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German Pages 302 Year 2020
Emmanuel Alloa, Michael G. Festl, Federica Gregoratto, Thomas Telios (Hg.) Quertreiber des Denkens
Edition Moderne Postmoderne
Emmanuel Alloa (Prof. Dr.) ist Professor für Ästhetik und Kunstphilosophie an der Universität Freiburg (Schweiz). Michael Geronimo Festl (PD Dr.) ist ständiger Dozent für Philosophie an der Universität St. Gallen. Federica Gregoratto (Dr.) ist als Mitarbeiterin und Habilitandin an der School of Humanity and Social Science der Universität St. Gallen tätig. Thomas Telios (Dr.) ist wissenschaftlicher Assistent für Philosophie an der Universität St. Gallen.
Emmanuel Alloa, Michael G. Festl, Federica Gregoratto, Thomas Telios (Hg.)
Quertreiber des Denkens Dieter Thomä – Werk und Wirken
Diese Publikation wurde mit Mitteln des Publikationsfonds der Universität St. Gallen gefördert.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Emmanuel Alloa, Michael G. Festl, Federica Gregoratto, Barbara Jungclaus, Thomas Telios Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4761-7 PDF-ISBN 978-3-8394-4761-1 https://doi.org/10.14361/9783839447611 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Inhalt
Einleitung | 7
MARTIN HEIDEGGER – EIN LEBEN LANG Kanadavergessenheit
Jean Grondin | 15 Heidegger in Russland
Ulrich Schmid | 21
DAS LEBEN, EINE GESCHICHTE Making Ethical History in Thomä and Kierkegaard
Andrew Norris | 47 Was niemanden angeht
Susanne Burri | 67 Erzählung des Lebens: Die Filmbiographie und ihre Dekonstruktion in Todd Haynes’ I’m Not There
Juliane Rebentisch | 79 Von Wolkenkratzern, Schmetterlingen und ›wirklicher Demokratie‹. Hannah Arendt und Günther Anders als Phänomenologen der Migration
Florian Grosser | 99
STÖRENFRIEDE. EINE POLITISCHE FIGURENKUNDE Gestörte Philosophie, störende Philosophie? Populismus, Philosophie, und die Reflexivität der Störung
Lisa Herzog | 133 Teilhabe und Teilung: Grundfiguren des sozialphilosophischen Machtbegriffs
Katrin Meyer | 143
Hayeks Sozialphilosophie: Neoliberaler Mainstream oder Quertreiberei?
Heiner Hastedt | 159 Im Schatten der Verfassung. Die Krise des Liberalismus
Christoph Menke | 177 »Nachdenken über den dummen August«. Narrenweisheit und poetologische Äquilibristik in Hugo von Hofmannsthals Komödie Der Schwierige (1921)
Ulrike Landfester | 201 Störenfriede, worauf warten wir noch? Eine Stelle bei Blanchot
Gerhard Richter | 221 Siegfried Kracauer. Wirklichkeit als Störung
Bernd Stiegler | 229 Walt Whitman – ein Querulant im demokratischen Getriebe
Axel Honneth | 241
GLÜCK IM UNGLÜCK. ÜBER LEBEN IN DER MODERNE Die Postmoderne und das Problem der Wissenskulturen
Michael Hagner | 251 Die Schatten des Lebens: Über Lars Von Triers Melancholia
Vincent Kaufmann | 265 Das Leben überleben?
Rainer Marten | 281 Die Beitragenden | 295
Quertreiber des Denkens Zur Einleitung Emmanuel Alloa, Michael Festl, Federica Gregoratto und Thomas Telios
EINE ORIENTIERUNG In das Werk eines Autors tritt man ein wie in eine neue Stadt. Einiges wirkt vertraut, anderes weniger, erst nach und nach erschließen sich Bezirke und Verkehrsadern, Sammelplätze und Querverbindungen: erst allmählich versteht man, wie man von hier nach dort gelangt. Was Dieter Thomä einst über die Erfahrung der Auseinandersetzung mit philosophischen Werken schrieb, gilt uneingeschränkt auch für seine eigenen Schriften. In der über mehrere Jahrzehnte verteilten Tätigkeit wuchs ein Werk heran, das weniger einem stadtplanerischen Grundriss gehorcht als einer natürlichen Expansion. Thomäs Werk lässt sich weder disziplinieren noch systematisieren. Ob in der Auslotung von Heideggers Existenzialanalytik, Musils Romanen oder dem Gesamtkunstwerk Sergej Eisensteins, ob in Auslegungen zu Thomas Hobbes, zu Diderot oder zu Mao Tse-Tung, ob in Studien zur französischen Frühaufklärung, zum Humankapital oder zum Phänomen des Amerikanismus – es sperrt sich gegen die heutige immer prononciertere Spezialisierung im akademischen Diskurs. Für die Philosophie erschloss Thomä ferner ein Thema, das bislang nicht im Fokus der Aufmerksamkeit stand: das Vater- bzw. Elternsein, aber damit zugleich auch das Thema der Beziehung zwischen den Generationen. Thomäs Denken nimmt an sämtlichen Formen grenzpolizeilichen Gebarens Anstoß, und stört dessen reibungslose Umsetzung, indem es in sorgfältigen Beschreibungen vorführt, wie die Topologie des Grenzgebiets genau aussieht. Die Grenzgänge sind hier immer auch zugleich Grenzbestimmungen, bzw. Schwellenbestimmungen, da das Grenzgängertum beweist, dass die Grenze immer auch schon überschritten wird und damit faktisch eine Schwellenfunktion erhält. Anstelle einseitig verordneter Grenzziehungen interessiert sich Thomäs Denken für Übergänge aller Art, und insbesondere dafür, ob, und wenn ja, wo in diesen Über-
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gängen Reibungspotential liegt. Von Situationen des Tagesgeschehens angestoßen sind seine philosophischen Kolumnen immer wieder anschauliche Beispiele für das, was Günther Anders einmal »Gelegenheitsphilosophie« nannte. In besonderer Weise gilt das Augenmerk allerlei Übergangsprozessen im Leben der modernen Subjekte, den Übertragungen, Auseinandersetzungen und Handreichungen zwischen den Generationen, der Dialektik zwischen Selbstverlust und Selbstbejahung, den Transformationen gegenwärtiger Arbeitswelten und den Transaktionen im Gefühlshaushalt. Im Wechsel der Lebensphasen, in den Grauzonen des Übergangs, liegt ein heuristischer Wert: Der Erfahrungsraum spätmoderner Lebenserfahrungen zeichnet einen präzisen Umriss moderner Lebensformen. In den Erzählungen, die die Moderne über sich selbst verfasst, werden ihre inneren Widersprüche handgreiflich spürbar; in ihren Narrativen spiegeln sich jedoch auch kreative Spielräume wider. Thomä, der sich dagegen verwehrt, in die Unkenrufe melancholischer Zeitdiagnosen einzustimmen, gehört zu denjenigen, die meinen, man könne den zeitgenössischen Kapitalismus luzide beschreiben, und zugleich den Optimismus eines erreichbaren, geglückten Lebens hegen. Dieses philosophische Territorium und diese literarische Konurbation weist an bestimmten Stellen eindeutige Ballungszonen auf, so vor allem in jüngerer Zeit. Tatsächlich kristallisierte sich in den letzten Jahren eine Reihe von Denkmotiven heraus, so etwa die Frage, welche Unruheherde eine jeweils gegebene Ordnung destabilisieren, wo die rites de passage in Revolutionen umkippen oder auch, was passiert, wenn utopische Ideen aus Literatur und Kunst historisch Gestalt annehmen. Anhand einer historischen Typologie der Störenfriede wird die Frage aufgeworfen, wieviele agents provocateurs eine Demokratie eigentlich braucht. Zuletzt geriet das Thema in den Fokus, ob in zeitgenössischen Gesellschaften wieder der Bedarf nach heroischen Figuren wächst. Es ist unbestritten: Thomä hat der Philosophie zum Teil einige neue Fragebereiche erschlossen, zugleich aber auch immer wieder den ikonoklastischen Mut an den Tag gelegt, zu einigen ganz einfachen, alltäglichen Grundfragen zurückzufinden. In Anbetracht einer sich immer stärker ausdifferenzierenden Expertenkultur ist die Beherztheit zur theoretischen Quertreiberei selten geworden. Zu seinem 60. Geburtstag soll Thomäs Arbeit auf all diesen diversen Gebieten gewürdigt werden. Der geplante Band versammelt Beiträge von Autorinnen und Autoren, die sich den Herausforderungen stellen, vor die Thomä das zeitgenössische Denken stellte. Einige der aufgeworfenen Fragen lauten: Wie sokratisch kann die Philosophie heute noch sein, und welche Rolle käme dem »Quertreiber« (mainómenos), als der Sokrates bezeichnet wurde,1 heute zu? Was sind und wie wirken die Ereignisse des Protests, der Revolte, der Revolution? Welche Figuren des
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Diogenes Laertios: Leben und Meinungen berühmter Philosophen, 6.54.
Einleitung
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Unruhestifters, des Querulanten oder des Störenfrieds bringen die Reihen durcheinander? Wo sind wir heute durch Grenzen bestimmt und wie lassen sie sich bestimmen, wie lassen sie sich phänomenologisch wahrnehmen, heuristisch verwenden, politisch kapitalisieren, und aktivistisch durchkreuzen? Welche Gestalt nehmen Grenzen an, je nach wissenschaftlichen Disziplinen, Theorietraditionen und methodologischen Herangehensweisen? Wie werden derlei Grenzen jeweils verschoben, verwischt bzw. subvertiert? Wie kann den Abschottungstendenzen der Wissensbereiche und Praxisfeldern entgegengewirkt werden? Denn nicht zuletzt durch sein breites journalistisches, aber auch essayistisches Schreiben stellt Thomä die Philosophie vor die Formfrage: Wie nehmen Gedanken Gestalt an? Einfälle, so Thomä, kommen oft gewaltsam: sie sind geradezu ›Einbrüche‹ des Lebens. Seine Texte werfen die Frage auf, worin heute kritische Zeitgenossenschaft besteht, und führen in ihrer Gestalt und gleichsam performativ vor, worin die Antwort darauf lauten mag.
ZUM INHALT Alle Beiträgerinnen und Beiträger des Bandes waren aufgefordert, sich einen Aspekt aus Thomäs Werk auszusuchen, der bei ihnen neue Denkanstöße auslöste. Bei aller Diversität der Herangehensweisen, die von der Vielfalt der Rezeptionsmöglichkeiten zeugt, gruppierten sich die jeweiligen Texte ganz natürlich um vier großen Themenbereiche, die dann entsprechend auch die Gliederung des Bandes vorgaben. Vier große Themenbereiche, die in Thomäs Flechtwerk tatsächlich so etwas wie Knotenpunkte darstellen. Der erste Themenbereich – und damit der erste Teil – ist der philosophischen Provenienz geschuldet, nämlich dem Denken Martin Heideggers, dem Thomä nicht nur sein (umfangreiches) erstes Buch widmete (Die Zeit des Selbst und die Zeit danach – 1990), sondern bis heute noch zahlreiche weitere Aufsätze und Herausgaben. Der zweite Teil gliedert sich um den Bereich der narrativen Identitäten, und damit der Frage, wie man – wie in Erzähle dich selbst (1998) vorgeführt – den Begriff der ›Lebensgeschichte‹ philosophisch ernst nehmen kann. Der dritte Teil versammelt Beiträge, die von Thomäs Analysen zum Puer robustus (2016) ausgehend Figuren des Störenfrieds in der europäischen Moderne in den Blick nehmen. Der vierte und letzte Teil schließlich befasst sich mit der ethischen Seite in Thomäs Oeuvre, und zwar mit dem Thema des Glücks. Erster Teil. Martin Heidegger – ein Leben lang
Die Schriften zu Thomäs jahrzehntelangem Ringen mit Martin Heidegger eröffnet Jean Grondin. Unter dem provokanten Stichwort der ›Kanadavergessenheit‹ wird Heideggers Ethnofundamentalismus kritisch diskutiert. Aufgrund seiner Substan-
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tialisierung von Völkern sei Heidegger blind dafür gewesen, dass es noch ganz andere – reale – multiethnische Gesellschaftsentwürfe geben kann, wie das Beispiel Kanada zeigt. Ulrich Schmid setzt den Teil fort mit einem Beitrag zur noch immer viel zu wenig beachteten Beziehung zwischen Heidegger und Russland. Am Leitfaden der Begriffe Sein, Sprache, Volk und Gott zeichnet Schmid einerseits Heideggers eigenes (verklärtes) Russlandbild nach, andererseits aber auch die verschlungenen Wege seiner Rezeption in Russland. Zweiter Teil. Das Leben, eine Geschichte
Den Abschnitt zur Narrativen Identität und zur Lebensgeschichte als philosophischen Problem beginnt mit Andrew Norris’ minutiöser Auseinandersetzung mit Thomäs Interpretation von Kierkegaard als wichtigem Baustein in dem Buch Erzähle dich selbst (1998). Es geht weiter mit Reflexionen von Susanne Burri zu der Frage, inwieweit sich das Selbst flüchtig Bekannten oder gar gänzlich Unbekannten, z. B. über Posts auf Social Media, mitteilen darf oder gar soll, wenn es um erlittene persönliche Unglücksfälle geht. Juliane Rebentisch dekonstruiert im Anschluss das Genre des Biopics mit Hilfe von Todd Haynes’ Film I’m Not There (2007), welcher sich den verschiedenen Leben Bob Dylans widmet. Florian Grosser schließlich führt eine politische Erkundung des Selbst durch. Hannah Arendt und Günther Anders werden bei ihm zu aufmerksamen Phänomenologen jener Fremdheitserfahrungen, die Migranten damals wie heute machen. Dritter Teil. Störenfriede. Eine politische Figurenkunde
Thomäs Philosophie des Puer robustus, und der damit verbundenen politischen Theorie der Moderne, ist der Bereich, der mit Abstand die meisten Reaktionen auslöst. Lisa Herzog wendet Thomäs Motiv der Störung auf die Philosophie selbst an und erläutert drei Strategien mit denen die Philosophie den politischen Betrieb zu stören imstande ist. Katrin Meyer untersucht den Machtbegriff von Thomas Hobbes‘ in der Absicht, Thomäs Hobbes-Interpretation als entscheidendem Referenzpunkt des Puer robustus zu ergänzen. Bei Heiner Hastedt lässt sich Thomäs Theorie des Störenfriedes in Aktion beobachten, fragt Hastedt doch, ob sich F. A. von Hayek dafür qualifiziert, diesen Titel, bei Thomä ja unter Umständen ein Ehrentitel, zu tragen. Christoph Menke setzt den Abschnitt mit einem Beitrag fort, der den Liberalismus einer dialektischen Lektüre unterzieht, und erläutert, dass und inwiefern der Liberalismus von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht hervorbringen kann. Ulrike Landfester wartet mit Überlegungen zu Hugo von Hofmannsthals Komödie Der Schwierige von 1921 auf und skizziert dabei den Weg vom Narren zum Clown nach, zwei Figuren, die dem Puer robustus nicht gänzlich unverwandt sind. Anhand von Blanchot und mit Bezügen zu Kafka befragt Gerhard Richter Thomäs Philosophie vom Störenfried danach, ob denn nicht auch der Wartende ein Störender sein kann. Mit Bernd Stiegler kommen auch Fotographie
Einleitung
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und Film in den Blick: auf Siegfried Kracauers Spuren wird nach dem störenden Potential dieser kritischen Bildmedien gefahndet. Abgerundet wird der Teil mit einem Beitrag von Axel Honneth, der Walt Whitman als Querulanten der Moderne liest, und seine Lyrik als Sand im Getriebe demokratischer Routinen, die es nicht scheut, im politischen Kampf die Natur als Bündnispartner einzuspannen. Vierter Teil. Glück im Unglück. Über Leben in der Moderne
Die Beiträge im letzten Teil der Festschrift lassen sich Thomäs Untersuchungen zum Glück bzw. zum gelungenen Leben zuordnen, die sich in zahlreichen Artikeln, aber vornehmlich in Buchprojekten wie Glück in der Moderne (2003) und in dem interdisziplinären Handbuch Glück (2011) niederschlugen. Zugleich zeigen sie jedoch auch, dass das Leben des Geistes nicht vom faktischen biographischen Leben zu trennen ist und Theorie ein Stückweit immer auch eine geheime Autobiographie ist (siehe in Koautorschaft verantworteten Band Der Einfall des Lebens, 2015). Michael Hagner, auf den Tag zwei Monate nach Thomä geboren, fragt für seine und damit zugleich Thomäs Generation nach den wissenschaftlichphilosophischen Erwartungen und Hoffnungen, die die Postmoderne aufgeworfen, jedoch, wie heute sichtbar werde, mitnichten erfüllt hat. Angereichert mit biographischen Details und dabei mit ästhetischen Erwartungen der Generation Thomäs legt Vincent Kaufmann dar, warum der Regisseur Lars von Trier Meister der Entseelung ist und damit als der Künstler unserer Zeit gelten kann. Zugleich entlässt Kaufmann die Leserin mit einem Hinweis, der Thomä, hat dieser doch ein vielbeachtetes Buch zu Sergei Eisenstein vorgelegt, gefallen dürfte: Wenn man das Leben liebt, habe man gefälligst ins Kino zu gehen. Einen passenden Schlusspunkt setzt Rainer Marten, wenn dieser über Helden des Lebens und vor allem des Überlebens berichtet und fragt, wie ein Werk beschaffen sein muss, um seinen Autoren, seine Autorin zu überleben. Zeitgleich zu diesem Band erscheint Thomäs vorerst letztes Buch, in dem Brechts Diktum umgekehrt wird: Unglücklich das Land, das keine Helden nötig hat (Warum Demokratien Helden brauchen. Plädoyer für einen zeitgemäßen Heroismus, 2019). In welche Richtung – oder wohl besser: Richtungen – sich Thomäs Werk in den nächsten Jahren und Jahrzehnten weiterentwickeln wird, das lässt zum gegebenen Zeitpunkt nicht abschätzen. Genauso wenig lässt sich voraussagen, wie die vielen von ihm aufgezeigten Orientierungsmöglichkeiten im Denken Nacheiferer finden, und welche der von ihm gelegten Fährten von anderen zu etablierten Verkehrswegen ausgebaut werden. Eines aber lässt sich schon heute sagen: Philosophen, wie Thomä einer ist, sind selten geworden; Philosophen von Berufs wegen, die die Augen nie von der Frontscheibe nehmen, und doch Vergangenheit über den Rückspiegel stets mit im Blick haben. Dass Dieter Thomä zu diesen sich rarmachenden Exemplaren gehört, das dürfte eindeutig sein. Denn der leichtfüßige
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Feuilletonist, der zur Lage der Zeit die deutlichen Worte findet, ist zugleich ein behutsamer Ideenhistoriker, der aus den Untiefen der Geistesgeschichte immer wieder Perlen herausfischt und sie an seine Leser, Leserinnen und Freunde weitergibt. Zum Anlass seines 60. Geburtstags sei dieses liber amicorum ein kleiner Ausdruck des Danks für alle Denkanstöße, die Kolleginnen und Kollegen, Schüler aber auch Lehrer von ihm erhielten. Das Herausgeberteam möchte an dieser Stelle all denjenigen herzlich danken, die dieses Projekt haben möglich werden lassen. You know who you are. Namentlich erwähnt sei hier allerdings Barbara Jungclaus, sine qua non.
Martin Heidegger – ein Leben lang
Kanadavergessenheit Dieter Thomä, dem Freund der Störenfriede und Andersdenkenden, zum 60. Geburtstag mit dankbaren Grüßen Jean Grondin
Als puer robustus hat Dieter Thomä Heideggers Entwicklungsgang stets mit einem kritischen Auge betrachtet, das von einer unverkennbaren geheimen Faszination getragen wurde. Anders als die unzähligen Heideggerinquisitoren, deren Lektüre sich durch ihre gierige, selbstgefällige Jagd nach skandalösen und kompromittierenden Stellen charakterisiert, die »das bereits gut gefüllte Monstrositätenkabinett der Heidegger-Forschung«1 bereichern sollen, beruhte seine Kritik auf einer geduldigen, genauen und strikt chronologischen Lektüre seines Werkes, die zuerst 1990 in seinem nahezu tausendseitigen Buch Die Zeit des Selbst und die Zeit danach ihren gelehrten Ausdruck fand. Herausragend an seiner Lektüre war nicht zuletzt ihre breite, im deutschen Sprachraum rare Kenntnis der internationalen Heideggerliteratur und insbesondere der in französischer Sprache. Wenn ich mich nicht täusche, wurde Dieter Thomä maßgeblich und nachhaltig von Emmanuel Levinas‘ gewichtiger Kritik an Heidegger beeinflusst. Sie war gewichtig, weil sie Heidegger einen radikalen philosophischen Neuansatz entgegenstellte, der die Andersheit ins Zentrum rückte. Das ist in Dieter Thomäs neuerer Stellungnahme zu den Schwarzen Heften erneut zu beobachten, wo er mit Levinas Heideggers eigenartige Fixierung auf den Singular bzw. den Kollektivsingular bemängelt2. Gemeint ist die Heidegger zugesprochene Tendenz, die menschliche Erfahrung ausschließlich aus der Perspektive des einzelnen Daseins (in Sein und Zeit) oder eines kollektiven »Wir« (sei es des deutschen Volkes, des Abendlandes oder der singulären Seinsgeschichte) zu betrachten, die den anderen oder die Pluralität nicht gelten lassen würde. In dieser
1
Siehe D. Thomä: »Heidegger als Mitläufer des Seins«, S. 364.
2
Ebd., S. 365.
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kollektiv-singularen Perspektive würde man, mit Levinas gesprochen, »den anderen neben sich und nicht sich gegenüber« fühlen. Nach Dieter Thomä liefe dies auf eine »rabiate Ausschließung«, ja eine »Abschaffung des Plurals« hinaus3. Das ist keine gelegentliche Bemerkung, denn Dieter Thomä sieht geradezu »den alles entscheidenden Grundzug von Heideggers Denken insgesamt« – eine starke Formulierung! – in seinem »Übergang von einem individuellen zu einem kollektiven Singular«4, in dem die Erfahrung der Pluralität weiterhin und hartnäckig ausbleiben würde, die Autoren wie Levinas oder Hannah Arendt zur Geltung gebracht haben. Dies mag auch Heideggers Reserve gegenüber der liberalen Demokratie erklären, die auf der Anerkennung der Pluralität beruht. In seiner neuen Lesart teilt Dieter Thomä Heideggers Denkweg in drei Phasen: in der ersten Phase, der von Sein und Zeit, stünde das einzelne und vereinzelte menschliche Dasein – »die Zeit des Selbst« in der Terminologie des Werkes von 1990 – im Zentrum. An seine Stelle träte in der zweiten Phase das Kollektivsingular des deutschen Volkes, als dessen Anführer Heidegger Hitler eine Zeit lang begrüßt haben soll. Die dritte Phase (»die Zeit danach« sozusagen) sei die von Heideggers wachsender Desillusionierung mit diesem kollektiven Singular des deutschen Volkes. Das deutsche Volk und das Naziregime hätten nämlich nicht die Hoffnungen erfüllt, die Heidegger ursprünglich in sie gesetzt hätte. In dieser Phase, die nach Dieter Thomä um ca. 1938 beginnen würde, wäre Heidegger »zum einsamen Fürsprecher und Vorsprecher einer wahren Welt, die freilich in eine ferne Zukunft verschoben werden muss«5, geworden. Der ganze Sinn seiner einsamen, nach Dieter Thomä »narzisstischen«6 philosophischen Arbeit bestünde dann für ihn nur noch in der denkerischen und nicht mehr unmittelbar politischen Vorbereitung auf diesen Neuanfang. Er würde nunmehr »ohne Rücksicht auf Wirkung« für die künftigen Jahrhunderte7 schreiben, »in die lange Zeit hinaus« (GA 95, S. 67) – erneut »die Zeit danach« – vorausdenkend. Zuweilen erwog er eine mögliche Wende »frühes-
3
Ebd., S. 365. Verkennen darf man nicht, daß Heidegger die nach ihm dominierende Auffassung des Seins als gegenständliche, nominalistische Vorhandenheit (ousia, hupokeimenon, Gegenstand, Bestand, usw.) zu überwinden sucht, und nicht zuletzt deshalb, weil »sie sich universal« denkt (GA 24, S. 417). Heideggers gesamte Philosophie hofft auf einen anderen Anfang
4
D. Thomä: »Heidegger als Mitläufer des Seins«, S. 365.
5
Ebd., S. 369.
6
Ebd., S. 370.
7
M. Heidegger: »Brief Nr. 261 an Fritz Heidegger vom 31. Juli 1945«, in: W. Homolka/A. Heidegger (Hg.): Heidegger und der Antisemitismus, S. 129.
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tens um 2300« (GA 96, S. 225) und »vielleicht im Jahre 2327«8, das nicht aus dem Stegreif gesagt ist, da es das 400. Jubiläum von »Sein und Zeit« sein wird. Als ihn die real existierenden Nazis enttäuschten, u.a. weil sich der »NationalSozialismus zum Rational-sozialismus« (GA 96, S. 195) umgewandelt hätte und somit an der »Machenschaft« der abendländischen Geschichte teilhätte, hielt Heidegger nichtsdestoweniger an seiner Vision eines fernen, aber nötigen Neuanfangs unserer Geschichte fest, die er aber nunmehr nur noch denkerisch vorbereiten wollte, ohne Aussicht auf irgendwelche Realisierung. Deshalb lag ihm mitten im Bombenkrieg so sehr am Schutz seiner gezielt unzeitgemäßen Manuskripte, die womöglich künftigen Jahrhunderten eine Weisung geben könnten. Nach eigenem Erkunden gehörte er aus inniger Vertrautheit mit dem heute überhörten »Seyn« heraus zu den »Wenigen«, die einen solchen Neuanfang unserer Geschichte kommen sahen: »In all der Verdüsterung des Seienden«, schrieb er in den düsteren Februarwochen von 1945 an seinen Bruder Fritz, »ist das helle Licht des Seyns um mich«9. So sehr von der prophetischen Sendung seines eigenen Denkens eingenommen verabschiedete er sich schlichtweg vom argumentativen Denken: »Oft schon, aber noch nie so klar hab ich es erfahren, daß mein Denken ein Seyn ist, zu dessen Rechtfertigung nirgendwo im Seienden ein Grund und ein Argument sich bietet«10. Der sich gern zu den »Wenigen« rechnende Denker glaubte auch damit zu den »Künftigen« zu gehören11. Wie aber, wenn er mit seiner Geschichtskonstruktion eher zu den »Gestrigen« gehörte? Das zeigt sich nicht zuletzt an Heideggers markierter Tendenz, die großen Spieler des Weltgeschehens nach stereotypischen, klischeereichen und manchmal rassegebundenen Kennzeichnungen zu charakterisieren und andere zu vernachlässigen. Da kommen natürlich die Juden vor, mit ihrer Entwurzelung und ihrer »rechnerischen Begabung«, die Engländer und die Franzosen mit ihrer angeblichen Neigung, das Sein als Objekt und Gegenständlichkeit zu begreifen (GA 96, S. 230), das
8
GA 96, S. 196. Vgl. GA 97, S. 82, 108. Vgl. dazu D. Thomä, »Heidegger als Mitläufer des Seins«, S. 370.
9
M. Heidegger, »Brief Nr. 254 M. Heidegger, vom 22. Februar 1945«, W. Homolka/A. Heidegger (Hg.): Heidegger und der Antisemitismus, S. 123.
10 M. Heidegger, »Brief Nr. 252 an Fritz Heidegger vom 12. Februar 1945«, in W. Homolka/A. Heidegger (Hg.), Heidegger und der Antisemitismus, S. 120. 11 Vgl. GA 95, S. 198: »Was ist die deutsche Zukunft? Daß Einzelne aus den Deutschen Zukünftige werden, solche die – wenn auch nur je für Augenblicke – den Stoß des Seyns auf sich zukommen lassen und in dieses Kommende vor-denken und der Erde noch einmal einen Raum des Kampfes um die Entscheidung über Götter gründen und damit den Grund zu einer Geschichte legen. Lange Einsamkeiten müssen die Zukünftigen ertragen«.
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Russentum, vor dessen Wesen er seit 1908 eine hohe Bewunderung hegte12, das »Asiatische« und die Amerikaner, in denen der Nihilismus selbstverständlich seine Spitze erreichen würde (GA 96, S. 225). Heidegger behauptet dies wohlgemerkt, ohne je einen Fuß nach Amerika gesetzt oder dessen politisch-gesellschaftliche Kultur ernsthaft studiert zu haben. Bei all diesen »Völkern«, ohne natürlich die »Deutschen« als das »denkend-dichtende Volk« (GA 97, S. 63) zu vergessen, scheint Heidegger genau Bescheid zu wissen, worin ihr Wesen besteht. Mit welchem Recht kann er aber behaupten, das »Wesen« von gewissen »Völkern« besser zu durchschauen als andere? Ist es übrigens ausgemacht, daß es hier unbedingt ein »Wesen« geben muß? Und warum läßt er andere Länder und »Völker« beiseite? Mir ist immer aufgefallen, daß Heidegger dabei die Kanadier und viele andere (etwa die Indonesier oder Südamerikaner, um nur sie zu nennen) vergisst. Worin besteht etwa das geheime Wesen der Kanadier? Heidegger zumindest erwähnt es nie, obwohl er es vermutlich zur »englisch-amerikanischen Welt«13 rechnen würde, die bei ihm in der Regel schlecht wegkommt. Das Interessante an Ländern wie Kanada (und etlichen anderen, wenn nicht den meisten) ist indes, dass sie sich eben nicht auf ein einheitliches Wesen, etwa ethnischer Natur reduzieren lassen. Heidegger würde vermutlich hier eine Wesenslosigkeit bzw. eine »vollständige Entrassung der Völker durch die Einspannung derselben in die gleichgebaute und gleichschnittige Einrichtung alles Seienden« (GA 96, S. 56) bemängeln, aber der springende Punkt könnte hier sein, dass Gesellschaften wie die kanadische eben der Idee widersprechen, wonach alle Länder einem festgelegten Typus gehorchen müssten. Heidegger hat diese inzwischen Deutschland und Europa erreichende Entwicklung nicht kommen sehen, aber sie lässt sich sehr wohl als Antidoton gegen seine Geschichtsvision betrachten. Das ist eigentlich nicht ganz richtig ausgedrückt: bereits zu Heideggers Zeiten gab es selbstverständlich in Deutschland »fremdes Wesen« (um einen Terminus mit mehreren Anführungsstrichen zu gebrauchen, den Heidegger verwendet: GA 97, S. 47), das es ja nicht war, nämlich Juden, um nur sie zu nennen: als »fremde Wesen« galten auch die Roma, Jehovas Zeugen, Schwarze usw. Heidegger hat sie »vergessen«, als er in den Nazis ein Zusichkommen der »Deutschen« begrüßen wollte. Warum wurden die Juden und andere aus dem Deutschtum ausgeschlossen? Der Denker der Seinsvergessenheit litt in dieser Hinsicht unter einer gewissen Kanadavergessenheit. Gemeint ist hier nicht, dass Heidegger von Kanada mehr hätte sprechen sollen (das wäre albern: das Land war in
12 GA 96, S. 148. Das lag unter anderem daran, daß »im Wesen des Russentums Schätze der Erwartung des Gottes verborgen [liegen], die alle Rohstofflager wesentlich übertreffen« (GA 96, S. 128). Freilich wurde dieses Wesen des Russentums nach Heidegger durch den Bolschewismus entartet. 13 GA 96, S. 235.
Kanadavergessenheit
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der Tat ein kleiner Spieler in der Weltgeschichte und darf es ruhig bleiben), nur, dass er kosmopolitische Gesellschaften wie die kanadische nicht recht berücksichtigt. Wenn nicht alles täuscht, wird die Welt um 2327 herum, sollte es sie noch geben, viel kosmopolitischer und damit kanadaähnlicher aussehen, als Heidegger dachte. Heidegger verlor gewiss viele der Hoffnungen, die er anfangs in die Nazis gesetzt hatte, wie man seinen »Schwarzen Heften« entnehmen kann, aus denen, wie Dieter Thomä selber und nicht ohne Anteilnahme richtig bemerkt hat, eine große Einsamkeit spricht, aber eben nicht alle Hoffnungen. Was mich am meisten irritiert, ist, dass er an seiner Vision einer notwendigen Abkehr des Abendlandes über 1945 hinaus festhielt. Er begrüßte zunächst in Hitler einen Retter aus der Verwüstung, in die nach seiner Überzeugung die abendländische Geschichte geführt hätte. Nie raffte er sich indes zu dem Eingeständnis auf, dass vielleicht Hitler (nicht das Abendland) die Gefahr – erst recht für Deutschland – war, aus der es galt, gerettet zu werden. Als sich die Alliierten mit großem Menschenopfer bemühten, Deutschland aus dem Naziwahnsinn zu befreien, hielt er an seinem viszeralen Antiamerikanismus fest: »Alles Westliche ist das Ende«14, rief er pauschal aus 1943. Die Befreiung von 1945 war für ihn keine, weil die von ihm erhoffte Befreiung die von der »Übermacht des Seienden« sein sollte, die die Metaphysik angerichtet hätte und die im »Amerikanismus« ihren Paroxysmus feiern würde. In dieser Hinsicht würde ich sagen, dass die Verblendung, der er 1933 zum Opfer fiel, über 1945 hinaus andauerte. Den philosophischen Ursprung der abendländischen Verirrung glaubte Heidegger vor wie nach 1945 in der metaphysischen Seinsvergessenheit zu erblicken. Ob die geistige Verwüstung unserer Zeit, gesetzt, daß es sie gibt, nur mit der Seinsvergessenheit der ›Metaphysik‹ zu tun hat, ist die weitere kritische Frage, die man an dieses kanadavergessene Denken zu stellen hat15.
LITERATUR Grondin, Jean: Du sens des choses. L’idée de la métaphysique, Paris 2013. Heidegger, Martin: Gesamtausgabe (=GA), hg. v. F.- W. von Herrmann, Frankfurt am Main 1975ff. Homolka, Walter/Heidegger, Arnulf (Hg.): Heidegger und der Antisemitismus. Positionen im Widerstreit, Freiburg/Basel/Wien 2016.
14 M. Heidegger, »Brief Nr. 199 an Fritz Heidegger vom 13. August 1943«, in W. Homolka/A. Heidegger (Hg.), Heidegger und der Antisemitismus, S. 89. 15 Vgl. dazu vom J. Grondin: Du sens des choses. L’idée de la métaphysique.
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Thomä, Dieter: »Heidegger als Mitläufer des Seins«, in: Walter Homolka/Arnulf Heidegger (Hg.): Heidegger und der Antisemitismus. Positionen im Widerstreit, Freiburg/Basel/Wien 2016, S. 364-372.
Heidegger in Russland Ulrich Schmid
Heidegger hat eine Affinität zu Russland, und Russland hat eine Affinität zu Heidegger. Zeitlebens stand Heidegger der lateinischen Welt kritisch gegenüber und begriff Deutschland als geistigen Erben der antiken griechischen Kultur. Mit der Ablehnung des »Westens« als eines normativen Projekts ist schon eine wichtige Gemeinsamkeit zwischen Heidegger und zahlreichen konservativen russischen Denkern gegeben. Heidegger weist in den Schwarzen Heften selbst darauf hin, dass seine »Besinnung auf das Russentum« bereits vor dem Abitur eingesetzt habe (GA 96, S. 148). Zu den wenigen ausländischen Autoren, die Heidegger zustimmend zitiert, gehören deshalb nicht zufällig Dostoevskij und Tolstoj. Heidegger erwähnt Lev Tolstojs Erzählung »Der Tod des Iwan Iljitsch« in einer Fußnote in Sein und Zeit (1927) als gültige Darstellung des »Man« im Angesicht des Todes. Noch wichtiger für Heidegger ist aber Dostoevskij. Bereits 1920 hatte Heidegger in einem Brief an seine Frau hervorgehoben, dass ihm erst Dostoevskij klargemacht habe, was »Heimat« bedeute.1 Als Heidegger 1928 seine Professur in Freiburg antrat, kümmerte er sich persönlich darum, dass die Universitätsbibliothek die deutsche Dostoevskij-Ausgabe des Piper Verlags komplett anschaffte. Auf seinem Schreibtisch stellte er sogar ein Porträt des russischen Schriftstellers auf.2 In krassem Gegensatz zu Heideggers Dostoevskij-Begeisterung steht seine radikale Ablehnung der Oktoberrevolution und des Bolschewismus. In den Schwarzen Heften begründete er diese Haltung mit der fehlenden Verwurzelung des Sowjetsystems im russischen Volk: Der »Bolschewismus« hat nichts zu tun mit dem Asiatischen und noch weniger mit dem Slaventum der Russen – also mit dem arischen Grundwesen – er entspringt der abendlän-
1
»Mein liebes Seelchen!« Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfride, München 2005, S. 106.
2
U. Schmid: »Heidegger and Dostoevsky. Philosophy and Politics«, S. 37f.
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disch-westlichen neuzeitlichen rationalen Metaphysik –. Wie, wenn der Bolschewismus das Russentum zerstörte, wie, wenn die Gleichsetzung von Russentum und Bolschewismus diese Zerstörung vollends sicherstellte? (GA 96, S. 147)
Und noch deutlicher wurde Heidegger in seiner Schrift Überwindung der Metaphysik (1938/39): Ob wir das hinreichend erkennen, dass alles Grauenhafte im Amerikanismus liegt und gar nicht im Russentum? (GA 67, S. 150; GA 16, S. 421)
Heidegger ging so weit, dass er die öffentliche Ankündigung des Hitler-Stalin Paktes am 23. August 1939 mit einem Faustschlag auf den Tisch begrüßte und die Vereinigung der Geistestraditionen von Goethe und Dostoevskij willkommen hieß.3 In seiner Geschichte des Seyns, die er 1940 abschloss, stellte Heidegger eine enge Verbindung zwischen Deutschland und Russland her: Die Geschichte der Erde der Zukunft ist aufbehalten im noch nicht zu sich befreiten Wesen des Russentums. Die Geschichte der Welt ist aufgetragen der Besinnung der Deutschen. (GA 69, S. 108)
Heidegger forderte, Deutschland müsse »Russland […] zu seinem Wesen […] befreien und ihm die Weite seiner Erleidenskraft eröffnen zur Wesentlichkeit einer wesentlichen Rettung der Erde.« (GA 69, S. 119) Im Russentum finde »die vollendete Metaphysik die gemäße Stätte ihrer Rückgeburt.« (GA 96, 276) Diese Sätze waren noch unter dem Eindruck der militärisch erfolgreichen Annäherung der beiden Völker im Hitler-Stalin-Pakt geschrieben. Deshalb hielt Heidegger während des Kriegs auch Widerrede gegen die Schreckvision »Die Russen kommen doch und dann ist’s zu Ende«. (GA 97, 53) Unmittelbar nach der deutschen Niederlage verfasste Heidegger ein »Abendgespräch in einem Kriegsgefangenenlager in Russland zwischen einem Jüngeren und einem Älteren«. Darin dreht sich das Mentorverhältnis um: Nun ist es Russland, das dem deutschen »Volk der Dichter und Denker« dazu verhilft, zu sich selbst zu kommen. (GA 77, 203-240) Ein weiterer Aspekt, der Heidegger in die Nähe der russischen Kultur rückt, ist die Ablehnung des Neukantianismus. Zwar hat sich Heidegger intensiv mit Kant beschäftigt und ihn gegen die Vereinnahmung durch den Neukantianismus in Schutz genommen. Er hebt aber bei Kant jene Elemente hervor, die zu seinem eigenen Denken passen. Es geht Heidegger nicht um die Benennung der Bedingungen der Möglichkeit des menschlichen Erkennens, sondern um die Ergründung des
3
J. Grondin: Hans-Georg Gadamer, S. 237.
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Seins in all seinen Erscheinungsformen. Eine ähnliche Haltung lässt sich in der russischen Geistesgeschichte feststellen. Zwar wird immer wieder darauf hingewiesen, dass Kant zwar einen wichtigen Beitrag zur Gnoseologie geleistet habe. Die wichtigsten Fragen zur menschlichen Existenz liegen aber, so die meisten russischen Denker, außerhalb von Kants Gesichtskreis. Letztlich wurde der Name »Kant« in der russischen Philosophie des frühen 20. Jahrhunderts zu einem roten Tuch, weil er metonymisch für den als rationalistisch kritisierten Neukantianismus stand. Heidegger war wegen seiner offen antimarxistischen Haltung in der Sowjetunion weitgehend tabu. Immerhin konnte Piama Gajdenko (geb. 1934) auf dem Höhepunkt von Chruščevs Tauwetter im Jahr 1962 an der Moskauer Universität eine Dissertation über Heideggers Geschichtsphilosophie verteidigen und einen Artikel in der renommierten Fachzeitschrift Fragen der Philosophie veröffentlichen. Einem breiteren Publikum brachte sie Heidegger näher in ihrem Buch Der Existenzialismus und das Problem der Kultur. Eine Kritik der Philosophie Martin Heideggers (1963).4 Gajdenko stand in der Tradition der russischen Religionsphilosophie und maskierte ihre »Kritik« in den etablierten Kategorien des marxistischen Referenzsystems. Sie bezeichnete Heidegger als Erben der »bürgerlichen Romantik«.5 Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus änderte Gajdenko ihre Bewertung von Heidegger radikal und widmete ihm in einem Buch über Zeitlichkeit ein ganzes Kapitel.6 Einen ersten Stoß versetzte Viktor Molčanov (geb. 1948) der bereits brüchig gewordenen monolithischen Sowjetideologie mit seinem Buch Zeit und Bewusstsein. Eine Kritik der phänomenologischen Philosophie aus dem Jahr 1988. In drei Kapiteln stellte Molčanov dem russischen Publikum die Grundlagen der Phänomenologie dar. Das letzte Kapitel war ausschließlich Heidegger gewidmet und zitierte auch ausführlich aus Sein und Zeit.7 Schon zwei Jahre zuvor hatte Aleksandr Dobrochotov (geb. 1950) in seinem Buch Die Kategorie des Seins in der klassischen westeuropäischen Philosophie einen Überblick über die Seinsphilosophie bei Sokrates, Platon, Aristoteles, Plotin, Kant, Fichte, Schelling und Hegel gegeben. Dobrochotov stützte sich hier stark auf Heideggers Interpretationen der griechischen Philosophie und spielte auch Heideggers Deutungskategorien in seine Argumentation ein.8
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P. P. Gajdenko: Ėkzistencializm i problema kul’tury.
5
P.V. Alekseev: Filosofy Rossii XIX-XX stoletij, S. 183.
6
P. P. Gajdenko: Vremja, dlitel’nost’, večnost’, S. 283-413.
7
M. Dennes: Husserl – Heidegger, S. 254.
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I. Martov: »Poststrukturalizm – ėto v osnovnom bredjatina.«
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Valerij Podoroga (geb. 1946) veröffentlichte 1993 sein Buch Die Metaphysik der Landschaft. Kommunikative Strategien in der philosophischen Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts. Darin analysierte er neben Kierkegaard, Nietzsche und Adorno auch die späte Geophilosophie Martin Heideggers.9 Zu Beginn der neunziger Jahre erschienen erste Texte von Heidegger in der Übersetzung des Germanisten Alexander Michajlov, namentlich Der Ursprung des Kunstwerkes (1935-36).10 Die erste integrale Übersetzung von Heideggers Hauptwerk legte allerdings erst Vladimir Bibichin (1938-2004) im Jahr 1997 vor. Zeit seines Lebens bewegte sich Bibichin an den Rändern des offiziellen akademischen Betriebs. Seinen Lebensunterhalt verdiente er als langjähriger persönlicher Sekretär des Philosophen Aleksej Losev. Bibichin setzte sich für eine Erneuerung des religiösen Denkens in Russland ein und kritisierte im Anschluss an Heidegger die Entfesselung der Technik in einer globalisierten Welt.11 Zu Beginn der neunziger Jahre hielt Bibichin an der Moskauer Universität eine viel beachtete Vorlesung über den frühen Heidegger und löste damit eine regelrechte Heidegger-Begeisterung unter russischen Philosophen aus. Aus Bibichins Feder stammt auch die bekannteste Einführung in Heideggers Leben und Werk. Bibichin hebt einen Aspekt besonders hervor: Heideggers »beständiger und im Grunde genommen einziger Gedanke« laute: »Weshalb sieht der Mensch all das Viele, das er sieht?« Deshalb beschäftige ihn nicht das zentrale Problem von Nikolaj Černyševskij, Lev Tolstoj oder Vladimir Lenin: »Was tun?« Ihn interessiere vielmehr die Frage: »Wie beginnt man zu denken?«.12 Die vielleicht originellste und innovativste russische Heidegger-Deutung stammt von Aleksej Černjakov (1955-2010). Er versuchte, den Unterschied zwischen dem Seienden und dem Sein, der ja gerade in der Zeit besteht, sowohl durch mathematische als auch durch theologische Argumente zu begründen. Er wandte die Seinsfrage direkt auf die Zeit selbst an und entwarf eine »Ontologie der Zeit«. Dabei behandelte er posttotalitäre Problemlagen wie »Gott ohne Sein«, das »Ich auf der Jagd nach sich selbst« oder das »Wesen des Verzweifelns an der eigenen Existenz«.13 Der berühmteste und gleichzeitig auch berüchtigtste russische Denker, der sich eingehend mit Heidegger auseinandergesetzt hat, ist Aleksandr Dugin (geb. 1962). Seine philosophischen Wurzeln liegen in der Esoterik-Szene der späten Sowjetzeit. 1992 gründete er gemeinsam mit dem Skandalschriftsteller Eduard Limonov (geb.
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V. Podoroga: Metafizika landšafta.
10 M. Chajdegger: Izbrannye raboty. 11 V. Bibichin: Der andere Anfang. 12 V. Bibichin: Delo Chajdeggera, S. 166-171. 13 A. Chernyakov: The Ontology of Time.
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1943) die Nationalbolschewistische Partei, die als provozierendes Emblem die Naziflagge mit Hammer und Sichel statt des Hakenkreuzes führt. Seit der Jahrtausendwende engagiert sich Dugin für die Erneuerung der eurasischen Bewegung, die er als eigenes zivilisatorisches Projekt gegen den Westen in Anschlag bringt. Der Neo-Eurasismus denkt in geopolitischen Großräumen und stellt der »atlantischen« Wasserkultur mit ihren Handel treibenden Republiken eine »eurasische« Landkultur entgegen, in der die Menschen verwurzelt sind. Im Jahr 2008 bündelte Dugin seine Ansichten zu einer philosophischen Synthese. Die »Vierte Politische Theorie« hebt sich von den drei klassischen politischen Systemen der Moderne ab. Liberalismus, Sozialismus und Faschismus sind aus Dugins Sicht in ihrer reinen Ausprägung an ein Ende gekommen. Den Faschismus habe man »in seiner Jugend erschlagen«, der Sozialismus sei »an Altersschwäche eingegangen«, der Liberalismus habe sich selbst aufgelöst und werde in der Gegenwart als »globale Marktgesellschaft« wiedergeboren.14 Mit seiner »Vierten Politischen Theorie« will Dugin die traditionellen gesellschaftspolitischen Ideologien überwinden und einen neuen Gesamtentwurf vorlegen. Das historische Subjekt sei im Liberalismus das »Individuum«, im Sozialismus die »Klasse« und im Faschismus die »Rasse«. Dugin schlägt nun als historisches Subjekt für seine Theorie das heideggersche »Dasein« vor.15 In diesem emphatischen Begriff vereinigen sich alle Aspekte des menschlichen Seins, das sich um sich selbst sorgt. Dugin stimmt Heidegger in der Kritik der modernen Industriegesellschaft zu, die in ihrer Geschäftigkeit in eine prekäre Seinsvergessenheit geraten sei.16 Im Jahr 2014 hat Dugin seine Arbeiten zu Heidegger in einem umfangreichen Band mit dem Titel Heidegger. Der letzte Gott zusammengefasst. Der Titel nimmt Bezug auf Kapitel VII von Heideggers Beiträgen zur Philosophie aus den Jahren 1936-1938, die erst postum veröffentlicht wurden. Dugin betrachtet Heidegger als den Totengräber der westlichen Philosophietradition, der in der korrekten Diagnose des Untergangs selbst untergeht. Wie auch in anderen Fällen geht Dugin in seiner Heidegger-Deutung sehr eklektisch vor. Er setzt ihn vor allem als Stichwortgeber für seine eigene »Vierte Politische Theorie« ein, die einen »anderen Anfang« des philosophischen Denkens jenseits westlicher Rationalität markieren soll.17 Bewusst blendet Dugin dabei Heideggers politische Verirrungen aus und verwendet Heideg-
14 A. Dugin: Die Vierte Politische Theorie, S. 17. 15 Ebd., S. 36-41. 16 U. Schmid: Technologien der Seele, S. 216f. 17 J. Love: »The Post-Soviet Heidegger«, S. 255.
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gers Daseinsphilosophie als Grundlage für sein eigenes antiliberales Gesellschaftsprojekt.18 Dugins politische Vereinnahmung Heideggers überschattet oft die differenzierte Rezeptionsgeschichte des Freiburger Philosophen in Russland. Dabei gibt es in den Entwürfen der russischen Denker gerade zu Heideggers zentralen Analysekategorien »Sein«, »Sprache«, »Volk« und »Gott« zahlreiche Berührungspunkte. Sein Zu Beginn des 20. Jahrhunderts spielte sich in Russland eine heftige Debatte über die philosophischen Grundlagen der menschlichen Existenz ab. Der Marxismus hatte eben erst Einzug gehalten in die Überzeugungen der akademischen Jugend. Zahlreiche engagierte Studenten begeisterten sich für die marxistische Lehre von der ökonomischen Basis, die alle gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Erscheinungen des Überbaus determiniere. In den Jahren 1895 bis 1899 arbeitete etwa Petr Struve (1870-1944) intensiv mit Lenin zusammen und formulierte 1898 sogar die wichtigsten Thesen für den ersten Kongress der sozialdemokratischen Arbeiterpartei, aus der später die Bolschewiki hervorgingen. Allerdings kam es bald zum Bruch. Struve sagte sich von der materialistischen Geschichtsauffassung los und betonte die Wichtigkeit einer Konzeptualisierung der Wirklichkeit, die auch metaphysische Werte berücksichtige. Struve war allerdings nur der auffälligste Fall eines Denkers, der eine Wende vom Materialismus zum Idealismus vollzog. Sein enger Freund Semen Frank (1877-1950) hatte ebenfalls nach einer marxistischen Phase die Wichtigkeit eines göttlichen Prinzips betont, das die Welt mit einem »unerreichbaren« Sinn ausstatte. Auch Sergej Bulgakov (1871-1944), der zunächst als »christlicher Sozialist« Einsitz in die Duma genommen hatte und sich 1918 zum Priester weihen ließ, versuchte in seiner frühen Philosophie der Ökonomie (1912) eine Synthese von marxistischer Analyse und religiöser Sinnstiftung zu erreichen. Vor der Oktoberrevolution forderten zahlreiche russische Philosophen also von der gesellschaftlichen Wirklichkeit radikal mehr ein als nur die Befriedigung der ökonomischen Bedürfnisse der Menschen. Die Realität sollte mit Sein gesättigt sein. Die Machtergreifung der Bolschewiki änderte freilich alles. Der Lebenssinn reduzierte sich in der offiziellen Ideologie auf den Aufbau des Sozialismus. Neben dieser titanischen Aufgabe verblassten alle alternativen biographischen Gestaltungsmöglichkeiten. Umso energischer trieben die russischen Denker, die mit wenigen Ausnahmen ins Exil gegangen waren, ihre eigenen intellektuellen Projekte voran. Der von Heidegger formulierte Gedanke, dass das Sein sich vom Seienden abhebe, bot den
18 G. Peni: »Aleksandr Dugin, otkrytoe i odnovremenno skrytoe chajdeggerianstvo«.
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Vertriebenen bisweilen Trost. Nicht aufheitern ließ sich allerdings der Philosoph und Literaturkritiker Lev Šestov (1866-1938). Er warnte nicht nur immer wieder davor, an ein irdisches Glück zu glauben. Er ging sogar noch einen Schritt weiter und hielt alle für Dummköpfe, die sich selbst als glücklich bezeichneten. Seine eigene Lebensaufgabe erblickte er darin, den Geltungsanspruch der wissenschaftlich begründeten Rationalität radikal in Frage zu stellen. Gegen dieses arrogante Denken, das die Wirklichkeit kurzerhand mit dem identifiziert, was der Fall ist, brachte er eine mystische Weltschau in Anschlag, der er höhere Wahrheitschancen zutraute. Die Gegenüberstellung von Logik und Intuition fasste er in die Metapher »Athen« vs. »Jerusalem«. Dem Irrweg des abendländischen logischen Argumentierens stellte er die jüdische Tradition der Kabbala und des Alten Testaments gegenüber. Exemplarisch zeigt sich dieser Gegensatz im Verhältnis von Sokrates und Hiob zum Tod: Während Sokrates in der Apologie ein ganzes metaphysisches Sinnsystem entwirft und schließlich seinen Selbstmord mit einem philosophischen Kalkül rechtfertigt, steht Hiob fassungslos vor der existenziellen Erfahrung des Todes und kann nur die absolute Inadäquatheit menschlicher sprachlicher Kategorien angesichts seines Leids feststellen. Mit seiner antirationalistischen Position übte Šestov, der seit 1921 in Paris lebte, auch einen nachhaltigen Einfluss auf Georges Bataille und Albert Camus aus.19 Es war Edmund Husserl selbst, der Lev Šestov zunächst die Lektüre von Sein und Zeit empfahl und im November 1928 persönlich mit Heidegger bekannt machte. Heideggers philosophischer Stil erschien Šestov »schwierig«, aber er beteuerte, dass ihm die »aufgewandte Zeit und Arbeit« nicht schade sei.20 Šestov schrieb später, dass er erst durch eine intensive Lektüre von Sören Kierkegaard einen Zugang zu Heidegger gefunden habe.21 Obwohl Heidegger noch zwei Briefe an Šestov schrieb, in denen er sich für die Vorbereitung von Vorträgen in Paris bedankte, kam es zu keinem engeren Kontakt zwischen den beiden Philosophen. Nikolaj Berdjaev (1874-1948) reagierte im Jahr 1930 auf die Publikation von Heideggers Sein und Zeit.22 In seiner eigenen Zeitschrift Der Weg, die in Paris erschien, gestand er Heidegger den Rang des bemerkenswertesten zeitgenössischen Philosophen in Deutschland zu, der in der Tradition der großen deutschen Denker stehe. Seine Philosophie sei aber düster und übertreffe darin sogar Schopenhauers pessimistische Weltanschauung, die zahlreiche Tröstungen bereithalte.23
19 U. Schmid: »Das Ich und die Welt. Georges Bataille und die russische Philosophie«. 20 N. Baranova-Šestova: Žizn’ L’va Šestova, S. 17. 21 L. Šestov: Kierkegard i ėkzistencial’naja filosofija, S. 240. 22 G. Pattison: »Eschatologija i ontologija: Chajdegger i Berdjaev«. 23 N. Berdjaev: »O novejšich tečenijach v nemeckoj filosofii. Gejdegger.«, S. 120.
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In seiner philosophischen Autobiographie aus dem Jahr 1940 schrieb Berdjaev über den Unterschied zwischen sich und Heidegger: Die grundlegende metaphysische Idee, zu der ich am Ende meines philosophischen Weges […] gelangte, ist die Idee des Primats der Freiheit über dem Sein. Das bedeutet auch den Primat des Geistes, der nicht Sein, sondern Freiheit ist. Das Sein ist gewissermaßen die erstarrte Freiheit, die zur Statik gewordene Freiheit. Der Primat des Seins über die Freiheit führt zum Determinismus und zur Verneinung der Freiheit.24
In der Tat hatte Berdjaev fast sein ganzes philosophisches Schaffen dem Thema der Freiheit gewidmet. Allerdings verstand Berdjaev Freiheit nicht im Sinn des Liberalismus, sondern er forderte vom Menschen eine religiös fundierte schöpferische Tätigkeit. Deswegen war Berdjaev durchaus anfällig für die totalitären Gesellschaftsprojekte des 20. Jahrhunderts. Er zeigte eine gewisse Faszination für autoritäre Führungsgestalten wie Lenin oder Mussolini. Nach dem Zweiten Weltkrieg versöhnte sich Berdjaev sogar mit dem »sowjetischen Vaterland« und deutete den Stalinismus zu einer von ihm ersehnten religiösen Ganzheitsvision um.25 Mit besonderer Sorgfalt integrierte Semen Frank (1877-1950) Heideggers Philosophie in sein eigenes Werk. Er machte in den dreißiger Jahren bei der Lektüre von Sein und Zeit eine Reihe von Notizen. Er erblickte Heideggers wichtigsten Impetus »im Erkennen der verborgenen Existenz, der Urprinzipien des Seins«. Heidegger wolle von der »Erkenntnis des Seienden zur Erkenntnis des Seins« voranschreiten. Frank vermerkte anerkennend: »Er hat etwas zu sagen.« Allerdings zeigte sich Frank zunächst nicht überzeugt von Heideggers Ansatz. Ihm fehlte in Sein und Zeit vor allem die Liebe. So erschien ihm Heideggers Denken als »eine Philosophie der äußersten Einsamkeit und damit der äußersten Verzweiflung«.26 Allerdings änderte Frank kurz vor seinem Tod seine Meinung über Heidegger radikal, nachdem er die Essays in den Holzwegen gelesen hatte. Er schrieb an den befreundeten Psychiater Ludwig Binswanger (1881-1966): Sie wissen, was mich bei Heidegger abstieß: Seine Vorstellung über die Abgeschlossenheit der Seele, das »Existieren« in einem luftleeren Raum – das direkte Gegenteil meiner metaphysischen Vorstellung vom Leben. Und trotzdem liegt der Sinn des neuen Buchs darin, dass Heidegger sich aus dieser Dunkelkammer befreit und ins Freie findet, den Weg zum wahren
24 N. Berdjaev: Samopoznanie, S.101. 25 S. Pocai: Das deutsche und das russische Sonderbewusstsein, S. 252, 286. 26 N. Plotnikov: »S.L. Frank o M. Chajdeggere«.
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Sein. Dieser Weg war für die gesamte deutsche Philosophie der letzten hundert Jahre verborgen.27
In seinem Hauptwerk Das Unergründliche (1939) legte Frank eine »ontologische Einführung in die Philosophie der Religion« vor. Er zitierte zwar Heidegger nicht explizit, aber der Aufbau des Buchs und die verwendete Terminologie legen ein deutliches Zeugnis von Franks Beschäftigung mit Heideggers Philosophie ab.28 So bezeichnet Frank das »Unergründliche« als »unbedingtes Sein«. Allerdings erweitert er Heideggers Seinsanalyse um die Kategorie des persönlichen Gottes und beschreibt die Paradoxie des Lebens als ein »Ich-mit-Gott-sein«. Frank schrieb sein Buch ursprünglich auf Deutsch, erweiterte es aber später in einer russischen Fassung um fast ein Drittel.29 Nach Franks Tod bemühte sich Heidegger auf Bitten Ludwig Binswangers sogar um eine deutsche Publikation von Franks Buch im Günter Neske-Verlag. Günter Neske hatte in den fünfziger Jahren zahlreiche Werke von Martin Heidegger veröffentlicht. Allerdings zerschlug sich der Plan, Das Unergründliche auf Deutsch herauszubringen, wegen fehlender Druckkostenzuschüsse.30 In seinem letzten philosophischen Werk Die Realität und der Mensch (1949) übernahm Frank einige zentrale Gedanken von Martin Heidegger, darunter die Einsicht, dass das Sein nicht auf die Erkenntnis des Seins angewiesen sei: Die Realität […] konstituiert zuallererst den Begriff des objektiven Seins, des In-sich-Seins [bytie-v-sebe], unabhängig von dem auf sie gerichteten erkennenden Blick.31
Damit wird deutlich, dass Semen Frank in seinem Spätwerk die heideggersche Daseinsanalyse mit seinen eigenen religionsphilosophischen Spekulationen vereint.
27 Brief von Semen L. Frank an Ludwig Binswanger vom 30. August 1950 In: Logos 3 (1992), 267–268. 28 P. Ehlen: Russische Religionsphilosophie im 20. Jahrhundert, S. 135. 29 A. Haardt: »Einleitung«, S. 12. 30 A. Cygankov/T. Obolevič: »Istorija sem’i i tvorčestva S.L. Franka v perepiske L. Binsvangera i T.S. Frank«, S. 142. 31 S. Frank: Real’nost i čelovek, S. 365.
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Sprache Die russische Sprachphilosophie speist sich aus zwei Traditionen, der Grammatiktheorie und der theologischen Dogmatik. Der einflussreichste Sprachtheoretiker war Aleksandr Potebnja (1835-1891), der beim Wort drei Seiten unterschied: lautliche Hülle, abstrakte Bedeutung und bildhafte Vorstellung. Dabei ging es Potebnia nicht so sehr um eine rein semiotische Beschreibung des sprachlichen Zeichens. Ganz in der romantischen Tradition von Wilhelm von Humboldt verwies er auf die weltstiftende Funktion des Wortes:32 »Indem der Mensch Wörter gebraucht, schafft er eine neue Welt aus dem Chaos der Eindrücke.«33 Die wichtigste theologische Zeichenspekulation in Russland war die sogenannte Namensverehrung (»imjaslavie«), die zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch oft philosophisch ausgestaltet wurde.34 Ihren Anfang nahm diese Bewegung mit dem Buch In den Bergen des Kaukasus (1907) des Mönchs Ilarion. Im Zentrum dieses Texts steht eine mystische Erfahrung, die durch die unablässige Aussprache des Namens Jesu Christi zustande kommt. Dabei ist die Nennung des Namens kein semiotischer, sondern ein ontologischer Akt: »Im Göttlichen Namen ist Gott selbst anwesend – mit Seinem ganzen Wesen und mit all Seinen unendlichen Eigenschaften.«35 Die Namensverehrung stieß auf den erbitterten Widerstand der offiziellen orthodoxen Kirche, in der diese Bewegung als Häresie verurteilt wurde. 1913 wurden mehrere Hundert Mönche unter dem Vorwurf der »Namensvergötzung« aus dem Kloster Athos vertrieben und in verschiedenen russischen Klöstern angesiedelt.36 Die Namensverehrung hat trotz ihrer kirchlichen Verdammung eine wichtige Spur in der russischen Sprachphilosophie hinterlassen. Aleksej Losev (1893-1988) zog weitreichende ontologische Konsequenzen aus der Essenz des Namens. Für ihn war Wirklichkeit nicht einfach die Gegebenheit der Realität, sondern die »unzerstörbare Einheit von Idee und Materie«. Daraus ergibt sich ein fast magisches Sprachkonzept. Die Bezeichnung eines Gegenstandes, sein Name, ist nicht nur ein Etikett, mit dem man auf ein Ding verweisen kann, sondern der Name konstituiert die »Erscheinung des Dings«, sogar das »Aufscheinen« des Dings.37 Explizit wie-
32 B. Gasparov: »From the Romantic Past to the Modern World«, S. 96. 33 A. Potebnja: Ėstetika i poėtika, S. 302. 34 M. Hagemeister: »Imjaslavie – Imjadejstvie.« 35 S. Ilarion (Domračev): Na gorach Kavkaza. 36 Zabytye stranicy russkogo imjaslavija. Sbornik dokumentov i publikacij po afonskim sobytijam 1910-1913 gg. i dviženiju imjaslavija v 1910-1918 gg. Moskva 2001. Georgij Florovskij: Puti russkogo bogoslovija. Pariž 1937, 571 f. 37 A. Losev: »Vešč i imja«, S. 168-245, 173, 211.
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derholt Losev die Position der Namensverehrung in einem Brief vom 30. Januar 1923 an den Religionsphilosophen Pavel Florenskij (1882-1937): »Die göttliche Wesensenergie ist untrennbar von Gott und sie ist Gott selbst … Der Name Gottes ist Gott selbst, aber Gott selbst ist kein Name.«38 Auch Pavel Florenskij beschäftigte sich in den zwanziger Jahren intensiv mit dem Verhältnis von Sein und Sprache. In seinem Aufsatz »Die Zauberkraft des Wortes« stellt Florenski der herkömmlichen Identifikation des Wortes mit dem Sinn die Identifikation des Wortes mit der Erscheinung gegenüber. Das Wort ist laut Florenski eine Art Amphibie, die sowohl in der inneren, subjektiven wie auch der äußeren, objektiven Welt lebt.39 In einem ausführlichen Traktat mit dem Titel »Die Namensverehrung als philosophische Voraussetzung« erscheint das Wort als wichtigstes ontologisches Bindeglied zwischen dem Ich und der Außenwelt. Dabei ist Wort nicht einfach eine Kategorie der Semiotik, sondern der Weltkonstitution überhaupt: Aufgrund seiner psychophysiologischen Natur ist das Wort nicht Schall und Rauch, sondern verbindet uns von Angesicht zu Angesicht mit der Wirklichkeit und kann folglich – indem es in Kontakt mit seinem Gegenstand tritt – mit gleicher Berechtigung auf die Offenbarung des Gegenstands in uns als auch auf unsere Offenbarung im und vor dem Gegenstand bezogen werden.40
Im Buch Marxismus und Sprachphilosophie (1929), das aus den Diskussionen des philosophischen Zirkels um Michail Bachtin (1895-1975) entstanden ist, kommt dem Wort eine prominente Funktion als Trägerelement von Ideologien zu: Auch wenn die Realität des Worts wie bei jedem Zeichen zwischen Individuen angeordnet ist, so wird das Wort gleichzeitig mit den Mitteln des individuellen Organismus hervorgebracht ohne Hilfe irgendwelcher Instrumente oder nicht-körperlichen Materials. Dadurch wurde das Wort zum Zeichenmaterial des inneren Lebens – des Bewusstseins (innere Rede). Denn das Bewusstsein konnte sich nur entwickeln, indem es über ein elastisches und körperlich-expressives Material verfügte. Ein solches war das Wort.41
Bachtins eigenes Denken weist einige typologische und terminologische Ähnlichkeiten zu Heideggers Philosophie auf. So prägte der frühe Bachtin den Ausdruck des »Ereignisses des Daseins« (sobytie bytija), das wörtlich als »Mit-sein des
38 L.G. Gogotišvili: »Religiozno-filosofskij status jazyka«, S. 910. 39 P. Florenskij: »Magičnost’ slova«, S. 230, 240. 40 P. Florenskij: »Imeslavie kak filosofskaja predposylka«, S. 252. 41 V.N. Vološinov: Marksizm i filosofija jazyka, S. 19.
