesondere die staatlichen Vorschriften im Corpus Iuris Civilis sowie den Novellen Justinians stellten zentrale Vorlagen seiner Entscheidungen dar.746 Letztlich versuchte er, angesichts der politischen Umbrüche u. a. durch die Langobarden die etablierten monastischen Strukturen zu reorganisieren und auf eine stabile Basis zu stellen.747 Grob lassen sich seine Handlungen und Anweisungen in die Bereiche der materiellen Versorgung der Klöster, disziplinarischer Angelegenheiten sowie der Verhältnisbestimmung zwischen den Asketen und den jeweiligen Diözesanbischöfen kategorisieren. Bei Neugründungen vermerkte er in der Bestätigungsurkunde die konkrete Ausstattung mit z. B. Viehbestand und Ländereien,748 die er teilweise sogar in die culturel Les Fontaines, 15–19 septembre 1982, Colloques Internationaux du CNRS, Paris 1986, 123–136, hier: 125; Hasse-Ungeheuer, Mönchtum, 32–192. 741 Vgl. Eich, Bischof, 173; Müller, B., Monasticism, 97–99. 742 Vgl. Eich, Bischof, 174–180; gegen Richards, Leben, 257 f. 743 Vgl. Kap. 6.4.2 und Prinz, Mönchtum, 125. 744 Vgl. Kap. 3.3. 745 Georg Jenal ordnet mehr als 200 der ca. 850 Schreiben in diesen Bereich ein, vgl Jenal, Georg, Grégoire le Grand et la vie monastique dans l’ Italie des son temps, in: Fontaine, J. et al. (Hgg.), Grégoire le Grand. Chantilly, Centre culturel Les Fontaines, 15–19 septembre 1982, Colloques Internationaux du CNRS, Paris 1986, 147–157, hier: 148. 746 Vgl. Müller, B., Monasticism, 95 f. 747 Vgl. Jenal, Vie, 152. 748 Vgl. Greg.‑M. Ep. II, 11 (CCSL 140, 98, 5–13); VIII, 5 (CCSL 140A, 522, 6–12); IX, 58 (CCSL 140A, 615, 6–616, 13); IX, 72 (CCSL 140A, 627, 5–628, 14); IX, 181 (CCSL 140A, 738, 5–12); IX, 233 (CCSL 140A, 815, 7–14); XIII,16 (CCSL 140A, 1016, 5–12).
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öffentlichen Grundbücher eintragen ließ.749 Ebenso sorgte er dafür, dass berechtigte Ansprüche der Konvente auf Testamente vollständig vollstreckt wurden.750 Darüber hinaus ordnete er im Bedarfsfall Versorgungslieferungen an,751 die die Mönche und Nonnen im Gegenzug durch Gebet und Enthaltsamkeit vergelten sollten.752 Er bedankte sich bei honorablen Spendern in Konstantinopel, die ein Almosen für monastische Zwecke in die alte Hauptstadt geschickt hatten.753 Seiner Danksagung an die Patrizierin Rusticiana legte er eine Sammlung von Wundergeschichten aus dem römischen Andreaskloster bei, das sie großzügig bedacht hatte. In dieser Kombination erinnert das Schreiben an einen modernen Spendenbrief, der den erfolgreichen Einsatz der Zuwendungen dokumentieren und zu einer andauernden Spendenfreude motivieren will.754 Als weiterer monastischer Themenbereich im Briefwerk Gregors ist die Sicherung der klösterlichen Disziplin zu nennen. Notwendige Voraussetzung für diese war der unbedingte Gehorsam der einzelnen Mönche und Nonnen ihrem Abt bzw. ihrer Äbtissin gegenüber.755 Erneut liegt hier Gregors Konzept der geistlichen Leitung zugrunde, in der der Fortgeschrittene die ihm untergeordneten Personen zum gottgefälligen Leben führen soll.756 Hauptsächlich war Gregor mit gebrochenen Keuschheits-Gelübden konfrontiert: Mehrfach musste er entlaufene Nonnen und Mönche in ihre Klöster zurückbeordern757 und bat hierfür gar den Exarchen um Unterstützung.758 In solchen Fällen ordnete er eine strikte Strafe oder gar die Verlegung in ein strengeres Kloster an, um damit sowohl die Buße des Sünders zu fördern, als auch ein 749
Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 72 (CCSL 140A, 628, 13); IX, 181 (CCSL 140A, 738, 9). Greg.‑M. Ep. I, 46 (CCSL 140, 60, 13–21); II,50 (CCSL 140, 144, 91–97); III, 23 (CCSL 140, 169, 1–16); IV, 8 (CCSL 140, 224, 1–17); IV, 9 (CCSL 140, 226, 55–227, 67); IV, 10 (CCSL 140, 227, 1–228, 22); IX, 76 (CCSL 140A, 631, 1–23); IX, 205 (CCSL 140A, 763, 17–764, 28). In wirtschaftlichen Fragen sorgte Gregor für eine sachkundige Beratung der Konvente. Den rector des Patrimoniums in der Campania wies er an, das Kloster in Sorrent beim Kauf von geeigneten Länderein zu unterstützen, vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 106 (CCSL 140A, 659, 1–15). 751 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 23 (CCSL 140, 21, 1–16); II, 1 (CCSL 140, 90, 1–13); II, 46 (CCSL 140, 138, 1–12); III, 17 (CCSL 140, 163, 1–164, 16); VII, 23 (CCSL 140, 477, 90–95); IX, 97 (CCSL 140A, 650, 1–15). 752 Vgl. Greg.‑M. Ep. VII, 23 (CCSL 140, 477, 95–98). Zum Dienst der Asketinnen und Asketen für die Gemeinde vgl. Kap. 6.4.2. 753 Vgl. Greg.‑M. Ep. VII, 23 (CCSL 140, 477, 86–95). 754 Vgl. Greg.‑M. Ep. XI, 26 (CCSL 140A, 899, 37–901, 111). 755 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 49 (CCSL 140, 62, 1–9) und Richards, Leben, 262 f. Verfiel aber der Abt selbst der Sünde, wurde dieser zur Buße nach Rom gerufen, konnte sein Amt dennoch anschließend wiederaufnehmen, anders als es bei Bischöfen der Fall war, vgl. Greg.‑M. Ep. V, 4 (CCSL 140, 269, 2–11). 756 Vgl. Kap. 5.2.2.2; 5.5.3.2; 5.6.3.3 und Evans, Faith. 757 Vgl. Greg.‑M. Ep. II, 26 (CCSL 140, 112, 2–20); IV, 24 (CCSL 140, 243, 29–37.42–45); V, 19 (CCSL 140, 288, 17–28); IX, 3 (CCSL 140A, 564, 1–565, 24); X, 3 (CCSL 140A, 828, 1–829, 25). 758 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 19 (CCSL 140, 287, 1–288, 28). 750 Vgl.
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Exempel für die übrigen Asketen zu statuieren.759 Mit prophylaktischen Maßnahmen wollte er zudem die Versuchung möglichst geringhalten: Männer- und Frauenklöster durften nicht in unmittelbarer Nachbarschaft errichtet werden760 und in Mönchskonventen sollten keine Frauen als geistliche Mütter oder Taufpatinnen (commatres) erwählt werden.761 Im expliziten Widerspruch zu einer Novelle Justinians gestattete Gregor außerdem den Klostereintritt von Ehegatten nur für den Fall, dass beide dies wünschten oder dass ein Ehebruch vorlag.762 Sein größtes und besonders wirkmächtiges Interesse bestand aber in der Verhältnisbestimmung zwischen den Klöstern und den Bistümern, zu denen sie gehörten.763 Einerseits folgte er der justinianischen Gesetzgebung, die die Konvente unter die Aufsicht und Verantwortung der Bischöfe stellte.764 Andererseits war er aber sehr darauf bedacht, die Asketen vor Übergriffen und fehlgeleiteten Interessen des Klerus zu schützen.765 Im Spannungsfeld zwischen diesen beiden Antipoden sind eine Reihe an Vorschriften und Maßnahmen einzuordnen: Dem Bischof oblag es, das geistliche Leben im Kloster zu fördern, indem er geeignetes Personal auswählte,766 das materielle Auskommen sicherstellte767 und die Asketinnen katechetisch unterrichtete.768 So sollte die Ruhe zum Gotteslob, die zentrale Aufgabe der Klöster, garantiert werden.769 Ebenso hatte der Bischof die Oberaufsicht über die Disziplin in den Konventen inne. Keinesfalls sollte er aber zu großen Einfluss auf die Belange des Klosters nehmen oder sich gar an ihm bereichern wollen.770 Mehrfach klagten Konvente, dass sich ihr Bischof in 759 Vgl.
Greg.‑M. Ep. IV, 9 (CCSL 140, 226, 27–36). Sollte der Geliebte einer Nonne ein Laie sein, drohte diesem die Exkommunikation, ein Kleriker hingegen wurde seines Amtes enthoben und zur Buße in ein Kloster verwiesen. Zum Kloster als Bußort vgl. Kap. 6.4.2. 760 Vgl. Greg.‑M. Ep. XI, 13 (CCSL 140A, 879, 1–880, 32). 761 Vgl. Greg.‑M. Ep. IV, 40 (CCSL 140, 261, 1–11), vgl. auch Greg.‑M. Ep. XIV, 16 (CCSL 140A, 1089, 1–1090, 27). 762 Vgl. Greg.‑M. Ep. VI, 49 (CCSL 140, 422, 1–17); XI, 30 (CCSL 140A, 918, 1–919, 19) Die Novelle 123 sah eine Auflösung der Ehe vor, wenn auch nur ein Partner die Aufnahme ins Kloster gegehrte, vgl. Iust. Nouell. 123, 40 (CIC III, 622, 8–32). 763 Vgl. Richards, Leben, 263 f. 764 Vgl. u. a. Greg.‑M. Ep. VII, 12 (CCSL 140, 461, 23–462, 28) und Kap. 6.4. 765 Vgl. Richards, Leben, 263 f.; Jenal, Vie, 149–152; Eich, Bischof, 174 f. 766 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 2 (CCSL 140, 1–18); VI, 28 (CCSL 140, 400, 6–12). Die Auswahl der Novizen oblag zwar dem Abt, sollte aber sicherheitshalber vom Bischof überprüft werden, vgl. Greg.‑M. Ep. X, 9 (CCSL 140A, 835, 2–13). Das Noviziat legte Gregor auf zwei Jahre fest und fand damit einen Mittelweg zwischen der Benediktsregel (1 Jahr) und der justinianischen Gesetze (3 Jahre), vgl. Greg.‑M. Ep. X, 9 (CCSL 140A, 835, 14–17); Ben. Reg. 58, 1–14 (CSEL 75, 133–135); Iust. Nouell. 5, 2 (CIC III, 29, 11–31, 22); 123, 35 (CIC III, 618, 17–619, 13) sowie Richards, Leben, 263. 767 Vgl. Greg.‑M. Ep. IV, 9 (CCSL 140, 225, 10–24); IX, 115 (CCSL 140A, 668, 14–19). 768 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 115 (CCSL 140A, 668, 12–14). 769 Vgl. Greg.‑M. Ep. IV, 9 (CCSL 140, 225, 24–26); V, 35 (CCSL 140, 303, 18–38); V, 50 (CCSL 140, 344, 14–17); VI, 28 (CCSL 140, 401, 29–31); VIII, 17 (CCSL 140A, 536, 10 f.); IX, 172 (CCSL 140A, 730, 1–12); IX, 217 (CCSL 140A, 780, 2–6). 770 Vgl. Greg.‑M. Ep. III, 58 (CCSL 140, 206, 1–207, 24); V, 28 (CCSL 140, 295, 1–12); VI,
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interne Angelegenheiten einmischte, Anspruch auf klösterlichen Besitz erhob und seine Besuche hohe Kosten verursachte.771 Um dem Einhalt zu gebieten, betonte Gregor, dass Klöster keinesfalls als Eigentum betrachtet werden sollten. Vielmehr ständen alle Einnahmen allein den Bewohnern selbst zu.772 Generell versuchte er, die Praxis der Bischofsmessen einzuschränken, die durch die damit einhergehenden zahlreichen Besucher beider Geschlechter Störung der kontemplativen Ruhe darstellten.773 Zu diesem Zweck setzte er sich auch für die Weihe von Priestern innerhalb des jeweiligen Konventes ein, um die liturgische Unabhängigkeit des Klosters zu fördern.774 Ein besonderes Konfliktfeld bot sich in der Beziehung zwischen einem Abt und seinem Ortsbischof. Gerade weil beiden Ämtern dieselbe Aufgabe, die Verantwortung für das jeweilige Kloster,775 zukam, gerieten sie häufig in Streit miteinander. Die Einsetzung des Klostervorstehers lag in den Händen des Episkopen, was eine hierarchische Abhängigkeit gemäß der justinianischen Gesetze bedeutete. Ebenso sollte dieser die Lebensführung des Abtes kontrollieren – im besten Fall bereits vor dessen Einführung.776 Um das höchste Amt im Kloster trotzdem vor unangemessen Interessen und Klüngeleien des Bischofs zu schützen, betonte Gregor mehrfach das Wahlrecht des jeweiligen Konventes777 und schloss die Wahl von Klerikern für das Abbat 11 (CCSL 140, 380, 24–37); VI, 21 (CCSL 140, 391,21–392, 25); VII, 32 (CCSL 140, 495, 1–496, 19); VIII, 8 (CCSL 140A, 525, 1–526, 27); VIII, 9 (CCSL 140A, 526, 1–19); IX, 108 (CCSL 140A, 660, 2–661, 16) sowie Richards, Leben, 263 f.; Jenal, Vie, 149 f. 771 Vgl. Greg.‑M. Ep. VII, 40 (CCSL 140, 504, 2–5); VIII, 17 (CCSL 140A, 536, 2–16). 772 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 50 (CCSL 140, 344, 12–17); VII, 12 (CCSL 140, 461, 12–16); VII, 40 (CCSL 140, 504, 5–27); VIII, 17 (CCSL 140A, 536, 17–23); VIII, 32 (CCSL 140A, 1–557, 49). 773 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 49 (CCSL 140, 343, 10–20); VII, 12 (CCSL 140, 461, 16–22); VIII, 5 (CCSL 140A, 522, 16–18) und Jenal, Vie, 150. Den Bischof von Pesaro wies er an, die Cathedra umgehend wieder aus der dortigen Klosterkirche zu entfernen, vgl. Greg.‑M. Ep. VI, 46 (CCSL 140, 418, 2–419, 13). 774 Vgl. Greg.‑M. Ep. VI, 41 (CCSL 140, 1–11); VII, 40 (CCSL 140, 504, 27–505, 32); IX, 18 (CCSL 140A, 578, 1–16); XII, 15 (CCSL 140A, 989, 1–11) und Rudmann, Mönchtum, 72 f. In ähnlicher Weise sorgte Gregor zusätzlich für Schutz der Klöster vor weltlichen Einflüssen: Soldaten sollten in Frauenklöstern nicht als Gäste aufgenommen werden, in Männerklöstern nur mit Erlaubnis Roms, vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 208 (CCSL 140A, 767, 1–9); X, 9 (CCSL 140A, 835, 21–836, 26). Eine ähnliche Gefahr für die Kontemplation und Keuschheit stellte der Besuch eines Arztes oder anderer Laien dar, vgl. Greg.‑M. Ep. IV, 24 (CCSL 140, 243, 46–49); V, 4 (CCSL 140, 270, 25–29). Zum generellen Schutz vor weltlichen Einflussnahmen oder Übergriffen vgl. Greg.‑M. Ep. I, 46 (CCSL 140, 60, 1–21); VIII, 30 (CCSL 140A, 553, 1–11); IX, 204 (CCSL 140A, 762, 27–763, 36); X, 5 (CCSL 140A, 830, 1–831, 44); XIII, 4 (CCSL 140A, 996, 1–18). 775 Der Abt sollte sich um die internen, der Bischof um die externen Angelegenheiten kümmern, vgl. Müller, B., Monasticism, 99. 776 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 47 (CCSL 140, 340, 1–341, 15).); XII, 6 (CCSL 140A, 974, 2–12). Nur in schweren Fällen hielt Gregor sogar eine Amtsenthebung für angebracht, vgl. Greg.‑M. Ep. XIV, 2 (CCSL 140A, 1067, 24–33); XIV, 6 (CCSL 140A, 1072, 1–1073, 23). 777 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 49 (CCSL 140, 343, 7–10); VII, 12 (CCSL 140, 461, 4–12). In schwierigen Fällen griff er selbst ein, vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 20 (CCSL 140A, 580, 2–581, 41); IX,
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aus. Diese mussten zuvor den Kirchendienst quittieren, um die Interessen der weltlichen Gemeinde und des Klosters strikt zu trennen.778 Zudem durfte der Hirte ohne Zustimmung des Abtes keine Mönche aus dem Konvent in den eigenen Klerus übernehmen.779 Gregors Engagement für das Mönchtum seiner Zeit erstreckte sich vom materiellen bis zum disziplinarischen Bereich. Ein besonderer Schwerpunkt ist aber in der Verhältnisbestimmung zwischen den Klöstern und ihrem jeweiligen Bistum festzustellen. Obwohl er eine enge Einbindung der Asketen in die Kirche anstrebte, war ihm die Gefahr für die Kontemplation durch eine zu große Einflussnahme der Hirten stets bewusst. Daher versuchte er die Konvente im Allgemeinen, aber auch in konkreten Einzelfällen vor hab- und machtsüchtigen Episkopen zu schützen.
6.4.2 Die kirchliche Verpflichtung der Asketen In seinen literarischen Schriften hatte Gregor mehrfach gezielt Asketen zum Dienst in der Gemeinde ermahnt. In Sorge um die eigene Kontemplation durfte keinesfalls die aktive Unterstützung des Nächsten vernachlässigt werden. Spätestens nach seiner Weihe zum römischen Bischof beschrieb er sein Ideal der Lebensführung als eine vita mixta, die geistliche Schau und tätige Nächstenliebe im Gleichgewicht hielt.780 Diese Perspektive ist auch in seiner eigenen Praxis wahrzunehmen. Klassischerweise kam den Mönchen und Nonnen vornehmlich eine liturgisch-spirituelle Aufgabe zu. Während sie von den in der Welt Lebenden durch Almosen und Stiftungen ernährt wurden, oblag ihnen der Dienst an Gott.781 Explizit sah Gregor ihre Pflicht nicht in der Gefolgschaft der Menschen (hominum obseqiuum), sondern im Gottesdienst (Dei servitium bzw. opus Dei).782 Diese Aufgabe war auch für andere bzw. die gesamte Gesellschaft nutzbringend, indem etwa das Almosen mit Fürbitten für den Spender vergolten,783 der Weltklerus in seinem Dienst durch Gebete unterstützt784 und die Bevölkerung Italiens durch 115 (CCSL 140A, 668, 1–22). Zur Mehrdeutigkeit der justinianischen Novelle 123, 34 in dieser Angelegenheit vgl. Müller, A., Konzept, 124. 778 Vgl. Greg.‑M. Ep. IV, 11 (CCSL 140, 229, 18–26); V, 1 (CCSL 140, 266, 1–3). 779 Lediglich zum Aufbau oder zur Unterstützung eines anderen Konventes konnte der Bischof Asketen gegen den Abtswillen versetzen, vgl. Greg.‑M. Ep. VIII, 17 (CCSL 140A, 536, 17–537, 40). 780 Lediglich im Hoheliedkommentar steht dieser Aspekt im Hintergrund, ist aber dennoch bereits vorhanden, vgl. Kap. 5.1.2. 781 Vgl. Greg.‑M. Ep. II, 46 (CCSL 140, 138, 1–12); III, 3 (CCSL 140, 149, 27–29); IV, 9 (CCSL 140, 225, 24–26); VIII, 17 (CCSL 140A, 537, 34 f.). 782 Vgl. Greg.‑M. Ep. X, 9 (CCSL 140A, 835, 20 f.); X, 18 (CCSL 140A, 847, 17–848, 25). 783 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 30 (CCSL 140, 297, 18–21); V, 35 (CCSL 140, 303, 27–30). 784 Vgl. Geg.‑M. Ep. XI, 2 (CCSL 140A, 860, 4–12).