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Seins« übersetzt werden kann. Ähnliches gilt für den Begriff der »Außerhalbbefindlichkeit« (vnenachodimost’), die sowohl den Aspekt des Auffindens nach dem Akt der Geworfenheit als auch die semantische Struktur des Kompositums »Existenz« (Herausstehen) aufweist. Allerdings scheint Heidegger dem russischen Denker letztlich fremd geblieben zu sein. Das hat wohl damit zu tun, dass die zwei zentralen Bachtin-Themen der Dialogizität und des Karnevals bei Heidegger nicht anschlussfähig waren. Bereits in Sein und Zeit hatte Heidegger das Dasein mit dem Schweigen verknüpft und menschliche Gemeinschaft gerade nicht mit dem Dialog verbunden: Um schweigen zu können, muss das Dasein etwas zu sagen haben, das heißt über eine eigentliche und reiche Erschlossenheit seiner selbst verfügen. Dann macht Verschwiegenheit offenbar und schlägt das »Gerede« nieder. Verschwiegenheit artikuliert als Modus des Redens die Verständlichkeit des Daseins so ursprünglich, dass ihr das echte Hören-können und durchsichtige Miteinandersein entstammt.42
Für Heidegger war ein solch gemeinsames Schweigen nicht einfach eine theoretische Forderung, sondern philosophische Praxis. Während der Treffen mit den Schwarzwälder Bauern in seiner Hütte wurde nicht gesprochen. Wenn ich zur Zeit der Arbeitspause abends mit den Bauern auf der Ofenbank sitze oder am Tisch im Herrgottswinkel, dann reden wir meist gar nicht. Wir rauchen schweigend unsere Pfeifen. (GA 13, 10)
Sogar weitreichende Entscheidungen wie die Annahme des Rufs an die Berliner Universität wurden nicht besprochen, sondern beschwiegen. Zumindest in Heideggers eigener Darstellung entschied ein kaum merkliches Kopfschütteln eines Bauern über die Ablehnung der traditionellen Krönung einer deutschen Philosophen-Laufbahn. Solch schweigende Konzentration auf das Dasein war Bachtin fremd.43 In einem Brief vom 6. Juli 1962 schrieb Michail Bachtin an Vadim Kožinov: Heidegger selbst kenne ich leider nur wenig. Von den Schülern Husserls (den ich enorm schätze und der auf mich einen prägenden Einfluss ausgeübt hat), war mir Max Scheler mit seinem Personalismus am nächsten. Heidegger blieb fast ganz außerhalb des Feldes meiner philosophischen Sympathien.44
42 M. Heidegger: Sein und Zeit, S. 165. 43 D. Patterson: »Bakthin and Heidegger«, S. 128. 44 M. Bachtin: Sobranie sočinenij, S. 693.
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Die grammatikalischen und theologischen Sprachkonzepte aus der russischen Tradition bewegen sich in großer Nähe zu Heideggers Sprachauffassung, die sich wohl am deutlichsten in seinen Hölderlin-Interpretationen äußert. Hölderlin nimmt eine eminente Stellung in Heideggers Denken ein: Der Dichter bringt weit Wesentlicheres hervor als nur Literatur. Im berühmten Spiegel-Interview aus dem Jahr 1966 hob Heidegger die besondere Position von Hölderlin für sein Denken hervor: Ich halte Hölderlin nicht für irgendeinen Dichter, dessen Werk die Literaturhistoriker neben vielen anderen auch zum Thema machen. Hölderlin ist für mich der Dichter, der in die Zukunft weist, der den Gott erwartet und der somit nicht nur ein Gegenstand der HölderlinForschung in den literaturhistorischen Vorstellungen bleiben darf.45
Im Zentrum von Heideggers Überlegungen steht Hölderlins Gedicht »Andenken«. Die berühmte letzte Zeile lautet: »Was bleibet aber, stiften die Dichter.«46 Heidegger hat diesen Text zum Anlass genommen, »Dichtung als worthafte Stiftung des Seins« zu bezeichnen.47 Von hier führt eine direkte Linie zum berühmten Brief über den Humanismus, in dem die Sprache als »des Seins« erscheint: In ihrer Behausung wohnt der Mensch. Die Denkenden und Dichtenden sind die Wächter dieser Behausung. Ihr Wachen ist das Vollbringen der Offenbarkeit des Seins, insofern sie diese durch ihr Sagen zur Sprache bringen und in der Sprache aufbewahren.48
Heideggers Sprachkonzeption ist von russischer Seite allerdings auch heftig kritisiert worden. So beklagte sich bereits Nikolaj Berdjaev über die »unerträgliche Terminologie« Heideggers.49 Alexandre Koyré (1892-1964) hob denselben Punkt hervor, der bereits für Bachtin problematisch war: die mangelnde Dialogizität von Heideggers Sprachphilosophie. Wahrheit ist bei Heidegger immer mit dem Sein verbunden und konstituiert sich nicht im Dialog mit anderen. Heidegger scheitert aus Koyrés Sicht, weil er als wahrheitsfähige Sprachformen des Seins nur das Schweigen oder die Dichtung anerkenne. Damit reiße er aber den Menschen aus der Geschichte heraus, die nur als Dialog verschiedener Positionen denkbar sei.50 Eine pikante Ironie wollte es,
45 »Nur noch ein Gott kann uns retten«. Spiegel-Gespräch mit Martin Heidegger am 23. September 1966. In: Der Spiegel 23 (1976), 193-219, S. 214. 46 C. Jamme: »Hölderlin und das Problem der Metaphysik«. 47 M. Heidegger: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, S. 148. 48 M. Heidegger: Über den Humanismus, S. 5. 49 N. Berdjaev: Samopoznanie, S. 104. 50 A. Koyré: »L’évolution de Heidegger«, S. 276.
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dass es auch im wirklichen Leben zu keinem Zwiegespräch zwischen Koyré und Heidegger kam. Als Koyré Heidegger 1929 zu einem Vortrag nach Paris einlud, kam Heidegger nicht. Als Heidegger 1955 tatsächlich in Paris auftrat, kam Koyré nicht – er hatte Heideggers Anhängerschaft zu den Nationalsozialisten bereits 1933 kritisiert.51 Volk Die Deutschen waren für Heidegger das einzige »geschichtliche« und »metaphysische« Volk, das in der Lage wäre, sich der technologischen Selbstvergessenheit der Moderne zu entziehen. Allerdings erschien die Gefahr der »Verwestlichung« Deutschlands um so bedrohlicher, als Heidegger Deutschland in einer »Zangenstellung« zwischen einem blind fortschrittsgläubigen Amerika einerseits und einem technikbegeisterten, durch den Bolschewismus selbstentfremdeten Russland andererseits verortete (GA 16, S. 40f., 48f.) Darüber hinaus kritisierte Heidegger, dass sich das Leben der »Normalmenschen« in den beiden Supermächten jenseits der seinsverbundenen Kategorien des Bodens und des Volkes vollzog. Heideggers Parteinahme für den Nationalsozialismus beruhte wesentlich auf seiner Hoffnung, dass das deutsche Volk noch zu dem werden könne, was es eigentlich sei. Die größte Gefahr erblickte Heidegger darin, dass sich Deutschland wie die anglo-romanen Zivilisationen in der reinen Gegenwart auflösen würde. Karl Löwith berichtet in seiner Autobiographie, wie er Heidegger 1936 in Italien traf. Dort fragte er ihn, ob seine Parteinahme für die Nationalsozialisten in seiner Philosophie begründet sei. Heidegger bestätigte diese Vermutung und wies darauf hin, dass seine eigene Auffassung von »Geschichtlichkeit« die Grundlage für sein politisches Engagement darstelle.52 Und in seiner Hölderlinvorlesung aus dem Jahr 1934/1935 dozierte Heidegger: Die Wahrheit eines Volkes ist jene Offenbarkeit des Seins, aus der heraus das Volk weiß, was es geschichtlich will, indem es sich will, es selbst sein will. (GA 39, S. 144, vgl. auch 284)
Für Heidegger stand außer Frage, dass das deutsche Volk nicht das war, was es eigentlich sein müsste, nämlich der wahre Erbe der geistigen Kultur des Griechentums. Schon am Ende von Sein und Zeit hatte Heidegger den Begriff des Volkes eingeführt, als »Geschick« oder als »Geschehen der Gemeinschaft«.53 Allerdings gelang es Heidegger nicht recht, den Subjektcharakter des Volkes oder gar die
51 P. Zambelli: »Alexandre Koyré«. 52 K. Löwith: Mein Leben in Deutschland, S. 57. 53 M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 384.
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Seinsweise des Staates adäquat zu bestimmen. »Das Schicksal unseres Volkes in seinem Staat« blieb eher eine diffuse Zukunftserwartung als ein politisches Handlungsprogramm.54 Ein weiteres Problem tut sich in Heideggers Volksbegriff auf. Was ist das »deutsche Volk« überhaupt? Der offizielle Staatsname der Weimarer Republik lautete »Deutsches Reich«. Bereits in dieser Bezeichnung zeigte sich die Inkongruenz des deutschen Staatsgebiets mit dem Machtanspruch, der mit der Reichsidee einhergeht. Daneben war die Weimarer Republik zu Beginn von einem starken Ungleichgewicht gekennzeichnet: Ein großes Territorium, das 62 Prozent des Staatsgebietes ausmachte, gehörte zum Freistaat Preußen. Heideggers Unbehagen in dieser prekären deutschen Einheit zeigt sich nicht nur in seinem Zögern, Lehrstühle in Berlin oder München anzunehmen. Er fragte sich im Jahr 1934 in einem Beitrag für eine Freiburger Studentenzeitung: »Bleiben wir in der südwestlichen Grenzmark der Verlagerung des politischen Willens der Deutschen nach dem Nordosten gewachsen?« Explizit verwies er auf das »unverbrauchte Alemannentum«, das den »nationalsozialistischen Staatswillen« befördern sollte (GA 16, S. 240). Eine ähnliche begriffliche Unschärfe lässt sich für das »russische Volk« beobachten, das vor 1917 entweder im engeren Sinn die Russisch sprechenden Großrussen oder aber die gesamte Bevölkerung des Zarenreichs bezeichnen konnte. Mit der Gründung der Sowjetunion im Jahr 1922 kam eine weitere Kategorie hinzu, die in ideologische Konkurrenz zum »Russentum« tritt: das »sowjetische Volk«.55 Auch der Zerfall des Sowjetimperiums hat das Problem nicht gelöst. Der offizielle Staatsname Russlands lautet »Russländische Föderation«. Seit einigen Jahren lässt sich beobachten, dass der Kreml eine »russländische Nation« schaffen will, die einen russischen Kulturkern aufweist.56 In Deutschland wie in Russland hat also das Volk noch nicht zu seinem eigentlichen Sein gefunden. Es gibt in beiden Fällen jedoch ein inneres Reservat, in dem das Volk bereits bei sich, und das heißt gleichzeitig: sich selbst ist. Heideggers ursprüngliche Erwartung, dass der Nationalsozialismus das deutsche Volk zu sich selbst bringen könne, ist in den Schwarzen Heften dokumentiert. Die Veröffentlichung der Schwarzen Hefte hat auch in Russland eine breite Diskussion ausgelöst. Im Wesentlichen sah man sich vor das Dilemma gestellt, ob Heideggers gesamte Philosophie durch die antisemitischen und nationalsozialistischen Passagen entwertet sei oder ob Heidegger weiterhin als Philosoph ernst genommen werden könne. Die Doyenne der russischen akademischen Philosophie, Nelja Motrošilova (geb.
54 D. Thomä: »Heidegger und der Nationalsozialismus«, S. 148f. 55 E. Oberländer (Hg.): Sowjetpatriotismus und Geschichte. 56 U. Schmid: »Die russische Kulturpolitik im Dienst der Schließung der Gesellschaft«.
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1934) schlug in einer ersten Reaktion vor, Heideggers Schriften aufzuteilen – in das seriöse philosophische Werk und die kurzsichtige politische Essayistik: Heideggers ideelles Erbe besteht nicht aus Einzelteilen, sondern zerfällt in Einzelteile, von denen der eine, d.h. der philosophisch-theoretische Teil, im großen Ganzen (bei allen Änderungen, Kehren, Wiederholungen) des herausragenden und originellen Denkers würdig ist und der andere, der sich (vorwiegend) mit gesellschaftlichen, politischen, philosophischhistorischen Fragen beschäftigt, bisweilen so aussieht, als sei er von einem anderen Menschen ausgedacht worden, der nicht selten bei seinen Erörterungen in die übelsten Stereotype und Überzeugungen (vor allem der Nazizeit) verfällt.57
Allerdings ist diese Haltung wenig kompatibel mit Heideggers Selbstdeutung. Motrošilova weist in ihrem Artikel selbst darauf hin, dass Heidegger verfügt habe, die Schwarzen Hefte dürften erst publiziert werden, wenn die Gesamtausgabe seiner Werke vorliege. Diese Einschränkung zeigt ja deutlich, dass sich Heidegger nicht von den Schwarzen Heften distanzieren wollte, sondern sie im Kontext aller seiner Schriften verstanden wissen wollte. In Heideggers eigener Sicht stellen die Schwarzen Hefte also einen integralen Bestandteil seines Werks dar. Der ehemalige Polittechnologe Oleg Matvejčev (geb. 1970), der auch die russische Übersetzung der Schwarzen Hefte angeregt und finanziert hat, versuchte Heidegger in einem Interview mit einem noch problematischeren Argument vor seiner Nähe zum Nationalsozialismus zu retten. In einem Interview aus dem Jahr 2017 behauptete Matvejčev, Heideggers philosophische Individualität entlaste ihn von allen Kollaborationsvorwürfen: Sogar wenn man Heideggers Affiliation mit der NSDAP für gegeben annimmt, muss man daran denken, dass Heidegger eine solche Vorstellung der NSDAP hatte, die kein anderes Mitglied der NSDAP hatte und dass er deshalb kaum eine Verantwortung dafür trägt, was die Mehrheit in der Partei tat.58
Matvejčev ist ein strammer Parteigänger der russischen Regierung und verteidigt den patriotischen und aggressiven Kurs des Kremls gegen innere und äußere Feinde vorbehaltslos. Realitätsnäher ist die Position des Herausgebers der russischen Übersetzung der Schwarzen Hefte, Valerij Anašvili. Er versucht, Heideggers politische Problematik mit einer Verschachtelungsmetapher zu fassen:
57 N. Motrošilova: S. »Černye tetradi« M. Chajdeggera. Po sledam publikacij«, S. 159. 58 O. Matvejčev: »Chajdegger i nacizm. Moe interv’ju o »Černych tetradjach«
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Die Schwarzen Hefte wirken stellenweise bedrückend, ja. Für mich nicht einmal dadurch, dass Heidegger sein Rektorat und andere Fehler rechtfertigt und alle möglichen Menschen beschuldigt, nur nicht sich selbst. Sondern dadurch, dass er so schreibt, als wollte er seine Persönlichkeit vor der Zukunft verbergen, den kleinen, lebendigen Heidegger, der in der Schale des enormen, unzugänglichen 100-bändigen Autors unter dem Namen »Heidegger« sitzt. Umso interessanter ist es aber, in den Schwarzen Heften Überreste seiner wahren, noch nicht vom Rattern seiner längst ausgedörrten Sprache übertönten, lebendigen Seele aufzusuchen und zu finden. Und zu beobachten, was die verhärmte und verzagte Seele dieses großen Philosophen wirklich sagen wollte.59
Gott Bereits Nikolaj Berdjaev hob in seiner frühen Reaktion auf Sein und Zeit die Gottverlassenheit von Heideggers Philosophie hervor: Heidegger ist ein ehemaliger Katholik, der in einer katholischen Schule erzogen wurde, aber seinen Glauben verloren hat. Seine ganze Philosophie ist von den Wahrheiten der christlichen Offenbarung und der christlichen Glaubenslehre durchzogen. Sie beruht auf theologischen Voraussetzungen, wie vehement er das auch abstreiten mag. Heideggers Philosophie, die eine phänomenologische Form aufweist, ist eine christliche Metaphysik ohne Gott und in ihr verbirgt sich eine religiöse Unruhe. Sie bezeichnet die Welt als eine abgefallene und verlassene, aber man weiß nicht, wovon abgefallen und von wem verlassen. Sie ist durchzogen von der Lehre der Erbsünde mit all ihren Folgen für die Existenz in der Welt, aber ohne Gott. Gefallenheit und Verlassenheit sind für Heidegger das Wesen des Seins.60
Es wäre allerdings falsch, Heideggers Philosophie als atheistisch zu bezeichnen. Gott kommt zwar nicht als Akteur, aber als Kategorie durchaus in Heideggers Denken vor. Allerdings ist dieser Gott dezidiert nicht christlich. Heidegger verbindet diese antichristliche Haltung mit seiner Kritik, dass sich das eigentlich seinsnahe Russland in der Geiselhaft des jüdischen Bolschewismus befinde. Er zieht aus dieser antisemitischen Gedankenfigur den Schluss, dass »das Christentum im Grunde bolschewistisch« sei. Heideggers »letzter Gott« steht über allen Theismen (Mono-Theismus«, »Pan-Theismus« und »A-Theismus«) und ist begrifflich unfassbar (GA 65, S. 54, 411). Der moderne Mensch erwartet zwar den Gott, der kommen soll (und muss), aber das Warten selbst wird zur zentralen Signatur des menschlichen Daseins. Heidegger zieht aus dieser pessimistischen Diagnose jedoch nicht den Schluss, dass sich das Warten nicht lohne. Im Gegenteil: Gerade in der Erwar-
59 S. Naranovič: »Kolossalnyj opyt i sčast’e, čto fjurer probudil novuju dejstvitel’nost’.« 60 N. Berdjaev: »O novejšich tečenijach v nemeckoj filosofii«, S. 119f.
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tung des Gottes erhebt sich der Mensch über das Gestell der technischen Welt. Auch Heideggers eigene Philosophie kommt letztlich nicht ohne Gott aus, selbst wenn sich seine Abwesenheit als endgültig herausstellen sollte. Entscheidend ist für Heidegger bei diesem Argument, dass zwar die Abwesenheit oder die Nichtexistenz Gottes für den prekären Zustand der Welt auf dasselbe hinauslaufen, nicht aber für das menschliche Dasein. Heidegger formulierte in seinem Spiegel-Interview mit Rudolf Augstein im Jahr 1966 große Zweifel an der Leistungsfähigkeit der Philosophie angesichts der Seinsvergessenheit der modernen Gesellschaften:61 Die Philosophie wird keine unmittelbare Veränderung des jetzigen Weltzustandes herbeiführen können. Dies gilt nicht nur von der Philosophie, sondern von allem menschlichen Sinnen und Trachten. Nur noch ein Gott kann uns retten. Uns bleibt die einzige Möglichkeit, im Denken und Dichten eine Bereitschaft vorzubereiten für die Erscheinung des Gottes oder für die Abwesenheit des Gottes im Untergang; dass wir im Angesicht des abwesenden Gottes untergehen.62
Im selben Interview äußerte Heidegger immerhin die Vermutung, dass in Russland oder China »alte Überlieferungen« wach würden, die »dem Menschen ein freies Verhältnis zur technischen Welt ermöglichen« könnten.63 Bereits in den Schwarzen Heften findet sich eine Brücke vom Volk, das erst noch sich selbst werden muss, zum Gott, der ebenfalls erst noch gefunden werden muss: »Dostoevskij sagt am Schluss des 1. Kapitels der Dämonen: Wer aber kein Volk hat, der hat auch keinen Gott.« Und wenig später heißt es: »Im Wesen des Russentums liegen Schätze der Erwartung des Gottes verborgen, die alle Rohstofflager wesentlich übertreffen.« (GA 96, S. 123, 129) Wahrscheinlich versteckt sich in dieser Bemerkung eine Spitze gegen den bolschewistischen Internationalismus, der sich mit einem rabiaten Atheismus paart. Ähnlich wie das Volk sich erst noch finden muss, so muss auch der Gott noch »entborgen« werden. Von dieser Einstellung her rührt wohl auch Heideggers Antikatholizismus: Weil die offizielle Kirche vorgibt, den Gott und sein Heilsversprechen bereits erkannt zu haben, bleibt für den Menschen nichts mehr zu tun. Damit aber wäre alles Denken und Dichten sinnlos und überflüssig. Umso größere Sympathien hegte Heidegger für die russische Sophienspekulation, die ihm in einem positiven Sinn »magisch« erschien (GA 73, S. 875). Es ist deshalb kein Zufall, dass die religiöse Feministin Tat’jana Goričeva (geb. 1947) ihr eigenes Bekehrungserlebnis auf der Grundlage von Heideggers Philosophie schil-
61 L. Hachmeister: Heideggers Testament. 62 M. Heidegger: »Nur noch ein Gott kann uns retten«, S. 209. 63 Ebd., 214.
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dert. Goričeva hatte in den siebziger Jahren im Philosophiestudium an der Leningrader Universität mit einer Arbeit über Heidegger abgeschlossen. 1974 fand der Internationale Hegel-Kongress in Moskau statt. Die junge Philosophin schlich sich in das groß angelegte akademische Event ein und traf auf zahlreiche westliche Heidegger-Spezialisten. Darauf schrieb sie Heidegger einen Brief, den er auch beantwortete. Auf einen weiteren Brief reagierte Heidegger mit der Zusendung einiger unveröffentlichter Gedichte aus seiner Feder.64 Tat’jana Goričevas eigene Erleuchtung ist ein Beispiel für eine synthetisierende Aneignung von Heideggers philosophischen Kategorien im Kontext russischer Kulturtraditionen. In ihren Erinnerungen beschreibt Goričeva, wie sie zum christlichen Glauben fand: Müde und lustlos verrichtete ich meine Yogaübungen mit den Mantren. […] Aber da wurde in einem Yogabuch ein christliches Gebet, und zwar das »Vaterunser«, als Übung vorgeschlagen. Ausgerechnet das Gebet, das unser Herr selbst betete! Ich begann, es als Mantra vor mich hinzusagen, ausdruckslos und automatisch. Ich sprach es so etwa sechsmal, und dann wurde ich plötzlich vollständig umgekrempelt. Ich begriff – nicht etwa mit meinem lächerlichen Verstand, sondern mit meinem ganzen Wesen –, dass Er existiert.65
In dieser Schilderung wird deutlich, wie die Sprache auf der Grundlage der russischen Namensphilosophie (diesmal in der Gestalt einer Yoga-Übung) gleichzeitig das Sein Gottes wie auch das »Ich-Mit-Gott-Sein« im Sinne von Semen Frank erzeugt. Zusammenfassung Heidegger hatte ein wenig differenziertes Russlandbild. Er traute russischen Autoren wie Tolstoj und besonders Dostoevskij zu, in ihren Sprachkunstwerken nahe an das Dasein heranzukommen. Damit bewegte er sich in der Tradition einer Russlandschwärmerei, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in Deutschland durchaus geläufig war. Umgekehrt wurden Heideggers philosophische Kategorien vor allem von russischen Exildenkern aufgegriffen. Dabei gab es allerdings keine ausgeprägten Heidegger-Adepten. Heideggers Sprache und sein Denken übten allerdings einen erkennbaren Einfluss auf die Begriffsbildung in der russischen Philosophie aus. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde Heidegger zu einem integralen Bestandteil der akademischen Philosophie.
64 M. Nesterenko: »Patriarchal’naja, nekrofilskaja civilizacija pobeždaet«. 65 T. Goritschewa: Von Gott zu reden ist gefährlich, S. 26f.
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In den neunziger Jahren überragte Heidegger in der russischen philosophischen Diskussion alle anderen Denker. Vor allem Übersetzungsfragen von Heideggers Terminologie standen im Vordergrund der Diskussion. Außerdem wurde versucht, Heidegger in die lange verschüttete Tradition der russischen Religionsphilosophie einzupassen. Als prominenter Einzelfall in der russischen Heidegger-Rezeption sticht Aleksandr Dugin heraus. Er vereinnahmt Heidegger für die Begründung seiner eigenen politischen Position: Heidegger erscheint als letzter Kritiker des Westens, der durch sein innovatives Denken einem alternativen Zivilisationsprojekt, nämlich der globalen Vorherrschaft Eurasiens unter russischer Führung, den Weg bereitet. Gleichzeitig ist aber Dugin ein Außenseiter in der russischen akademischen Philosophie geblieben.
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Das Leben, eine Geschichte
Making Ethical History in Thomä and Kierkegaard Andrew Norris
It is for freedom, therefore, that I am fighting (partly in this letter, partly and chiefly in myself), for the time to come, for Either/Or. Søren Kierkegaard, Either/Or II
I take it that one would be missing the point of contributing to a Festschrift for Dieter Thomä if one did not seize the occasion to make trouble for him in it. Thomä, after all, is not only the author of an acclaimed recent book on troublemakers, Puer Robustus: Eine Philosophie des Störenfrieds, he has also devoted an incredibly productive career to making trouble for the guardians of received wisdom regarding the nature of philosophy, its relation to social thought, and the interpretation of its most important texts. But, as troublemakers since Socrates have found, disturbers of the peace are easily mistaken for vulgar, even shameless bullies and boors (Gorgias 494d-e and 505d). How, then, to make trouble for Thomä in a way that honors him rather than offending him or others? One way might be to suggest new, more troublesome ways of doing what he himself does—to suggest that he has, as it were, made peace with his work or his subject too quickly. With someone like Thomä, this does not provide much immediate guidance, given how very much he has done, and in how many different fields he has done it. But three features are, I would argue, characteristic of his work: a delight in complexity; a deep commitment to the details of the textual corpus of our philosophical inheritance; and, a fascination with the Socratic question, how ought one to live?1 In what follows, I
1
Stanley Cavell remarks somewhere that there are philosophers like Wittgenstein who present themselves as having read no more than a few odd works of philosophy, and philosophers like Heidegger who give the impression of having left only one or two unread.
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will try to honor all three in a discussion of what Thomä leaves out in his discussion of Socrates’ greatest modern admirer, Søren Kierkegaard, in Erzähle dich selbst: Lebensgeschichte als philosophisches Problem.2 Erzähle dich selbst—which opens with the incomparable line, »Gelegentlich versteige ich mich zu der Behauptung, ich komme schon irgendwie mit dem Leben zurecht«—suggests that the Socratic question entails further questions concerning the narration of one’s life.3 Socrates’ question does not concern an object or act— what one does—so much as it does a manner of doing things—how one lives and how one confronts life as a whole.4 Such matters are revealed not in discrete moral choices like false promises and unfaithful liaisons as in a narrative history or set of histories in which one’s character is developed and displayed, and in which one might achieve genuine freedom in the sense of self-determination. Hence, the Delphic demand, know thyself, invites that of Thomä’s title: narrate yourself! Kierkegaard plays a central role of »systematic« importance in the early stages of Thomä’s investigation of the intelligibility and usefulness of this latter demand5—or, more specifically, a central role is played in it by the author of the second section of Part Two of Either/Or, »The Balance Between the Esthetic and the Ethical in the Development of the Personality.« This is the second of the letters Judge William (B) writes to his unnamed young friend (A), the aesthete of Part One of Either/Or; and it is the best place to look for an understanding of the existential category of the ethical--though not, one should note, that of the religious, the highest category of Kierkegaard’s work, and the subject of (among others) Fear and Trembling, which
No one who knows Thomä’s work would ever mistake him for the former kind of philosopher. On Thomä’s desire to contribute to Socrates’s ethical (as opposed to moral) project, see D. Thomä: Erzähle dich selbst, S. 62. 2
With very few exceptions, Thomä cites Kierkegaard’s texts by the page numbers of Emanuel Hirsch’s German translations. For ease of reference, I shall cite them by the pagination of Drachman, Heiberg, and Lange’s Søren Kierkegaards Samlede Værker, which is given in the margins of both the Hirsch and the English translations by Hong and Hong that I use. Thomä does not distinguish between Kierkegaard and his pseudonyms. I shall, as Kierkegaard insists (writing in his own name) in the »First and Last Explanation« appended to Concluding Unscientific Postscript that »in the pseudonymous books there is not a single word by me. I have no opinion about them except as a third party.« S. Kierkegaard: Concluding Unscientific Postscript, S. 546. That said, it is not clear how this might affect the discussion here.
3
Thomä notes early on that this is the topic of his discussion, not its thesis. D. Thomä: Erzähle dich selbst, S. 8.
4
Ebd., S. 7.
5
Ebd., S. 42.
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appeared less than five months after the second installment of Either/Or.6 The former category and the Judge’s account of it revolve around the need for the self to choose itself in an absolute sense. Following Habermas, Thomä sees the Judge’s account as requiring the self to confront and assume responsibility for its Lebensgeschichte as a whole in the form of a narrative that it must make its own.7 Kierkegaard is, Thomä argues, the thinker who first opens up the possibilities and problems for the ethical narration of the self that Thomä goes on to show are explored not only in Habermas but also in thinkers as diverse as Lukács, Benjamin, Bachtin, Rawls, and MacIntyre.
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In his first letter to A, »The Esthetic Validity of Marriage,« the Judge does write, »If you cannot manage to see the esthetic, the ethical, and the religious as the three great allies, if you do not know how to preserve the unity of the different manifestations everything gains in these three different spheres, then life is without meaning and one must completely agree with your pet theory that of everything it can be said: Do it, or do not do it—you will regret it either way.« S. Kierkegaard: Either/Or, Part II, S. 133-4; the Judge refers here to A’s own account of Either/Or, according to which » the quintessence of all the wisdom of life« is that regret follows from both performing and not performing whatever potential act lies before one (marriage, suicide, etc.). S. Kierkegaard: Either/Or, Part I, S. 22-3. And in his second letter the Judge writes, »the ethical individual . . . is going to develop in his life the personal, the civic, the religious virtues, and his life advances through his continually translating himself from one stage to the other.« S. Kierkegaard: Either/Or, Part II, S. 235. These references to the sphere of the religious are exceptions, however, and Climacus in the Concluding Unscientific Postscript writes of Either/Or lacking »a religious instead of an ethical orientation.« S. Kierkegaard: Concluding Unscientific Postscript, S. 218. This has significant implications for Thomä’s account of the Judge’s account of the self and its history. Among other things, it raises the question, does the Abrahamic figure who personifies the religious and who by definition »cannot speak« have a history in which it (its self) is revealed? S. Kierkegaard: The Sickness Unto Death, S. 159. If so—and, given his silence, this seems quite unlikely—it would seem to be the story that Kierkegaard tells in Fear and Trembling. In this regard it is striking that the Exordium to the book rehearses a series of versions of this story without indicating which is »right«. How could one determine this without Abraham’s own testimony?
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In a piece to which Thomä turns immediately after discussing Kierkegaard, Habermas argues that »the idea that each individual must first make itself into that which it is would be honed by Kierkegaard into the act of taking responsibility for one’s own life history.« J. Habermas Postmetaphysical Thinking, S. 162. The centrality to Thomä’s account of this assumption of responsibility for one’s history is indicated in the title of the chapter in which he discusses Kierkegaard, »Die Verantwortung des Selbst für seine Geschichte (zu Kierkegaard).«
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As Thomä reads this section of Either/Or, its argument is roughly as follows. Kierkegaard, like Schelling (whose lectures he attended to no obvious profit), rejects Hegel’s account of the relation between the subject and the history of its activity as an educative one of self-expression and self-recognition in which otherness is overcome and the subject is able to completely identify itself with the resulting »erzählbaren« history.8 Kierkegaard, who—apparently unlike Hegel—recognizes that »history […] is more than a product of the free actions of free individuals,« and hence that complete identification between self and history is impossible, nonetheless retains the conviction that the subject’s relation to historical reality should be such that it can at once, in one move, relate to that reality and to itself: »Sie geraten in eine Verlegenheit darüber, wie sie sich zur Wirklichkeit verhalten sollen: was ihnen aber nach Kierkegaard bleibt, ist die prinzipielle Eigenart, sich zu ihr und in eins damit zu sich selbst verhalten zu können, die Fähigkeit also, die bei Hegel der Aneignung der Geschichte zugrunde liegt«.9 The relation between self and history cannot be established on philosophical grounds and guaranteed, as it were, by an account of Geist’s essential activity; instead the self’s relation to its history and itself is that of the self’s choice of itself. This is not a choice to relate (itself) to itself, as Thomä indicates by beginning his account by quoting from the opening lines of the first part of The Sickness Unto Death: »A human being is spirit. But what is spirit? Spirit is the self. But what is the self? The self is a relation that re-
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D. Thomä: Erzähle dich selbst, S. 43. Given that this section of Either/Or is, with the exception of The Concept of Irony, probably the most Hegelian of Kierkegaard’s major philosophical writings, it is noteworthy that Thomä begins by situating its account of the relation between the self and its history at the point of the collapse of Hegel’s own account. Regarding the closeness of this text to Hegel, note, for instance, the manner in which Hegel’s account in §§5-7 of the Philosophy of Right of individuality as the unity of the pure or undifferentiated indeterminacy of the universal and the absolute finitude of the particular is echoed in the Judge’s accounts of love and the personality. S. Kierkegaard: Either/Or, Part II, S. 83, 237.
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D. Thomä: Erzähle dich selbst, S. 44, citing S. Kierkegaard Either/Or, Part II, S.158. Some may object that Thomä exaggerates here the extent to Hegel which believes that particular human subjects can identify themselves with their histories as records of »the free actions of free individuals«, given, among other things, Hegel’s recognition of the important historical role of slaves, on the one hand, and of the List der Vernunft on the other. Even the oriental despot is on Hegel’s account »nur ein Despot, nicht ein freier Mann.« And in his discussion of the cunning of reason Hegel emphasizes that the universal rises from the destruction of the particular, which has its own interests; G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 31, 49.
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lates itself to itself or is the relation’s relating itself to itself in the relation«.10 The self is always already in relation to other selves, situations, problems, projects, and so on; and, on a higher level, it is always already in relation to itself, as the unlimited or infinite nexus of these and other possible finite engagements, and, reflexively, in relation to that relation—judging it, modifying it, applying the criteria of the esthetic and the ethical to it, and so on.11 Any particular choice or commitment therefore concerns the self as well as its objects.12 The relation to self can take a negative as well as a positive form, and the task of the self according to Judge William is that of positively making the choice for itself rather than avoiding that choice.13 The life lived under esthetic categories (as exemplified by A) is inadequate to this task, not because it overvalues the experience of beauty and sublimity, nor even because--as some assume--it fails to appreciate the importance of constructing an identity, but because whatever (interesting or »poetic«) identity it chooses—»a Don Juan, a Faust, a robber chief«—is an »immediate« one that is inadequate to the self’s infinite nature.14 In contrast, the ethical choice is not a
10 D. Thomä: Erzähle dich selbst, S. 44, citing S. Kierkegaard: The Sickness Unto Death, S. 127. Thomä is not alone in pairing Either/Or with the superficially much different (viz., religious) text of the so-called second authorship. Compare the excellent P. Dietrichson: »Kierkegaard’s Concept of the Self«. 11 Thomä relates the contrast between the decision for a given good or project and the decision for the self that can undertake indefinite projects and pursue goods out of an »infinite« pool to Harry Frankfurt’s distinction between first and second-order volitions. D. Thomä: Erzähle dich selbst, S. 44-45; cf. H. Frankfurt: »Freedom of the Will and the Concept of a Person«. 12 The opening lines of The Sickness Unto Death continue, »Man is a synthesis of the infinite and the finite«, and Thomä takes »Unendlichkeit« literally, as »eine Negation des Endlichen« D. Thomä: Erzähle dich selbst, S. 44. On this reading, Anti-Climacus in his prioritization of the infinite over the finite would seem to follow Augustine’s identification of sin as the turning from the infinite Creator to its finite creations and creatures, which are given worth of their own as something other than the products of the Creator. This is borne out in Works of Love, where God is »the third party in every relationship of love [and] really the sole object of love, so that it is not the husband who is the wife’s beloved, but it is God, and it is the wife who is helped by the husband to love God, and conversely, and so on.« S. Kierkegaard: Works of Love, S. 117. 13 D. Thomä: Erzähle dich selbst, S. 44 and S. Kierkegaard: Either/Or, Part II, S. 226. Compare the apolitical person, whose (politically significant) choice is not to engage in politics, to refuse to make a choice regarding the political community and its future. 14 D. Thomä: Erzähle dich selbst, S. 46, citing S. Kierkegaard Either/Or, Part II, S. 202. In noting this, Thomä already distances himself from MacIntyre, who, like Habermas, antic-
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choice for finite ethical goods like faithful promises and partners, but the choice for the self in its proper sense: »the esthetic in a person is that by which he spontaneously and immediately becomes what he is; the ethical is that by which he becomes what he becomes«.15 To choose the self in this latter sense is to make an absolute choice: But what is it, then, that I choose—is it this or that? No, for I choose absolutely, and I choose absolutely precisely by having chosen not to choose this or that. I choose the absolute, and what is the absolute? It is myself in my eternal validity. Something other than myself I can never choose as the absolute, for if I choose something else, I choose it as something finite [eine Endlichkeit] and consequently do not choose absolutely.
»But what«, the Judge continues, »is this self of mine? . . . It is the most abstract of all, and yet in itself it is also the most concrete of all—it is freedom«.16 To choose the self in this sense—to take responsibility for it—entails that the self be present to itself as a possible object of choice. But the self is more than the agent of the current choice for itself. Kierkegaard does not identify the self with its choice in the moment in the way that Schmitt (who cites him) does on at least some interpretations when he defines the sovereign as »wer über den Ausnahmezustand entscheidet«, as opposed to the holder of an office, as in Hobbes.17 The self has a history, albeit one that is not written by it alone: as noted above, »history is more than a product of the free actions of free individuals«. If the self is to choose itself absolutely in the sense of assuming responsibility for itself in its entirety, it must »choose« a self it did not (entirely) create; or, in other words, it must assume responsibility for things it has not »done«, but that have happened to it and helped determine its history. »Kierkegaards Lösung für das Verhältnis zwischen Freiheit
ipates Thomä’s concern with the life narrative. On MacIntyre’s account in After Virtue, Kierkegaard’s esthetic and ethical »ways of life« are contrasted in terms of narrative unity and identity: »the esthetic life is one in which a human life is dissolved into a series of separate present moments, in which the unity of a human life disappears from view. By contrast in the ethical life the commitments and responsibilities to the future springing from past episodes in which obligations were conceived and debts assumed unite the present to past and to future in such a way as to make of a human life a unity. The unity to which Kierkegaard refers is […] narrative unity.« A. MacIntyre: After Virtue, S. 241-2. 15 S. Kierkegaard Either/Or, Part II, S. 161; cf. S. 201; cited at D. Thomä: Erzähle dich selbst, S. 45. 16 S. Kierkegaard Either/Or, Part II, S. 192, cited in part on D. Thomä: Erzähle dich selbst, S. 47. 17 C. Schmitt: Politische Theologie, S. 21, 13; cf. G. Agamben: Homo Sacer.
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und Faktizität ist also nichts anders als seine Ausdehnung der Verantwortung des Selbst auf sein ganzes Leben, auf die Fülle der zu ihm gehörenden Geschehnisse«.18 If we assume, as Thomä apparently does, that one can assume responsibility only for known particulars (e.g., this theft, this act of betrayal), it follows that the absolute choice for oneself entails the identification of the history of those particulars. Since Thomä understands that history as an Erzählung, and since the self, as noted, is not the sole author of the narrative by which it is available to itself as the possible object of a choice, the self is better understood as the editor of its Lebensgeschichte: »Dieses Verhältnis zur eigenen Lebensgeschichte faßt [Kierkegaard] im Begriff des ›Redakteurs‹, der für das eigene Leben die Verantwortung übernimmt (vgl. EO II 277 [233])«.19 It is at this point that Thomä moves decisively beyond Habermas. Because Thomä is focused on the self’s narration of itself and not, like Habermas in the article on which Thomä draws, the general structure of individual subjectivity, the figure of the editor is a captivating one for him, one that serves as the lynchpin of his central argument.20 Accordingly, Thomä gives a detailed discussion of the way editors of journals and books actually edit (redigieren) the draft texts that they receive from their authors so as to produce a finished text read by a wider audience. Unsurprisingly, he concludes that these details do not correspond to the situation, tasks, and »Textproduktion« of the Judge’s Redakteur.21 In the end, Kierkegaard’s conception of the life choice is deemed incoherent, resting as it apparently does upon assumptions that are not borne out, the most important of which is the idea that the self can gain access to the »authentic« text of its history.22 But this mode of self-knowledge is not forthcoming; and, in its absence, the Kierkegaardian project is fundamentally undercut. In the end, Kierkegaard’s significance is limited to the uncovering of problems he himself cannot solve, and his work is a philosophical example rather than a philosophical contribution from which one might learn.23
18 D. Thomä: Erzähle dich selbst, S. 48; cf. S. 283. 19 Ebd., S. 49. 20 Immediately following the lines just cited, he writes, »Ich will nun ausgehend von diesem Begriff in die Auseinandersetzung mit Kierkegaard eintreten, denn der Redakteur markiert als die Instanz, die bei der Textproduktion verantwortlich zeichnet, nichts anders als das Junktim von Selbstverantwortung und Erzählung.« 21 Ebd., S. 50. 22 Ebd., S. 56. 23 Ebd., S. 52, 62. I suspect it is for this reason that, as far as I know, Thomä never returns to Kierkegaard, and mentions his work only in passing, and does not even merit a chapter in a volume one might think written expressly with him in mind, D. Thomä/V. Kaufmann/U. Schmid: Der Einfall des Lebens.
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There are a number of things that this reading of the second section of Part Two of Either/Or glosses over or leaves out, but this is not in itself a serious problem: indeed, it is only to be expected, given how tightly focused Thomä’s interest in Kierkegaard is on how he lays the groundwork for later explorations of the role played by the individual’s narration of his life history. There is, however, a problem if the selective reading Thomä offers is distorted either by taking the things it discusses out of context or by placing too much stress on accidental or superficial features of Kierkegaard’s text.24 In this light, it is striking that, quite unlike Thomä, Judge William does not use the language of narration and text, least of all text production.25 Thomä reads these terms as implied by the Judge’s references to history. Thomä notes that, according to the Judge, the one making the absolute choice of self has a history, »a history in which he acknowledges identity with himself«;26 he relates this to the Judge’s claim that »the person who chooses himself ethically . . . can choose himself only if he chooses himself in continuity . . . since he does not assume that the world begins with him or that he creates himself«;27 and he infers from these passages that the Judge sees the absolute choice as requiring that the historical continuity in which the ethical agent emerges takes the form of a narration that can be accessed or »read by« the self: »Damit ist das Verhältnis zwischen dem Selbst, das sich für sich selbst verantwortet, und der Geschichte, auf die er sich in narrativer Form bezieht, entfaltet. Die Erzählung ist für Kierkegaard die Form, in der das Selbst sich seiner Geschichte versichert«.28 But this hardly follows: one can consider the human being as a finite, historical being in many other ways than as the object of a narrative text. To take only a single example (other than Judge William), in the second Discourse Rousseau argues that, because the human being’s relation to instinct and drive is a broken or mediated one, its being will be altered by changes in context and habituation over time. It is an historical creature whose »perfectibility« is revealed first and foremost in the fact that these modifications can be effaced in senility. Of the actual record of these transformations of our historical being, at least in their early stages, Rousseau insists it is and must remain
24 Thomä notes that his reading of Kierkegaard is selective: »vertrete ich freilich nicht die These, Kierkegaard lasse sich auf die von mir herausgehobenen Punkte reduzieren«. D. Thomä: Erzähle dich selbst, S. 283. My point, however, is that Thomä’s reading is not just incomplete, but distorted. 25 Thomä uses these words over and over, particularly on pages 49-62. 26 Ebd., 49, citing S. Kierkegaard: Either/Or, Part II, S. 193. 27 D. Thomä: Erzähle dich selbst, S. 49, S. Kierkegaard: Either/Or, Part II, S. 231. 28 D. Thomä: Erzähle dich selbst, S. 49, emphasis his.
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unknown.29 But it is not, for all that, unimportant or unreal, as we live with its effects (or the effects of its effects). A crucial feature of Thomä’s focus on the text of the historical record is that the text is a record of the past—of, as he puts it, »das gelebte Leben«.30 »Im Plädoyer für das ethische Leben, . . . unterstellt [Kierkegaard] durchgängig, jene Geschichte liege schon vor«.31 The editor receives a record of what has already been done and proceeds to take responsibility for those deeds and events.32 But the Judge’s focus throughout is not on the past but on the life to come: »Philosophy turns towards the past. . . . I am asking about the future«.33 As he puts it in this essay’s epigraph, »It is for freedom, therefore, that I am fighting (partly in this letter, partly and chiefly in myself), for the time to come, for Either/Or«.34 (One might assume that the choice of Either/Or, the choice to live in the ethical sphere in which choices are actually or truly made, is made once and then left behind. The Judge suggests otherwise: »even though my life has its Either/Or behind it to a certain degree, I know very well that there will still be many a time when it will have its full significance . . . and I hope that I will make the right choice«35) In his defense of marriage, the Judge argues, »it is the essential nature of first love to become historical«.36 This is not a matter of accumulating a record of past loving deeds and evenings that might be recorded in a text, or coming to know or »edit« that record, but of the existential transformation of the marriage partners. As we have seen, Thomä himself notes, the Judge distinguishes the esthetic from the ethical in part on the grounds that the esthetic is that by which one becomes what one immediately is and the ethical is that by which one becomes what one becomes. But, as Thomä does not note, this implies that the ethical is futural in a way that the esthetic is not: to make the choice to choose Either/Or is to become historical in precisely the sense that one’s record is not yet written, that one is becoming. In his very brief review of Either/Or in his discussion of the pseudonymous writings in the Concluding Unscientific Postscript, Climacus emphasizes that »through the choice [one] becomes open«. The Judge »focuses on marriage as the
29 J.-J. Rousseau: The First and Second Discourses, S. 114-5, 102-3. 30 D. Thomä: Erzähle dich selbst, S. 62. 31 Ebd., S. 50; cf.: »Diese Übernahme der Verantwortung für das ganze Leben bezieht sich auch auf das, was der Mensch nicht selbst angestellt hat.« (Ebd., S. 49) 32 Ebd., S. 283. 33 S. Kierkegaard: Either/Or, Part II, S. 154-5. This is a theme that proves to be central to the Concluding Unscientific Postscript. 34 Ebd., S. 159. 35 Ebd., S. 144; cf. S. 152-3. 36 Ebd., S. 43.
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most profound form of life’s disclosure, whereby time is turned to account for the ethically existing individual, and the possibility of gaining a history is continuity’s ethical victory over hiddenness, depression, illusory passion, and despair«.37 The ideas of »gaining a history« and »continuity« are of course also prevalent in Either/Or. Of the latter, the Judge writes, »The healthy individual lives simultaneously in hope and in recollection, and only thereby does his life gain true and substantive continuity«.38 Pace Thomä, continuity is a not a feature of the text of a record of past deeds, but a relation between past, present, and future. It is on these grounds that the Judge can also write, »it is marriage that first actually gives a person his positive freedom«.39 What »can properly be called a history . . . implies a development in the form of freedom«.40 Much the same thought reappears in Stages on Life’s Way, where the same pseudonymous author, Judge William, writes, »Marriage is the fullness of time. He who did not become a married man is always regarded as unhappy by others or he is that also to himself; in his eccentricity he wants to feel time as a burden«.41 As Hong and Hong note, the reference is to Galatians 4:3-5: »we, when we were children, were in bondage under the elements of the world: But when the fullness of the time was come, God sent forth his Son, made of a woman, made under the law. To redeem them that were under the law.« To marry and live the ethical life is to no longer feel time as a burden, an external force pressing upon one; but neither is it to leave time behind, as it is only with the fullness of time that the most important things are done, that history begins. Conversely, to feel time as a burden is to wish it lifted and gone. At 207-8, the Judge writes of temporality vanishing for one who makes the choice in the wrong way, one who has not seen himself in his freedom, has not chosen himself in freedom. If [on the other hand,] he does that, then at the very moment he chooses himself he is in motion. However concrete his self is, he nevertheless has chosen himself according to his possibility; in repentance he has ransomed himself in order to remain in his freedom, but he can remain in his freedom only by continually realizing [realisere] it. He who has chosen himself on this basis is eo ipso one who acts. This does not mean that the past of the free, historical actor is unimportant, but that its importance is revealed in that actor’s deeds, the steps it takes into its future. Once this is recognized, the question of the authenticity or accuracy of the text of
37 S. Kierkegaard: Concluding Unscientific Postscript, S. 214, emphases his. 38 S. Kierkegaard: Either/Or, Part II, S. 129; cf. S. 224-5. 39 Ebd., S. 61. 40 Ebd., S. 217, emphasis mine. 41 S. Kierkegaard: Stages on Life’s Way, S. 113.
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the self’s past history that occupies Thomä appears much less relevant than it might first have seemed.42 Given this, it is not surprising that, though the Redakteur is mentioned almost two dozen times in Thomä’s brief chapter, it appears only once in all of Part Two of Either/Or.43 The context of that lone appearance is worth noting: »The ethical individual«, the Judge writes, also has another distinction, for he also makes a distinction between the essential and the accidental. Everything that is posited in his freedom belongs to him essentially, however accidental it may seem to be; everything that is not posited in his freedom is accidental, however essential it may seem to be. But for the ethical individual this distinction is not a product of his arbitrariness so that he might seem to have absolute power to make himself into what it pleased him to be. To be sure, the ethical individual dares to employ the expression that he is his own editor, but he is also fully aware that he is responsible, responsible for himself personally, inasmuch as what he chooses will have a decisive influence on himself, responsible to the order of things in which he lives, responsible to God. Regarded in this way, the distinction is correct, I believe, for essentially only that belongs to me which I ethically take on as a task. If I refuse to take it on, then my having refused it essentially belongs to me.44
42 This argument can be applied to Thomä’s reading of the opening lines of The Sickness Unto Death. Thomä understands this relation as a relation of the self to its life: »In seiner Kritik am situativen Abwägen des Äesthetikers geht Kierkegaard aus von der Minimalbestimmung, daß der Mensch sich zu seinem Leben verhält und sich zu diesem Verhältnis verhält.« And the life to which the self relates is, as in Thomä’s title, its Lebensgeschichte. But this is not quite what Anti-Climacus asserts. Thomä quotes (most of) the first five sentences of the opening of the book. He does not note that Anti-Climacus continues, » the self is not the relation’s relating itself to itself. A human being is a synthesis of the infinite and the finite, of the temporal and the eternal, of freedom and necessity, in short, a synthesis. A synthesis is a relation between two. Considered in this way, a human being is still not a self.« S. Kierkegaard: The Sickness Unto Death, S. 127. The temporal and the eternal, however, simply drop out of Thomä’s discussion, as does the idea that, though man is spirit and spirit is the self, man is not yet a self, and hence the task of the self is »to become itself«. Ebd., S. 29. This is plainly closely related to the Judge’s suggestion that the ethical individual becomes what he becomes. 43 This is particularly striking when one considers what an extraordinarily repetitive writer Kierkegaard is. Either/Or as a whole is of course presented as the editorial work of Victor Eremita, the victorious hermit, but I am doubtful that this is relevant here. S. Kierkegaard: Either/Or, Part I, S. v-xvi. 44 S. Kierkegaard: Either/Or, Part II, S. 233.
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Is this, as Thomä suggests, a matter of the determination of the correct narration of one’s life? If it were, one might think that the crucial distinction would be between what did and did not happen, and not between the essential and the accidental. If the response is that the latter only rechristens the former, one must ask how it could be that what did not happen nonetheless »essentially belongs to me« by virtue of my refusing it (presumably, on the grounds that it did not happen). This would make every possibility essential—a result that, as well as being close to incoherent, falls foul of the Judge’s claim that »the person who lives esthetically sees only possibilities everywhere . . . whereas the person who lives ethically sees tasks everywhere«.45 The crucial point is that the ethical individual sees her life as a task, so that the »editorial« distinction between the essential and the accidental reflects not the given reality of how things are—be it my past or the thought that what is essential to me is my mind and my body, whereas the context and company within which I find myself are accidental—but my task as I carry it out. One could say that the Judge reverses Epictetus’ argument, whereby it is the nature of the world that determines the realm of freedom, and argues that it is the nature of freedom that determines what is real for me.46 Because the ethical individual avoids the »mother of all sins«, that of »not willing deeply and inwardly«, he does not base his life upon something »accidental and inessential«, but bases the distinction between the essential and the accidental upon the task that is what is truly of his essence—a task that is given to him, but which he gives shape (edits) in the carrying out of it, in his life.47 This conclusion is supported by a consideration of the wider context in which the Judge’s lone reference to the editor occurs. The discussion above immediately follows the Judge’s discussion at 232 of the Delphic demand, γνῶθι σεαυτόν, know
45 Ebd., S. 226. 46 Epictetus, who followed Socrates in not writing, is recorded as saying, »Some things are up to us and others are not. Up to us are opinion, impulse, desire, aversion, and, in a word, whatever is our own action. Not up to us are body, property, reputation, office, and, in one word, whatever is not our own action. The things that are up to us are by nature free, unhindered, and unimpeded; but those that are not up to us are weak, servile, subject to hindrance, and not our own.« Epictetus: The Discourses, S. 287. This can sound very like the Judge. Where they differ is in Epictetus’ confidence that his ethical teaching reflects the state of the world. For the Stoics, ethics, logic, and physics together formed a philosophical system in which each was a different mode of accessing same truth, the same reality. None of Kierkegaard’s pseudonymous authors would ever affirm anything like this. 47 S. Kierkegaard: Either/Or, Part II, S. 171, 173.
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yourself. This is obviously a crucially important moment for a reader with Thomä’s interests, and he is careful to note it: Bei Kierkegaard ist der Adressat der Veröffentlichung kein anderer als der Mensch, der (als Protagonist) gelebt hat, von ihm selbst (als Autor) geschildert und von ihm selbst (als Redakteur) kundgetan wird. Die Lebensgeschichte, die er verantwortet, dient dem Zweck der Selbsterkenntnis, des »gnothi seauton« (EO II, 275 [232]); der Mensch erwartet von sich als dem Redakteur des eigenen Lebens, daß dieser das, was sein Leben ausmacht, kundtut, daß er ihn so vor Augen bringt, wie er ist.48
The kind of knowledge involved in self-knowledge is on this account no different from the kind of knowledge one might have of propositions or texts. (The Lebensgeschichte, as we have seen, takes the form of a text.) I know myself (to the extent that I do) in the same way that I know that the proposition »Donald Trump is an inveterate liar« is true, or the way I know that the historical narrative of Mark Mazower’s history of 20th century Europe, Dark Continent, is largely accurate. This is not, however, how the Judge writes of self-knowledge. The »primary difference« between an ethical and an esthetic individual is, he writes, that the person who lives ethically has seen himself, knows himself, penetrates his whole concretion with his consciousness. . . . The phrase γνῶθι σεαυτόν [know yourself] is a stock phrase, and in it has been perceived the goal of all a person’s striving. And this is entirely proper, but yet it is just as certain that it cannot be the goal if it is not also the beginning. The ethical individual knows himself, but this knowledge is not simply contemplation.49 It is precisely as objects of contemplation that I know that propositions and historical narratives are true or false (to the extent that they are).50 If this is not how the
48 D. Thomä: Erzähle Dich Selbst, S. 52. 49 S. Kierkegaard: Either/Or, Part II, S. 232. In his first Letter to A, the Judge addresses him as »my good Mr. Observer«. Ebd., S. 46. James Conant has argued at length that the fundamental distinction between the aesthetic, on the one hand, and the ethical and the religious, on the other, is that the former treats life as observation. See J. Conant: »Kierkegaard, Wittgenstein, and Nonsense«; J. Conant: »Putting Two and Two Together«, and J. Conant: »Nietzsche, Kierkegaard, and Anscombe on Moral Unintelligibility«. 50 Thomä relates the Judge’s insistence on an absolute choice and not a merely relative one among finite goods to Hegel’s account in the Introduction to the Phenomenology of Spirit of the inability of knowledge (Wissen) to obtain satisfaction within the confines of a natural life and its need to go beyond its immediate existence (unmittelbares Dasein), something that only a consciousness that is the notion (Begriff) of itself can do. D. Thomä: Erzähle Dich Selbst, S. 47, 283 and G.W.F. Hegel: Phänomenologie des Geistes: S. 74. As
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ethical individual knows himself, the ethical individual’s self-knowledge will be at once his goal and his beginning in a different sense than, say, that of Socrates’ defense of the doctrine of anamnesis in the Meno. It is not just that one must (in the beginning) have a vague sense or recollection of an item of propositional knowledge if one is to pursue it in anything but a hopelessly haphazard fashion. But what more is required? The Judge continues, When the individual knows himself, he is not finished; but this knowing is very productive, and from this knowing emerges the authentic individual. If I wanted to be clever, I could say that the individual knows himself in a way similar to the way Adam knew Eve, as it says in the Old Testament. Through the individual’s intercourse with himself the individual is made pregnant by himself and gives birth to himself.51
Self-knowledge is not a cognitive state or disposition, but a procreative deed, an »inner deed«52 of love in which the self is other to itself (Adam to its own Eve, and Eve to its own Adam), and, for this reason, generative of a new self (their child) that is equally other to its current self.53 The Judge continues: The self the individual knows is simultaneously the actual self and the ideal self, which the individual has outside himself as the image whose likeness he is to form himself, and which on the other has within himself, since it is he himself. […] Only within himself can the individual become enlightened about himself. That is why the ethical life has this duplexity, in which the individual has himself outside himself within himself. Meanwhile the exemplary self is an imperfect self, for it is only a prophecy and thus it is not the actual self. But it escorts him at all times; yet the more he actualizes it, the more it vanishes within him. […] When the individual has known himself and chosen himself, he is in the process of actualizing himself.54
the above discussion confirms, however, the Judge does not share Hegel’s concern in this passage with knowledge and cognition. 51 S. Kierkegaard: Either/Or, Part II, S. 232. 52 Ebd., S. 158. 53 In his doctoral dissertation, The Concept of Irony, Kierkegaard writes that γνῶθι σεαυτόν »contains an ambiguity that serves to recommend it, since it is just as applicable to a theoretical as to a practical position.« S. Kierkegaard: The Concept of Irony, S. 260. The Judge’s characterization of the proper meaning of the phrase can be seen as a further development of the latter. In this context, compare the emphasis on action over knowledge in For Self-Examination. S. Kierkegaard: For Self Examination, S. 116. 54 S. Kierkegaard: Either/Or, Part II, S. 232-3.
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This process does not end, for it could end only as it began: in self-knowledge; but, as is now plain, the self-knowledge that »cannot be the goal if it is not also the beginning« is nothing but this process of self-actualization.55 This is confirmed when the Judge returns to the idea that the ethical is that wherein the individual becomes what he becomes. At 201 he writes, It was said that every esthetic view of life is despair; this was due to its having been built upon both that which can be and not be. This is not the case with the ethical life-view, for it builds its life upon that which »to be« essentially belongs. The esthetic, it was said, is that in a person whereby he immediately is the person he is; the ethical is that whereby a person becomes what he becomes. This by no means says that the person who lives esthetically does not develop, but he develops with necessity, not in freedom; no metamorphosis takes place in him.
The generative process of self-knowledge is this metamorphosis, and it is neither written nor read. In this context, consider again the lines we noted at the start that Thomä cites regarding the history of the self’s discovery »in which he acknowledges identity with himself«. The sentence as a whole reads as follows: »Now he discovers that the self he chooses has a boundless multiplicity within itself inasmuch as it has a history, a history in which he acknowledges his identity with himself«.56 When Thomä cites part of this line, he does not indicate how odd the thought is of the self discovering (Er entdeckt nun) that it has a history. This »discovery« is even odder if one reads this, with Thomä, as the discovery that one has a history in continuity that is maintained across changing times and conditions. What could be more obvious than this? Who could possibly »discover« this? Thomä also passes over in silence the lines that immediately follow: »This history is of a different kind, for in this history he stands in relation to other individuals in the race and to the whole race, and this history contains painful things, and yet he is the person he is only through this history« (Kierkegaard, 1987b, 193). What is this history »of a different kind«? Different from what, and how? The Judge continues:
55 I argue elsewhere that, though he does not explicitly cite these passages, we can see in retrospect that Stanley Cavell’s long study of Kierkegaard decisively influences his account of what he terms Emersonian Perfectionism, in which the same dynamic is at play. Norris, forthcoming. Kierkegaard’s contribution to any such perfectionism is easily obscured by his hostility to the Goethean tradition. On this, see J. Garff: Søren Kierkegaard, S. 624-5. 56 S. Kierkegaard: Either/Or, Part II, S. 193.
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That is why it takes courage to choose oneself, for at the same time as he seems to be isolating himself most radically he is most radically sinking himself into the roots by which he is bound up with the whole. This makes him uneasy, and yet it must be so, for when the passion of freedom is aroused in him—and it is aroused in the choice just as it presupposes itself in the choice—he chooses himself and struggles for this possession as for his salvation, and it is his salvation. He can give up nothing of all this, not the most painful, not the hardest, and yet the expression for this struggle, for this acquiring is—repentance. He repents himself back into himself, back into the family, back into the race, until he finds himself in God. Only on this condition can he choose himself absolutely.
Thomä, of course, notes the Judge’s concern with repentance or Reue, relating it, naturally enough, to the awkward facts (Mißliches) of one’s history that one might wish to forget.57 And, as noted above, he begins his discussion of Kierkegaard by quoting the opening lines of The Sickness Unto Death. Immediately after these lines, Anti-Climacus writes, »Such a relation that relates itself to itself, a self, must either have established itself or been established by another. […] The human being is such a derived, established relation, a relation that relates itself to itself and in relating itself to itself relates itself to another«.58 Anti-Climacus’ name for this other is God. The passage I have just quoted, however, adds that the self is dependent upon a series of intermediary bodies—the family, the race—into which it must also repent itself. This is plainly something different than asserting that the self’s history unfolds within the larger context of the family and the race. For one thing, their position vis-à-vis the self is analogous here to God’s, and the Judge plainly thinks of God as something more than the widest context for our lives and actions. For another, it is unclear at this point what it would mean to repent oneself into other contextual features of one’s life and actions, such as the features of the natural world that make them possible (e.g., the laws of gravity and the conservation of energy). The questions I have raised regarding the discovery and the history of a different kind are, I think, answered if we recall our discussion of the historical, futural quality of the individual’s task: none of this is common knowledge, or a feature of the basic experience of the immature human being. Nor is there anything odd in the suggestion that taking this seriously as a challenge to one’s own life requires courage. But how are we to understand repentance if not as regret for past misdeeds, like the aching regret the narrator of »Folsom Prison Blues« feels when he sings, »I shot a man in Reno/ Just to watch him die«? This is a huge question, and I have neither the space to properly answer it nor the confidence that I could even if I did.
57 D. Thomä: Erzähle Dich Selbst, S. 52-3. 58 S. Kierkegaard: The Sickness Unto Death, S. 127-8.
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But I would suggest that any satisfactory answer would focus on precisely this section of Either/Or. The very next lines after those I have just quoted turn immediately to the question of love: Yet what is a human being without love? But there are many kinds of love. I love my father and my mother differently, my wife, in turn, in another way, and each different kind of love has its different expression. But there is also a love with which I love God, and this love has only one expression in language—it is »repentance.« If I do not love him in this way, then I do not love him absolutely, out of my innermost being.59
The temptation is almost overwhelming to assume that the Judge writes this because he thinks that such a lover of God would have to be overcome with regret and shame and perhaps fear of the Lord’s righteous anger at the thought of the »awkward facts« of his history and the discrepancy between those facts—Thomä’s historical record—and the perfections of God. But this is not quite what the Judge writes. He writes, Any other love of the absolute is a fallacy, for (to take what is ordinarily so highly prized and what I myself esteem) when thought with all its love holds fast to the absolute, then it is not the absolute I love, then I do not love absolutely, for I love out of necessity. As soon as I love freely and love God, then I repent. And if there were no other basis for repentance as the expression of my love of God, it is this—that he has loved me first.60
It is clear enough that an intellectualist approach turns all of this into another sterile proof of God, not a matter of love. But how are we to take this concluding reference to I John 4:19 (»We love him, because he first loved us/Lasset uns lieben, den er hat uns zuerst geliebt«)? One could, I suppose, see it, again, as referring to one’s sinful past: even as I was whoring and gambling, without a thought of the Lord, the Lord was there, loving me. But the Judge, again, does not quite say this. He says only that God loved me first. If we focus, then, not on what my non-love would look like or entail, but on God’s initial love, we can then ask how that love expressed itself. And here, I would suggest, a natural thought is, it expressed itself in the gift of my life.61 Recall that in the previous paragraph the Judge wrote of my
59 S. Kierkegaard: Either/Or, Part II, S. 194. 60 Ebd. 61 I am influenced here by Knud Løgstrup’s account, in The Ethical Demand, of the ethical significance of the experience of one’s life as a gift. See, e.g., K. E. Løgstrup: The Ethical Demand, S. 116, 127. Whether—in reality or in Kierkegaard—the giver of my life is best thought of as the kind of divine being I was taught about in catechism, is far from clear.
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choice entailing that I repent myself back into myself, my family, the race, until I find myself in God. The strange phrase, repent into, is less odd if one thinks of it as a kind of grateful and loving acknowledgment of my life and of that from which it grows: loving myself, my family, the human race, God. This involves my past, no doubt, but it goes far beyond that. Indeed, properly grasped it expresses itself in the choice the Judge demands of his young friend: the choice to become what he becomes. * I have argued at some length against Thomä’s reading of this section of Either/Or, and I hope that I have succeeded in showing that there is more to learn from this difficult text, not only about philosophy and the complexities of post-Hegelian 19th century philosophy, but also how to approach the difficult task of living. But have I thereby taught Thomä anything? I doubt it. Not because I know him to be someone so impossibly hardheaded that he has been deemed unteachable. Of a man of such great and liberal learning as Dieter Thomä, that could hardly be said. But because the things that, on my reading, the Judge in Either/Or most prizes—living action, not empty contemplation; an eager and thankful acceptance of the gifts of life and thought; a willingness to put the self as it is in service to the self as it might be—are things that Thomä has already openly embraced, not by his words but by his mode of life. (The English have an expression, carrying coals to Newcastle.) If most academics were lucky enough to be honored by a Festschrift such as this, they would rightly regard it as the capstone of an all-but completed career, a good place to stop. But those of us who know Thomä, know well that for him it will be anything but that.
LITERATUR Agamben, Giorgio: Homo Sacer: Sovereign Power and Bare Life, Stanford: Stanford UP 1998. Conant, James: »Kierkegaard, Wittgenstein, and Nonsense«, in: ders. Pursuits of Reason, Lubbock 1993. Conant, James: »Putting Two and Two Together: Kierkegaard, Wittgenstein and the Point of View for Their Work as Authors«, in: Timothy Tessin/Mario von der Ruhr (Hg.) The Grammar of Religious Belief, London 1995. Conant, James: »Nietzsche, Kierkegaard, and Anscombe on Moral Unintelligibility«. in: Dewi Phillips (Hg.) Religion and Morality, London 1996.
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Dietrichson, Paul: »Kierkegaard’s Concept of the Self«, in: Inquiry 8 (2008), S. 132. Epictetus: The Discourses, London 1995. Frankfurt, Harry: »Freedom of the Will and the Concept of a Person«, in: ders. The Importance of What We Care About, Cambridge 1988. Garff, Joakim: Søren Kierkegaard: A Biography, Princeton 2005. Habermas, Jürgen: Postmetaphysical Thinking: Philosophical Essays, London 1992. Hegel, G.W.F.: Phänomenologie des Geistes: Werke Band 3, Frankfurt am Main 1969. Hegel, G.W.F.: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte: Werke Band 12, Frankfurt am Main 1970. Hegel, G.W.F.: Grundlinien der Philosophie des Rechts: Werke Band 7, Frankfurt am Main, 1970. Kierkegaard, Søren: The Sickness Unto Death, Princeton 1980. Kierkegaard, Søren: Either/Or, Part I, Princeton 1987. Kierkegaard, Søren: Either/Or, Part II, Princeton 1987. Kierkegaard, Søren: Stages on Life’s Way: Studies by Various Persons, Princeton 1988. Kierkegaard, Søren: The Concept of Irony with Continual Reference to Socrates, Princeton 1989. Kierkegaard, Søren: For Self Examination: Judge for Yourself, Princeton 1990. Kierkegaard, Søren: Concluding Unscientific Postscript to Philosophical Fragments, Princeton 1992. Kierkegaard, Søren: Works of Love, Princeton 1995. Løgstrup, Knud Ejler, The Ethical Demand, Notre Dame 1997. MacIntyre, Alasdair, After Virtue: A Study in Moral Theory, Second Edition, London 1985. Norris, Andrew: »On the First Person: Kierkegaard/Cavell«, in: ders. Cavell and Modernism, London, im Erscheinen. Rousseau, Jean-Jacques: The First and Second Discourses, Boston 1964. Schmitt, Carl: Politische Theologie: Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 1996. Thomä, Dieter: Erzähle dich selbst: Lebensgeschichte als philosophisches Problem, Frankfurt am Main 2007. Thomä, Dieter/Kaufmann, Vincent/Schmid, Ulrich: Der Einfall des Lebens: Theorie als geheime Autobiographie, München 2015.
Was niemanden angeht1 Susanne Burri
One is a self only among other selves. Charles Taylor, Sources of the Self
In meinem Facebook Newsfeed fand ich kürzlich den Post einer Person, die ich vor Jahren an einer Konferenz kennengelernt und seither nicht wiedergesehen hatte. Der Post war ebenso kurz wie gravierend: A few days before the due date, I had a stillbirth. It’s been a difficult time, but [my partner] and I are doing well. We're lucky to have had a lot of amazing support, in addition to great […] medical care.
Die Nachricht wühlte mich auf und ging mir lange Zeit nicht aus dem Kopf. Natürlich taten mir meine entfernte Bekannte und ihr Partner sehr leid, aber was mir ehrlicherweise keine Ruhe ließ war der Gedanke, dass meine Bekannte sich hier einen Bärendienst erwiesen hatte. Sie hatte öffentlich gemacht, womit viele von uns vermutlich viel zurückhaltender umgegangen wären. Ich befürchtete, dass sie mit ihrer öffentlichen Bekanntmachung vielleicht eine Lawine von Reaktionen losgetreten hatte, mit der sie momentan noch gar nicht umzugehen bereit war, da ihr der feste Grund unter ihren Füssen fehlte. Einfache Beileidsbekundungen lassen sich vielleicht noch einordnen, selbst wenn sie ungewohnt zahlreich eintrudeln; taktlosen Nachfragen, unüberlegten Kommentaren und scheinbar gutgemeinten Ratschlägen möchte ich mich in einer solchen Trauersituation jedoch nicht ausgeliefert wissen. Weiter erschien mir die Bekanntmachung meiner Bekannten seltsam deplatziert inmitten der üblichen Informationsflut, die mein Facebook-Newsfeed normalerwei-
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Für hilfreiche Diskussionen und Kommentare danke ich Toni und Maria Burri und Thomas Seiler.
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se bereithält. Auf Facebook teilt man standardmäßig Freuden (Reise- und Kinderfotos), Erfolge (Beförderungen, publizierte Artikel, »Sie hat ja gesagt!«) sowie allerlei Meinungen zum Zeitgeschehen, nicht aber Schicksalsschläge und ernsthafte persönliche Probleme. Im Grundsatz, so scheint es mir, gibt es immer noch Dinge, welche die Öffentlichkeit nichts angehen und die auf Facebook entsprechend wenig verloren haben. Ich fragte mich, ob die Bekanntmachung meiner Bekannten vielleicht anzeigte, dass hier gerade ein Umdenken stattfindet. Leben wir bald in einer Welt, in der für viele Menschen kein Unterschied mehr besteht zwischen dem, was sie mit Freunden und Familie teilen und dem, was sie öffentlich zugänglich machen? Die Idee erfüllte mich mit Unbehagen. Gleichzeitig trieb mich um, ob ich vielleicht daneben lag mit meiner kritischen und möglicherweise übermäßig zurückhaltenden Einstellung. Warum nicht teilen, was nun mal traurige Tatsache geworden war? Warum schweigen über etwas, was einen zweifelsohne vollständig in Beschlag nimmt? In diesem Essay gehe ich der Frage nach, ob ich mit meiner anfänglichen Reaktion richtig lag und wir alle gut daran täten, wenn wir uns ob schwerer Schicksalsschläge gegenüber entfernteren Bekannten so weit wie möglich bedeckt hielten. Mein Fazit lautet: Ich lag mit meiner anfänglichen Reaktion eher daneben. Auch wenn im Umfeld öffentlicher Bekanntmachungen von Schicksalsschlägen handfeste Gefahren lauern, überwiegt insgesamt doch das positive Potential solcher Bekanntmachungen – sowohl in Bezug auf das soziale Umfeld der bekanntmachenden Person, als auch auf die bekanntmachende Person selbst. Bevor ich mich der Frage meines Essays näher annehme, scheint mir folgende thematische Eingrenzung wichtig. Manchmal teilen wir mit unserem weiteren Umfeld Schicksalsschläge oder schwierige Erfahrungen und verknüpfen diese sogleich implizit oder explizit mit einem Appell. In solchen Fällen nutzen wir unsere Geschichte, um stoßende soziale Verhältnisse anzuprangern und Wandel anzuregen, oder wir weisen am Beispiel unserer Geschichte auf vermeidbare Gefahren hin, damit anderen unser Leidensweg erspart bleiben möge. Die #metoo-Bewegung illustriert die erste dieser beiden Möglichkeiten; der folgende öffentliche FacebookPost2 einer mir gänzlich unbekannten Person die zweite: It has been a few days since I have provided an update. I am not sure if many of you are aware of what happened to my little Sophia, so I am hoping to provide some information for everybody. Sophia caught Herpes Simplex 1 (HSV 1) or the common cold sore virus […] Unfortunately the HSV virus went undetected for too long. Her liver failed to the point where her ammonia
2
Siehe www.facebook.com/SophiaMarshallSTRONG/, Post vom 14. Juli 2016, abgerufen am 25. Juni 2019.
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levels skyrocketed and caused her brain to swell beyond repair. After days with no signs of brain activity we withdrew care. When we learned that all of this happened due to a virus most of the population carries, we were in shock. Symptoms here are very similar to ›normal‹ baby behavior, and often written off as just that. […] I wish I heard about this. A virus that symptomizes in normal newborn behavior, yet I didn’t [take seriously] my gut feeling because I was just told it's normal. I just hope to reach one person, save one baby, save one family from having to go through this. Please share, share, share so this can be spread and more parents become aware of this ›simple‹ yet deadly virus!
Ich möchte Bekanntmachungen, die mit einem solchen Appell verbunden sind, explizit von meiner Untersuchung ausklammern. Appelle werfen Fragen auf, die ich hier nicht näher untersuchen kann, wie beispielsweise: Kann ein Handlungsappell die öffentliche Bekanntmachung von Schicksalsschlägen legitimieren, weil er die Verlegenheit mindert, in welche wir als Adressaten leicht geraten, wenn wir glauben, auf die Bekanntmachung irgendwie reagieren zu müssen, nämlich indem der Appell klärt, worauf die Bekanntmachung angeblich abzielt? Oder auch: Kann man seinem Leiden Sinn verleihen und es besser einordnen, wenn man es dazu nutzt, ähnliches Leiden bei anderen vorzubeugen? Das Erkunden solcher Fragen erscheint mir wichtig und sinnvoll, aber im Folgenden möchte ich einzig der enger umgrenzten Thematik nachgehen, unter welchen Umständen sich das Teilen »nackten« Leidens, also eines Schicksalsschlages ganz ohne Appell, rechtfertigen lässt. Das eingangs erwähnte Beispiel scheint mir ein besonders reiner Fall eines solchen appelllosen Teilens. Die Verlegenheit der Adressaten Eben habe ich impliziert, dass man mit dem weiträumigen Teilen »nackten« Leidens andere Menschen rasch in Verlegenheit bringen kann. Erzählt man einem guten Freund oder einer guten Freundin von seinem Leiden, hofft man auf Anteilnahme und vielleicht auch auf einfühlsame Nachfragen, die helfen, das Erlittene verstehend einzuordnen. Was aber erhofft man sich von entfernten Bekannten? Ihr Beileid, wenn sie solches ausdrücken, ist austauschbar und wirkt entweder abgedroschen oder sonst rasch aufgesetzt; Nachfragen können entfernte Bekannte keine formulieren, ohne krass distanzlos und unanständig zu wirken. Um zum Eingangsbeispiel meiner entfernten Bekannten zurückzukehren: Hätte ich sie nach den Umständen ihrer Totgeburt gefragt, so hätte meine Bekannte mit Recht schockiert reagiert – diese Umstände gehen mich nun einmal wirklich nichts an. Ich will hier offenlassen, inwiefern die Verlegenheit, die ich entfernten Bekannten hier zuschreibe, auf guten Gründen beruht. Vielleicht sind Beileidsbekundungen
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nicht dadurch schon wertlos, dass sie austauschbar sind; möglich ist auch, dass eine Beileidsbekundung gar nicht in dem Maße abgedroschen und austauschbar klingt, wie wir uns dies manchmal vorstellen. Stattdessen möchte ich hier nur feststellen, dass die von mir thematisierte Verlegenheit deswegen übertrieben ist, weil sie verkennt, was eine öffentliche Bekanntmachung – auf Facebook, in einer Tageszeitung, durch welche Kanäle auch immer – eigentlich ist. Erstens richtet sich eine öffentliche Bekanntmachung nicht direkt an individuelle Adressaten, sondern immer an eine Gruppe von Adressaten. Zweitens ist typisch an solchen Bekanntmachungen, dass die bekanntmachende Person nicht erwarten kann, mit ihrer Nachricht alle Personen in der von ihr anvisierten Gruppe zu erreichen. Diese zwei Eigenschaften haben zur Folge, dass eine öffentliche Bekanntmachung zur Reaktion vielleicht einlädt, eine solche aber in keiner Weise erzwingt. Macht mich eine Bekanntmachung verlegen, kann ich als Teil der adressierten Gruppe einfach keine Stellung zu ihr beziehen und gänzlich offenlassen, ob ich die Bekanntmachung nicht gesehen oder mich aus anderen Gründen gegen eine direkte Reaktion entschieden habe. Mir scheint sogar, dass dies eine wichtige Funktion der öffentlichen Bekanntmachung ist: Sie macht etwas einer Gruppe von Personen auf unaufdringliche Art und Weise zugänglich, das heißt ohne einzelne Individuen auf eine explizite Reaktion zu verpflichten. Sie macht klar, dass ein Schicksalsschlag kein Geheimnis ist und dass Adressaten auf ihn zwar reagieren dürfen, ihn jedoch ebenso als für ihre Belange nicht relevant zur Seite schieben können. Weiter kann eine öffentliche Bekanntmachung aktiv zur Verlegenheitsreduktion beitragen, indem sie entfernteren Bekannten hilft, Fettnäpfchen zu vermeiden. Wer seine Schwangerschaft breit geteilt hat, tut sich wahrscheinlich gut daran, auch seine Totgeburt breit zu teilen, da sonst das Risiko besteht, dass man immer wieder – vermeintlich unverfänglich – auf seinen Familienzuwachs angesprochen wird. So betrachtet ist die öffentliche Bekanntmachung etwas, was eine zwischenmenschlich leicht befangene Gesellschaft eher entlastet als belastet. Die Last des Tabus Wir können bei der Idee einer zwischenmenschlich leicht befangenen Gesellschaft bleiben, um einen weiteren Vorzug öffentlicher Bekanntmachungen privaten Leidens herauszuarbeiten. In einer Gesellschaft, in der es verbreitet als unangenehm empfunden wird, wenn man die Schicksalsschläge anderer nicht einfach geflissentlich übergehen darf, zielt die normative Idee, dass solche Schicksalsschläge im Grundsatz »niemanden etwas angehen« wohl nicht nur auf den Schutz der Privatsphäre der Betroffenen ab. Auch wenn die normative Idee einerseits dazu dient, indiskrete Fragen zu verurteilen und ihnen damit vorzubeugen, so scheint es doch plausibel, dass mit ihr gleichzeitig immer auch die Betroffenen leise dazu ermahnt
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werden (und ermahnt werden sollen!), dass sie mit ihrem Leiden grundsätzlich selbst klarzukommen haben. Hilfe mögen sie allenfalls von Freunden und Familie oder in Form einer privat zu finanzierenden Therapie erwarten; die Gesellschaft als solche ist für ihr Leiden nicht zuständig. Vielleicht verweist es auf übermäßig individualistische Tendenzen in einer Gesellschaft, wenn Leiden zur Privatsache erklärt wird; vielleicht fehlt einer Gesellschaft der Zusammenhalt, wenn Schicksalsschläge ihrer Mitglieder nicht generell thematisiert und betrauert werden.3 Möglich ist aber auch, dass damit eine sinnvolle Arbeitsteilung implementiert wird, einfach weil Schicksalsschläge nur sehr langsam und in einem wenig geradlinigen Such- und Verarbeitungsprozess überwunden werden können, in welchem gesellschaftliche Anteilnahme nur eine untergeordnete Rolle spielt und in welchem sich gewisse Formen der Einmischung plausiblerweise auch schädlich auswirken können. Klar ist jedoch, dass die Privatsphäre, selbst wenn sie Betroffene schützt, sie diese gleichzeitig auch isoliert. Wenn über Leiden nicht allgemein gesprochen wird, haftet diesem Leiden immer auch etwas Beschämendes an. Man weiss zwar, dass man mit seinem Leiden nicht allein ist, sucht vielleicht sogar den Austausch mit anderen Betroffenen in einem geschützten Rahmen. Dennoch bleibt man in seiner Rolle als betroffene Person ein Außenseiter; man trägt seine Verletzung mit sich herum, dauernd darauf bedacht, sie nicht zum Thema zu machen. Um zum Beispiel der Totgeburt zurückzukehren, in einer kürzlich publizierten Studie untersuchen Heazell et al. die ökonomischen und psychosozialen Folgen von Totgeburten und stellen fest: The capacity to express and integrate grief reactions was a crucial part of parents’ psychological responses. Many studies described disenfranchised grief, when parents felt their grief was
3
Eine Gesellschaft, die keine Verantwortung für die Schicksalsschläge ihrer Mitglieder übernehmen will, erinnert in ihrer scheinbaren Kaltherzigkeit unweigerlich an Ralph Waldo Emersons prägnanten Ausspruch: »Are they my poor?« (R.W. Emerson: »SelfReliance«, S. 262-3; Hervorhebung im Original). Emerson klärt an der betreffenden Stelle in Self-Reliance, dass zumindest nicht jede arme Person »die seine« sei: »Then again, do not tell me, as a good man did to-day, of my obligation to put all poor men in good situations. Are they my poor? I tell thee, thou foolish philanthropist, that I grudge the dollar, the dime, the cent, I give to such men as do not belong to me and to whom I do not belong. There is a class of persons to whom by all spiritual affinity I am bought and sold; for them I will go to prison, if need be; but your miscellaneous popular charities […] and the thousandfold Relief Societies;—though I confess with shame I sometimes succumb and give the dollar, it is a wicked dollar which by and by I shall have the manhood to withhold.«
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not legitimized or accepted by health professionals, family, or society. This issue was particularly evident in [low- and middle-income cultures], in cultures where talking about death is taboo, and where the dead baby was not yet deemed to be a person. In these contexts, mothers’ accounts suggested that they suppressed grief in public, instead choosing to deal with the emotions privately and alone.4
Wer sich in einem solchen Umfeld dazu entscheidet, seinen Schicksalsschlag öffentlich bekanntzumachen, der leistet meiner Meinung nach einem wertvollen Beitrag zur Normalisierung und Enttabuisierung seines Leidens. Selbst wenn – oder vielleicht gerade wenn – die bekanntmachende Person keine Anstalten macht, sich in Bezug auf ihr Leiden als Wortführerin zu etablieren, so sendet sie mit ihrer Bekanntmachung doch ein wichtiges Signal, welches anderen Betroffenen helfen kann, sich weniger isoliert und unverstanden zu fühlen. Doch selbst wenn aus Sicht der Adressaten nichts gegen eine öffentliche Bekanntmachung spricht, so bleiben doch Zweifel. Insbesondere bleibt die Vermutung, dass die betroffene Person sich vielleicht selbst schadet, wenn sie über den Kreis von notwendigen Adressaten hinaus streut, was ihr widerfahren ist. Was dieser Vermutung zugrunde liegt ist meiner Ansicht nach der Gedanke, dass Zeiten der Verletztheit und der Trauer immer – und im Interesse der betroffenen Person – auch Zeiten des Rückzugs sind, wo man sich sammelt und soweit möglich nur mit engen Vertrauten den Austausch sucht. Die Rolle enger Vertrauter: ein Vorschlag Wenn wir von einem Schicksalsschlag getroffen werden, ist uns oft unbegreiflich, was vorgefallen ist. Wir wissen zwar, was passiert ist, aber es fehlt uns ein angemessener Bezug dazu: Wir können es nicht verstehen. In diesem schockähnlichen Zustand gehen wir oft weiter unseren täglichen Verpflichtungen nach und tun gewissermaßen so, als wäre nichts passiert, einfach weil wir noch nicht wissen, was unser Schicksalsschlag für uns bedeutet. Wenn an dieser Schilderung etwas dran ist, dann mag der oben erwähnte Rückzug in Zeiten der Trauer dazu dienen, dass Schock und Unverständnis allmählich einem Zustand weichen, in dem wir mit uns selbst und mit unserem Schicksal wieder besser zurechtkommen: Wir ziehen uns zurück, um verstehend einzuordnen, was uns widerfahren ist. In Erzähle dich selbst plädiert Dieter Thomä für die Rolle von Erzählungen in einer praktischen Selbstbeziehung, in der das Individuum freundschaftlich oder sogar liebend mit sich selbst auszukommen sucht. Streben wir
4
A. E. P. Heazell et al.: »Stillbirths: Economic and psychosocial consequences«, S. 606-7.
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eine solche Selbstbeziehung an – und sie scheint mir etwas durchaus Erstrebenswertes – dann müssen wir uns einer wichtigen Herausforderung stellen, wenn uns klar wird, dass wir mit uns selbst nicht im Reinen sind. Statt aufkeimende Diskrepanzen einfach zu ignorieren, sind wir in solchen Momenten dazu aufgefordert, unser Selbstbild – unsere Erzählungen über uns selbst – so lange zu modifizieren und auf ihre Stimmigkeit zu prüfen, bis wir uns erneut selbst leiden können.5 Ob man einen stimmigen Zugang zu sich selbst gefunden hat, eröffnet sich nicht rein introspektiv: »[M]an »spürt«, ob man mit sich im Reinen ist, im Zuge seines Umgangs mit der Welt […] «6 insbesondere im Treffen von Entscheidungen, in denen man sich frei und unbehindert fühlt.7 Kurzum, wenn nach einem Schicksalsschlag berechtigterweise unser Selbstbild aus dem Lot gerät, können wir uns selbst langfristig nicht freundschaftlich zugewandt bleiben, wenn wir nicht einen neuen Zugang zu uns selbst finden. Es ist denkbar, dass wir unsere Beziehung zu uns selbst ganz allein neu ausrichten können. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass aufmerksame und zugewandte Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner vielfach eine unentbehrliche Rolle spielen. Finden wir jemanden, der uns wohlgesinnt ist, der verständnisvoll, interessiert und unvoreingenommen auf uns einzugehen vermag, so können wir im Dialog verschiedene Narrative ausprobieren und laufen vermutlich weniger Gefahr, uns in Sackgassen zu verrennen. Zweifelsohne ist so ein Verarbeitungsprozess zeitintensiv und bedingt Geduld und Vertrauen; als öffentliches Spektakel taugt er nicht. Philosophisch scheint mir diese Interpretation dessen, was ein Schicksalsschlag bei uns auslöst, aufschlussreich und ergiebig. In Bezug auf die Thematik dieses Essays sind jedoch zwei Punkte kritisch anzumerken. Erstens besteht keine Garantie, dass ein Rückzug unter enge Vertraute einem solchen Verarbeitungsprozess auch tatsächlich förderlich ist. Gerade wenn enge Vertraute mitbetroffen sind oder der betroffenen Person – bewusst oder unbewusst – mit Erwartungen und voreingenommenen Meinungen gegenübertreten, findet die betroffene Person in diesen engen Vertrauten möglicherweise keine idealen Gesprächspartner. Zweitens ist unklar, inwiefern der eben geschilderte Verarbeitungsprozess gegen eine öffentliche Bekanntmachung des Erlittenen sprechen soll. Selbst wenn ein Verarbeitungsprozess notwendigerweise fernab der Öffentlichkeit stattfindet, so scheint dennoch die Möglichkeit zu bestehen, dass man seinen Schicksalsschlag im privaten Rahmen aufarbeitet, ihn aber gleichzeitig auch öffentlich kundtut. In meinen einleitenden Bemerkungen erwähnte ich die Befürchtung, dass man direkt nach einem Schicksalsschlag vielleicht gar nicht in der Lage ist, mit einer Flut von mehr
5
D. Thomä: Erzähle dich selbst, S. 260-1.
6
Ebd., S. 264.
7
Ebd., S. 265-73.
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oder weniger wohlüberlegten Reaktionen angemessen umzugehen. Bildhaft gesprochen scheint der betroffenen Person dazu der feste Grund unter ihren Füssen zu fehlen. Kommt uns durch einen Schicksalsschlag tatsächlich ein stimmiger Bezug zu uns selbst abhanden, so scheint diese Befürchtung einerseits klar begründet. Ohne stimmigen Bezug zu uns selbst sind wir den Interpretationen und Beurteilungen anderer ausgelieferter als sonst; es fehlt uns eine kohärente Gegenposition, die wir der Meinung anderer entgegensetzen könnten. Andererseits gilt es hier erneut zu bedenken, dass Freunde und Familie nicht immer ideal dazu geeignet sind, uns bei der Suche nach einem neuen Selbstverständnis behilflich zu sein. Vielfach sind es verständlicherweise gerade nahestehende Personen, die einen solchen Prozess nicht einfach offen begleiten können, sondern ihn immer auch – bewusst oder unbewusst – zu steuern suchen. Solche intimen Steuerungsversuche scheinen mir viel gefährlicher für das Projekt einer funktionierenden Selbstbeziehung als die vereinzelten unbedachten Reaktionen entfernter Bekannter, welche auf eine öffentliche Bekanntmachung hin folgen mögen. Liege ich mit dieser Vermutung richtig, so lässt sich schließen, dass eine betroffene Person unabdinglich zur Einsicht gelangen muss, dass sie die Deutungsangebote anderer zwar unverbindlich auf ihre Stimmigkeit prüfen mag, diese jedoch keinesfalls unreflektiert zu übernehmen hat. Ohne eine solche Emanzipationsleistung lässt sich eine stimmige Selbstbeziehung nur mit sehr viel Glück erreichen, unabhängig davon, wie offen oder wie zurückhaltend man mit einem Schicksalsschlag umgeht. Selbstdarstellung als Ersatz für eine funktionierende Beziehung zu sich selbst Wenn wir etwas öffentlich bekanntmachen, so pflegen wir damit unser Image: Wir nehmen Einfluss darauf, wie wir von der Allgemeinheit gesehen werden. An sich ist solche Imagepflege weder gut noch schlecht, doch behaupten die französischen Moralisten, dass Imagepflege rasch zum Selbstzweck werden kann. Weil wir dazu veranlagt sind, die Meinung anderer sehr ernst zu nehmen, besteht die Gefahr einer ungesunden Fixierung darauf, wie wir auf andere wirken. Wenn diese Gefahr eintritt, ist die Beziehung des Individuums zu sich selbst gestört – wir sind nicht länger in der Lage, unseren Selbstwert, unsere Bedürfnisse und unsere Umstände anders als durch die Meinung anderer einzuschätzen. So bemerkt etwa Michel de Montaigne in seinem Essay Of Vanity: Whatever it is, whether art or nature, that imprints in us this disposition to live with reference to others, it does us much more harm than good. We defraud ourselves of our own advantages
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to make appearances conform with public opinion. We do not care so much what we are in ourselves and in reality as what we are in the public mind.8
Und Blaise Pascal hält in seinen Pensées fest: We do not content ourselves with the life we have in ourselves and in our own being; we desire to live an imaginary life in the mind of others, and for this purpose we endeavour to shine. We labour unceasingly to adorn and preserve this imaginary existence, and neglect the real. And if we possess calmness, or generosity, or truthfulness, we are eager to make it known, so as to attach these virtues to that imaginary existence. We would rather separate them from ourselves to join them to it; and we would willingly be cowards in order to acquire the reputation of being brave. A great proof of the nothingness of our being, not to be satisfied with the one without the other, and to renounce the one for the other!9
Der freiheitsliebende Montaigne und der asketisch-fromme Pascal konstatieren hier aus unterschiedlichen Blickwinkeln ein ganz ähnliches Problem. Sie bemängeln, dass wir unser Leben nicht genügend selbstbestimmt und authentisch führen, sondern zu viel Wert auf die Meinung und Einschätzung anderer legen.10 Folgt man Montaigne, Pascal und anderen französischen Moralisten, dann kommen wir uns durch diese Fixierung auf die Meinung anderer gewissermaßen selbst abhanden: »[W]e forget our self and we lose contact with it«.11 Jean-Jacques Rousseau nimmt dieselbe Entfremdungsproblematik später in politisierter Weise wieder auf, wenn er in seinem Discours sur l'inégalité argumentiert, dass moderne ökonomische Verhältnisse dazu führten, dass wir der Geltungssucht (»amour propre«) verfielen und es verlernten, angemessen um unser eigenes Wohlbefinden bekümmert zu sein (»amour de soi«).12 Interessant ist, dass die französischen Moralisten auf eine Selbstdarstellungsproblematik hinweisen, lange bevor Social Media Teil unseres Alltags wurde. Was sie argumentieren, mutet überdies plausibel an. Natürlich wollen Montaigne und Co. uns nicht einreden, dass uns die Meinung anderer gänzlich egal sein soll. Ihr Punkt ist nur, dass eine ungestörte Selbstbeziehung und eine authentische Lebensführung uns im Zweifelsfall immer wichtiger sein sollten als die Sorge um unsere Außenwirkung. Und diesbezüglich leuchtet durchaus ein, dass wir wahrscheinlich oftmals der Meinung anderer zu viel Gewicht beimessen. Tun wir dies sogar ge-
8
M. d. Montaigne: »Of Vanity«, S. 886.
9
B. Pascal: Pensées, Nr. 147.
10 E. Russo: »The Self, Real and Imaginary«, S. 130. 11 François de la Rochefoucauld, zitiert in ebd., S. 128. 12 J.-J. Rousseau: »Discourse on the Origin of Inequality«.
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wohnheitsmäßig, dann scheint einleuchtenderweise die Gefahr zu bestehen, dass wir uns selbst abhanden kommen und dass uns eine authentisch-freundschaftliche Beziehung zu uns selbst, so wie Thomä diese attraktiv skizziert, verwehrt bleibt: Imagepflege verdrängt die Selbstpflege. Mein einleitend erwähntes Unbehagen angesichts einer Gesellschaft, in der für viele Menschen kein grundsätzlicher Unterschied mehr besteht zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre scheint vor dem Hintergrund dieser Ausführungen durchaus berechtigt. In Bezug auf die von mir diskutierte Thematik bietet sich basierend auf den Ideen Thomäs und der französischen Moralisten nun folgende These an: Wer persönliche Schicksalsschläge dazu ausschlachtet, um Beachtung zu erhalten und sein Image zu gestalten, der läuft Gefahr, nie zu verstehen, was der Schicksalsschlag für ihn eigentlich bedeutet. Er riskiert, nie wieder aus dem Schockzustand herauszufinden, der durch den Schicksalsschlag ausgelöst wurde, weil dazu eine Neukalibrierung des eigenen Selbstverständnisses notwendig wäre, eine Fixierung auf die Meinung anderer einer solchen Neukalibrierung jedoch im Wege steht. Abschwächend muss jedoch gleichzeitig auch gesagt werden, dass eine einmalige öffentliche Bekanntmachung noch nicht darauf hindeutet, dass die betroffene Person ihren Schicksalsschlag primär als Aufforderung missverstanden hat, ihr öffentliches Image mit neuen Facetten zu schmücken. Grund zur Besorgnis entsteht erst, wenn eine ganze Serie von Bekanntmachungen den Eindruck erweckt, dass hier jemand sein Leiden zu verarbeiten versucht, indem er als fiktive Existenz in der Vorstellungskraft seines »Publikums« Höhen und Tiefen durchlebt.13 Bleibt es bei einer einmaligen Bekanntmachung, so scheint es mir ungerechtfertigt und übertrieben, wenn man in dieser Bekanntmachung bereits Spuren eines ungesunden Selbstdarstellungsdrangs auszumachen glaubt. Vielmehr scheint mir, dass eine einmalige öffentliche Bekanntmachung eines Schicksalsschlages mit einer authentischen Lebensführung durchaus im Einklang stehen kann. Erstens gilt festzustellen, dass wir fast alle unser Leben nicht allein und auch nicht nur im Kreise der Familie und im Austausch mit Freunden leben. Für die allermeisten von uns gilt, dass wir regelmäßig mit »bloßen« Bekannten in Kontakt stehen, etwa mit Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen, mit Geschäftspartnerinnen und Kunden, mit den Lehrpersonen unserer Kinder, mit Personen aus der Nachbarschaft oder mit Freunden von Freunden. Für die meisten von uns stellt sich daher die Frage, wie wir uns gegenüber solchen bloßen Bekannten präsentieren wollen. Zweitens scheint es zwar durchaus zulässig, einen persönlichen Schicksalsschlag aus seinem öffentlichen Profil gänzlich auszuklammern, also nie über diesen Schicksalsschlag öffentlich zu sprechen und damit auch nicht auf diesen ansprechbar zu sein (sofern das Gegenüber ein Minimum an Manieren hat). Nur lässt sich mit einer solchen Aus-
13 E. Russo: »The Self, Real and Imaginary«, S. 130.
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klammerungs-Strategie nicht verhindern, dass entfernte Bekannte vom Schicksalsschlag über verschlungene Kanäle dennoch erfahren. Und wann immer dies eintritt, entsteht eine Diskrepanz zwischen dem, was ein entfernter Bekannter zwar erfahren hat und zu wissen glaubt, was er jedoch höflicherweise – und möglicherweise mit viel Anstrengung, jedoch ohne viel Erfolg – weder anspricht noch sich anmerken lässt. Wem solche Interaktionen zuwider sind, der mag sich nach einem Schicksalsschlag daher durchaus vernünftigerweise dazu entscheiden, diesen öffentlich bekannt zu machen. Mit einer öffentlichen Bekanntmachung eröffnet sich potentiell wertvoller Spielraum, um Interaktionen mit bloßen Bekannten nach eigenem Gutdünken zu gestalten. Hat jemand offensichtlich bereits vom Schicksalsschlag erfahren und müht sich damit ab, sich nichts anmerken zu lassen, kann man den Schicksalsschlag erwähnen und möglicherweise beschwichtigend hinzufügen, dass der andere vielleicht bereits davon gehört habe, da man kein Geheimnis um den Vorfall mache, auch wenn man in der Öffentlichkeit, so versteht sich, weiter nicht viel zur Sache zu sagen habe. Hat jemand die öffentliche Bekanntmachung gelesen und drückt sein Beileid aus, kann man sich bedanken. Und wenn sich ein unverkrampftes Gespräch ergibt, in welchem die Problematik nicht zur Sprache kommt, kann man dieses Gespräch führen, ohne auf sein Leiden zu sprechen zu kommen. Kurzum, solange man sich im Klaren darüber ist, wie viel man öffentlich zu teilen bereit ist, und solange man sich von der einen oder anderen aufdringlichen Frage nicht in die Enge getrieben fühlt, liegt ein befreiendes Potential in der Entscheidung, seinen Schicksalsschlag im Umgang mit bloßen Bekannten nicht einfach zu verschweigen. Schließlich mag eine öffentliche Bekanntmachung auch dazu beitragen, dass man sich mehr im Gleichgewicht fühlt, weil man durch die Bekanntmachung eine bessere Übereinstimmung von Innenleben und öffentlichem Image erreicht. Verliert man ein Kind oder wird man von einem anderen Schicksalsschlag getroffen, so weiß man, dass etwas Grundlegendes passiert ist. Direkt nach dem Vorfall kann man vielleicht noch nicht nachvollziehen, was der Schicksalsschlag für einen konkret bedeutet, aber man kann sehr wohl verstehen, dass in entscheidender Hinsicht nichts mehr so sein wird, wie es zuvor einmal war. Macht man seinen Schicksalsschlag öffentlich bekannt, bedeutet dies, so scheint es mir, immer auch eine Flucht nach vorne. Bildhaft gesprochen stellt sich die betroffene Person vor eine versammelte Gemeinschaft und hält unmissverständlich und verbindlich fest: Hier bin ich, und diesen Schicksalsschlag habe ich eben erlitten. Damit erspart man sich noch nicht die Suche danach, was der Schicksalsschlag für einen bedeutet. Aber man identifiziert sich gerade auch selbstverpflichtend als betroffene Person, der eine solche Suche nun bevorsteht.
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LITERATUR Emerson, Ralph Waldo: »Self-Reliance«, in: ders. Essays and Lectures, New York 1983, S. 257-282. Heazell, A. E. P./et.al: »Stillbirths: Economic and psychosocial consequences«, in: The Lancet, 387:10018 (2016), S. 604-616. Montaigne, Michel de: »Of Vanity (III.9)«, in: ders. The Complete Works, London 2003, S. 876-931. Pascal, Blaise: Pensées, New York 1958. Rousseau, Jean-Jacques: »Discourse on the Origin of Inequality«, in: ders. The Basic Political Writings, Indianapolis 2012. Russo, Elena: »The Self, Real and Imaginary: Social Sentiment in Marivaux and Hume«, in: Yale French Studies 92 (1997), S. 126-148. Taylor, Charles: Sources of the Self. The Making of the Modern Identity, Cambridge, MA 1989. Thomä, Dieter: Erzähle dich selbst. Lebensgeschichte als philosophisches Problem, Frankfurt am Main 2007.
Erzählung des Lebens Die Filmbiographie und ihre Dekonstruktion in Todd Haynes’ I’m Not There Juliane Rebentisch
Man wird Bob Dylan kaum einen puer robustus nennen können. Dennoch hat man es hier mit einer Figur zu tun, die im Laufe ihrer Karriere immer wieder angeeckt ist, allerdings weniger in handgreiflicher Auseinandersetzung mit den Regeln, die sich aus den Erwartungen an den Star ergeben, denn durch Manöver des Entzugs und der Neuerfindung. Wie aber erzählt man ein Leben, das sich nicht in die Plots fügen mag, die man für es bereithält? Todd Haynes hat sich dieser Aufgabe mit seinem Spielfilm I’m not There (2007) gewidmet – einer Hommage an Bob Dylan, die zugleich eine Auseinandersetzung mit dem Genre des Biopics und mit der Frage ist, was es heißt, (ein) Leben zu erzählen. Wenn es ein Buch zu diesem Film gäbe, so stammte es aus der Philosophie: Nehmen wir also Dieter Thomäs Erzähle Dich selbst mit ins Kino.1 Zunächst aber: Was ist überhaupt ein Biopic? Wikipedia gibt folgende Definition: »Eine Filmbiografie, auch Biopic (von engl. biographical und engl. motion picture), bezeichnet einen Film, der in fiktionalisierter Form das Leben einer geschichtlich belegbaren Figur erzählt. Das Biopic ist eines der ältesten Filmgenres. [...] In einem Biopic muss nicht die Lebensgeschichte einer realen Person von der Geburt bis zum Tod erzählt werden, es genügt vielmehr, dass ein oder mehrere Lebensabschnitte zu einem filmischen Ganzen dramaturgisch verknüpft werden. Ein zentrales Kriterium des Biopics ist die Nennung des Namens der realen Person. Meistens wird im Biopic vorausgesetzt, dass die dargestellte Person gesellschaftliche Relevanz besitzt.«2
1 2
D. Thomä, Erzähle dich selbst. Vgl.
den
Wikipedia-Eintrag
Filmbiografie (Stand: 30.09.2018).
zur
Filmbiographie:
http://de.wikipedia.org/wiki/
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Die Geschichten, die in Biopics erzählt werden, sind so unterschiedlich wie das Leben selbst. Dennoch, so weiß Wikipedia, »hat sich gezeigt, dass vor allem Figuren der Devianz spannend für Drehbuchautoren und Produzenten sind. Das sind Figuren, deren Leben aus den konventionellen Bahnen gerät und sich meist nicht mehr im moralischen Normbereich befindet.«3 Nicht zufällig handelten Biopics denn auch besonders häufig von Künstlern. Der »Legendencharakter« der Figur werde durch die Verfilmung »aktualisiert und verstärkt«.4 Das heißt auch, dass das Biopic weniger an der detailgetreuen Darstellung des Lebenslaufs interessiert ist denn an dem, was sich an diesem Leben den Stereotypen über die Nähe von Genie und Wahnsinn fügt. Das Problem mit konventionellen Biopics sei, schreibt ein Blogger namens Prospero dazu treffend, dass sie weder der »Bio«- noch der »Pic«-Abteilung gerecht würden. Sie hätten nicht genug narrativen Schwung, um als dramatischer Spielfilm zu funktionieren, zugleich frisierten und verfälschten sie aber ihre Stoffe zu sehr, um noch als seriöse Biographien durchgehen zu können. Wenn man bereits über die Person informiert ist, die porträtiert wird, sei man gemeinhin enttäuscht, wie viel verzerrt und weggelassen wurde. Wenn man hingegen nicht als Experte ins Kino gehe, könne man nie sicher sein, wie viel von dem, was man sieht, tatsächlich den Fakten entspricht. Biopics, so Prospero weiter, pressten das widerspenstige Leben ihrer Charaktere in ein rigides Aufstieg-Fall-Aufstieg-Schema. Sie seien immer mehr an den Höllen aus Alkohol und Drogen interessiert als an den künstlerischen Leistungen. Angesichts der Schematismen aus Populärpsychologie und AlterungsMake up, die zumeist von einer Sequenz unterbrochen würden, in denen die Hauptperson in einem Moment der Inspiration ihren bekanntesten Hit komponiert, müsse man schon die Zähne zusammenbeißen.5 Ein Beispiel für ein konventionelles Biopic über einen Musiker, der übrigens auch mit Bob Dylan kooperiert hat6, ist Walk the Line (2005). Der Film erzählt eine Episode aus dem Leben von Johnny Cash. Abgesehen von der bemerkenswerten musikalischen Leistung von Joaquin Phoenix und Reese Witherspoon, die als Johnny Cash und June Carter auch alle Gesangseinlagen selbst übernommen haben, handelt es sich hier doch um ein Biopic des beschriebenen Typs. Im Zentrum des Plots steht die Tablettensucht Cashs, die mehr oder weniger küchenpsychologisch auf einen Konflikt in der Kindheit zurückgeführt wird, um am Ende durch die Liebe
3
Ebd.
4
Ebd.
5
Vgl. Prospero: »How to make a good biopic«.
6
So nahmen Dylan und Cash am 17. und 18. Februar 1969 eine Session auf, aus der unter anderem eine großartige, im Duett gesungene Fassung von Girl from the North Country hervorgegangen ist.
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zu June Carter geheilt zu werden. Dazwischen sind Szenen eingestreut, die zeigen, wie Cash musikalisch seinen Stil findet oder June Carter am Küchentisch Ring of Fire komponiert. * Anders als Johnny Cash nun eignet sich Bob Dylan von vornherein offensichtlich nicht als Gegenstand für ein derartiges Unterfangen. Wenn Dylan eine Legende ist, dann die einer sich in sehr unterschiedlichen, teilweise miteinander inkompatiblen Identitäten vervielfältigenden und dadurch entziehenden Anti-Legende. Anlässlich eines Bob-Dylan-Kongresses, der vor ein paar Jahren in Frankfurt stattfand – eine Art Gipfeltreffen der deutschen Dylanologie –, fragte zum Beispiel Rüdiger Dannemann rhetorisch: »[W]er ist nun der echte Dylan? Der Hobo oder der Dandy, dem die Attitude des L’art pour l’art auf den Leib geschneidert scheint? Der Nachfahre Rimbauds, Baudelaires und Wildes oder der Verehrer Woody Guthries? Der Protagonist des Videos zu ›Subterranean Homesick Blues‹, diesem ersten bedeutenden Beispiel dieses Genres, in dem die Grundregeln der Semiologie demonstriert werden? Nachdem wir bereits den Nashville Skyline-Dylan, den Gospel Dylan, den kaputten Dylan der achtziger Jahre, den Dylan der Never Ending Tour usw. kennengelernt haben, wissen wir inzwischen: Den einen, eindimensionalen echten Dylan gibt es nicht. Es gibt lediglich den denkenden und spielenden Künstler, der sein Kunstwerk Dylan stets neu definiert und interpretiert, der davon lebt, die von ihm geschaffenen Images immer wieder zu destruieren.«7 »Es ist [das] existentialistische Motiv der Selbstwahl, das Sartre nachempfundene Pathos eines permanenten Sich-Neuentwerfens«, ergänzte Axel Honneth, »welches Dylan in der musikalischen Artikulation von Freiheit und Distanznahme vergegenwärtigt; inmitten von Protestbewegung und Hippiekultur, zwei sozialen Strömungen, die einen starken Erwartungsdruck entweder in Richtung des politischen Wohlverhaltens oder der Authentizität ausübten, verteidigte er mit der ständigen Erprobung neuer Arrangements, mit der exzentrischen Phrasierung seiner Lieder, mit der Blasiertheit seiner Stimme, das Recht des Einzelnen, sich stets radikal neu zu entwerfen.«8
Ich möchte die freiheitstheoretischen Motive, die Dylan hier zugeschrieben werden, zunächst unkommentiert lassen und lediglich zusammenfassen: Bob Dylan ist eine Herausforderung für das Genre des traditionellen Biopics. Sein Charakter entzieht sich immer wieder in andere Identitäten, zwischen denen Sprünge bestehen, die sich
7
R. Dannemann: »Maskenspiele der Freiheit«, S. 62 f.
8
A. Honneth: »Verwicklungen von Freiheit«, S. 20 f.
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nicht nur der Kontinuität des üblichen Aufstieg-Fall-Aufstieg-Plots entziehen, sondern überhaupt jede biographische Erzählung in Verlegenheit bringen, die all diese Identitäten in den entwicklungslogischen Zusammenhang eines Lebens bringen will. Wer die Herausforderung dennoch annehmen will, hätte vermutlich als Erstes zu berücksichtigen, dass Dylan selbst einige Begegnungen mit dem Film hatte, in denen sich die Problematik seiner Unfasslichkeit ebenfalls auf spezifische Weise reflektiert. Die erste Rolle, die Dylan in einem Spielfilm übernahm, nämlich in Sam Peckinpahs Pat Garret jagt Billy the Kid (1973), lautete bezeichnenderweise Alias. Das ist der perfekte Name für das performative Prinzip, für das Bob Dylan bei einem Großteil seiner Kritiker steht. Er ist immer er selbst, immer Bob Dylan, aber immer, so scheint es, als jemand anderer.9 1975/76 drehte Dylan als Regisseur selbst einen Film, Renaldo & Clara, der 1977 in einer viereinhalbstündigen Fassung in die Kinos kam, wo er im großen Stil floppte, und zwar sowohl beim Publikum als auch bei der Kritik. In diesem tatsächlich ziemlich desaströs unorganisierten Film tauchen Bob und Sara Dylan scheinbar als sie selbst auf, spielen aber die beiden Figuren Renaldo und Clara. Ronnie Hawkins, der frühere Sänger von Dylans Begleitband, The Band, spielt Bob Dylan. Allen Ginsberg spielt einen Charakter namens Vater, Joan Baez ist eine so genannte Frau in Weiß, andere bekannte Größen der damaligen Kulturszene spielen sich selbst oder Kollegen. Dokumentarische und inszenierte Sequenzen wechseln einander ab. Der historische Index der 1970er Jahre haftet dem Film vor allem hinsichtlich des zeitgenössischen Geschmacks für Die Kinder des Olymp und die entsprechenden Gauklerwelten an, auch die Begeisterung für das Spiel mit den Geschlechterrollen und der rocktheatralen Maske steht in diesem Zusammenhang. Interessanter als die Begeisterung für die Maske und das Rollen-Verwirrspiel, durch dessen Regie sich der Star souverän zu entziehen versucht, ist jedoch, dass der Film als Film diesen Entzug noch auf eine ganz andere, spezifisch filmische Weise herstellt. So schrieb die Kritikerin Pauline Kael im New Yorker: »More tight close-ups than any actor can have had in the whole history of movies. He’s overpoweringly present, yet he’s never in direct contact with us […]. We are invited to stare […] to perceive the mystery of his elusiveness – his distance.«10 In seiner Vorliebe für Close Ups ist Dylan offenkundig von Andy Warhol beeinflusst. In einem Interview mit Jonathan Cott über Fragen seiner Filmästhetik sagte Dylan jedenfalls, dass es darauf ankomme, Vertrauen in den Film zu haben. Und dann: »You know who
9
S. Stephen: Alias Bob Dylan.
10 Zit. nach Diedrich Diederichsen, Eigenblutdoping. Selbstverwertung, Künstlerromantik, Partizipation, Köln 2008, S. 103.
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understood this? Andy Warhol. Andy Warhol did a lot for American cinema.«11 Es ist freilich kein Zufall, dass Warhols Filme in einem direkten Zusammenhang mit einer Reflexion auf das Phänomen des Stars stehen. So hatte Warhol um 1965 herum nicht nur entdeckt, dass die Stars in Hollywoods Filmindustrie regelrecht gemacht, produziert werden. Warhols »Genie für Abstraktion«, so formulierte es Bertolt Brechts Sohn Stefan Brecht, seines Zeichens Theaterkritiker und einer der wichtigsten Chronisten der New Yorker Theater- und Performanceszene der 1960er und 1970er Jahre, in seinem legendären Buch Queer Theatre – Warhols »Genie für Abstraktion« also ließ ihn überdies erkennen, dass es nicht so sehr der je konkrete Star, sondern die Qualität des Startums selbst ist, die den Konsumenten nach der Ware Film süchtig macht. Warhol vermochte es, so Brecht weiter, »diese Qualität zu isolieren und erfolgreich unter dem Namen ›Superstar‘ zu vermarkten.«12 Was Warhols Filme angeht, so entsprach dieser Abstraktionsleistung allerdings nun gerade nicht, wie man vielleicht annehmen könnte, der Wunsch, aus dem visuellen Potential seiner Laiendarsteller/innen ein ideales Image zu destillieren. Im Gegenteil ist es der Witz der meisten seiner Screen Tests, dass die neutrale Anordnung – die Konfrontation einer Person mit einer laufenden Kamera ohne Drehbuch, ohne Regieanweisung – früher oder später auch das einfangen wird, was aus dem kontrollierten Image herausfällt, was nicht in ihm aufgeht. In einer Perversion dessen, was Walter Benjamin in seinem berühmten Kunstwerk-Aufsatz die für die Produktion von Filmen charakteristische, weil auf den idealen Take ausgerichtete »Testleistung«13 des Filmschauspielers nennt, erklärte Warhol die Situation der Screen Tests selbst zum entscheidenden Ereignis. Nur sehr vordergründig geht es in Warhols fingierten Screen Tests denn auch darum, das Bildwerdungspotential von Darstellern oder deren Leistungsbereitschaft festzustellen. Tatsächlich zielen sie nicht darauf, bestimmte darstellerische Leistungen oder Talente zu identifizieren, sondern darauf, Momente einzufangen, in denen wir im Gesicht des Stars keine Rolle, keine Pose, keine Legende mehr lesen, weil sich das Gesicht selbst zu lesen gibt. Solche Momente passieren dem Film gewöhnlich; sie unterlaufen ihm. Die fotografische Technik der Kamera registriert Bewegungen, die keiner Darstellungsfunktion mehr unterstehen oder doch zumindest nicht in ihr aufgehen; sie produziert auf beiläufige und zufällige Weise Momente unbedarfter Kontingenz, in denen das Allgemeine einer Rolle, aber auch das Allgemeine dessen, was sich als Image des Stars ansprechen lässt, vor dem Ausdruck der Singularität dieses Gesichts in diesem kurzen Augenblick zurückweicht. Solche Momente sind gerade nicht mit dem Ausdruck
11 J. Cott: »Bob Dylan Interview # 1«, S. 69. 12 S. Brecht: Queer Theatre, S. 113 f. 13 Vgl. W. Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, S. 448f.
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des Authentischen zu verwechseln, den das ›gute Schauspiel‘ hervorzubringen antritt. Denn sie ereignen sich im Modus einer Äußerlichkeit, die unzugänglicher und rätselhafter ist als die psychologische Innerlichkeit, die wir im so genannten Charakterschauspiel entziffern sollen. Das ist natürlich an nahezu allen Screen Tests zu studieren, nicht zuletzt aber auch an den Screen Tests # 82 und # 83 von 1966, deren Subject im doppelten Sinne Bob Dylan ist. Der Effekt der Screen Tests jedenfalls ist offenkundig nicht Authentizität, sondern eine spezifische Opazität, die sich gerade durch das ergibt, was in keiner Darstellungsleistung aufgeht. Das indexikal erzeugte »Optisch-Unbewusste«14 des Films, das uns auf Dinge aufmerksam macht, die sich unserer an Praxis und Sinn ausgerichteten Weltwahrnehmung normalerweise entziehen, zeigt nicht etwa auf eine wahre Identität der Person hinter allen Rollen oder Posen, sondern auf eine Potentialität, die sich jeder Bestimmung einer bestimmten Identität (sei es der selbst gewählten oder einer von der Regie fremdbestimmten) entzieht. Die Differenz, um die es hier geht, ist, mit anderen Worten, nicht die von authentischer Person und Rolle, sondern die von Bestimmtheit und Unbestimmtheit. * Eben darin ist Warhol relevant für den Zusammenhang, in dem die Diskussion um die Figur des Schauspielers immer schon zum Problem der Freiheit steht. Und sein »Genie für Abstraktion« hat ihn ein Spezifikum des Films in dieser Hinsicht erkennen und zur Kenntlichkeit hervortreiben lassen. Warhols Abstraktionsleistung, könnte man auch sagen, verdankt sich einer tiefen Einsicht in die spezifische Ontologie des Films. So schreibt Stanley Cavell in seinem Autobiographiebuch Die andere Stimme, ein Argument aus seinem Filmbuch The World Viewed wieder aufnehmend, dass es für die Ontologie des Films von Bedeutung sei, »dass das Medium des bewegten Bildes die im Theater stattfindende größere Gewichtung der Rolle gegenüber dem Schauspieler umkehrt; auf der Leinwand ist der Schauspieler das Motiv (subject) für die Kamera, und es wird betont, dass dieser Schauspieler andere Rollen spielen könnte (oder gekonnt hätte) (das heißt, es wird die Potentialität der menschlichen Existenz und die Reise des Selbst betont). Dies steht im Gegensatz zu der Betonung im Theater, dass diese Rolle andere Schauspieler zulassen könnte (und es auch tun wird) (das heißt, dort wird die Schicksalhaftigkeit der menschlichen Existenz betont, das Endgültige und das Typische des Selbst bei jedem Schritt auf seiner Reise).«15
14 Ebd., S. 461. 15 S. Cavell: Die andere Stimme, S. 201.
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Das freiheitstheoretische Motiv, das Cavell hier anspricht, das der Potentialität der menschlichen Existenz und der Reise des Selbst, auf der dieses verschiedene Rollen übernehmen mag, nun ist nicht identisch mit einem anderen freiheitstheoretischen Ansatz, der im Blick auf den Schauspieler ebenso naheliegen könnte wie im Blick auf Dylan: dass es nämlich hinter den jeweiligen sozialen Rollen etwas wie ein wirkliches Selbst gibt, das diese souverän an- und ablegt. Aus dieser Perspektive könnte der Theaterschauspieler sogar freier erscheinen als der Filmschauspieler. Während der Theaterschauspieler nämlich immer eine gewisse Distanz zur Rolle mit exponiert, die er auf seine Weise zeigt, scheint der Filmschauspieler mit seinen Rollen weitgehend zu verschmelzen. Tatsächlich existiert die Rolle im Film in der Regel nicht unabhängig vom Schauspieler; es gibt keine Charaktere im theatralen Sinne, sondern nur Typen, die allererst von den Stars definiert werden, die sie einmalig besetzen (man denke an De Niros Taxi Driver beispielsweise). Filmstars sind daher auch, im Gegensatz zu Theaterschauspielern, wesentlich unaustauschbar. Cavell zielt aber auf einen anderen Punkt: dass nämlich der Filmstar sein Potential bewusst hält, im nächsten Film ein ganz anderer zu sein (man denke weiterhin an De Niro, an die erstaunliche Wandlungsfähigkeit, die sich in seiner Filmographie dokumentiert). Das Modell von Freiheit, um das es hier geht, ist nicht das einer inneren Distanz des Selbst gegenüber vorgegebenen Rollen (nach dem Modell des Theaterschauspielers), sondern das der Veränderbarkeit des Selbst. Die Spaltung, um die es geht, ist dann nicht die zwischen eigentlicher und uneigentlicher Identität, sondern, noch einmal, die zwischen Identität und Potentialität, zwischen der Bestimmtheit der jetzt gerade verkörperten Identität und der Möglichkeit noch unbestimmter zukünftiger Identifikationen. Blickt man auf Bob Dylans Identitätswechsel aus dieser Perspektive, so erscheint er nicht mehr als das Ausnahmesubjekt, das mit allen anderen sein ausgebufftes Spiel treibt, sondern eher wie der Prototyp einer Subjektivität, die ihre Freiheit nur in einem Prozess realisieren kann, in dem sie das Spannungsverhältnis zwischen einer Freiheit vom Sozialen, einer Freiheit von identitären Zuschreibungen, und einer Freiheit zum Sozialen, einer Freiheit zur identitären (Neu-) Bestimmung dialektisch austrägt.16 Ein solcher Prozess lässt sich denn auch gerade nicht so beschreiben, dass es ein souveränes Metasubjekt gibt, das all seinen sozialen Rollen gegenüber ebenso indifferent wie überlegen ist. Vielmehr stehen in den Veränderungen von einer Identität zur anderen das Subjekt und seine Souveränität mit zur Disposition: Aus den zuvor gültigen identitären Selbstverständnissen befreit sich das Subjekt nicht aus der imaginären Position eines sich selbst überlegenen Souveräns, sondern durch die im Austausch mit einer ihrerseits veränderlichen Welt
16 Vgl. hierzu Axel Honneths These, dass Dylan für die Spannungsverhältnisse stehe, die den Begriff der Freiheit selbst durchziehen: A. Honneth: »Verwicklungen von Freiheit«.
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sich einstellende Erfahrung von Strebungen, die den zuvor affirmierten Selbstbildern zuwiderlaufen. Die Veränderungen werden hier nicht von einem Metasubjekt voluntaristisch verfügt, sondern wurzeln im Gegenteil in Erfahrungen einer Selbstdifferenz, die das Subjekt dazu anhalten, sich selbst und sein Selbstverständnis, den Sinn seiner Subjektivität aus einer Distanz zu sich neu zu ergreifen.17 Das Verhältnis, das ein solches Bild eines sich verändernden, wechselnde soziale Identitäten annehmenden Lebens zur Erzählung unterhält, ist freilich kompliziert oder besser: exzentrisch. In seinem Erzähle Dich selbst betitelten Buch vertritt Dieter Thomä die These, dass dies – sich selbst zu erzählen – unmöglich ist; jedenfalls dann, wenn man damit den Anspruch verbindet, eine biographische Ganzheit zu erfassen, das Leben in einer Erzählung aufgehen zu lassen.18 In dem Moment nämlich, in dem ich mit mir selbst in Konflikt gerate, mich sozusagen an mir selbst stoße, mit meinem bisherigen Selbstverständnis hadere, wird auch jene Erzählung in eine Krise geraten, die ich von mir selbst bislang gegeben habe. Und zwar kann dies sowohl die prospektive Dimension meines Selbstverhältnisses betreffen, meinen Selbstentwurf, als auch die retrospektive Dimension meines Selbstverhältnisses, das Verständnis meiner Vorgeschichte. Auch das Material des eigenen Lebens, auf das sich die Erzählung der eigenen Vorgeschichte bezieht, wird im Lichte einer anderen Erfahrung neu beleuchtet. Ein zuvor übersehenes Detail kann nun plötzlich als »Menetekel der kommenden Krise«19 erscheinen. Die Fäden der Erzählung spannen sich also unter Umständen nach vorne wie nach hinten neu. Freilich kann auch die neue Erzählung kein abschließendes, deckendes Bild des eigenen Lebens liefern. Vielmehr machen solche Krisen und Wendungen im Leben deutlich, dass es am menschlichen Leben immer etwas Unerzähltes und Unerfasstes gibt. Es tritt dadurch ein Unterschied zwischen Erzählung und Leben hervor, der allerdings nicht die konstruktive Funktion der Erzählung für das Leben schmälert. Vielmehr lässt sich gerade aus dieser Differenz heraus, so Thomäs These, die konstruktive Funktion der Erzählung für das Leben genauer bestimmen. Sie sei dann nämlich aus ihrem Situationsbezug heraus zu verstehen, das heißt im Blick auf die Gegenwart des jeweiligen Lebensvollzugs. Sie erscheint dann als das Medium, in dem ein Subjekt jeweils versucht, sich selbst und anderen – erneut – intelligibel zu werden; sie erscheint dann, könnte man auch sagen, als Medium einer Rechtfertigung. Dem Bewusstsein um die situative Rolle solcher Narrative – und das heißt: dem Bewusstsein um die Differenz zwischen Erzählung und Leben – entspricht aber auf der anderen Seite auch der Respekt vor der Potentialität, der Unausschöpflichkeit der menschlichen Existenz.
17 Vgl. zu dieser Dialektik ausführlich J. Rebentisch: Die Kunst der Freiheit. 18 D. Thomä: Erzähle dich selbst. 19 Ebd., S. 259.