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andächtige Tränen und Enthaltsamkeit der Klosterfrauen vor den Schwertern der Langobarden geschützt wurden.785 Darüber hinaus erwähnte er äußere Formen der tätigen Nächstenliebe, die im monastischen Kontext geübt wurden, wie die Praxis der Gastfreundschaft (hospitalitas) und die Armenversorgung.786 In den Zeiten des Krieges bzw. der langobardischen Belagerungen kam außerdem die Aufnahme der Flüchtlinge hinzu.787 Im Vergleich zur vorangegangenen Praxis beschritt Gregor aber insofern neue Wege, als er die Asketen dezidiert in kirchlichen und gesellschaftlichen Belangen in die Pflicht nahm. Die Kammerdiener im Lateran sollten nicht mehr dem Laienstand entstammen, sondern ausschließlich „unter den Klerikern und auch den Mönchen ausgewählt werden.“788 In den Friedensverhandlungen setzte er auf Vermittler aus dem monastischen Bereich, denen er eine besondere Vertrauenswürdigkeit zusprach.789 Außerdem dienten verschiedene Klöster als zeitweiliger oder auch dauerhafter Bußort für Kleriker – Presbyter wie auch Bischöfe –, die sich in schwere Sünde verstrickt hatten.790 Damit erfuhr Gregors Theorie der reziproken Dienstgemeinschaft im Bereich der Disziplin eine besondere Konkretion: Wachte auf der einen Seite der Bischof über die Disziplin der Asketen, so zeichneten auf der anderen Seite die Klöster für die Bußleistung des gefallenen Klerus verantwortlich. In Einzelfällen übertrug Gregor einem Konvent sogar die Verantwortung für eine Kirche samt Parochie, wenn der dortige Klerus sich verweigerte oder seinen Pflichten nicht ausreichend nachkam. Die Mönche mussten sowohl für die Instandhaltung der Gebäude sorgen als auch die tägliche Liturgie sicherstellen.791 Gab es in ihren Reihen keinen Priester für die Messfeiern, wurde ein externer zu diesem Zweck abgeordnet, dem das Kloster dann Wohnung und Unterhalt zu stellen hatte.792 Die Übereignung des Kirchgebäudes war dabei nicht als 785
Vgl. Greg.‑M. Ep. VII, 23 (CCSL 140, 477, 95–98). Vgl. Greg.‑M. Ep. II, 26 (CCSL 140, 113, 25–30); III, 3 (CCSL 140, 149, 24 f.). 787 Gregor achtete aber zum Schutz der Keuschheit darauf, dass in den Männerklöstern keinesfalls geflohene Frauen aufgenommen wurden, vgl. Greg.‑M. Ep. I, 48 (CCSL 140, 62, 2–17). 788 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 57a, 2 (MGH.Ep. I, 363, 20 f.) und Rudmann, Mönchtum, 61. 789 Vgl. Rudmann, Mönchtum, 66–68; Eich, Bischof, 175 und Kap. 6.3.1. 790 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 18 (CCSL 140, 17, 1–18, 27); I, 42 (CCSL 140, 54, 151–166); VI, 23 (CCSL 140, 393, 9–13); XII, 3 (CCSL 140A, 971, 1–19); XII, 10 (CCSL 140A, 983, 30–984, 49); XIII, 46 (CCSL 140A, 1053, 20–29) und Jenal, Vie, 151; Neil, Papacy, 18; Rudmann, Mönchtum, 61 f. Einmal sah Gregor die Klosterhaft auch als temporäre Strafe für Laien vor, vgl. Greg.‑M. Ep. XIII, 46 (CCSL 140A, 1054, 57–61). 791 Vgl. Greg.‑M. Ep. IV, 18 (CCSL 140, 236, 1–237, 29); IX, 7 (CCSL 140A, 569, 1–13) sowie Rudmann, Mönchtum, 69–71; Demacopoulos, Ascetic, 119 f. Auch innerhalb Roms übernahmen die Asketen liturgische Dienste, vgl. Prinz, Mönchtum, 125. George Demacopoulos weist darauf hin, dass die parochiale Verpflichtung der Asketen Gregors kirchliches Ideal der Einheit aus verschiedenen Lebensformen versinnbildlicht, vgl. Demacopoulos, Ascetic, 120. 792 Vgl. Greg.‑M. Ep. IV, 18 (CCSL 140, 237, 18–23). 786
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Zugewinn zu werten. Immerhin mussten die Einnahmen desselben strikt von denen des Klosters getrennt bleiben und durften auch nur zweckgebunden eingesetzt werden.793 Der wichtigste Dienst, den die italischen Klöster leisteten, war indes die Ausbildung und Bereitstellung von Personal für kirchliche Funktions- und Leitungsämter. Als Programmschrift für diese Rekrutierung diente Gregor seine gleich zu Beginn des Pontifikats verfasste Pastoralregel, in der er dem Streben nach Kontemplation den Dienst in der Gemeinde an die Seite stellte.794 Öfter als auf andere Konvente griff er auf das Personal seines Andreasklosters in Rom zurück. Mit Maximianus von Syracus und Marinianus von Ravenna sind zwei Mönche aus diesem Kloster namentlich bekannt, die Gregor als Bischöfe einsetzte.795 Falls sich hinter dem Gesprächspartner in den Dialogen der Rektor des Patrimoniums auf Sizilien verbirgt,796 entstammte auch dieser dem Andreaskonvent. Der Subdiakon und spätere Diakon verwaltete nicht nur die kirchlichen Güter auf der Insel, sondern war Gregors engster Verbündeter in der Beseitigung der Missstände im dortigen Klerus und hatte als apostolischer Vikar gar die Stellvertretung des Papstes mit allen Rechten inne.797 Bekannterweise entsandte Gregor zudem unter der Leitung des Augustinus ausschließlich Andreasmönche zur Mission nach Angelsachsen.798 Dieser monastischen Personalpolitik blieb er bei dem Vorhaben später treu: Auch der zweite Trupp, den er fünf Jahre später als Nachschub schickte, bestand aus Mönchen. In seinem Empfehlungsschreiben an Augustinus empfahl er für den Missionsklerus zudem eine monastische Lebensführung,799 da diese es sowohl ermöglichte, das Leben geistlich auf Gott, als auch nach außen auf den Nächsten hin auszurichten.800 Barbara Müller formuliert treffend: „Here [scil. in England], as elsewhere, monasticism had to serve the Church in general.“801 Ebenso setzte Gregor in den Missionsunternehmungen auf Sardinien und Sizilien auf monastisches Personal.802 Aber auch in der eigenen Metropolie wurden vornehmlich Asketen in wichtige Positionen eingesetzt. Den religiosus Johannes beauftragte er mit der Leitung einer topographisch nicht greifbaren Armentafel und Diakonie.803 Zudem fand 793
Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 7 (CCSL 140A, 569, 7–10); gegen Rudmann, Mönchtum, 70. Vgl. Kap. 5.2.3.3. und Demacopoulos, Gregory’s Model, 214. 795 Vgl. Rudmann, Mönchtum, 73 f. 796 Vgl. Greg.‑M. Dial, I, Prol. 2 (SC 260, 10, 9) und Kap. 5.4. 797 Vgl. Rudmann, Mönchtum, 63. 798 Vgl. Greg.‑M. Ep. VI, 53 (CCSL 140, 426, 1–16) und Rudmann, Mönchtum, 97–99. 799 Vgl. Bed. Hist. I, 27 (SC 489, SC 489, 208, 10–16) = Lib. Resp. 2. 800 Vgl. Müller, B., Monasticism, 99. 801 Müller, B., Monasticism, 102. 802 Vgl. Rudmann, Mönchtum, 65.75.97–99. 803 Vgl. Greg.‑M. Ep. XI, 17 (CCSL 140A, 886, 1–21) und Kap. 6.1.3.1. Zur Deutung des Terminus „diaconia“ vgl. Kap. 6.1.1. 794
6.4 Die Asketen
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er in den Klöstern häufig geeigneten Nachwuchs für den Klerus der verschiedenen Städte.804 Ähnlich wie den Subdiakonat betrachtete er die monastische Herkunft als ideale Vorbereitung auf den Bischofsdienst.805 Da der Wechsel vom Kloster in den Weltklerus dem Gebot der stabilitas loci diametral entgegenstand,806 setzte Gregor strikte Grenzen: Wer das Kloster einmal verlassen hatte und in den kirchlichen Dienst getreten war, dem war eine Rückkehr in die monastische Askese verwehrt.807 Grundsätzlich hielt er also an der Trennung zwischen Kloster und der Gemeinde in der Welt fest, ein ständiger Wechsel zwischen beiden sollte ausgeschlossen werden.808 Außerdem durfte die kirchliche Indienstnahme eines Mönchs keinesfalls gegen den Willen seines Abtes und des Ortsbischofs geschehen.809 Dennoch warb er regelrecht für den kirchlichen Dienst und unterstrich dessen Vorrang gegenüber der monastischen Askese: Cyriacus, dem Patriarchen von Konstantinopel, dankte er im Gratulationsschreiben zu dessen Wahl für die Entscheidung, die kontemplative Ruhe zum Nutzen der Mitmenschen (ad utilitatem proximorum) verlassen zu haben und fortan beide Weisen des Liebesgebots erfüllen zu wollen.810 Im Dialog mit dem inclausus Secundinus sinnierte er über die Unterschiede zwischen dem Einsiedlerleben und dem Dienst in der Welt. In letzterem begegneten die Versuchungen des Teufels zumeist in den Mitmenschen, dafür wurde der Kampf gegen sie in Gemeinschaft geführt. In der Einsamkeit hingegen war die Aufgabe ungleich größer und schwieriger: Der Asket war auf sich allein gestellt und kämpfte oft gegen den Urfeind persönlich.811 Die Kontemplation stellte dabei nur scheinbar einen Schutz und 804 Vgl. Greg.‑M. Ep. VI, 27 (CCSL 140, 399, 1–16); IX, 108 (CCSL 140A, 661, 17–20); X, 1 (CCSL 140A, 826, 26–36) und Rudmann, Mönchtum, 73 f. 95–97. 805 Vgl. Greg.‑M. Ep. XII, 4 (CCSL 140A, 972, 8–12). 806 Zu Gregors Ablehnung des Wandermönchtums vgl. Greg.‑M. Ep. I, 38–40 (CCSL 140, 44, 1–47, 26), vgl. auch Ben. Reg. 1, 10 f. (CSEL 75, 18 f.). 807 Vgl. Greg.‑M. Ep. VIII, 17 (CCSL 140A, 537, 40–43). Umgekehrt stand es den Klerikern frei, in ein Kloster einzutreten, wobei sie dann aus dem Kirchendienst entlassen und ihres Amtes enthoben wurden, vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 158 (CCSL 140A, 717, 1–20). 808 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 40 (CCSL 140, 10–47, 26). 809 Vgl. Greg.‑M. Ep. VIII, 17 (CCSL 140A, 537, 31–36); X, 1 (CCSL 140A, 826, 32–36). Selbstverständlich musste auch der Asket selbst mit seinem Wechsel in den Klerus einverstanden sein, vgl. Greg.‑M. Ep. XIII, 12 (CCSL 140A, 1011, 2–1012, 10). Von dieser Regel machte Gregor allerdings mit der Weihe des Marinianus zum Bischof von Ravenna eine prominente Ausnahme, die er nachmals allerdings bereute, da dieser seinen Amtspflichten nicht gewissenhaft nachging, vgl. Greg.‑M. Ep. V, 51 (CCSL 140, 345, 10–20). Diese Schwierigkeit hatte er gleich zu Beginn befürchtet, da er den scholasticus Andreas um Nachsicht mit dem ehemaligen Abt des Andreasklosters bat, da dieser sich nach der langjährigen Klosteraskese erst in die Amtsgeschäfte einfinden müsste, vgl. Greg.‑M. Ep. V, 51 (CCSL 140, 346, 26–32). Zur nachlässigen Amtsführung des Marinianus vgl. Richards, Leben, 182 f. 810 Vgl. Greg.‑M. Ep. VII, 5 (CCSL 140, 447, 2–449, 46). 811 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 148 (CCSL 140A, 699, 17–29), vgl. auch Greg.‑M. Ep. XI, 1 (CCSL 140A, 859, 39–54).
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Vorteil gegenüber dem Leben in der Welt dar. Denn auch in der Wüste war sie nicht ununterbrochen zu üben, natürliche Bedürfnisse und die Schwachheit des Leibes setzten ihr unüberwindbare Grenzen.812 In diesen Aussagen ist nichts mehr von der Klage über den Verlust der kontemplativen Ruhe und die Last des Amtes und seiner Ablenkung vom Gebet zu spüren, die die Briefe in Gregors erstem Pontifikatsjahr bestimmt hatten.813 Vielmehr gab er dem kirchlichen Dienst – zumindest verbal – nun eindeutig den Vorrang gegenüber der reinen Askese. Mit einer ähnlichen Aussage gratulierte er Isacius, dem Patriarchen von Jerusalem und ehemaligen Mönch, zu dessen Amtsantritt: Wer die Einsamkeit der Askese verließ und in den Klerus eintrat, rettete die Gläubigen vor der Sündenflut, so wie die Arche vor den Wassern der Sintflut Schutz geboten hatte.814 Der Zugewinn des kirchlichen Dienstes lag demnach im Nutzen der anderen, der im Jüngsten Gericht großzügig vergolten werden wird. Die Ausrichtung des Handelns an der utilitas proximorum zieht sich durch das gesamte Opus Gregors und findet sich ebenso in der Begründung, weshalb Asketen in die kirchliche Dienstgemeinschaft einzubinden seien. Erst in der tätigen Nächstenliebe konkretisierte sich wahrhaft geistliches Leben. Nur die vita mixta konnte beide Vorschriften des Doppelgebots der Liebe erfüllen.815 An diesem Ideal orientierte sich Gregor selbst, wenn er für die verschiedenen kirchlichen Angelegenheiten gezielt Mönche einsetzte. Ihnen sprach er eine besondere Eignung zu,816 da sie in der kontemplativen Schau erfahren waren und ihre mystischen Einsichten an die übrigen Christen weitergeben und als geistliche Lehrer dienen konnten.817 Ebenso konnten sie mit ihrer der Armut verpflichteten Lebensweise als gutes Vorbild fungieren. Und schließlich sprach er den Mönchen sein besonderes Vertrauen aus, wohl weil er sie durch die Weltentsagung vor materiellen Interessen weitgehend gefeit wähnte.
812
Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 148 (CCSL 140A, 699, 29–700,39). Greg.‑M. Ep. I, 3 (CCSL 140, 3, 2–7); I, 4 (CCSL 140, 4, 2–14); I, 5 (CCSL 140, 5, 1–7, 71); I, 6 (CCSL 140, 7, 8, 26); I, 7 (CCSL 140, 9, 2–22); I, 20 (CCSL 140, 19, 2–7); I, 24 (CCSL 140, 2–25); I, 26 (CCSL 140, 34, 2–11); I, 29 (CCSL 140, 36, 2–8); I, 30 (CCSL 140, 37, 2–15); I, 41 (CCSL 140, 47, 4–48, 23); II, 40 (CCSL 140, 128, 26–51). 814 Vgl. Greg.‑M. Ep. XI, 28 (CCSL 140A, 914, 2–21). 815 Vgl. Demacopoulos, Gregory’s Model, 215. 816 Vgl. Eich, Bischof, 175; Müller, B., Monasticism, 89; gegen Dudden, Place II, 192. 817 Mit dem Einsatz der Asketen in den kirchlichen Dienst setzte Gregor seine Theorie der Erfahrungspädagogik in die Praxis um, vgl. Kap. 5.5.3.2; 5.6.3.3 und Demacopoulos, Ascetic, 58. 813 Vgl.
6.5 Die Terminologie der Nächstenliebe im Briefregister
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6.5 Die Terminologie der Nächstenliebe im Briefregister Die terminologische Untersuchung des Briefregisters bestätigt weitgehend die Beobachtungen, die an den literarischen Werken Gregors gemacht wurden.818 Die im Doppelgebot geforderte Liebe zu Gott und zum Nächsten umschreibt er auch in seinen Briefen wechselweise mit amor,819 caritas820 und dilectio,821 wobei letztere am häufigsten für die Bezeichnung der Nächstenliebe verwendet wird.822 Die caritas hingegen begegnet mehrfach als die grundlegende Tugend, die sich in Werken bzw. der Liebe (dilectio) konkretisiert823 und von Gott geschenkt wird.824 Zudem nutzt Gregor die caritas sehr häufig als Anrede des Briefadressaten825 und als Ausdruck der alle Distanzen überwindenden Verbundenheit.826 Die Synonymität der drei Wortstämme, neben denen zusätzlich pietas827 und humanitas828 zu nennen sind, nutzt er für das Stilmittel der variatio innerhalb eines Satzes.829 Für die konkreten Werke der tätigen Nächstenliebe gebraucht Gregor ein variantenreiches Vokabular, sowohl für die äußeren Handlungen,830 als auch für die geistigen Wohltaten.831 Durch die Verbindung mit konkreten Praxissituationen finden sich zunehmend feste Begriffe für kirchliche Besitztümer, mit denen ihre karitative Zweckbestimmung verdeutlicht wird: Die Einnahmen der
818
Vgl. Kap. 5.1.3; 5.2.4; 5.3.4; 5.5.4; 5.6.5. Vgl. Greg.‑M. Ep. VII, 5 (CCSL 140, 448, 34 f.). 820 Vgl. Greg.‑M. Ep. VIII, 2 (CCSL 140A, 516, 66 f.). 821 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 45 (CCSL 140, 59, 5–14); IX, 136 (CCSL 140A, 685, 8); XI, 28 (CCSL 140A, 914, 23). 822 Vgl. auch Greg.‑M. Ep. I, 4 (CCSL 140, 4, 2 f.); I, 44 (CCSL 140, 58, 2); XI, 38 (CCSL 140A, 933, 20 f.). 823 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 4 (CCSL 140, 4, 2 f.); II, 8 (CCSL 140, 96, 10 f.); II, 20 (CCSL 140, 107, 2 f.); II, 40 (CCSL 140, 128, 47–51). 824 Vgl. Greg.‑M. Ep. III, 65 (CCSL 140, 216, 11–14). 825 Vgl. u. a. Greg.‑M. Ep. II, 26 (CCSL 140, 112, 2), ebenso dilectio vgl. Greg.‑M. Ep. II, 10 (CCSL 140, 97, 5); fraternitas vgl. Greg.‑M. Ep. XII, 4 (CCSL 140A, 972, 2); experientia vgl. Greg.‑M. Ep. I, 57 (CCSL 140, 69, 6). 826 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 64 (CCSL 140, 74, 11–17). 827 Vgl. Greg.‑M. Ep. II, 46 (CCSL 140, 138, 2); XI, 43 (CCSL 140A, 940, 5–8). 828 Vgl. Greg.‑M. Ep. III, 53 (CCSL 140, 199, 3 f.). 829 Vgl. z. B. Greg.‑M. Ep. III, 65 (CCSL 140, 216, 15–17), zur Synonymität vgl. Pétré, Caritas, 96–98; Müller, A., Caritas, 31 und Farges/Viller, Charité, 529 f. 830 Z. B. sustentatio vgl. Greg.‑M. Ep. I, 57 (CCSL 140, 69, 7); I, 65 (CCSL 140, 75, 8); largiri vgl. Greg.‑M. Ep. III, 3 (CCSL 140, 149, 24 f.); oblatio vgl. Greg.‑M. Ep. III, 3 (CCSL 140, 149, 28); alimonia vgl. Greg.‑M. Ep. III, 3 (CCSL 140, 149, 28); III, 53 (CCSL 140, 200, 8); benedictio vgl. Greg.‑M. Ep. VII, 9 (CCSL 140, 458, 2); dispensatio vgl. Greg.‑M. Ep. XIII, 20 (CCSL 140A, 1020, 5). 831 Z. B. compassio vgl. Greg.‑M. Ep. XIII, 6 (CCSL 140A, 1000, 3); solamen vgl. Greg.‑M. Ep. III, 16 (CCSL 140, 163, 8–119); consolare vgl. Greg.‑M. Ep. VII, 19 (CCSL 140, 470, 16–18). 819
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Ländereien bezeichnet Gregor als res pauperum832 oder facultas pauperum,833 aus denen die pensiones834 bestritten wurden. Im Kontext seiner Sorge um Eintracht und Frieden in der Kirche verwendet er die entsprechenden Bezeichnungen der concordia,835 unitas836 und pax837 bzw. das Antonym der discordia.838 Häufig verbindet er hiermit die Mahnung zur caritas bzw. den Hinweis auf das vorhandene Band der Liebe und des Friedens.839 Seine theologischen Überzeugungen bzgl. der tätigen Nächstenliebe, wie sie in seinem übrigen Œuvre mehrfach expliziert sind, legt Gregor in seinen Briefen nur sehr selten ausführlich dar. Dennoch sind sie in der von ihm verwendeten Terminologie zu greifen: Die Reziprozität des Dienstes drückt der Papst mit der caritas mutua840 und caritas invicem841 aus. Die grundsätzliche Ausrichtung allen Handelns am Nutzen und Fortschritt des Nächsten wird hingegen durch die Begriffe utilitas,842 in causis pauperum,843 necessitates,844 compendium,845 pro pauperum commodis,846 tueri847 und proficere848 im Gegensatz zu den eigenen mercedes849 verdeutlicht.
6.6 Zusammenfassung Die Durchsicht des Briefregisters hat gezeigt, dass die Praxis der tätigen Nächstenliebe eine zentrale Rolle im Wirken Gregors gespielt hat. Für die verschiedenen Aufgabenkomplexe – Fürsorge für Bedürftige, Gefangene und Unterdrückte, Förderung und Ausbreitung des rechten Glaubens sowie das Ringen um Frieden und Eintracht im Land und in der Kirche – trug er als Papst die oberste Verant832
Vgl. Greg.‑M. Ep. XIII, 20 (CCSL 140A, 1020, 5). Vgl. Greg.‑M. Ep. IV, 11 (CCSL 140, 229, 34). 834 Vgl. Greg.‑M. Ep. VI, 54 (CCSL 140, 427, 23). 835 Vgl. Greg.‑M. Ep. VI, 7 (CCSL 140, 375, 17). 836 Vgl. Greg.‑M. Ep. V, 56 (CCSL 140, 350, 5). 837 Vgl. Greg.‑M. Ep. IX, 157 (CCSL 140A, 715, 25). 838 Vgl. Greg.‑M. Ep. I, 19 (CCSL 140, 18, 9). 839 Vgl. Greg.‑M. Ep. VII, 5 (CCSL 140, 450, 109–451, 119); VII, 38 (CCSL 140, 486, 8–487, 26) vgl. Eph 4,3 und Kol 3,14. 840 Vgl. Greg.‑M. Ep. VI, 7 (CCSL 140, 375, 17). 841 Vgl. Greg.‑M. Ep. VII, 23 (CCSL 140, 476, 67). 842 Häufig verbindet Gregor den Terminus mit unterschiedlichen Genitivattributen: utilitas ecclesiae vgl. Greg.‑M. Ep. II, 14 (CCSL 140, 101, 18); utilitas rei publicae vgl. Greg.‑M. Ep. II, 28 (CCSL 140, 114, 17); utilitas communi vgl. Greg.‑M. Ep. III, 29 (CCSL 140, 174, 21 f.); utilitas generalitatis vgl. Greg.‑M. Ep. V, 57 (CCSL 140, 353, 46). 843 Vgl. Geg.‑M. Ep. XI, 43 (CCSL 140A, 940, 6). 844 Vgl. Geg.‑M. Ep. I, 65 (CCSL 140, 74, 2). 845 Vgl. Geg.‑M. Ep. VI, 54 (CCSL 140, 427, 10). 846 Vgl. Geg.‑M. Ep. V, 26 (CCSL 140, 293, 5); IX, 98 (CCSL 140A, 651, 3 f.). 847 Vgl. Geg.‑M. Ep. I, 53 (CCSL 140, 66, 20). 848 Vgl. Geg.‑M. Ep. I, 42 (CCSL 140, 52, 88). 849 Vgl. Geg.‑M. Ep. II, 50 (CCSL 140, 142, 46 f.). 833
6.6 Zusammenfassung
379
wortung und kontrollierte die Vollzüge auf den unteren Ebenen. Vor Ort waren zumeist die lokalen Bischöfe in der Pflicht. An ihrem Dienstsitz, dem episcopium, wurden Arme versorgt, sie führten die Verhandlungen bei Geiselbefreiungen, ihnen oblag die Verkündigung und letztlich trugen sie die Verantwortung für das Seelenheil aller Gläubigen ihrer Gemeinde. Ebenso war die Verwaltung der Xenodochien zumindest im italischen Gebiet in der Hand des Klerus. Lediglich für Autun ist eine monastische Leitung der Einrichtung belegt. Bei Gregor lassen sich vier Kennzeichen beobachten, die sein Agieren in den unterschiedlichsten Handlungsfeldern verbinden: Zum einen ist es die akribische Kontrolle, die er selbst ausübte. Die rectores der Patrimonien mussten regelmäßig fehlerfreie Rechnungsbücher nach Rom senden und sie gegebenfalls noch Jahre später in Ordnung bringen. In den Wirren des Krieges ordnete er eine Inventur der vasa sacra an und selbst über die Lösegeldzahlungen für Geiseln forderte er eine genaue Buchführung. Für die Verwaltung wählte er vornehmlich Kleriker aus, da diese der kirchlichen Gerichtsbarkeit und damit in letzter Instanz ihm selbst unterstanden. Zum Zweiten strebte er in den verschiedenen Kirchen und Patrimonien einheitliche Regelungen an. Den Episkopat auf Sizilien, aber auch insgesamt in seiner Metropolie wollte er regelmäßig auf Synoden versammeln, um das Vorgehen abzustimmen und gemeinsame Pläne zu vereinbaren. Für den kirchlichen Dienst legte er Wert auf Qualität insbesondere in der Verkündigung. Deshalb ließ er vor der Weihe nicht nur kanonische Hindernisse ausschließen, sondern forderte zudem eine grundständige Bildung und eine tadellose Lebensführung der Kandidaten. In diesen Kontext ist auch sein penetranter Kampf gegen die fränkische Praxis der Laienweihe zu verorten. Als Drittes ist die Treue zu den kaiserlichen Gesetzen zu nennen, die ein maßgebliches Kriterium für die Entscheidungen und Anweisungen Gregors darstellten. Im Umgang mit den Bauern auf den kirchlichen Gütern, aber auch mit den Juden in der Nachbarschaft, setzte er auf die bereits vorhandenen Rechtsgrundlagen, um Sicherheit auf beiden Seiten zu garantieren. Hatten Menschen Unterdrückung durch staatliche Stellen zu erleiden, ermahnte Gregor den Kaiser, die eigenen Gesetze einzuhalten und durchzusetzen. Ebenso pochte er im Streit um den Titel des ökumenischen Patriarchen auf die weltlichen und kirchlichen Rechtstexte. Und schließlich basierte auch seine enge Einbindung des Mönchtums in die Stadt und die Kirche auf dem monastischen Modell, das Justinian in seiner Gesetzgebung entworfen hatte. Zuletzt ist die langfristige Ausrichtung der gregorianischen Handlungsweise zu nennen. In seinen Anweisungen für die Verwaltung der Patrimonien bewies er ökonomisches Denken: Bis in die Details der Hofbewirtschaftung hinein traf er Anordnungen. Selbst beim Freikauf von Gefangenen, dem er die oberste Priorität zusprach und dafür in Ausnahmefällen sogar den Verkauf von vasa sacra gestattete, mahnte er, möglichst geringe Lösegelder auszuhandeln. Auf
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diese Weise sicherte er auf Dauer die finanzielle Situation der römischen Kirche und ermöglichte – soweit es die örtlichen Begebenheiten zuließen – eine vorausschauende Vorratshaltung für Zeiten der Not. Mit Darlehen und festgelegten Preisen beschützte er zudem die Bauern vor Existenznöten. Mit verlässlichen Strukturen wollte er für ein Mindestmaß an Sicherheit der Landbevölkerung sorgen. Ebenso ist der Einsatz für den Geldwechsler, der sich ins Kirchenasyl geflüchtet hatte, als Investition in eine langfristige Armutsbekämpfung zu betrachten, da dieser der letzte seiner Zunft in Rom und für Menschen in kurzfristigen finanziellen Engpässen häufig ein Rettungsanker war. Ohne die Geldanleihen würden sie dauerhaft in Leibeigenschaft geraten. In ähnlicher Weise zielte die Unterbringung der Kriegsflüchtlinge auf eine longue durée ab: Der akuten Not musste schnell begegnet werden, aber Gregor sorgte dafür, dass dies sogleich in einer Weise vonstattenging, die von den Einheimischen auch für längere Zeit tragbar war. Ebenso achtete er in der Zusammenlegung von aufgrund des Krieges verwaisten Gemeinden darauf, dass eine dauerhafte pastorale Versorgung gewährleistet war und die Strukturen auch in Zeiten des Friedens noch tragfähig waren oder leicht angepasst werden konnten. In seinen unterschiedlichen Missionsunternehmungen zielte Gregor stets auf einen langfristigen Erfolg und die innere Überzeugung der Neuchristen. Die Bekehrung der Angelsachsen stellte er von Beginn an auf ein solides Fundament und befahl Augustinus, feste kirchliche Strukturen einzurichten, die denen Italiens entsprachen. Das germanische Volk sollte nicht nur im Gefolge ihres Königs zum neuen Glauben übertreten, sondern mithilfe eines weitflächigen pastoralen Netzes für das Christentum wirklich gewonnen werden. Im Laufe der Zeit kam er zu der religionspsychologischen Erkenntnis, dass der Wechsel aus dem germanischen Heidentum in eine vornehmlich der mediterranen Kultur verpflichtete Religion nicht von jetzt auf gleich zu erreichen war. Daher gestand er den Missionaren große Freiheiten in der Liturgie zu und empfahl, die Angelsachsen mithilfe von Kultkontinuitäten langsam an die neuen Riten zu gewöhnen. Auch in seinen anderen Missionsvorhaben forderte Gregor grundsätzlich die Freiwilligkeit der Konversion ein, so dass die Verkündigung ein besonderes Gewicht erhielt. Daher sandte er in die abgelegenen Regionen Sardiniens den Missionsbischof Felix sowie den Abt Cyriacus, um einen fundierten Unterricht der letzten paganen Bevölkerung zu ermöglichen. Allerdings resignierte der Papst hier bald und vollzog letztlich eine Zwangsbekehrung zumindest der auf den kirchlichen Gütern tätigen Menschen. Auch die jüdischen Bauern lockte er lediglich mit finanziellen Anreizen zur Taufe, wohl wissend, dass auf diese Weise keine innere Hinwendung zu erzielen war. Aber gerade die langfristige Perspektive ließ ihn Hoffnung schöpfen: Zumindest die Kinder und Enkel würden im christlichen Glauben auf- und in diesen hineinwachsen.
6.6 Zusammenfassung
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Weil der rechte Glaube und die innere Zustimmung zu den christlichen Lehren aber das zentrale Ziel seines Wirkens darstellten, überrascht die Marginalität umso mehr, die der dogmatischen Diskussion im Briefregister Gregors zukommt. In den verschiedenen Streitigkeiten reduzierte er die inhaltlichen Standpunkte zunehmend, bis allein die Gemeinschaft mit der römischen Kirche und das Bekenntnis zu den Konzilien einschließlich dem chalcedonensichen als Beleg für die Orthodoxie ausreichten. Das im Drei-Kapitel-Schisma strittige Konzil von Konstantinopel (553) ließ er in seiner Diplomatie ganz unter den Tisch fallen. Wichtiger als dogmatische Feinheiten war ihm die Ausrichtung allen Handelns an den Bedürfnissen des Mitmenschen. Die utilitas proximi stellte das zentrale Kriterium seines Agierens dar: Die Gewinne der kirchlichen Güter sollten den Bedürftigen zugutekommen, weshalb er stets vom patrimonium pauperum sprach und im Konfliktfall sogar die kirchlichen Interessen zurückstellte. Darüber hinaus setzte er sich mit kirchlichen Geldern für die Befreiung Gefangener ein und nutzte seine Kontakte in die höchsten Kreise am Kaiserhof dafür, auf die Opfer von Machtmissbrauch und Unterdrückung hinzuweisen. Sein Engagement in der Getreideverteilung und insbesondere in der Friedenspolitik begründete er selbst mit dem Nutzen der Bevölkerung. Der deutliche Zuwachs an kirchlichem Einfluss und bischöflichen Aufgaben ist von Gregor weniger aus Machtstreben intendiert worden, als vielmehr als Kompensation der staatlichen Versäumnisse zu verstehen. Weil die kaiserlichen Beamten ihren Pflichten nicht nachkamen, kümmerte er sich um die Zahlung des Soldes für die Truppen in Rom, entwickelte Kriegsstrategien gegen die Langobarden und nahm später die Friedensverhandlungen mit ihnen auf. Vielleicht sind vor diesem Hintergrund auch die sehr freundlichen Glückwünsche an den brutalen Usurpator Phocas nachzuvollziehen, mit denen Gregor eine fortdauernde Friedenspolitik im Interesse der italischen Bevölkerung bezwecken wollte. Die Verpflichtung auf den Nutzen anderer ist der Kern in Gregors Führungsmodell. Jegliche Hierarchie, im kirchlichen wie auch im weltlichen Bereich, musste sich ausschließlich an den Untergebenen orientieren und ihren Fortschritt fördern. Jeder Führer trug Verantwortung für die Menschen, die ihm anvertraut wurden. In seinen Briefen an die verschiedenen Herrscherhäuser brachte er diesen Gedanken wiederholt explizit zur Sprache und auch bei den Asketen warb er so für den kirchlichen Dienst: Dieser konnte mit dem Fortschritt der Mitmenschen einen deutlichen Vorteil aufweisen gegenüber der egoistischen Askese, die allein das eigene Seelenheil in den Fokus stellte. Aus diesem Grund übernahm Gregor die Mönche zunehmend in den Klerus oder stellte sie mit anderen Aufgaben in den Dienst der Kirche. Geriet aber einer der Führenden in Sünde, so bedeutete dies eine große Gefahr für die gesamte Gesellschaft. Aus diesem Grund kämpfte er vehement gegen die vermeintlich donatistischen Bischöfe in Nordafrika, aber auch die Simonie in Gallien und den östlichen Patriarchaten. Wenn der Klerus durch den Kauf seiner
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6 Die Praxis der tätigen Nächstenliebe im Handeln Gregors des Großen
Weihe verdorben war, hatte das gravierende Auswirkungen auf das Heil aller Gemeindeglieder. Deshalb wandte sich Gregor an die verschiedenen fränkischen Herrscher, um diese Ursünde gemeinsam zu besiegen. Eine vergleichbare Gefahr sah er in dem Titel des ökumenischen Patriarchen. Wenn sich Johannes der Faster als oberster Bischof verstand, konnte er durch einen Fehltritt die gesamte Kirche ins Verderben führen. Aus diesem Grund kämpfte der römische Bischof so verbissen gegen diesen Titel und sprach sich anstelle eines Primats für eine kollegiale Führungsstruktur der Kirche aus. Mit seinem Führungsmodell hatte Gregor, trotz seiner vornehmlich an die Eliten adressierten Briefe, dennoch stets alle Christen im Blick. Diese Perspektive offenbarte er bereits vor seiner Amtseinführung, als er die gesamte römische Gemeinde zur großen Litanei wegen der schweren Pestepidemie versammelte. Vom Kind bis zum Klerus sollten sie gemeinsam für die Rettung der gesamten Stadt zu Gott flehen. Der Bußzug war zugleich eine erste Verwirklichung des reziproken Dienstes. Gregors ekklesiologische Hauptmetapher ist die paulinische vom vielgliedrigen Leib Christi. Einem jedem Glied kommt eine andere Aufgabe zu: Der geistlich Fortgeschrittene, wie etwa die Asketen, soll als Lehrer des göttlichen Wortes dienen. Die Vermögenden sollen den Bedürftigen Anteil an ihrem Besitz geben, die wiederum Fürbitte bei Gott leisten. Auf diese Weise partizipieren die Christen gegenseitig an ihren jeweiligen Tugenden und Werken, wie Gregor im Kontext der Angelsachsenmission der fränkischen Königin zusagte. Mit diesem Modell der reziproken, aber grundsätzlich gleichwertigen Fürsorge konnte er sich schließlich auch mit seinem eigenen Bischofsdienst versöhnen, den er besonders in seinem ersten Pontifikatsjahr als Hindernis für ein gottgefälliges Leben betrachtet hatte. Trotz der vielgestaltigen Lebensweisen und Aufgaben waren die Glieder durch die Liebe zu einer Einheit verbunden. War diese aber wie z. B. im Rahmen des Drei-Kapitel-Streits zerbrochen, verloren nicht nur die Schismatiker ihren Zugang zum Heil, sondern auch die Rechtgläubigen litten fundamental unter der Trennung. Aus dieser Überzeugung heraus warb Gregor eifrig für die Rückkehr zur mehrheitskirchlichen Gemeinschaft. Hatte er als Diakon noch auf theologische Argumente gesetzt, agierte er als frisch geweihter Papst mit Waffengewalt und entzog den abtrünnigen Städten das kirchliche Almosen. Als er damit keinen Erfolg aufweisen konnte und der Kaiser seine Unterstützung aufgekündigt hatte, verließ sich Gregor schlussendlich auf die diplomatische Vermeidung aller strittigen Themen und fand so zumindest wieder einen friedlichen Weg der Kommunikation mit dem langobardischen Königshaus. Auch im Palliumstreit mit den Bischöfen Ravennas war er zu weitgehenden Kompromissen bereit, um vor Ort für Frieden zu sorgen. Dennoch zögerte er mit Blick auf die Gesamtkirche vor einem umfassenden Zugeständnis. Denn ein Privileg Ravennas hätte schnell zu Missgunst in anderen Städten geführt.
6.6 Zusammenfassung
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Gregors Handeln in den unterschiedlichen Bereichen war zu jeder Zeit stark geprägt von den aktuellen Zeitläuften. In den ersten Jahren dominierten die kriegerische Bedrohung und Belagerung durch die Langobarden die päpstliche Praxis. Anstatt sich um den geistlichen Fortschritt seiner Herde zu kümmern, musste er gar als Militärstratege agieren und den Nutzen von Geiselnahmen ermessen. Er zahlte den Sold für die kaiserlichen Truppen aus, verteilte und versorgte die zahlreich nach Rom strömenden Flüchtlinge und befreite mithilfe des Kirchenschatzes Geiseln aus den Fängen der Feinde. Zudem achtete er darauf, dass auch in den Kriegsgebieten eine ordentliche pastorale Versorgung gesichert war, um der Bevölkerung den Zugang zu den Sakramenten des Heils zu gewähren. Als sich die akute Bedrohung etwas gelegt hatte, trat er in die Friedensverhandlungen ein, wobei er die konkrete Situation der Menschen im gesamten italischen Gebiet vor Augen hatte und nicht nur im Interesse Roms agierte. Zudem fand er nun vermehrt Zeit für individuelle Seelsorge, die er zumeist den Angehörigen des Kaiserhofs angedeihen ließ. In seinen Briefen erweist sich Gregor in vielfältiger Weise als fähiger Verwalter und weitsichtiger Stratege. Trotz seiner engen Kontakte zur kirchlichen und politischen Elite verlor er dabei dennoch nicht die anderen Schichten der Gesellschaft und Gemeinde aus dem Blick. Vielmehr war ihm deren Bedürftigkeit bekannt und er brachte sie im Gespräch mit den Führenden wiederholt zur Sprache. Insofern lässt sich sein praktisches Wirken als grundsätzlich dem Nutzen des Mitmenschen verpflichtet beschreiben.