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* Die Verbindung Dylan-Warhol hat auf freiheitstheoretische und narratologische Motive geführt, die – im Hinweis auf die Potentialität des Filmschauspielers – eine gewisse Korrespondenz zur Ontologie des Films unterhalten, aber sie hat denkbar weit weg geführt vom Biopic, könnte man meinen. Zumindest vom traditionellen. Nicht nur widerspricht der narrative Schematismus des gewöhnlichen Biopic jedem Potentialitätsbewusstsein, auch nähert das konventionelle Biopic den Film hinsichtlich der von Cavell angesprochenen Relation von Schauspieler und Rolle wieder dem Theater an. Dies mag sogar nicht der geringste Grund dafür sein, dass das Biopic ein filmisch so unüberzeugendes Genre ist. Joaquin Phoenix ist nicht Johnny Cash – jeder weiß das; die entfernte Ähnlichkeit unterstreicht bloß die Differenz. Die Betonung der Einzigartigkeit liegt hier nicht auf der Seite des Schauspielers, der einen Typen hervorbringt, der für immer mit ihm verbunden sein wird. Die Betonung der Einzigartigkeit liegt im Biopic vielmehr auf der Seite des Charakters, der mit dem Schauspieler besetzt wird: Johnny Cash. Man könnte in dieser für das Biopic so charakteristischen Änderung der Relation von Schauspieler und Rolle freilich auch umgekehrt den Grund dafür sehen, dass die Oscars für die besten schauspielerischen Leistungen auffallend häufig an die Hauptdarsteller von Biopics gehen. Gerade weil jeder das Original kennt, demonstriert sich hier sehr deutlich, was es heißt, sich einem Anderen anzuverwandeln. Im Fall von Walk the Line ging er allerdings nicht an Phoenix, sondern an Reese Witherspoon für ihre Darstellung von June Carter. Die Herausforderung, die sich im Blick auf die Anti-Legende Dylan für das Biopic ergibt, ist also immens. Todd Haynes ist sie angegangen. I’m Not There war jedoch keineswegs sein erstes Biopic-Projekt. Bekannt wurde er mit dem kurzen 43-Minuten-Film Superstar: The Karen Carpenter Story von 1987, der Karen Carpenters Leben von ihrer Entdeckung 1966 bis zu ihrem Tod an den Folgen einer Magersucht im Jahre 1983 mit Barbiepuppen erzählt. Alle Sets wurden dafür in Miniaturgröße angefertigt, die Magersucht von Karen Carpenter wurde durch das von Szene zu Szene weggeschnitzte Volumen im Gesicht und an den Armen der Karen-Puppe veranschaulicht. Der Plot folgt dem üblichen Biopic-Interesse an dem Menschen hinter den Rollen, hier: dem Scheitern der Person am öffentlichen Image beziehungsweise an dem Druck, diesem entsprechen zu müssen. Dennoch unterscheidet sich Superstar signifikant von anderen Spielfilmen über weibliche Stars – denkt man zum Beispiel an den an das Leben von Janis Joplin angelehnten The Rose (1969) mit Bette Midler in der Hauptrolle oder auch an das Biopic What’s Love Got to Do with It (1993) mit Angela Bassett, in dem es um Tina Turners Befreiung von Ike und zur Solokarriere geht. Während diese beiden Filme von den Blut, Schweiß und Tränen-Performances ihrer Hauptdarstellerinnen Bette Midler und Angela Bassett leben, wird der Authentizismus solcher Darstellungsformen bei
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Haynes geradezu brechtianisch negiert, um durch die Konstruktion ein Allgemeines zu sehen zu geben: das Allgemeine der Magersucht als einer Frauenkrankheit nämlich, die nicht zuletzt als eine Art »Desinkarnation«20 des idealen Bilds der Frau (Barbie) gedeutet werden kann. Es handelt sich bei Superstar also gewissermaßen um ein Lehrstück. Die Familie von Karen Carpenter, die in diesem Lehrstück nicht besonders gut wegkommt, war natürlich nicht begeistert. Richard Carpenter klagte gegen den Film und bekam vor allem wegen der ungeklärten Musiklizenzen Recht; der Film wurde tatsächlich vom Markt genommen und war lange Zeit nicht verfügbar. Mittlerweile kann man ihn sich in voller Länge auf YouTube ansehen. Der Titel des Films, »Superstar«, verweist hier freilich weniger auf Warhol denn auf den berühmten Song der Carpenters, in dem es um die Sehnsucht einer Frau nach der Person hinter dem Star geht, doch der bleibt in der falschen Nähe, die sein Image vermittelt, abwesend: »Your guitar, it sounds so sweet and clear. But you’re not really here. It’s just the radio.« In unserem Zusammenhang entscheidend ist jedoch weniger die Thematisierung der Mensch-Star-Differenz, von der das Biopic generell lebt, denn die Radikalisierung der Legende zum Lehrstück, durch die die Erzählung als eine Konstruktion markiert wird, die in einer Differenz zum Leben steht, das ihr das Material liefert. Als ein weiterer Vorläufer von I’m Not There ist darüber hinaus natürlich Haynes Spielfilm Velvet Goldmine von 1998 zu nennen. Der Plot ist orientiert an Citizen Kane: Ein Reporter, gespielt von Christian Bale, versucht, Jahre später, das mysteriöse Verschwinden eines Glam Rock Stars aufzuklären, reist dafür herum, um mit Leuten zu sprechen, die den Star gekannt haben und die sich dann in Rückblenden erinnern. Die Figur des von Jonathan Rhys Meyers gespielten Stars ist offensichtlich inspiriert von David Bowie und, etwas weniger deutlich, Marc Bolan; Ewan McGregor spielt eine an Iggy Pop und Lou Reed angelehnte Figur. Darüber hinaus aber basiert der Plot auch auf Elementen aus der Geschichte, die Bowies Ziggy Stardust-Album erzählt, das bekanntermaßen mit dem ambivalenten Rock’n’Roll Suicide der Figur endet. Die Annäherung an die Stars der Glam RockÄra erfolgt hier also durch strikte Fiktionalisierung. Die Figuren haben alle andere Namen, die Anspielungen auf Ereignisse im Leben historischer Personen werden mit Bezügen auf die fiktionalen Welten überblendet, die von diesen geschaffen wurden: Bowie vermischt sich ununterscheidbar mit Ziggy. Nun ist Velvet Goldmine kein Biopic; aber er enthält gleichwohl eine filmische Annäherung an einen Star, der, wie Dylan, als ein chamäleonhafter Charakter bekannt ist, der sich durch seine wechselnden personae entzieht: Bowie. Nicht zufällig finden sich auf der meiner Meinung nach besten Bowie-Platte Hunky Dory nicht nur Bowies berühmte Chan-
20 Vgl. C. v. Braun: Nicht ich, S. 460.
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ges, sondern auch ein Song mit dem Titel Andy Warhol sowie schließlich auch ein Song for Bob Dylan. * I’m Not There (2007) nun ist ein vom Regisseur so bezeichnetes Biopic, das aber gerade das Anti-Legendäre, den Entzug Dylans, zum titelgebenden Thema macht. Ursprünglich sollte der Film übrigens Alias heißen, nach Dylans Charakter in Pat Garret jagt Billy the Kid; dann aber kam eine amerikanische Action-Fernsehserie mit diesem Titel dazwischen.21 »I’m Not There« trifft den Punkt aber ebenfalls: Es geht hier um die Unergründlichkeit des Selbst gegenüber allen Rechtfertigungsnarrativen, die man sich, ja, die Dylan sich selbst zu einem bestimmten Zeitpunkt über Dylan erzählt haben mag. Es geht um eine Potentialität des Selbst gegenüber je konkreten Bestimmungen, um das Moment einer Freiheit von, die es auf der Reise hält. »People are always talkin’ about Freedom«, sagt eine Stimme im Trailer von I’m Not There, »Freedom to live a certain way. Of course the more you live a certain way, the less it feels like freedom. Me, I can change during the course of a day. By waking I’m one person, and when I go to sleep, I know for certain I’m somebody else.« Sich filmisch dem Thema der Freiheit von identitären Festlegungen zuzuwenden, heißt, die Differenz von Erzählung und Leben mit zu behandeln und für diese Differenz eine Form zu finden. Das zu unternehmen, heißt natürlich sogleich, sich gegen die, sagen wir ruhig, Ideologie des Biopics zu wenden, die diese Differenz in Authentizitätsbehauptungen verdeckt – der authentischen Geschichte wie des freilich nur durch höchste schauspielerische Disziplin zu erreichenden Ausdrucks von Authentizität auf der Ebene der Darstellung. Indes wendet sich Haynes keineswegs, wie in Superstar, von der Verwendung solch schauspielerischer Leistungen überhaupt ab, auch geht es nicht darum, das immersiv-illusionistische Potential des Films zu negieren. Der offensichtlichste und zugleich sehr weitreichende Eingriff, den Haynes am Biopic vornimmt, ist vielmehr ein anderer: die Vervielfältigung der Figur in sieben sehr unterschiedliche Charaktere, die von sechs Schauspielern gespielt werden – darunter eine Frau (Cate Blanchett) und ein schwarzer Junge (Marcus Carl Franklin). Keiner dieser Charaktere erhält den Namen Bob Dylan – auch das ein Bruch mit dem traditionellen Biopic. Der Junge heißt im Film Woody Guthrie, wie der von Dylan verehrte Protestsänger, und es ist auch dessen, nicht Dylans Spruch, der auf dem Gitarrenkasten steht, den der Junge auf seinen Güterzug-
21 So Todd Haynes in einem Gespräch mit Jim Hoberman anlässlich einer HaynesRetrospektive an der Cornell University. URL: http://www.youtube.com/watch?v= eMfr_pzBU18 (Stand: 30.09.2018).
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reisen durch die USA mitnimmt: »This machine kills fascists.« Zugleich wird der Junge gleich zu Beginn des Films als »fake« bezeichnet; er steht nämlich auch für die von Dylan selbst gestreuten Geschichten über eine Jugend als Ausreißer, die eine Zeitlang in den offiziellen Dylan-Biographien auftauchten, bis herauskam, dass sie nicht stimmen. Ben Winshaw spielt den scharfzüngigen Poeten, der sich im Film selbst Arthur Rimbaud nennt. Der Folk- und Protestsong-Dylan aus der Phase mit Joan Baez (die im Film Alice Fabian heißt und von Julianne Moore gespielt wird) heißt im Film Jack Rollins. Er wird von Christian Bale gespielt und hat als einzige Figur eine Entwicklung: Es ist dieser Jack Rollins, der in einer späteren Phase zum Pastor John wird, also zu einer Cover-Figur für Dylans religiöse Phase. Cate Blanchetts Figur heißt im Film Jude Quinn. Sie bezieht sich auf den Dylan, der seine Folkfans mit E-Gitarren-Sound und Rock’n’Roll vor den Kopf stößt. An einer Stelle wird Jude Quinn von der Presse mit der Veröffentlichung seines richtigen Namens konfrontiert; der sei nämlich gar nicht Jude Quinn, sondern Aron Jacob Edelstein – in Analogie zu Dylans ursprünglichem Namen Robert Zimmerman. Heath Ledger spielt (in seiner letzten Rolle übrigens) eine Figur namens Robbie Clark, einen Schauspieler, der einmal in einem Biopic über Jack Rollins die Hauptrolle spielt, ein andermal sich erfolglos als Filmemacher versucht und ansonsten in seiner Ehe mit Claire, gespielt von Charlotte Gainsbourg, scheitert. Bleibt noch Richard Gere; seine Figur ist ein in die Jahre gekommener Outlaw namens Billy McCarty, der sich – wie die Woody-Figur – weitgehend aus dem Werk Dylans speist. Der Name Billy erinnert an Billy the Kid; die Charaktere, auf die Billy in der Stadt mit dem bezeichnenden Namen Riddle trifft, tragen Namen, die in Songs von den so genannten Basement Tapes vorkommen, die Dylan bereits 1967 mit The Band aufgenommen hatte, die aber erst 1975 offiziell veröffentlicht wurden und von denen auch der Titelsong I’m Not There stammt. Wie in Velvet Goldmine also haben wir es hier mit einem Ineinander von Referenzen auf Werk und Leben zu tun, dessen Ergebnis lauter auf mehreren Ebenen von Dylan inspirierte Figuren sind, die zugleich bereits auf der Plot-Ebene als Fiktionen markiert sind. Im Abspann des Films steht dann auch – wahrheitsgemäß – folgender Satz: »This motion picture is fictional but some elements have been inspired by real people and real events.« Ein weiterer Effekt dieses Vorgehens ist, dass der Versuch, die Figuren in eine klare Chronologie zu bringen, sie klar bestimmten Lebensabschnitten von Dylan zuzuordnen, in gewisse Schwierigkeiten gerät. Das gilt natürlich insbesondere für die erste und die letzte Figur, also für Woody und für Billy, die weniger aus dem Material des Lebens denn des Werks von Dylan hervorgehen, wobei beide Figuren jeweils Elemente aus sehr unterschiedlichen Werkphasen aufnehmen. Aber auch die anderen Figuren greifen zuweilen, in kleinen Details, auf die jeweils anderen so aus oder zurück, dass sie der Tendenz nach eher in eine spannungsvolle Konstellation treten denn in ein selbst wiederum erzählbares Nacheinander. Hier geht es also offenkundig nicht darum, die Veränderung auszuerzählen. Davon, wie die Figuren
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zusammenhängen, erfahren wir kaum etwas. Selbst Jack Rollins taucht im letzten Drittel des Films einfach, zu Pastor John geworden, als ein anderer auf. Der Film, könnte man vorderhand meinen, rechtfertigt nichts. Jedenfalls erklärt er keinen Identitätswechsel, um so die Abfolge in die Kohärenz einer abgeschlossenen Lebensgeschichte zu bringen, wie das klassische Biopic, das ja aus der Dramaturgie auserzählter Identitätskrisen und -wendungen lebt, siehe Walk the Line. I’m Not There macht aber etwas anderes: Er verleiht jedem einzelnen Charakter filmische Evidenz; rechtfertigt, wenn man so sprechen will, filmisch die Welt jeder einzelnen Figur. Denn vervielfältigt werden nicht nur die Charaktere, sondern auch die Erzählstile. Jeder Figur entspricht eine eigene filmische Welt. So könnte es keinen größeren Kontrast geben als den zwischen der 1960er-Jahre-Welt aus Schwarz und Weiß, durch die sich Jude Quinn (Cate Blanchett) bewegt, und der stets in ein sehr spezifisches, weiches Licht getauchten Welt des 1970er-JahreWesterns, durch die Billy McCarty (Richard Gere) reitet. Damit legt Haynes auch ein wichtiges Strukturmerkmal des Biopics offen. Das Biopic sei nämlich, schreibt Henry Taylor in seinem Buch über die Filmbiographie als narratives System, selbst ein Chamäleon-Genre, das keine eigene Stilrichtung etabliert, also keinen distinktiven »Look« ausgebildet habe.22 Vielmehr präge jeweils ein so genanntes Hilfsgenre die stilistische Gestaltung des Biopic. In unserem Beispiel eben wären solche Hilfsgenres etwa der 1970er-Jahre-Western oder die 1960er-Jahre-Schwarz/Weiß-Ästhetik, die natürlich von Don’t Look Back beeinflusst ist, D.A. Pennebakers berühmtem Dokumentarfilm über Dylans 1965er Tour durch England, aus dem auch der berühmte Clip zu Subterranean Homesick Blues hervorging. Weitere, ziemlich offensichtliche Quellen für die Blanchett-Szenen sind Murray Lerners Dokumentation The Other Side of the Mirror: Bob Dylan at the Newport Folk Festival, die zeigt, »how Bob Dylan plugged in a whole generation«, sowie eine Serie von Fotos, die Berry Feinstein 1966 auf einer weiteren EnglandTour von Dylan gemacht hat. All diese Referenzen sind recht bekannt, werden bis ins Detail rekonstruiert; es handelt sich um eine Art Spielfilm-Remake solcher dokumentarischer Materialien. In Klammern sei bemerkt, dass Haynes natürlich auch für jede Theorie des Remake einschlägig ist: 2011 ist er mit einem sehr empfehlenswerten Remake von Mildred Pierce hervorgetreten, ursprünglich ein Melodrama von Michael Curtiz aus dem Jahr 1945 mit Joan Crawford in der Hauptrolle; bei Haynes wird daraus eine HBO-Miniserie, in der Kate Winslet der Hauptfigur eine ganz andere Note gibt. *
22 H. M. Taylor: Rolle des Lebens, S. 21.
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Doch die Ausstellung der filmischen Hilfsgenres, die die jeweilige Welt konturieren, die Markierung der entsprechenden Genres durch die harten Schnitte, das Hinund Herschalten zwischen inhaltlich und formal sehr unterschiedlichen Welten, schmälert interessanterweise nicht ihre jeweilige illusionistische Wirkung. Man ist jeweils in der Welt, die man sieht, glaubt ihr unmittelbar, obwohl man zugleich aufgefordert ist, sie als vermittelte, als Konstruktion wahrzunehmen. Diese doppelte Einstellung ist für jedes Sehen von Film konstitutiv, aber sie wird auf unterschiedliche Weise wirksam. So verweist das klassische Biopic auf seine Weise auf die Konstruktion. Das gilt nicht nur hinsichtlich der Lebensgeschichte, die zum Drehbuch wird, oder hinsichtlich der schauspielerischen Leistung, die sich dem öffentlich bekannten Vorbild möglichst getreu anzuverwandeln hat und es doch nie ganz kann. Es gilt auch hinsichtlich der Rekonstruktion von Welt, und zwar zum Teil durchaus im direkten Zitat bereits durch Bilder erschlossener, also ikonisch gewordener historischer Ereignisse. Dass auch dieser letzte Aspekt für das traditionelle Biopic charakteristisch ist, kann man sich an vielen Beispielen klarmachen, so etwa an der Nachstellung bekannter Bilder von Arthur Miller und Marilyn Monroe in My Week with Marilyn (2011) mit Michelle Williams als Marilyn Monroe oder auch an den berühmten Cash-Auftritten im Gefängnis von San Quentin, die in Walk The Line zitiert werden. Obwohl uns auch in den detailgetreuesten Rekonstruktionen bewusst bleibt, dass Joaquin Phoenix nicht Johnny Cash und Michelle Williams sehr deutlich nicht Marilyn ist, und obwohl selbst noch Cate Blanchetts schauspielerischer Triumph in I’m Not There sich natürlich gerade aus der stets präsent bleibenden (Geschlechter)Differenz zum Vorbild ergibt, bleibt es keineswegs allein beim formalistischen Bewusstsein um die Konstruktion. Die ganze filmische Welt mag zitiert sein, aber für uns gilt sie trotzdem auch unmittelbar. Wir denken selbst bei Walk the Line nicht permanent »Joaquin Phoenix«, sondern folgen seiner Figur, seinem Johnny Cash. Durch die Pluralisierung, die Konstellation der unterschiedlichen mit Dylan assoziierten Welten, die uns – ungeachtet der zwischen ihnen inszenierten Brüche – jeweils in ihren Bann ziehen, unterstreicht I’m Not There in besonders ausdrücklicher Weise eine Paradoxie, die alle Spielfilmerfahrung mehr oder weniger latent durchzieht: dass der Film ein Moment des unmittelbaren Glaubens an die von ihm eröffnete Welt ebenso fordert wie eine diesen Glauben brechende Aufmerksamkeit für seine Vermitteltheit als filmische Konstruktion.23 Die Betonung dieser Paradoxie hat hier, im Blick auf I’m Not There, aber auch eine gewisse ethische Resonanz: Denn auf diese Weise setzt sich der Film deutlich von der These ab, der zufolge es hinter den vielen Gesichtern von Dylan ein metasouveränes Subjekt gibt, für das all
23 Vgl. hierzu A. G. Düttmann: »QUASI. Antonioni und die Teilhabe an der Kunst«.
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seine Identitäten nichts als äußerliche Masken sind, mit denen es sein Publikum verwirrt. Man kann auch sagen: Sofern der Film eine These über die Ironie Dylans vertritt, wäre es nicht die Ironie des seiner eigenen sozialen Identität gegenüber indifferent-überlegenen Metasubjekts. Hier geht es nicht um ein Subjekt, das der sozialen Praxis im Ganzen indifferent-überlegen gegenübersteht, sondern um eines, das sich von je konkreten Bestimmungen absetzt, etwa, weil es sich von ihnen entfremdet hat, und das deshalb nach einer neuen Bestimmung sucht, die es wieder mit sich in Einklang bringt. Ein solches Subjekt wäre ironisch nicht im Sinne einer nihilistischen Haltung, der die Welt im Ganzen nichts als Schein ist; ironisch ist ein solches Subjekt vielmehr im Sinne eines ausgeprägten Fallibilitätsbewusstseins. Das, was uns heute nach bestem Wissen und Gewissen als das Richtige für uns erscheint, kann sich morgen im Lichte anderer Ereignisse oder auch schleichenderer Entwicklungen als unzureichend, als falsch erweisen. Das relativiert aber nicht die jeweiligen Entscheidungen und auch nicht die mit ihnen einhergehenden situativen existentiellen Rechtfertigungsnarrative. Die haben vielmehr jeweils – situativ – volle Gültigkeit und existentielles Gewicht. Dennoch verbindet sich ein solches Fallibilitätsbewusstsein mit einem Bewusstsein um die Differenz, die stets zwischen Erzählung und Leben besteht. Dabei weiß es aber nicht nur um das Unerzählte und Unerfasste des Lebens und um seine Potentialität gegenüber identitären Bestimmungen, sondern ebenso um die konstruktive Funktion, die den Erzählungen gerade dann zukommt, wenn man sie von dem Anspruch entlastet, das Ganze des Lebens rechtfertigen zu sollen. Die Erzählung beschränkt sich dann auf bestimmte Aspekte, die in einem bestimmten praktischen Zusammenhang, einer bestimmten Welt, hervortreten – andere bleiben unberücksichtigt.24 Genau durch diese Beschränkung wird indes der Unterschied zwischen dem Leben und den jeweils aufgebrachten Erzählungen bekräftigt, ohne diesen dadurch ihre situative Evidenz zu nehmen – und von der Einsicht in die Fallibilität solcher Erzählungen auf ihre situative Bedeutungslosigkeit zu schließen. Das Problem des Verhältnisses zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit (im Unterschied zu dem zwischen der bloßen Rolle und der authentischen Person »dahinter«), um das es hier geht, wird von Haynes in I’m Not There allerdings, wie wir jetzt sehen können, an einem zu Warhol komplementären Pol aufgenommen. Wo dieser die nach Cavell so spezifisch filmische Betonung des Schauspielers vor der Rolle in der Weise isoliert hatte, dass das Gesicht in seiner singulären Konkretion gleichsam zur Chiffre der Potentialität wird, fasst Haynes das Problem von einer anderen Seite an: Die Potentialität der Person kommt hier nicht durch einen Entzug jeglicher Erzählung, noch nicht einmal jeglicher Legende mit ihren schicksalhaften Anteilen zum Ausdruck, sondern dadurch, dass er der Erzählung einen anderen
24 Vgl. D. Thomä: Erzähle dich selbst, S. 271.
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Status anweist. Den eines situativ beschränkten, an eine je konkrete Welt gebundenen Rechtfertigungsnarrativs, das, wiewohl wir um seine Beschränktheit wissen, für uns jeweils ›die Welt‹ bedeutet. Das spiegelt sich gewissermaßen in der Haltung, die I’m Not There einfordert, die Haltung einer »doppelten Teilhabe«25 am Film, für die das Wissen um den Konstruktionscharakter und die Beschränktheit der Erzählungen kein Grund ist, aus ihnen auszusteigen. Die Ethik, die einer solchen Haltung entspricht, wäre eine, die den anderen weder auf eine Erzählung oder eine Legende festlegen will noch aber sich auf eine Position der Indifferenz gegenüber der situativ je Geltung beanspruchenden Erzählung zurückzieht. Es ist dies eine Haltung – noch einmal mit Dieter Thomä – die die Differenz zwischen Leben und Erzählung austrägt, ohne das eine auf das andere zu reduzieren. * Ein kleiner Abspann noch: War es das Problem des konventionellen Biopic, also zum Beispiel von Walk the Line, dass es die Differenz zwischen Erzählung und Leben auf der Seite der Erzählung tendenziell zusammenfallen lässt, so ist es das Problem vieler aktueller Reality-Formate, dass sie die Erzählung tendenziell im Leben aufgehen lassen – und auf diese Weise jedes Bewusstsein um die Potentialität der menschlichen Existenz verschwinden lassen, allerdings nicht im schicksalhaften Plot, sondern in der Verdinglichung der menschlichen Potentialität selbst zum Produkt. Die Dokumentation der Lebensvollzüge, ohne den konstruktiven Filter der Erzählung, hat hier, anders als in Warhols formal strengen Anordnungen, nicht den Effekt des Entzugs, sondern der endlosen Verfügbarkeit der Personen, die unter der panoptischen Präsenz der Kameras noch dann zu performen haben, wenn es nichts zu erzählen gibt. Interessanterweise begegnet uns Joaquin Phoenix auch an diesem Ende einer falschen Identifikation von Erzählung und Leben. Für die in Zusammenarbeit mit Casey Affleck entwickelte Mockumentary I’m Still Here (2010) spielte der für seine Rolle in Walk the Line allgemein geschätzte Phoenix sehr buchstäblich die Rolle seines Lebens: die des ausgestiegenen Schauspielers Phoenix nämlich, der nunmehr eine Karriere als Hiphop-Musiker plant, daran grandios scheitert und dessen Leben auch sonst moderat entgleist. Während der Zeit der Produktion wurde er, so suggeriert zumindest das zusammengeschnittene Material, permanent von einer Kamera begleitet. Darüber hinaus besuchte er Live-Sendungen, in denen er als er selbst, also als ein veränderter Joaquin Phoenix, auftrat. In einem Auftritt in der Late Show von David Letterman (11.02.2009) beispielsweise gab sich ein bärtiger, sonnenbebrillter Phoenix, der eingeladen war,
25 A. G. Düttmann: »QUASI. Antonioni und die Teilhabe an der Kunst«, S. 163.
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über seinen neuesten Film mit Gwyneth Paltrow (Two Lovers) zu sprechen, sehr einsilbig. Nachdem das Gespräch nicht anlaufen wollte – weder seine neugierigen Fragen zum ungewohnten Aussehen von Phoenix noch die höflichen zum neuen Film fruchteten –, wurde Letterman langsam ungehalten. Hier ein paar Auszüge aus der Begegnung: Letterman (nach einer sehr langen Pause des Schweigens zu Phoenix, dessen Aussehen in der Tat an das von Theodore Kaczynski erinnert): So what can you tell us about your days with the unabomber? [...] Phoenix (nuschelt durch seinen Kaugummi): Well, I’ve been working on my music. [...] Letterman: You’re not gonna act anymore? Phoenix: No. [...] Letterman (nach einer erneuten Pause): Joaquin, I’m sorry you couldn’t be here tonight. Phoenix (grinst, zeigt mit dem Daumen auf Letterman): He’s funny. [...] Letterman: Now – can you set up the clip for us, Joaquin? [...] Phoenix: I don’t know what the clip is. Letterman: You don’t know what the clip is? It’s a scene with you and Gwyneth Paltrow. Phoenix (aufmunternd): Ah – you’re doing fine. Letterman (ärgerlich): Oh, thanks – that’s a high praise coming from you. (Phoenix beugt sich vor, macht träge Anstalten, auf die Beleidigung zu reagieren.) Letterman (einlenkend): We’re having fun. Phoenix: Is that fun? Letterman: We’re having fun, just relax, seriously. (Phoenix lehnt sich wieder zurück, kaut an seinem Kaugummi.) Letterman (erneut ärgerlich): I’ll come to your house and chew gum. Phoenix: No, I don’t have to chew gum. (Nimmt den Kaugummi aus dem Mund und klebt ihn Letterman unter den Tisch.) I won’t chew the gum. Letterman: Wow.
Inzwischen hat sich Phoenix in den Augen der Öffentlichkeit freilich wieder rehabilitiert, und zwar als souveräner Schauspieler, der noch den eigenen Verfall darzustellen weiß, ohne je aus der Rolle zu fallen. Aufgeräumt, frisch rasiert und ohne Kaugummi im Mund kehrte er denn auch in Lettermans Show zurück (23.09.2010): Letterman: How are you doing? (Lacht) You know, I’ve always liked you, I’ve been to see your movies, I’ve always liked you, I recognise you as a powerful talent. The Johnny Cash thing, you were tremendous in that. (Applaus) Phoenix (zum Publikum): Thank you. Thank you. Letterman: And then, a year and a half ago, you come out, and honestly, it’s like you slipped and hit your head in the tub.
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(Gelächter) Letterman: And I knew immediately, when you sat down, something ain’t right, because if you’re really the way you appeared to be, you don’t go out. (Gelächter) Letterman: You know what I mean? People don’t let guys like you out, if you’re really like that. You don’t go out. Phoenix (lakonisch): Right. Letterman (nach einer kurzen Pause, die an seine Ratlosigkeit gegenüber der gespielten Einsilbigkeit seines damaligen Gesprächspartners erinnert): Yeah. (Gelächter) Letterman (setzt nachdrücklich nach): So what do you have to say for yourself? (Gelächter)
Auch wenn die Rehabilitierung für Phoenix zu dem Preis erfolgte, für alle wieder nichts anderes zu sein als der so überaus talentierte Charakterdarsteller aus Walk the Line – mit I’m Still Here hat er nicht nur erreicht, dass Lettermans Witz, »Joaquin, I’m sorry you couldn’t be here tonight«, eine Bedeutung bekommt, die sein Projekt nicht nur durch die Anspielung im Titel an das von Haynes heranrückt. Der Einsatz ist jedoch bei Phoenix nicht die Öffnung des Biopics auf die Potentialität des Lebens, sondern die der Reality-Formate auf die Dimension der Erzählung. In beiden Projekten geht es nicht zuletzt darum, das existentielle Gewicht der situativen Frage zu verteidigen: What do you have to say for yourself? Anmerkungen Eine frühere Version dieses Textes ist unter demselben Titel hier erschienen: Bernd Kracke/ Marc Ries (Hg.), Das neue Erzählen/Expanded Narration, Bielefeld: transcript 2013, S. 211-232.
LITERATUR Benjamin, Walter: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I.2, Frankfurt am M. 1974, S. 435469. Brecht, Stefan: Queer Theatre. The original theatre of the City of New York: From the mid 60s to the mid 70s, Bd. 2, Frankfurt am Main 1978. Braun, Christina von: Nicht ich. Logik, Lüge, Libido, Frankfurt am Main 1990. Cavell, Stanley: Die andere Stimme. Philosophie und Autobiographie, Berlin 2002.
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Cott, Jonathan: »Bob Dylan Interview # 1« (1977), in: ders.: Back to a Shadow in the Night. Music, Writings, and Interviews 1961-2001, Milwaukee 2002, S. 4773. Dannemann, Rüdiger: »Maskenspiele der Freiheit. Songwriting zwischen Folk, Rockavantgarde, Literatur und Philosophie«, in: Axel Honneth/Peter Kemper/Richard Klein (Hg.): Bob Dylan. Ein Kongreß, Frankfurt am Main 2007, S. 50-69. Düttmann, Alexander García: »QUASI. Antonioni und die Teilhabe an der Kunst«, in: Neue Rundschau 4 (2009), S. 151-165. Honneth, Axel: »Verwicklungen von Freiheit. Bob Dylan und seine Zeit«, in: Axel Honneth/Peter Kemper/Richard Klein (Hg.): Bob Dylan. Ein Kongreß, Frankfurt am Main 2007, S. 15-28. Prospero: »How to make a good biopic« 2011, http://www.economist. com/blogs/prospero/2011/11/new-film-my-week-marilyn (Stand: 30.09.2018, Übers. JR). Rebentisch, Juliane: Die Kunst der Freiheit. Zur Dialektik demokratischer Existenz, Berlin 2012. Scobie, Stephen: Alias Bob Dylan: Revisited, Calgary 2004. Taylor, Henry M.: Rolle des Lebens. Die Filmbiographie als narratives System, Marburg 2002. Thomä, Dieter: Erzähle dich selbst. Lebensgeschichte als philosophisches Problem, Frankfurt am Main 2007.
Von Wolkenkratzern, Schmetterlingen und ›wirklicher Demokratie‹ Hannah Arendt und Günther Anders als Phänomenologen der Migration Florian Grosser
Wenn Flüchtlinge in ein Land kommen, so machen sie ihm eigentlich ein Kompliment: Sie meinen, dass dort gut zu leben sei. Dieter Thomä, Puer robustus
Beim Blick auf gegenwärtige politik- und moral-philosophische Debatten zu Migration und Flucht wird rasch deutlich, dass diese fast ausnahmslos aus der Warte bestehender demokratischer Ordnungen geführt werden: Ohne die eigene Position als Angehörige dieser Ordnungen oder mit dieser einhergehende Beschränkungen des Wahrnehmungs- und Erfahrungsraumes weiter zu beleuchten, sehen sich Theoretiker imstande, über die Rechtfertigbarkeit eines democratic right to exclude bzw. von open oder zumindest porous borders zu befinden sowie Rechte, Pflichten und zu erbringende Anpassungsleistungen derer zu definieren, die als ›freiwillige‹ oder ›unfreiwillige‹ Migranten neu hinzustoßen. Auch der Rekurs auf Menschenrechte kann nicht verdecken, wie sehr diese Diskurse von der (stillschweigenden) Annahme eines ›imaginären Gerichtssaal‹ getragen sind: 1 Nahegelegt wird dabei eine
1
Angesichts des ebenso unübersichtlichen wie umstrittenen Sprachgebrauchs in Bezug auf ›Flucht‹ und ›Migration‹, ›Unfreiwilligkeit‹ und ›Freiwilligkeit‹ wird im Folgenden schlicht von ›Migranten‹ sowie, einen terminologischen Vorschlag Hannah Arendts aufgreifend, von ›Neuankömmlingen‹ die Rede sein. Zwei Hinweise mögen ausreichen, um anzuzeigen, warum derartige Zuschreibungen bzw. Qualifikationen problematisch sind: Auf empirischer Ebene lässt z.B. die Situation von Individuen, die ihre Herkunftsländer
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Rollenverteilung, der zufolge ›Mitglieder‹ der bestehenden Ordnung – politische Entscheidungsträger, von diesen repräsentierte Bürger und natürlich auch sich mit Leo Strauss im Sinne von umpires, von Obmännern begreifende Theoretiker selbst – das Richteramt innehaben. Während diese gemäß ihrer angenommenen Funktion unilateral über Maß und Form der Zulassung und Integration von Migranten urteilen können, stellen diejenigen, denen der Mitgliedsstatus fehlt, den zu verhandelnden Fall dar. Dabei lassen sich Verschleifungen zwischen verschiedenen Rollen beobachten, die diesen, als (Neben-)Kläger oder Zeuge, vor allem aber als Angeklagter, zugeschrieben werden. Selbst wo derartige Ungleichverteilungen von politisch-moralischem Stellenwert zum Gegenstand kritischer Analysen gemacht,2 wo Gefahren der Vorverurteilung und Kriminalisierung von Migranten benannt und explizit als Gerechtigkeitsprobleme markiert werden, liegen deren Selbstbeschreibungen und Erfahrungsberichte, deren eigene Formulierungen von Bedürfnissen und Forderungen, deren Überlegungen zum Verhältnis von demokratischer Ordnung und migrantischer Störung sowie zur Gestaltung des Zusammenlebens unter Bedingungen der Differenz in den toten Winkeln des vorherrschenden Diskurs-, ja des dieses absteckenden Gesichtsfeldes.3 Umso wertvoller erweisen sich gegen diesen Hintergrund die Schriften, in denen Hannah Arendt und Günther Anders auf Basis ihrer Erfahrungen als forced migrants aufarbeiten, wie viele und wie schwere Verluste sie im Zuge von Vertreibung, Umsiedlung und (in unterschiedlichem Maße geglücktem) Neuanfang an-
aufgrund von veränderten klimatischen Bedingungen verlassen oder dort wegen ihrer sexuellen Orientierung, die Definition der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 fragwürdig erscheinen, unter welche diese nicht fallen. Auf normativer Ebene werfen das grundlegende Individualrecht der Bewegungsfreiheit sowie das Menschenrecht auf Emigration die Frage auf, inwiefern bspw. die Unterscheidung zwischen Wirtschafts- und politischen Flüchtlingen zu rechtfertigen ist, die mit erheblich abweichenden Ansprüchen gegenüber Zielländern einhergeht. 2
In David Millers Studie Fremde in unserer Mitte wird die ›richterliche‹ Entscheidungsgewalt so weit gefasst, dass sich der Ausschluss von Migranten sogar aus negativen Affekten der Mitglieder – und dies beinhaltet deren Ängste vor Überfremdung – begründen lässt.
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Ein Beispiel hierfür ist S. Parekh: Refugees and the Ethics of Forced Displacement, die auf Gedanken Arendts zurückgreift. Zwar kritisiert Parekh das warehousing von Flüchtlingen und Staatenlosen, die im Durchschnitt siebzehn Jahre in Lagern zubringen, scharf; indem sie rechtliche Maßnahmen zu deren ›temporärer Integration‹ sowie, mit Blick auf weiterhin bestehende Lager, Hilfsmaßnahmen und die Wahrung von Menschenrechtsstandards anmahnt, halten jedoch auch hier einzig aufnehmende Staaten und Gesellschaften das Heft politischen Handelns in der Hand.
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derswo erlitten haben, und Überlegungen dazu anstellen, unter welchen Voraussetzungen sich diese Verluste dank bestimmter persönlicher Haltungen, durch Allianzen mit Schicksalsgenossen oder im Zusammenspiel mit aufnehmenden demokratischen Gemeinschaften abmildern, vielleicht sogar ausgleichen lassen. Diesen Überlegungen zu Migration, entschiedenen Gegenentwürfe zum Modell Gerichtssaal, gilt im Folgenden meine Aufmerksamkeit. Ohne auf die persönliche Beziehung zwischen Arendt und Anders einzugehen,4 stehen dabei thematische Gleichklänge und Abweichungen im Mittelpunkt, die sich im jeweiligen gedanklichen Umgang mit dem geteilten Erfahrungshorizont der Flucht einstellen, die sich zwischen Arendts Wir Flüchtlinge (1943) und Anders’ Der Emigrant (1962) abzeichnen. Derlei Affinitäten treten gerade in den Analysen zutage, die den persönlichen Momenten der Migrations- als Verlusterfahrung gewidmet sind. Erhebliche Abstände sind dagegen unverkennbar, wenn es um die politische Dimension des Verlusts geht und um die Frage, was angesichts der vielfältigen Einbußen im privaten wie im öffentlichen Raum praktisch zu tun sei. Bei dem hier in den Blick genommenen Austausch zwischen Arendt und Anders, der vielfach vermittelt über beträchtliche räumliche wie zeitliche Entfernungen erfolgt, handelt es sich um eine eigentümlich modifizierte Fortschreibung der intellektuellen Beziehung, die auf ihre Marburger Studienzeit zurückgeht. Der Einsatz ist dabei freilich wesentlich höher als bei vorangegangenen »Kirschenschlachten«, die Arendt und Anders, zeitweise als Eheleute auf dem Balkon ihrer Potsdamer Wohnung, beispielsweise zum Problem des Solipsismus geschlagen (und in Rezensionen zu Karl Mannheim, später auch zu Herrmann Broch mit anderen Mitteln fortgesetzt) haben.5 Denn nicht nur sind Arendt und Anders nun unmittelbar angefochten vom Gegenstand ihrer Überlegungen – also am eigenen Leibe – konfrontiert mit der Frage, ob das Phänomen der erzwungenen Migration allein den Charakter der Misere oder auch gewisse Chancen biete: Auf dem Spiel stehen bei diesem Schlagabtausch unter existenziell-politischer Doppelperspektive nicht weniger als, einerseits, die Bestimmung der Möglichkeit, als Neuankömmling in der Fremde nicht nur zu überleben, sondern in Würde und gut zu leben, sowie, andererseits, der Möglichkeit einer Ordnung, die solcher Ankunft gegenüber grundsätzlich offen ist, die Teilnahme unabhängig von Abstammung nicht nur verkraftet, sondern auch fördert, die also robust plural ist und Arendts Kriterien für ›wirkliche Demokratie‹ erfüllt.
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Dass diese von Nähe ebenso gekennzeichnet ist wie von Distanz, verdeutlicht der knapp vier Jahrzehnte umspannende, dreisprachig geführte Briefwechsel zwischen beiden. Siehe dazu: H. Arendt/G. Anders: Schreib’ doch mal ›hard facts‹ über Dich.
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Zum Versuch einer Rekonstruktion dieser frühen philosophischen Gespräche, siehe G. Anders: Die Kirschenschlacht.
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In drei Schritten soll die Vermessung dieser Möglichkeiten nachvollzogen werden, die Arendt und Anders in ihren migrationsphänomenologischen Schriften vornehmen (wobei ›phänomenologisch‹ auch in Hinblick auf Anders in dem losen Sinn zu verstehen ist, in dem sich Arendt als ›eine Art von Phänomenologin‹ bezeichnet, die nicht zuerst bei Prinzipien und Begriffen, sondern bei gelebten Erfahrungen ansetzt6): Den Auftakt bilden Arendts Betrachtungen zu den in die Vereinigten Staaten geflüchteten europäischen Juden, deren Überleben zwar gesichert ist, welche die Migration aber dennoch als traumatisches Widerfahrnis erleben und die sich – wie Arendt dies paradigmatisch an der Figur des ›Herrn Cohn‹ aufzeigt – aufgerieben vom gewaltsamen Ausschluss aus der alten wie vom Imperativ der Assimilation in der neuen Welt, in geradezu schizophrener Selbsttäuschung, in Depression und Suizid selbst zu verlieren drohen. Anschließend richtet sich der Blick auf Anders’ Reprise des (Selbst-)Verlustmotivs. Wie dieser in großer Detailgenauigkeit (und vor allem an sich selbst) beobachtet, besteht eine wesentliche Schwierigkeit migrantischen Daseins im ›verlorenen Seinsbeweis‹, eines Bruchs im Selbstverhältnis, der – zumal in Ermangelung vertrauter umweltlicher Bezugspunkte und Personen, welche die eigene Identität bezeugen könnten – auch narrativ nicht vollends zu kitten ist. Im Lichte dieser Analysen zur prekären Position von Migranten gilt es im Schlussstück, das sich wiederum Arendt zuwendet, zu untersuchen, über welche Haltungs- und Handlungsoptionen diese verfügen, um existenzielle Verlustmomente zu kompensieren und sich zu rehabilitieren – angesichts der verbreiteten Tatsache, dass »sie sich selbst für Versager [halten]«,7 nicht zuletzt auch vor sich selbst. Zentrale Bedeutung wird dabei Arendts explizit politischen Ausführungen zum ›Sich-Wehren‹, ›Hinein-‹ und ›Gemeinsam-Handeln‹ zukommen. Orientierung finden die folgenden Ausführungen zu Arendts und Anders’ Migrationsphänomenologien im semantischen Feld von ›Welt‹. Beeinflusst von den Analysen, die ihr gemeinsamer Lehrer Heidegger um 1925 anstellt – diesen gemäß ist ›Welt‹ als sinnträchtige ›Bewandtnisganzheit‹, als ›Verweisungszusammenhang‹, als Um- bzw. Wirkungskreis zu verstehen, in den Dasein eingebettet und von dem es vielfach bedingt ist – sind ihre Überlegungen zu Aus- und Einwanderung wesentlich von der Frage gerahmt, was es bedeutet, ›Welt‹ zu haben. Wenn Arendt und Anders z.B. über die ›Weltlosigkeit‹ nachdenken, die migrantische Existenz kennzeichnet, die Geflohene zu ›Weltbröseln‹, zu ›durch niemanden Bedingte[n]‹ macht und sie zu einem ›ungültigen Leben‹ verurteilt, so machen sie diesen ›Welt‹Begriff im Unterschied zu Heidegger normativ fruchtbar, ist dieser doch auf den
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Für eine Interpretation von Arendts politischem Denken, die ihren Ausgang bei deren Selbstbeschreibung als ›a sort of phenomenologist‹ nimmt, siehe S. Loidolt: Phenomenology of Plurality.
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H. Arendt: Wir Flüchtlinge, S. 20.
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Versuch bezogen, Voraussetzungen und Gestalt guten migrantischen sowie, zumindest im Falle Arendts,8 genuin demokratischen gemeinschaftlichen Lebens zu bestimmen.9 Arendt über Verlust, Herrn Cohn und den Gebrauch von Wolkenkratzern Gängigen Lesarten von Wir Flüchtlinge zufolge liegt das entscheidende Verdienst des Textes vornehmlich darin, den Verlust von gesichertem, anerkennungsfähigem rechtlichen Status als Kernproblem erkannt zu haben, von dem Vertriebene und Staatenlose betroffen sind. Arendts erste ausführliche Behandlung des Themas, entstanden im unmittelbaren Zusammenhang ihrer eigenen Flucht aus Europa und 1943 im Menorah Journal veröffentlicht, wird entsprechend als Vorbereitung der Überlegungen aufgefasst, die sie selbst in späteren Arbeiten entfaltet und die zudem von Denkern wie Giorgio Agamben aufgegriffen werden: Im Zentrum steht dabei die Entrechtung der Flüchtlinge im Rahmen nationaler wie internationaler politischjuridischer Systeme, welche freilich wesentlich mit Mitteln des Rechts erzeugt ist. Vollkommene Rechtlosigkeit wird als ausschlaggebend für das erachtet, was Arendt als Produktion ›bloßen Menschseins‹ beschreibt, als Schaffung »eine[r] neue[n] Gattung von Menschen, die von ihren Feinden ins Konzentrationslager und von ihren Freunden ins Internierungslager gesteckt werden.«10 Unterschlagen wird bei diesem Zugang allerdings, dass Arendt selbst den eminent prekären rechtlichen Status der Vertriebenen nicht in solcher Weise gegenüber anderen Verlustmomenten hervorhebt die migrantische Erfahrung bestimmen. Verlust wird von ihr vielmehr durchgängig unter den Vorzeichen nicht nur rechtli-
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Auf den eminent politischen Zug von Arendts ›Welt‹-Begriff macht bspw. Linda Zerilli aufmerksam. Sie zeigt, wie Arendt mit dessen Hilfe in den Blick nimmt, was ihr als »the really political thing« gilt, nämlich »the relation that each of us has to the world and, through the world we have in common, to the other.« L. Zerilli: A Democratic Theory of Judgement, S. 277.
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Aufgrund der abweichenden paradigmatisch-spätmodernen Erfahrungen bzw. ›Skandale‹, die ihr Denken bestimmen – das Konzentrationslager im Falle Arendts, die Atombombe bei Anders – unterscheidet sich freilich der Stellenwert, den ›Weltlosigkeit‹ für sie je besitzt. Daraus erklärt sich auch Arendts Fokus auf ›weltbildend‹-verändernde, das ›gute Leben‹ ermöglichende Gegenmaßnahmen, der ihr Nachdenken über Migration entscheidend informiert - und der in Kontrast zu den ›bewahrenden‹, ›Überleben‹ sichernden Verhaltensweisen steht, auf die Anders’ Arbeiten abheben. Siehe D. Thomä: »Das natürliche Leben und die Aufgabe des Philosophen«, S. 52.
10 H. Arendt, Wir Flüchtlinge, S. 12.
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chen, sondern auch politischen und vor allem sozialen Stellenwerts von Personen gedacht; eine Tatsache, die es erschwert, Arendt kurzerhand für Diskurspositionen zu vereinnahmen, die die vielfältigen Probleme, die sich im Zusammenhang mit breiten Migrationsbewegungen ergeben, auf dem Weg der Gewährung von Rechtsgarantien an Vertriebene innerhalb staatlicher bzw. zwischen- und überstaatlicher Rahmenwerke zu lösen suchen. Übersehen wird, welch außerordentliche Tragweite Arendt zufolge gerade ›welthafte‹ Aspekte des Verlusts für die Existenz von Geflüchteten besitzt. So heißt es in Wir Flüchtlinge bereits zu Anfang: Wir haben unser Zuhause und damit die Vertrautheit des Alltags verloren. Wir haben unseren Beruf verloren und damit das Vertrauen eingebüßt, in dieser Welt irgendwie von Nutzen zu sein. Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Reaktionen, die Einfachheit unserer Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck unserer Gefühle. Wir haben unsere Verwandten in den polnischen Ghettos zurückgelassen, unsere besten Freunde sind in den Konzentrationslagern umgebracht worden, und das bedeutet den Zusammenbruch unserer privaten Welt.11
Damit ist die Richtung vorgegeben, in welche Arendts weitere Überlegungen zu Lebensbedingungen und -perspektiven von Flüchtlingen gehen. So belastend die willkürliche Behandlung durch (zumindest temporär) aufnehmende Staaten als ›künftige Staatsbürger‹ bzw. als ›feindliche Ausländer‹, so enervierend das Ausfüllen ›zahlloser Fragebögen‹ auch sein mögen, sie reichen nicht hin, um die gewaltigen psychischen Kosten zu erklären, die für ›Neuankömmlinge‹ und ›Einwanderer‹ anfallen12 – und dies, obwohl sie aufgrund ihrer Rettung vor Zerstörung und Vernichtung doch eigentlich als vergleichsweise glücklich gelten müssen. Und dennoch, »Selbstmorde kommen heute nicht nur unter den von Panik erfassten Menschen in Berlin und Wien, in Bukarest oder Paris vor, sondern auch in New York und Los Angeles, in Buenos Aires und in Montevideo.«13 Gerade in der Rettung liegt für Arendt freilich ein Erklärungsansatz dafür, dass Depression und Suizid unter Geflüchteten so verbreitet sind. Im Auge hat sie dabei weniger deren schlechtes Gewissen, also das eigentümliche Gefühl der ›Schuld‹, das sich, wie bspw. von Primo Levi beschrieben, bei den Davongekommenen schlicht aufgrund ihres Über-
11 Ebd., S. 9-10. 12 Mit beiden Begriffen beschreiben die Betroffenen sich selbst, weswegen Arendt sie der Bezeichnung ›Flüchtlinge‹ vorzieht. Von den Amerikanern verwendet, steht diese Fremdzuschreibung ihr zufolge auf der Linie von ›Jude‹ bzw. ›boche‹ und wiederholt, wenngleich auch in weniger feindseliger Weise, das othering durch Deutsche bzw. Franzosen. 13 Ebd., S. 18.
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lebens einstellt – Günther Anders spricht diesbezüglich von der »schamvolle[n] Gemeinde der zufällig nicht Vergasten«.14 Stattdessen ist für sie ausschlaggebend, dass diese im Zusammenhang mit dem Verlust der Lebens- und Sinnwelten ihrer Herkunft auch mit einem dramatischen Verlust ihrer Handlungsfähigkeit konfrontiert sind: Ihr Handeln wird von dem Moment an irrelevant, in dem sie, obgleich sie ›nichts begangen‹ haben, in den Ländern ihrer Geburt verfolgt werden. Bestätigt werden Entmündigung und Ohnmacht auf der Flucht, wo die Handlungen der Vertriebenen und Schutzlosen ebenso wenig zählen wie deren Ansichten. Dabei deutet sich ein Motiv an, das Arendt unter spezifischer Bezugnahme auf Migranten sowohl in Es gibt nur ein einziges Menschenrecht als auch im Imperialismus-Kapitel ihrer Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft erneut aufgreift und schließlich in Über die Revolution als Ablehnung jedweder politics of pity allgemein formuliert: Ob sie durch die Polizeikräfte von Durchgangs- und Zielländern verfolgt werden oder sich stattdessen ›staatliche oder private Wohlfahrtsorganisationen‹ ihrer annehmen,15 für die fundamentale ›Erfahrungstatsache‹ des Handlungsverlusts bleibt dies letztlich ohne Bedeutung.16 Durch den gesamten Ablauf von gewaltsamem Ausschluss, von traumatischer ›Vogelfreiheit‹ (die, wie Agamben und Judith Butler in Anknüpfung an Arendt zeigen werden, gleichbedeutend ist mit Tötbarkeit und NichtBetrauerbarkeit) und zuletzt von Assimilationsdruck gekennzeichneten (Teil)Einschluss hindurch, den Arendt rekonstruiert, zieht sich der rote Faden unterdrückter, verunmöglichter Handlungsmacht und aufgezwungener Passivität. In letzter Konsequenz ist diese Passivierung – eine Passivierung, die auch im reinen Gewähren von Rechten perpetuiert wird, das Migranten weiterhin die Rolle von ›Opfern‹ zuschreibt17 – mitkonstitutiv für den Selbstverlust, den Arendt als wesentliches Merkmal von deren Existenz und als hauptursächlich für das fortgesetzte innere Leid der äußerlich, d.h. in Bezug auf ihr Überleben Geretteten darstellt. Dieser Verlust, der sich in der Selbsttäuschung, der Selbstverleugnung sowie in der zu gleichen Teilen hoffnungsvollen und verzweifelten Bereitschaft, ›Rollen‹ zu
14 G. Anders, Günther: »Der Emigrant«, S. 617. 15 Wie Arendt auch an anderer Stelle, so z.B. im Vortragsfragment Statelessness von 1955, unterstreicht, läuft die Behandlung durch die Polizei häufig auf die Kriminalisierung der Vertriebenen und Staatenlosen hinaus. Polemisch merkt sie zudem an, dass Hilfsorganisationen »in Sprache und Zusammensetzung nur zu oft Tierschutzvereinen ähneln«. Siehe H. Arendt: »Es gibt nur ein einziges Menschenrecht«, S. 10. 16 »Wenn wir gerettet werden«, so heißt es bei Arendt, »fühlen wir uns gedemütigt, und wenn man uns hilft, fühlen wir uns erniedrigt.« Siehe H. Arendt, Wir Flüchtlinge, S. 21. 17 Auf diesen Punkt wird im Zusammenhang mit Arendts Bemerkungen zu ›Kampf‹ und Partizipation von Migranten noch weiter einzugehen sein. Siehe auch: D. Thomä: Puer robustus, S. 535.
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spielen und ›Fassaden‹ aufzubauen, manifestiert, erweist sich für ein gelingendes Leben in neuen Welten als erhebliches Hindernis. Exemplarisch führt Arendt dies an der Figur des Herrn Cohn, eines deutsch-jüdischen Emigranten, vor. Anders als der ›Herr Schnorrer‹, eine dem ›Schlemihl‹ zu – von diesem wird später noch die Rede sein – ähnelnde Figur, die neben Hilfsorganisationen auch die Unterstützung seiner Schicksalsgenossen in Anspruch nimmt und so in einem Zustand entwürdigender Abhängigkeit verharrt, repräsentiert Herr Cohn nicht nur den übertriebenen Optimismus mancher Geflüchteter, sondern auch deren ungesunden Hang zur Selbstaufgabe durch Anpassung: Ursprünglich »ein 150prozentiger Deutscher, ein deutscher Superpatriot«,18 gelangt dieser über Prag, Wien und Paris nach Übersee. Auf sämtlichen Stationen seiner Flucht ist er so sehr darauf erpicht, möglichst rasch dazuzugehören und hineinzupassen, dass sein Selbstbild, Selbstverständnis und Selbstverhältnis durch die Verleugnung dessen, »was er tatsächlich ist, nämlich ein Jude«,19 bis zur Unkenntlichkeit verzerrt wird. Mag Arendt die Figur des Herr Cohn auch vor dem spezifischen Hintergrund der Geschichte jüdischer Assimilationsbemühungen entwickeln, so lassen sich aus dessen ›verrückten Verwandlungen‹ – wie überhaupt aus Arendts Schilderungen des Schicksals der Vertriebenen und Staatenlosen zu Mitte des 20. Jahrhunderts – doch Schlüsse ziehen, die darüber hinaus Gültigkeit für das Glücken bzw. Scheitern migrantischer Existenz besitzen: Für diejenigen, die ankommen, bedarf es im Angesicht des Weltverlusts, der ihnen bereits widerfahren ist, und des Selbstverlusts, von dem sie hartnäckig bedroht sind, einer bestimmten (Ich-)Stärke, um in der Fremde einen aktiven Beitrag dazu zu leisten, dass wesentliche Voraussetzungen für ein Leben in Würde erfüllt sind: Dies beinhaltet einerseits das Finden bzw. ›Erkämpfen‹ eines konturierten, gesicherten und sinnträchtigen Platzes in veränderter Umwelt sowie andererseits die Aufrechterhaltung des eigenen Lebenszusammenhangs, der Verteidigung biographischer Kontinuität als Grunddimensionen von Selbstachtung und Selbstbestimmung. Für aufnehmende Staaten und Gesellschaften lässt sich ableiten, dass die Trennlinie zwischen Integration und Assimilation nur um den Preis der Mitschuld zu überschreiten ist,20 die sie trifft, wenn ›jene seltsamen Optimisten‹ von Schlage des Herrn Cohn plötzlich »nach Hause gehen und das Gas aufdrehen oder auf unerwartete Weise von einem Wolkenkratzer Gebrauch ma-
18 H. Arendt, Flüchtlinge, S. 26-7. 19 Ebd., S. 28. 20 Genau dies ist in einer Reihe von administrativen Maßnahmen der Fall, die die aktuelle US-Regierung im Sommer und Herbst 2017 ergriffen hat: Der Begriff ›Assimilation‹ ersetzt ›Integration‹ und wird sowohl als Auswahlkriterium wie auch als Aufenthaltsvoraussetzung in Stellung gebracht.
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chen«.21 Für Politik- und Moraltheoretiker der Migration verdeutlichen Arendts Ausführungen schließlich, dass die Güte der Position, die Vertriebene und Verfolgte in Aufnahmeländern einzunehmen vermögen, nicht allein von deren rechtlichem Status abhängt; dies umso weniger, so lange deren Rechte im Sinne eines einseitig vollzogenen Gewährens (von Schutz, Asyl oder Staatsbürgerschaft) und Erlaubens (von Aufenthalt, Arbeit oder politischer Teilnahme) begriffen werden. Auf diese vorläufigen Ergebnisse wird später, wiederum mit Arendt, zurückzukommen sein. Anders über Knickungen, Herrn K. und die posthume Pubertät Auch in Günther Anders’ Aufsatz Der Emigrant bilden Welt- und Selbstverlust die zentralen Themen. Knapp zwei Jahrzehnte nach Kriegsende und gut zehn Jahre nach seiner Rückkehr nach Europa (von 1950 bis zu seinem Tod 1992 lebt Anders in Wien) verfasst, zeichnen sich seine Reflexionen auf Aus- und Einwanderung durch einen ebenso persönlichen wie empathischen Tonfall aus. Im Unterschied zu Arendts eher reservierten, teils sogar ironisch gefärbten Beobachtungen – selbst die mit dem Wir im Titel ihres Textes vorgenommene Identifikation vermag den Eindruck von ›fehlender Liebe‹22 nicht gänzlich zu überblenden – macht Anders kein Geheimnis daraus, dass er distanzlos über sich selbst und seine eigenen, tatsächlichen Begegnungen mit Geflüchteten schreibt, die ihm dabei stets als Leidensgenossen, als Mitglieder einer ›Schicksalsgemeinschaft‹ gelten.23 Während Arendt ein großes Tableau migrantischer Erfahrung entwirft, liefert Anders Detailstudien dazu, wie Zeit, Raum, Sprache – und in alledem die eigene Identität – im Exil erlebt werden. Eindrücklich schildert er, wie die Zeit aus der Lebensperspektive des Emigranten auf zwei Achsen aus den Fugen gerät. Im Verhältnis zum Ankunftsland ist es ein steter Ausstand, ein fortgesetztes Noch-Nicht, das dessen Zeiterfahrung prägt – das Warten auf den nächsten Behördengang oder ›odd job‹ und auf behördlich sanktionierte Zulassung, die einer ›Lebenserlaubnis‹ gleichkommt. In Relation zum Herkunftsland ist dessen seltsam suspendierte zeitliche Position dagegen vornehmlich durch einen Rückstand bestimmt, ein schmerzhaft unhintergehbares NichtMehr: »Gleichviel, was der Abwesende, der auf Rückkehr hofft, meint oder erwartet, ist niemals nur die Rückkehr zu einer Stelle im Raum, sondern immer auch
21 H. Arendt, Wir Flüchtlinge, S. 15. 22 Der Vorwurf ›fehlender Liebe‹ für das jüdische Volk wird von Gershom Sholem gegen Arendt erhoben. Sholem bezieht sich dabei auf Arendts Schilderungen der so genannten ›Judenräte‹ in Eichmann in Jerusalem sowie auf ihre kritischen Bemerkungen zur Gründung und Politik Israels. 23 Siehe G. Anders: »Der Emigrant«, S. 607.
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Rückkehr zu einer (längst wesenlos gewordenen) Stelle in der Zeit.«24 Seine Gedanken zur spezifischen Zeitlichkeit des Migrantendaseins fasst Anders unter dem Begriff der Pubertät zusammen, die in den Spielarten ›verlängert‹ (oder ›regressiv‹) sowie ›posthum‹ auftritt. Während erstere die unselbständige, notorisch ›unfertige‹ und darin entwürdigende Lebenssituation derjenigen Aus-/Einwanderer bezeichnet, die auf ökonomische und soziale Eingliederung aus sind, steht letztere für die resignative Haltung derer, die das Leben im Exil lediglich als ›schattenhaftes Nachspiel‹ ihrer eigentlichen Existenz wahrnehmen, deren Ende mit der Vertreibung – bzw. im Fall vieler deutscher Juden mit dem ›Ausgeschaltetsein‹ durch ›Gleichschaltung‹ – zusammenfällt. Anders lässt keinen Zweifel daran, dass für die Spätpubertierenden, von denen bei ihm die Rede ist, gerade nicht Tatendrang und Abenteuerlust charakteristisch sind – sie sind »nicht jugendlich, sondern unerwachsen«,25 es handelt sich bei ihnen um alte, nicht um kräftige Knaben. Anders ergänzt seine Überlegungen zu ›Intermezzo‹ und ›Provisorium‹ um Beobachtungen zur besonderen räumlich-örtlichen Signatur migrantischen Lebens und somit zu einer umfassenden ›Psychologie des Abwesenden‹. Anhand einer Anekdote aus der Zeit seines Paris-Aufenthalts illustriert er die Schwierigkeit für Geflüchtete, anderswo Bezüge der Hingehörigkeit zu entwickeln: Der ›niemals ausgepackte Handkoffer‹ eines emigrierten deutschen Gewerkschafters versinnbildlicht diesen Mangel an Situiertheit, der zum Grundempfinden eines ›ungültigen Lebens‹ beiträgt. Während die Weigerung anzukommen, der meist die Hoffnung auf Rück- und Heimkehr zugrunde liegt, hier subjektiv mitbedingt ist und Züge des ›Selbstbetrugs‹ trägt, führt Anders auch objektive Ursachen dieses unaufgehobenen Schwebezustandes an, wenn er auf seinen Vater, »dessen Asche in einer der Tabakstädte des amerikanischen Südens herumsteht«, und auf Walter Benjamin, »der unter einem Busch in den Pyrenäen seine Ruhe auf der Flucht fand«, verweist, die wie »Millionen (sofern ihr Sterbeplatz überhaupt identifizierbar ist) in falschen Gräbern liegen«.26 Darin lässt sich nicht nur ein Echo auf Stellungnahmen Rilkes, Adornos, Heideggers und Arendts zur Unmöglichkeit eines ›großen‹ bzw. ›echten‹ Todes unter Bedingungen des technologischen Zeitalters allgemein sowie totalitärer Vernichtungspolitik im Besonderen vernehmen; vielmehr zeigt sich hier, wie für displaced persons aufgrund des Fehlens von Orten der Trauer und des Gedächtnisses, welche sich überhaupt, geschweige denn regelmäßig aufsuchen lassen, auch Identität stabilisierende Bindungen des Andenkens vom Zerreißen bedroht sind. Spiegelbildlich zum »Cogitor ergo sum – ›man denkt an mich, also bin ich‹«,27 das Anders
24 Ebd., S. 613. 25 Ebd., S. 609. 26 Ebd., S. 611. 27 Ebd., S. 605.
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als stichhaltigen ›Seinsbeweis‹, als Barriere gegen existentielle ›Ungültigkeit‹ markiert, muss ihm zufolge damit auch ein An-Andere-Denken, das auf Bekannte und Vertraute bezogen ist, als wesentlich für gesichertes Selbstsein gelten. Schließlich wendet sich Anders‘ Text den Auswirkungen zu, die das unfreiwillige Exil auf das sprachliche Vermögen der Betroffenen hat. So besteht für die Geretteten eine ›neue Gefahr‹ darin, Welt- und Selbstverlust auf Ebene der Sprachlichkeit zu wiederholen, ja zu verschärfen. Ob ›Mitschwätzer‹ oder ›sprachlich Selbständige‹, für sie alle gilt, dass sie sich in Fremdsprachen nicht länger angemessen und vor allem eigenständig, d.h. ohne Rückgriff auf Vorgestanztes und Floskelhaftes ausdrücken können. Damit werden sie zu ›Stammlern‹ – und dies sogar »in beiden Sprachen: Denn während wir unser Französisch, Englisch oder Spanisch noch nicht gelernt hatten, begann unser Deutsch bereits Stück für Stück abzubröckeln«.28 Schwerer noch als die ›Würdelosigkeit‹, die wegen sprachlicher Unzulänglichkeiten im Austausch mit Einheimischen empfunden wird, wiegt die damit verbundene doppelte, d.h. sich auf den aktuellen Lebens- ebenso wie auf den ursprünglichen Herkunftskontext beziehende ›Weltlosigkeit‹. Diese ›Weltlosigkeit‹ führt Anders mit ›Vereinsamung‹ eng, er sieht in ihr ein Kernelement eines durch die »Emigrations-Selbstmorde nur [besiegelten] Existenzverlust[es]«29. Dem beschädigten Verhältnis zu Zeit, Ort und Sprache, das Anders nachzeichnet, liegt jeweils die Erfahrung eines Bruchs zugrunde, der den gesamten Lebenszusammenhang der Verfolgten, Vertriebenen und Geflüchteten tief betrifft. Den Sachverhalt stets bedrohter, oftmals tatsächlich verlorener in sich stimmiger biographischer Kontinuität legt Anders insbesondere in den Bildern der ›Knickung‹ bzw. des ›Schmetterlings‹ offen: »In gewissem Sinne«, so schreibt er, »mag zwar auch der Lebenslauf des Schmetterlings, der als Raupe begonnen hatte, als Puppe überwintert hat und nun hier herumflattert, einer sein; im gleichen Sinne wie der des Hundes nicht.«30 Dabei zeigt Anders, inwiefern sich die Gefahr des Selbstverlusts nicht allein aus dem Verlust des ›Walde[s] von Merkzeichen‹ erklären lässt, als welchen er den jeweiligen Herkunftskontext beschreibt und den er als umweltliches holding environment personaler Identität versteht.31 Vielmehr ist es dem episodi-
28 Ebd., S. 620. 29 Ebd., S. 606. 30 Ebd., S. 601. 31 In ihrem Buch Public Things, greift Bonnie Honig das vom britischen Kinderarzt und Kinderpsychologen D.W. Winnicott entwickelte Konzept intersubjektiver, insbesondere familiärer holding environments auf, welche für die emotional gesunde persönliche wie soziale Entwicklung von Kindern notwendig sind. Indem sie Winnicotts Konzept auf Arendts ›Welt‹-Analysen bezieht, macht sie dieses für demokratie- und nicht zuletzt auch migrationstheoretische Überlegungen fruchtbar.
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schen, unstet-erratischen Charakter migrantischer Lebensweise zuzuschreiben, dass diese aus der Innenperspektive der Betroffenen nicht mehr als geschlossen, als ganz zu begreifen ist. Von Stadt zu Stadt, Land zu Land, Kontinent zu Kontinent getrieben, stellen sich für diese ›Knickungen‹ ein, »die den Rückblick – beinahe hätte ich geschrieben: physisch – unmöglich mach[en].«32 Indem die einzelnen Lebensabschnitte zunehmend voneinander abgetrennt erscheinen, kommt es zu einer ›effektiven Erkenntnisverhinderung‹, die auch narrativ nicht zu beheben ist. Welchen Grad die Abkoppelung vom eigenen Lebenslauf erreichen kann, illustriert Anders am Fall des Herrn K., eines Bekannten aus Deutschland, dem er in Kalifornien wieder begegnet: Dessen ›Odyssee‹ globalen Ausmaßes – dies freilich in dem migrationsspezifischen Sinn, in dem bei Arendt von ›Irrfahrern‹ die Rede ist, »die im Unterschied zu ihrem großartigen Vorbild Odysseus nicht wissen, wer sie sind«33 – lässt ihn über sein früheres Leben in Deutschland wie auch über die vorherigen Etappen seiner Wanderungen sprechen, als handle es sich dabei um Anekdoten aus den Leben seiner Vorfahren. Auch wenn Herr K. in seiner scheinbar ›unverletzbaren‹ Widerstandskraft und erstaunlichen Fähigkeit zur ›Wiedergeburt‹ ein Gegenbild zu Arendts Herrn Cohn abgibt, stellt er doch einen ›beinahe krankhaften Grenzfall‹ dar (welcher nach Anders freilich eben darin den migrantischen ›Normalfall‹ erhellt). Der Emigrant als Überlebenskünstler, den Anders hier beschreibt, muss zwar nicht pathologisiert und z.B. mit einer Form von traumatisch verursachter dissoziativer Störung diagnostiziert werden; er erweist sich aber zumindest als Verwandter des Schauspielers, den Nietzsche wiederholt in der Morgenröte auftreten lässt: So sehr ihn einerseits dessen Mut zur (Selbst-)Erfindung und die dank dieser erzielten Effekte beeindrucken, so sieht er den Schauspieler doch andererseits auch in Gefahr, zum ›idealen Affen‹ zu werden, der – indem ihm alles zum ›Spiel‹, das eigene Verhalten zur ›Gebärde‹, die Umwelt zur ›Kulisse‹ wird – ohne ›Glauben‹, ohne echte Orientierung und daher im Modus (Selbst-) Abwesenheit existiert.34 Es sind diese vieldimensionalen Momente von Wegfall und Absenz, die nach Anders der Möglichkeit, für bzw. als Migranten gut zu leben, in entscheidender Weise im Weg stehen. Zwar finden politisch-rechtliche Aspekte migrantischen Daseins gelegentlich Erwähnung, die z.B. Arendts kritische Überlegungen zur Gefahr des ›Verwaltungsmassenmord‹ an Vertriebenen und Staatenlosen bestätigen, doch ist der Akzent seiner Ausführungen zweifellos anders gesetzt: Aus der Zeit
32 G. Anders: »Der Emigrant«, S. 604. 33 H. Arendt: Wir Flüchtlinge, S. 31. 34 Während das Erste Buch der Morgenröte ein Lob des antik-griechischen ›Schauspielers der Tugend‹ enthält, finden sich die hier erwähnten kritischen Bemerkungen im Vierten Buch.