7 Synthese Gregors Theologie der tätigen Nächstenliebe entstand nicht am Schreibtisch eines weltabgewandten, mystischen Denkers in klösterlicher Abgeschiedenheit. Vielmehr ist seinem Werk und Wirken, betrachtet man beides erst einmal konsequent historisch verortet, deutlich anzumerken, wie sehr beides durch äußere, aktuelle Entwicklungen, aber auch durch seine wachsende Erfahrung und Souveränität im bischöflichen Leitungsamt beeinflusst ist. Er reagierte nicht nur in seinem praktischen Handeln auf die politischen und kirchlichen Ereignisse, sondern erweist sich ebenso in seinem theologischen Denken als flexibel und praxisorientiert. Die Sorge um die Mitmenschen stellt noch in seinem Frühwerk, dem Hoheliedkommentar, lediglich einen Schritt auf dem Weg zur Kontemplation und mystischen Schau Gottes dar. Doch schon im ersten Werk nach der Wahl zum Papst ordnet Gregor die vita activa gleichberechtigt neben den kontemplativen Lebensweg ein, für den er sich vormals selbst entschieden hatte. Durch seine Erfahrungen in der Kirchenleitung und die damit einhergehende Verantwortung wechselt er überraschend schnell von einer individualasketischen zu einer konsequent sozialen Perspektive seiner Theologie. Spätestens mit den Evangelienhomilien – also bereits im ersten Kirchenjahr seiner Amtszeit – ist die vita mixta sein Ideal der christlichen Lebensführung. Mitunter bindet er den soteriologischen Gewinn von Askese, Gebet und liturgischen Vollzügen sogar an die Übung guter Werke zum Nutzen des Nächsten. Die tatkräftige Unterstützung des Mitmenschen – die operatio – avanciert schließlich in den Ezechielhomilien zur christlichen Grundtugend, mit der Gregor die paulinische Trias fides, caritas et spes (1 Kor 13,13) zum Quartett erweitert. Anders als in den meisten früheren Gregorstudien wurden die Moralia in Iob in der vorliegenden Untersuchung konsequent vor dem Hintergrund ihrer Schlussredaktion um das Jahr 595 betrachtet und nicht im konstantinopolitanischen Umfeld ihrer ersten Vorarbeiten gedeutet. Durch diese Neukontextualisierung konnte das Werk historisch verortet und mit konkreten Ereignissen und Gegebenheiten verknüpft werden. Erst im Kontext von Gregors eigenem Pontifikat erschließen sich die Fokussierung auf die Predigt als episkopale Aufgabe einerseits und die beständige Zielrichtung auf kirchliche Einheit und Eintracht andererseits. Somit offenbart sich Gregors Hiobauslegung als eine durch und durch erfahrungsbasierte, pragmatische Kybernetik und nicht – wie
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häufig behauptet – als eine lediglich langatmige, schwer zu greifende mystische Exegese. Das komplementäre Gegenüber von Kontemplation und Aktion sieht Gregor im Doppelgebot der Liebe vorgezeichnet. Obwohl er nur selten konkret und explizit auf diesen biblischen Text verweist, dient er dennoch konsequent als hermeneutische Folie für den Ausgleich vom Dienst an Gott in Gebet und Askese auf der einen Seite und dem Dienst am Nächsten in der konkreten Tat auf der anderen Seite. Gottes- und Nächstenliebe sind in keiner Weise voneinander zu trennen. Jegliche kontemplative Gotteserfahrung und -verehrung muss durch die Verkündigung und Zuwendung an den Mitmenschen konkretisiert und verwirklicht werden. Die Fokussierung auf den bedürftigen Mitmenschen wird ebenso in Gregors päpstlicher Amtspraxis deutlich: Er achtete konsequent auf sichere und möglichst reiche Pacht- und Ernteerträge der kirchlichen Ländereien, die er ausdrücklich als patrimonium pauperum verstanden wissen wollte. Missbrauch oder Nachlässigkeiten, die möglicherweise zum Schaden der Armen führten, ahndete er aufs Schärfste. In Situationen staatlicher Schwäche übernahm er zudem Aufgaben, die vormals nicht zum kirchlichen Verantwortungsbereich zählten. So füllte er mit kirchlichen Vorräten und Ankäufen die Lücken der staatlichen Getreideversorgung. In ähnlicher Perspektive ist sein selbstbewusstes Agieren in der Langobardenpolitik zu verstehen: Die Hoffnung auf staatlichen Schutz und Beistand für Rom und die übrigen italischen Gebiete erlosch schnell. Daher zahlte er aus kirchlicher Kasse den Sold der wenigen verbliebenen Soldaten, entwickelte militärische Verteidigungsstrategien und nahm schließlich selbst Friedensverhandlungen mit den Langobarden auf. Die methodische Entscheidung, die tätige Nächstenliebe nicht von vornherein terminologisch bzw. auf bestimmte Werke festzulegen, hat sich bewährt. Indem in der vorliegenden Untersuchung jegliches Handeln im Interesse des Mitmenschen als tätige Nächstenliebe verstanden wird, fächert sich ein breites Spektrum an Handlungsbereichen auf. So kommt bei Gregor neben den klassischen diakonischen Werken wie Almosen, Armenfürsorge und Krankenpflege insbesondere der Katechese und Seelsorge eine herausragende Bedeutung zu. Die Verkündigung bezeichnet er als „Almosen des Wortes“1. Für den römischen Bischof liegt die zentrale christliche Pflicht darin, den Nächsten für die himmlische Heimat und einen gottgefälligen Lebenswandel zu gewinnen. In allen literarischen Werken fordert er seine Leser auf, von den eigenen spirituellen Erfahrungen zu berichten und als gutes Vorbild zu dienen. Der Mitmensch soll zudem ermahnt und getadelt werden, wenn er vom rechten Weg abgekommen ist. Auch in seiner eigenen Praxis legte Gregor einen Schwerpunkt auf die buchstäbliche Seel-Sorge – die Sorge um den rechten Glauben. Zeugnis dafür legt 1
„[…] eleemosynam uerbi“ Greg.‑M. Hom. eu. I, 6, 6 (CCSL 141, 44, 137).
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der Zyklus der Evangelienhomilien ab, die er trotz schwerster Gichtanfälle hielt. Unter seinen persönlichen Briefen finden sich seelsorgliche Trostbriefe, aber auch tadelnde Mahnungen. Auf institutioneller Ebene sorgte er für eine flächendeckende pastorale Versorgung weit über die römischen Stadtgrenzen hinaus. Trotz der Kriegswirren wollte er den Christen im Land die Möglichkeit zu Taufe und Beichte zukommen lassen. In seiner Korrespondenz mit den kirchlichen und weltlichen Herrschern im gesamten Mittelmeerraum kritisierte er zudem Missstände wie die von ihm überall vermutete Simonie. So wollte er in der ihm unterstellten westlichen Kirche, aber auch im kollegialen Austausch mit den anderen Patriarchaten, eine gottgefällige Glaubens- und Lebenspraxis ermöglichen. Schließlich ließ er den christlichen Glauben bis auf die britische Insel tragen. Ihm kam es hierbei allerdings weniger, wie oft behauptet, auf eine Ausweitung seines Macht- und Einflussbereichs an. Vielmehr betonte er das Ziel der inneren Zustimmung der neuen Christen. Eine rein äußere Konversion des gesamten Volksstammes lehnte er ab, stattdessen wollte er jede einzelne Person zum Glauben führen. Daher setzte er auf langfristige Strategien und duldete zeitweise sogar synkretistische Praktiken. Bedingt durch die Kriegserfahrungen und die Bedrohung durch die Langobarden forderte Gregor eine weitere Gruppe von Werken der Nächstenliebe ein. Insbesondere die Unterdrückten und Geflohenen nahm er in den Blick. Er selbst versuchte den hohen Zahlen an Kriegsflüchtlingen in Rom und ganz Italien möglichst weitsichtig zu begegnen, indem er sie gleichmäßig auf verschiedene Gemeinden aufteilte. Außerdem wies er mehrfach den Freikauf Gefangener an. Dabei war er – als stets ökonomisch denkender Kirchenführer – vor allem auf geringstmögliche Lösegelder bedacht. Gab es gar keine andere Möglichkeit, die Geiseln zu befreien, war er im Einzelfall auch dazu bereit, vasa sacra zu veräußern. In den Ezechielhomilien – also gerade während der Zeit der ärgsten Bedrohung – geriet zudem die Feindesliebe in den Fokus. Gregor betrachtet sie als Steigerung der Nächstenliebe. Den Feind zu lieben, bedeutet Hass mit Liebe zu beantworten und zu riskieren, dass diese Liebe niemals erwidert wird. Mehrfach findet sich in den literarischen Werken die Aufforderung, „den Freund in Gott und den Feind wegen Gott zu lieben.“2 Gregor reflektierte diese Herausforderung in seinem eigenen Handeln: Einerseits sehnte er den militärischen Sieg über die Feinde herbei, andererseits wusste er, dass er sich als Christ nicht über den Tod von Menschen freuen darf. Insofern betrachtete er die Waffengewalt als ultima ratio und versuchte, den Frieden mit den Langobarden vor allem am Verhandlungstisch zu erlangen. Auch innerhalb der Kirche setzte er sich für Toleranz und Einheit ein. 2 „[…] amicum diligere in Deo, et inimicum diligere propter Deum.“ Greg.‑M. Hom. eu. I, 9, 6 (CCSL 141, 63, 120 f.).
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Ein weiterer, überraschender Bereich der tätigen Nächstenliebe ist die Liturgie, welche Fürbitten, Messfeiern, aber auch das viaticum umfasst. Obwohl der Gottesdienst und das private Gebet Konkretionen der Liebe zu Gott sind, trennt Gregor sie dennoch nicht vom Dienst am Mitmenschen. Auch sie können und sollen zum Nutzen des Nächsten geübt werden. Aus seiner päpstlichen Praxis ist in dieser Kategorie der große Bußzug zu nennen. Mit großem Aufwand beteiligte er die gesamte Gemeinde und ließ sie im Gebet um Gottes Gnade flehen, damit dieser die Pestepidemie von der Stadt abwende. Die semantische Untersuchung belegt, dass sich Gregors umfassende und mannigfaltige Vorstellung von Werken tätiger Nächstenliebe auch in seiner Terminologie widerspiegelt. Einen einzigen Zentralbegriff verwendet er nicht, vielmehr stehen vier Lemmata relativ gleichberechtigt nebeneinander: amor, caritas, dilectio und pietas. Die weiteste Semantik davon besitzt die caritas, die mitunter auch die den Taten zugrundeliegende Tugend bezeichnen kann. Darüber hinaus bezeichnet Gregor die konkreten Handlungen mit einer überaus beachtlichen Varianz, die nicht nur seine Liebe zur lateinischen Sprache, sondern eben auch die Weite seiner Vorstellung von tätiger Nächstenliebe verdeutlicht. In theologischer Perspektive führt die Aufforderung zu guten Werken, obwohl sie zum Nutzen der Mitmenschen dienen sollen, stets zur Frage nach der Heilsrelevanz. Wenn sich eine gottgefällige Lebensführung vornehmlich in Taten konkretisiert und äußert, bedingen diese auch die Beurteilung des Handelnden vor Gott. Gregor motiviert an vielen Stellen seines Œuvres zu guten Werken, indem er auf deren jenseitigen Verdienst verweist. Damit gerät er in die spannungsreiche Dialektik von Werkgerechtigkeit und Gnadenwirken Gottes, die er nicht bis zur letzten Konsequenz reflektiert. Einerseits hält er an Augustins Gnadenlehre fest und lehnt pelagianische Denkmodelle ab, andererseits betont er die Verantwortung und Handlungsfreiheit des Menschen. Diese beiden Positionen stehen in seinem Werk eigenartig unverbunden nebeneinander. Seine Soteriologie lehnt sich an Cassian an und ist am ehesten als synergistisch zu beschreiben, wobei sie in keiner Weise gründlich ausgearbeitet erscheint. Deutlich ausgereifter ist hingegen der konsequente Perspektivwechsel, den Gregor bezüglich der tätigen Nächstenliebe entwickelt. Nicht beim Täter des guten Werks liegt sein Interesse, sondern allein der Empfänger steht im Fokus. Dessen Nutzen – die utilitas proximi – stellt das entscheidende Kriterium einer guten Tat dar. Nur wenn das Objekt der Handlung – der Empfänger – in den Blick genommen wird und nicht das Subjekt – der Täter –, wird wirklich aus Liebe und nicht aus Eigennutz gehandelt. Als Mutter aller Tugenden bildet die Liebe die Grundlage jeglicher christlichen Ethik. Wer diese Haupttugend übt, nimmt sein Gegenüber in dessen Bedürfnissen wahr und ernst. So ist die Spende für die Armenfürsorge kein anonymes Almosen mehr für namenlose Bedürftige, sondern es entsteht eine echte Verbindung zwischen Täter und Empfänger des guten Werkes. Denn dem Leid des Nächsten begegnet der Handelnde mit auf-
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richtigem Mitgefühl. Auf diese Weise nimmt er selbst Anteil daran und macht es sich so zueigen. In den Moralia in Iob avanciert die compassio gar zu einem eigenen Werk, das die anderen Taten der Nächstenliebe erst zur Vollendung führt. Inwieweit Gregor selbst in solch Anteil nehmender Weise tätige Nächstenliebe praktiziert hat, wie einer seiner Biographen es behauptet,3 ist kaum zu beweisen. Aus seiner Feder sind aber zahlreiche Briefe erhalten, in denen er Trauernden und Kranken sein Mitgefühl ausspricht. Gerade den Gichtkranken fühlte er sich durch sein eigenes Leiden eng verbunden. Die Ausrichtung auf die Interessen bzw. den Nutzen des Einzelnen ermöglicht und erfordert eine gewisse Flexibilität im Handeln. Je nach Situation und Bedarf ist das eigene Vorgehen zu variieren. Deutlich wird dies insbesondere im umfangreichen dritten Buch der Pastoralregel, in dem Gregor an zahlreichen Beispielen seine adressatenorientierte Seelsorgelehre darlegt. Dieses Ideal legte er deutlich wahrnehmbar auch seinem eigenen Handeln zugrunde. Bei der Verwaltung der kirchlichen Ländereien, in juristischen Angelegenheiten, aber auch in kircheninternen Dingen forcierte er keine standardisierten Vorgänge. Vielmehr war ihm stets an einer Einzelfallprüfung gelegen, um jeweils die beste Lösung zu finden und damit den größtmöglichen Nutzen für die Mitmenschen, insbesondere die Bedürftigen zu generieren. Seine Flexibilität in der Angelsachsenmission ist bereits zur Sprache gekommen. Zu betonen ist außerdem die Konzilianz, die er insbesondere gegenüber Schuldnern an den Tag legte. Charakteristisch für seine strikte Orientierung an der utilitas proximi ist der Fall des Geldwechslers Johannes, der durch eine Bürgschaft in Not geraten war. Gregor begründete seine Forderung nach Freispruch mit dem Nutzen für die Armen in gleich doppelter Weise: Zum einen wäre dem plötzlich Verarmten geholfen. Zum anderen bedeutete dessen Rehabilitierung zugleich fortdauernd Rettung für die Armen in der Stadt, die mit seiner Unterstützung finanzielle Engpässe überwinden könnten. Eine beeindruckende Kompromissbereitschaft legte Gregor zudem in der großen dogmatischen Debatte seiner Zeit an den Tag: dem Drei-Kapitel-Streit. In seinen verschiedenen Schriften vermied er es trotz der Betonung der Verkündigung weitgehend, konkrete homiletische Inhalte festzulegen. In der Debatte mit den istrischen Schismatikern versuchte er lediglich zu Anfang, noch als Diakon, dogmatische Überzeugungsarbeit zu leisten. Doch er sah sein Scheitern schnell ein und setzte als frisch geweihter Papst zunächst auf Waffengewalt, die ihm aber schon bald durch den Kaiser bzw. dessen Exarchen verboten wurde. In den verbleibenden Jahren seines Pontifikats gab er sein großes Ziel der kirchlichen Einheit nicht auf und rang fortan um diplomatische Lösungen. Dafür war er bereit, das strittige Konzil von Konstantinopel (553) beiseite zu lassen und sich als Konsens lediglich zu den ersten vier Synoden zu bekennen. Letztendlich 3
Vgl. Joh.‑Diac. Vit. Greg. II, 22 (PL 75, 95).
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scheiterte er mit dem Vorhaben, die gesamte Kirche wieder zu vereinen, obwohl er für das Ideal der Einheit die Festlegung expliziter und konkreter Inhalte preisgegeben hatte. Die Einheit der Christen stellt einen zentralen Topos im Denken Gregors dar. Er knüpft den Einheitsgedanken eng an die Liebe: Auf der einen Seite ist die Eintracht auf die Liebe angewiesen, erst sie stiftet die Gemeinschaft unter den Menschen. Auf der anderen Seite steht der obersten Tugend die oberste Sünde, die Zwietracht, entgegen. Ist das Band der Liebe4 zwischen den Christen zerrissen, sind keine Taten der Nächstenliebe möglich. Die Verbindung von Liebe und Einheit ist bei Gregor so eng geknüpft, dass er beide sogar synonym gebraucht. Die Betonung der inneren, emotionalen Verbundenheit unter den Menschen führt in den Moralia in Iob schließlich sogar dazu, dass der römische Bischof die Einheit der Christen nicht an das einende Bekenntnis oder die gemeinsamen Sakramente bindet, sondern an das Empfinden der compassio. Das Insistieren auf eine aufrechte, innere Verbundenheit der Christen untereinander prägt ebenso Gregors Ekklesiologie. In Rezeption der paulinischen Leib-Glieder-Metapher zeichnet er die christliche Gemeinde als vielgestaltiges Gebilde mit unterschiedlichsten Elementen. Auf diese Weise will er die verschiedenen Lebensweisen und ordines enger verbinden und Streit und Missgunst verhindern. Sie unterscheiden sich zwar in ihrer Praxis, aber nicht in ihrem Wert vor Gott. Der streng asketische Mönch ist dem Heil nicht näher als die verheiratete Frau. Generell kann jeder Mensch in die patria caelestis gelangen. Und ebenso grundsätzlich ist jeder auf die Unterstützung der anderen Gemeindeglieder angewiesen. Konsequent beschreibt der römische Bischof die Kirche als reziproke Dienstgemeinschaft, in der jeder Christ seinen Nächsten zu Gott führen soll und kann. Bereits in seiner Hoheliedauslegung nimmt Gregor mit dieser ekklesiologischen Vorstellung diejenigen in die Pflicht für die gesamte Kirche, die sich aus der Welt zurückgezogen und für ein Leben in Kontemplation und Askese entschieden haben. In den späteren Werken verstärkt er seine Forderung und scheut auch nicht vor deutlicher Kritik an den Asketen zurück. Und auch seine eigene Praxis war von Beginn an durch das Ideal des reziproken Dienstes geprägt. Direkt nach seiner Wahl – Monate vor seiner Weihe – rief er die verschiedenen Gruppen und Stände der römischen Gemeinde zur großen Bußlitanei zusammen. Kein geistlicher Stand, keine gesellschaftliche Schicht war davon ausgeschlossen. Alle gemeinsam, sogar die Kinder, beteten für das Wohl der Stadt und übernahmen Verantwortung für sie. In vielfacher Weise zeigt Gregor in seinen Schriften den Christen Möglichkeiten der tätigen Nächstenliebe auf, unabhängig vom ordo, der gesellschaftlichen Schicht oder den finanziellen Mitteln: Sie sollen Almosen geben, Fürbitte leisten 4
Vgl. Eph 4,3 f.; Kol 3,14.