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gefallen, fehl am Platz und sprachgestört fehlt es dem Emigranten beileibe nicht nur an Rechten, sondern zuallererst an biographischer Kontinuität. Im Umkehrschluss lässt sich derartige Kontinuität mit Anders als Grundvoraussetzung gelingenden migrantischen Lebens begreifen und das bedeutet: der Fortbestand eines Netzes von Bezügen zum Ursprungsland, das auch über die Einwanderung in das aufnehmende Land hinaus hinreichend tragfähig bleibt.35 Wenngleich politische Implikationen in Anders’ Text nicht weiter ausgearbeitet werden, so lassen sich doch einige Ableitungen ziehen, die u.a. Regelungen zum Nachzug von Angehörigen betreffen. Was zurzeit vielerorts unter dem Schlagwort der chain migration verschrien ist (und z.B. durch im Sinne des wirtschaftlichen Nutzens aufnehmender Staaten definierte leistungsbasierte Punktesysteme ersetzt werden soll), erweist sich im Licht von Anders’ Gedanken als Glied in einer Kette, die Migranten die Aufrechterhaltung sie haltender intersubjektiver Beziehungen zur vertrauten Welt ihrer Herkunft ermöglicht und so einen wichtigen Beitrag leistet, dass diese auf individueller Ebene als konturierte, für sich selbst erkennbar und verständlich bleibende Subjekte zusammengehalten werden. Daneben lassen sich auch mit Anders den Erwartungen und Anforderungen aufnehmender Gesellschaften zu Anpassung gewisse Grenzen setzen, wenn diese von Migranten nicht lediglich Integration, sondern Assimilation – und damit ein völlig anderes, vom Vorleben in problematisch abgeschnittenes Verhältnis zur eigenen Biographie – einfordern: Der ›Lebenslauf des Schmetterlings‹ lässt sich nicht auf das, um bei Anders’ zuvor erwähntem Bild zu bleiben, ›Hundeleben‹ derer zurückbiegen bzw. zwangsverpflichten, die fortwährend in Welten leben, in welche sie geboren wurden. Das Problem, das er auf die Formel ›vitae, nicht vita‹ bringt, stellt sich Aus- und Einwanderern ohnehin – wird es institutionell oder sozial weiter verschärft, produziert dies nicht allein die gefährlich Schwermütigen und die unheimlichen Schauspieler, denen seine Analysen gewidmet sind, sondern auch Fanatiker und andere ›massive Störenfriede‹, die den Sprung im Lebenszusammenhang im Übersprung, d.h. in Idealbildern reinen Ursprungs und vollkommenen Bei-Sich-Selbst-Seins zu kompensieren suchen.36 Angesichts seiner präzisen Schilderungen der existentiellen Nöte des Migrantenschicksals – dessen ›pubertärer‹ und ›abwesender‹, ›würdeloser‹ und ›ungültiger‹ Verfassung – muss überraschen, dass Anders zum Ende seines Textes dennoch
35 Inwiefern Überlegungen zum ›guten Leben‹ in Anders’ (Spät-)Werk – gerade aufgrund des darin zentralen Imperativs des Überlebens im Gefahrenhorizont atomarer Zerstörung – Grenzen gesetzt sind, sein Denken aber letztlich doch nicht ohne diese Kategorie auskommt, zeigt Dieter Thomä auf. Siehe D. Thomä: »Das natürliche Leben und die Aufgabe des Philosophen«, insbesondere S. 35-6 und S. 55-6. 36 Siehe D. Thomä: Puer robustus, S. 524ff.
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um eine ›Ehrenrettung‹ bemüht ist. Als gleichsam objektive Voraussetzung einer solchen führt er die Zeugenschaft der Vertriebenen ins Feld. Indem sie »auf der Stelle tr[e]ten‹: nämlich auf dem Zeitpunkt, auf dem ›es‹ passiert war«,37 indem sie sich dem ›Alltagsgespräch‹ aufnehmender Gesellschaften verweigern und ihren ›Empörungsschrei‹ über das Geschehene für diese hörbar machen, bezeugen sie nicht nur das ihnen selbst widerfahrene Unrecht, sondern auch die Fortdauer zerstörerischer Gewalt, so vor allem nationalsozialistischer Vernichtungspolitik gegen die europäischen Juden. Im Vordergrund steht bei seinem Versuch, der Emigration Sinn abzugewinnen, jedoch ein subjektives Kriterium. So werden die erzwungenen Wanderjahre zu Lehrjahren stilisiert, welche gerade Schriftstellern und anderen ›Sprachliebhabern‹ gestatten, konzentriert hochwertige Arbeiten zu produzieren:38 Als ›Lehrzeit‹ begriffen, werden die existenzbedrohenden, von Zeit-, Ort- und Sprachlosigkeit geprägten Jahre der Wanderschaft abschließend in erstaunlicher Weise zur ›gute[n] Zeit unserer Exilmisere‹ uminterpretiert, ja verklärt. Abgesehen davon, dass eine derartige, geradezu versöhnlich wirkende Lesart nur in der Retrospektive dessen möglich scheint, der zu den gens rentrés zählt (von diesen ist im Briefwechsel mit Arendt schon 1939 mit einer gewissen Sehnsucht die Rede), fällt der völlig unpolitische Charakter dieser Überlegungen ins Auge. In verblüffendem Kontrast zur Betonung der Tat, die seine Arbeiten der Nachkriegszeit kennzeichnet,39 finden Erwägungen zu den Handlungsoptionen und -kapazitäten der Vertriebenen und Neuangekommenen in Der Emigrant keinen Platz: Radikale individuelle Unangepasstheit gegenüber dem neuen Umfeld, die isolationistisch, zum Teil auch eskapistisch – und darin wie ein später Rekurs auf Anders’ Verteidigung des Solipsismus in den ›Kirschenschlachten‹ mit Arendt – wirkt, wird als Tugend derer ausgegeben, die sich gegen ihren Willen auf Wanderschaft befinden;40 ein geradezu stoisches Erdulden aller Widrigkeiten ist es, welches, so legt vor allem der Schluss des Textes nahe, allein erlösende Wirkung zu zeitigen ver-
37 G. Anders: »Der Emigrant«, S. 611. 38 So heißt es im letzten Absatz des Textes geradezu romantisierend: »Welch beneidenswerte Chance, sich zu fragen, ob, was man schrieb, wirklich benötigt war, und für wen man es schrieb! Welche Gelegenheit, Halbgeratenes zu stutzen, in Stocken Geratenes fortzuwerfen und dadurch im Rucksack Platz für Stiefel und Brot freizubekommen!« 39 Dies gilt vor allem für sein Anschreiben gegen die ›Apokalypseblindheit‹ des modernen Menschen, das unter dem Eindruck des Abwurfs der Atombombe über Hiroshima steht und in den zwei Bänden der Antiquiertheit des Menschen (1956/1980) kulminiert. 40 Dies wird z.B. in Anders’ Polemik gegen Emigranten ersichtlich, die sich um sprachliche Anpassung bemühen. Er erkennt darin eine ›aufdringliche‹ Form der Assimilierung, die er unter der Rubrik ›vorteilhafter Charakterdefekt‹ verbucht. Siehe G. Anders, »Der Emigrant«, S. 620.
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mag. Dadurch dass er eine unpolitische Haltung der ›Weltfremdheit‹ propagiert, kann Anders der Frage, wie für Migranten trotz allem gut zu leben sei, nicht weiter auf den Grund gehen.41 Da relevante Ressourcen seines Denkens – neben einem grundsätzlichen Zug zum Praktischwerden wäre bspw. auch das Abheben auf ein interpersonales ›Aufeinander aus‹ zu nennen42 – mit Bezug auf diese Frage ungenutzt bleiben, erinnert Anders’ Emigrant letztlich an Baudelaires extraordinaire étranger:43 Unverbunden mit Anderen, ist dieser im Wortsinne außer-ordentlich, steht also außerhalb jeder politischen Ordnung; darauf bedacht, mit solcher Ordnung nicht in Berührung zu kommen, benimmt er sich aller auf diese bezogenen Einfluss- und Mitgestaltungsmöglichkeiten. Um das aus dieser ›Weltfremdheit‹ resultierende praktisch-politische Manko zu beheben, das bei Anders trotz aller Präzision im Vermessen der Abgründe migrantischer Erfahrung besteht, ist es nötig, ein weiteres Mal auf Arendts Migrationsphänomenologie zurückzugreifen. Arendt über Avantgarde, Einwohnerschaft und das Vermeiden gefährlicher Folklore Bereits in ihrer Biographie Rahel Varnhagens, die größtenteils während der frühen 1930er Jahre entsteht, setzt Arendt sich mit der Gefahr der Einsamkeit und Ohnmacht auseinander, mit der all jene konfrontiert sind, die einer Gesellschaft nicht in ›natürlicher‹ Weise angehören. Das Schicksal der Salonnière jüdischer Abstammung, der sie mit Sympathie ebenso wie mit Kritik begegnet, gilt ihr diesbezüglich als warnendes Beispiel: Aus dem letztendlichen Scheitern von Varnhagens Assimilationsbemühungen im Berlin des frühen 19. Jahrhunderts leitet sie den Grundsatz ab, der ihre eigene Haltung als Staatenlose und Neuangekommene sowie ihr Nachdenken über das gute migrantische Lebens maßgeblich bestimmt und der sich auf
41 Dieter Thomä weist auf die inhaltliche Nähe hin, die zwischen dem Motiv der ›Weltfremdheit‹ bei Anders und Heideggers Kritik der nivelliert-uneigentlichen Welt des ›Man‹ in Sein und Zeit besteht. Siehe D. Thomä: »Das natürliche Leben und die Aufgabe des Philosophen«, S. 50. 42 Wie in Anders’ Kirschenschlacht deutlich wird, ist ein solches freilich in erster Linie im Sinne der romantischen Liebe gedacht. Im Unterschied zu Arendt, die die Tendenz privater Liebesbeziehungen zur ›Weltlosigkeit‹ vielfach kritisch erörtert, beharrt Anders im Zuge einer Neudeutung von Leibniz’ Monadologie auf der Möglichkeit eines dialektischen Wechsels von Isolation und Kommunikation. 43 So lautet ein Vers in Charles Baudelaires 1869 posthum veröffentlichten Gedicht L’Etranger: Je n’ai ni père, ni mère, ni sœur, ni frère. Auch amis und patrie bleiben für diesen Fremden ohne Bedeutung, welcher, seiner sozialen Umwelt entfremdet, einzig die merveilleux nuages liebt.
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die Formel thou shalt not be a shlemiel bringen lässt.44 Der Emigrant, den Anders beschreibt, kann ihr dagegen nur als derartiger Schlemihl – diese archetypische Figur (ost-)jüdischer Kultur findet auch in Wir Flüchtlinge Erwähnung – erscheinen. Dass dessen Existenz durchgängig im Zeichen des ›Verschlagen-‹ und ›Verweht-‹Werdens, dass dessen Erfahrung einzig als ›collisio‹ also als Widerfahrnis gedacht wird, muss Arendt als Ausdruck von Schwäche gelten.45 Außerstande, sich ›nicht zu ducken‹, sich ›zu wehren‹ und Handlungsmacht zurückzugewinnen präsentiert sich dieser aus ihrer Warte nicht bloß als ›weltfremder‹ Träumer, als sonderbarer homme de lettres oder als Pechvogel. Vielmehr muss er ihr als Narr erscheinen, der für sein Unglück entscheidend mitverantwortlich ist und dies umso mehr, je länger sein Schlamassel (eine wörtliche Entsprechung zu Unglück, die auf dieselbe Wurzel zurückgeht wie ›Schlemihl‹) über die ursprüngliche Verlusterfahrung gewaltsamen Ausschlusses hinaus anhält. Das gute migrantische Leben bleibt damit bei Arendt nicht dem glücklichen Zufall überlassen. Es hängt stattdessen fundamental davon ab, ob Neuankömmlinge sich innerhalb der politisch-sozialen Strukturen, welche sie umgeben, sowohl widerständig als auch gestaltend so zu positionieren vermögen, dass sie diesen den Charakter von ›Welt‹ verleihen. Entsprechend ist ihr Hauptaugenmerk darauf gerichtet, Haltungen und Handlungen zu identifizieren, dank derer sich anfänglich Kreuz- und Quergetriebene mit der Zeit in unerschrockene Quertreiber verwandeln, die tatsächlich ankommen anstatt lediglich davon und über die Runden zu kommen. Wie ernst es Arendt damit ist, zeigt sich einmal an ihrer persönlichen Bereitschaft zum politischen Engagement, welches für die Jahre ihrer Staatenlosigkeit nicht weniger prägend ist als ihre philosophische Tätigkeit. Von der Dokumentation antisemitischer Vorfälle in Deutschland im zeitlichen Umfeld der nationalsozialistischen ›Machtergreifung‹ über die Arbeit für eine zionistische Organisation, die Kinder aus jüdischen Familien von Europa nach Palästina bringt, bis hin zu ihren journalistischen, vielfach offen agitierenden Interventionen, in denen sie sich bspw. für die Schaffung einer jüdischen Armee stark macht – die Titel der Zeitschriften, in denen sie veröffentlicht (darunter Aufbau und Partisan Review) sowie der Kolumnen, die sie verfasst (so z.B. This Means You), sind bei ihr Programm: Sie fühlt sich
44 In seinem mit 2009 im New Yorker erschienenen Beitrag »Beware of Pity« charakterisiert Adam Kirsch einen Grundzug von Arendts politischem Denken durch diese imperativische Formel. 45 Dagegen zeichnet es Arendts Denken nicht nur im Zusammenhang mit Fragen der Migration aus, Verbindungslinien bzw. Umschläge zwischen widerfahrender und gemachter Erfahrung, zwischen ›Passion‹ und ›Aktion‹ zu identifizieren. Siehe auch D. Thomä: »Verlorene Passion, wiedergefundene Passion.«
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angesprochen und wird daher als Aufbauhelferin und Parteigängerin in eigener Sache aktiv. Auch in ihrer theoretischen Arbeit wird der Anspruch eingelöst, Depravierung und Passivierung, von denen Migranten notorisch bedroht sind, mit Nachdruck zu begegnen. Drei verschieden skalierte – primär subjektiv, intersubjektiv bzw. politisch angelegte – Momente sind es, die dabei im Mittelpunkt stehen: Auf der Ebene des Einzelnen geht es nach Arendt um eine fortgesetzte praxis des ›Erkämpfens‹, die aus einer hexis des ›Mutes‹ hervorgeht.46 Ohne die subjektiv unterschiedlichen (z.B. psychologischen oder sozio-ökonomischen) Voraussetzungen, derartige ›IchStärke‹ selbst unter schwierigsten Lebensbedingungen an den Tag zu legen, weiter zu ergründen, vermag für Arendt allein ein kämpferischer Ansatz dem Neuankömmling, einen ›Standort in der Welt‹ (zurück) zu gewinnen, an welchem »seine Meinungen Gewicht haben und seine Handlungen Wirksamkeit«.47 Sie präsentiert damit ein entschiedenes Gegenmodell zu den entschuldigend-bittstellerischen, auf möglichst unauffällige Anpassung angelegten Verhaltensweisen, die von Neuankömmlingen typischerweise erwartet werden. Dass sich gewalttätige Mittel im Zusammenhang mit diesem ›Kampf‹ auf eigene Faust nicht rechtfertigen lassen, zeigen einerseits die Formen ihres eigenen Engagements; andererseits folgt dies unmittelbar aus den normativen Grundfestlegungen ihres Werkes, denen zufolge der Bezirk des Politischen, verstanden unter den Vorzeichen von action and (bzw. as) speech, genau dann verlassen und unterminiert wird, wenn Gewalt zur Anwendung kommt. Unter intersubjektivem Blickwinkel identifiziert Arendt organisierten Austausch und fortgesetzte Zusammenarbeit mit Anderen – in den frühen Stadien des Neuankommens insbesondere mit Schicksalsgenossen – als wesentliche Gegenmaßnahmen zu den geschilderten Verlustmomenten, die Neuankömmlinge isolieren und allzu leicht zu Verfügungsobjekten ihrer Gaststaaten und -gesellschaften machen. Erst wenn kämpferisches Einzelhandeln um die Dimension gemeinsamen Handelns ergänzt wird, lässt sich in breiterer und gesicherterer Weise die ›Wirksamkeit‹ erzielen, auf die Arendt abhebt. Diese ist jedoch nicht einzig auf messbare Effekte auf die neue Umgebung, so z.B. unmittelbare Verbesserungen des sozialen und politischen Status von Migranten, zu verkürzen. Vielmehr illustrieren die Gesprächskreise von Exilierten, in die Arendt gerade in ihren frühen Jahren in Amerika eingebunden ist, dass sich Wirkung auch ohne derlei objektiven Erfolg einzustellen vermag, und zwar insofern, als sich bereits aus der ›bloßen Tatsache des Organisiertseins‹ die Chance ergibt, ›nicht einfach als Privatleute‹, sondern ›auch im
46 Siehe z.B. H. Arendt, Wir Flüchtlinge, S. 26. 47 H. Arendt: »Es gibt nur ein einziges Menschenrecht«, S. 7.
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Gruppenzusammenhang zu überleben‹.48 Wenngleich diese Art von acting in concert, von solidarischem plotting,49 für sich auch noch kein gelingendes migrantisches Leben gewährleistet, ist dessen Vollzug doch produktiv für die Kompensation und Überwindung von Welt- und Selbstverlust: So werden einmal weltanschaulichpolitische wie auch herkunfts- und erfahrungsweltliche biographische Bindungen gewahrt und erneuert; daneben kommt auch die nach Arendt genuin menschliche Kapazität zum Ausdruck, spontan und selbstbestimmt Anfänge zu setzen. Im (Selbst-)Organisieren verhindern Migranten also, sich in der Rolle paralysierter ›Weltbrösel‹ wiederzufinden. Dass hier zum einen erneut die Gewaltlosigkeitsbedingung greift und dass zum anderen die propagierte konzertierte Aktion – ihrer ursprünglichen in-group-Orientierung zum Trotz, die ganz der Arendt’schen Losung entspricht, man müsse sich ›als Jude wehren, wenn man als Jude angegriffen wird‹50 – nicht auf parallelgesellschaftliche Abkapselung, sondern vielmehr auf Durchlässigkeit und Offenheit hinausläuft, zeigt sich dort, wo Arendt nicht vornehmlich über Handlungs- und Haltungsoptionen der Neuangekommenen, sondern ausdrücklich auch über deren Verhältnis zu den alteingesessen Mitgliedern aufnehmender Ordnungen nachdenkt. Diesem Verhältnis widmet sich Arendt in Überlegungen, die insofern explizit politischen Zuschnitts sind, als sie sich auf out-group-gerichtete, ›Welt‹ erweiternde bzw. verändernde Formen migrantischen Handelns und damit zuletzt auf Koexistenz unter Bedingungen der Pluralität beziehen. Vor allem zwei Spielarten gehaltvollen – einmal indirekt, das andere Mal direkt hergestellten – Kontakts sind es, die sie zum Ende von Wir Flüchtlinge diskutiert und auch in späteren Arbeiten wiederholt aufgreift: So kommt den Geflüchteten der Charakter einer ›Avantgarde‹, deren Schicksal auch für die Angehörigen bestehender Ordnungen Relevanz besitzt, einmal deswegen zu, weil sie die Gefahr des ›Ausschlusses‹, der ›Verfolgung‹ und der restlosen Entrechtung durch moderne Nationalstaaten bezeugen; durch diejenigen politischen Kerneinheiten also, die seit den Revolutionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts eigentlich als Schutz- und Garantieinstanzen von Bürger- und Menschenrechten vorgesehen waren. Wer jeweils gerade als das ›schwächste Mitglied‹
48 Diese Bemerkungen, die Oliver Marchart im Rahmen seiner Überlegungen zum Widerstandsverständnis Arendts zitiert, stammen von Richard Löwenthal, Mitglied der Gruppierung Neu Beginnen, die zu Mitte der 1930er Jahre im Widerstand gegen den Nationalsozialismus aktiv ist. Siehe O. Marchart: Neu beginnen, S. 116. 49 In diesem Ausdruck, von Bonnie Honig in Studien zum Thema widerständiger politischer Praxis gebraucht, schwingt neben einem konspirativen auch ein narratives Bedeutungsmoment mit. 50 Diese Formulierung verwendet Arendt u.a. im 1964 geführten Fernsehinterview Zur Person mit Günter Gaus.
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staatlicher Ordnung identifiziert und der ›Vogelfreiheit‹ preisgegeben wird, wie dies im spezifischen zeitlichen Kontext der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts insbesondere auf europäische Juden zutrifft, stellt sich für Arendt in gewissem Sinne als kontingent dar.51 Denaturalizable und deportable werden sie und andere Vertriebene lediglich früher als disposable markiert als z.B. die deplorables, die ›Abgehängten‹ und ›Randständigen‹, die ›Prekären‹, ›Anteilslosen‹ oder anderweitig zu ›Außenseitern‹ Erklärten, die ursprünglich – wie auch bei deutschen Juden der Fall – den Status der Vollmitgliedschaft innehaben. Diese indirekte, Zeugnis ablegende Adressierung stellt für Arendt eine wichtige Form der Bezugnahme dar, die auch dadurch nicht an Gewicht verliert, dass die von Flüchtlingen gesandten Warnsignale von den Völkern, die sie als Vorhut repräsentieren, in der Regel überhört werden.52 Ein Bezug, der sich nicht als vermittelte Adressierung, sondern als direkt intendierte Intervention beschreiben lässt, ergibt sich, sobald sich ein umfassenderes ›Hineinhandeln‹ der Neuankömmlinge einstellt,53 das verändernden Einfluss auf das Aufnahmeland und dessen politisch-gesellschaftliche Landschaft zeitigt. Solches Handeln hat für sein Gelingen das subjektive Erkämpfen ebenso wie das intersubjektive Organisieren zur Vorbedingung: Denn nur für den Fall, dass Neuankömmlinge »ihre Identität aufrechterhalten«,54 sind sie in der Lage, ihre Präsenz unter den etablierten Mitgliedern der Ordnung, den Immer-schon-Dazugehörigen ausreichend sichtbar und spürbar zu machen, um auf das Erfordernis zu verweisen, neue Formen des Zusammenlebens unter Vorzeichen der ›Verschiedenartigkeit‹ – und für Arendt bedeutet dies nichts anderes als Formen wahrhaft politischer Koexistenz –
51 Dies unterstreicht Arendt vor allem in ihrer historischen Rekonstruktion der Entstehung des internationalen Flüchtlingsregimes seit Beginn des 20. Jahrhunderts, die erst vor dem Hintergrund kolonialer Politik zu erklären ist. So weist sie z.B. auf Vertreibungen aus dem nachrevolutionären Russland oder auf das Schicksal der Armenier hin. Siehe H. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, insbesondere S. 564ff. und 601ff. 52 Dass die gegenwärtige US-Administration, z.B. durch rückwirkende Überprüfung abgeschlossener ›Naturalisierungen‹, verstärktes Interesse an Möglichkeiten der Ausbürgerung zeigt, belegt die fortgesetzte Relevanz der Hinweise Arendts. 53 Siehe z.B. H. Arendt, »Es gibt nur ein einziges Menschenrecht«, S. 12. 54 Siehe auch H. Arendt: Flüchtlinge, S. 35. Für eine Kritik an Arendts subjektheroretisch fragwürdiger Annahme, ein derartiger ›Vollbesitz‹ von Identität sei möglich, siehe O. Marchart: Neu beginnen, S. 118-9. Auch wenn dies über den Rahmen der hier angestellten Überlegungen hinausgeht: Grundsätzlich gilt, dass Arendts migrationstheoretischer Ansatz sich ergiebig um Analysen der Verschränkungen von Identität und Alterität ergänzen ließe, wie sie bei Emmanuel Levinas, Bernhard Waldenfels, Judith Butler oder Roberto Esposito zu finden sind.
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zu erproben. Ausgehend von den Überlegungen zum ›Hineinhandeln‹, zu einer migrantischen politischen Praxis also, lässt sich trefflich über Gestalten spekulieren, welche ein solches annehmen kann. Wenngleich Arendt dies auch nicht im Detail entwickelt, erlauben ihre Schriften zu Migration im Verhältnis zu (demokratischer) Ordnung doch zwei Rückschlüsse: Neuankömmlinge vermögen einerseits, Alternativen politischen Handelns zu entwickeln, die zumindest anfänglich außerhalb des institutionell-prozeduralen Rahmens der bestehenden Ordnung liegen. Insbesondere vor dem Hintergrund gewisser anarchistischer Züge Arendt‘scher Theorie – zu denken wäre an ihre grundsätzliche Sympathie für politische bottom-up-Modelle, die z.B. in ihren Analysen revolutionärer Räte zum Ausdruck kommt – bestünde eine Migranten offen stehende Möglichkeit, ›sich zur Geltung zu bringen‹ darin, Gegen-Öffentlichkeiten und -Institutionen zu schaffen. Diese haben insofern präfigurativen Charakter, als Migranten darin, der Faktenlage ihrer ›Nicht-‹ oder ›Surrogat-‹Mitgliedschaft zum Trotz, bereits als die vollauf anerkannt-handlungsfähigen politischen Subjekte auftreten, die zu sein sie in den sie aufnehmenden Staaten anstreben. Neben dem Auslegen derartiger desire lines,55 die von den ausgetretenen Pfaden politischer Prozesse abweichen, besteht andererseits die Möglichkeit, sich unmittelbar kritisch gegenüber gegebenen institutionellen Ordnungen zu positionieren. Im Unterschied zur ›exzentrischen‹ Präfiguration,56 geht es hierbei in erster Linie um ›nomozentrische‹ Partizipation im eigentlichen Sinne des Wortes, also um das Ergreifen von Anteilen.57 Obwohl solche Partizipation nicht selten extralegal ansetzt, bleibt sie dennoch auf den gegebenen Ordnungsrahmen bezogen, welchen sie in Richtung einer Pluralisierung anerkannter politischer Subjektivität und damit einer entschiedenen Erweiterung des politischen Raumes – als eines Raumes der
55 In Queer Phenomenology (2006) gebraucht Sara Ahmed diesen Ausdruck aus der Landschaftsarchitektur, um die ›Trampelpfade‹ marginaler Subjekte und Gruppen zu bezeichnen, d.h. deren unangepasste Gegenentwürfe zu gesellschaftlich anerkannten Hauptwegen individueller Existenz und politischer Praxis. Thomas Nail ist einer der Theoretiker, die derartige desire lines migrantischen Handelns, bspw. im Sinne eines Kosmopolitanismus eigener Art, zu bestimmen suchen. Siehe T. Nail: »Migrant Cosmopolitanism«. 56 ›Exzentrisch‹ impliziert hier sowohl eine politisch-gesellschaftliche Ausgangsposition, die außerhalb des existierenden Zentrums liegt, als auch eine Subjektposition, die überschritten und neu bestimmt werden kann. 57 Bonnie Honig verweist in Democracy and the Foreigner auf historische Fälle von erfolgreichem rights taking, so insbesondere Frauen- und Bürgerrechtsbewegungen. Welche Gestalt diese Art der Partizipation konkret annehmen kann, deutet sich in migrantischen Interventionen wie dem Dia Sin Inmigrantes in der San Francisco Bay Area oder der Initiative Prendocasa in italienischen Städten wie Palermo an.
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›freien Meinungsbildung‹, des ›vernünftigen Streits der Meinungen‹ und der ›aktiven Mitverantwortung‹58 – umzugestalten sucht. Sowohl in präfigurativer als auch in partizipativer Gestalt läuft Arendts Fokus auf das Eigenhandeln der Neuankömmlinge auf die vorbehaltlose Zurückweisung eines politischen Institutionen- wie auch Vorstellungsrahmens hinaus, dem gemäß sich Aufnahme und Integration von Migranten im Modus einseitigen Gewährens vollzieht. Erstrittener politisch-rechtlicher Status ist für gelingendes migrantisches Leben von erheblich größerer Bedeutung als zuerkannter Status,59 daran lassen ihre ganz auf der Linie von Aristoteles‘ Begriff des bios praktikos (den sie freilich insofern umdeutet, als sie ihn gerade nicht der begrenzten Gruppe der Bürger qua Geburt vorbehält) liegenden, zudem am kantischen Autonomie-Ideal orientierten Überlegungen keinen Zweifel. Dass ein so verstandenes Handeln von Migranten weder auf widerständige Ablehnung der politischen Verhältnisse in Ankunftsländern festgelegt ist noch deren unbedingt-rücksichtsloser Selbstermächtigung das Wort redet, wird klar, sobald sich in Arendts späteren Überlegungen der Schwerpunkt von einer migrantischen Innenansicht auf eine Perspektive der Koexistenz von Neuankömmlingen und ›eingeborenen‹ Bürger-Mitgliedern verschiebt. Als Gegengewicht zu vorherrschenden migrationspolitischen und -ethischen Diskursen, in denen Nicht-Bürger allzu oft als konturlos-kollektive, in naturalisierender bzw. logistischer Terminologie verhandelte Verfügungsmasse auftauchen, ist ihre frühe Konzentration auf spezifisch migrantisches Handeln, das unmittelbar aus der Erfahrung von Welt- und Selbstverlust entspringt, jedoch von unschätzbarem Wert. Denn nur wenn die Handlungsmodi von Kampf und Organisation, Adressierung und Intervention, Präfiguration und Partizipation zur Entfaltung kommen, kann die Annahme bzw. das ›Kompliment‹ (Thomä), dass im Land ihrer Ankunft gut zu leben sei, Bestätigung finden. Wie fern Arendt in alledem die Vorstellung einer sich selbst genügenden oder auch nur privilegierten politischen Handlungsmacht migrantischer Subjekte liegt,60
58 Siehe H. Arendt: »Nationalstaat und Demokratie«, S. 3. 59 Mit Arendt lässt sich Kritik daher nicht nur an der gängigen Immigrationspolitik demokratischer Staaten, sondern auch am vermeintlichen Alternativmodell der Sanctuary Policies üben, das einige amerikanische Städte, Kommunen und sogar Bundesstaaten verfolgen: Die vorherrschende Logik des Gewährens – und d.h. unilateraler Handlungsmacht – wird darin reproduziert. 60 Eine derartige Privilegierung findet sich bspw. bei Thomas Nail. So berechtigt seine historisch und systematisch entwickelten Einwände gegen Normalisierungen des Bürgers bzw. des Staates (und darin statischer Politikmodelle) sind, so laufen seine Ausführungen doch wiederholt Gefahr, ›echte‹ (und das bedeutet für ihn ›kinetische‹) Politik allein in
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wird in ihren Überlegungen zum ›Recht auf Rechte‹ bzw. zu ›wirklicher Demokratie‹ deutlich. Ohne im Einzelnen auf die Probleme dominierender Interpretationen des ›Rechts auf Rechte‹ einzugehen, die dieses zumeist juridisch verkürzen und in dieser Form ›bis zur Sinnentleerung repetieren‹,61 mag hier der Hinweis auf einige Formulierungen genügen, die Arendt in den deutschen Fassungen ihrer Texte an systematisch zentralen Stellen verwendet. So begreift sie dieses ›Recht‹ nicht im Sinn der kodifizierten Absicherung eines bestimmten rechtlich-politischen Status von Migranten, die in nationalstaatlichen, zwischen- oder überstaatlichen Regelwerken erfolgt;62 vielmehr geht es ihr darum, die Notwendigkeit zu betonen, Gefahren des ›Überflüssig‹(-Gemacht)-Werdens durch eine gelebte Praxis zu begegnen, die jeden – zumal die je angreifbarsten Individuen und Gruppen – innerhalb ›eines Beziehungssystems, wo man nach seinen Handlungen und Meinungen beurteilt wird‹, einer eben darin ›politischen Gemeinschaft‹ hält.63 An der praktischen Ver-
Modi migrantischen Handelns verwirklicht zu sehen. Siehe T. Nail: The Figure of the Migrant. 61 Siehe C. Menke: »Zurück zu Hannah Arendt«, S. 55. 62 Auf Grundlage einer solchen Interpretation des ›Rechts auf Rechte‹ vertritt u.a. Seyla Benhabib in The Rights of Others (2004) und Another Cosmopolitanism (2006) den Standpunkt, Probleme im Zusammenhang mit Migration seien von legalen Rahmenwerken (wie z.B. Artikel 18 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union) zu bewältigen, welche sie als ›Iterationen‹ innerstaatlicher demokratischer Institutionen und daher als legitim ansieht. Vergleichbare Lesarten finden sich in gegenwärtigen Debatten auch bei James Ingram, Alison Kesby oder Ayten Gundogdu. Wie etwa Arbeiten des Rechtstheoretikers Itamar Mann (Refugees, 2011), des Journalisten Tom Gjelten (A Nation of Nations, 2015) oder der Dokumentarfilmer Michael Camerini und Shari Robertson (WellFounded Fear, 2000) illustrieren, erweist sich die Annahme demokratischer Kontinuität aus mehreren Gründen als kaum haltbar: So handelt es sich bei so genannten Refugee Status Determination Interviews bspw. um prozedural unterbestimmte, latent dezisionistische ›Notstands-Iterationen‹ durch Einwanderungsbeamte und -Richter. Auch werden vielfältige Schwierigkeiten übersehen, die sich bereits auf innerstaatlicher Ebene ergeben – ein Beispiel ist das so genannte Crimmigration Law in den USA, in welchem sich Strafund Einwanderungsrecht ohne genaue Klärung von Zuständigkeiten überschneiden. 63 Diese Formulierungen stammen aus Arendts Menschenrechts-Aufsatz. Im Unterschied zum Begriff ›framework‹ in der englischen Version des Textes wird im Begriff ›Beziehungssystem‹ ersichtlich, wie wenig ihre Überlegungen auf juridische Momente zu reduzieren sind. Denn in diesem schwingt unverkennbar die Idee gemeinsam-wechselseitigen Handelns mit, das sich in ›Welt‹-Kontexten vollzieht, die nicht nach Maßgabe nationalstaatlicher Politik skaliert und organisiert sein müssen. Zu Unterschieden zwischen den englischen und deutschen Fassungen der Arbeiten Arendts, so vor allem zur deutlicher
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wirklichung dieses ›Rechts‹ sind neben den prekären politischen Subjekten, die dieses in der oben angezeigten Weise zu nehmen suchen, auch die Vollmitglieder derjenigen Systeme und Gesellschaften beteiligt, in denen diese um An- und Einschluss bemüht (oder von Ausschluss bedroht) sind: Diese letzteren sind es, die das ›Recht auf Rechte‹ Arendt zufolge in viel entscheidenderer Weise absichern bzw. geben als politisch-juridische Einrichtungen und Verfahren dies vermögen. Nachdem die Erfahrungen der Vertreibung und Verfolgung offen gelegt haben, inwiefern es ›einer anderen Garantie als der nationalen‹ bedarf, um die Produktion von ›Vogelfreien‹ zu verhindern, fällt wesentlich etablierten Mitgliedern die Aufgabe zu, derartige Garantien zu leisten.64 Damit ergibt sich das Bild einer nehmendgebenden Doppelbewegung, der, indem sie ›Fremde‹ aufeinander bezieht und miteinander verknüpft, das Potential innewohnt, Verlustmomente migrantischer Existenz zu beheben, d.h. Ersatz zu stiften für eingebüßte »Bezüge zur Welt und […] Bezirke menschlichen Daseins […], die das Ergebnis unserer gemeinsamen Arbeit sind und ausschließlich der von Menschen gebildeten Welt entstammen«.65 Erst in dieser Doppelbewegung formiert sich, was sich – z.B. mit den politischen Phänomenologien von Butler und Waldenfels – als ›performatives Wir‹ bezeichnen lässt, formiert sich demokratische Gemeinschaft. Für die Frage nach dem guten migrantischen Leben lässt sich aus den Erörterungen zu derart plural verfasstem und doch konzertiertem gemeinsamen Handeln schlussfolgern, dass die Chancen darauf in dem Grad anwachsen, in dem für Neuankömmlinge ein Überstieg vom vergleichsweise engen, kämpferisch-organisierten Banden auf ein erweitertes ›Weltbilden‹ hin möglich wird.66
phänomenologischen Färbung letzterer, siehe S. Loidolt, Phenomenology of Plurality, S. 5ff. 64 Im Rückgriff auf Arendt (und Emmanuel Levinas) buchstabiert Judith Butler detailliert aus, inwiefern das Geben derartiger Garantien – bzw. allgemeiner: die Einlösung mitmenschlich-mitwohnender Verpflichtungen – ›vor-vertraglichen‹ Charakter haben, also nicht Gegenstand von ›Entscheidung‹ und ›Wahl‹ sind. Siehe J. Butler: Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung, insbesondere das Kapitel »Ethik der Kohabitation«. Als aktuelles Beispiel für einen in dieser Weise kohabitativen Ansatz wäre die kalabrische Kleinstadt Riace zu nennen: Angestoßen durch den mittlerweile wegen Nichteinhaltung bestehender Einwanderungsgesetze inhaftierten Bürgermeister Domenico Lucano versuchen ›Mitglieder‹ dort, in Form von Arbeitsverträgen oder Eheschließungen ›Garantien‹ für Migranten zu leisten. 65 H. Arendt: »Es gibt nur ein einziges Menschenrecht«, S. 10. 66 Während Arendt ›Weltbilden‹ gelegentlich mit der un- bzw. unter-politischen Sphäre der Arbeit verbindet (z.B. in Vita Activa), verleiht sie dem Begriff an anderer Stelle (z.B. im Vortrag Kultur und Politik) explizit politischen Charakter: ›Weltbilden‹ wird darin als
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So zeichnet sich bereits in der Diskussion des ›Rechts auf Rechte‹, das als ein ›Recht auf Welt‹ lesbar wird, ab, inwiefern sich für sie die Bedeutung, Bürger eines demokratischen Staates zu sein, unter dem Eindruck breiter Migrationsbewegungen nachhaltig verändert. Staatsbürgerschaft kann nicht mehr als zu wahrender Besitzstand betrachtet werden, der in seinen kontingent-lotterieartigen Voraussetzungen und globale Ungleichheit fördernden Implikationen nicht weiter zu problematisierten wäre.67 Stattdessen muss diese unter Vorzeichen der ›Mitverantwortlichkeit‹, von der in Arendts Menschenrechts-Aufsatz die Rede ist, neu gedacht werden: Diese besteht gegenüber ›Mitmenschen‹, geht also über den Kreis der Mitbürger hinaus – sie bleibt keine abgezirkelte Angelegenheit, die nur die ›Eigenen‹, die in dieselbe Ordnung Hineingeborenen betrifft, sondern wird zu einer ›Sache der Anderen‹.68 Für diejenigen, die qua Geburt Mitgliedsstatus haben, tritt im Zuge der Begegnung mit Migranten die Notwendigkeit zutage, ihre ›Denkungsart‹ von ›borniert‹ auf ›erweitert‹ umzustellen, d.h. ›an der Stelle jedes andern zu denken‹69; im Politischen bedeutet dies, ihre Interessen, Präferenzen und Werte, ihre Rechte,
eine Form von Zusammenhandeln verstanden, das dem ›Chaos der Unterschiede‹, der Ausgangsbedingung aller Politik, gemeinschaftliche Gestalt verleiht. Linda Zerilli arbeitet aus, dass derartiges ›Weltbilden‹ insofern Voraussetzung für demokratische Diskurse und Entscheidungsfindung ist, als erst darin bestimmt wird, was als ›object of shared concern‹ gelten kann. Siehe L. Zerilli: A Democratic Theory of Judgement, S. 274ff. 67 Eine Problematisiering findet sich bspw. in A. Shachars: Birthright Lottery. Unter migrationspolitischer wie -ethischer Perspektive bringt Shachar John Rawls’ gerechtigkeitstheoretische Überlegungen zur natural lottery, d.h. zur kontingenten (Ungleich-) Verteilung von Lebenschancen in Stellung. Während diese bei Rawls ganz auf den innergesellschaftlichen Rahmen beschränkt bleiben, argumentiert Shachar, dass Zufälle der Geburt in bestimmten Staaten unter heutigen politisch-ökonomischen Bedingungen ererbten Privilegien in Feudalgesellschaften entsprechen. Entsprechend macht sie Vorschläge, wie die negativen Effekte dieser Lotterie auf Rechte und Chancen von Individuen redistributiv abzumildern wären (so z.B. durch die Einführung eines birthright levy für Bürger wohlhabender Länder). 68 Zum ›transindividuellen‹ Charakter von Demokratie und zu neuen Formen von ›KoBürgerschaft‹ als ›grenzüberschreitender Gemeinschaft von Mit-Bürgern‹, siehe E. Balibar: Gleichfreiheit, S. 225-253. In Interventionen wie ›Ce que nous devons aux ›SansPapiers‹ (1997/2013) bringt Balibar diese Ausführungen unmittelbar migrationspolitisch zur Anwendung. 69 Arendt greift Überlegungen, die Kant in Paragraph 40 von Kritik der Urteilskraft zum ›sensus comunis‹ anstellt, in ihren späten Arbeiten auf und verleiht diesen politischen Gehalt.
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Entscheidungs- und Handlungsbefugnisse in anderer, in weniger exklusivexkludierender Weise aufzufassen und auszuüben, also selbst ›anders zu werden‹.70 Zusätzlich zu dieser Neudeutung findet sich bei Arendt auch eine radikalere Infragestellung von Staatsbürgerschaft als paradigmatischer Kategorie politischer Subjektivität; eine Infragestellung, die freilich ganz ihren Überlegungen zu intersubjektiven ›Beziehungssystemen‹ entspricht. Gleichsam unter der Hand schlägt sie in Nationalstaat und Demokratie, einem kurzen, 1963 im WDR gehaltenen Radiovortrag, die Aufwertung einer Alternativkategorie zu derjenigen des Bürgers vor, die auch in modernen Staaten zumeist über ursprünglich-gebürtliche Zugehörigkeit, über ›volksmäßige Abstammung‹ und ›Bodenständigkeit‹ bestimmt wird: Gegen den Bürger bringt sie den ›Einwohner‹ in Stellung, gegen das ›Immunitäts‹-Modell geschlossen-abgeschlossener das ›Kommunitäts‹-Modell durchlässiger Mitgliedschaft.71 Mithilfe des Konzepts der Einwohnerschaft untergräbt Arendt die scharfen Trennlinien, die vielfach zwischen Bürgern und Migranten gezogen werden, und gibt gleichzeitig deren gemeinsamer politischer Praxis und Koexistenz einen Namen. Auch wenn die Grenzen des Konzepts nicht eindeutig umrissen werden, ihren maßgeblichen Niederschlag findet Einwohnerschaft, die bei ihr an territoriale, über längere Zeiträume hinweg aufrecht erhaltene Kopräsenz gebunden scheint,72 in dem »Recht aller, an öffentlichen Angelegenheiten teilzunehmen und im öffentlichen Raum zu erscheinen und sich zur Geltung zu bringen«73. Arendts ›alle‹ fällt hier offenkundig nicht mit einem ›alle Bürger‹ in eins, das an originärer Zugehörigkeit festgemacht ist. Mit diesem Neuansatz, politische Subjektivität und Handlungsfähigkeit nicht als ererbten Status, sondern als aus gelebten, geteilten Verbindungen zur ›Welt‹ resul-
70 Siehe C. Menke: »Zurück zu Hannah Arendt – die Flüchtlinge und die Krise der Menschenrechte«, S. 58. 71 Als ›closed‹ und ›complete‹ definiert John Rawls in seinem Aufsatz The Domain of the Political and Overlapping Consensus (1989) politische Gemeinschaft. Eine umfassende Kritik der ‹immunitären‹ Implikationen vertragstheoretischen Denkens, die, wie an Thomas Hobbes aufgezeigt wird, gemeinschaftliche Beziehungen, zumal zwischen ›Fremden‹, massiv blockieren, entwickelt Roberto Esposito. Siehe R. Esposito: Communitas, insbesondere S. 37-66. 72 Auch wenn sich nur spekulieren lässt, wie Arendt sich mit ihren Ausführungen zu ›entgrenzter‹ politischer Mitgliedschaft innerhalb zeitgenössischer Debatten zum demosProblem positionieren würde, so weist vor allem ihr Konzept der Einwohnerschaft erhebliche Überschneidungen mit Ansätzen (wie z.B. demjenigen Nancy Frasers) auf, die das so genannte all subjected-Prinzip vertreten, d.h. Mitbestimmungsrechte aus spezifischen Konfigurationen von ›Unterwerfung‹ unter staatliche Autorität ableiten. 73 H. Arendt: »Nationalstaat und Demokratie«.
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tierend zu begreifen,74 geht ein anderes Verständnis der Zeitlichkeit demokratischer Politik einher. Eine prononcierte Zukunftsorientierung löst die Idee vergangenheitlicher Fundierung in einem Ursprung ab, der die Deckungsgleichheit der Interessen bzw. Werte und damit die Identität ihrer Subjekte substantiell gewährleistet. Nach Arendt besteht der Fluchtpunkt demokratischer Politik stattdessen darin, einen tragfähigen common ground erst entstehen zu lassen: Unter Ausgangsbedingungen der Nicht-Identität kann dies nur geschehen, wenn einander Ein- oder Mitwohner, die anfangs nichts Substantielles gemein haben und sich als Fremde begegnen – Donatella Di Cesare spricht von stranieri residenti, von einander Fremden, die im Kontakt mit ›Anderen‹ zudem in gewisser Weise auch sich selbst fremd werden – , sich auf ein Zusammenwohnen und -handeln einlassen; auf das stets fragile Projekt des ›Weltbildens‹ also, das sich in seinem ergebnisoffenen, experimentellerfinderischen Charakter maßgeblich von einem Politikbegriff unterscheidet, der diese mit der Realisierung vordefinierter Agenden, mit dem Lösen vordefinierter Probleme oder mit Modi so genannter Nationsbildung verknüpft.75 Schließlich läuft Arendts Kritik traditioneller, der »Dreieinigkeit von Volk Territorium - und Staat« verhafteter Staatlichkeit bzw. auf dem »Modell der Verbundenheit von Volk und Boden«76 basierender Staatsbürgerschaft auf eine Neubestimmung der Prüfsteine demokratischer Legitimität hinaus. Während ihre Überlegungen die Ausdehnung der Sphäre moralischer Verantwortlichkeit über nationalmitbürgerlich zugeschnittene special relations bzw. obligations hinaus lediglich implizieren, benennt sie die nach ihrer Ansicht dringend gebotene Verschiebung im Legitimitätskonzept ausdrücklich: Die Rechtfertigung bzw. Rechtfertigbarkeit von Verfassungs- und Anwendungsformen staatlicher Autorität kann nicht mehr ausschließlich über deren Verhältnis zu bürgerlicher Autonomie definiert und aus deren Rückkopplung an bürgerliche Zustimmung abgeleitet werden, welche vor
74 Ayelet Shachar führt diesen Gedanken rechtstheoretisch fort, wenn sie für ein ius nexi als Alternative zu den traditionellen Rechtskategorien von ius soli bzw. ius sanguinis argumentiert, deren Umsetzung gerade unter Bedingungen globaler Migrationsbewegungen geboten ist. 75 In seinen Ausführungen zu einem derart erfinderischen Ansatz im Politischen fordert Bernhard Waldenfels die Vollmitglieder demokratischer Systeme dazu auf, von der ›Herausforderung‹ der Zuwanderung »nicht bloß Abwehrkräfte wachrufen, sondern kreative Kräfte eines gesellschaftlichen Imaginären wecken« zu lassen. Siehe B. Waldenfels: Sozialität und Alterität, S. 442. 76 Arendt, Nationalstaat und Demokratie, S. 1. Dass Arendts Behauptung, dieses Modell werde hauptsächlich durch europäische Staaten, nicht aber durch die Vereinigten Staaten repräsentiert, nicht länger haltbar ist, belegen nicht zuletzt die vielfältigen Bemühungen der derzeitigen US-Regierung, den Immigration Act von 1965 zu unterminieren.
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allem dann als rational begründet gilt, wenn ein Staat seine Bürger-Mitglieder gemäß deren Individualrechten und -interessen berücksichtigt und behandelt. Sofern nationalstaatliche Politik sich einzig durch die ›Wahrung gewisser Grundrechte‹ von ›Angehörigen des gleichen Volkes‹ zu legitimieren sucht, bleibt sie für Arendt nicht nur hinter der ›eigentlichen Bedeutung‹ von Demokratie zurück – vielmehr stellt der darauf ausgerichtete »Nationalstaat in seiner wesensmäßigen Unfähigkeit, die eigenen Grenzen legitim zu transzendieren […] die denkbar schlechtesten Voraussetzungen«77 für genuin demokratische Politik dar. Um diese ›eigentliche Bedeutung‹ zu realisieren, um ›wirklicher Demokratie‹ zumindest näher zu kommen, ergeben sich folglich zwei Kernkriterien: Zum einen das Kriterium der (über Rechtsschutz hinausgehenden) ›aktiven Mitbestimmung‹; und zum anderen das Kriterium der (über Bürger-Mitglieder hinausgehenden) Einbeziehung ›aller‹, die sich im Wirkungskreis staatlicher Macht befinden und von dieser betroffen sind, in derartige partizipative Gestaltungsprozesse.78 Beide Momente haben ihren Kristallisationspunkt im Konzept des Einwohners, das die Grenzen nationaler Staatlichkeit – diese aufweichend, nicht aufhebend – in der von Arendt eingeforderten Weise überschreitet. Im Licht der Migrationsbewegungen des 20. Jahrhunderts zeichnet sich so ab, dass die Umsetzung von ›wirklicher Demokratie‹ nur in dem Maße möglich ist, in dem klassisch nationalstaatliche Denkmodelle und Organisationsformen aufgebrochen werden, und Mitbestimmung über ›natürliche Volkszugehörigkeit‹ ausgedehnt wird und die Souveränität des in diesem Sinn verstandenen Volkes staatliche Souveränität ersetzt, zu deren Begriff und Praxis es bei Arendt heißt: Der Souveränitätsbegriff des Nationalstaats, der ohnehin aus dem Absolutismus stammt, ist unter heutigen Machtverhältnissen ein gefährlicher Größenwahn. Die für den Nationalstaat typische Fremdenfeindlichkeit ist unter heutigen Verkehrs- und Bevölkerungsbedingungen so provinziell, dass eine bewusst national orientierte Kultur sehr schnell auf den Stand der Folklore und der Heimatkunst herabsinken dürfte.79
77 H. Arendt: »Nationalstaat und Demokratie«, S. 3. 78 Über Arendts Texte zu Migration verteilt finden sich einige weitere Kriterien. So ist im Textfragment Statelessness z.B. explizit die Rede davon, dass Ausbürgerungen die staatliche Legitimität massiv beschädigen – ›no matter how democratic its laws‹. Abzuleiten wäre aus dem von Arendt Gesagten etwa auch, dass Staaten an demokratischer Legitimation gewinnen, wenn sie Kohabitation erfahrbar und damit das Zustandekommen ›weltbildender‹ Prozesse möglich machen. Die Folgen gezielter Verhinderung von Nähe, Kontakt und Austausch zwischen ›Fremden‹ durch Regime der (Un-)Sichtbarkeit illustriert z.B. Gianfranco Rosis preisgekrönte Dokumentation Fuocoammare von 2016. 79 H. Arendt: »Nationalstaat und Demokratie«, S. 3.
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Epilog: Quertreiber in politischer Praxis und Theorie Wie verhalten sich Arendts kritische Reflexionen auf den Nationalstaat, auf staatsbürgerliche wie staatliche Souveränität nun zur Frage nach dem guten Leben von Neuankömmlingen? Ihre Ausführungen zu Formen und Bedeutsamkeit migrantischer Eigentätigkeit verdeutlichen, dass und inwiefern die Chancen auf ein solches zwar nicht restlos durch den Realisierungsgrad ›wirklicher Demokratie‹ in aufnehmenden Ländern determiniert sind, jedoch der Tendenz nachzunehmen, je höher dieser ausfällt. Dabei unterstreicht ihr Abheben auf mutiges Erkämpfen, Organisieren und insbesondere ›Weltbilden‹, dass es sich bei dem jeweiligen Realisierungsgrad nicht einfach um einen Glücks- bzw. Unglücksfall handelt, der von Migranten hinzunehmen wäre. In dem Bild, das sie vom Verhältnis von bestehender Ordnung und migrantischer Störung zeichnet, spielen vielmehr diese selbst eine tragende Rolle in der Überwindung bedrohlicher politischer ›Folklore‹, haben sie doch gestaltend Anteil daran, die Möglichkeiten genuin demokratischer Gemeinschaft zu eröffnen und erweitern. Aus Vertriebenen, aus Kreuz-und-Quergetriebenen werden so Quertreiber, die Denk- und Handlungsgewohnheiten, Selbst- und Weltverständnis von Ordnungen herausfordern, die sich über Jahrhunderte als geschlossen betrachtet haben. Indem sie politische Mitgliedschaft und Subjektivität nicht im Sinne exklusiven Eigentums, sondern zugangsoffener Praxis begreift und an ›Hineinhandeln‹, nicht Hineingeborenwerden festmacht, wirken migrantische Quertreiber im besten Fall sogar als Antreiber demokratischer Transformation und Erneuerung. Dies tritt klar zutage, sobald man die von Arendt markierten, agonistisch-widerständig bzw. partizipativ-mitgestaltend, exzentrisch bzw. nomozentrisch ausfallenden Momente gelingenden migrantischen Abkommens verzeitlicht denkt: Zu demokratischen Neugründern, zu foreign founders80 werden Migranten demnach nicht handstreichartig, sondern im allmählichen Aufgehen in politisch-sozialen Gefügen, die ihnen im ersten Kontakt fremd (nicht selten auch feindlich) erscheinen müssen. ›Aufgehen‹ ist dabei nicht als Versinken in oder Verschmelzen mit bereits bestehenden Strukturen, sondern im Sinne eines Keimens, Anwachsens und Dick-Werdens von Bezügen zu verstehen. Darin entsprechen sie dem ›Sauerteig‹, von dem in Denis Diderots Rameaus Neffe die Rede ist:81 Indem sie im Politischen ›lästige‹ Konventionen und ›einförmige‹ Routinen findig und schöpferisch durchschlagen, fungieren sie als Triebmittel, das ›unwirklichen‹ demokratischen Ordnungen nicht lediglich neues,
80 Die produktive Rolle derartiger Fremdgründer, bei denen es sich keineswegs um Ausnahmeerscheinungen wie die biblische Ruth handeln muss, analysiert Bonnie Honigs Democracy and the Foreigner. 81 Siehe D. Thomä: Puer robustus, S. 151ff. und 537.
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›multikulturelles‹ Aroma, sondern verbesserte Haltbarkeit verleiht. Vielmehr ›heben sie das Ganze‹, stoßen also Bewegungen zur Revitalisierung bzw. immer neuen Demokratisierung der Demokratie bereits an, wenn sie daran erinnern, dass »Demokratie mehr und anders sein [muss] als ein reiner Nationalstaat – oder sie ist keine«.82 Wenngleich auch Arendt diese von ihr gelegte Spur nicht systematisch weiterverfolgt, ließe sich auf der Grundlage ihres Ansatzes, der Migranten als politische Initiatoren präsentiert, eine anthropologisch deflationäre Umdeutung ihrer Überlegungen zum Setzen von Anfängen, zu Freiheit und Spontaneität aus Natalität vornehmen, welche dabei »in schon vorausliegende Handlungen anderer eingewoben«,83 also intersubjektiv verhaftet wären. Aus der Warte demokratischer Ordnung wäre das augustinische Wort vom Menschen als Anfang, das für Arendts politisches Denken zentrale Bedeutung besitzt, dann entsprechend abzuwandeln: Initium ut esset, advenit homo migrans. Überblickt man Arendts migrationsphänomenologische Untersuchungen – ihre Analysen der existenziellen Dimension (die Günther Anders einsichtsvoll ergänzt) wie der politischen Dimension von Vertreibung und Flucht, Umsiedlung und Ankunft – und situiert diese im Diskursfeld philosophischer Migrationstheorien, erweist sie sich als Autorin, die nicht nur über Quertreiber, sondern auch als Quertreiberin schreibt. Allein ihr Ansatz, einen existenziell-politischen Doppelzugang zu wählen, von diesem ausgehend die Innenperspektive derer zu erschließen, die in heutigen Einwanderungsdebatten zumeist als Außenseiter figurieren, und zudem migrantische Bewegung mit demokratischer Ordnung zusammenzudenken, verleiht ihren Arbeiten geradezu dissidentischen Charakter: Sie weicht entschieden von hoch spezialisierten, weitestgehend ohne gehaltvolle Verbindungslinien zueinander (an der Identifizierung von solchen allzu häufig auch uninteressierten) entwickelten Diskurspositionen ab und versetzt diese schon aufgrund der weiten Anlage und der vielfältigen (neben philosophischen auch biographischen, literarischen, historischen, politikwissenschaftlichen und soziologischen) Quellen ihrer Gedankenführung in Unruhe. Gleichzeitig grenzt sie ihre Überlegungen nicht hermetisch ab, sondern schafft in ihren Beiträgen zur Migrationsfrage stets Übergänge, bietet Anknüpfungspunkte für Ansätze, die auf unzweideutigen inhaltlichen wie methodologischen – politik-, moral- oder rechtsphilosophischen, demokratie-, anerkennungsoder alteritätstheoretischen, idealen oder nicht-idealen – Festlegungen basieren. Mögen manche Arendt diese Weite und Vielfalt auch als Eklektizismus, als Mangel an Systematik auslegen: Wie viele und wie heterogene, z.T. sogar in Konflikt mit-
82 Ebd., S. 532. 83 L. Zerilli: »Vorwort«, S. 11. Für eine Kritik an Arendts Theorie ›spontaner Gebürtlichkeit oder Anfänglickheit‹, in der ›Erfahrungen im Miteinander‹ nicht ausreichend Beachtung finden, siehe D. Thomä: »Verlorene Passion, wiedergefundene Passion.«, S. 634-5.
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einander stehende Theoretiker der Migration – von Balibar und Butler bis Shachar und Benhabib – sich heute auf diesen Übergängen bewegen, illustriert, wie produktiv ihre Quertreibereien sind. In Anbetracht von Ausmaß und Komplexität der politisch-gesellschaftlichen Herausforderung, die weltweite Migrationsbewegungen darstellen, und der Dringlichkeit, die ethische Frage nach Bedingungen, Möglichkeiten und Gestalten des guten Lebens im Licht dieser Bewegungen neu aufzuwerfen, müssen mit Arendt jedenfalls gerade solche Theorieansätze als unzureichend, ja als zutiefst unangemessen erscheinen, die auf Status- bzw. Status-quo-Sicherung, auf Besitzstandswahrung bürgerlicher und nationalstaatlicher Souveränität zielen. Überall dort, wo vom Standpunkt etablierter Zugehörigkeit für unilaterale Entscheidungen über Einbzw. Ausschluss von Migranten argumentiert wird, wo Menschenrechte nur dem Namen nach von Bürgerrechten unterschieden werden, wo politische Subjektivität mit Bürgerstatus identifiziert und das gute Leben wiederum mit diesem enggeführt wird, werden eben jene ›Provinzialität‚ und jener ›Größenwahn‚ reproduziert, vor deren ›Gefährlichkeit‚ sie so nachdrücklich warnt.
LITERATUR Anders, Günther: »Der Emigrant«, in: Merkur XVI/173 (1962), S. 601-622. Anders, Günther: Die Kirschenschlacht. Dialoge mit Hannah Arendt und ein akademisches Nachwort, München 2012. Arendt, Hannah/Günther Anders: Schreib’ doch mal ›hard facts‹ über Dich. Briefe 1939 bis 1975, hg. von Kerstin Putz, München 2016. Arendt, Hannah: Die Freiheit, frei zu sein [1967], München 2018. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft [1951/1955], München/Berlin/Zürich 2017. Arendt, Hannah: »Es gibt nur ein einziges Menschenrecht« [1949], in: Hannah Arendt.net. Zeitschrift für politisches Denken 5/1, 2009. Arendt, Hannah: »Nationalstaat und Demokratie« [1963], in: HannahArendt.net. Zeitschrift für politisches Denken 2/1, 2006. Arendt, Hannah: Wir Flüchtlinge [1943], Stuttgart 2016. Balibar, Etienne: Gleichfreiheit. Politische Essays, Berlin 2012. Butler, Judith: Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung, Berlin 2016. Esposito, Roberto: Communitas. Ursprung und Wege der Gemeinschaft, Berlin 2004. Hamacher, Werner: »The One Right No One Ever Has«, in: Philosophy Today 61/4 (2017), S. 947-962.
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Störenfriede. Eine politische Figurenkunde
Gestörte Philosophie, störende Philosophie? Populismus, Philosophie, und die Reflexivität der Störung Lisa Herzog
Als Dieter Thomä 2016 seine Studie über den Puer Robustus,1 den Störenfried in der Politik, veröffentlichte, konnte er allenfalls ahnen, wie relevant dieses Motiv angesichts der Wahl von Donald Trump bald werden würde. Hatte er dessen Vorgänger, Barack Obama, noch als »exzentrischen Störenfried« gepriesen, der die herrschende Ordnung produktiv und kreativ aufrührte,2 legte er bald ein weit negativeres Urteil über Donald Trump nach: dieser falle einerseits in die Kategorie des »egozentrischen« Störers, der vor allem aus Narzissmus agiert, andererseits geriere er sich als Heilsbringer für das verlorene Volk, und gehöre somit auch zu den »massiven« Störenfrieden, die eine »gestörte Störung« produzieren.3 Man könnte darüber streiten, ob »puer« oder »infans« die angemessenere Bezeichnung wäre, das »robustus« jedenfalls scheint auf Trump präzise zuzutreffen.4 Einer der vielen bewundernswerten Züge von Dieter Thomäs Philosophie ist, dass sie sich, obwohl oder vielleicht gerade weil sie tief in der Geschichte des Faches verankert ist, direkt auf Probleme der Gegenwart anwenden lässt und diese Bezüge auch selbst herstellt. Sie bleibt nicht gleichgültig, wenn die politische Welt Kapriolen schlägt, sie lässt sich stören, sie reagiert darauf. Das trifft nicht auf alle Teile des Faches in gleichem Maß zu. Mit dem angeblichen »Ende der Geschichte«5 in den 1990ern schien auch die in vorherigen Jahrzehnten ja durchaus zum Störenfriedtum neigende Philosophie zu einem Waffenstillstand mit der Gesellschaft gekommen zu sein; sicherlich wurden Ereignisse kommentiert, man nahm am öf-
1
D. Thomä: Puer robustus.
2
Ebd., S. 510.
3
D. Thomä: »Der Präsident als puer robustus«, S. 164ff.
4
Siehe auch W. Eilenberger: »Das Elefantenbaby im Porzellanladen«.
5
F. Fukuyuama, The End of History and the Last Man.
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fentlichen Diskurs teil. Aber die grundlegende Annahme schien zu sein, dass das Modell liberaler Demokratien, trotz einiger Sorgen um einen immer ungezügelteren Kapitalismus, stabil genug wäre, sich auf Dauer zu behaupten. Die »politische« Philosophie konnte sich somit in aller Ruhe den Detailfragen abstrakter Gerechtigkeitsprinzipien oder dem Nachzeichnen historischer Genealogien widmen. Der Aufstieg populistischer Politik in vielen Ländern der Welt traf viele Philosophinnen unerwartet, oft erzeugte er das Gefühl eines Schlags in die Magengrube. Wer berufsmäßig die Weisheit liebt und die Vernunft zu ergründen versucht, kann kaum anders, als die emotionsgetriebenen, verbal gewalttätigen, nationalistischen, rassistischen und sexistischen Haltungen eines Donald Trump oder seiner Pendants in anderen Ländern persönlich zu nehmen. Und dennoch tat sich – zunächst – recht wenig. An den Praktiken des philosophischen Betriebs änderte sich nicht viel, von Vortragsabsagen iranisch-stämmiger Kollegen, die aufgrund von Trumps Visapolitik Probleme bei den Grenzkontrollen befürchteten, vielleicht abgesehen. Verharrte die Philosophie in Schockstarre? Musste sie sich eingestehen, dass sie das, was da passierte, mit ihrem Selbstverständnis und ihrem Menschen- und Weltbild nur schwer vereinbaren oder auch nur interpretieren konnte? Die Frage danach, ob und wie die Philosophie – und insbesondere die politische und Sozialphilosophie, wie auch immer man diese Begriffe im Detail versteht – auf die populistischen Erschütterungen reagieren sollte, ist kontrovers. Mögliche Antworten reichen von »Nur nicht irritieren lassen, der Spuk geht vorbei« bis hin zu »Genug der Theorie, wir müssen auf die Straße«. In diesem kurzen Beitrag möchte ich das Störenfried-Motiv aus Dieter Thomäs Forschung zum Anlass nehmen, mögliche Reaktionen – ohne Anspruch auf Vollständigkeit - nachzuzeichnen. Dabei geht es nicht um akute Soforthilfe-Maßnahmen – ob es die geben kann, sei dahingestellt –, sondern vielmehr um das Selbstverständnis der politischen Philosophie und ihrer Rolle im akademischen Diskurs und in der Gesellschaft. Andres gesagt: ich möchte fragen, ob sich der Motivkomplex des Störenfrieds reflexiv auf die Philosophie anwenden lässt. Dazu möchte ich zunächst einen Aspekt der populistischen Welle aufgreifen, der eine seiner wichtigsten Tiefenursachen zu sein scheint: die Frage nach der Handlungsfähigkeit und -willigkeit der Politik.6 Emblematisch für deren Abwesenheit steht das »There is no alternative« (TINA) einer Margaret Thatcher, aber auch
6
Dieter Thomä stellt in einem Interview mit der Berner Zeitung (»Trump ist der Paradefall eines Störenfrieds«, 13.03.2017) eine ähnliche Diagnose, insbesondere im Zusammenhang mit der Finanzkrise, zu der er bemerkte: »In der Bevölkerung verdichtet sich deshalb der Eindruck, dass die demokratischen Institutionen kraftlos geworden sind.« https://www.bernerzeitung.ch/schweiz/standard/trump-ist-der-paradefall-eines-stoeren frieds/story/13372594?track
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die Wendung von der »marktkonformen Demokratie« einer Angela Merkel bewegt sich in diese Richtung. Dabei drückt diese Haltung natürlich keineswegs nur die Abgeklärtheit pragmatischer Politikerinnen aus (und nur am Rande bemerkt: ist es ein Zufall, dass hier zwei Naturwissenschaftlerinnen am Werk waren?). Sie ist selbst hochpolitisch: sie leugnet die Zuständigkeit der Politik für Fragen, bei denen Widerstand von wirtschaftlichen Akteuren (»den Märkten«?) zu erwarten ist. Der korrektere Satz von Thatcher wäre: »Any alternative would come at certain costs« – und über diese angeblichen Kosten könnte man dann trefflich streiten, sowohl über die Plausibilität der empirischen Vorhersagen als auch über die Bereitschaft, die Kosten, wenn sie denn tatsächlich zu befürchten wären, in Kauf zu nehmen. Doch dieses Feld politischer Debatte wird mit dem »TINA«-Argument verschlossen; die Politik stellt sich als machtlos dar, vielleicht in der Hoffnung, im Anschluss jede Verantwortung von sich weisen zu können. Angesichts der Passivität, die sich in »TINA« ausdrückt – und die mit vielen anderen Formen der Passivität in der »etablierten« Politik einherging –, ist es kaum verwunderlich, dass Akteure auf den Plan gerufen wurden, die Handlungsfähigkeit versprachen: Politikerinnen und Politiker, die sich als »anti-establishment« präsentieren und behaupten, alles anders machen zu können. Das zeigte sich auch beim Brexit-Referendum, unter anderem an dem Brexiteer-Ruf »Take back control.«7 Die implizite Botschaft war, dass die etablierte Politik die Kontrolle abgegeben hatte – angeblich durch die Kompetenzübertragung an die EU, de facto wohl aber in mindestens so hohem Maße durch die selbstauferlegte Zurückhaltung bezüglich der Gestaltung der gesellschaftlichen Rahmenordnung in vielen Bereichen, insbesondere der Wirtschaft. Gerade die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte, die durch digitale Technologien noch befeuert wurde, führte nach Ansicht kritischer Kommentatoren bei vielen Briten zu einem Gefühl des Ausgeliefertseins, das wiederum eine Sehnsucht nach Schutz und nach wirksamer Interessenvertretung auslöste.8 Zugespitzt gesagt: weil sich die etablierte Politik so sehr hinter »TINA« versteckte, wandte sich die Bevölkerung denjenigen zu, die versprachen, wieder effektive Politik zu machen. Vielleicht könnte man auch sagen: wenn Politik nicht mehr handelt, überlässt sie den Störenfrieden das Feld. Mit der Betonung dieses Aspekts sollen andere Dimensionen, z.B. die nationalistischen, rassistischen und xenophoben Obertöne populistischer Politikerinnen, die teilweise zu ihrer Hauptmelodie wurden, keineswegs kleingeredet werden. Die Diskussion über die Gewichtung dieser unterschiedlichen Elemente im Zustandekommen der derzeitigen populistischen Welle läuft und wird sicher noch länger anhalten. Doch es ist ein Gebot der Klugheit, die Fragen nach politischer Hand-
7
Siehe dazu auch J. White: »Brexit, populism and the promise of agency«.
8
R. Booth: »Workers’ feelings of powerlessness fuelling anger, says job tsar«.
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lungsfähigkeit und -willigkeit und nach der effektiven Vertretung aller gesellschaftlichen Gruppen ernst zu nehmen. Fremdenfeindliche Haltungen lassen sich nicht leicht durch politische Maßnahmen verändern; historische Argumente liefern aber Grund zu der Annahme, dass sie oft in Phasen wirtschaftlicher Unsicherheit besonders stark hochkochen, weil Sündenböcke für enttäuschte Erwartungen gesucht werden.9 Politisches Engagement, das jenseits von TINA daran arbeitet, die Interessen derjenigen zu befördern, die sich berechtigterweise vernachlässigt fühlen, dürfte auch einen Beitrag zur Verringerung all dieser dunklen politischen Emotionen leisten. Was aber hat all dies mit der Rolle der Philosophie, insbesondere der politischen und Sozialphilosophie, zu tun? Das Element des aufrührerischen, vielleicht sogar gewaltsamen Protests liegt ihr sicherlich fern, aber »stören« kann sie dennoch, und vielleicht sollte sie es auch tun. Ich möchte drei Strategien skizzieren, die alle als konstruktive Formen der Störung verstanden werden können, und anschließend auf eine Verkomplizierung eingehen. Die erste Strategie für die politische Philosophie ist die offensichtlichste: es geht darum, den ideologischen Charakter von TINA-Aussagen aufzuzeigen und damit Stachel im Fleisch derjenigen zu sein, die behaupten, es gäbe keine Alternativen. Eine wichtige Rolle kommt dabei Ansätzen zu, die die ideengeschichtlichen Hintergründe der heutigen institutionellen Ordnung untersuchen. Es geht einerseits darum, zu erklären, warum diejenigen Ideen und Argumente, die wir heute unhinterfragt hinnehmen, sich als dominant erweisen konnten. Andererseits gilt es auch, all die unbeschrittenen Wege der Ideengeschichte, die Denkerinnen, die heute als abseitig gelten, im Gedächtnis zu bewahren. Vielleicht waren manche ihrer Ideen noch nicht reif für ihre Zeit, könnten es aber heute sein. In jedem Fall aber zeigt die Beschäftigung mit derartigen Ideen die Kontingenz der Entwicklungen auf, die zum heutigen Status quo geführt haben – und zieht schon alleine dadurch das TINANarrativ von der Alternativlosigkeit in Zweifel. Die heutige institutionelle Ordnung ist eben kein einmal hergestelltes Rahmenwerk, sondern ein Ergebnis politischen Handelns und politischer Kämpfe, die auch anders hätten ausgehen können.10 Oder, um es Thomä’sch auszudrücken: wir sind bis heute die Erben der Störenfriede der Vergangenheit – und der Versuche, sie einzuhegen. Darüber hinaus kann die Philosophie auch Ideen in die öffentliche Debatte einbringen, wie Alternativen aussehen könnten – zum Beispiel konkrete institutionelle Vorschläge zu gerechteren Steuersystemen, zum Umgang des Staates mit extremis-
9
Siehe z.B. B. M. Friedman, The Moral Consequences of Economic Growth; W. A. Galston, The New Challenge to Market Democracies.
10 Dies ist natürlich auch einer der zentralen Punkt an Arendts Unterscheidung von »Herstellen« und »Handeln«. H. Arendt: The Human Condition.
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tischen Gruppen oder zur Geschlechtergerechtigkeit in der Arbeitswelt. Dies ist natürlich kein neuer Vorschlag – die Politische Philosophie war immer schon eine der üblichen Verdächtigen, wenn es darum ging, das Gegenteil von »TINA« zu entwerfen, nämlich Vorstellungen von einer besseren Welt und Schritte, um sie institutionell zu verwirklichen. Doch in den letzten Jahren schien diese Rolle schwächer ausgeprägt gewesen zu sein, als in anderen Epochen – nicht, weil man nicht über »Gerechtigkeit«, »Freiheit«, oder »Demokratie« höchst intensiv nachgedacht hätte, sondern weil man dies oft auf eine Weise tat, die extrem abstrakt und idealisiert war. Sowohl die angelsächsischen Theorien, die man im weitesten Sinne als »post-Rawlsianisch« bezeichnen kann, als auch weite Teile der sogenannten »kontinentalen« und »post-strukturalistischen« Philosophie müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, dass zwischen den Texten, die dort produziert wurden, und den konkreten politischen Anliegen, die im politischen Tagesgeschäft diskutiert werden, ein langer argumentativer und vielleicht auch rhetorischer Weg der Übersetzung zurückgelegt werden muss.11 Eine zweite, sich daraus ergebende Strategie betrifft das Verhältnis von Philosophie und Öffentlichkeit und die oftmals postulierte oder implizit vorausgesetzte Vorstellung von einem Primat der »echten« Forschung über die »Vermittlung« an ein breiteres Publikum. Diese Vorstellung ist sicherlich nicht komplett falsch, doch sie drängt die Philosophie in das Muster von Wissenserzeugung durch »normal science« innerhalb bestehender Paradigmen.12 Sicherlich gibt es Bereiche der Philosophie, die nach diesem Muster ablaufen und dabei fruchtbare Ergebnisse liefern. Aber es wäre traurig, bliebe das, was die Philosophie sein kann, darauf beschränkt. Denn wie vielleicht kein zweites Fach lebt die Philosophie davon, Dinge kritisch zu hinterfragen – auch und gerade die jeweils herrschenden Paradigmen. Dieser Aspekt der Philosophie legt nahe, dass die Beschäftigung mit den Geschehnissen der Zeit, und der Austausch mit einem breiteren Publikum als nur dem des eigenen Faches eine wichtige Inspirationsquelle ist, sei es in der interdisziplinären Zusammenarbeit oder der Begegnung mit »Menschen auf der Straße«. Gestört wird damit allerdings ein nach einer quantitativen Produktionslogik verstandener Wissenschaftsbetrieb, der »output« auf sehr fragwürdige Weise bemisst. Dass derartige Störungen dem Störenfried auf die Füße fallen können, liegt in der Natur der Sache. Aber wenn die Philosophie ihre Rolle als konstruktiver Störenfried beibehalten will, muss sie dies in Kauf nehmen. Die Frage nach der Rolle zwischen Philo-
11 U.a. wird dieser Vorwurf von den »political realists« erhoben (siehe z.B. E. Rossi/ M. Sleat: »Realism in Normative Political Theory«. Allerdings müssen sich die »Realisten« die Gegenfrage gefallen lassen, ob sie nicht selbst in ähnlich »akademischen« Debatten (und methodologischen Meta-Debatten) gefangen sind. 12 T. Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions.
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sophie und Gesellschaft ständig neu zu stellen, ist nicht eine Zusatzaufgabe für den Feierabend, sondern Teil der Philosophie selbst, zumindest derjenigen Teile der Philosophie, die sich mit dem menschlichen Zusammenleben und dessen politischer Ordnung beschäftigen.13 Drittens – und in der praktischen Ausführung noch heikler, weil hier das Störenfriedtum von vielen als irritierend wie die Sokratische Bremse empfunden wird – stellen sich aus dieser Perspektive Fragen nach dem akademischen Burgfrieden, den die Philosophie mit vielen anderen Fächern geschlossen hat, obwohl es sehr viele gute Gründe für Streit gibt. Ein Kandidat für die Sokratische Bremse, den die Philosophie schon viel zu lang in Ruhe gelassen hat, ist die akademische Disziplin, die am engsten mit dem TINA-Narrativ verbunden ist: der Mainstream der Ökonomie. Auszuführen, auf welche Weise dieser sowohl auf der Ebene grundsätzlicher methodischer Annahmen als auch auf der Ebene der konkreten Politikberatung einen Einfluss auf die »TINA«-Politik hatte, würde hier zu viel Platz einnehmen, daher nur ein paar Stichworte: mit der methodischen Annahme, dass menschliches Verhalten durch finanzielle Anreize gesteuert werden müsse, wurde der »Inzentivierung« auf den unterschiedlichsten Ebenen, die mit dem Abbau traditioneller Schutzinstitutionen für die arbeitende Klasse einherging, der Weg bereitet.14 Mit der Behauptung, dass sich globale Märkte und vor allem auch Finanzmärkte von selbst steuern würden15 und »financial deepening« grundsätzlich positiv sei, wurden politische Vorschläge zur Begrenzung finanzieller Risiken vom Tisch gewischt.16 Und mit der Vorstellung, dass Märkte die bestmöglichen Mechanismen für die Verarbeitung von Wissen und Informationen seien, wurden Finanzmärkte zur Kontrollinstanz über die Politik erklärt.17 In der Diskussion nach einem Vortrag wies mich Dieter Thomä darauf hin, dass der ebenfalls im Brexit-Kontext verwendete populistische Slogan »People have had enough of experts« sich auf die Ökonomie bezogen hatte, also auf diejenige Wis-
13 Das von Thomä diagnostizierte Dilemma zwischen lokaler und globaler Aktion (D. Thomä: Puer robustus, S. 501-523) will ich damit keineswegs leugnen oder kleinreden. Mir scheint aber, dass es nicht unüberwindlich ist; z.B. gibt es die Möglichkeit, quer zu diesem Gegensatz an funktional gegliederten Themen zu arbeiten, und die jeweiligen Ebenen lokaler, nationaler und internationaler Politik dabei entsprechend zu bespielen, wie dies z.B. im Umweltbereich zahlreiche NGOs tun. Auch Störenfriedtum funktioniert damit oft arbeitsteilig, anstatt auf die eine große, allumfassende Vision hinzuarbeiten – das mag prosaischer wirken, nimmt ihm aber nicht unbedingt die Kraft. 14 Siehe z.B. W. Brown: Undoing the Demos; J. Z. Muller, The Tyranny of Metrics. 15 Zur Finanzkrise siehe auch D. Thomä: Puer Robustus, S. 494-501. 16 Siehe z.B. A. Turner: Between Debt and the Devil, Kap. 1. 17 R.E. Breuer: »Die fünfte Gewalt«.
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senschaft, die kurz zuvor bei der Vorhersage der Finanzkrise jämmerlich versagt hatte und von der Queen bei einem Besuch an der LSE dafür öffentlichkeitswirksam kritisiert worden war. Genauer gesagt ging es um eine Schätzung – ausgedrückt in Pfund, immerhin ohne Nachkommastelle – wie teuer der Brexit den durchschnittlichen britischen Haushalt zu stehen kommen würde. Auch ohne jegliche populistische Absicht könnte man, rein aus einer methodischen Perspektive, derartige Schätzungen und ihre Verwendung im öffentlichen Diskurs hinterfragen. Das Feld der »Philosophy of Economics« streitet seit Jahren über die Verwendung unterschiedlicher Modellierungsmethoden, die Rolle selbsterfüllender Prophezeiungen und all die anderen Fragen, die sich auftun, wenn man soziale Phänomene mit einem methodischen Apparat, der aus den Naturwissenschaften kommt, zu erfassen versucht.18 Wie so oft bei populistischen Sprüchen: Es gibt einen wahren Kern, der dann zugunsten der eigenen politischen Anliegen aufgebläht wird. Der Philosophie kommt hier eine Rolle zu, die sie lange vernachlässigt hat, sicherlich auch aus zahlreichen Frustrationserlebnissen heraus: von anderen akademischen Fächern Rechenschaft einzufordern dafür, mit welchen Methoden sie in der Öffentlichkeit Aussagen vertreten, für die sie die Autorität der Wissenschaft beanspruchen, während sie gleichzeitig den politischen Charakter vieler derartiger Aussagen leugnen. Doch diese Form des Störenfriedtums ist gefährlich: nicht nur, weil man damit gegen inner- wie außeruniversitär mächtige Gruppen anschreibt und disziplinäre Grenzziehungen anzweifelt, die bislang von allen Seiten akzeptiert wurden. Darüber hinaus läuft die inner-akademische Kritik Gefahr, in der Öffentlichkeit den Eindruck zu verstärken, dass Wissenschaftlerinnen nicht zu trauen sei. Damit liefe man Gefahr, den Populistinnen Wasser auf ihre Mühlen zu liefern – kann man das wollen? Hier stößt man also auf eine Verkomplizierung, die sich aus der reflexiven Wendung von Thomäs Störenfried-Motiv ergibt. Kann jemand, der über Störenfriede nachdenkt, selbst Störenfried sein? Er kann es in jedem Fall nicht auf die gleiche Art und Weise wie die jugendlich-naiven Störenfriede, die in Thomäs Buch eine so große Rolle spielen. Reflexiv gewordene Störung muss sich ihres eigenen Charakters und damit der Verantwortung, die sie trägt, bewusst sein. Vielleicht kann sie, mit Weber gesprochen, keine gesinnungsethische, sondern nur eine verantwortungsethische Störung sein – mit all den Herausforderungen und Problemen, die der Begriff der Verantwortung mit sich bringt, gerade weil er eine Absehbarkeit voraussetzt, die in politischen Dingen in der Regel nicht gegeben ist. Es gibt keine Garantie dafür, wie und von wem die als konstruktive Störungen intendierten Beiträge aufgefasst werden; niemand kann vorhersehen, welches Echo gut gemeinte Interventionen auslösen können. Gerade in Zeiten, in denen Argumente einerseits
18 Einen Überblick bietet D. M. Hausman: »Philosophy of Economics«.
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zum Internet-Mem werden können, anderseits »Shitstorms« auslösen können, scheint es ein gewagtes Unterfangen, als Philosoph Störenfried sein zu wollen. Aber besteht nicht auch die Gefahr, dass man mit zu viel Reflexion über das Störenfried-Sein und die Verantwortung, die sich daraus ergeben könnte, jeden Impuls zur Einmischung erstickt? Es lassen sich immer Argumente finden, warum die Nicht-Einmischung sinnvoller, moralischer, ja vielleicht sogar »philosophischer« ist – Si tacuisses, philosophus mansisses! Aber sind dies wirklich überzeugende Argumente, oder die Rationalisierungen einer professionalisierten Philosophie, die es sich mit der bestehenden Ordnung doch ganz gut eingerichtet hat, die sich von Trump und Co. zwar temporär erschüttern ließ, der aber ansonsten vor allem daran liegt, dass ihre Kreise nicht gestört werden? Gerade, wenn einem an der Aufrechterhaltung grundlegender Prinzipien des Rechtsstaats und der Demokratie liegt und man an deren Verbesserung, Weiterentwicklung und durchaus auch an der Überwindung so mancher Elemente, im Sinne des nomozentrischen Störenfrieds, ein mehr als theoretisches Interesse hat, muss man sich als Philosophin aber die Frage gefallen lassen, ob damit nicht ein positives Störpotential ungenutzt bleibt, das die heutige Gesellschaft dringend brauchen könnte. Wer, wenn nicht die Philosophen, kann gegen TINA anschreiben? Sie tun es ja auch nicht alleine, es gibt all die Demonstrantinnen, Aktivistinnen, und Künstlerinnen, die die Debatte ebenfalls aufmischen – nach Beobachtung Thomäs allerdings herrscht bei vielen Protestierenden ein »Mangel an großen Zukunftsszenarien«.19 Die Frage ist also, ob die Philosophie gemeinsame Sache mit ihnen macht, zumindest vom Grundsatz her, und vielleicht auch helfen kann, neue Visionen zu entwickeln – oder ob sie sich in ihrem Elfenbeinturm verschanzt, in dem sie von niemand gestört wird, aber auch niemanden stört. Geht sie diesen Weg, wird Philosophie, wie alle Störenfriede, auch sich selbst gefährden – allerdings sind die Gefährdungen in den meisten Ländern noch überschaubar, und viele Philosophen befinden sich in privilegierten Positionen, die konstruktive Formen des Störenfriedtums durchaus erlauben. Dass beim Störenfriedtum auch Schaumschlägerei mitspielen kann, dass die eine oder andere Schlammschlacht passiert, dass man anderen und vielleicht sogar sich selbst auf die Nerven gehen muss mit den kritischen Nachfragen, die sich nicht mit leichtfertigen Antworten zufrieden geben – all dies sieht weniger bedrohlich aus, wenn man sich, nicht zuletzt dank Dieter Thomäs Analysen, klar macht, dass es zur Natur des Störenfriedtums nun einmal dazu gehört, und dass eine politische Ordnung ohne konstruktive Störung zu einem toten Fetisch zu erstarren droht. Letzter schafft dann genau den Boden, der fruchtbar ist für Störungen durch andere Akteure, die weit
19 D. Thomä: Puer robustus, S. 508.
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weniger konstruktive Absichten verfolgen. Die reflexive Ebene sollte der Philosophie also nicht den Spaß an der Störung verderben – im Gegenteil!
LITERATUR Arendt, Hannah: The Human Condition, Chicago 1958. Booth, Robert: »Workers’ feelings of powerlessness fuelling anger, says job tsar«, in : The Guardian, 13. Februar 2017. https://www.theguardian. com/money/2017/feb/13/workers-feelings-of-powerlessness-fuelling-angersays-jobs-tsar. Breuer, Rolf-E.: »Die fünfte Gewalt«, in: Die ZEIT, 27. 4. 2000. Brown, Wendy: Undoing the Demos. Neoliberalism’s Stealth Revolution, New York 2015. Eilenberger, Wolfram: »Das Elefantenbaby im Porzellanladen«, in: PhilosophieMagazin 3 (2016), https://philomag.de/das-elefantenbaby-im-porzellanladen/. Friedman, Benjamin M.: The Moral Consequences of Economic Growth, New York 2005. Fukuyuama, Francis: The End of History and the Last Man. New York 1992. Galston, William A.: The New Challenge to Market Democracies: The Political and Social Costs of Economic Stagnation, Washington, DC 2014. Hausman, Daniel M.: »Philosophy of Economics«, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Winter 2013 Edition, URL = . Kuhn, Thomas: The Structure of Scientific Revolutions, Chicago 1962. Muller, Jerry Z.: The Tyranny of Metrics, Princeton 2018. Rossi, Enzo/Sleat, Matt: »Realism in Normative Political Theory« in: Philosophy Compass 9/10 (2014), S. 689-701. Thomä, Dieter: Puer robustus – Eine Philosophie des Störenfrieds, Berlin 2016. Thomä, Dieter: »Der Präsident als puer robustus. Donald Trump, Thomas Hobbes und die Krise der Demokratie«, in: Leviathan 45:2 (2017), S. 154-179. Turner, Adair: Between Debt and the Devil. Money, Credit, and Fixing Global Finance, Princeton/Oxford 2016. White, Jonathan: »Brexit, populism and the promise of agency«, in: OpenDemocracy, 2.2.2017 https://www.opendemocracy.net/can-europe-make-it/jonathanwhite/brexit-populism-and-promise-of-agency.
Teilhabe und Teilung: Grundfiguren des sozialphilosophischen Machtbegriffs Katrin Meyer
Die Aufgabe des Intellektuellen, so schrieb Sigfried Kracauer 1931, sei die »Zerstörung aller mythischen Mächte um und in uns«,1 und er meinte damit, so deutet es Axel Honneth, wohl nichts anderes als jene stillschweigenden gesellschaftlichen Voraussetzungen, die ›hinter unserem Rücken‹ definieren, was sagbar, machbar und denkbar ist und die uns dabei zugleich als naturhaft, selbstverständlich und ahistorisch fixiert begegnen.2 Diese tradierten Zwänge – oder zwanghaften Traditionen – wirken ›um und in uns‹ im Sinne von grundlegenden Strukturen der Intelligibilität, und ihre Macht erscheint umso durchdringender, je anonymer, vielgestaltiger und unbewusster sie operieren. Nach Honneth haben sie unser Denken und Sprechen in Form von überkommenen Begriffen und Bildern fest im Griff, und eine Lockerung ihrer Macht scheint nur zu gelingen, wenn das gesellschaftlich eingespielte Vokabular und die damit einhergehenden Denkmuster infrage gestellt, herausgefordert und punktuell durchbrochen werden. Die Zerstörung der ›mythischen Mächte um und in uns‹ verlangt also intellektuelle Finessen und kritische Kreativität, gezielte Regelverletzung und den Willen zur Störung eingespielter Denkformen. In dieser Bewegung renitenter Mythen- und Machtkritik erinnert die Aufgabe der Intellektuellen im Sinne Kracauers und Honneths an jene Haltung und Praxis, die Dieter Thomä in der philosophischen Figur des »puer robustus« auf den Begriff gebracht hat.3 Der ›puer robustus‹ als »Störenfried« hat nach Thomä das Potential, »eingespielte Denk- und Handlungsmuster zu verschieben und die ganze Szene zu verwandeln«4. An ihm entzündet sich, so Thomä, die zentrale Frage der politischen
1
S. Kracauer: »Minimalforderung an die Intellektuellen«, S. 353.
2
Vgl. dazu A. Honneth: »Idiosynkrasie als Erkenntnismittel«, S. 224.
3
D. Thomä: Puer robustus.
4
Ebd., S. 11.
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Philosophie, nämlich »wie sich eine Ordnung etabliert und legitimiert, wie sie kritisiert, transformiert oder attackiert wird, wie Menschen von dieser Ordnung einbezogen oder ausgeschlossen werden, sich anpassen oder quertreiben.«5 Was Thomä in der Figur des ›puer robustus‹ in den Blick nimmt, sind mithin Verkörperungen jener sowohl konstruktiven wie quertreibenden Perspektiven auf gesellschaftliche Ordnungen, die in der Sozialphilosophie der letzten dreihundert Jahre ihren theoretischen Niederschlag im Konzept der Macht gefunden haben. In den unterschiedlichen sozialphilosophischen Verständnissen von Macht wird verhandelt, wie das Subjekt und die Gesellschaft, wie gesellschaftliches Wissen und soziale Praxis und mithin Vergangenheit und Zukunft formiert und geprägt sind, was sie Menschen zumuten und von ihnen abverlangen, wie sie Zustimmung herstellen, ihre eigene Ordnung stabilisieren und wie sie sich in kritischer Haltung transformieren oder überwinden lassen. Im Folgenden werde ich die entscheidenden Merkmale des sozialphilosophischen Machtbegriffs kurz darstellen (1) und auf die damit verbundenen sozialen und existenziellen Ambivalenzen eingehen (2). Danach werde ich am Beispiel von Thomas Hobbes’ Machtanalyse aufzeigen, wie die Einsicht in die Gefahren geteilter Macht in das Konzept einer dichotomischen Teilung von Macht und Ohnmacht transformiert wird (3), und abschließend argumentieren, dass das Konzept der Teilungsmacht bis heute für das Verständnis sozialer Machtkonstellationen produktiv ist (4). (1) Macht als geteilte Praxis: der sozialphilosophische Machtbegriff Unbesehen ihrer vielen Unterschiede haben die soziologischen und philosophischen Machttheorien des 20. Jahrhunderts eines gemeinsam: Sie definieren Macht als Ausdruck einer menschlichen Praxis, die soziale Wirklichkeit formt und gestaltet, verändert und erhält. Macht gilt entsprechend als Ermöglichung, Vollzug oder Verursachung einer sozialen Konstellation, wobei entscheidend ist, dass diese von der Handlungsfähigkeit aller daran Beteiligten und davon Betroffenen abhängig ist und sich im Medium des Handelns realisiert.6 Wer sich heute theoretisch mit Machtkonzeptionen auseinandersetzt, bezieht sich auf Institutionen, Interaktionen, Strukturen oder Prozesse, in denen alle in diese Verhältnisse Involvierten als handlungs-
5 6
Ebd., S. 11f. Vgl. zu diesen verschiedenen Ausprägungen beispielhaft T. Parsons: »Über den Begriff der Macht« ; H. Arendt: Macht und Gewalt; H. Popitz: Phänomene der Macht; S. Lukes: Power. A radical view; N. Luhmann: Macht; P. Morriss: Power.
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fähig gedacht werden.7 Diese Definition der Macht schließt nicht aus, dass in einem Machtverhältnis ungleiche Handlungsfähigkeiten aufeinandertreffen oder erzeugt werden und dass Machtverhältnisse konsensuell oder konflikthaft, strategisch oder ereignishaft, instrumentell oder performativ realisiert werden können. Sie schließt aber aus, dass Macht im Sinne einer kausalen Wirkung verstanden wird, die über tote Körper ausgeübt wird. Macht erscheint, mit anderen Worten, nicht als Kraft, die auf Gegenstände einwirkt, sondern als eine von Handelnden gemeinsam geteilte – ob bewusste oder unbewusste, intendierte oder erzwungene – Praxis im weitesten Sinn.8 Die Bestimmung von Macht als Ermöglichung, Vollzug oder Verursachung einer geteilten sozialen Praxis verdankt ihre Entwicklung der Geschichte der modernen Sozialphilosophie, die ihrerseits wiederum durch den Fokus auf Macht vorangetrieben wurde. Gemäß Jürgen Habermas entsteht die Sozialphilosophie im Zuge eines durch Machiavelli und Thomas Morus eingeleiteten Perspektivenwechsels, in dem sich die politische Philosophie von der normativ aufgeladenen Sprache der Tradition absetzt. Nicht mehr die Frage nach dem guten, tugendhaften Leben steht im Zentrum des Interesses, sondern die Analyse der »tatsächlichen Bedingungen des Überlebens«, die politisch zu gewährleisten sind.9 Der Machtbegriff wird in der Folge zu einem zentralen Konzept, um diese ›Überlebensbedingungen‹ genauer zu erfassen und die ihnen zugrundeliegenden Konflikte und normativen Herausforderungen analytisch zu differenzieren. So entwickelt sich in der Neuzeit ein sozialphilosophisches Verständnis von Macht, das sich vom antiken und mittelalter-
7
Vgl. dazu K. Felgenhauer/ F. Bornmüller (Hg.): Macht Denken; P. H. Roth (Hg.): Macht; R. Krause/M. Rölli (Hg.): Macht.
8
Im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour und des Post-Humanismus von Donna Haraway ist der Machtbegriff auf nicht-menschliche, dingliche Akteure auszuweiten, die darum als Teil des Sozialen gedacht werden, weil sie in sozialen Konstellationen wirkmächtig interagieren und sich ›assoziieren‹ können und umgekehrt. Der systematische Zusammenhang zwischen Machtkonstellationen und sozialer Handlungsfähigkeit wird dadurch nicht in Frage gestellt, sondern im Gegenteil radikalisiert; vgl. dazu B. Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft; D. Haraway: Unruhig bleiben.
9
J. Habermas: »Die klassische Lehre von der Politik in ihrem Verhältnis zur Sozialphilosophie«, S. 56. Diese funktionale und terminologische Bestimmung der Sozialphilosophie ist allerdings nicht unbestritten. Nach Kurt Röttgers taucht der deutsche Terminus »Socialphilosophie« erstmals im 19. Jahrhundert zur Bezeichnung der französischen Sozialisten auf und wird zeitgleich von Georg Simmel programmatisch als Teil der »Moralwissenschaft« exponiert; vgl. K. Röttgers: Sozialphilosophie, besonders S. 59-106. Axel Honneth setzt die Sozialphilosophie bei Rousseau an; vgl. A. Honneth: »Pathologien des Sozialen«.
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lichen Konzept der politischen Herrschaft als fürstliche Autorität und Herrschergewalt absetzt.10 Eines der Merkmale dieser sozialphilosophischen Verschiebung ist die Tendenz, den Machtbegriff generalisiert zu verwenden. Macht wird spätestens seit Rousseau, Marx und Nietzsche mit Bedeutungen verbunden, die ihr eine soziale Phänomene fundierende und gesellschaftliche Verhältnisse durchdringende Dimension geben. Macht wird demnach nicht nur in institutionalisierten Herrschaftsverhältnissen und staatlichen Institutionen verortet, sondern auch in sozialen Beziehungen, Kommunikationsformen, Produktionsverhältnissen, Diskursen, Wissensformen, sozialen Normen und in Prozessen der Subjektivierung und Verkörperung. Wenn Jean-Jacques Rousseau in seinem Diskurs über die Ungleichheit paradigmatisch festhält, dass »es unmöglich ist, einen Menschen zu knechten, ohne ihn zuvor in die Lage versetzt zu haben, nicht ohne einen anderen auskommen zu können«,11 dann öffnet er den Machtbegriff für die spannungsreiche Verknüpfung von sozialer Anerkennung und Ungleichheit. Wenn Karl Marx in »Zur Judenfrage« betont, dass das Geld alle Menschen in eine Ware verwandelt, weil Geld der allgemeine Wert aller Dinge sei und diese dadurch ihres eigenen Wertes beraube,12 dann wird Macht nicht nur als eine soziale Interaktion thematisch, sondern auch als ein ökonomischer Strukturbegriff, der alle Selbst- und Fremdverhältnisse durchdringt und Menschen von sich und anderen entfremdet. Und wenn schließlich Friedrich Nietzsche behauptet, jedes Leben sei Wille zur Macht und dieser äußere sich in der Aneignung und Interpretation der Welt, dann gibt er dem Machtbegriff eine Bewusstsein und Handeln überspannende Bedeutung und setzt Macht mit Lebensfülle und kreativer Sinn- und Wissensproduktion gleich.13 In der Nachfolge dieser vielfältigen Bestimmungen ist es nur ein kleiner aber konsequenter Schritt zu behaupten, das Individuum selbst und seine Handlungsfähigkeit seien das Ergebnis produktiver Machteffekte, die auf Psyche, Habitus und Begehren zugreifen – oder diese gar, wie Foucault, Butler und Bourdieu argumentieren, als Medium der Selbstunterwerfung erzeugen.14 Mit Blick auf die Entwicklung der sozialphilosophischen Machttheorien lässt sich diese zunehmende Generalisierung des Machtbegriffs auf zwei Faktoren zurückführen. Deutlich ist zum einen, dass sich der sozialphilosophische Machtbegriff
10 Vgl. zur Neuausrichtung der Bedeutungsfelder von Macht und Gewalt in der Neuzeit K.G. Faber: »Macht, Gewalt. Einleitung«. 11 J.-J. Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit, S. 167. 12 Vgl. K. Marx: »Zur Judenfrage«. 13 Vgl. F. Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1885-1887, S. 139f. 14 Vgl. dazu M. Foucault: Überwachen und Strafen; P. Bourdieu: Sozialer Sinn; J. Butler, Psyche der Macht.
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einer Ausweitung seines Gegenstandsbereichs verdankt, insofern Machteffekte über politische Institutionen der Gewalt, Autorität und Herrschaft hinaus mit persönlichen Interaktionen, sozialen Strukturen und kommunikativen Medien verbunden werden. In diesem Sinn wird Macht nicht nur als institutionalisierte, sondern auch als handlungstheoretische, strukturelle und performative Kategorie fassbar. Zum anderen ist in neueren Machttheorien eine handlungs- und interaktionstheoretische Ausdifferenzierung des Machtbegriffs zu beobachten, die nicht nur das Tun, sondern auch das Lassen fokussiert. Beispielhaft für eine handlungstheoretisch enge Version dieses ›Lassens‹ sind die Analysen von Peter Bachrach und Morton S. Baratz, die argumentieren, dass auch nicht zu entscheiden eine soziale Wirkmacht entwickeln kann.15 Wenn Entscheidungen und Regelungen in der Schwebe bleiben, geschieht demnach nicht nichts, sondern es werden im Gegenteil tradierte Praktiken und Verhältnisse vor Veränderung geschützt und stabilisiert. Die system- und subjekttheoretischen Dimensionen der Macht des Nicht-Handelns wiederum zeigen sich in den Machttheorien von Niklas Luhman und Michel Foucault.16 Demnach ist eine der Herausforderungen für Machthandeln, die eigenen Intentionen effizient und produktiv in Anschlusshandeln zu übersetzen. Aus dieser Perspektive wird das Nicht-Handeln-Müssen zum eigentlichen Definiens von Macht, wenn es gelingt, die eigenen Intentionen an das Handeln anderer zu delegieren.17 Das aber heißt, konsequent zu Ende gedacht, dass alles Sein und Denken, alles Handeln und NichtHandeln machtwirksam sein kann und Macht damit theoretisch mit der sozialen Welt und ihrer Geschichte identisch wird. Diese Generalisierung des Machtbegriffs lässt sich auch als Ontologisierung der Macht bezeichnen. Tatsächlich tritt der sozialphilosophische Machtbegriff das Erbe der klassischen Ontologie an, insofern er die zentralen Termini der Ontologie aufgreift und neu ausrichtet. Macht wird beschreibbar als Ursache und Wirkung, Möglichkeit und Aktualität, Werden und Sein oder Veränderung und Dauer.18 Der sozialphilosophische Machtbegriff führt darum nicht nur zu einer Ontologisierung des Sozialen, sondern auch zu einer Historisierung der klassischen Ontologie, insofern er die historische und gesellschaftliche Bedingtheit der sozialen Welt auf den Begriff bringen kann.
15 P. Bachrach/M.S. Baratz.: »Two faces of power«; P. Bachrach/ M.S. Baratz: Macht und Armut. 16 N. Luhmann: Macht; M. Foucault: Überwachen und Strafen. 17 Kurt Röttgers spricht in diesem Zusammenhang von einer ›Modalisierung‹ der handlungstheoretisch gefassten Macht und folgert: »Nicht in actu, sondern in potentia ist der Mächtige.« (K. Röttgers: »Macht im Medium«, S. 64). 18 Zu den spezifischen Merkmalen eines ontologischen Machtverständnisses vgl. auch M. Saar: Die Immanenz der Macht, Kap. IV.
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(2) Existenzielle und soziale Ambivalenzen der Machtteilhabe In aktuellen Machttheorien wird allgemein und zurecht moniert, dass der Machtbegriff im Alltag und in der Wissenschaft vage sei.19 Dies hängt nach meiner Lesart mit der ontologischen Dimension des Machtverständnisses zusammen, das nicht nur spezifische und allgemeine, sondern auch komplementäre Aspekte von Sein und Werden zu bezeichnen vermag. Der Machtbegriff transportiert darüber hinaus aber auch genuin sozialphilosophische Ambivalenzen, die mit der Historisierung des Sozialen zusammenhängen und das Selbstverständnis des modernen Subjekts prägen: Das moderne Subjekt wird in den Diskursen über Macht in seiner eigenen Handlungsmacht gestärkt – und zugleich erschüttert. So erschließt der Machtbegriff die Welt in ihrer historischen Kontingenz und konfrontiert den Menschen als handlungsfähiges Individuum mit den Grenzen und mit der Verantwortung des eigenen Tuns. Wenn sich ein Individuum als Effekt von Machtverhältnissen und -strukturen erkennt, erfährt es die Dezentrierung und ›Kränkung‹ seiner selbst als autonomem Subjekt. Die Historisierung des Sozialen bürdet ihm aber zugleich die Verantwortung dafür auf, welche Gesellschaft, Welt und individuelle Lebensform es sich erschaffen und wie es seine eigene Handlungsfähigkeit einsetzen und nutzen will. In diesem Sinn ist die machttheoretische Analyse der ›tatsächlichen Bedingungen des Überlebens‹ zweischneidig, weil sie nicht nur untersucht, wie Menschen sozialen Machtpraktiken und -verhältnissen unterworfen sind, sondern auch, wie sie selbst in ihrem Sein und Handeln in Machtkonstellationen involviert sind und an sozialen Praktiken teilhaben, die die gemeinsam geteilte Welt konstituieren. Diese doppelte Dimension der Machtperspektive drückt sich in der semantischen Doppelheit des Begriffs der Teilhabe aus. Zu behaupten, dass alle Menschen Teil haben an Machtverhältnissen, -strukturen, -praktiken und -diskursen, bedeutet, dass sie davon betroffen und affiziert sind, aber auch, dass sie in diesen agieren und handlungsmächtig sind. Diese ambivalente Dimension der Machtperspektive verstärkt und akzentuiert sich in dem Maße, in dem das Soziale nicht nur historisiert und dynamisiert wird, sondern sich auch in der Logik der Entzweiung, der Ungleichheit und des Konflikts darstellt. Die sozialphilosophischen Analysen von Machtkonstellationen zerstören in diesem Sinn den Mythos einer Welt, die dem Menschen Harmonie und Geborgenheit verheißt – nicht nur, weil diese Welt als eine historisch kontingente und
19 Vgl. etwa R. Krause/ M. Rölli: »Einleitung«, S. 7-16, hier S. 7. Mark Haugaard antwortet auf die Unschärfe des Machtbegriffs, indem er von Wittgensteins Konzept der »Familienähnlichkeit« ausgeht und unterschiedliche »Sprachspiele« der Macht unterscheidet; vgl. M. Haugaard (Hg.), S. 2. Zur Bedeutungsspanne und Etymologie des Wortes Macht vgl. auch J. Grimm/W. Grimm: »Macht«.
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immer wieder neu zu erschaffende imaginiert wird, sondern auch, weil sie mit der Möglichkeit und Wirklichkeit von Fremdheit und Feindschaft zwischen Menschen verbunden wird, die das einzelne Subjekt mit potentiellen Erfahrungen der Ohnmacht und des Selbstverlusts, der Abhängigkeit, Ungleichheit und Verletzbarkeit konfrontieren. Parallel zur Ausweitung des Wirkungsradius menschlicher Handlungsmacht in der Neuzeit nimmt damit auch das Bewusstsein von der Konflikthaftigkeit sozialer Verhältnisse zu, die nicht nur im subjektiven Egoismus des Einzelnen, seiner Begierden, Leidenschaften und Interessen begründet wird, sondern auch in der objektiven Begrenzung sozial und materiell knapper Güter, um deren Aneignung sich in der Neuzeit und Moderne europäische Staaten, Handelsunternehmen, eine neue bürgerliche Klasse und revolutionäre Subjekte in einen Kampf um Macht verstricken. Der sozialphilosophische Machtbegriff verdeutlicht in diesem Sinn, dass in komplexen Konstellationen der Machtteilhabe Handeln und Erleiden oft ununterscheidbar ineinander verschränkt sind, und er situiert diese Ambivalenz in einer Welt sozialer Konflikte und existenzieller Bedrohungen, die durch eben solche komplexen Machtkonstellationen ausgelöst und verstärkt werden. Insofern Machthandeln und Konflikte gemäß der sozialphilosophischen Perspektive überall (denk-) möglich sind, lauert in allen sozialen Verhältnissen die Gefahr der Unterdrückung, der Entfremdung und der Gewalt – um nur einige der zentralen Topoi zu nennen, in denen die negativen Effekte sozialer Macht in der Neuzeit und Moderne thematisiert werden. Am Beispiel von Thomas Hobbes werde ich nun zeigen, wie dieser Ausgangspunkt einer sozial verworrenen Teilhabe an Macht zur politischen Macht dichotomer Teilung umgeformt und als mögliche Lösung für die Omnipräsenz sozialer Konflikte entfaltet wird.20 (3) Die Macht der Teilung: Thomas Hobbes über Souveränität und Ohnmacht Wenn meine These stimmt, dass das sozialphilosophische Konzept der Macht auf vielfältige Weise mit Thomäs Figur des ›puer robustus‹ vergleichbar ist, dann kann es nicht überraschen, dass Dieter Thomäs Geschichte des Störenfrieds gerade mit Thomas Hobbes einsetzt, der nicht nur dem störrischen Kind »zum ersten Auftritt auf der Bühne der Neuzeit« verholfen hat, sondern der zugleich als einer der Gründungsfiguren der modernen Sozialphilosophie gelten kann. Nach Jürgen Habermas
20 Einen gegensätzlichen Versuch, mit der Ambivalenz und Komplexität sozialer Machtteilhabe umzugehen, entwickle ich in meiner Untersuchung zu Hannah Arendt; vgl. K. Meyer: Macht und Gewalt im Widerstreit.
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begründet Hobbes die Sozialphilosophie als Wissenschaft, weil er erstmals die Frage nach den Techniken des Machterhalts und der Organisation von Gesellschaft mit methodischer Strenge behandelt. Hobbes’ Machtanalyse setzt bei der Frage nach der Macht des anderen an. Die Macht des anderen ist für Hobbes dasjenige, was das eigene Überleben potentiell bedroht. Berühmt-berüchtigt ist seine These aus dem Leviathan, wonach die Gleichheit der Menschen darin besteht, dass alle, auch die Schwächsten, den Stärksten töten können.21 Auf diesem Hintergrund einer grundlegenden und generalisierbaren Bedrohung, die von allen Mitmenschen ausgeht, wird die sozialphilosophische Frage nach den ›Techniken des Machterhalts‹ zu einer Frage von Leben und Tod. Dieser radikale Gegensatz von Leben und Tod, von Sicherheit und Gefahr, von Schutz und Schwäche prägt in der Folge Hobbes’ Machtverständnis und bildet den Rahmen seiner Machtanalyse. Im 10. Kapitel des Leviathan beschreibt Hobbes Macht als eine herausragende »Fähigkeit« und als ein »Mittel oder Instrument zum Erwerb von mehr Macht«,22 wobei diese Macht umso grösser wird, je mehr Menschen daran beteiligt sind. Anhängerschaft und Liebe zu gewinnen oder Diener und Freunde zu haben ist für Hobbes jeweils Macht, denn »sie sind vereinte Kräfte«.23 Die Macht jedes Individuums beruht nach Hobbes auf dem natürlichen Recht aller, alles zu tun, was ihrer Lebenserhaltung dient.24 Sie ist somit Ausdruck einer auf natürlichen Fähigkeiten und auf strategischen Hilfsmitteln beruhenden legitimen Praxis, sein Leben zu erhalten und gegen Feinde zu verteidigen. Macht ist die Fähigkeit und das Mittel zur Selbsterhaltung und damit genuin instrumentell konzipiert. Entsprechend gilt als unmittelbarer Gradmesser der Zweckdienlichkeit dieser Mittel und Fähigkeiten immer die Frage, inwiefern sie das einzelne Individuum davor zu schützen vermögen, dem (tödlichen) Zugriff der Mitmenschen ausgeliefert zu sein. Dabei erweist sich die Fähigkeit zur Gestaltung der Zukunft als ein entscheidender Faktor von Macht. Denn die Macht des Menschen besteht bei Hobbes in den »gegenwärtigen Mitteln zur Erlangung eines zukünftigen anscheinenden Guts«,25 und dieser Zukunftsbezug ist der Macht als Potenz eingeschrieben. In Vom Körper bestimmt Hobbes potentia in diesem Sinn als eine ursächliche Bewegung, die einen
21 T. Hobbes: Leviathan, S. 94. 22 Ebd., S. 66. 23 Ebd. 24 Vgl. ebd., S. 99. 25 Ebd., S. 66 [Hervorhebung K.M.]
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Akt in der Zukunft auszulösen vermag.26 Macht bezieht sich auf die Zukunft und bewährt sich an dieser. Um ihre Macht auch in Zukunft zu erhalten, müssen Menschen die Wirkungen ihres Tuns vorwegnehmen können, wobei diese Antizipation die Frage einschließt, was andere Akteur_innen tun und lassen werden, das die eigene Handlungsmacht einschränken könnte.27 Für Samantha Frost ist das Hobbes’sche Ergebnis des Machtstrebens demnach soziale Kooperation28 – wobei, so ist Frost zu ergänzen, diese Kooperation bei Hobbes nicht egalitär gedacht ist. Menschen können gemäß Hobbes in ein hierarchischen Kooperationsverhältnis hineingezwungen oder genötigt werden, denn nichts anderes besagt seine These, dass »jede Eigenschaft Macht [ist], die einem Menschen die Liebe oder die Furcht vieler einbringt, [...] da sie ein Mittel ist, die Hilfe und den Dienst vieler zu erlangen.«29 Aufgrund dieser immer drohenden Möglichkeit, durch andere in Furcht versetzt und dabei übervorteilt oder geschädigt zu werden, ist es nach Hobbes unvermeidlich, dass Akteur_innen danach streben müssen, mehr Macht über die anderen zu erringen, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Macht kann nur bestehen, wenn sie sich steigern lässt.30 Mit Kurt Röttgers lässt sich dieses Machtverständnis als ein sowohl kausales als auch modales deuten, insofern Macht durch die kausale »Steigerung der Verfügungsbreite oder -dichte über Mittel« definiert ist, die sich auf die Zukunft ausrichten, und dies wiederum die Möglichkeit oder Fähigkeit bedingt, das weitere Anschlusshandeln und damit die Kontinuität des eigenen Handelns kontrollieren zu können.31 Dies aber gelingt gemäß Röttgers am besten, wenn »die Realität von Handlungen (actus) zur Möglichkeit von Handlungen (potentia) modalisiert wird«.32 Oder in den Worten von Hobbes formuliert: »Im Ruf von Macht stehen ist Macht«,33 das heißt die Möglichkeit der Macht ist ihre Wirklichkeit. Ausgehend von dieser Analyse der Dynamiken des Machterhalts kommt Hobbes zu einem düsteren Fazit. So hält er das ständige Antizipieren möglicher
26 Vgl. T. Hobbes: Elemente der Philosophie, S. 136. Nach Panajotis Kondylis beschreibt Hobbes damit die ›Dynamisierung des Kosmos‹: wenn alles in Bewegung ist, ist alles Macht; vgl. P. Kondylis: »Einleitung«, S. 21. 27 Vgl. zu Hobbes’ Konzeption der instrumentellen Vernunft D. Thomä: Puer Robustus, S. 35f. 28 Vgl. S. Frost: Lessons from a Materialist Thinker, S. 146. 29 T. Hobbes: Leviathan, S. 66. 30 Vgl. ebd., S. 75. 31 K. Röttgers: »Macht im Medium«, S. 62. 32 Ebd., S. 63. 33 T. Hobbes: Leviathan, S. 66.
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feindlicher Handlungen und das damit verbundene Streben nach Übermacht für sozial destruktiv, weil es zu einem generalisierten Misstrauen führt, das er im Leviathan als einen vorpolitischen ›Naturzustand‹ beständiger Todesfurcht plastisch ausmalt. So kehrt sich gemäß Hobbes das Streben nach Überlebenssicherheit ironischerweise in eine der wichtigsten sozialen Konfliktursachen überhaupt, da es zur Gewalteskalation und zu einem manifesten Krieg aller gegen alle führt. Der Hobbes’sche Naturzustand ist in diesem Sinn kein statisches Ursprungs-, sondern vielmehr ein dynamisches Zukunftsmodell eines präventiv antizipierten unbegrenzten Machtstrebens. In dieser sozial bedrohlichen Lage omnipräsenter Konflikte, die auf einer dynamischen Konstellation geteilter Macht beruhen, ist für Hobbes die einzige Lösung, um individuelle Sicherheit und sozialen Frieden garantieren zu können, eine Ordnung, die Macht und Ohnmacht radikal und eindeutig teilt und stabilisiert. Es ist die Vision einer absoluten Macht in Form des staatlichen Souveräns, der seine Untertanen dadurch schützt und am Leben hält, dass er alle Macht auf sich vereint und die Bürgerinnen und Bürger im Zustand der Ohnmacht hält – sei es, weil sie sich der Institution des Staates freiwillig unterwerfen oder weil ihnen diese im Eroberungskrieg aufgezwungen wird.34 Schutz und Sicherheit sind demnach möglich, wenn sich jedes Individuum im Gesellschaftsvertrag dazu verpflichtet, sein Recht auf Selbstverteidigung – und das heißt: seine Selbsterhaltungsmacht – an den Staat abzutreten, unter Vorbehalt des Rechts auf Selbstverteidigung bei unmittelbarer Lebensgefahr.35 Diese Rechtsabtretung konstituiert das staatliche Gewaltmonopol und überlässt dem Souverän die absolute Entscheidungsmacht über alle Maßnahmen, die zur Wahrung von Frieden und Sicherheit notwendig sind. Für Hobbes ist diese Monopolisierung der Macht vor dem Hintergrund des antizipierten generalisierten Kampfes um Macht denknotwendig und unvermeidbar. Dabei geht er stillschweigend von einer Dialektik der Rechtsabtretung aus, indem die Bürgerinnen und Bürger durch ihre politische Unterwerfung einen individuellen privaten Handlungsspielraum gewinnen. Sie überwinden den Status der ständigen Todesfurcht, werden wirtschaftlich betriebsam und können im Bereich des Privatlebens, den ihnen der Souverän als Handlungsfreiraum überlässt, ihre negativen Freiheiten genießen.36 Hobbes formuliert demnach zwei Thesen zum Wesen der Macht, die wechselseitig aufeinander bezogen sind. Zum einen behauptet er, dass Macht immer Selbsterhaltungsmacht ist und sich diese unter Bedingungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens in ihr Gegenteil verkehrt und zu einer Bedrohung des eigenen Über-
34 Vgl. ebd., S. 135. 35 Vgl. ebd.; zum Recht auf Selbstverteidigung vgl. S. 170. 36 Ebd., S. 165.
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lebens wird. Zum anderen behauptet er, dass nur die radikale Monopolisierung und Konzentration von Macht – und damit einhergehend – die Erzeugung absoluter Ohnmacht bezogen auf das Recht auf Selbstverteidigung bei den Machtunterworfenen die Sicherung des Überlebens garantieren kann. Machthandeln als sozial geteilte Praxis der Kooperation reduziert sich somit auf die Autorisierung einer absoluten gesellschaftlichen Teilung, die im Gesellschaftsvertrag formalisiert ist. Hobbes ist sich selber bewusst, wie instabil diese Konstruktion ist. Die absolute Macht des Souveräns erweist sich als eine ständig gefährdete. So lauern Aufruhr, Rebellion und Widerstand in allen Nischen der Gesellschaft.37 Hobbes’ Versuch, den Mächtigen als absolut potent und unabhängig zu denken, scheitert also gerade daran, dass auch Hobbes nicht umhin kann, diese allmächtige Position als Ergebnis einer geteilten Praxis zu denken. Das heißt, der Souverän wird durch einen Vertrag zwischen Individuen in seiner Potenz autorisiert. So findet sich der Mächtige ironischerweise in einer Position größter Abhängigkeit von seinen Untertanen wieder, die er gleichzeitig durch seine absolute Macht kontrollieren können muss. Dennoch hält Hobbes an seiner grundlegenden Intuition fest, wonach individuelle Sicherheit und sozialer Frieden nur möglich sind, wenn die unkontrollierten Formen sozial geteilter Macht in einem kollektiven Akt der Machtteilung überwunden werden. Auch wenn dieser Akt immer wieder reaktualisiert und bestätigt werden muss und grundsätzlich prekär ist, so unterscheidet er sich doch deutlich von jenen Praktiken der geteilten Macht, wie sie etwa in demokratischer Mitbestimmung, kritischer Deliberation und Kommunikation vollzogen werden, die für Hobbes soziale Gemeinschaft nicht fundieren können, sondern nur Vorboten des Krieges sind.38 Auch wenn der Akt der absoluten Teilung von Macht in Wirklichkeit nie abschließend gelingen mag, so bleibt er für Hobbes der normative Orientierungspunkt seiner Sozialphilosophie. (4) Soziale Teilungspraktiken ›um und in uns‹ Hobbes’ Ansatz prägt die politische Philosophie und Sozialphilosophie der Moderne nachhaltig, insofern er in exemplarischer Radikalität eine Antwort auf die Ambivalenzen sozialer Machtteilhabe formuliert und propagiert. Macht zeigt sich demnach in der Fähigkeit zur politischen Teilung, Aufteilung und Zerteilung des Sozialen in Ungleichheitslagen, die im Idealfall der Unterscheidung zwischen absoluter staatlicher Souveränität und individueller Ohnmacht entsprechen. Dabei liegt die politische Provokation bei Hobbes darin, dass er die Macht der Individuen auf die kollektive Herstellung der eigenen Ohnmacht verpflichtet.
37 Vgl. dazu auch D. Thomä: Puer Robustus, S. 39-49. 38 Vgl. T. Hobbes: Leviathan, S. 122.
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Hier setzt bekanntlich Rousseaus Hobbes-Kritik an, der einen solchen Vertrag der eigenen Unterwerfung nicht nur für wahnsinnig, sondern aufgrund dieser Irrationalität auch für nichtig hält.39 Rousseaus eigener Ansatz zur Stiftung des sozialen Friedens liegt darin, die gesellschaftlich ungleichen Machtlagen durch eine Ordnung zu überwinden, bei der alle Macht nicht beim Leviathan, sondern beim Volk liegt. Der Gesellschaftsvertrag dient nun zur Begründung der Volkssouveränität. Auch in Rousseaus Konzept der Volkssouveränität bleibt dabei die Teilung von Souveränität und Ohnmacht eine konstitutive Figur, wobei die Trennungslinie nun nicht zwischen Leviathan und Volk, sondern zwischen dem homogenen Willen der Allgemeinheit und dem partikularen Willen einzelner verläuft, der aus dem Konzept des Allgemeinen ausgeschlossen und damit politisch entmächtigt wird.40 Dieses macht- und politiktheoretische Konzept der Teilung von Souveränität und Ohnmacht scheint in pluralistischen, demokratischen und rechtsstaatlichen Gesellschaften heute seine analytische Kraft verloren zu haben. Weder regiert in liberalen Demokratien ein Leviathan in absoluter Macht über seine Untertanen noch werden dissidente Meinungen oder Privatinteressen a priori aus dem Konzept des politisch Allgemeinen ausgeklammert. Entsprechend hat sich auch der Fokus der sozialphilosophischen Machtkritik der letzten Jahre verschoben. Im Zentrum steht nicht mehr die Macht des Souveräns, der über Leben und Tod entscheidet, sondern die vielfältigen, mikrophysischen Praktiken, die im Sinne Foucaults als produktive Machteffekte von Humanwissenschaften, Disziplinaranstalten und liberalen Regierungstechnologien das soziale Leben durchdringen.41 Foucaults These, dass Macht nicht nur verbietet und unterdrückt, sondern auch zu Praktiken anreizt und Wissen und Subjekte produziert, scheint plausibel, und sie verdrängt zunehmend die kritische Frage, ob sich souveräne Macht letztlich nur dank einer radikalen Teilung von Macht und Ohnmacht in Geltung setzen kann. Allerdings sollte dieser machttheoretische Perspektivenwechsel nicht dazu führen, dass das seit Hobbes entwickelte Konzept der Macht als Teilungspraxis vorschnell aufgegeben wird. Ich halte es bis heute vielmehr für analytisch ergiebig, auch wenn der starre Gegensatz von Macht und Ohnmacht in liberalen Gesellschaften zunehmend abgeflacht ist. Umso wichtiger ist die Frage, in welchen Formen sich Macht als Teilungspraxis heute vollzieht, welche Teilungen sie erzeugt und ob
39 Vgl. J.-J. Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, Kap. 4, S. 11. 40 Ebd., S. 17f. Zu Rousseaus Ablehnung von Pluralität und Differenz vgl. A. Bürgin: Endliches Subjekt. Zu einer radikaldemokratischen Lesart von Rousseaus Konzept der Volkssouveränität vgl. dagegen D. Comtesse: Radikaldemokratische Volkssouveränität für ein postnationales Europa. 41 Vgl. M. Foucault: Geschichte der Gouvernementalität.
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sie – im Sinne der eingangs zitierten Entlarvung der mythischen Mächte ›um und in uns‹ – als immer schon selbstverständliche hinter unserem Rücken und in unseren alltäglichen Praktiken in Kraft ist. Einen Hinweis auf die stillschweigende Virulenz solcher Teilungspraktiken liefert etwa die Beobachtung, dass der Institution eines souveränen Nationalstaats immer eine soziale Teilung vorausgeht, die nicht das Ergebnis des Vertrags, sondern deren Voraussetzung ist. So gründet jede Nation auf der Unterscheidung zwischen jenen, die dank ihrer Herkunft und Befähigung, teils auch dank ihrer Klasse, Religion und ihres Geschlechts, Zugehörige der souveränen Nation sein können, und allen anderen, die davon ausgeschlossen sind. Solche sozialen Teilungseffekte verlaufen meist unbewusst, versteckt und implizit, und ihre Legitimation wird nicht von einer (fiktiven, vertragstheoretischen) Unterstützung der davon Betroffenen abhängig gemacht, sondern beruht auf anderen Quellen – wie etwa den Normen patriarchaler Tradition, nationalen Mythen, kapitalistischen Profitlogiken und kolonialen und imperialen Rationalitäten. Dabei lässt sich aufzeigen, dass westliche Gesellschaften seit dem frühen 19. Jahrhundert zunehmend in sozialen Kategorien erfasst und organisiert werden, die auf einer grundlegend dualen Zweiteilung beruhen. Geschlecht, Rasse, Religion, Klasse und Sexualität werden im aufkommenden bürgerlichen Zeitalter als soziale Differenzierungskategorien etabliert oder tradierte Begriffe werden so umgedeutet, dass sie qualitative und hierarchisierte Gegensätze zum Ausdruck bringen. Das biologisch fundierte duale Geschlechtermodell, die ›wissenschaftliche‹ Konstruktion von Rassen oder die Ausformung der Gegensätze von Homo- und Heterosexualität sind Beispiele solcher historischer Teilungspraktiken, die die Zuteilung von Rechten und Freiheiten in den westlichen Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert und teilweise bis heute organisieren.42 Aus theoriegeschichtlicher Sicht wird deutlich, dass sich diese Formen der Macht sozialer Teilung in eben jenen Nischen des Sozialen ereignen, die Hobbes als scheinbar bloß private und persönliche aus seinem Gesellschaftsvertrag ausgeklammert hat: Handel, Gewerbe, Familienleben und Kultur – gerade diese Bereiche bilden das zentrale Feld, in dem sich die Macht der sozialen Teilung in Form kapitalistischer, patriarchaler und kolonial-imperialer Logiken entwickelt. Dabei stellen sich für eine sozialphilosophische Konzeption der Macht als Teilungspraxis wichtige weiterführende Fragen: Inwiefern organisieren soziale Teilungspraktiken heute
42 Vgl. dazu etwa K. Hausen: »Die Polarisierung der ›Geschlechtscharaktere‹ – eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben«; T. Laqueur: Auf den Leib geschrieben; M. Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft; A. Mbembe: Kritik der Schwarzen Vernunft.
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die Verteilung von Macht und Ohnmacht? Welche Bedeutung haben Teilungspraktiken in Konzepten revolutionärer und widerständiger Macht? Hat die Teilung von Macht und Ohnmacht nur eine handlungstheoretische oder auch eine strukturelle Dimension? Und welche neuen Formen von Teilungslogiken zeichnen sich im 21. Jahrhundert ab? Die Analyse wirkmächtiger Teilungspraktiken im alltäglichen Handeln und in den hegemonialen Strukturen des Sag- und Denkbaren bleibt in diesem Sinn eine wichtige Aufgabe sozialphilosophischer Machtanalysen.
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Hayeks Sozialphilosophie: Neoliberaler Mainstream oder Quertreiberei? Heiner Hastedt
Wer als Quertreiber, Störenfried, Grenzgänger, Außenseiter oder auch als Rabauke und puer robustus gilt, hängt davon ab, in welchen Kreisen wir verkehren. Es wird kaum begrifflich gelingen, kontextübergreifend nach gleichbleibenden Kriterien den Quertreiber zu definieren. Auch Dieter Thomä folgt daher den Spuren des puer robustus bei sehr unterschiedlichen Autoren in verschiedenen Ausprägungen.1 Seine Behandlung des Themas ist geprägt von der Sympathie für den Außenseiter, gerade weil er der Gegenwart zu Recht attestiert, dass sich hier zu viel Orientierung an Konsens ohne echten, diesen vorbereitenden Widerstreit breit gemacht hat. Der Störenfried wird von ihm geschätzt als Ermöglichung abweichender Perspektiven, auch wenn diese nicht unbedingt zu teilen sind und er in seiner Geschichte keineswegs immer gut dasteht. Ein wenig kommt dabei die Perspektive eines Älteren zur Geltung, der die Radikalität der Jüngeren ermuntert, weil er deren Lebendigkeit schätzt, ohne unbedingt deren Überzeugungen zu übernehmen. In diesem Artikel erprobe ich einige Gedanken Thomäs an einem keineswegs jungen Autor, der sicher kaum einem im Kontext des Störenfrieds einfällt, weil er oft als Protagonist des Mainstreams gilt. Im links-intellektuellen Milieu wird der Sozialphilosoph Friedrich August von Hayek allgemein mit ziemlicher Heftigkeit als Ideologe abgelehnt, der den vermeintlichen Ehrentitel des Quertreibers nicht verdient. Das Urteil über ihn steht für viele fest: Neoliberal, Pinochet-Unterstützer und als chicago boy mitschuldig an den Übeln der Globalisierung. Der vorliegende Artikel versucht zu erkunden, ob Hayek diese Rolle zu Recht bekommt oder ob bei wohlwollender Lesart doch etwas positiv Grenzgängerisches in seinem Werk zu entdecken ist. Diese Erkundung verfolgt nicht den Selbstzweck, Hayek unbedingt zum puer robustus machen zu wollen, sondern nutzt das Anregende von Thomäs
1
D. Thomä: Puer Robustus.
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Buch, um Aversionen gegen Hayek besser benennen und sein Werk gleichwohl in einigen seiner wichtigen Gedanken in Augenschein nehmen zu können. Wenn man ihn überhaupt verstehen will, ist es wohl am besten, zunächst einmal alles über ihn Aufgeschnappte zu vergessen; denn hinter Hayeks Freiheitsphilosophie steht mehr als seine Rezeption durch Reagan und Thatcher suggerieren und vor allem seine chilenischen Verirrungen befürchten lassen. Der puer robustus ist ohnehin keineswegs von Anfang an ein Sympathieträger. Im Gegenteil: Seine Bedeutsamkeit muss erst mühsam und oft indirekt erschlossen werden. Kann ein Autor und etablierter Professor überhaupt als puer robustus klassifiziert werden? Bei Dieter Thomä geht es um die Figur des puer robustus, wie sie ausgehend von Thomas Hobbes bei Autoren wie Rousseau, Diderot, Tocqueville und Marx in der politischen Philosophie behandelt wird. Der Autor selbst wird ebenso wenig wie ein fest besoldeter Professor als puer robustus gedacht, sondern lediglich deren Thematisierung solcher Gestalten. Im Schlusskapitel zum puer robustus heute wird diese Festlegung bei Thomä selbst jedoch aufgeweicht, wenn Gegenwartsfiguren wie Barack Obama2, Edward Snowden, aber auch Autoren und Autorinnen wie Slavoj Žižek und Judith Butler als Unterstützende der Occupy Bewegung in das semantische Feld des puer robustus gerückt werden. Von daher muss die Beantwortung der Frage, ob nicht auch ein Autor ein puer robustus sein kann, auf der Grundsatzebene nicht allzu sehr beunruhigen. Wie charakterisiert Thomä seine Figur? Schon der erste Absatz des Buches versammelt wichtige Motive: »Der puer robustus schlägt zu, eckt an, begehrt auf. Er spielt nicht mit, gibt nicht klein bei, handelt auf eigene Faust, verstößt gegen Regeln. Er ist unartig, unverschämt, unbequem, unbehaust, unbekümmert. Er wird gefürchtet, ausgegrenzt, abgestraft, aber auch bewundert und gefeiert. Der puer robustus – der kräftige Knabe, der starke Kerl – ist ein Störenfried.«3 Probeweise lässt sich dieser Absatz verändert lesen: Wo puer robustus oder er steht, kann der Name Hayek eingeführt werden. In einer ersten Annäherung habe ich mit einer solchen Ersetzung kein grundsätzliches Divergenzproblem, da sich das Außenseiterische von Hayek vermutlich erschließen lässt. Weniger klar sind die drei Eigenschaften, die Thomä im Anschluss an Thomas Hobbes benennt, für den zentral ist, dass die Figur des puer robustus etwas Körperliches, etwas Böses und etwas Kindliches beinhaltet (S. 24f.). Das Bild des kraftstrotzend Körperlichen wird man mit Hayek keineswegs verbinden können. In seinem bürgerlichen Habitus ist er kein
2
Ebd., S. 510 erwähnt erstaunlicherweise Henry David Thoreau als dessen Vorgänger.