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und Ermahnung üben und so den Mitmenschen für Gott gewinnen. Dieser Gedanke kann mit dem Stichwort der „Demokratisierung des Heils“ umschrieben werden. Allein die Intention einer Tat bestimmt ihren Wert, nicht die Höhe einer Spende. Wird aus Liebe zum Nächsten – und nicht aus Ruhmsucht oder Eigennutz – gehandelt, rechnet Gott das Werk an. Insbesondere der Askese spricht Gregor einen Mehrwert ab. Auch den Klerus hebt er in der Bewertung nicht über die weltlichen Lebensweisen hinaus. Sehr deutlich widerspricht er einem sakralen Amtsverständnis, stattdessen begreift er das geistliche Amt rein funktional. Die von Gott gegebene Hierarchie hat ihren Zweck allein im Nutzen aller. Macht darf nicht für den eigenen Gewinn missbraucht werden, sondern muss für den geistlichen Fortschritt der anderen eingesetzt werden. In diesem Sinn engagierte Gregor sich selbst vehement in den Streitfällen mit Konstantinopel und Ravenna sowie in der Bekämpfung der Simonie, da er in allen diesen Fällen einen Schaden für die Untergebenen befürchtete. Bei aller grundsätzlichen Gleichheit vor Gott haben die geistlich Fortgeschrittenen wie Asketen und Kleriker dennoch einen gewissen Vorsprung auf dem Weg zu Gott. Umso dringlicher ermahnt Gregor sie dazu, den übrigen Menschen Anteil an ihren mystischen Erfahrungen zu geben. Damit verfolgt er das Modell einer Erfahrungspädagogik. Wenn er von geistlichen Lehrern spricht, stellt er sich weniger die Vermittlung dogmatischer Inhalte vor. Vielmehr sollten die Asketen und Bischöfe ganz persönlich von ihren individuellen kontemplativen Erlebnissen berichten und so ihre Schützlinge authentisch zu dem Streben nach Gott motivieren. Mehrfach betont Gregor, dass eigene mystischen Erfahrungen unersetzliche Voraussetzung für die Rolle des geistlichen Lehrers sind. Doch darf dieser sich auch nicht auf vergangenen Zeiten ausruhen, sondern muss sich beständig wieder aufs Neue in die geistlichen Übungen begeben, um nicht im Eifer für Gott zu erkalten. In diesem Ansatz der spirituellen Erfahrungspädagogik liegt der Grund dafür, dass Gregor die Asketen zum Dienst in der Gemeinde verpflichten will. Gerade sie haben die notwendige Kompetenz und Fähigkeiten, um die Menschen für eine kontemplative Lebensausrichtung zu gewinnen. Diesen Plan setzte er in seinem Wirken auch tatsächlich um. Immer wieder übertrug er Mönchen die Leitung von Gemeinden, sodass sich die Klöster zunehmend zur Nachwuchsschmiede für kirchliche Ämter entwickelten. Zudem dienten sie als Bußorte für gefallene Kleriker, die den rechten, geistlichen Weg verlassen hatten. Erneut wird Gregors Fokus auf die utilitas proximi deutlich. Mit seiner Pastoralregel, aber auch in seinen exegetischen und homiletischen Werken ruft er fähige Männer zur Übernahme geistlicher Ämter auf. In deutlich autobiographischer Kritik lehnt er eine Amtsflucht ab und fordert dazu auf, den Dienst für den Nächsten anzutreten, selbst wenn die eigenen Interessen wie z. B. die Gelegenheit zur Kontemplation dadurch ins Hintertreffen geraten. Freilich darf nicht Ruhmsucht die Motivation für ein Amt sein. Allein der Dienstgedanke,
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die Verpflichtung dem Mitmenschen gegenüber soll treibende Kraft im Amt sein. Die kirchliche – aber auch die weltliche – Führung erlangen bei Gregor insbesondere durch die Vorbildfunktion eine immense Bedeutung. Indem die Leitungsperson ein Paradigma des guten Lebens darstellt, werden die ihr untergebenen Menschen zur Gottgefälligkeit angeleitet. Mit diesem top-down gerichteten Gesellschaftsverständnis befindet sich Gregor im 6. Jahrhundert in prominenter Gesellschaft. Mit der Regula Benedicti, dem Fürstenspiegel des Agapet, der Climax des Sinaiten sowie der Justinianischen Gesetzgebung bezeugen bedeutende andere Werke den Versuch, in den unruhigen Zeiten von oben her für Ordnung und Stabilität zu sorgen. Obwohl Gregor in Werk und Wirken zumeist Führungspersonen adressierte, nahm er spätestens ab der Pastoralregel auch deren Untergebene bewusst mit in den Blick. Gewissermaßen spielt er über Bande: In seinen Schriften und Predigten ermahnt er Bischöfe und andere Leitungsfunktionäre, damit diese wiederum durch ihr Lehren und Leben die Breite der Gesellschaft nach seinen Vorstellungen formen. Insofern ist in seinem Werk und Wirken eine weitgehend parallele Entwicklung zu beobachten. Von den individualasketischen Idealen seiner Zeit im Kloster, wie sie noch im Hoheliedkommentar zum Ausdruck kommen, entfernte er sich umgehend nach seiner Wahl zum Papst. Der ihm dadurch übertragenen Verantwortung für die Gemeinde und ihren Gliedern wurde er insofern gerecht, dass er stets alle Schichten in den Blick nahm, obwohl er vornehmlich die Leitungsebene adressierte. Den von Krieg, Hungersnot und kirchlichem Streit geprägten Zeiten begegnete er mit seiner Fokussierung auf den Mitmenschen. Er rief die Menschen zur Einheit und gegenseitigen Fürsorge auf, um Zwietracht und Not zu lindern. Die konsequente Ausrichtung auf die utilitas proximi durchzieht sein Denken und Handeln und offenbart eine diakonisch-karitative Theologie der tätigen Nächstenliebe.
8 Literaturverzeichnis 8.1 Abkürzungsverzeichnisse Die Abkürzungen für Lexika, Zeitschriften und Reihen richten sich nach: Schwertner, Siegfried, IATG3 – Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, Berlin 32014. Zusätzlich wird folgendes Kürzel verwendet: FSGA.A Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe Abteilung A: Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters Die Abkürzungen der Quellen sind den Verzeichnissen folgender Werke entnommen: a) griechische Quellen Lampe, Geoffrey William Hugo, A Patristic Greek Lexicon, Oxford 1961. b) lateinische Quellen Blaise, Albert, Dictionnaire Latin-Français des Auteurs Chrétiens, Turnhout 1954. Die Werke Augustins sind nach den Richtlinien des AugL abgekürzt. Zusätzlich werden folgende Quellen-Kürzel verwendet: Anon.Whitby Vit. Greg. Anonymus von Whitby, Liber beati et laudabilis Viri Gregorii Papae urbis Romae de Vita atque eius Virtutibus Bas. Div. Basilius von Caesarea, Homilia in divites Cyr. H. Catech. myst. Cyrill von Jerusalem, Catecheses mystagogiae Ep. Leg. Epistola legatariis Greg.‑M. In Cant. Gregor der Grosse, Expositio in canticum canticorum Chrys. Sac. Johannes Chrysostomus, De sacerdotio Joh.‑Diac. Vit. Greg. Johannes Diaconus, Sancti Gregorii Magni Vita Wellhausen, Ep. Julius Wellhausen, Briefe Lic. Ep. Licinianus von Cartagena, Epistula Pelag. II. Ep. Greg. Pelagius II., Epistula ad Gregorium Pelag. II. Ep. episc. Pelagius II., Epistulae ad episcopos histriae Proc. Aed. Procopius von Caesarea, Aedificia Proc. Bell. Goth. Procopius von Caesarea, De bellis Gothicis Proc. Bell. Vand. Procopius von Caesarea, De bellis Vandalicis Ps.‑P.-Diac. Vit. Greg. PsPaulus Diaconus, Vita Gregorii interpolata
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8 Literaturverzeichnis
8.2 Quellen An erster Stelle wird stets die verwendete, beste Edition angegeben. Im Anschluss werden gegebenfalls weitere Editionen und Übersetzungen genannt, die ich zusätzlich herangezogen habe. Agapetos Diakonos, Expositio capitum admonitoriorum – PG 86, 1164–1185 – Blum, W., Byzantinische Fürstenspiegel. Agapetos, Theophylakt von Ochrid, Thomas Magister, übersetzt und erläutert von Wilhelm Blum, BGL 14, Stuttgart 1981, 59–80. Ambrosius von Mailand, De Abraham – Schenkl, K. (Hg.), Sancti Ambrosii De Abraham, CSEL 32/1, Wien 1897, 501–638. –, De officiis – Testard, M. (Hg.), Sancti Ambrosii Mediolanensis De officiis, CCSL 15, Turnhout 2000. –, De excessu fratris sui Satyri – Faller, O. (Hg.), Sancti Ambrosii De excess fratris, CSEL 73, Wien 1955, 207–325. –, Expositio euangelii secundum Lucam – Adriaen, M. (Hg.), Sancti Ambrosii Mediolanensis Expositio evangelii secundum Lucam, CCSL 14, 1–400, Turnhout 1957. Anonymus von Whitby, Liber beati et laudabilis Viri Gregorii Papae urbis Romae de Vita atque eius Virtutibus – Colgrave, B. (Hg.), The Earliest Life of Gregory the Great. By an Anonymous Monk of Whitby, Cambridge et al. 1968, 72–165. Athanasius von Alexandrien, Apologia contra Arianos – Opitz, H.‑G. (Hg.), Athanasius Werke 2/I, Berlin / Leipzig 1935, 87–168. –, Vita Antonii – Bartelink, G. (Hg.), Athanase d’Alexandrie. Vie d’Antoine, SC 400, Paris 1994. Augustin, Ad Simplicianum libri duo – Mutzenbecher, A., Sancti Aurelii Augustini De diversis quaestionibus ad Simplicianum, CCSL 44, Turhout 1970. –, Confessionum libri tredecim – Verheijen, L. (Hg.), Sancti Augustini Confessionum libri XIII, CCSL 27, Turnhout 1981. –, Contra Faustum – Zycha, J. (Hg.), Sancti Aureli Augustini Contra Faustum, CSEL 25, Wien 1891, 251–797. –, De baptismo libri septem – Petschenig, M. (Hg.), Sancti Aurelii Augustini De baptismo libri septem, CSEL 51, Wien 1908, 145–375. –, De cathechizandis rudibus liber unus – Bauer, J. (Hg.), Sancti Aurelii Augustini De catechizandis rudibus, CCSL 46, Turnhout 1969, 121–178. –, De ciuitate Dei libri uiginti duo – Dombart, B. (Hg.), Sancti Aurelii Augustini De ciuitate Dei, CCSL 47; 48, Turnhout 1955. –, De cura pro mortuis gerenda ad Paulinum episcopum liber unus – Zycha, J. (Hg.), Sancti Aureli Augustini De cura pro mortuis gerenda, CSEL 41, Wien 1900, 621–660 – Aurelius Augustinus, Die Sorge für die Toten. Übertragen von Gabriel Schlachter OSA, eingeleitet und erläutert von Rudolph Arbesmann OSA, Sankt Augustinus – Der Seelsorger. Deutsche Gesamtausgabe seiner moraltheologischen Schriften, Würzburg 1975. –, De doctrina christiana libri quattuor – Martin, J. (Hg.), Sancti Aurelii Augustini De doctrina christiana, CCSL 32, Turnhout 1962, 1–167. –, De fide, de spe et caritate liber unus – Evans, E. (Hg.), Sancti Aurelii Augustini Enchiridion ad Laurentium de fide et spe et caritate, CCSL 46, Turnhout 1969, 49–114. –, De haeresibus ad Quodvultdeum liber unus – Vander Plaetse, R. (Hg.), Sancti Aurelii Augustini De Haeresibus, CCSL 46, 282–345, Turnhout 1969.
8.2 Quellen
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Stellenregister Altes Testament Gen 18,1–5 50
Ps 41,2 50
Ex 26,1 134 28,4–8 90 28,5 90 28,6 90 28,8 90
Prov 19,11 88
Num 20,7–11 170
Koh 7,8 88 Hld 1,3 f. 75 1,5 69
1 Sam 3,13 234
Jes 11,1–3 252 11,6 210 41,18–20 145 58,7 50
2 Sam 1,11 f.
Jer 8,22 350
Dtn 25,5–10 92
170
1 Kön 17,4–6 170 2 Kön 2,14 170 6,5–7 170 Hi 7,13 f. 231 29,12 f. 236 37,17 242 41,23 232
Ez 1 205 1,1–4,3 36, 184 1,8 234 3,12 f. 234 3,26 234 34,4 350 10,8 234 40–48 185 40,1–47 36, 184 40,6 211 40,20 211 40,24 211 43,13 88
418 Dan 4,24
Stellenregister
Am 1,13 103
50, 52
Zwischentestamentarische Schriften Sir 3,33 f. 50 3,33 52 12,1 109 12,5 f. 84 34,7 231, 233
Tob 1,18–20 47 4,7–11 50 4,16 134 4,18 84 12,9 50, 52 12,12 62
2 Makk 7,1–41 117
Neues Testament Mt 3,12 148 5,43–48 par. 75 6,1–4 50, 150 6,2–4 54 6,2 54 6,4 54 7,12 134 7,16 209 8,30–32 parr. 170 13,47–50 148 14,13–21 parr. 170 14,28 f. parr. 170 16,18 f. 359 18,15+17 358 22,1–14 148 22,11 126 22,14 139 22,34–40 parr. 56 22,40 99 25,1–13 148 25,31–46 8, 50, 135–137, 217, 275 25,31–33 52 25,32 f. 148 25,34–46 90 25,35–40 50 25,40 51, 53, 71, 136
25,41–46 90 25,41–45 52 25,45 51 28,10 92 Mk 10,17–27 parr. 12,29–31 parr.
50 50
Lk 3,11 132 7,36–50 71 10,29–36 89 10,38–42 214, 234 11,41 54 12,33 50, 54 14,12–14 84 15,1–7 79 16,19–31 50, 90, 259 22,31 359 Joh 4,46–53 170 10,11 121 13,35 99, 190 14,26 119 20,19–31 132
419
Antike Autoren
20,22 132 21,17 359
5,17 198 9,1 146
Apg 1,8 132 3,2 f. 54 3,10 54 9,36 54 10,2 53 f. 10,4 50, 54 10,31 50, 54 24,17 54
Gal 5,14 99 5,22 71 Eph 4,3
149, 260, 378, 390
Phil 2,8 51 4,8 71
Röm 12,13–15 50 13,8–10 56, 99 13,10 176
Kol 3,14
1 Kor 4,16 203 12,13 58 13,4 88, 262 13,12 216 13,13 68 f., 75, 210–212, 385 15,10 254 16,1 146 2 Kor 2,15 145
92, 149, 260, 378, 390
2 Thess 3,13 50 1 Tim 1,5 56 6,18 f. 50 1 Joh 3,16 176 4,7–21 99 4,20 57, 133
Antike Autoren Agapetus Diakonos Expositio capitum admonitoriorum 10 82 Ambrosius von Mailand De Abraham 2, 8, 53 f. 194, 234 2, 8, 54 67 De Officiis I, 28, 134 II, 1, 3 II, 9, 48 f. II, 16, 76
51 54 225 46
II, 28, 136–143 II, 28, 137 II, 28, 140 II, 68–75 III, 3, 16–18
46, 303 304 52 f. 115 51
De excessu fratris sui Satyri 1, 17 47 Expositio euangelii secundum Lucam Prol. 2 67 I, 18 54 VI, 66 45
420
Stellenregister
Anonymus von Whitby Vita Gregorii 1 21 f. 7 34 9 313 Athanasius von Alexandrien Apologia contra Arianos 18 42 Vita Antonii 46 123 87 177 Augustin Ad Simplicianum I, 2, 18 84 Confessiones 1, 13 f. 4, 14 5, 17 6, 2 9, 34–37
31 198 248 60 61
Contra Faustum 22, 52–54 22, 52 22, 54
215, 234 215 215
De baptismo 1, 16
58
De cathechizandis rudibus 4 59 8 56 16 59 22 59 50 56 De ciuitate Dei 1, 12 f. 12, 9 14, 6 14, 7 14, 12 19, 19 21, 17 21, 18 21, 24 21, 26
61 144 58 55 94 101 232 232 160, 232 f. 60 f.
22 160 22, 8 61, 169 De cura pro mortuis gerenda ad Paulinum episcopum 2 174 3–6 61 4 62 5 60, 62 6 f. 61 6 174 11 60, 62 13 61 16 60 f. 20 61 22 61 De doctrina christiana 1, 4 56 1, 20–22 56 1, 20 56 1, 25–27 94 1, 28 56 1, 29 57 1, 31 57 1, 35 56 De fide, de spe et caritate (Enchiridion) 67 57 76 f. 58 109–113 61 121 56 De moribus ecclesiae catholicae et de moribus Manicheorum 1, 6 60 1, 48 57, 93, 133 1, 49 59 1, 50 58 1, 52 59 1, 53 59 1, 55 f. 59 1, 75 60 Ennarationes in psalmos 146, 2 58 30, 2 58 Epistulae 22 60 22, 4 60
Antike Autoren
22, 6 60, 62 29 60 29, 2–11 60 29, 11 60 122, 2 55 In Iohannis euangelium tractatus 17, 8 56 f., 93, 133 In epistulam Ioannis ad Parthos tractatus 3, 13 119 7, 8 58, 105 13, 15 59 Sermones 86, 13 57 206, 2 54 264, 5 148 265, 8 f. 132 265, 9 133 349, 1 55 358A 247 389, 4 63 Basilius von Caesarea Homilia in divites 1 52 3 52 4 52 6 49, 52 Homilia in illud: Destruam horrea mea 5, 8 52 Homiliae super psalmos 14, 6 51 f. Beda Venerabilis Historia ecclesiastica gentis Anglorum I, 23, 1–34, 2 313 I, 23, 1 314 I, 25, 1 314 f. I, 25, 2 314 I, 27 318, 367, 374 I, 27, 2–28 313 I, 27, 3 317 I, 27, 4 317 f. II, 1 21, 39 II, 1, 11 f. 313 II, 5, 1–2 315
Benedikt von Nursia Regula Benedicti 1, 1–13 147 1, 10 f. 375 2, 6 81 2, 12 f. 81 2, 12 103 2, 23–34 79 2, 34 81 2, 37–40 81 4, 14–19 44 7, 5–70 67 7, 44 127 27, 1 f. 81 36, 1–10 165 50, 4 147 58, 1–4 370 62, 9 147 64, 3–6 147 64, 8 101 64,19 94 65, 3 147 67, 1–7 147 Caesarius von Arles Sermones 13, 2 49 14, 3 49 19, 2 49 41, 1 123 Cassiodor Variarum libri XII I, 39 24 IX, 21 24 Clemes von Alexandrien Stromata II, 5, 23, 5 94 Cicero Pro Cn. Placio Oratio 80 94 Concilia Oecumenica Canones Chalcedonenses Can. 26 43
421
422
Stellenregister
Cyprian von Carthago De opere et eleemosynis 1–26 138 9 237 14 137 16–18 57 23 137 26 296 De zelo et livore 16 123 Epistulae 62, 4 73, 21, 2
303 260
Cyrill von Jerusalem Catecheses mystagogiae V, 9 47 V, 10 129 Didache 1, 6
109
PsDionysius Areopagita De coelesti hierarchia 7, 1 144 De ecclesiastica hierarchia VII 46 Epistula Legatariis 17 Euseb von Caesarea De vita Constantini I, 43 48 IV, 28 48 Gregor der Große Dialogi I, prol. 1–6 I, prol. 1 I, prol. 2 I, prol. 3 I, prol. 4 I, prol. 5 I, prol. 9 I, prol. 10 I, 2, 5 f.
34 193 374 27, 76 35 27 159, 163, 171 25, 157, 160 168 f.
I, 2, 7 I, 3, 2–4 I, 4, 4–6 I, 4, 4 I, 4, 5 I, 4, 7 I, 4, 8 I, 4, 20 I, 4, 21 I, 8, 4 I, 8, 5 I, 9, 2–5 I, 9, 2–4 I, 9, 4 I, 9, 5 I, 9, 10 I, 9, 14 I, 9, 16 f. I, 9, 17 I, 10, 1 I, 10, 5 I, 10, 6 I, 10, 7 I, 10, 8 I, 10, 12–14 I, 10, 14 f. I, 10, 15 I, 10, 17 f. I, 10, 18 I, 10, 19 I, 12, 1–3 I, 12, 1 I, 12, 2 I, 12, 4 I, 34 II, 1, 8 II, 4, 3 II, 8, 8 II, 8, 9 II, 11, 1 f. II, 11, 2 II, 19, 1 II, 21, 1 f. II, 23 II, 26 II, 27, 1 II, 27, 3 II, 28, 1 f.
160, 170 165, 177 168 165, 177 170 168 177 13 169 173 71 168 175 166 170 166, 175 168 166 168 168 168 166, 168, 175 175 168 176 168 168 168, 171 168 169 168 172 169 171 177 165, 167 168 f. 170 170 168 168 177 168 173 168 177 168 177
II, 28, 1 II, 29, 1 f. II, 29, 1 II, 30, 1 II, 30, 2 f. II, 32, 1–3 II, 32, 3 II, 33, 1–5 II, 34, 2 II, 36 II, 37, 1–3 II, 37, 2 II, 38, 1 II, 38, 3 III, 1, 1 III, 1, 2–8 III, 2, 3 III, 3, 1 f. III, 3, 2 III, 4, 2 f. III, 4, 2 III, 6, 2 III, 7, 1–10 III, 11, 1 III, 11, 5 f. III, 14, 3 III, 14, 4 III, 14, 6 f. III, 14, 8 f. III, 14, 8 III, 14, 9 III, 17, 1–5 III, 17, 2 III, 17, 3 f. III, 17, 5 III, 17, 7 III, 18, 1 III, 19, 2 III, 21, 3 III, 21, 4 f. III, 23, 2 III, 25, 1–3 III, 25, 1 f. III, 26, 4 III, 28, 1 III, 28, 2 f. III, 31, 2–4 III, 32
423
Antike Autoren
177, 181 168 168 169 170 168 168 265 173 27 172 172 169 171 175 f. 176 168 168 f. 169 168 168 168 165 176 173 168 167 177 237 177 167 168 f. 173 168 170 171 28 10, 157, 295 168 170 173 170 168 167 340 165 32 164
III, 33, 1 III, 33, 5 III, 33, 7–9 III, 33, 7 III, 33, 8 III, 34, 3 III, 35, 3 f. III, 35, 4 III, 36, 1 f. III, 36, 1 III, 36, 2–5 III, 36, 3 III, 37, 4–7 III, 37, 8 f. III, 37, 10–17 III, 37, 18 f. III, 37, 20 III, 38, 5 IV, 3, 1–4, 8 IV, 6, 1 IV, 11, 2 IV, 13, 1 IV, 14, 4 f. IV, 15, 3 IV, 15, 4 IV, 16, 7 IV, 17, 1 IV, 17, 2 IV, 17, 3 IV, 19, 2 IV, 22, 1 IV, 23, 1 IV, 26, 1 IV, 26, 3 f. IV, 27, 14 IV, 28, 3–5 IV, 28, 3 IV, 30, 5 IV, 32, 2 IV, 33, 1 IV, 36, 1 IV, 36, 2 f. IV, 36, 2 IV, 36, 13 f. IV, 37, 6 IV, 37, 7 IV, 37, 10 IV, 37, 13
168 168 f. 168 38, 168, 178 168, 169 196 166, 168, 178 168 26, 32 27 172 172 168 170 176 176 176 160, 163 173 163, 169 181 166 173 166 f. 171 172 22 166, 171 173 157 27 177 179 67 180 166 173 67 171 27 157 172 171 f. 179 180 157 180 167
424 IV, 38, 1 IV, 40, 3 IV, 40, 5 IV, 40, 9 IV, 40, 11 IV, 40, 12 IV, 40, 13 IV, 41, 4 IV, 41, 6 IV, 42, 1 IV, 42, 2 IV, 42, 3 IV, 42, 4 IV, 42, 5 IV, 46, 1–9 IV, 46, 7–9 IV, 46, 7 IV, 46, 8 IV, 48 IV, 49, 2 IV, 50, 1–6 IV, 50, 2 IV, 50, 3–6 IV, 50, 3 IV, 50, 6 IV, 52, 1–56, 3 IV, 52, 1 IV, 52, 2 IV, 53, 3 IV, 56, 1 IV, 57, 1–7 IV, 57, 2–16 IV, 57, 8–12 IV, 57, 8 IV, 57, 10 IV, 57, 11 f. IV, 57, 13 IV, 57, 14–16 IV, 59–62 IV, 59, 1–6 IV, 59, 1 IV, 59, 6 IV, 60, 1 IV, 62, 1–3 IV, 62, 2 IV, 62, 3
Stellenregister
167, 179 172 181 181 180 181 180 180 180 165 163, 169 172 180 181 230 181 181, 233 160 181 181 230 231 231 233 231 182 174 172, 174 174 166 182 173 182 178 27 172 182 182 305 173 166, 182 182 182 174 181 181, 183
Expositio in canticum canticorum 1–5 66 3 68 4 67 f. 5 67, 75 6–11 66 8 70 9 66 f. 10 66, 72, 74 f. 12–46 66 14 70 15 74 16 75 17 69, 70, 72, 75 18 70 f., 73, 75 20 70–72 22 75 26 68 f., 75 28 72 30 75 31 70, 75, 255 38 70 40 69, 100 41 75 42 74 43 74 44 71, 73 45 f. 71 45 72 46 73 Homiliae in Hiezechihelem Prophetam I, praef. 37, 185, 187 f., 199 I, 1, 19 229 I, 2, 3 222 I, 2, 19 f. 202 I, 2, 19 203 f. I, 2, 20 203 I, 2, 21 203 I, 3, 2 215 f. I, 3, 4 191, 200 I, 3, 7–10 234 I, 3, 8 95, 194 I, 3, 9 214, 216, 234 I, 3, 9–11 215 I, 3, 10 f. 215 I, 3, 10 215 f. I, 3, 11 215
I, 3, 12 I, 3, 13 I, 3, 15 I, 3, 17 I, 3, 18 I, 4, 4 I, 4, 5–7 I, 4, 5 f. I, 4, 10 I, 5, 2 I, 5, 6 I, 5, 10 I, 5, 7 I, 5, 11 I, 5, 12 I, 5, 16 I, 6, 19 I, 7, 2 I, 7, 5 I, 7, 12 I, 7, 15 I, 7, 16 I, 7, 21 f. I, 7, 21 I, 7, 22 I, 7, 23 I, 8, 1 I, 8, 2 I, 8, 8 I, 8, 10 I, 9, 2 I, 9, 4 I, 9, 9 I, 9, 17 f. I, 9, 19 f. I, 9, 19 I, 9, 22 I, 9, 23 I, 9, 25 I, 9, 30 I, 10, 4 I, 10, 6 I, 10, 9 I, 10, 14 I, 10, 23 I, 10, 26 I, 10, 31–36 I, 10, 31 f.
190, 217, 222 216 190 f. 215 195, 219 208, 216 194 195 195, 208, 219 208, 221 208 205 220 211 216, 233 215 229 208, 222 207 197–199 196 209 194 194–197 134, 188, 207 188, 201 194, 211 205 219 220 205 f., 252, 254 191 184 204 265 202 197 f., 220 202 192 208 190 188, 207 f. 125, 194, 198 f. 206 191, 194 188 234 194
I, 10, 31 I, 10, 32 I, 10, 34 I, 10, 40 f. I, 10, 41 I, 10, 43 I, 11, 4 I, 11, 5 f. I, 11, 6 I, 11, 9–11 I, 11, 9 I, 11, 26 f. I, 11, 26 I, 11, 27 f. I, 11, 27 I, 11, 28 I, 12, 10 I, 12, 11 I, 12, 16 I, 12, 17 I, 12, 18 I, 12, 20–33 I, 12, 20 I, 12, 30 I, 12, 33 II, praef. II, 1, 7 II, 1, 10 II, 1, 11 II, 1, 18 II, 2, 1 II, 2, 4 II, 2, 7–11 II, 2, 7 II, 2, 8 II, 2, 9–11 II, 2, 9 II, 2, 10 II, 2, 11 II, 2, 12 II, 2, 15 II, 3, 5 II, 3, 8 II, 3, 12 II, 3, 13 II, 3, 15 II, 3, 18 II, 3, 20
208 194, 196 210 100, 191 192 188 192 192 185, 190, 193 230 190 192 185, 193 192 193 192 191 191, 222 191, 222, 234 191 202 230 188 218 185 36 f., 185, 344 203, 220, 222 188 206 36 28 190, 222 234 216, 233 189, 194 f., 214, 216 218 194 f., 214 204, 215, 234 217 216, 233 221 208 191 195 221 209 200 186, 206
426 II, 3, 21 II, 3, 23 II, 4, 3 II, 4, 4 II, 4, 5 II, 4, 6 II, 5, 4 II, 5, 5 II, 5, 6 II, 5, 7 II, 5, 12 II, 5, 13 II, 5, 14 II, 5, 16 II, 5, 19 II, 5, 22 II, 6, 5 II, 6, 8 II, 6, 10 II, 6, 11 II, 6, 12 f. II, 6, 14 II, 6, 17 II, 6, 18 II, 6, 19 II, 6, 22–24 II, 6, 22 II, 6, 24 II, 7, 2 II, 7, 5 II, 7, 6 II, 7, 7 II, 7, 11 II, 7, 13 II, 7, 14 II, 7, 16 II, 7, 17 II, 7, 19 II, 7, 20 II, 8, 3 II, 8, 15 II, 8, 16 II, 8, 17 II, 8, 18 II, 9, 2 II, 9, 5 II, 9, 10
Stellenregister
200 200 134, 186, 205, 207, 209 f., 221 211 219 220 221 194–197, 208 195 196, 198 f., 220 189, 194 f., 198 f. 209 189, 194, 198 f., 208 f. 211 220 190, 209 217 201 209 188 200 198, 200 208, 219 194 194, 196 185, 199 14, 194, 202 202 211 190, 210 195, 255 222 222 211 f., 221 221 194 208 219 20, 202, 211 211 195, 198 f. 194, 196, 218 208, 219 194 f. 198 f., 206 f. 201 f., 208 207, 221
II, 9, 12 II, 9, 14 II, 9, 15–18 II, 9, 16 II, 9, 21 II, 10, 7 II, 10, 9 II, 10, 12 II, 10, 16 II, 10, 17 II, 10, 18 II, 10, 19 II, 10, 24 II, 11, 26
194 f., 218, 220 210 191 208 192 211 f. 200 189, 220 208, 219 212 95, 201 194 36, 185, 194, 202 184
Homiliae in Evangelia dedic. 35, 37, 113 f., 120 I, 1 114 I, 2, 8 142, 199 I, 3, 2 116, 118 I, 3, 3 117, 187, 229 I, 3, 4 115, 117, 120 f., 123 I, 4, 5 115, 120, 122, 137 I, 6, 6 115–117, 120, 143, 147, 167, 386 I, 8, 1 187, 229 I, 9, 3 f. 118 I, 9, 6 125, 198, 206, 387 I, 9, 7 115 f., 120, 130, 143, 153 I, 10, 6 143 I, 11, 1 118 I, 11, 2 120, 122 I, 11, 3 123 I, 11, 4 138, 147 f., 206, 259 I, 11, 5 115 f., 118 I, 12, 1 138, 148–150 I, 12, 3 137–140 I, 12, 4 137 I, 13, 1 124 I, 13, 5 115 I, 13, 6 139 I, 14, 1 f. 116, 196 I, 14, 1 121, 153 I, 14, 5 115 I, 15, 2 122 I, 15, 5 115, 120 I, 16, 3 116, 118
I, 16, 6 I, 17 I, 17, 1 I, 17, 2–8 I, 17, 3 I, 17, 4 I, 17, 8 f. I, 17, 8 I, 17, 9 I, 17, 10 I, 17, 11 I, 17, 12 I, 17, 13 I, 17, 14 I, 17, 16 I, 17, 18 I, 18, 1 I, 19, 1 I, 19, 2 f. I, 19, 2 I, 19, 4 I, 19, 5 I, 19, 7 I, 20, 8 I, 20, 11 I, 20, 12 f. I, 20, 12 I, 20, 13 II, 21, 1 II, 21, 4 II, 22, 1 II, 22, 4 II, 22, 8 II, 23 II, 23, 2 II, 24, 3 II, 24, 4 II, 26, 3–6 II, 26, 3 II, 26, 4 II, 26, 5 II, 26, 6 II, 26, 10 II, 27, 1 f. II, 27, 1 II, 27, 2
Antike Autoren
83, 120, 124 91, 103, 114 134 135 35 152 116 122, 129, 146 118 f. 118, 134, 140 134, 153, 207 89, 242 326 116, 118 118 115, 229 120, 122 115 139 150, 153 139 148, 209 26, 116, 129 138 84, 120–122, 124, 131 f., 152 f. 143 146 115–117, 125, 145, 153, 261 37, 113 151 37, 151 143 130, 142, 199 114 135 f. 126, 147–149 118 133 131–133 127 f. 128 128, 143 119 125 95, 125, 152, 198 125
II, 27, 3 II, 27, 5 II, 27, 7 II, 27, 8 II, 27, 9 II, 28, 3 II, 29, 4 II, 30, 1 II, 30, 3 II, 30, 10 II, 31, 2 II, 31, 3 II, 31, 7 II, 31, 8 II, 32, 2 II, 32, 3 II, 32, 5 II, 32, 7 f. II, 32, 7 II, 32, 8 II, 32, 65 II, 33, 3 II, 33, 5 II, 34, 2 II, 34, 7–10 II, 34, 8 II, 34, 10 II, 34, 11 II, 34, 12 II, 34, 18 II, 35, 7 II, 35, 8 II, 36, 11 II, 36, 13 II, 37, 1 II, 37, 2 II, 37, 4 II, 37, 5 II, 37, 7 II, 37, 8 II, 37, 9 II, 38, 3 II, 38, 7–10 II, 38, 7 II, 38, 8 II, 38, 9–12 II, 38, 10
427 123 f., 153 137 126 130, 150 149 142 118, 167 133 119 131–133 142 141 131, 141 141 122 123 f., 150, 152 123, 144 138 120 138 147 84, 142, 152 f. 120 f., 143, 146, 151, 153 153 144 145 144 143–145 144 32 123 124 123, 126 116, 146 83, 122, 237 125 152 150 123, 128 f., 138 129, 166 120 143 148 126, 149 148 148 115, 131–134, 152, 156
428 II, 38, 11 II, 38, 12 II, 38, 13 II, 38, 15 II, 38, 16 II, 39, 6 II, 39, 10 II, 40, 6 II, 40, 10 II, 40, 11 II, 40, 12 II, 40, 3–10 Moralia in Iob dedic. Caput dedic. 1 dedic. 2–4 dedic 2 dedic 3 f. dedic. 5 praef. 6 praef. 7 praef. 14–19 praef. 17 praef. 18 f. praef. 18 I, 5 I, 8 I, 20 I, 36 I, 37 I, 38 I, 44 I, 47 I, 51–54 I, 54 I, 55 II, 1 II, 29 II, 49 II, 72–74 II, 72 II, 73 II, 74 II, 75 II, 78
Stellenregister
125, 134, 198 131, 134 120, 134, 139 22 26, 116, 129 f., 140 115 116, 136, 151–153 137 116, 118, 120, 138, 167, 235 129 116, 136 f., 151, 153 90 270 26, 29, 32 f., 213, 224, 226 86 224, 226, 229 224 24, 38, 233 257 236 225 252, 260 260 243 236 259 220 238, 264 255, 268 252 248, 268 f. 258 256 264 235 199 268 240 256 239, 256, 265, 267 f. 257 256 266 248, 252
II, 83 II, 84–92 II, 91 III, 40 III, 46 III, 65 IV, 56 IV, 58 IV, 62 IV, 63 IV, 67 IV, 68 IV, 70 IV, 71 V, 1 V, 2 V, 5 V, 7 V, 12 V, 15 V, 19 V, 23 V, 28 V, 31 V, 32 V, 33 V, 34 V, 40 V, 55 V, 58 V, 78–81 V, 82 f. V, 85 V, 86 VI, 12 VI, 42 VI, 43 VI, 50 VI, 52 VI, 53 VI, 54 VI, 55 f. VI, 55 VI, 56–62 VI, 56 VI, 57 VI, 60 VI, 61
257 253 252, 265 248 259 142 259 268 239 200 268 258 257 258 258 f., 268 268 267 f. 249 258 258 267 247 245 239 241 263 263 188 258 268 263 263 258 267 f. 238, 239 249, 268 257 261 268 249, 268 236, 249, 268 239 241 264 134, 268 f. 217, 261 233 f., 268 214 f., 234
VII, 17 VII, 18 VII, 21 VII, 30 VII, 38 VII, 40 VII, 54 VII, 56 VIII, 2 VIII, 3–7 VIII, 7 VIII, 9 VIII, 28 f. VIII, 29 VIII, 32 VIII, 41 VIII, 42 f. VIII, 42 VIII, 43 VIII, 66 VIII, 68 VIII, 69 VIII, 72 VIII, 75 VIII, 81 f. VIII, 84 IX, 3 IX, 8 IX, 24 IX, 37 IX, 52 IX, 53 IX, 64 IX, 74 f. IX, 81 IX, 101 IX, 104 X, 6 X, 7 X, 8 X, 12 X, 27 X, 30 X, 31 X, 40 X, 41 X, 49 X, 51
429
Antike Autoren
247 221, 247, 269 268 248 257 258 236 239, 241 262 243 239 242 259 259 235, 253 231 230 f. 231, 233 231 235, 253 236, 264 268 239 f., 258 258 258 236, 239 252 239 f., 265 236 239 f., 258 95, 236, 247 235, 268 254 f. 244 254 259 259 196 268 236, 239, 247 239, 252, 268 268 259 234, 265 236, 243 264 259 247
XI, 1 XI, 6 XI, 15 XI, 19 XI, 22 XI, 46 XI, 57 XI, 63 XII, 53 XII, 56 XII, 57 XII, 59 XII, 61 XIII, 1 XIII, 5 XIII, 9 XIII, 14 XIII, 22 XIII, 24 XIII, 28 XIII, 46 XIV, 1 XIV, 6 XIV, 9 XIV, 16 XIV, 42 XIV, 44 XIV, 56 XIV, 72–77 XIV, 74 XV, 17 XV, 20 XV, 23 XV, 32 XV, 38 XV, 60 XVI, 18 XVI, 20 XVI, 26 XVI, 30 XVI, 41 XVI, 50 XVI, 58 XVI, 83 XVII, 6 XVII, 7 XVII, 22 XVII, 26
229 241 236, 240, 252 264 239, 265 265 254 264 247 259 236 265, 268 264 239 221, 247, 269 245 81 239 239 235 239 229 257 238, 267 258 195, 255 241 236, 241 228, 244 38 239 248, 252 254 259 264 259 245 242 217 233, 254 199 236 91 229 246 246 233, 253 f. 236
430 XVII, 28 XVII, 31 XVII, 34 XVII, 35 XVII, 37 f. XVII, 42 XVIII, 8 XVIII, 11 XVIII, 12 XVIII, 14 XVIII, 18 XVIII, 27 XVIII, 28 XVIII, 29 XVIII, 30 XVIII, 41 f. XVIII, 41 XVIII, 42 XVIII, 55 XVIII, 56 XVIII, 64 XVIII, 65 XVIII, 68 XVIII, 69 XVIII, 70 XVIII, 73 XVIII, 85 XIX, 18 XIX, 19 XIX, 20 XIX, 22 XIX, 23 XIX, 27 XIX, 28 XIX, 29 XIX, 31 XIX, 32 f. XIX, 33 XIX, 35 XIX, 36 f. XIX, 41 XIX, 42 XIX, 43 XIX, 44 XIX, 45 XIX, 47 XIX, 52 XX, 4
Stellenregister
239 266 253 268 242 239 242 258 238 264 243 245 237 259 259 260 244 243 188, 239 260 253 254 251 236, 239 267 253 244 247, 269 261 268 240 229, 261 243–245 250 236 239 258 236 236 265 255 236, 240 261 261 266 243 254 242
XX, 6 XX, 13 XX, 14 XX, 16 XX, 17 XX, 31 XX, 43 XX, 63 XX, 68 XX, 69 XX, 70 XX, 71 XX, 77 XX, 79 XXI, 5 XXI, 15 XXI, 16 XXI, 22 f. XXI, 22 XXI, 25 XXI, 26 XXI, 27 XXI, 28 XXI, 29 f. XXI, 29 XXI, 30 XXI, 31 XXI, 33 XXII, 2 XXII, 5 XXII, 12 XXII, 18 XXII, 20 XXII, 21 XXII, 22 XXII, 27 XXII, 28 XXII, 53 XXIII, 8 XXIII, 25 XXIII, 38 XXIII, 48 XXIII, 53 XXIV, 19 XXIV, 24 XXIV, 38 f. XXIV, 54 f. XXIV, 54
142 243 230 244 238, 246, 269 264 238 247, 268 84, 236, 247, 250 238, 247, 250 250 249, 253 243 239 269 239 241 230 262 237 237 152, 237 253 237 248 235 f., 258 249 152, 237, 251, 263 95 237 254 265 253 f. 253 125, 198, 236, 238, 243 236 236, 238 229, 240, 262 236, 240, 243 242 242 254, 258 253 234, 262 233, 254 243 228 241, 265
XXV, 14 XXV, 31 XXV, 35–41 XXV, 37 XXV, 38 XXV, 40 XXVI, 6 XXVI, 7–10 XXVI, 8 XXVI, 44–46 XXVI, 45 XXVI, 46 XXVI, 48 XXVI, 51 XXVI, 72 XXVI, 78 XXVII, 3 XXVII, 7 XXVII, 12 XXVII, 21 XXVII, 45 XXVII, 46 XXVII, 64 XXVII, 72 XXVII, 76 XXVIII, 21 f. XXVIII, 22 XXVIII, 23 XXVIII, 24 XXVIII, 28 XXVIII, 29 XXVIII, 30 XXVIII, 31 f. XXVIII, 46 XXIX, 34 XXIX, 49 XXIX, 74 XXX, 8 XXX, 12 f. XXX, 14 f. XXX, 14 XXX, 16 XXX, 22 XXX, 24 XXX, 31 XXX, 35 XXX, 43 XXX, 53
431
Antike Autoren
199 239, 259 228 262 267 f. 265 248 230 269 230 266 84, 229 262, 266 257 187 242 190 259 241 37, 227 240, 262 242 242 236, 243 252 261 261 261 262 265 265 264 264 257, 260, 269 258 119, 240, 252 252, 261 234 77 230 243, 268 240, 252 260 f. 134, 261, 269 260, 269 247, 248 142, 242 234
XXX, 74 XXX, 82 f. XXXI, 16 XXXI, 17 XXXI, 22 XXXI, 24 f. XXXI, 25 XXXI, 27 XXXI, 28 XXXI, 49 XXXI, 80 XXXII, 4 XXXII, 7 XXXIII, 8 XXXIII, 23 XXXIII, 38–40 XXXIII, 38 XXXIII, 39 XXXIII, 40 XXXIII, 52 XXXIII, 60 XXXIV, 23 XXXIV, 29 XXXIV, 35–38 XXXIV, 38 XXXIV, 53 XXXV, 12 XXXV, 13 XXXV, 14 XXXV, 21 XXXV, 33