3
Ebd., S. 11.
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wilder Kerl. In der Vehemenz, in der er die Orientierung an Gerechtigkeit ablehnt, kann er aber vorerst durchaus als »böse« bezeichnet werden und – mit Blick auf Fotografien besonders des alten Hayeks – geht von diesem durchaus etwas trotzig Kindliches aus. Ansonsten betont Thomä ja immer wieder in seinem Werk die Wandlungsfähigkeit seiner Figur, so dass Variationen von ihm immer einbezogen und selbst nachgezeichnet werden.4 Die Ausrichtungen des puer robustus werden von Thomä in das Spektrum des Egozentrischen, des Exzentrischen und Nomozentrischen eingeordnet. Als Sozialphilosoph drängt es sich bei Hayek auf, diesen als nomozentrischen Störenfried kandidieren zu lassen, »der seinen Kampf gegen die Ordnung im Vorgriff auf Regeln führt, die dereinst an deren Stelle treten sollen«.5 In den folgenden Abschnitten habe ich einige Gedanken von Hayek ausgewählt, mit denen er den sozialphilosophischen Mainstream stört und der für andere Regeln eintritt. Ein Hauch von Existenzphilosophie: Die Kontingenz des Marktwertes und der persönliche Verdienst In der »Verfassung der Freiheit« erörtert Hayek im sechsten Kapitel die Begriffe von »Gleichheit, Wert und Verdienst«.6 Methodisch ist in diesem Kapitel besonders auffällig, dass er als Autor, der aus der Ökonomie kommt, keine Stärken in der klaren Begriffsbildung hat. Nach den Maßstäben (analytischer) Philosophie wirken seine Gedanken oft willkürlich und nicht durch sorgfältiges Analysieren von Begriffen und Argumenten unterstützt. Daher ist es stets einfach, ihm Widersprüche nachzuweisen und ihn auf Lesarten festzulegen, die ihn als reinen Ideologen dastehen lassen. Dies gilt umso mehr, je negativ gefestigter das Vorwegurteil gegen diesen Autor bereits ist. Das hermeneutische Prinzip, einen Autor an den gedanklich stärksten Stellen zu rezipieren, lässt sich vor diesem Hintergrund bei Hayek nicht leicht realisieren. In einer verallgemeinerten Form ist die sachlich-sprachlich problematische Differenz von »Wert« und »Verdienst« allerdings sehr interessant: In Gesellschaften gibt es immer Werte, die gerade besonders gut ankommen. Hayek nennt so etwas den Marktwert, ohne damit seinen Gedanken auf kapitalistische Märkte und auf die Sphäre des Geldes einzugrenzen. Es geht eher um den existenzphilosophischen
4
»Als ich beim Schreiben dieses Buches Freunden und Kollegen vom puer robustus erzählte, kam fast jeder mit einem neuen Beispiel: »Das ist doch auch einer!« Aber ich will keine Galerie der Gegenwart mit Figuren ausstatten, sondern fragen, wie der Störenfried systematisch weiterzudenken ist« (Ebd., S. 491).
5
D. Thomä: Puer Robustus, S. 21.
6
F.A. Hayek: Verfassung der Freiheit, S. 110-131.
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Gedanken, die äußerliche gesellschaftliche Wertschätzung nicht zum Maßstab über den Verdienst der Gesamtperson zu machen. Traditionale Gesellschaften können diese Differenz gar nicht denken, so dass sie ihre Mitglieder ganz unfrei stets auf Spur bringen und dort halten müssen. Insofern arbeitet er ganz unideologisch heraus, dass die Wertmaßstäbe der gesellschaftlichen Anerkennung nicht identisch sind mit der personalen Ebene. Der Leistungsideologe, der meint, wer etwas verdient, bekommt dafür auch die gesellschaftliche Wertschätzung, wird als borniert überführt. Genau umgekehrt verhält es sich nämlich für Hayek: Gesellschaftlicher Erfolg ist kontingent und sagt nichts über den Verdienst aus. Dies gilt eben nicht nur für den Kapitalismus, sondern überhaupt für jede Gesellschaft. Da Verdienst in dem gesamtpersonalen Sinne, der auch moralische Dimensionen einschließt, allerdings nicht übergesellschaftlich objektiv feststellbar ist, sondern im freien Miteinander im Zweifelsfall sogar innerhalb der Bastion des Individuums allein zur Debatte steht, gibt es keine Möglichkeit, Verdienst in einer Gesellschaft als Basis für Belohnungen und Ressourcenzuteilungen zu nehmen. Es bleibt lediglich der Wert, der in der Terminologie von Karl Marx bloß der Tauschwert ist und ein rein äußerliches Regulativ darstellt. Bei Misserfolg auf der Tauschwertebene steht es jedem frei zu schimpfen, dass die Verhältnisse eben leider so sind: Die richtige Antwort ist, dass es in einem freien System weder wünschenswert noch durchführbar ist, dass die materiellen Vergütungen allgemein in Übereinstimmung gebracht werden sollten mit dem, was die Menschen als Verdienst ansehen, und dass es ein wesentliches Merkmal einer freien Gesellschaft ist, dass die soziale Stellung des Einzelnen nicht notwendigerweise von den Ansichten der Mitmenschen über das von ihm erworbene Verdienst abhängen sollte.7
Auch wenn Hayek die Marxsche Tauschwertdifferenz zum Gebrauchswert angesichts letztlich in der Breite nicht objektivierbarer Bedürfnisse nicht teilt, besteht er doch darauf, dass der Tauschwert nicht alles ist und es daher keinen Grund gibt, die Wertrückmeldungen in die Eigendeutung aufzunehmen. Er folgt damit einem gedanklichen Manöver, das auch Philosophen, Schriftsteller und andere Künstler immer schon anwenden mussten, wenn sie sich dem meist nie so groß wie erhofft eintretenden Werterfolg in der Eigenwahrnehmung nicht schutzlos ausliefern wollten. Der Eigenrhythmus der Person und damit ihre Freiheit von der kontingenten Erfolgsmeldung der Gesellschaft lebt für Hayek von der prinzipiellen Differenz zwischen gesellschaftlicher Anerkennung und den eigenen Maßstäben – so schwer es im Täglichen sein mag, sich von den Wertpräferenzen der Umgebung zu lösen und so sehr wohl auch die eigenen Verdienstauffassungen gesellschaftliche Spuren
7
Ebd., S. 120.
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enthalten. Die Freiheit von steht bei ihm auch für die Distanzmöglichkeit von den Perspektiven anderer, wenn diese meinen, den Verdienst einer Person bestimmen zu können. Normativ folgt übrigens bei Hayek – für viele überraschend – aus dem Dualismus von Wert und Verdienst, dass »Vorsorge« für die »Schwachen oder Gebrechlichen oder die Opfer unvorhersehbaren Unglücks« mit guten Gründen politisch anzustreben ist, wobei das »Niveau, auf dem solche Vorsorge gegen allgemeine Risiken geboten« werden kann vom »allgemeinen Wohlstand« der Gesellschaft abhängt.8 Die allgemein gewährte Basisvorsorge – eventuell gesteigert bis zu einem knapp bemessenen bedingungslosen Grundeinkommen – verbessert die Lebbarkeit der Freiheit, weil nicht jeder Misserfolg zum kompletten Absturz führt. Zugleich werden die Fähigkeit und die Bereitschaft, sich den Risiken der Marktwerteinschätzung auszusetzen, bei gleichzeitiger Vergewisserung, dass der individuelle Verdienst gar nicht zur Disposition steht, erhöht. Für Hayek wäre es eine Anerkennungstyrannei, wenn man gesellschaftlich versuchen würde, die Differenz von Wert und Verdienst quasi kollektiv zu schließen. In der Differenz liegt für ihn anders als beispielsweise in der Tradition Hegels eine Freiheitsermöglichung. Das sokratische »ich weiß, dass ich nichts weiß« als Argument für die regelbasierte Freiheit als Abwesenheit von Zwang durch Planungsmonopole Sokrates wurde als »Jugendverführer« zum Tode verurteilt. Ein Puer robustus, der gescheitert ist? Egal ob die Umstände der Verurteilung von Platon richtig erzählt werden, lässt sich auf jeden Fall diagnostizieren, dass im Eingeständnis des Nichtwissens eine erstaunliche Brisanz liegt. Wie die oft aporetisch endenden Dialoge Platons zeigen, schafft es Sokrates leicht, die vermeintlichen Experten mit ihren Wissensansprüchen zu entlarven und den eigenen Verzicht auf Wissensanmaßung als überlegen auszuweisen. Hayek greift »ich weiß, dass ich nichts weiß« für die Sozialwissenschaften im Allgemeinen und für die Ökonomie als Wissenschaft im Besonderen wieder auf. Angesichts der Komplexität des Gesellschaftlichen gibt es für ihn systematische Gründe, weshalb sicheres Wissen und vor allem die Fähigkeit zur Prognose nicht gegeben sind.9 Die oft gehörte Klage, dass Sozialwissenschaftler weder die Wende 1989, die dann 1990 zur deutschen Vereinigung geführt hat, noch die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise 2007/8 vorhergesehen haben, wird aus der Perspektive Hayeks obsolet, weil entsprechende Vorhersagen gar nicht
8 9
Ebd., S. 130. Vgl. in der pragmatistischen Tradition ähnlich J. Dewey: Suche nach Gewissheit und jetzt vor allem M. Hampe: Lehren der Philosophie.
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seriös gemacht werden können. Selbst das Wirtschaftswachstum des nächsten Monats oder die unmittelbar bevorstehende Entwicklung der Arbeitslosenzahlen können Ökonomen nur in Annäherungen antizipieren. Es ist also viel Scharlatanerie im Spiel, wenn Gegenteiliges suggeriert wird. Mark Twains Bonmot trifft für Hayek den richtigen Punkt: »Prognosen sind schwierig, insbesondere wenn sie die Zukunft betreffen.« Hayek stellt seine Rede bei der Annahme des Nobelpreises unter die Überschrift »The Pretence of Knowledge«. Die Orientierung an Freiheit wird bei ihm begründet aus der Unwissenheit, die Hayek als »Grundtatsache« des Menschen« beschreibt: »Sokrates‘ Ausspruch, dass die Erkenntnis unserer Unwissenheit der Anfang der Weisheit ist, hat für unser Verständnis der Gesellschaft tiefe Bedeutung.«10 Die Wissenschaft kann die »Erfordernisse der Gesellschaft nach explizitem Wissen« nicht befriedigen. Es sei ein Irrglaube, »dass sich der Bereich unseres Unwissens ständig vermindere und wir daher eine umfassendere und bewusstere Lenkung aller menschlichen Tätigkeiten anstreben könnten. Aus diesem Grunde werden die Menschen, die vom Fortschritt des Wissens berauscht sind, so oft zu Feinden der Freiheit.« Da kein Planer die Praxis rechnend durchschauen kann, sei es besser, der Freiheit der individuellen Risikoeinschätzungen ihren Lauf zu lassen. Das »Argument für die individuelle Freiheit« basiert »hauptsächlich auf der Erkenntnis«, dass »sich jeder von uns unvermeidlich in Unkenntnis eines sehr großen Teils der Faktoren befindet, von denen die Erreichung unserer Ziele und unserer Wohlfahrt abhängt«.11 Planorientierte Praxis-Modelle sind wie Monokulturen, die bei Umweltveränderungen ganze Landstriche veröden lassen können. Wenn es jedoch durch viele Individuen eine große Diversifizierung gibt, dann sind Gesellschaften stabiler und neue Ideen haben ebenso wie neue Praktiken für Hayek eine Chance, sich durchzusetzen: »Weil die Freiheit einen Verzicht auf direkte Lenkung der individuellen Bemühungen bedeutet, kann eine Gesellschaft freier Menschen von weit mehr Kenntnissen Gebrauch machen, als die Vernunft des weisesten Herrschers erfassen könnte.« Ökonomie und andere Praxiswissenschaften lassen sich auf den Spuren des sokratischen Eingeständnisses wohl eher als Kunst oder Ingenieursfähigkeit verstehen denn als Wissenschaft. Daher ist Hayek auch sehr skeptisch gegenüber dem Arbeiten mit Statistiken und anderen Quantifizierungen, die die heutige Ökonomie noch mehr dominieren als die zu seiner Zeit und die der Erfahrung zu wenig Raum lassen.12
10 F.A. Hayek: Verfassung der Freiheit, 30. Die folgenden Zitate dort S. 35 und 36. 11 F.A. Hayek: Verfassung der Freiheit, S. 39. »Wenn es allwissende Menschen gäbe, … gäbe es wenig zugunsten der Freiheit zu sagen. … Freiheit ist wesentlich, um Raum für das Unvorhersehbare und Unvoraussagbare zu lassen« (S. 40). Das folgende Zitat S. 42. 12 Vgl. T. Mayer: Austrian Economics.
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Wenn Hayek vom Nicht-Wissen ausgehend die Freiheitsorientierung hervorhebt, dann stehen im Hintergrund bei ihm immer auch evolutionäre Vorstellungen. Auch wenn dies bei ihm eine naturalistische Orientierung nicht ganz verleugnen lässt, so lässt sich Hayeks Gedanke doch auch so abstrakt verstehen, dass gesellschaftliche Entwicklung von ihm nicht wirklich nach dem Muster der natürlichen Evolution verstanden wird, sondern eine Theorie komplexer Systeme die Überschrift bildet, unter der Gesellschaft und Natur jeweils Sonderfälle bilden. Danach wäre die Entwicklung von Systemen ab einer gewissen Komplexität nicht mehr zentral zu steuern, sondern als chaotisches System gar nicht bzw. nur lokal. Im Grunde genommen steht auch hinter Thomäs Loblieb auf den Störenfried ein ähnlicher Gedanke: Nur was stört, kann die gegenwärtigen Verhältnisse voranbringen. Daher ist es wertzuschätzen, wenn Störenfriede ihren Entfaltungsraum behalten und nicht durch zentrale Lenkung oder political correctness mit ihren Gedanken vorschnell aussortiert oder unterdrückt werden. Gerade in seinem Spätwerk betont Hayek auch für chaotische gesellschaftliche Systeme deren Gestaltung durch Regelorientierung.13 Demnach muss man auf seinen Spuren keine grundsätzliche Aversion gegen staatliche Regulierung auch des Marktes entwickeln. Hayek spricht sich allerdings mit großem Nachdruck gegen kleinteilige Staatsinterventionen aus, die bei jedem Übel meinen, im Wege direkter Anweisung dieses beseitigen zu können. Demnach fordert er uns auf, nicht immer – womöglich medial verstärkt – bei einem gesellschaftlichen Missstand sofort nervös zu werden und Aktivität zu zeigen. Nichtstun ist manchmal die beste Version der Intervention, weil so keine Kraft in Scheinaktivitäten verlorengeht, die letztlich ohnehin von keinem Wissen gedeckt sind.14 Michel Foucault prägt bei seiner Beschäftigung mit der Geschichte der Gouvernementalität den Ausdruck der Staatsphobie, der Hayek bei seiner Regelorientierung gerade nicht folgt.15 In seinen Analysen wehrt sich Foucault dagegen, staatliches Handeln ausschließlich in der Tradition des Totalitarismus des 20. Jahrhunderts zu sehen (den er weniger als Ausdruck staatlichen Überschwanges sieht, sondern als Ausdruck ideologischer Parteien). Stattdessen arbeitet er in Übereinstimmung mit der Freiburger Schule der Nationalökonomie16 heraus (die in manchen, aber nicht allen Punkten mit Hayek übereinstimmt), dass gerade eine Marktökonomie enorm viel staatliche Wachsamkeit und ein geschicktes staatliches Rahmenhandeln benötigt; denn auch der Wettbewerb ist ein »Ziel der Regierungskunst«.17
13 F.A. Hayek: Law, Legislation Liberty, besonders S. 7-165. 14 Vgl. H. Friebe: Stein-Strategie. 15 M. Foucault: Gouvernementalität II, S. 113. 16 Vgl. besonders W. Eucken: Wirtschaftspolitik. 17 M. Foucault: Gouvernementalität II, S. 173.
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Anders als eine Planwirtschaft, die es aufgrund ihrer permanenten Eingriffe in die Entscheidungsfreiheit nicht vermeiden kann, »politisch kostspielig zu sein«, begünstigt die staatliche Ermöglichung des Wettbewerbs eine »Neuformierung der Gesellschaft nach dem Modell des Unternehmens«.18 Wenn man diesen Gedanken von Foucault aufgreift und auf Hayek bezieht, dann ist im staatlichen Rahmenhandeln regelbasiert eine Form der Geschicklichkeit gefragt, die Freiheit in chaotischen Systemen ermöglicht und diese so indirekt voranbringt. Die Alternative ist demnach nicht Steuerung oder Nicht-Steuerung des Marktes, sondern seine kluge oder unkluge Steuerung.19 Auch wenn es in vielen gesellschaftlichen Feldern große Vorteile zeitigt, staatliches Handeln gerade bei Detailinterventionen zurückzudrängen, ist damit nicht impliziert, dass die staatliche Gesamtverantwortung schwindet. Der Staat als Verantwortungsträger für die Rahmengestaltung bleibt gefordert, auch wenn er diese Verantwortung nicht durch eigenes Handeln garantiert, sondern privaten Trägern die Durchführung im Rahmen von Regeln ermöglicht. Foucault analysiert in überraschender Übereinstimmung mit den Freiburger Ökonomen geschickte »Disziplinartechniken« zur Gestaltung der Ökonomie.20 Gerade wenn direkte Eingriffe in die Ökonomie wie zum Beispiel bei der Subventionierung maroder Wirtschaftszweige ein Tabu bilden, kommt es um so mehr auf die Allgemeinheit der Spielregeln an. Ein nicht ausschließlich auf Geld bezogenes Verständnis von Märkten In der Ökonomie ist es bis heute umstritten, ob Märkte definitorisch im Abgleich von Angebot und Nachfrage an Geldflüsse gebunden sind. Vermutlich bejaht die Mehrheit der gegenwärtigen Ökonomen dies. Marktwirtschaft wäre dann immer auch Geldwirtschaft. Es gibt aber Ökonomen wie Gary S. Becker, die auch von Heiratsmärkten sprechen, auf denen – ohne dass Geld explizit im Spiel ist – Individuen zu gemeinsamen Handlungen kommen.21 Märkte werden dann als eine Form der Handlungskoordination angesehen, in der Individuen sich begegnen und ohne zentrale Planung zu Entscheidungen kommen, wie sie sich beispielsweise nach Sondierung von Alternativen zum Heiraten entschließen. Beckers Ansatz wird oft ökonomischer Imperialismus vorgeworfen; dies ist jedoch dann falsch, wenn seine
18 Ebd., S. 250 und S. 334. Vgl. S. 314: »Der Homo oeconomicus ist ein Unternehmer, und zwar ein Unternehmer seiner selbst.« 19 An dieser Stelle kommen sich Hayeks Sozialphilosophie und die Systemtheorie von Niklas Luhmann gedanklich übrigens sehr nahe. 20 F oucault: Gouvernementalität II, S. 102. 21 G.S. Becker: Erklärung.
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Herangehensweise als eine Beschreibungsmöglichkeit unter anderem für chaotische Systeme genommen wird. Eine Vermarktung im Sinne einer geldlichen Orientierung ist mit seiner Form der Ökonomie ohnehin nicht verbunden. Bei Hayek finden sich Belegstellen für beide Marktverständnisse. Der Standardlesart folgt das folgende Zitat: »Der Marktmechanismus ist die wirksamste Methode, um jene Güter und Dienstleistungen bereitzustellen, die einen Preis haben.« Die Fortsetzung des Zitats markiert allerdings schon eine erste Distanzierung von der reinen Preisorientierung: »aber es gibt viele andere wichtige Dinge, die der Markt nicht bereitstellt, weil sie nicht an den einzelnen Nutznießer verkauft werden können. Die Ökonomen haben oft den Eindruck hervorgerufen, als ob nur das nützlich wäre, wofür das Publikum zu bezahlen bereit ist […].«22 In seinem Werk haben letztlich die Verwendungen des Marktbegriffes die größte systematische Bedeutung, die ihn an die Evolutionstheorie annähern und das spontane Durchsetzen ohne Vorwegplanung als Marktgeschehen verstehen. So wird auch der Wettbewerb der Ideen und der Entdeckungen, ohne dass Geld im Spiel wäre, marktorientiert verstanden. Der Markt wird gedacht als Form der Selbstorganisation, der eine spontane Ordnung ohne Zentralinstanz hervorbringt, wobei die Charakterisierungen Hayeks – wie schon erwähnt – nicht frei von biologistischen Anklängen sind. Hayek rückt den Begriff des Marktes ab von der Wirtschaft und bemüht den antiken Ausdruck der Katallaxie, wonach wörtlich ein Feind zu einem Freund gemacht wird und – abstrakter – durch wechselseitige Bezugnahme ohne zentrale Koordination Ordnung entsteht.23 Diese entstehende Ordnung ist dabei schon vom Ausdruck her nicht so normativ aufgeladen, dass es die beste aller möglichen Ordnungen wäre. Sonst beginge Hayek sofort einen kritikwürdigen naturalistischen Fehlschluss. Der Akzent liegt vielmehr darauf, dass überhaupt eine Koordination entsteht, die in ihrer Variabilität ohne Bezug auf eine Zentralinstanz auf die Dauer oft im Rückblick auch normativ positiv zu bewertende Konsequenzen erzeugt. Die Alternative zum Heiratsmarkt, die erst in Berlin oder in anderen Hauptstädten in Fortentwicklung des Feudalismus ein Antragsverfahren erfordert, ist wenig überzeugend. Eine Sicherheit für die Dominanz des Positiven gibt es nicht (ein Paar kann miteinander unglücklich werden); es kann Marktversagen geben, wobei schon die Koordination misslingt oder noch viel häufiger in dem Sinne, dass die Bewertung der entstandenen spontanen Ordnung negativ ausfällt.24 Wenn dies im Vorhinein immer umständlich geprüft werden müsste, wäre der Vorteil der
22 F.A. Hayek: Verfassung der Freiheit, S. 160. 23 F.A. Hayek. Ordnung, S. 157-187, besonders S. 158f. 24 Hayek ist an diesem Punkt weniger naiv und euphorisch als das Konzept der Schwarmintelligenz; denn Schwärme können sich vielleicht ganz gut koordinieren, aber ob dies besonders intelligent ist, steht dahin. Vgl. H. Rheingold: Smart Mobs.
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lokalen Sofortkoordination allerdings dahin. Dies basiert auf der »Entdeckung, dass Menschen in Frieden und zu ihrem wechselseitigen Vorteil zusammenleben können, ohne sich über die konkreten Ziele, die sie gesondert verfolgen, einig sein zu müssen – aus der Entdeckung, dass man, indem man verpflichtende konkrete Ziele durch abstrakte Verhaltensregeln ersetzt«.25 Das Wirken der Katallaxie setzt nicht voraus, dass die Leute egoistisch handeln; die Motivation spielt nämlich für die Möglichkeit der Koordination keine Rolle. Edle Ziele lassen sich in der Koordination ebenso realisieren wie andere; denn für Hayek gibt es letztlich keine rein »ökonomischen Ziele«.26 Der Erfolg der Koordination liegt auf der Metaebene und adelt nicht per se realisierte Ziele, sondern überlässt diese weiter dem Urteil aller. Wie in einer wohlverstandenen Evolutionstheorie ist das Erfolgreiche nicht per se das Richtige. Hier wäre erneut an den Unterschied von Wert und Verdienst von Hayek zu erinnern. Der Streit um den Verdienst währt ewig, während der evolutionäre Wert zumindest kurzfristig zu dem greifbaren Ergebnis des Überlebens führt. Der größte Feind der Katallaxie ist für Hayek das Monopol. Am stärksten betont er seine Gegnerschaft gegen den Staat als Monopolisten. Gegen den Staat als möglichst sparsamen Regelgeber und -überwacher erhebt er keine Einwände, aber sehr wohl gegen jede Instanz, die die Vielfalt und die Formen der selbstorganisierten spontanen Ordnungsbildung unterminiert. Einwände gegen das staatliche Monopol gelten genauso gegen marktdominierende Kartelle. Hier ist geradezu der Staat als Instanz gefordert, um Kartelle zu zerschlagen und dem Gemeinwohl durch eine Rahmenordnung zu dienen: »Politik braucht nicht vom Streben nach bestimmten Ergebnissen geleitet sein, sondern kann darauf gerichtet sein, eine abstrakte Gesamtordnung von der Art zu sichern, dass sie den Mitgliedern die beste Chance bietet, ihre jeweiligen und weitgehend unbekannten Einzelziele zu erreichen.«27 Entnationalisierung der Geldschöpfung: Skurrile Idee oder nur Vorwegnahme von blockchains beispielsweise im bitcoin? Monopole haben in ihrer überkommenden Machtstellung als Staat oder Kartell wenig oder gar keinen Anreiz, bessere Methoden der Bedürfnisbefriedigung zu entdecken. Der Monopolist hat kein Veränderungsinteresse; denn er ist in seiner Interessenrealisierung immer schon angekommen. Ihm fehlt der Hunger auf Veränderung und Verbesserung.28 Dies gilt für den Staat als größten Monopolisten ebenso
25 Hayek: Ordnung, S. 159. 26 Hayek: Ordnung, S. 163. Siehe zuvor S. 160 zum Eigennutz. 27 Hayek: Ordnung, S. 164. Vgl. D. Lavoie: Rivalry, in dessen Mittelpunkt die österreichische Schule der Nationalökonomie ausgehend von Ludwig von Mises steht. 28 F.A. Hayek: Entnationalisierung, S. 7.
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wie für marktbeherrschende Unternehmen. Die alte Parole in marxistischer Tradition »Zerschlagt die Macht der Konzerne« gilt demnach genausofür den Staat als Konzern mit der allergrößten Machtkonzentration (sogar tendenziell unabhängig von der Frage, ob dieser demokratisch legitimiert ist oder nicht). Hayek spielt den Gedanken durch, dass auch die Geldschöpfung über Zentralbanken ein kritikwürdiges Monopol darstellt. Er tritt nicht für die Abschaffung der bisherigen Nationalwährungen ein, sondern für eine Konkurrenz von Währungen auch innerhalb eines bisherigen Währungsterritoriums – sei es in Form von Währungen anderer Länder oder durch privat geschaffene Währungen: So »würde jede Abweichung vom geraden Pfad der Versorgung mit gutem Geld sofort dazu führen, dass das schlechte Geld unmittelbar durch ein anderes verdrängt werden würde.«29 Der »Hauptmangel des Marktsystems und damit der Grund für wohl gerechtfertigte Vorwürfe – nämlich seine Empfänglichkeit für wiederkehrende Perioden von Depression und Arbeitslosigkeit« ist für Hayek eine »Konsequenz des uralten Regierungsmonopols der Geldemission«.30 Das Geldmonopol verleitet zum Missbrauch und begünstigt die Inflationierung, weil es immer bequeme Möglichkeiten gibt, Mangelsituationen durch Geldvermehrung zu kaschieren. Viele Ökonomen verharmlosen aus Hayeks Sicht die Inflation und unterschätzen, dass ökonomisch schwache Projekte durch die Inflationierung am Leben erhalten werden; denn das Steigen der Zahlen suggeriert oberflächlich Wachstum, verschiebt Probleme in die Zukunft und verschleiert die Spätfolgen eines Lebens aus der Substanz. Für Hayek ist es unglücklich, »Geld« substantivisch zu beschreiben und so zu ontologisieren: »Genaugenommen gibt es im wissenschaftlichen Sinne so etwas wie einen vollständig stabilen Wert bei Geld […] gar nicht. Wert ist ein Verhältnis, eine Äquivalenzrelatio […]«.31 Daher wäre es treffender, adjektivisch von geldlichen Umlaufmitteln zu sprechen und nicht etwa wie beim Monetaristen Milton Friedman eine »naive Quantitätstheorie des Geldes« zu vertreten, wo der reinen Menge des Geldes eine wohltuende Steuerungswirkung veranlasstdurch die Zentralbank zugesprochen wird: »Keine Behörde kann im vorhinein feststellen, sondern nur der Markt kann entdecken, was die ›optimale Geldmenge‹ ist.« Wie sonst auch oft im Wirtschaftsleben sind komplexe Sachverhalte, zu denen gerade die geldlichen Umlaufmittel gehören, für Hayek theoretisch schlecht verstanden und definiert.32 Mein ökonomischer Sachverstand reicht nicht aus, um die Belastbarkeit von Hayeks Idee einzuschätzen. Das Außenseiterische und auch Radikale seiner An-
29 Ebd., S. 1. 30 Ebd., S. X. Die Gesichtspunkte der folgenden Sätze S. 14, S. 88, S. 89 sowie S. 111, S. 41. 31 Ebd., S. 58. Die folgenden Zitate dort S. 69 und 71. 32 Vgl. H. C. Binswanger: Geld und Magie.
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sichten wird durch den Vorschlag der Entnationalisierung des Geldes jedoch unterstrichen. Eine skeptische Nachfrage liegt nahe: Würden sich Monopole in Ersetzung des bisherigen nationalstaatlichen Monopols nach seinem Vorschlag nicht einfach neu kommerziell durchsetzen – als Googles und Facebooks des Geldes sozusagen, wie sie sich vielleicht im Anschluss an jetzige Kreditkartenkonzerne wie Visa und Mastercard entwickeln würden? Die Frage nach der staatlichen Regulierung solcher Monopole würde den Staat an anderer Stelle wieder ins Spiel bringen. Außerdem könnte es sich als Problem herausstellen, dass die Vielfalt des Geldes seine Beliebigkeit in den Köpfen der Menschen verankern würde und sich ein generelles Misstrauen verbreitet. Vielleicht ist die gleichzeitige Nutzung verschiedenen Geldes auch pragmatisch gesehen eine unnötige Verkomplizierung. Oder doch mit Hayek geradezu erwünscht, weil sie Konkurrenz zulässt? Demnach wäre die Diskussion in Italien, neben dem Euro Schuldscheine zwischen Unternehmen und dem Staat zuzulassen, oder vor Jahren in Griechenland, eine abwertungsfähige Parallelwährung in Drachmen einzuführen, nicht ganz so abwegig wie von den meisten Ökonomen immer wieder unterstellt – jedenfalls so lange damit Wahlfreiheit verbunden bleibt und es eine echte Konkurrenz der Zahlungsmittel gibt. Weiterführend könnten Hayeks Gedanken sein, wenn sie sich mit der gegenwärtigen Herausbildung von blockchains verbinden ließen, die ebenfalls auf eine zentrale Steuerungsinstanz verzichten und technisch hinter Kryptowährungen wie dem bitcoin stehen. Im Streit um deren Bedeutung wiederholt sich sofort das Pro-und-Contra-Abwägen von Hayek Entnationalisierungsidee zwischen dem Lob als Freiheitsermöglichung ohne staatliche Gängelung oder der Ablehnung einer Schaffung dunkler Geldkanäle für das Schwarzgeld der Mafia. Weshalb ist Hayek so böse und spricht sich gegen die gesellschaftliche Orientierung an Gerechtigkeit aus? Oder: Heißt es letztlich bei ihm doch ganz ideologisch »Freiheit statt Gerechtigkeit«? Ein starkes Motiv für eine Orientierung an staatlichen Eingriffen in die Gesellschaft liefert – wie Hayek schon in seinem populärsten Werk »Der Weg zur Knechtschaft«33 zugibt – das politische Ziel, gerechte Lebensverhältnisse herzustellen und zu garantieren. Das Zielen auf Gerechtigkeit ist daher auch für Hayek ein durchaus honoriges Motiv für staatliches Handeln – so böse ist er immerhin nicht, dass er dies abstreitet. Als Ziel individuellen Strebens gerade für das wohltätige Wirken Einzelner stößt Gerechtigkeit bei ihm persönlich sogar auf deutliche Sympathie.
33 F.A. Hayek: Knechtschaft. Vgl. weniger polemisch zuspitzend das Spätwerk F.A. Hayek: Law, Legislation, Liberty.
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Seine Vorbehalte gegen Gerechtigkeit, die in vielen Formulierungen bis zur Ablehnung gesteigert wird, beruhen mehr auf den gesellschaftlichen Realisierungsproblemen der Gerechtigkeit als auf dem Ideal selbst. So bleibt die individuelle Orientierung an Gerechtigkeit über das Philantropische bei Hayek ein wichtiger Gedanke; er verwahrt sich aber dagegen, dass die diversen und kontroversen Gerechtigkeitsvorstellungen direkt als Basis einer politisch-staatlichen Steuerung genommen werden. Auch ist es für ihn nicht besonders eindeutig, ob diese beispielsweise im modernen Wohlfahrtsstaat tatsächlich Gerechtigkeit bewirkt oder ob auf dem Weg hierzu ein Wust von nicht intendierten Nebenfolgen das Streben nach Gerechtigkeit konterkariert, so dass Gerechtigkeitsstreben zu neuen Ungerechtigkeiten führt. Dies kann für ihn bedeuten, dass die versuchte Abschaffung von Privilegien unter Umständen zu einer Gesellschaft verleitet, die für viele schlechter ist, weil sie keineswegs Gerechtigkeit schafft, sondern vor allem Freiheit gefährdet und eine schiefe Ebene zum Totalitarismus öffnen kann – ganz zu schweigen von häufig anzutreffenden Wohlstandsverlusten, die oft beim Streben nach mehr Egalität in der Summe in Gesellschaften entstehen. Hayek ist der Theoretiker, der dies als den »Weg zur Knechtschaft« brandmarkt, weil das Zielen auf Gerechtigkeit immer mit Elementen einer überindividuellen Lenkung verbunden ist, so dass gerade in einer Planwirtschaft »letzten Endes die Launen der Machthaber« über unsere Bedürfnisse entscheiden.34 Letztlich steht hinter Hayeks »böser« Zurückweisung der Gerechtigkeitsorientierung ein Normenkonflikt, weil er durch Gerechtigkeit gesellschaftlichen Zwang befürchtet, der die Freiheit gefährdet; denn Gerechtigkeit braucht für ihn die Koalition zu einem positiven Freiheitsbegriff, den Hayek jedoch zugunsten eines lediglich negativen ablehnt. In einem berühmt gewordenen Aufsatz nennt bereits Isaiah Berlin die Freiheit von die negative Freiheit, während die Freiheit zu von ihm als positive Freiheit charakterisiert wird35. Berlin macht wie Hayek keinen Hehl daraus, dass er allein die negative Freiheit als gedanklichen Ausgangspunkt empfiehlt, da diese als Abwehrfreiheit den Individuen die Chance lässt, das zu tun, was sie wollen. Die positive Freiheit ist in ihrer tendenziellen Unklarheit demgegenüber missbrauchsgefährdet, insofern sie von anderen usurpiert werden kann, um Individuen im Namen großer, vermeintlich positiver Ziele gerade unfrei zu machen. Hayek grenzt wie Berlin »Freiheit als Abwesenheit von Zwang« ab von politischer, »innerer« und mächtiger Freiheit.36 Die Abwesenheit von Zwang betreffe nur die »negative Seite der Freiheit«.37 Ähnlich wie im Wertepluralismus von Berlin sieht auch Hayek, dass
34 F.A. Hayek, Knechtschaft, S. 123 und 129. 35 I. Berlin: Zwei Freiheitsbegriffe, S. 129-179. 36 F.A. Hayek: Verfassung der Freiheit, S. 13ff. 37 Ebd., S. 24. Die folgenden Zitate dort S. 25.
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Freiheit zwar ein hoher Wert ist, aber nicht der einzige Maßstab, der zur Beurteilung von Verhältnissen taugt: »Vor allem aber müssen wir verstehen, dass wir frei und zugleich elend sein können. Freiheit bedeutet nicht alle guten Dinge oder Abwesenheit aller Übel.« Dass die Abwehr von Zwang gerade kurzfristig immer zu positiven Gesamtergebnissen führt, wird nicht behauptet: »Freiheit, die nur gewährt wird, wenn im Voraus bekannt ist, dass ihre Folgen günstig sein werden, ist nicht Freiheit«.38 Freiheit von ist auch eine Orientierung, die sich abkoppeln kann von der Anerkennung der Umgebung. Wie schon John Stuart Mill den Exzentriker als Protagonisten der Freiheit lobt, so ist bei Hayek der nicht unmittelbar auf Anerkennung Zielende potentiell derjenige, der neue Ideen und neue Wege ermöglicht: »Eine Welt, in der die Mehrheit alles verhindern könnte, was ihr nicht gefällt, würde eine stillstehende und wahrscheinlich bald eine absteigende Welt sein.«39 Hinter dem Lob der Freiheit von steht bei Hayek keine Ablehnung anderer Werte, sondern eine implizite Evolutionstheorie, die normativ auf einem Konsequentialismus basiert: Die Freiheitsorientierung ermöglicht in the long run eine »bessere« Entwicklung als ihre Vernachlässigung. Hayek ist daher kein Deontologe der Freiheit und daher vielleicht auch weniger ideologisch als oft unterstellt, sondern ein Quasi-Empiriker, der sich allerdings wenig Mühe gibt, seine Einschätzung zum Spannungsverhältnis von staatlicher Gerechtigkeitsorientierung und Freiheit auch detailliert zu belegen. Ein Anwendungsbeispiel für Hayek als Ideengeber: William Easterlys »Tyrannei der Experten« William Easterly setzt sich auf den Spuren von Hayek mit den Illusionen staatsorientierter Entwicklungshilfe auseinander. Er diagnostiziert eine Tyrannei der Experten, die die Freiheit der Menschen in armen Ländern ignoriert und diese in einen Passivitätssog treibt.40 Damit spricht er sich gegen die verbreitete Standardauffassung aus, die nicht zuletzt von Jeffrey D. Sachs formuliert worden ist und die
38 Ebd., S. 42. Weitere Erläuterungen: »Freiheit bedeutet notwendig, dass vieles getan werden wird, das uns nicht gefällt. Unser Vertrauen auf die Freiheit beruht nicht auf den voraussehbaren Ergebnissen in bestimmten Umständen, sondern auf dem Glauben, dass sie im ganzen mehr Kräfte zum Guten als zum Schlechten auslösen wird« (S. 42). Vgl. die sozialpsychologische Einschätzung: »Weil die Möglichkeit, sich sein Leben selbst aufzubauen, auch eine unaufhörliche Aufgabe bedeutet, eine Disziplin, die der Mensch sich selbst auferlegen muss, wenn er seine Ziele erreichen will, haben zweifellos viele Menschen Angst vor der Freiheit« (S. 94). 39 Ebd., S. 167. 40 W. Easterly: Tyranny of Experts. Vgl. D. Moyo: Dead Aid.
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die ökonomische Hilfe von außen für den Schlüssel des Entwicklungserfolges ansieht. Wie andere Ökonomen die Überwindung der extremen Armut in den reichen und sogar den mittelreichen Ländern der Welt prognostizieren, so gilt für Sachs, »dass sich die extreme Armut beenden lässt, und zwar nicht erst in der Generation unserer Enkel, sondern in unserer eigenen. Der Wohlstand der reichen Welt, die geballte Macht unseres heutigen Wissens und die Tatsache, dass immer weniger Länder weltweit auf unsere Hilfe angewiesen sind, um der Armut zu entrinnen, rücken die Beendigung der Armut bis zum Jahr 2025 in den Bereich des Machbaren.«41 Um der Armutsfalle zu entgehen, empfiehlt Sachs eine hohe Investition von außen, um die Negativspirale in eine Positivspirale zu verwandeln. Easterley neigt in Kritik an Sachs und Co. angeregt von Hayek zu einer libertären Übersteuerung, wonach Menschen jeweils nach ihren je eigenen Lösungen suchen müssen und Hilfe von außen immer mehr schadet als nützt. Gibt es nicht aber doch im gesellschaftlichen ebenso wie im individuellen Leben Situationen, in denen die gelingende Hilfe von außen ein willkommenes Geschenk sein kann? Allerdings gilt auch: Geschenke sind oft dann wenig beliebt, wenn sie mehr die Wertpräferenzen des Schenkenden als des Beschenkten spiegeln. Die Konstellation von Sachs und Easterley kann Anregungen geben auch zum Umgang mit Hayek, der besonders in der Rezeption zum Ideologen werden kann und die offenen Anregungen durch einen Puer robustus nicht mehr zur Geltung bringt. Ein Hayek in Opposition zum Mainstream kann als anregend gelten; einer, der zur Herrschaft kommt, entwickelt die Übel anderer intellektueller Monopolisten. Daher sind Positionen attraktiv, die bereit sind, überpositionell zu lernen und Gedanken aufzugreifen. In der Frage der Hilfe für die unterste Milliarde der Welt ist Paul Collier ein solcher Denker: »Easterly macht sich zu Recht über die Illusionen der Entwicklungshilfelobby lustig. Aber genau wie Sachs den Nutzen der Entwicklungshilfe übertreibt, übertreibt Easterly ihre Nachteile und vernachlässigt das Spektrum anderer Maßnahmen. Wir sind nicht so ohnmächtig und unwissend, wie Easterly zu glauben scheint.«42 Da die Welt nicht zwangsläufig von selbst besser wird, bleibt die Aufgabe mit und gegen Hayek, die spontane Ordnung nicht zu glorifizieren, sondern mit Teilwissen und letztlich regelbasiert mit sparsamen Interventionen voranzukommen. Auch für die Wirksamkeit von Hilfe ist das Schlagwort aus der Medizin einschlägig: empirische Evidenzbasierung. Was hilft, lässt sich nicht einfach aus allgemeinen Weltanschauungen, politischen Einstellungen und ökonomischen Perspektiven deduzieren. Vielmehr ist es schlicht eine empirische Frage, was wirklich hilft. Wenn man der Praxis der Entwicklungshilfe gerecht werden will, muss man die Ebene der schlechten Verallgemeinerung verlassen und
41 J.D. Sachs: Ende der Armut, S. 16. 42 P. Collier: Milliarde, S. 236.
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sich einlassen auf Konstellationen und Verschiedenheiten. Auch arme Menschen folgen in ihren Motivationen rationalen und emotionalen Aspekten – wie alle anderen Menschen auch: »The poor seem to be trapped by the same kinds of problems that afflict the rest of us – lack of information, weak beliefs, and procrastination among them.«43 Eine ähnliche Nüchternheit mag auch bei der Einschätzung von Markt- und Staatsversagen gleichermaßen helfen: Beides kommt vor und es bleibt eine offene Frage, wo genau die größeren Gefahren lauern. Eine richtige Orientierung kann in ihrer ideologischen Ausgestaltung zum Auftakt des Übels werden. Thomä hat diesen Gedanken so formuliert: »Die Wahrheit liegt an der Schwelle.«44 Aus der richtigen Teilwahrheit wird Falsches, wenn sie auf die schiefe Ebene zur Alleinherrschaft kommt und so die die Schwebe und Schwelle benötigende Wahrheitssuche in ihr Gegenteil verkehrt.45 Die Ambivalenz von Hayek als puer robustus Störenfriede können als Außenseiter und Teil einer Minderheit unabhängig von der Links-Rechts-Differenz des Politischen für die gesellschaftliche Entwicklung hilfreich sein, weil sie Nachdenk- und Aktionsanlässe schaffen, die ohne sie im Mainstream untergehen. Sobald sie aber gewonnen und die Mehrheit erobert haben, wird es meist gefährlich: Das Robuste verhilft zur Rebellion aus dem Vernachlässigten von unten heraus, wird aber von oben leicht zur Rücksichtslosigkeit – allemal wenn der im Einzelfall so willkommene Störenfried zum Ideologen mutiert. Dies ist ganz speziell das Dilemma des nomozentrischen puer robustus, weil dieser gerade danach strebt, die Regeln und Gesetze zu ändern. In seiner Einseitigkeit belebt der Störenfried die Auseinandersetzung über die gesellschaftlichen Konflikte – zur Herrschaft gelangt stellt er sie gerne still. Ein Dilemma, das sich auch aus Hayeks Denken ergibt. Seine ungewöhnlichen Herangehensweisen – intellektuell frisch und in ihrer Neuheit erschlossen – eröffnen reizvolle Perspektiven, die von vornherein abzulehnen, ideologisch ist. Doch als Sonntagsrede etabliert dreht sich die Angelegenheit schnell: Dann verhärtet sich nicht nur Hayek selbst, sondern vor allem Leute, die sich auf ihn berufen. Außerdem ist es nicht ganz ausgeschlossen, dass die intellektuelle Attraktion der Grenzüberschreitung koaliert mit der Selbsterlaubnis zur moralischen Grenzverletzung, die in letzter Instanz den Störenfried in seiner egozentrischen Form begünstigt.46 Daher wird die Lektüre von Hayek – trotz aller
43 A.V. Banerjee, E. Duflo: Poor Economics, S. 68. 44 D. Thomä: Puer Robustus, S. 536. Kursivsetzung im Original. 45 Siehe als Beispiel abwägender Ökonomie R.G. Rajan, L. Zingales: Saving Capitalism. Vgl. L. Zingales: Capitalism for the People. 46 So auch D. Thomä: Puer robustus, S. 493.
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feinnervigen Gedanken dieses Autors – den Egozentriker gerade in den Führungsetagen ökonomischer Monopolisten wohl eher in seinem Tun bestärken als zur Umkehr einladen. Dieses Problem würde Hayek vermutlich mit Verweis auf das von ihm geschätzte Motto versuchen, lakonisch aufzulösen: »Wir suchen nicht nach Vollkommenheit, da wir nur zu gut wissen, dass diese in menschlichen Dingen nicht zu finden ist, sondern nach jener Verfassung, die von den geringsten oder entschuldbarsten Unzulänglichkeiten begleitet ist.«47
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47 Zitat von Algernon Sidney vorangestellt in F.A. Hayek: Verfassung der Freiheit, S. V.
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von Hayek, Friedrich A.: Law, Legislation and Liberty. A New Statement of the Liberal Principles of Justice and Political Economy [zuerst in drei Bänden 1973, 1976, 1979], Milton Park/Abingdon 2013. von Hayek, Friedrich A.: Entnationalisierung des Geldes. Eine Analyse der Theorie und Praxis konkurrierender Umlaufmittel, Tübingen 1977. Lavoie, Don: Rivalry and central planning. The socialist calculation debate reconsidered, Cambridge u.a. 1985. Mayer, Thomas: Austrian Economics, Money and Finance, London 2018. Moyo, Dambisa: Dead Aid. Warum Entwicklungshilfe nicht funktioniert und was Afrika besser machen kann, Berlin 2011. Rajan, Raghuram G./ Zingales, Luigi: Saving Capitalism from the Capitalists: Unleashing the Power of Financial Markets to Create Wealth and Spread Opportunity, Princeton 2004. Rheingold, Howard: Smart Mobs. The Next Social Revolution. Transforming Cultures and Communities in the Age of Instant Access, Cambridge 2002. Sachs, Jeffrey D.: Das Ende der Armut. Ein ökonomisches Programm für eine gerechtere Welt, München 2005. Thomä, Dieter: Puer robustus. Eine Philosophie des Störenfrieds, Berlin 2016. Zingales, Luigi: A Capitalism for the People: Recapturing the Lost Genius of American Prosperity, New York 2002.
Im Schatten der Verfassung. Die Krise des Liberalismus1 Christoph Menke
Der Liberalismus ist eine Theorie und Praxis der öffentlichen Ordnung, die das Gemeinwesen auf einen ganz neuen und anderen Grund stellt als alle Ordnungen, die ihm geschichtlich vorhergehen (und auch als alle, die seine Herrschaft zu brechen versucht haben). Dieser Grund ist die Freiheit des Einzelnen. Der Liberalismus geht von der individuellen Freiheit aus: Er geht davon aus, dass jeder Einzelne frei ist, dass jeder das Vermögen der Freiheit hat. Die Freiheit ist für Hobbes (den ersten Liberalen) eine »natürliche« Eigenschaft; das Recht auf Freiheit ist nach Kant daher »angeboren«; die Personen, mit denen die liberale Ordnung rechnet, »besitzen«, so Rawls, das »Vermögen«, sich selbst zu führen.2 Davon geht die liberale Ordnung aus. Dass es so ist, dass der Einzelne das Vermögen der Freiheit besitzt – dass die Freiheit ein Vermögen ist und dass jeder Einzelne dies besitzt –, ist für sie ein Faktum, eine Positivität (der Liberalismus ist ein Positivismus oder ein »Naturalismus«3). Der Grund des Liberalismus ist kein Zweck oder Gut, der oder das nur durch die Politik verwirklicht werden könnte, sondern eine Tatsache, die er voraussetzt und sicherstellen will. Sicherung und Gewährleistung der Freiheit, die – angeblich – jeder schon hat, ist der Sinn der liberalen Ordnung.4
1
Der Text wurde in einer ersten Fassung auf Einladung von Klaus Scherpe und Joseph Vogl im Rahmen der Mosse-Lectures 2016 in Berlin vorgetragen.
2
T. Hobbes: Leviathan, Kap. 14; I. Kant: Metaphysik, S. 345 (AB 45); J. Rawls: Gerechtigkeit, S. 44.
3 4
M. Foucault: Gouvernementalität II, S. 94. »Those who have freedoms like equality, liberty, privacy and speech socially keep them legally, free of government intrusion. No one who does not already have them socially is granted them legally.« (C. MacKinnon, Feminist Theory, S. 163.)
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Die im Folgenden skizzierte Kritik des Liberalismus will zeigen, dass sich die liberale Ordnung durch die Voraussetzung, die sie macht, selbst unterläuft. Denn was die liberale Ordnung als Tatsache voraussetzt, ist in Wahrheit ein praktischer Vollzug; was die liberale Ordnung als von selbst gegeben annimmt, muss in Wahrheit getan werden. Es ist nicht positiv da, sondern prozessual, ja praktisch (und daher in einem im Folgenden zu erläuternden Sinn »politisch«). Was die liberale Ordnung also in Wahrheit voraussetzt, ist nicht eine Tatsache, sondern ein Tun, eine Praxis, die nur so existiert, dass sie sich reproduziert: Die Freiheit, die die liberale Ordnung voraussetzt, ist allererst hergestellt. Davon aber sieht die liberale Ordnung ab. Sie blendet ebenso die Bedingungen wie die spezifische Tätigkeitsform der Freiheitsproduktion aus. Das tut die liberale Ordnung jedoch nicht ohne Grund. Die liberale Ordnung muss ausblenden, wie die Freiheit verfertigt wird, die sie als eine Tatsache voraussetzen zu können meint. Denn die Verfertigung der Freiheit, die die liberale Ordnung, indem sie sie voraussetzt, zu einer Tatsache verdinglicht und dadurch ausblendet, ist eine Praxis, die der liberalen Ordnung entgegengesetzt ist. Die Praxis, die die liberale Ordnung voraussetzt (und dabei zugleich verdeckt), ist selbst nicht liberal. Beide, jene Praxis und diese Ordnung, sind Formen der »Führung«5, der Machtausübung oder Regierung; sie sind Formen der Politik. Die liberale Regierung operiert unter Voraussetzung der Freiheit. Was sie damit voraussetzt, ist aber nichts anderes als die Verfertigung der Freiheit. Diese Freiheitsverfertigung muss jedoch durch eine Weise der Regierung geschehen, die selbst nicht liberal ist: Die liberale Weise der Regierung setzt nichtliberale Weisen der Regierung voraus. Die liberale Ordnung beruht auf ihrem Gegenteil. Sie produziert und reproduziert in ihrem Bestehen – in ihrem Voraussetzen der Freiheit – eine Weise der Regierung, Führung, Machtausübung oder Politik, die ihr widerspricht. Die Krise ist der Moment, in dem diese Abhängigkeit der liberalen Ordnung hervortritt und der nichtliberale Untergrund der liberalen Ordnung sich geltend macht.6
5
M. Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I, S. 181ff. Dazu T. Lemke, Vernunft, S. 143ff.
6
Die Krise ist die Situation, in der sich zeigt, dass das, was als so selbstverständlich gegeben vorausgesetzt wurde, dass es keines Nachdenkens und keiner Aufmerksamkeit bedurfte, in Wahrheit die Form des Handelns hatte. In der Krise erfolgt daher eine ontologische Klärung. Es erweist sich, dass das scheinbar Gegebene in Wahrheit gemacht wird; dass es keine Tatsache ist, die wir voraussetzen können, sondern eine Tat, die wir vollziehen. Die Krise des Liberalismus ist der Moment, in dem wir erfahren, dass wir etwas ohne es zu wissen getan haben. Dadurch, dass wir wissen, dass wir es getan haben, wissen wir aber noch nicht, wie wir es anders machen können.
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Die Krise des Liberalismus treibt die Einsicht hervor, dass die liberale Ordnung eine nichtliberale Praxis voraussetzt und daher, in ihrem Operieren, immer schon hervorbringt. Im Folgenden soll deutlich werden, dass diese kritische Feststellung eine schlechte und eine gute Bedeutung hat, so wie auch der Ausdruck »nichtliberal« eine schlechte und eine gute Bedeutung hat. Dabei gehe ich in vier Schritten vor. Der erste Schritt erläutert die Logik der Voraussetzung, die die liberale Ordnung definiert. Der zweite Schritt formuliert die soeben bereits genannte These. Sie lautet, dass die liberale Politik ihr eigenes, nichtliberales Gegenteil hervorbringt. Im dritten und vierten Schritt wird diese These für zwei verschiedene Felder durchgeführt. Das führt auf die doppelte Bedeutung der Kritik und damit der Krise des Liberalismus. Denn die These, dass die liberale Politik durch ihre Logik der Voraussetzung ihr eigenes nichtliberales Gegenteil hervorbringt, hat zugleich einen ruinösen, zerstörerischen und einen transformativen, verändernden Sinn. 1. Die Voraussetzung der Freiheit Die Freiheitsvoraussetzung ist der selbstverständliche Ausgangspunkt des Liberalismus. Indem er die Freiheit als Tatsache voraussetzt, blendet der Liberalismus daher nicht nur aus, wie die Freiheit verfertigt wird; er blendet zugleich aus, dass er sie sich voraussetzt. Er blendet sein eigenes Voraussetzen aus. Er fragt sich nicht, was er tut, wenn er von der Freiheit ausgeht. Er sieht sein Voraussetzen – weil er es nur für die Anerkennung einer Tatsache hält – nicht als sein eigenes Tun. Genau darauf, auf die Voraussetzung des Liberalismus als seinen konstitutiven Akt des Voraussetzens, hat Ernst-Wolfgang Böckenförde in einem berühmten, in Deutschland unabsehbar oft zitierten Text die Aufmerksamkeit gelenkt. Die beiden entscheidenden (und in politischen Sonntagsreden aller Art gerne angeführten) Sätze darin lauten: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er um der Freiheit willen eingegangen ist.«7 Diese Feststellung ist als eine Apologie des Liberalismus verstanden worden. Weshalb und in welchem Sinn sie dies ist und wie sie dabei
7
E.-W. Böckenförde: Entstehung des Staates, S. 75-94; im Folgenden zitiert nach E.-W. Böckenförde: Recht, Staat, Freiheit, S. 92-114, hier: S. 112. Der erste Satz, der als einziger in dem Text kursiv gedruckt ist, wird auch als Böckenförde-Theorem, -Diktum, -Doktrin oder -Dilemma bezeichnet. Zur Rezeptionsgeschichte siehe F. Dirsch, »...lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Lesarten und Interpretationsprobleme der Böckenförde-Doktrin als eines kanonisierten Theorems der deutschen Staatsrechtslehre«, S. 123-141. – Für eine erste Fassung des im Folgenden entwickelten Arguments siehe C. Menke: »Am Tag der Krise«, S. 49-57.
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argumentiert, läßt sich verstehen, wenn man die beiden Sätze im engen Zusammenhang liest. Böckenfördes erster Satz beschreibt den liberalen Staat als abhängig von Voraussetzungen. Der liberale Staat kann sich nicht selbst setzen, er kann sich nicht aus Eigenem erhalten. Ohne weitere Bestimmung ist das eine Trivialität. 8 Denn von nicht selbst gesetzten Voraussetzungen abzuhängen ist die Definition alles Endlichen, also Sterblichen. (Nur Gott kann alle seine Voraussetzungen selbst garantieren; nur er ist sein eigener Grund. Der Staat ist aber, nach Hobbes Definition, »der sterbliche Gott« oder, nach Hegels Bestimmung, der »Gang Gottes in der Welt«.) Erst durch Böckenfördes zweiten Satz erhält diese Feststellung der Voraussetzungsabhängigkeit des liberalen Staats einen theoretischen Gehalt. Denn dieser Satz beschreibt den scheinbar trivialen Umstand als das Ergebnis eines riskanten Einsatzes. Er nennt diese Voraussetzungsabhängigkeit »das große Wagnis, das [der liberale Staat] um der Freiheit willen eingegangen ist.« Böckenfördes Theorem präsentiert den liberalen Staat damit als Resultat und zugleich Agenten eines Akts freier Selbstbegrenzung. Nur deshalb ist das Böckenförde-Theorem eine Apologie des liberalen Staates. Die Abhängigkeit des liberalen Staates von Voraussetzungen – so erklärt Böckenförde dem von Carl Schmitt beeindruckten und von dessen Schüler Ernst Forsthoff versammelten Publikum im Kloster Ebrach, vor dem er seine Überlegungen zuerst präsentiert hat – ist nicht, wie es scheinen mag, von außen auferlegt. Der liberale Staat entspricht nach Böckenförde also nicht dem (von Schmitt zeitlebens ebenso reproduzierten wie kritisierten) liberalen Selbstverständnis, nach dem zuerst die bürgerliche Gesellschaft da war und dann auf dieser gesellschaftlichen Grundlage und unter ihrer Voraussetzung ein Staat errichtet wurde, der keine andere Aufgabe hat, als die Freiheit der Einzelnen zu sichern.9 Sondern nach Böckenförde macht sich der liberale Staat selbst aus freier Entscheidung abhängig von der Freiheit des Einzelnen als seiner Voraussetzung. Dass der liberale Staat frei ist,
8
Die Feststellung des ersten Satzes ist jedoch dann nicht trivial, wenn man sie so liest, dass sie die Existenz- oder Seinsweise des Staates als Leben bestimmt – dass Böckenförde also unterstreichen will, dass »der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt« und deshalb in Abhängigkeit von Voraussetzungen steht, deren Vorliegen er selbst nicht sicherstellen kann: weil der liberale Staat selbst wie oder als ein Lebewesen existiert. So verstanden, bestimmt der erste Satz den liberalen Staat als biopolitisch in dem grundlegenden Sinn, dass er eine politische Form der Regierung ist, in der es nicht nur um das Leben geht, sondern die selbst die Weise des Lebens angenommen hat; eine politische Form also, die nicht mehr über das Leben, das sie reguliert erhoben (oder erhaben) ist, sondern wie das Leben, das sie reguliert, abhängig, voraussetzungsvoll, endlich, sterblich ist. Siehe Maria Muhle: Biopolitik, S. 261ff.
9
Siehe J. Habermas: Naturrecht und Revolution, S. 89-127.
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gilt nach dem Böckenförde-Theorem demnach in einem zweifachen Sinn. Der liberale Staat setzt sich aus eigener Freiheit die Freiheit der Einzelnen voraus. Böckenfördes Apologie des liberalen Staates besteht daher in einer Beschreibung seiner paradoxen Subjektposition. Der Staat wird zu einer von vorgegebenen Voraussetzungen abhängigen, ebenso lebendigen wie sterblichen politischen Form, indem er sich selbst abhängig macht; seine Abhängigkeit ist selbstgemacht. Aber dies nicht durch einen Fehler, durch einen Fehlgriff oder aus Schwäche, sondern aus der bewußten Entscheidung für die Freiheit der Einzelnen, die nur dadurch und so möglich ist, dass sie für den Staat eine Voraussetzung ist, der gegenüber er nur nachrangig, sichernd und gewährleistend, tätig sein kann. Eben dadurch dass er diese Vorgängigkeit der Freiheit und seine eigene Nachrangigkeit anerkennt, gewinnt der Staat einen »freiheitlichen« Charakter: Der liberale Staat ist der Staat, für den die Freiheit der Einzelnen eine Voraussetzung ist, von der er abhängt. Aber zugleich ist es der Staat selbst, der diese Voraussetzung macht – der sich die Freiheit der Einzelnen voraus setzt. In der liberalen Voraussetzung der Freiheit steckt ein unauflösbarer Doppelsinn: Die Freiheit des Einzelnen ist die Setzung und zugleich das Voraus des Staates. Mehr noch: Die Freiheit des Einzelnen ist das Voraus des Staates – das, was dem Staat vorausgeht – nur als und durch dessen eigene Setzung. »Sie wird, im doppelten Sinn des Wortes, vom Staat frei-gegeben.«10 Er hat sie als das eingesetzt, das ihm vorausgesetzt und daher eine Tatsache ist, die er nicht garantieren kann, sondern von der er abhängt. Die Abhängigkeit des liberalen Staates von der Freiheit der Einzelnen ist seine eigene Tat. Das ist der Kern des sogenannten Böckenförde-Theorems. Es definiert den liberalen Staat durch eine Doppelbewegung, die unauflösbar gegeneinander gerichtet ist (deshalb figuriert dieses Theorem auch zurecht unter dem Titel BöckenfördeDilemma). Denn wenn die Freiheit der Einzelnen einerseits die Voraussetzung des Staates ist, ist sie durch den Staat hervorgebracht: Es gibt sie nicht von selbst oder von Natur aus; die individuelle Freiheit ist ein politischer Effekt. Aber zugleich ist die individuelle Freiheit dies nur, indem der Staat – der dadurch zum liberalen wird – sie sich als das voraussetzt, das er nicht zu produzieren und regulieren vermag. Das definiert die spezifische, paradoxe Aktivitätsform des liberalen Staates: Er bringt hervor, indem er nicht hervorbringt; seine Macht ist seine Ohnmacht oder die staatlich-liberale Macht ist die Macht zur Ohnmacht.11 Der unmittelbare Adressat (und Gegner) von Böckenfördes Argument ist Carl Schmitts Deutung des Liberalismus, die alle seiner Zuhörer gekannt und die meisten geteilt haben werden. Nach dieser Deutung spielt sich im Liberalismus die
10 E.-W. Böckenförde: Entstehung des Staates, S. 108. 11 Darin ähnelt Böckenfördes Argument dem von Marx in »Zur Judenfrage« (auf das er sich zustimmend bezieht: S. 108). Siehe dazu R. Will: Himmel und Erde.