247 234 248 264 265 239 257 247, 255 259 234 239, 264 261 244 239 258 205 253, 296 253 f. 233, 254 248 264 94 236 160, 230, 244 232 f. 259 243 260 260 236, 249 244
Registrum epistularum I, 1 289 f., 292, 300 I, 2 294, 296 I, 3 34, 340, 342, 376 I, 4 376 f. I, 5 376 I, 6 376 I, 7 376 I, 10 291 I, 11 283 f., 334 I, 14 353 I, 15 306 I, 16 96, 351 f. I, 16a.b 96 I, 16a 352 I, 16b 352
432 I, 17 I, 18 I, 19 I, 20 I, 23 I, 24 I, 26 I, 29 I, 30 I, 32 I, 33 I, 34 I, 35 I, 37 I, 38–40 I, 40 I, 41 I, 42 I, 43 I, 44 I, 45 I, 46 I, 47 I, 48 I, 49 I, 50 I, 51 I, 53 I, 54 I, 57 I, 59 I, 60 I, 61 I, 62 I, 63 I, 64 I, 65 I, 66 I, 69 I, 70 I, 72 I, 73 I, 75 I, 80 I, 82
Stellenregister
348 310, 373 378 376 293, 298, 369 77, 248, 376 376 376 341, 376 306 84, 335 319, 321 300 22, 293, 297 f. 375 349, 375 4, 32, 104, 187, 226, 318, 325, 367, 376 23, 100, 282, 288, 290–294, 297, 310, 373, 378 341 377 321, 377 369, 371 300 341, 373 369 297 f. 306 292, 301, 378 297 298, 377 300, 343 253, 296 296 296 298 f. 377 298, 377 f. 303 321 290–292, 294 f. 328 343 328 291 328
II, 1 II, 2 II, 4 II, 5 II, 6 II, 7 II, 8 II, 10 II, 11 II, 12 II, 13 II, 14 II, 15 II, 20 II, 22 II, 24 II, 25 II, 26 II, 27 II, 28 II, 30 II, 31 II, 34 II, 37 II, 38 II, 39 II, 40 II, 43 II, 44 II, 45 II, 46 II, 47 II, 50 III, 1 III, 3 III, 5 III, 6 III, 13 III, 16 III, 17 III, 20 III, 21 III, 22 III, 23
369 312 342 f. 33 291 308 377 343, 377 368 290, 311 309 312, 378 303 13, 377 306 256 13, 293, 296, 334, 364 106, 336, 369, 373, 377 342 342 f., 378 285 176, 307, 309 301 309 13, 36, 197, 298, 302, 304, 340, 342, 344, 352 f., 364 327, 328 34, 94, 261, 311, 328, 376 f. 352 325 320 369, 372, 377 343 284, 288, 290 f., 297 f., 301, 321, 369, 378 290, 301 f. 372 f., 377 301 310 307, 309, 311 302, 304 369 311 299 291 369
III, 26 III, 29 III, 33 III, 35 III, 37 III, 39 III, 40 III, 41 III, 43 III, 44 III, 45 III, 48 III. 49 III, 50 III, 52 III, 53 III, 54 III, 55 III, 57 III, 58 III, 59 III, 61 III, 62 III, 63 III, 64 III, 65 IV, 2 IV, 3 IV, 4 IV, 5 IV, 7 IV, 8 IV, 9 IV, 10 IV, 11 IV, 12 IV, 13 IV, 14 IV, 15 IV, 16 IV, 17 IV, 18 IV, 21 IV, 23 IV, 24 IV, 25 IV, 26 IV, 27
Antike Autoren
433
IV, 29 IV, 31 IV, 32 IV, 33 IV, 34 IV, 35 IV, 37 IV, 40 IV, 42 V, 2 V, 3 V, 4 V, 5 V, 6 V, 7 V, 11 V, 12 V, 15 V, 17 V, 18 V, 19 V, 24 V, 25 V, 26 V, 27 V, 28 V, 30
323 321 328 f., 354 348, 354 100, 307 329 348, 354 370 310 370 328 f. 26, 369, 371 172, 310 343 294, 312, 321 f. 365 311 365 298 310 369 327 285 293, 378 293, 308 290, 370 13, 176, 196, 282, 298, 342, 372 290 340, 345 370, 372 295, 341, 343–345 357 f.359 300, 324 342, 356–359 307 31, 38, 194, 356 f., 359 f. 340 194, 356–359 340, 342, 356 f. 94, 283, 303, 337 371 295 371 370 f. 131, 282, 307, 366, 375 32, 35, 37, 226 353, 378
348 340, 378 289 283 f. 320 367 302 292 292 285 285 261 311 33, 36, 157, 162, 298 330, 357 377 311, 364 f. 290, 299 336 370 322 f. 38, 193, 307 f. 226 31 307 377 19, 25, 344, 349, 353 f. 353 354 100 328 369 310, 320, 369 f., 372 369 175, 292 f., 372, 378 311 309 282, 353 292 306 302–304 373 320 322 f. 285, 287 f., 369, 371 324 176, 307, 318, 323, 367 324
V, 31 V, 34 V, 35 V, 36 V, 37 V, 38 V, 39 V, 40 V, 41 V, 43 V, 44 V, 45 V, 46 V, 47 V, 48 V, 49 V, 50 V, 51 V, 53 V, 56
434 V, 57 V, 57a, 1 V, 57a, 2 V, 57a, 3 V, 57a, 5 V, 58 V, 59 f. V, 59 V, 60 V, 61 V, 62 V, 63 VI, 2 VI, 4 VI, 5 VI, 7 VI, 10 VI, 11 VI, 14 VI, 15 VI, 16 VI, 17 VI, 19 VI, 21 VI, 23 VI, 25 VI, 26 VI, 27 VI, 28 VI, 29 VI, 30 VI, 31 VI, 32 VI, 33 VI, 34 VI, 36 VI, 37 VI, 38 VI, 40 VI, 41 VI, 42 VI, 43 VI, 47 VI, 49 VI, 50 VI, 51 VI, 52 VI, 53
Stellenregister
308, 310, 378 293 178, 373 292 364 311, 325 f. 287 326 311, 326 366 326 f. 326 354 294 282, 289 307, 326 f., 378 289 f., 311, 313 289, 371 331 330 f. 330 f. 330 f. 328 371 291, 373 330 248 375 370 320 320 366 176, 302 f., 305 282, 340, 345 345 317, 329 301 353 311 371 283, 336 336 353 370 308 312–314 312, 314 311, 314, 374
VI, 54 VI, 55 VI, 56 VI, 57 VI, 58 VI, 59 VI, 60 VI, 61 VI, 62 VI, 63 VI, 64 VI, 65 VII, 1 VII, 4 VII, 5 VII, 9 VII, 11 VII, 12 VII, 13 VII, 15 VII, 19 VII, 21 VII, 22 VII, 23 VII, 24 VII, 25 VII, 26 VII, 27 VII, 28 VII, 29 VII, 30 VII, 31 VII, 32 VII, 34 VII, 35 VII, 37 VII, 38 VII, 40 VIII, 1 VIII, 2 VIII, 4 VIII, 5 VIII, 7 VIII, 8 VIII, 9 VIII, 10
282, 289, 312, 314, 378 312, 314 83, 282, 312, 314 298, 312, 314 308 312, 314 312–314 94, 340, 348, 360 329 328 329 331 291 331, 361 312, 361, 375, 377 f. 298, 377 176, 307 370 f. 302–304 325 292, 377 302, 320 337 13, 196, 283, 298, 303, 311, 337, 340, 341 f., 369, 373, 378 359 f. 283, 303 367 333, 367 94, 361 31 359, 361 325, 331, 361 328, 371 353 302–304 38, 363 378 371 284, 298, 323 340, 377 314, 326, 352, 364 368, 371 175, 293 371 371 308
VIII, 11 VIII, 17 VIII, 18 VIII, 19 VIII, 21 VIII, 22 VIII, 23 VIII, 25 VIII, 26 VIII, 28 VIII, 29 VIII, 30 VIII, 31 IX, 3 IX, 7 IX, 8 IX, 11 IX, 13 IX, 18 IX, 19 IX, 20 IX, 22 IX, 26 IX, 35 IX, 36 IX, 38 IX, 44 IX, 48 IX, 52 IX, 53 IX, 58 IX, 63 IX, 66 IX, 67 IX, 68 IX, 72 IX, 76 IX, 79 IX, 80 IX, 83 IX, 85 IX, 86 IX, 87 IX, 97 IX, 98 IX, 102 IX, 103 IX. 105
Antike Autoren
311 28, 282, 370–372, 375 28 193, 322, 343 320 250, 283, 303 298, 321 319, 322 292 161 315, 360 371 328, 331 369 373 f. 285, 287 343, 346 337 371 292, 308 371 290, 308 349, 367 285, 288 301 319, 322 346 299 176, 302, 304 283 368 280, 285, 288 346 280, 285, 288 346, 348 368 f. 369 291 298 280, 285, 287 f. 176, 302, 305 337 301 369 293, 378 98, 333 322 320
IX, 106 IX, 107 IX, 108 IX, 110 IX, 114 IX, 115 IX, 116 IX, 117 IX, 118 IX, 124 IX, 126 IX, 131 IX, 136 IX, 137 IX, 139 IX, 142 IX, 148 IX, 149 IX, 151 IX, 153 IX, 155 IX, 156 IX, 157 IX, 158 IX, 163 IX, 168 IX, 171 IX, 172 IX, 176 IX, 181 IX, 187 IX, 191 IX, 195 IX, 196 IX, 197 IX, 200 IX, 201 IX, 202 IX, 203 IX, 204 IX, 205 IX, 206 IX, 207 IX, 208 IX, 209 IX, 210 IX, 214
435 369 295 294, 371, 375 298 300 370, 372 281, 295 23 23 284 291 280, 285, 288 327, 377 298 309 353 38, 333, 354, 375 f. 353 353 353 353 353 356, 362, 378 375 343 366 285, 288 370 38, 362 368 f. 353 299 284, 298 f. 319–321, 343, 346 f. 325 299 23 353 323 292, 371 288 f., 312, 322, 324, 369 300 300 371 332 301 320, 325 f.
436 IX, 216 IX, 217 IX, 218 IX, 219 IX, 220 IX, 223 IX, 226 IX, 228 IX, 229 IX, 232 IX, 233 IX, 235 IX, 239 IX, 240 X, 1 X, 2 X, 3 X, 5 X, 8 X, 9 X, 12 X, 14 X, 15 X, 16 X, 17 X, 18 X, 20 X, 21 X, 31 XI, 1 XI, 2 XI, 4 XI, 6 XI, 7 XI, 10 XI, 12 XI, 13 XI, 14 XI, 16 XI, 17 XI, 18 XI, 20 XI, 21 XI, 23 XI, 25 XI, 26 XI, 27 XI, 28
Stellenregister
320, 326 370 334 287, 326 f. 326 f., 334 313 f., 326 f. 296 32, 38 321 38, 307, 333, 335 f. 368 298 282 340, 342 375 298 369 371 283, 285, 295 370–372 298, 333 38 340 239, 346 298 372 328, 334 362 362 333, 375 284, 298, 372 23 306 300 332 322 370 291, 306 299 297, 374 38, 336 38, 333 284, 334 336 336 38, 283, 369 333 326 f., 376 f.
XI, 29 XI, 30 XI, 31 XI, 34 XI, 35 XI, 36 XI, 37 XI, 38 XI, 39 XI, 40 XI, 41 XI, 42 XI, 43 XI, 45 XI, 46 XI, 47 XI, 48 XI, 49 XI, 50 XI, 51 XI, 52 XI, 55 XI, 56 XI, 59 XII, 1 XII, 2 XII, 3 XII, 4 XII, 6 XII, 13 XII, 15 XII, 16 XIII, 1 XIII, 4 XIII, 5 XIII, 6 XIII, 9 XIII, 10 f. XIII, 10 XIII, 11 XIII, 12 XIII, 13 XIII, 16 XIII, 20 XIII, 21 XIII, 23 XIII, 24
309 370 343 312, 315 312, 316 312 312, 316 312, 315, 326 f., 377 312 f., 317 312, 315, 326 f. 313, 315 313, 315, 326 282, 377 f. 313, 315 307 313, 315, 326 f. 313, 315 326 f. 313, 315, 326 f. 313, 315, 326 f. 329 f. 31, 35, 330 297, 312, 316 f. 336 328, 333 283 373 375, 377 28, 35, 37, 78, 227, 239, 371 353, 355 371 38, 340 322 371 286, 309, 327 308 f., 377 285 f. 286 286, 373 286 285, 287, 375 321 368, 377 377 f. 298 299, 333 38, 333
XIII, 26 XIII, 27 XIII, 28 XIII, 32 XIII, 33 XIII, 34 XIII, 35 XIII, 39 XIII, 41 XIII, 42 XIII, 43 XIII, 44 XIII, 45 XIII, 46 XIII, 49 XIV, 1 XIV, 2 XIV, 6 XIV, 12 XIV, 15 XIV, 16 App. 1 App. 2 App. 6 App. 7 App. 9
285 300 334 346 f. 337 347, 355 292 347 361 327 333 361 175, 293 373 82, 292 322 285, 287, 371 371 38, 337, 346, 348, 354 298 370 33 33 365 364 77, 338
Regula Pastoralis Ep. dedic. 109 Prol. 35, 364 I, 1 79, 81, 99, 110 I, 2 91 f., 102 f., 107 I, 4 100, 110 I, 5 90, 92, 101, 110, 220 I, 7 90, 109, 110 I, 9 102, 109 I, 10 80 I, 15 99 f. II 74 II, 2 81, 104 II, 3 90 f., 99 f., 102, 109, 134 II, 4 80 II, 5 81, 92, 109, 149 II, 6 89, 101 f., 229 f., 262 II, 7 81, 100 f., 305 II, 9 109 II, 10 79 f., 230
II, 11 III prol. III, 1 III, 2 III, 4 III, 6 III, 9 III, 12 III, 13 III, 14 III, 15 III, 17 III, 19 III, 20 f. III, 20 III, 21 III, 22 III, 23 III, 24 III, 25 III, 26 III, 27 III, 28 III, 35 III, 36 III, 40 IV
91, 100, 110 50, 78, 99 110 82 85, 91 f. 80, 91, 102 85, 88, 94–96, 109 98, 104 70, 94, 97, 105, 133 85, 90 97, 104 81 107 f. 83 80, 83–85, 90, 97, 109 f., 142 83 f., 90, 97, 110, 142, 242 95–97, 109 70, 90, 94–96, 109, 133 102, 103 79, 92, 100, 110 83 f., 97 f., 237 85, 96, 104, 106 79, 100, 106 90 f., 97, 105 79 f. 102 35, 104
Gregor von Nazianz Orationes 2 50, 77 2, 18 81 14 49 14, 5 51 14, 10–13 50 14, 14 f. 52 14, 14 51 14, 23 51 14, 26 51, 83 14, 38 52 14, 39 52 Oratio in laudem Basilii Magni 43, 63 44
438
Stellenregister
Gregor von Nyssa De pauperum amandis 1 50–53, 83 2 50 f. Orationes VIII de beatudinibus 5 51 f., 83 Gregor von Tours Historiarum Libri Decem III, 15 302 IV, 41 12, 340 V, 38 32 X, 1 10, 21–24, 26, 29, 34, 38, 77, 295, 338 f. Hieronymus Epistulae 66, 11 77, 6 82, 11 108, 29
49 49 94 47
De nominibus Hebraicis Ex. C 144 Hilarius von Poitiers Tractatus super psalmos 14, 17 52 Inscriptiones Latinae Christianae Veteres 990 38 f. 2126–2187 47 2148 47 3863 47 Johannes Cassianus Collationes Patrum 1, 10 214 2, 4 94 13, 13 138, 206 19,2 94 Johannes Chrysostomus Commentarius in sanctum Ioannem Apostolum et Evangelistam 85, 5 48
Commentarius in Acta Apostolorum 21, 4 48 Eclogae seu florilegia 23 49, 51 f. Homilia de eleemosyna 3 52 3, 2 52 Homiliae in Epistulam primam ad Corinthos 21, 7 46 25, 3 107 Homiliae in Matthaeum 29. 3 81 35, 3 51 66, 3 42, 46 66, 4 43 85, 3 49 Johannes Diaconus Vita Gregorii I, 1 21, 22 I, 6 33 I, 7–9 38 I, 25 29 II, 11 113 II, 22 135, 389 II, 26–30 279 IV, 68 39 IV, 80 27 IV, 81 31 Julian Epistulae 84a, 429d 84a, 430c-d 89b, 289a
42, 47 42 42
Justinian Codex Iustinianus I, 2, 1 I, 2, 5 I, 2, 12 I, 2, 18 I, 2, 19–25 I, 2, 21 I, 3, 1
48, 288 48 48 47 f. 15 46, 286, 303 f. 45
I, 3, 33, 7 I, 3, 41 I, 4, 22 I, 4, 26 I, 4, 27 f. I, 4, 30 f. I, 4, 33 I, 4, 34 I, 9 f. I, 9, 14 I, 9, 18 I, 9, 19 I, 10 II, 24 f. VII, 37, 3, 3 IX, 4, 6 IX, 5, 2 XI, 48–53 XII, 40
Antike Autoren
287 16 15 15 15 15 15 16 319 319 322 320 320 42 49 15 15 290 45
Nouellae 5 147 5, 2 370 6 82 6, 2 30 7, 1 42, 48 43 47 f. 59 47 f. 75 294 79 15 83 15 86, 2 15 120 291 120, 6 43 120, 10 303 123 15, 107 123, 1, 2 16 123, 12 82 123, 15 307 123, 22 330 123, 34 372 123, 35 370 123, 36 147 123, 40 370 133 147 137 82 137, 2 16
439
Nouellae Appendices VII, 22 24 Laktanz Divinarum institutionem VI, 12 45, 47, 51 Leo der Große Sermones 6–11 138 6 52 7 52 8 52 9, 2 52 10 53, 131 10, 1 137 10, 2 52, 95, 124, 138, 151 11, 1 51, 137 11, 2 151 38, 4 94 50, 3 94 87, 4 52 94, 4 51 Liber Pontificalis 50 22 53 45 56 22 61, 4 17 61, 7 9 64 42 65 34, 45 66 21 f., 26, 38 103 38 Licinianus von Cartagena Epistula I, 41a 227 Notker der Stammler Gesta Karoli Magni II, 19 299 Origenes Commentarium in Canticum Canticorum Prol. 67
440
Stellenregister
Procopius Aedificia I 30 I, 2, 13–19 49 I, 11, 26 f. 49
Pachomius Regula Pachomii 40–47 44 50–52 44 Passio Perpetuae et Felicitatis 7 f. 172
De bellis Gothicis III, 17, 1–25 9
Paulus Diaconus Historia Langobardorum II, 5 11 II, 8–26 11 II, 28 11 II, 31 11 II, 32 12, 340 III, 20 349 III, 24 77 III, 35 13 IV, 8 36, 344 IV, 20 346 IV, 24 346 IV, 32 347
Lucius Annaeus Seneca Ad Lucilium Epistulae Morales I, 3, 2 335 Socrates Scholasticus Historia Ecclesiastica II, 13, 4-6 42 Sulpicius Severus Vita Martini 3, 1 f. 121 Tertullian Apologeticum 39, 6 39, 7
Vita Gregorii 1 21 7 29 16 279 29 279
Theodoret von Cyrus Historia religiosa XXI, 30 47
Pelagius I. Epistulae 24 19 Pelagius II. Epistula ad episcopos histriae 1 349 2 349, 354 3 20, 33, 96, 103, 244, 349–351 Epistula ad Gregorem Photius Bibliotheca 230 31
43, 47, 174 53
12, 32
Theodosius Codex Theodosianus XI, 1, 1 48 XIII, 5, 38 25 XIIII, 17 42 XVI, 2, 4 48, 288 Zeno von Verona Sermones seu Tractatus II, 1, 11 94
Namensregister Antike Namen Abel 200 Abraham 200 Adam 258 Adoald 348 Aethelbert, König 314–317 Aetherius von Lyon 309 Agapet, Diakon 82 Agapet, Papst 26, 28, 169 Agilulf 12, 36, 185, 344, 346 f. Agnellus von Fondi 309 Ambrosius von Mailand 95, 225, 303 Anastasius von Antiochien 360 Antonina, Patrizierin 336 Aregius, Bischof 334, 337 Ariulf 36, 342, 344, 346 Arius 244 Ascelpiodotus 282 Athanasius von Lykaonien 330 f. Augustin von Canterbury 313 f., 317 f., 374, 380 Augustin 5, 54–63, 84, 93, 96, 105, 116, 132, 148, 174, 182, 204–206, 215, 225, 232, 238, 255, 325 Autharis 348 Barbara, Patrizierin 336 Basilius der Große 44 Beda Venerabilis 313 f. Belisar 9 Benedikt I., Papst 29 Benedikt von Nursia 157, 172, 177, 392 Bildad 225, 243 Brunhilde, Königin 285 Caelestius 205 Callinicus, Exarch 346 f.
Cassius von Narnia 120 Castorius von Rimini 334 Christus 51, 71, 122, 135–138, 143, 170, 203, 225, 334, 363 Citonatus 294 Constantius von Mailand 353 Cyprian von Karthago 138, 355 Cyriacus von Konstantinopel 311, 331, 357, 360 f., 375 Cyriacus, Abt 323 f., 380 David 200 Dioscorus 244 Dominicus von Karthago 311, 329 Duval, Yvette 327, 329 Elifas 225, 243 Elihu 225, 243, 260 Equitius 177 f. Eulogius von Alexandrien 31, 315, 333, 360, 362 Eutyches 244 Eutychius von Konstantinopel 31, 244 Eutychius von Tindari 323 Evagrius Ponticus 225 Felix, Bischof 323 f., 380 Fortunatus von Fano 303 f. Gelasius I. 178 Gregor von Tours 338 Henoch 200 Hiob 202, 225, 236 Honorius 10 Hospiton, Herzog 324
442
Namensregister
Ibas von Edessa 349 Importunus 299 Isaak 200 Isacius von Jerusalem 376 Italica, Patrizierin 335 Jakob 200, 215 Januarius von Cagliari 323 f. Johannes Cassian 138, 206, 225, 255, 281, 388 Johannes Chrysostomus 49, 86, 107, 120 Johannes der Täufer 200 Johannes II. von Ravenna 35, 334, 352, 363–366 Johannes Sinaites 82, 284, 392 Johannes von Chalcedon 330 Johannes von Konstantinopel 31, 330 f., 356–363 Johannes, Geldwechsler 299 Johannes, religiosus 297, 374 Josef 200 Josua 200 Jovinian 244 Julian 42 Justin II. 11 Justinian 9, 14–16, 49, 82, 232, 280, 294, 339, 363, 367 f. Konstantin der Große 288, 303, 315 Konstantina, Kaiserin 300 Lazarus 259 Lea 215, 234 Leander von Sevilla 32, 226 f., 235 Leo der Große 17, 138, 178 Licianus von Cartagena 226 Macedonius 244 Mani 244 Maria und Martha 214, 234 Marinianus von Ravenna 185, 188, 282, 284, 334, 366 f., 374 Maurentius, magister militum 283 Mauricius , Kaiser 12, 34, 282, 300, 307 f., 343, 345, 352, 358 Maximianus von Syracus 32, 157, 374 Mose 200
Narses 9 Nestorius 244, 329 Origenes 232, 244 Paulus, Apostel 200, 202, 212, 261 Pelagius I., Papst 18 f., 351 Pelagius II., Papst 10, 12, 103, 244, 349 f., 356 Pelagius 205 Petrus von Carva 4, 187 Petrus, Apostel 151, 169 f., 200, 351, 359 Petrus, Subdiakon und Rektor 157, 170 f., 175, 284, 292–294, 301, 374 Philaster 325 Phocas 346, 354, 381 Photinus 244 Pinhas 200 Probus, Abt 346 Rahel 215, 234 Reccared, König 320 f. Romanus, defensor 288 Romanus, Exarch 344 f. Rusticiana 283, 303, 369 Sabellius 244 Sabinianus, Apokrisiar 357 Samuel 200 Secundinus, inclausus 375 Secundus, Mönch 345 Serenus von Marseille 331 f. Severus von Aquileia 351 f. Severus 244 Severus, scholasticus 344 Smaragdus, Exarch 347, 351, 354 f. Syagrius von Lyon 313 Theoctista 283 Theodelinde 12, 347 f., 354 Theodor von Mopsuestia 349 Theodor, Arzt 283, 303, 307, 337 Theodoret von Cyrus 349 Theodorus, dux 300 Tiberius Constantinus 244 Totila 9 Venantius 335 Vigilius 18, 351
Zabarda, Herzog 324 Zenon von Epirus 294
Moderne Namen
Zofar 225, 243
Moderne Namen Caspar, Erich 1, 2, 225 Catry, Patrick 6 Dagens, Claude 2 de Vogüé, Adalbert 233 Dietram Hofmann 87 Dudden, Frederick Homes 1, 2 Fiedrowicz, Michael 104, 114 Gilian Evans 93 Gillet, Robert 2 Hermes, Raimund 281 Kessler, Stephan 186 Kisić, Rade 99
LeGoff, Jacques 179 f. Markus, Robert 3, 279, 327 Marrou, Henri 281 Müller, Andreas 7, 281 Müller, Barbara 6, 78, 374 Peter Eich 348 Petersen, Joan 169 Schambeck, Mirjam 213, 217 Sternberg, Thomas 281 Straw, Carol 2, 254 Uhlhorn, Gerhard 6 Wilkinson, John 6
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Sachregister Abendmahl 128 f., 172 Absolution, siehe Lossprechung Abt 33 Administration, siehe Verwaltung Allegorese, siehe allegorische Schriftauslegung Almosen 14, 52, 83–86, 108, 120–122, 130, 166 f., 237, 249, 298, 352, 372 Altargerät 292, 303 f. Altenheim 284 Amt 391 – Amtsflucht 34, 391 – Amtsführung 77–82, 92, 99–104, 120 f., 166, 241, 266, 300 Angelsachsen 312–319, 324 Annona 25, 42, 280, 294 Anthropologie, siehe Mensch Apokrisiar 12, 29–33, 65, 96, 226, 300, 349, 361 Aquileia 11, 19 Armenfürsorge 42 f., 108, 120–122, 174–177, 281–305, 297–299, 317, 373, 386 – Armenkleidung 195 – Armenspeisung 46, 81, 177, 195, 294, 297 Armenhaus 284 f., 297, 379 Armenkasse 174–177, 297 f. Askese, siehe Mönchtum Askesekritik 198 f., 218–220, 263 f., 335, 391 Auferstehung 244 Beerdigung, siehe Bestattung Beichte 80 f., 305, 387 Bekehrung, siehe Konversion Benevent 11–13 Bestattung 46–48, 59 f., 182, 195
– siehe auch Totensorge Bibel 4, 50 f., 100, 275, 336 f. – siehe auch Schriftauslegung – Bibelübersetzung 187 f., 233 Bild 332 Bildung 23–25, 114, 131, 307, 379 Bischof 15 – Bischofswahl 16, 34, 306 f. – Bischofsweihe 19, 35 Buße 77, 127 f., 141, 257, 310, 323, 338 f., 369, 373 – postmortale Buße 172 f., 181 corpus permixtum 126, 147 f., 209, 259 f. Demokratisierung 124, 150, 155, 196, 201, 212, 224, 273, 338 f., 390 f. Diakonie 280 f., 285, 295 f., 374 Diakoniegeschichte 6–8 Dienstgemeinschaft 3, 14, 57, 63, 76, 102, 125, 143–149, 167, 204, 210, 212, 220, 237, 259–264, 338 f., 372–376 Donatismus 327–329, 381 Doppelgebot 8, 50 f., 90–94, 108 f., 131–135, 186, 206–210, 268, 275, 386 Drei-Kapitel-Streit 16–20, 96, 103, 243, 263, 349–355, 381, 389 – siehe auch istrisches Schisma Ehe 106 f., 155 f., 218, 370 Einheit 95 f. – kirchliche Einheit 16, 96, 108, 126, 143, 210, 245 f., 259–264, 298, 323, 325–332, 348–367, 385, 390 Ekklesiologie 3, 14, 16, 58, 72, 125, 143–149, 189, 210, 237, 259–264, 339, 350, 382 – siehe auch Kirche
446
Sachregister
England 312–319 Enthaltsamkeit, siehe Keuschheit Epidemie, siehe Pest Erbschaft 15, 299, 301 – siehe auch Stiftung Ermahnung 80 f., 85, 91, 190, 241–243, 311, 325, 335–337 Eschatologie 52 f., 96–98, 179–183, 209 – siehe auch Jenseitsorientierung Eucharistie, siehe Abendmahl Euergetismus 8, 45, 63, 297 Exarch 36, 245, 328, 342, 363, 369 Exegese, siehe Schriftauslegung Familie 173 f., 184 Fasten 107, 334 – siehe auch Askesekritik Fegefeuer 179 f. Feindesliebe 123, 125–127, 134, 197–199, 243, 387 Flucht 13, 195, 223, 296, 309, 341, 373, 387 Flüchtling, siehe Flucht Fortschritt 68, 240 Frieden 10, 324, 339–367 – siehe auch Krieg – Friedensverhandlung 197, 343–347, 373, 381, 386 Fürbitte 47, 80, 129 f., 172–174, 181, 249, 263, 303, 372 – siehe auch Gebet Gallien 12, 284–286, 314 f., 326 f., 381 Gastfreundschaft 135, 175, 284, 318, 373 Gebet 61, 85, 149, 168, 170, 339, 348, 369 Geduld 87–89, 95, 126, 207, 262 f., 337 Gefangener, siehe Geisel Geisel 46, 176, 296, 302–305, 343, 383 – siehe auch Lösegeld Gemeinschaft 85, 223, 250 Gericht 70, 193, 235, 254 f. – jenseitiges Gericht 106, 137–140, 179–181, 257, 296, 351 Gerichtsbarkeit 301 – bischöfliche 287, 289, 369–373 Gesetz 15, 301, 304, 319, 367, 370, 379 Gewalt 17, 322, 324, 351, 387 Glaube 200, 211
Gleichheit 102, 106, 124 Gnade 137, 140, 181, 204, 252–255 Gottebenbildlichkeit 142 Gottesdienst 81 f., 120 f., 127–129, 182, 361, 364, 372 Gottesliebe 67–70, 94 f., 132, 207 Grab 61 f., 169, 173, 181 Hagiographie 169 Handlung, siehe Tat Häresie, siehe Irrlehre Haushalt 48, 174–177, 283 f. Heide, siehe pagan Heiliger Geist 132, 205, 211 Heiliger 165, 173, 200 f. Heiligkeit 203, 209 Hierarchie 91, 93, 102, 177 f., 262, 265, 290, 301, 326, 337, 350, 381 Himmel 180, 209 Hochmut 69, 83, 106, 123, 208, 218, 240, 245, 258 Hölle 179 f., 232 Homilie 112–114, 185–188, 229 Hospital, siehe Krankenpflege Identifikation 136, 334 Ikone, siehe Bild Illyricum 18 f. Imago Dei, siehe Gottebenbildlichkeit Imitation, siehe Nachahmung Intention 63, 84, 105, 148–151, 168, 203, 208 f., 256, 264 Irrlehre 103, 126, 225, 242–246, 260, 325–332 Istrien 20, 346 – siehe auch istrisches Schisma Italien 9–20, 33 f., 184 f., 300, 306, 345, 348, 383 Jenseitsorientierung 79 f., 98, 110, 115, 118 f., 123, 173, 246, 266, 314, 336, 386 – siehe auch Eschatologie Judentum 303, 319–322, 380 Judikative, siehe Rechtsprechung Kaiser 197, 223, 349, 364 Kaiserhof 29, 32, 245, 300, 346 Kardinaltugend, siehe Tugend
Sachregister
Katechese 59, 73, 311, 321, 325, 332, 386 Keuschheit 106 f., 373 Kirche 58 f. – siehe auch Ekklesiologie Klerus 15, 77, 81 f., 100, 146, 166, 186, 219, 287, 289, 301, 305–312, 370–372, 374 Kloster 177 f., 310, – Andreaskloster 26–29, 178, 188, 314, 368 f., 374 Kollekte 14, 49, 83, 282, 303, 369 Kondeszendenz 92, 136, 151, 318 Konstantinopel 13, 30, 65, 226, 228, 330, 356–363 Kontemplation 67 f., 70, 92, 100 f., 153, 190, 214–216, 385 – siehe auch vita contemplativa Konversion 66, 126, 130, 312, 318, 321–323, 355, 387 Konzil 325, 330–332 – Konzil von Chalcedon 16–18, 325, 350, 354, 358 f., 381 – Konzil von Ephesus 331 – Konzil von Konstantinopel 17 f., 325, 349 f., 354, 381, 389 Korruption 291 Korsika 323 Krankenhaus, siehe Krankenpflege Krankenpflege 44, 134, 166, 178, 386 Krankheit 37 f., 98, 308 f., 333 Krieg 9, 10, 13, 185, 296, 309, 311, 340–348, 383 – Kriegskosten 10, 34 f., 197, 341 f., 381 Laie 166, 177 f., 212, 379 Landbesitz 15, 48, 288–296, 368 f., 378 f. Langobarden 10–14, 19, 33–35, 184 f., 196, 270, 292, 295, 302 f., 334–337, 340–348, 386 Lebensform 146, 218–220, 273, 390 Legislative, siehe Gesetz Lehrer 74, 201, 335, 376 Leichenwaschung 173 Liebesgebot, siehe Doppelgebot Liturgie 81 f., 127–130, 318, 332, 348, 364, 371, 373, 388 Lösegeld 176, 302 f. – siehe auch Geisel
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Lossprechung 80 f., 133 Mailand 11, 19 Martyrium 117, 123 Mensch 84, 102, 140, 142, 249, 254, 262 Messalianer 217 Messe, siehe Gottesdienst Messe, siehe Totenmesse Messstiftung 129, 173, 182 Miaphyiten 16–18 Migration, siehe Flucht Milde 89, 242 Mission 298, 312–325, 347 f. Mitgefühl 151 f., 236, 246–251, 296, 333 Mönchtum 14–16, 26–29, 43 f., 82, 106–108, 122–125, 146 f., 177 f., 210, 212, 218–220, 263, 267, 281, 307 f., 335 f., 367–376 Monophysiten, siehe Miaphysiten Motivation, siehe Intention Nachahmung 199–204, 296 Nächster 57, 97, 249, 263–267 Nestorianismus 329 Nordafrika 327–329 Nutzen 4, 127, 195, 222, 264–267, 282, 293, 301, 332, 339, 346, 363, 376, 386 Offenbarung 141 Orthodoxie, siehe Rechtgläubigkeit Ostgoten 9, 13, 339 Pacht 290 f., 320 f. Pädagogik 97, 105, 257, 332 pagan 316, 322–325, 332 Pallium 363–367 Papstamt 192–194 Paradies, siehe Himmel Partizipation 203, 248, 270, 315, 382 – siehe auch Dienstgemeinschaft Patriarch 331, 356–363 – siehe auch Pentarchie – ökumenischer 246, 331, 356–363, 382 Patrimonium Petri 288–296, 374, 381 Pavia 11 f. Pelagianismus 58, 105, 206, 252, 330 Pentarchie 359, 363, 387 Pest 10, 34, 110, 338
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Sachregister
Prädestination 138, 148, 155, 221, 253 f. Pragmatische Sanktion 9, 24, 280 Predigt 38, 49, 73 f., 80, 100, 116–119, 177, 189–192, 204, 239 f., 271, 311 – siehe auch Homilie Primat 193, 362 f. Purgatorium, siehe Fegefeuer Ravenna 10–13, 18, 334, 342, 363–367, 382 Rechtgläubigkeit 17, 96, 243, 330–332 Rechtsprechung 15 Redaktion 35, 65, 185, 226–235 Reichtum 83, 85, 122, 137 Rektor 289, 297 Reliquien 163, 169 Reue 118, 128, 336 Reziprozität, siehe Dienstgemeinschaft Rhetorik 24 f. Rom 9, 10–13, 20, 30, 36, 86, 113, 154, 280 f., 295, 309, 336, 338 f., 342, 344–347, 351 Sardinien 323 Satan, siehe Teufel Schisma 16, 19, 244, 260, 298, 362, 382, 389 – istrisches Schisma 20, 25 f., 33, 96, 103, 126, 244, 349–355 Schriftauslegung 28, 32, 86–91, 170, 188, 337 – allegorische Schriftauslegung 66, 68, 86 f., 103, 131, 186, 194, 224 f. Schulden 299, 304 Seelsorge 79, 92, 98, 110, 119, 177, 192, 246, 333–339, 386 Selbstliebe 132, 134, 207 Simonie 287, 325–328, 381 f. Sizilien 13, 289, 292, 294 f., 323, 340 Sklave 300, 320, 324 – siehe auch Geisel Soteriologie 137–143, 156, 204–206, 253–255, 263, 296, 333, 348, 388 Sozialgesetz 48 Spende, siehe Kollekte Spoleto 11–13 Sprache 117, 158, 186, 314, 356 – griechische Sprache 30 f., 160
Staat 15 f., 294 f. Stadtpräfekt 22, 25 Stellvertretung 247 Sterbebegleitung 166, 171 Steuer 48, 294, 300 Stiftung 48, 299, 372 Stolz, siehe Hochmut Strenge 89, 242 Sühne 52, 58, 96 f., 132, 138, 195 Sünde 52, 80 f., 84, 93, 180 Sünder 84, 242 Synergismus 137, 148, 156, 204–206, 254 f. Synode 292, 310, 326, 328, 330, 351, 361 Tat 5, 55 Taufe 52, 148, 298, 305, 321, 329, 335, 380, 387 Testament 291, 369 Teufel 122, 200, 231, 256 f., 375 Totenmesse 182 Totensorge 46–48, 59–63, 166, 171–174, 240 Traum 231 Tugend 68–75, 94–96, 100, 171, 203, 243, 252, 388 Typologie 170 Universalprimat, siehe Primat Vasa sacra, siehe Altargerät Vergebung 149 f., 238 Verkündigung, siehe Predigt Verwaltung 13, 15, 25, 37, 43, 255, 282, 288–296, 304, 383, 389 Viaticum 172, f. – siehe auch Abendmahl vita activa 195, 204, 213–218, 261, 385 vita contemplativa 27, 69, 92, 193, 204, 213–218, 233 f. vita mixta 1, 92 f., 100 f., 107 f., 132–134, 186, 213–218, 375 Vorbild 82, 91–93, 102 f., 107, 118, 183, 203, 236, 272, 359, 363 – siehe auch Nachahmung Waise 15, 43 f., 296–299 Werke 210–212
– gute Werke 52, 69–73, 97, 105, 137, 179–181, 252–257, 296, 354, 385 – Werke der Barmherzigkeit 59, 90 Witwe 43 f., 236, 296–299, 301 Wunder 167–171
Sachregister
Xenodochium, siehe Armenhaus Zwietracht 95
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