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»Tragödie des Staates« (Helmut Willke) ab. Der liberale Staat ist für Schmitt nichts anderes als der sterbende Staat. Der liberale Staat ist das Sterben, ja die aktive, strategische Vergiftung des Staates; er pflanzt dem Staat den »Todeskeim«12 ein. Böckenfördes Umdeutung der liberalen Tragödie des Staates ist radikal. Sie erfolgt aus dem Geist der dialektischen Tragödientheorie des deutschen Idealismus, die an dem tragischen Helden (vor allem des Sophokles) nicht der Untergang, sondern die Freiheit fasziniert hat: die Freiheit nicht nur, die zu ihrem Untergang führt, sondern die sie in ihrem Untergang bewahren, ja allererst erlangen. Freiheit im Untergang: das ist die Dialektik der Tragödie, die Böckenförde im liberalen Staat am Werk sieht. Der liberale Staat ist der freie Vollzug des Untergangs eines Staates, der sich aus sich selbst heraus setzen und erhalten zu können behauptete; er ist die politische Affirmation der Begrenzung der Macht des Politischen. Daraus entsteht er, und nur so besteht er. Der zweite Satz des Böckenförde-Theorems nennt dies »das große Wagnis, das [der liberale Staat] um der Freiheit willen eingegangen ist.« Das ist gegen Schmitts pathologisierende Deutung des Liberalismus dessen Apologie; es deutet den Liberalismus nicht als Ausdruck einer Schwäche, sondern als selbstbewußten Vollzug eines Aktes. Aber zugleich stellt Böckenförde damit die Frage, ob das Wagnis, das der liberale Staat eingeht, überhaupt aufgehen kann. Der liberale Staat geht eine gefährliche Wette ein: Er setzt darauf, dass die Voraussetzung, von der er sich durch die Selbstbegrenzung seiner Macht abhängig macht – die Voraussetzung der Freiheit der Einzelnen –, auch tatsächlich besteht. 2. Die Krise der liberalen Regierung Böckenfördes entscheidende Einsicht lautet, dass die Vorgegebenheit der Freiheit, von der der liberale Staat ausgeht, seine eigene Voraussetzung ist: Der liberale Staat setzt sich die Freiheit des Einzelnen voraus. Der liberale Staat ist in seinem Bezug auf die vorgegebene Freiheit selbst aktiv. Die Freiheit ist ihm nicht vorgegeben, sondern er gibt sie sich vor; die Vorgegebenheit der Freiheit ist seine Tat. Das bestimmt, wie der liberale Staat tätig ist. Er kann nur so tätig sein, dass er die Vorgegebenheit der Freiheit (re-)produziert. Darin unterscheidet sich die Tätigkeitsform des liberalen Staates grundlegend von der seiner Vorgänger. Es bestimmt, wie der liberale Staat regiert. Die These, die im Folgenden skizziert werden soll, lautet, dass das liberale Regieren von einer Logik der Gegenwendigkeit bestimmt ist. Die Aktivität des liberalen Regierens spaltet sich in sich selbst, sie wendet sich gegen sich selbst. Sie bringt aus sich selbst ihr Gegenteil hervor: Das liberale Regieren bringt ein anderes, in
12 C. Schmitt: Leviathan, S. 86. Vgl. H. Willke: Ironie, Kap. 1.
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seiner Form nicht-, ja antiliberales Regieren hervor. Die These besagt mithin: Die paradoxe Aktivität der Voraussetzung einer Gegebenheit oder der Setzung einer Vorgegebenheit, die nach Böckenfördes Einsicht die Logik des liberalen Staates definiert, bringt das Paradox der liberalen Regierung hervor, die in ihrem Vollzug notwendig nichtliberal verfahren muss. Das Paradox der liberalen Regierung ist: Liberales Regieren bringt nichtliberales Regieren hervor. Zum Verständnis dieses Paradoxes des liberalen Regierens bedarf es zunächst einer genaueren Bestimmung seiner Form. Wir haben gesehen: Die Grundbestimmung der liberalen Regierungsaktivität besteht in der Voraussetzung der Freiheit; das liberale Regieren verfährt so, dass es die Freiheit des Einzelnen voraussetzt. Die Freiheit des Einzelnen existiert für und durch den liberalen Staat daher so, dass er sie anerkennt oder dass sie gilt. Die Gegebenheit der Freiheit für den Staat ist eine Kategorie der Geltung.13 Sie ist also eine rechtliche Kategorie. Die Voraussetzung der individuellen Freiheit durch den Staat ist die Anerkennung ihrer Berechtigung. Das geschieht in der (neuen, spezifisch modernen) Form der individuellen oder subjektiven Rechte. So, in dieser Form, setzt sich der liberale Staat die Freiheit voraus: indem er Rechte erklärt, anwendet und durchsetzt. Das liberale Regieren ist Regieren in der Form – das heißt: vermittels, durch das Medium – individueller oder subjektiver Rechte. Die Festlegung des Regierens auf diese Form erfolgt durch die liberale Verfassung. Die liberale Verfassung legt fest, dass der Staat in der Form der Rechte regiert. Diese Festlegung bedeutet zum einen, dass die liberale Regierung normativ definiert ist. Die Formbestimmung der Rechte, die die liberale Verfassung etabliert, hat einen normativen Gehalt. »Rechte« heißt: gleiche Rechte auf Freiheit. Dass die Regierungstätigkeit des liberalen Staates in der Form der Rechte erfolgt, heißt daher, dass sie auf den Zweck gerichtet ist, die Gleichheit der Freiheit eines jeden zu verwirklichen. Darin hat sie ihren Grund: Der Grund der Regierungstätigkeit des liberalen Staates ist die Gleichheit und Freiheit der Einzelnen. Es gibt in dem Staat, der durch die liberale Verfassung hervorgebracht wird, keine Staatszwecke oder ziele, die unabhängig von seiner normativen Bestimmung durch die Gleichheit der Freiheit der Einzelnen Gültigkeit haben (und daher gegen diese normative Bestimmung geltend gemacht werden könnten). Der Begriff der liberalen Regierung enthält, dass alle staatliche Machtausübung als die Verwirklichung der gleichen Freiheit der Einzelnen zu verstehen und vollziehen ist. Der Begriff der liberalen Regierung bindet daher die staatliche Macht nicht nur an einen bestimmten normativen Gehalt; er definiert damit zugleich die staatliche Macht als normative (oder »nou-
13 Zu diesem Begriff der Geltung als Grundbegriff der modernen Figur der Rechte siehe C. Menke: Rechte, S. 204-7. Dort auch ausführlicher zu dem nachfolgenden Argument; siehe v.a. Kap. 6 u. 9.
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menale«) Macht.14 Die Macht, die der liberale Staat ausübt, ist nichts anderes als die Macht seiner Normativität. Zugleich aber begrenzt die Festlegung der liberalen Regierung durch die Form der Rechte ihre Normativität und damit ihre Macht. Nichts anderes besagt die These, dass sie unter der Voraussetzung der Freiheit der Einzelnen operiert. Die Normativität der liberalen Regierungsmacht besteht darin, diese Freiheit, die ihr vorgegeben ist (oder die sie sich durch die Erklärung der Rechte selbst vorgegeben hat) für alle gleichermaßen zu schützen, zu befördern und zu ermöglichen. Die rechtliche Formbestimmung der liberalen Regierung schließt es aber aus – sie erlaubt es ihr nicht –, die Freiheit der Einzelnen selbst zu beurteilen, zu kritisieren, hervorzubringen und (um-)zugestalten.15 Das führte »über die Schwelle von 1789 zurück« und würde die »Entzweiung« (wie Böckenförde mit Joachim Ritter sagt16) zurücknehmen, die die Moderne ausmacht, das heißt: die sie liberal macht. Die liberale Regierung ist durch und durch normative Macht, und zugleich ist sie, durch ihre Form, die Macht der Entnormativierung. Sie entzieht die Gestalt und Gestaltung der Freiheit der Einzelnen dem normativen Zugriff: Sie naturalisiert sie. Damit läßt sich auch das Paradox der liberalen Regierung genauer bestimmen. Dieses Paradox besteht – so lautete die These – darin, dass die liberale Regierung in ihrem Vollzug notwendig nichtliberal verfahren muss. Die liberale Weise der Regierung ist darauf festgelegt, dass sie sich in der Form gleicher individueller Rechte vollzieht; in dieser normativen und formativen Festlegung der Regierungsweise besteht die Rolle der Verfassung im liberalen Staat. Dass die liberale Regierung in ihrem Vollzug notwendig nichtliberal verfahren muss, bedeutet daher, dass sich »im Schatten grundrechtlich geschützter Individualfreiheiten«, die die Verfassung vorgibt17, immer schon ein ganz anderes Regieren vollzieht, das nicht dieser Form gehorcht, das sich der Form gleicher individueller Rechte entzieht, das außerhalb und gegen sie erfolgt – mithin eine Regierungstätigkeit und Machtausübung, die nicht-, ja antiliberal ist. Regieren durch gleiche Rechte schlägt in ein Regieren ohne und gegen gleiche Rechte um. Weil es aber im liberalen Modell allein die Bindung an die Form der Rechte ist, die die Normativität der politischen Macht ausmacht – die die politische Macht normativ macht –, ist das Regieren ohne Rechte, das die
14 Siehe R. Forst: Normativität und Macht., Kap. 2. 15 Der liberale Staat gestaltet die Freiheit der Einzelnen nicht, aber er deutet oder bestimmt sie. Denn ein Recht auf Freiheit »überhaupt« gibt es nicht. Alle Rechte sind bestimmte Rechte, Rechte auf diese oder jene Freiheit – der Meinung, des Gewissens, der Wahl, des Vertragsschlusses usw. Diese Einteilungen sind aber keine normativen Entscheidungen. Es sind Feststellungen über die Tatsachen des gesellschaftlichen Lebens. 16 E.-W. Böckenförde: Entstehung des Staates, S. 113. 17 G. Teubner: Verfassungsfragmente, S. 19.
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liberale Staatstätigkeit »im Schatten« ihrer Verfassung hervorbringt, zugleich notwendig nicht-normativ. Es ist ein Neben- und Gegeneffekt der liberalen Regierung im Namen gleicher individueller Rechte, aber es gründet nicht in deren Normativität. Es ist ein Regieren ohne Normativität: ein Regieren, das nicht in der Form der Rechte erfolgt und daher nicht an die Norm der Gleichheit und Freiheit gebunden ist. Folgt man weiterhin Böckenfördes Argument, dann ist der Grund für diesen Umschlag in ein nicht-liberales Regieren nichts anderes als die Logik der Voraussetzung, die den liberalen Staat definiert. Denn indem es sich die Freiheit als gegeben voraussetzt, bringt das liberale Regieren zugleich einen Bedarf an »inneren Regulierungskräften«18 innerhalb der damit seinen eigenen Zugriff entzogenen Sphäre der Freiheit hervor. Die liberale Regierung, die die individuelle Freiheit berechtigt, produziert dadurch einen weiteren Regierungsbedarf, den sie selbst nicht decken kann. Denn die Freiheiten der Einzelnen, die das liberale Regieren sich voraussetzt, existieren nur in ihrem Zusammenbestehen und –wirken; die individuelle Freiheit existiert nur sozial. Indem der liberale Staat sich die Freiheit der Einzelnen voraussetzt, setzt er also nichts anderes als die Interaktionsformen und Sphären der bürgerlichen Gesellschaft voraus. Diese wiederum bestehen aber nicht durch sich selbst. Sie bedürfen, so Böckenförde im Anschluß vor allem an die Einsichten im deutschen Neo- oder Ordoliberalismus19, »innerer Regulierungskräfte«. Sie bedürfen der Organisation, also der Politik. Die liberale Ermächtigung der individuellen Freiheit ist daher nicht das Ende des Regierens, sondern der Anfang eines anderen Regierens. Weil das liberale Regieren in der Form der Rechte durch die Freigabe der Einzelnen zugleich Effekte der Regellosigkeit produziert, die durch die Erfindung neuer, weiterer Rechte nicht behoben werden können, sondern durch
18 E.-W. Böckenförde: Entstehung des Staates, S. 112. 19 Siehe dazu den Überblick in G. Teubner: Verfassungsfragmente, Kap. 2. Das Argument geht zurück auf Hegels Verdoppelung des Politischen in »Staat« und »Polizei«. Die Logik dieser Verdoppelung ist kontrovers. In der gegenwärtigen Governance-Diskussion erscheint es zumeist so, als werde der Staat – das ist die Gestalt normativer Macht – durch die Polizei ersetzt oder verdrängt (siehe A. Vasilache: Partikularisierung, S. 121-140). Dagegen steht die These, dass sie in ihrem Gegensatz eine Einheit bilden, die die Logik des Begriffs des liberalen Staates ausmacht. Diese Logik ist die des Umschlags ins Gegenteil. Sie wird auf ganz unterschiedliche Weise analysiert bei Marx, Schmitt und Agamben. Eine offene Frage ist, wie sich dazu die Untersuchungen der liberalen Gouvernementalität bei Foucault verhalten (die zwischen rechtlicher »Norm« und verschiedenen Weisen der »Normalisierung« unterscheiden; siehe den Überblick in der Einleitung der Herausgeber zu U. Bröckling/S. Krasmann/T. Lemke [Hg.]: Gouvernementalität, S. 740).
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diese neuen Rechte nur in anderer Weise reproduziert werden, muss das liberale Regieren sich gegen sich selbst wenden und ein anderes Regieren hervorbringen, das die Freiheit immanent, nicht durch ihre rechtliche Ermächtigung, also Voraussetzung regiert. Nur so kann der liberale Staat eine Antwort auf die nach Böckenförde entscheidende Frage geben. Diese Frage lautet: »Worauf stützt sich dieser Staat am Tag der Krise?«20 Und die Antwort besagt, dass die Stütze des liberalen Staats nichtliberale Formen der Regierung sind. Dabei heißt »nichtliberal«, dass es ein Regieren ist, das nicht in der Form der Rechte erfolgt. Weil es aber einzig diese Form ist, die im liberalen Paradigma die Macht der Regierung mit der Kraft der Normativität verbindet, ist das nichtliberale Regieren, das das liberale hervorbringt, ein Regieren ohne Normativität: ohne Bindung an Gleichheit und Freiheit. Es vollzieht sich im Schatten der Normativität. Diese These wird im Folgenden in zwei verschiedenen Hinsichten umrisshaft erläutert. Dabei geht es um zwei verschiedene Aufgaben der inneren Regulierung, die der liberale Staat auf nichtliberale Weise in dem Feld der Freiheit, die er sich voraussetzt, lösen muss. Die eine Aufgabe ist die Konstitutionalisierung des Sozialen (3.), die andere die Konstituierung des Subjekts (4.). Es geht um die Bildung von sozialer Ordnung und von normativer Subjektivität. Beides ist im liberalen Regieren vorausgesetzt, aber für beides gilt, dass es weder von selbst geschieht noch durch das liberale Regieren in der Form der Rechte geleistet werden kann. Es wird daher durch den liberalen Staat an andere Weisen und Mächte der Politik übergeben. Um diese Aufgaben zu erfüllen, bringt der liberale Staat in seinem Inneren einen nichtliberalen (Polizei-)Staat hervor. Das werde ich für die erste Aufgabe nur in äußerster Knappheit skizzieren und für die zweite etwas ausführlicher erläutern; darin kehre ich zu Böckenfördes Aufsatz zurück. 3. Die Konstitutionalisierung des Sozialen: die Macht der Polizei Die liberale Verfassung verpflichtet das staatliche Regieren auf die Form gleicher individueller Rechte; um deren Schutz und Gewährleistung geht es dem liberalen Staat. Dabei muss er aber zugleich voraussetzen, dass sich durch die gleiche Berechtigung jedes und jeder Einzelnen zwischen ihnen soziale Zusammenhänge ausbilden, die nach ihren je eigenen Logiken operieren. Dazu gehören Märkte für Waren ganz verschiedener Art und mit daher ganz verschiedenen Bedingungen und Regeln (für Lebensmittel, Boden, Arbeitskraft, Finanzprodukte usw.); Organisationen der öffentlichen Kommunikation und Meinung; Institutionen der Daseins-, Gesundheits- und Altersvorsorge, usw. All diese Ordnungszusammenhänge sind im liberalen Regieren vorausgesetzt; denn ohne sie gibt es die »Gesellschaft«, die es
20 E.-W. Böckenförde: Entstehung des Staates, S. 113.
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durch die Berechtigung der Einzelnen normieren will, gar nicht. Zugleich aber bleiben diese sozialen Ordnungen, ihr Entstehen und Funktionieren, in der verfassungsrechtlichen Sprache und Theoriebildung, in denen das liberale Regieren sich über sich selbst verständigt, notwendig unbegriffen. Das »staatliche Verfassungsrecht [setzt] Grundrechte ein – sie garantieren Freiheitsräume von Individuen und nicht etwa von gesellschaftlichen Einrichtungen. Die Verfasstheit gesellschaftlicher Teilbereiche wird also in gewisser Weise thematisiert, aber nur als Produkt privatrechtlich garantierter Individualfreiheit definiert und damit in die Latenz abgeschoben.«21 In der Perspektive des liberalen Regierens geht es um die gleichen Rechte der Einzelnen. Dass sich in deren Inanspruchnahme auch funktionierende soziale Zusammenhänge ausbilden, setzt es dabei voraus. Das soll sich von selbst ergeben. Es erscheint nicht als eigene Sache der liberalen Regierung. Und das kann es auch nicht, weil die liberale Regierung an die Form der Rechte gebunden und damit strukturell auf die gleiche Berechtigung der Freiheit aller Einzelnen beschränkt ist. Um diese zu sichern oder zu gewährleisten, greift sie immer wieder normierend und korrigierend in die sozialen Zusammenhänge ein.22 Aber wie diese sich konstituieren, auf welche Weise soziale Zusammenhänge, also soziale Ordnungen hervorgebracht und erhalten werden, kann die liberale Verfassung nicht thematisieren. Von ihr aus gesehen, verbleiben »gesellschaftliche Eigenverfassungen stets in einem merkwürdigen Halbdunkel.«23 Die Prozesse, die das liberale Regieren damit ausblendet, beschreibt Gunter Teubner als Prozesse der »sozialen Konstitutionalisierung«. Die jeweilige Ordnung sozialer Zusammenhänge, die sich als ihre »Verfassung« bezeichnen läßt, entsteht demnach nicht spontan und von selbst. Wie die staatliche Verfassung, so muss auch
21 G. Teubner: Verfassungsfragmente, S. 39. Die liberale Rede von Grundrechten ist gesellschaftsgeschichtlich betrachtet daher eine bloße »Übergangssemantik« (ebd.). So bereits das Argument in N. Luhmann: Subjektive Rechte, S. 45-104. 22 Das tut die liberale Regierung, wenn durch die Ausübung individueller Rechte soziale Zusammenhänge entstehen, die die Gleichheit und Freiheit, als den normativen Gehalt der Rechte, in Frage stellen. Der Mechanismus, mit dem das liberale Regieren darauf reagiert, ist das Erfinden weiterer, neuer Rechte: Auf die Erfahrung, dass die privatrechtlich gesicherte Vertragsfreiheit zu radikalen Machtasymmetrien zwischen Kapital und Arbeit führt, die in der Konsequenz freiheitsberaubend sind, reagiert die liberale Regierung mit der Einführung neuer Rechte wie der Koalitionsfreiheit und der sozialen Teilhabe, die dann – irgendwie – soziale Zusammenhänge hervorbringen, auf deren Freiheitsgefährdungen (zum Beispiel durch die Normalisierungsmacht der Sozialstaatsbürokratien) wiederum mit neuen Rechten reagiert werden muss. Dazu ausführlicher C. Menke: Rechte, Kap. 12. 23 G. Teubner: Verfassungsfragmente, S. 19.
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die gesellschaftliche vielmehr gemacht werden. Dieses Machen ist eine andere Form der Politik. In allen Feldern der differenzierten Gesellschaft – Wirtschaft, Erziehung, Medizin, Wissenschaft, Medien, Kunst usw. – gibt es soziale Ordnungszusammenhänge daher nur durch einen Prozeß ihrer »›inneren‹ Politisierung«: »Sozialverfassungen [sind] paradoxe Phänomene, sie sind nicht Bestandteil der politischen Verfassung der Gesellschaft und doch zugleich hochpolitische Angelegenheiten der Gesellschaft.«24 Übertönt durch die »unaufhörliche und lärmende Gesetzgebungstätigkeit«25 durch die das liberale Regieren mittels der Erfindung immer neuer Rechte der von ihr hervorgebrachten und ihr entgleitenden sozialen Dynamik Herr zu werden versucht, vollzieht sich demnach eine ganz andere Politik, in der die Verfassung des Sozialen hervorgebracht wird. Sie bildet den »Dritten Sektor«26, die expandierende Zone zwischen dem liberalen Verfassungsstaat mit seinen individuellen Rechten und der von ihr als Tatsache vorausgesetzten Freiheit. Es ist die Zone der Politik, die Hegel Polizei genannt hat. Polizeiliches Regieren ist dasjenige Regieren, das innerhalb des Sozialen seine Macht entfalten muss, damit es überhaupt soziale Ordnungen geben kann, und das von dem liberalen Regieren, das sich gemäß der liberalen Verfassung in der Form der Rechte vollzieht, ebenso vorausgesetzt wie abgeblendet, »in die Latenz abgeschoben« (Teubner) wird. Angesichts dieser ubiquitären und permanenten Regierungstätigkeit in der polizeilichen Zone erweist sich die Geschichte von der Ohnmacht und Selbstbeschränkung des (neo-)liberalen Staates als eine Fabel, die nur die Oberfläche des liberalen Regierens abbildet, ohne zu sehen, dass es durch seine Schwäche ein anderes, polizeiliches Regieren ermächtigt, das, ohne an die liberale Form der Rechte und damit durch die liberale Norm der Gleichheit und Freiheit gebunden zu sein, soziale Ordnungen gestaltet, zerstört und umgestaltet. Indem das Regieren gemäß der liberalen Verfassung nur individuelle Freiheiten ermächtigen kann, setzt es auf seiner Rückoder Unterseite (wie Joseph Vogl für die Finanzwirtschaft gezeigt hat) »proliferierende Regierungskaskaden«27 frei, in denen soziale und ökonomische Akteure die (quasi-)politische – also polizeiliche – Macht der sozialen Konstitutionalisierung ausüben.
24 G. Teubner: Verfassungsfragmente, S. 176 u. 175. Indem Ernst Forsthoff diese Prozesse einer anderen, nicht durch die Verfassung normierten Politik als »Verwaltung« analysiert, unterschätzt er nicht nur die widersprüchliche Einheit, die Verfassung und Verwaltung bilden, sondern auch die hervorbringende, produktive Macht dieser Politik; siehe den Aufriss in E. Forsthoff: Strukturwandlungen. 25 M. Foucault: Sexualität, S. 172. 26 H. Willke: Ironie, S. 79. 27 J. Vogl: Souveränitätseffekt, S. 221.
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Als Hegel den überlieferten Begriff der Polizei neu bestimmte, glaubte er noch, diese innergesellschaftliche politische Aktivität durch die normative Macht des Staates kontrollieren zu können.28 Davon hat sich die Macht der sozialen Konstitutionalisierung befreit. Die Polizei, als die innergesellschaftlich operierende Politik, Regierung oder Macht, hat daher gegenüber dem hegelschen Konzept ihre Gestalt grundsätzlich verändert. Die Polizei hat den Staat als »hierarchische Spitze und Zentrum« (Helmut Willke) hinter sich gelassen und ist dezentral und fragmentiert geworden. Dadurch hat das polizeiliche Regieren zugleich die Bindung an die liberale Normativität abgestreift, die es der hegelschen Theorie nach definierte. In ihm wird die Gestaltung der sozialen Zusammenhänge allein durch die Stärke (und Schwäche) der sozialen Machtpositionen innerhalb dieser selben Zusammenhänge bestimmt. Durch ihre Verselbständigkeit gegenüber der staatlichen Kontrolle konnten die polizeilichen Prozesse der sozialen Konstitutionalisierung »im Vergleich zu einem von staatlichen Instanzen oktroyierten Verfassungsrecht die Responsivität gegenüber gesellschaftlichen Bedürfnissen steigern. Zu befürchten aber ist, dass sich ›korrupte‹ Verfassungsnormen herausbilden, die aus einer zu engen Kopplung der Teilverfassungen an partielle Interessenkonstellationen resultieren.«29 Denn da die »innere Politisierung« des Sozialen nicht in der Form der Rechte erfolgt (und im liberalen Staat die Form der Rechte die einzige normative Form ist: es gibt im liberalen Staat normative Macht nur als die Macht der Rechte), gilt für sie die Gleichheit der Freiheit nicht. Das polizeiliche Regieren ist nicht nur die Voraussetzung des liberalen Regierens, es ist zugleich dessen Aussetzung: die Aussetzung der
28 Das bezeichnet Hegel in den Grundlinien der Philosophie des Rechts als »Verfassung oder inneres Staatrecht« § 259). Sein Argument zielt darauf, die Polizei als Schein des Staates, als (Hinein-)Scheinen der staatlichen Allgemeinheit in die bürgerliche Gesellschaft zu erweisen (§ 263). Das steht im Zentrum von Marx’ früher Kritik; siehe Kritik, §§ 261-313. 29 G. Teubner: Verfassungsfragmente, S. 89. Ein naheliegendes Beispiel dafür ist, wie sich in der gegenwärtigen Konstitutionalisierung der digitalen Kommunikation die Machtpositionen quasi-monopolistischer Unternehmen durchsetzen. – Das von Rudolf Wiethölter entwickelte Konzept der Prozeduralisierung ist der Versuch, Möglichkeiten zu entwickeln, hier noch einmal rechtlich einzugreifen. Das soll dadurch geschehen, dass die Gleichheit auf einer Metaebene, als Gleichheit der Teilnahme an der Konstitutionalisierung, sichergestellt wird. Siehe R. Wiethölter: Materialisierungen, S. 423-446; dazu A. Fischer-Lescano/G. Teubner: Rechtstheorie, S. 79-96. Die Rückfrage an dieses Konzept lautet, in welcher Form die rechtliche Verfassung der sozialen Konstitutionalisierung erfolgen kann: Kann dies in der Form individueller Berechtigungen geschehen? Oder reproduziert sie dann eben das Problem, das sie lösen wollte?
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Normativität der Rechte. Das polizeiliche Regieren ist der innere Ausnahmezustand der liberalen Normativität. 4. Normative Subjektivierung: Reformation und Gegenreformation Das bisher skizzierte Argument analysiert die Logik der Voraussetzung, die den liberalen Staat ausmacht. Diese Voraussetzung enthält zwei Schritte, deren Verhältnis die Spannung, ja, den Widerspruch im Inneren des Liberalismus ausmacht. Im ersten Schritt gibt der liberale Staat die Freiheit frei. Diese grundlegende (und vertraute) Bestimmung muss so verstanden werden, dass der liberale Staat sich die Freiheit der Einzelnen als Gegebenheit voraussetzt, also die Tatsache der Freiheit (das ›Tatsachesein‹, die Positivität der Freiheit) durch seine Tat hervorbringt. Mit dieser ersten Voraussetzung im liberalen Regieren geht aber immer schon eine zweite Voraussetzung einher. Indem das liberale Regieren sich die Freiheit voraussetzt, muss es zugleich voraussetzen, dass die Freiheit sich reguliert oder sich selbst regiert. Während aber die Voraussetzung der individuellen Freiheit das Regieren des liberalen Staates an die Form der Rechte bindet und damit normativ macht, ist das Sichregieren der gesellschaftlichen Sphären der individuellen Freiheit notwendig nicht rechtsförmig – denn durch die Form der Rechte würde die Freiheit zu einer Tatsache, die ihm vorausgesetzt ist, während dieses Regieren sich innerhalb der Freiheit vollziehen muss – und dadurch anormativ. Es ist von jeder Normativität entlastet. Es untersteht anderen Imperativen. Das sind Imperative der Effizienz und Funktionalität, die technische Neutralität versprechen, aber gerade dadurch Herrschaft – das ist: die Durchsetzung der stärkeren Macht – hervorbringen. Die erste Voraussetzung der Freiheit bringt daher die zweite Voraussetzung von Regulierungsmechanismen hervor, die in ihrer Operationsweise der Freiheitsvoraussetzung widersprechen: Das liberale Regieren unterläuft sich selbst durch nichtliberales Regieren. Die bisher beschriebene Gestalt dieser widersprüchlichen Selbstverdoppelung des liberalen Staates ist die Politik der sozialen Konstitutionalisierung, der Bildung sozialer Ordnungszusammenhänge. Das ist die Politik der Polizei, die innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft tätig ist. Die liberale Voraussetzung der individuellen Freiheit macht aber noch eine zweite Gestalt des nichtliberalen Regierens nötig, die der liberale Diskurs der Rechte zugleich in Anspruch nimmt wie in die Latenz abschiebt. Das ist diejenige, die Böckenförde im Blick hat, wenn er von den »inneren Regulierungskräften« der Freiheit spricht, die der liberale Staat immer schon in Anspruch nimmt, ohne sie »von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwangs und autoritativen Gebots, [...] garantieren« zu können.30 Diese zweite Ge-
30 E.-W. Böckenförde: Entstehung des Staates, S. 112 f.
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stalt der Selbstregulierung der Freiheit, die der liberale Staat voraussetzt, besteht in Prozessen der Subjektivierung: der Hervorbringung von Subjekten, die handeln und vor allem verantwortlich urteilen können. So kann er »als freiheitlicher Staat [...] nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert.«31 Die Begründung für diese These ist die Einsicht in die Begründungslücke, die der liberale Staat selbst hervorbringt. Der liberale Staat, so Böckenfördes Ausgangsthese, setzt sich die Freiheit der Einzelnen voraus. Das geschieht, indem er sie berechtigt: indem er die individuelle Freiheit erlaubt oder gewährleistet. Diese rechtliche Freiheit ist die Freiheit der Willkür oder der Wahl: Die Freiheit von der und durch die Regierung freizugeben, heißt nichts anderes als die Freiheit als Wahloder Willkürfreiheit zu bestimmen. Zwar zielt die Erklärung von Rechten darauf, Möglichkeiten oder Chancen selbstbestimmter, verantwortlicher, gelingender Lebensführung zu eröffnen; die Erklärung von Rechten hat ihren Antrieb in einem ethischen oder moralischen Begriff der Freiheit. Aber durch ihre Form können subjektive oder individuelle Rechte immer nur die negative Freiheit der Wahl und Willkür enthalten.32 Denn Rechte zu haben bedeutet, sie so oder so oder gar nicht, also nach eigenem Belieben ausüben zu können. Jeder Gehalt von Rechten wird durch ihre Form zu einer Sache der Willkür. Das Problem, das damit entsteht (und auf das Böckenfördes Überlegung hinweist), ist, dass die Gestalt der Freiheit, die durch die liberale Ordnung gesichert und dadurch hervorgebracht wird, diese Ordnung nicht selbst begründen kann. Denn die Freiheit der Willkür begründet gar keine (normative) Ordnung. Das kann nur die ethisch oder moralisch regulierte Freiheit: Der Grund der liberalen Ordnung ist die Freiheit als Autonomie. Weil sie aber in der Form individueller Rechte regiert, kann die liberale Ordnung diesen Grund nicht sichern und gewährleisten; sie reicht nicht an ihn heran. Die Form der Rechte produziert daher eine Begründungslücke, die – unter liberalen Bedingungen – nicht geschlossen werden kann. Am Tag der Krise weitet sich diese Lücke zu einer Kluft, einer Kluft der Grundlosigkeit, in die der liberale Staat zu stürzen droht. Damit zeigt sich, was die »inneren Regulierungskräfte« der Freiheit (Böckenförde), die der liberale Staat voraussetzt, bewirken müssen. Sie müssen den norma-
31 Ebd., S. 112. 32 Es kann kein subjektives Recht auf Autonomie geben. Denn dann müsste der Berechtigende, der Staat, zugleich das (Meta-)Recht der Überprüfung haben, ob der Berechtigte, das Individuum, dem Anspruch der Autonomie genügt – und in dessen Rechtsausübung eingreifen, wenn er das nicht tut. Dieser Staat wäre offensichtlich nicht liberal. Zu diesem Argument siehe ausführlicher C. Menke: Rechte, Kap. 9 u. 11.
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tiven Grund hervorbringen, den der liberale Staat durch seine rechtsförmige Regierung selbst nicht legen kann. Und das heißt: Sie müssen die Freiheit verwandeln; sie müssen die Freiheit von einem Vermögen willkürlicher Wahl (die die liberale Ordnung der Rechte hervorbringt, indem sie sie erlaubt und gewährleistet) in die Freiheit der normativen Selbstbestimmung transformieren (die den Grund der liberalen Regierung bildet, aber von ihr selbst nicht hervorgebracht werden kann). Das freie Wollen nach eigenem Belieben, nach eigenen Vorlieben und im eigenen Interesse muss zum freien Wollen des normativ Richtigen werden. Nur durch eine solche Transformation der Freiheit werden die Subjekte hervorgebracht, auf die die liberale Ordnung sich stützen kann. Durch diese Transformation werden sie von Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft zu Bürgern des Staates. Sie werden zu Subjekten, die den liberalen Staat tragen, weil sie ihn wollen. Das heißt: Sie werden zu normativen Subjekten. Aber wo – und vor allem wie – findet diese Subjektivierung, die politische Verwandlung der individuellen Freiheit statt? Wie wird der Bourgeois zum Citoyen? Die geläufige Antwort des Liberalismus auf diese Frage lautet, dass eine solche Verwandlung durch die Kultur stattfindet. »Kultur« ist der Sammelname, den der liberale Staat den Orten, Medien und Instanzen der Subjektivierung gibt, für die er mit seinen Mitteln, den Mitteln der individuellen Berechtigung, nichts tun kann, von denen er aber voraussetzen muss, dass sie sich immer schon und immer weiter gelingend vollziehen (so wie er voraussetzt, dass sich die Konstitutionalisierung der sozialen Felder vollzieht). Der liberale Staat setzt zur Sicherung seiner Grundlagen auf die liberale Kultur. Wie diese kulturellen Potentiale zu bestimmen sind, wird im Liberalismus ganz unterschiedlich, ja, entgegengesetzt verstanden: Kantianische Liberale identifizieren sie mit der Erziehung zu Moral und Selbstverantwortung (John Rawls); Kommunitaristen setzen auf die »Gewohnheiten des Herzens« (Robert N. Bellah) und die sinngebenden »Narrative« (Robert Cover), die Gemeinschaften zusammenschließen; postmoderne bourgeoise Ironiker setzen auf die Fähigkeiten der Distanz gegenüber dem Eigenen und der Empathie mit den anderen, die sich beide in ästhetischen Praktiken manifestieren sollen (Richard Rorty). Wie auch immer aber die Potentiale der liberalen Kultur bestimmt werden, sie ist darin die vorpolitische Voraussetzung der liberalen Politik. Und wie sehr auch die Kultur darin prozessual oder performativ verstanden wird, sie bleibt für den liberalen Staat das von ihm passiv Vorausgesetzte und daher bloß Aufgenommene, nicht von ihm Gemachte. Gerade die liberale Kultur ist für den liberalen Staat daher (wie) Natur: etwas, das von selbst geschieht (oder nicht geschieht), kein Feld seines Tuns. Damit wird aber durch den liberalen Staat und seinen an die Form der Rechte gebundenen Diskurs eine zweite Gestalt nichtliberaler Politik »in die Latenz abgeschoben« (Gunther Teubner). Denn die Prozesse und Performanzen der Kultur, in denen sich die staatstragende Gestalt der normativen Subjektivität bilden soll, sind selbst politisch. Die Subjektivierung, die der liberale Staat voraussetzt, vollzieht sich durch
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eine andere, eine vor- oder nichtstaatliche, daher nichtliberale Politik. Worin sie besteht, läßt sich durch einen nochmaligen Blick auf Böckenfördes Überlegungen zeigen. Böckenförde sieht die Grundlage des liberalen Staates, die er selbst nicht legen kann, in den »Antriebe[n] und Bindungskräfte[n], die der religiöse Glaube seinen Bürgern vermittelt.«33 Die Stütze des liberalen Staates ist für Böckenförde nicht die Kultur, sondern die Religion (oder es ist die Religion als Kultur). Das begründet er damit, dass die Religion eine Praxis der Subjektivierung ist. In ihr werden Subjekte gebildet, die nicht nach ihrem Belieben oder ihren Interessen, sondern nach ihrem »Gewissen« entscheiden, die also das Vermögen normativer Selbstbeobachtung und Selbstlenkung besitzen. Ohne diese religiöse Ausbildung von Subjekten mit Gewissen fehlt dem liberalen Staat der tragende Grund. Dabei beruft sich Böckenförde auf Hegel (der das »Problem des Verhältnisses von Staat und Religion [...] auf einer Höhe geistiger Reflexion diskutiert [habe], die seither nicht wieder erreicht worden ist«34). So schreibt Hegel in der Enzyklopädie, dass nicht durch »äußere Garantien – z.B. sogenannte Kammern und die ihnen gegebene Gewalt, den Finanzetat zu bestimmen (vgl. § 544 Anm.) u. dgl. – den Gesetzen Stabilität verschafft werden« könne. »Jene Garantien sind morsche Stützen gegen die Gewissen der Subjekte, welche die Gesetze, und darunter gehören die Garantien selbst, handhaben sollen.«35 Das Gewissen der Subjekte, nicht das formalisierte Beteiligungsrecht ihrer gewählten Vertreter ist die Stütze des freiheitlichen Staates. Zugleich aber gilt, dass Subjekte ein Gewissen nicht von selbst haben. Ein Gewissen zu haben, ist das Ergebnis einer radikalen Verwandlung, die sich nach Hegel und Böckenförde in der religiösen Praxis (und nach der Überzeugung anderer Liberaler auch in anderen Arten kultureller Praxis) vollzieht. Anders als für Böckenförde ist für Hegel mit dieser Feststellung die Frage nach der Stütze des freiheitlichen Staates aber noch nicht beantwortet. Vielmehr öffnet sich mit der Einsicht in die subjektivierende Rolle der Religion für Hegel ein Feld von Gegensätzen und Kämpfen, in denen es – unterhalb der »unaufhörliche[n] und lärmende[n] Gesetzgebungstätigkeit« (Foucault), in der über die »äußeren Garantien« (Hegel) des liberalen Staates gestritten wird – um seine Grundlage geht. Die Religion und die Subjektivierungsleistung, die sie erbringt, sind kein homogenes Feld.36 Seit seinen Frankfurter Schriften ist Hegel davon überzeugt, dass die Religion in ihrer tradierten, »posi-
33 E.-W. Böckenförde: Entstehung des Staates, S. 113. 34 Ebd. 35 G.W.F. Hegel: Enzyklopädie, § 552 A, S. 360 f.; hier auch alle folgenden Zitate. 36 Das ist der kritische Punkt, von dem ab Böckenförde Hegels Argumentation nicht mehr folgt. Religion bedeutet für Böckenförde »Homogenität« (E.-W. Böckenförde: Entstehung des Staates, S. XX).
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tiven« Gestalt mit der Herrschaft im Bunde steht. Wenn er zugleich daran festhält, dass der freiheitliche Staat seine Grundlage nicht in rechtlichen Garantien, sondern in der religiösen Gewissensbildung hat, dann ist damit das Feld der Religion selbst durch den Gegensatz von Herrschaft und Freiheit bestimmt. Nicht die Religion (die es nicht gibt) ist für Hegel das Medium der Hervorbringung freiheitlicher Subjektivität, sondern eine bestimmte Gestalt der Religion, die im Gegensatz steht zu anderen Gestalten. Auch diese anderen Gestalten einer Religion der Herrschaft subjektivieren: Sie bringen Gestalten normativer Subjektivität hervor, die als Stützen einer normativen Ordnung taugen. Aber das sind Gestalten unfreier, herrschaftlicher Subjektivität und Normativität. Die Konsequenz aus diesem Gedanken zieht Hegel, indem er ihn mit einer Kritik an der Französischen Revolution verbindet. Hegel schreibt: »Es ist nur für eine Torheit neuerer Zeit zu achten, ein System verdorbener Sittlichkeit, deren Staatsverfassung und Gesetzgebung ohne Veränderung der Religion umzuändern, eine Revolution ohne eine Reformation gemacht zu haben, zu meinen, mit der alten Religion und ihren Heiligkeiten könne eine ihr entgegengesetzte Staatsverfassung Ruhe und Harmonie in sich haben […].«37 Der Fehler der Französischen Revolution besteht nach Hegel also darin, dass ihre Veränderungen nicht weit genug gegangen sind. Die Politik der Französischen Revolution war nicht radikal genug. Sie war keine Politik der Veränderung der Religion (so wie die Reformation es war).38 Die Französische Revolution war unfähig (oder nicht willens), sich in die Politik einzumischen, die immer schon im Inneren der Religion operiert. Das Feld der Religion ist also nicht nur politisch, weil es agonal ist – der Kampf zwischen der einen und der anderen Religion39 –, sondern weil es das Feld von politischen Handlungen der inneren Veränderung der Religion ist: Die Politik im Inneren der Religion ist die Politik der Veränderung der Religion; ihr Paradigma ist die Reformation. Hegel zeigt, dass es Religionen der Freiheit und der Herrschaft gibt, die entgegengesetzte, freiheitliche oder herrschaftliche Gestalten normativer Subjektivität hervorbringen. Und er zeigt überdies, dass diese subjektivitätsverfertigenden Gestalten der Religion selbst durch Akte der Veränderung gemacht worden sind: dass sie in ihrer Seinsweise politisch sind. Damit ist klar, was der liberale Staat tut, indem er sich auf die »inneren Regulierungskräfte« (Böckenförde) stützt, die in der kulturellen oder religiösen Sphäre an
37 G.W.F. Hegel: Enzyklopädie, § 552 A, S. 360. 38 Offensichtlich sind für Hegel die Versuche der Revolution, einen neuen Kult einzuführen, nicht ernst zu nehmen. Dass es weit mehr als das bedarf, war schon die Einsicht, die dem sog. »Ältesten Systemprogramm« zugrunde lag. 39 Dieser Kampf ist nicht der Kampf um die Wahrheit, sondern um die Freiheit (oder um die Wahrheit nur, weil die Freiheit die Wahrheit ist).
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der Verfertigung normativer Subjektivitäten arbeiten. Dass er sich auf sie stützt, heißt, dass er sie voraussetzt. Und dass er sie voraussetzt heißt, dass er sie für sich, frei von seiner normativen Kontrolle wirken lässt. Er gestaltet sie nicht. Was der freiheitliche Staat damit normativ freisetzt, ist nichts anderes als der Gegensatz zwischen freiheitlichen und herrschaftlichen Formen normativer Subjektivierung. Der liberale Staat setzt sich gleichermaßen die eine wie die andere voraus. Er läßt ebenso die eine wie die andere Richtung und Strategie religiös-kultureller Veränderung zu. Wie also die Gestalt normativer Subjektivität bestimmt und hergestellt wird, die seinen Grund bildet, ist dem liberalen Staat notwendig gleichgültig. Darin liegt seine »strukturelle Nachlässigkeit«.40 Weil er sich an die Form der subjektiven Rechte gebunden hat, kann er nur dort eingreifen, wo diese in Frage gestellt werden. Die schlechthin grundlegende Frage, wie die normative Subjektivierung, das heißt die Unterwerfung unter die liberale Normativität vollzogen und verstanden wird, kann das rechtlich verfasste liberale Regieren dagegen nicht beantworten. Ob es sich um eine repressive Verinnerlichung staatlicher Regeln oder ein ökonomistisch-instrumentelles Verhältnis zur sozialen Ordnung oder aber auf eine selbstbewußte kritische Partizipation am demokratischen Prozeß handelt – all diese entgegengesetzten Weisen, normative Subjekte zu fabrizieren, müssen dem liberalen
40 D. Thomä: Glück, S. 223. Dieter Thomäs große Studie Puer robustus erkundet, welches Problem durch diese strukturelle Nachlässigkeit moderner – liberaler – politischer Ordnungen ausgeklammert und eben dadurch reproduziert wird. Das ist eben das Problem gelingender normativer Subjektivierung, des Übergangs vom Natur- zum Gesellschaftszustand. Mit Freud, dessen Bedeutung für die politische Theorie er ein großes, zentrales Kapitel seiner Studie widmet (Kap. IX), beschreibt Dieter Thomä dies als die Frage, wie der »Unterschied zwischen Urzeit und Kultur«, also der vorgeschichtliche Übergang von jener zu dieser im Individuum vollzogen und wiederholt werden kann. Der »störrisch auf seiner natürlichen Freiheit beharrende puer robustus« (S. 337) wird zum zentralen Problem einer Philosophie, die politisch ist, nicht weil sie die politische Ordnung normativ bestimmt, sondern weil sie auf die Voraussetzungen des Politischen und seiner Normativität überhaupt reflektiert. »Dass die Phasen, die der Ödipus-Komplex beim Kind durchläuft, für die politische Philosophie irgendeine Bedeutung haben könnten, wirkt zunächst abwegig« (S. 340): So spricht der Liberalismus. Thomä zeigt, dass die Bedeutung der Frage, wie das Kind den Ödipus-Komplex durchläuft (oder wie es den weiten »Weg vom Säugling zum Kulturmenschen« [Freud] bewältigt), in nicht weniger als der Entscheidung über Demokratie und Diktatur besteht (S. 340-360). Eine politische Konzeption, die in ihrer Theorie und in ihrer Praxis zu jener Frage nicht nur nichts sagen kann, sondern auch nicht sagen können will, beraubt sich damit selbst der Möglichkeit, in diese Entscheidung einzugreifen.
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Staat gleich gelten. Er überläßt die normative Subjektivierung einem politischen Prozeß, den er selbst nicht normativ zu regieren vermag. Das hat Effekte, die sich wiederum in zwei Schritten beschreiben lassen. Im ersten Schritt läßt sich feststellen, dass sich die liberale Ordnung damit abhängig macht davon, wie das Spiel – oder genauer: der Kampf – der Subjektivierungsweisen ausgeht. Darin eben liegt das »Wagnis«, das der liberale Staat nach Böckenförde eingeht (s.o., Abs. 2). Die für die liberale Ordnung entscheidenden Auseinandersetzungen vollziehen sich in einer Dimension, die sich der normativen Macht der liberalen Ordnung entziehen.41 Aber das bedeutet nicht, dass in der liberalen Ordnung die einander bekämpfenden Politiken der Subjektivierung einander in Chancengleichheit gegenüber stünden. Die Neutralität der liberalen Ordnung – so zeigt der zweite Schritt der Beschreibung – ist ein Schein. Denn der Gegensatz zwischen herrschaftlichen und freiheitlichen Gestalten normativer Subjektivität ist asymmetrisch: Herrschaftlichkeit ist die natürliche Form der Subjektivierung (weil die Subjektivierung sozial ist) und Freiheitlichkeit ihre unnatürliche Gestalt, die durch einen Akt der Befreiung hervorgebracht werden muss. Wenn sie sich selbst überlassen, von der normativen Macht freigesetzt wird und also normativ unregiert bleibt, vollzieht sich die Subjektivierung daher notwendig herrschaftlich; das ist ihre (zweite) Natur. Die Naturalisierung, die die liberale Freisetzung der Subjektivierungsformen von der Macht der Normativität bedeutet (s.o., S. 182), ist daher nichts anderes als eine Absicherung der faktisch bestehenden Hegemonie der herrschaftlichen Gestalten der Subjektivierung gegen ihre Veränderung. 5. Wohin führt die Kritik des Liberalismus? Die skizzierte Analyse der liberalen Ordnung zielt auf den Aufweis ihres Selbstwiderspruchs. Die liberale Ordnung definiert das Regieren als gleiche Berechtigung der individuellen Freiheit, aber sie muss in seinem Schatten ein anderes Regieren hervorbringen und vollziehen, dessen Kräfte, Logiken und Dynamiken sie nicht
41 Dem entspricht Wendy Browns Hinweis, dass die »schleichende Revolution« des Neoliberalismus, die eine »Änderung des Herzens und der Seele« herbeiführt (Margaret Thatcher), u.a. durch die rechtliche Hermeneutik, also die Interpretation der Verfassung durchgesetzt wird (W. Brown, Revolution, S. 183 u. S. 196). Dazu Ernst-Wolfgang Böckenförde: Grundrechtstheorie, S. 115-145. Böckenförde ist allerdings davon überzeugt, dass sich dem Grundgesetz selbst entnehmen lässt, wie er interpretiert werden muss (nämlich sozialstaatlich). Das aber gilt für jede Seite in diesem Konflikt. Denn erst durch diese Annahme wird sie zu einer Grundgesetzinterpretation. Die Berufung auf das Grundgesetz kann den Streit der Interpretation also nicht entscheiden; sie bringt diesen Streit hervor.
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ausweist, weil sie dem liberalen Begriff legitimer Politik widerspricht. Die liberale Ordnung setzt voraus, was sie aussetzt: Durch ihre Voraussetzung ist sie selbst die Aussetzung ihrer Normativität. Der Liberalismus betreibt seine eigene Negation. Mit dieser kritischen Feststellung ist aber die entscheidende politische Frage noch gar nicht gestellt. Diese Frage kann nicht lauten, ob der Liberalismus negiert oder affirmiert werden soll. Denn wenn der Liberalismus seine eigene Negation ist, ist die Affirmation des Liberalismus die (Affirmation der) Negation des Liberalismus und eine Negation des Liberalismus (die auf der Höhe ihres Gegenstandes ist) seine Affirmation. Die Frage lautet daher nicht, ob, sondern wie die Negation des Liberalismus zu vollziehen ist. Die politische Frage, die aus der Kritik des Liberalismus folgt, ist die Frage nach der richtigen Weise und der richtigen Gestalt der Negation der liberalen Ordnung. Darauf zielt die Kritik der liberalen Ordnung: Sie zielt darauf, das nichtliberale Regieren, das sie voraussetzt, aus der Latenz zu holen und es zum Gegenstand einer Entscheidung zu machen. Denn so wie die Normativität des Liberalismus zwei Bestimmungen verbindet, hat auch seine Negation zwei sich widersprechende Gestalten. Der Liberalismus ist die Ordnung, die die Idee der Gleichheit der Freiheit an die Form der Rechte bindet. Die Negation des Liberalismus kann sich daher gegen die Idee der Gleichheit der Freiheit oder gegen die Form der Rechte richten. Im ersten Fall ist das nichtliberale Regieren unfrei und ungleich, im zweiten Fall ist es eine andere Politik der Gleichheit und Freiheit. Diese beiden einander entgegengesetzten Formen der nichtliberalen Regierung führen ihren politischen Kampf im Schatten der liberalen Verfassung. Sie selbst kann zu diesem Kampf nichts beitragen.
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»Nachdenken über den dummen August« Narrenweisheit und poetologische Äquilibristik in Hugo von Hofmannsthals Komödie Der Schwierige (1921) Ulrike Landfester
Die Figur des Zirkusclowns Furlani entsteht in Hofmannsthals Entwürfen zu Der Schwierige im Jahr 1917, in einer intensiven Arbeitsphase, nachdem die Arbeit an der Komödie sechs Jahre lang brach gelegen hatte. »Nachdenken über den dummen August«, heißt es in der Entwurfsnotiz aus dieser Zeit, in der der Clown erstmals auftaucht, hier allerdings noch in einem Zusammenhang, den Hofmannsthal später wieder zurücknimmt: »So hat Crescence den Secretär genannt: weil er in die Brautschaft eingetreten ist.«1 Von Hans Karls Schwester seinem Sekretär beigelegt, weil dieser seine langjährige Geliebte verlassen und sich mit der hinterlassenen Braut seines im Krieg gefallenen Freundes verlobt hat, hat die Bezeichnung ›dummer August‹ hier einen pejorativen Beiklang, auf den Hans Karl mit einer hermeneutischen Gegenbewegung reagiert: »H. C. grübelt über die Idee des dummen August. Hat er nicht Sinn für Unendlichkeit – z. B. es gibt doch Equilibristen die alles fallen lassen«, was Hofmannsthal dann korrigiert in »Momente wo der dumme August [alles] fallen lässt das muss sehr schwer sein«, und später dazu nachträgt: »geistig: Geist ist Willen … weisst Du nicht Geschwätz.« (Ebd.) An den Rändern der Notiz trägt Hofmannsthal Weiteres nach; am linken Rand findet sich das Notat »Die beständigen Entschlüsse des contre-equilibristen« und am rechten eine weitere Vertiefung des darin angedeuteten Gedankengangs: »muss er nicht ständig Doppelbewegungen machen, das muss sehr anstrengend sein: er t a n z t mit einem Clown« (ebd.).
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H. v. Hofmannsthal: Werke Bd. XII. Zitate aus diesem Band werden im Folgenden im laufenden Text mit der Sigle SW 10 direkt angeschlossen. Hier: SW 12, S. 256.
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Wer »er« ist, bleibt in dieser Notiz zwar offen, aber die folgende Notiz, eine Vorstudie zu der Schilderung, die Hans Karl im abgeschlossenen Text seiner Schwester Crescence von Furlani machen wird, gibt einen Hinweis darauf, wie dieser Tanz mit einem Clown zu denken ist: »Eine Scene vom F u r l a n i. die macht er delizios – er arrangiert alles für einen der Kunstreiter – und verdirbt alles – dann ringt er mit (weil der sich so über ihn ärgert) und da muss er doch die Kraft für beide hergeben. Der Mensch muss abends müd sein – das ist eine complicierte Situation« (ebd.). Gemeint ist mithin eine Inszenierung, in der der Clown einem Akrobaten hilfreich zu sein vorgibt, faktisch aber durch seine Unterstützung dessen Darbietung so stört, dass der von einem Clown erwartete komische Effekt entsteht, wobei der Clown ernsthaft hilfreich sein zu wollen und der Akrobat ebenso ernsthaft verärgert zu sein scheinen muss, damit dieser Effekt zu bestmöglicher Geltung kommt – eine ›complicierte Situation‹ deshalb also, weil ihre Choreographie von dem Clown gleichzeitig die perfekte Simulation von Authentizität und die ebenso perfekte Führung im Paartanz mit dem Akrobaten fordert. Der mit dem Clown tanzende ›er‹ wäre demnach hier der Kunstreiter, der freilich im abgeschlossenen Text als Motiv nicht mehr auftaucht. Stattdessen setzt die Komödie die Szenen, in denen Furlani erwähnt wird, in einer Weise mit Hans Karl Bühl in Beziehung, dass der Clown geradezu als dessen »Symbol«2, »alter ego«3 oder gar als »Reflex seiner« – Hans Karls – »eigenen grotesken Situation«4 gelesen werden kann – eine Lektüre, die von den frühesten Notizen Hofmannsthals zu Der Schwierige insofern gestützt wird, als darin der Begriff des ›dummen August‹ Hans Karl selbst beigelegt wird. (SW 12, S. 221) Die folgenden Ausführungen stellen die These auf, dass Hans Karl Bühl in Der Schwierige die Verbalakrobatik, die die Figurenrede der Komödie prägt, durch seine Beschreibungen von Furlanis Auftritten, auf zwei Ebenen systematisch stört. Auf der Handlungsebene stehen diese Beschreibungen wie erratische Blöcke in einer Konversationslandschaft, die weder Interesse für noch Berührungspunkte mit einem Zirkusclown zu haben scheint: »Ich habʼ gar keinen Sinn für solche Späße« (SW 12, S. 61), bemerkt Crescence im ersten Akt stellvertretend für ihr und ihres Bruders gesellschaftliches Milieu auf Hans Karls Ankündigung, in den Zirkus gehen und den Clown sehen zu wollen. Auf der poetologischen Ebene des Textes dagegen folgen diese Störungen der Logik einer sorgfältig choreographierten Äquilibristik, mit der die Komödie auf die Überwindung jener Sprachskepsis ausgeht, die Hofmannsthal 1902 in seinem fiktiven Brief des Lord Chandos an Francis Bacon zu einer der zentralen Denkfiguren der sogenannten klassischen Moderne aus-
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H. Steffen: Der Schwierige, S. 147.
3
S. Jäkel: Wesen und Wirkung, S. 683.
4
K.-D. Krabiel, Hugo von Hofmannthal, S. 267.
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formuliert hatte. Gemeinsam, im Tanz des von quälenden Zweifeln an der Möglichkeit des Gelingens sprachlicher Kommunikation getriebenen Verbalakrobaten5 mit dem in dessen Worten als selbst stummer Pantomime auftretenden Clown, erzeugen Hans Karl und Furlani den komischen Effekt einer Narrenweisheit, die, dem Vorbild des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Narren folgend, den Prozess sprachlicher Sinnstiftung am Ende gerade durch deren simulierte Störung gelingen lässt. I.
Narrenrollen und Rollennarren: Zur Typologie des Närrischen
Bereits in den frühesten Notizen für »die Charactercomödie ›der Schwierige‹«, von Hofmannsthal selbst auf den 6. Dezember 1909 datiert, skizziert Hofmannsthal den ›Character‹ seiner Hauptfigur in einer Weise, die bis zum Abschluss der Arbeiten daran im Jahr 1920 gültig bleibt: »Er wird von allen der Confident, aber dieses rasch entstehende, neue, erregende Verhältnis v e r h ä k e l t sich bei ihm mit jedem. Er führt ein Gespräch, um jemanden zu überreden, zu beruhigen, zu entfernen – und verwirrt, beunruhigt, verbandelt den Betreffenden Er spielt auf höchst geistreiche Weise den dummen August.« (SW 12, S. 221). Der abgeschlossene Text freilich verschleiert die Konstruktionsformel, die insbesondere der letzte Satz der Notiz der Figur des Hans Karl unterlegt, sorgfältig, indem sie die Bezeichnung als ›dummen August‹ der Figur des Furlani vorbehält. Bereits im ersten Akt führt Hans Karl den Clown in seinem Dialog mit Crescence als »eine Art von dummem August« (SW 12, S. 61) ein, und als er im zweiten Akt Helene Altenwyl, seiner zukünftigen Verlobten, von diesem Zirkusbesuch berichtet, gewinnt diese Bezeichnung eine geradezu programmatische Dimension. Auf Helenes Frage nämlich, ob er Furlani schätze, weil er »so geschickte Tricks« mache, erwidert Hans Karl mit einem Anflug von Indignation: »Er macht gar keine Tricks. Er ist doch der dumme August!« (SW 12, S. 67) Und als Helene daraufhin Furlani tentativ als »Wurstel« bezeichnet, legt Hans Karl nach: Nein, das wäre ja outriert. Er outriert nie, er karikiert auch nie. Er spielt seine Rolle: er ist der, der alle begreifen, der allen helfen möchte und dabei alles in die größte Konfusion bringt. Er macht die dümmsten ›Lazzi‹, die Galerie kugelt sich vor Lachen, und dabei behält er eine Elegance, eine Discretion, man merkt, daß er sich selbst und alles, was auf der Welt ist, respektiert, er bringt alles durcheinander, wie Kraut und Rüben; wo er hingeht, geht alles drunter und drüber, und dabei möchte man rufen: ›Er hat ja recht!‹ (Ebd.)
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Zur Problematik der Sprachskepsis in Der Schwierige vgl. R. Brinkmann: Hofmannsthal; E. Staiger: Hofmannsthal. E. Bahr: Dezenz; J. Rothenberg: Reden; A. Hübler: Konversation; W. Pape: Mißverständnisse; H. Arntzen: Nörgler; K.-D. Krabiel.
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Er ›spielt seine Rolle‹, aber er ›macht gar keine Tricks‹, er möchte ›allen helfen‹ und erzeugt ›die größte Konfusion‹ – der ›dumme August‹, wie er hier ganz im Sinne der ersten Notizen von 1917 entworfen wird, ist eine paradoxe6 Figur, authentisch, weil er simuliert, elegant und diskret, weil er dumme Witze macht, und im Recht, weil er Verwirrung stiftet, ›wo er hingeht‹. Das Profil, das Hofmannsthal dieser Figur hier gibt, nutzt die Rollenmaske des Clowns, als das der dumme August unter diesem Namen seit Beginn des 19. Jahrhunderts zum festen Bestandteil der beginnenden Zirkuskultur geworden war, um in ihrer Paarung mit derjenigen Hans Karls deren Geschichte und damit die Funktion des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Narren in die Komödie einzuspielen. Mit dem italienischen Wort ›Lazzi‹ für die Witze des Clowns ebenso wie mit Hans Karls bestimmter Abgrenzung Furlanis gegen den ›Wurstel‹, der aus der italienischen commedia dell‘arte in das Theater der Voraufklärung eingewanderten komischen Figur des Hanswurst, verweist Hofmannsthal über das historische Bindeglied, das der Hanswurst zwischen dem vormodernen Narren und dem Clown bildet, zurück sowohl auf die Institution des mittelalterlichen Hofnarren als auch auf deren frühneuzeitliche Evolution zur Chiffre eines Wissens, das Narrheit als integralen Bestandteil der conditio humana identifizierte. Die Institution des Narren ist für so gut wie alle Weltkulturen nachgewiesen, die über bildliche und/oder schriftliche Archivierungstechniken verfügen.7 Typischerweise entstand sie in gesellschaftlichen Kontexten, die durch eine strikt hierarchisch gegliederte Machtstruktur geprägt waren – so, wie es auch die österreichischungarische k.u.k. Monarchie gewesen war, bevor sie nach dem Ersten Weltkrieg zerfallen war. In Europa war die Position des Hofnarren seit dem frühen Mittelalter diejenige eines offiziell bestallten Mitglieds absolutistischer Höfe gewesen, das gegenüber dem jeweiligen Herrscher ein durch die sorgfältig – anhand der im Idealfall durch physische Abnormitäten unterstützten Betonung konstitutioneller intellektueller, moralischer und vor allem juristischer Unmündigkeit – inszenierte Uneigentlichkeit seiner Einlassungen ein anderen Mitgliedern des Hofs versagtes Wahrheitsprivileg genoss: So lange die ›Lazzi‹, in die der Hofnarr seine Äußerungen fasste, genügend unterhaltsam und uneigentlichkeitsindexiert waren, so lange konnte und sollte er gegenüber seinem Arbeitgeber straflos auch unbequeme Wahrheiten vorbringen – und damit gleichzeitig Informationen beistellen, zu denen dieser sonst keinen Zugang gehabt hätte.
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Zur poetologischen Funktion der Paradoxie in der Komödie vgl. maßgeblich R. Simon: Paradoxien, S. 201: Simon diagnostiziert der Komödie »eine in der Tat vertrackte Textualität, eine paradox in sich verwundene Reflexion der Komödie auf sich selbst«.
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Vgl. dazu vor allem B.K. Otto: Fools, sowie weiter E. Welsford: The Fool; S. Billington: Social History.
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Diese zunächst durchaus pragmatische Funktionsdefinition des Narren gewann mit dem ausgehenden Mittelalter und dem Beginn der frühen Neuzeit eine Komponente, die die Distribution von Narrenweisheit zum moralischen Imperativ machte. Unter dem Einfluss des Christentums, das in Anlehnung an Paulus‘ Selbstbeschreibungen als Narr8 der Narrheit den Status einer in der Selbsterkenntnis ihres eigenen Ungenügens an den Forderungen Christi Gott besonders nahen Seinsweise zuerkannte, generalisierte die frühe Neuzeit das Paradigma der Narrheit zum Inbegriff einer von der Erbsünde geprägten moralischen Unbildung, deren der Mensch sich bewusst zu werden hatte, um sie willentlich zu überwinden. Das Wahrheitsprivileg, mit dem der mittelalterliche Hofnarr in prekärer Balance von komisch signierter Uneigentlichkeit und sehr eigentlichen Mitteilungsgehalten seinem Herrscher ganz konkrete Beratungs- und Informationsdienste zu leisten hatte, erhielt damit einen erheblich weitergehenden Bildungsauftrag, der sich nicht zuletzt in der seit der Erfindung des Buchdrucks populär gewordenen Genre des Narrenspiegels niederschlug, einem Genre, das die Narrheit als Bestandteil der conditio humana schlechthin ausstellte.9 Einer der berühmtesten Texte der spätmittelalterlichen Narrenliteratur, das 1494 in Basel erschienene Narrenschiff Sebastian Brants, zeigt bereits deutliche Spuren des Problems, das aus dieser ontologischen Verankerung der Narrheit entstand. Brant entwirft darin die Fiktion eines großen Schiffes, das alle diese Narren aufnehmen soll – und gerät damit in einen unlösbaren Zielkonflikt: Einerseits soll die Welt von den Narren befreit werden; andererseits ist der Begründungshorizont der angeprangerten Narrheit das Argument ihrer ohnehin unausrottbaren Omnipräsenz in der Spezies Mensch. Brant löst dieses Problem vorläufig dadurch, dass er im ersten Kapitel selbst die Narrenkappe anlegt – »Im Narrentanz voran ich gehe, / Da ich viel Bücher um sich sehe, / Die ich nicht lese und verstehe«, lautet die Bildunterschrift zu dem Holzschnitt, der Brant mit der schellenbesetzten Kappe an einem mit Büchern beladenen Schreibtisch zeigt10 – und sich damit a priori mit seinem Gegenstand identifiziert, zugleich aber den reflektierten Narren programmatisch vom törichten Dummkopf absetzt: Nur wer sich selbst Narr weiß, ist weise.11 Diese Reflexion allerdings ist schon bei Brant eine Reflexion zweiter Ordnung, beansprucht Brant doch für sich, jede Form des Narrentums, auch die eigene, zweckfrei und rein deskriptiv diagnostizieren zu können. Damit erzeugt er auch eine Schwierigkeit zweiter Ordnung: Die Rolle des durch Reflexion perfektionierten Narren nämlich, die Brant einnimmt, war über einen performativen Wider-
8
Vgl. 2. Kor.11,16 und 12,11.
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Vgl. dazu R. Günthart: Wiltu.
10 S. Brant: Narrenschiff, S. 12. 11 Vgl. dazu D. Kartschoke, Narrenrede sowie G. Schweppenhäuser: Narrenschelte.
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spruch zwischen der Uneigentlichkeit närrischen Witzes und dessen sehr eigentlichem Wahrheitsgehalt definiert gewesen, anhand dessen der Narr die Positionen ›Narr‹ und ›König‹ aus ihrer polaren Gegensätzlichkeit heraus zu stabilisieren hatte – hier der Narr, der verbal, gestisch und vestimentär lautstark moralische Unbildung bezeugte, dort die schon im Machtgefälle zwischen beiden fixierte überlegene Moralität des Königs.12 Je eigentlicher nun der Narr den König im Zeichen gemeinsamer Menschlichkeit zu identifizieren begann, desto prekärer wurde die Position des Hofnarren für beide Beteiligten, zog doch das von letzterem repräsentierte Wissen um die inszenatorische Qualität gesellschaftlicher Hierarchisierungen zunehmend eben die Autoritätsgewissheit in Zweifel, die sein Wirkungsfeld garantierte. Dass Hofmannsthal mit der Doppelfigur aus Hans Karl und Furlani ein Narrentum in die Komödie einschrieb, das zwar, wie zu sehen sein wird, sowohl die Rolle des Hofnarren als auch den frühneuzeitlichen Narrheitsdiskurs aufgreift, als solches aber im Text nur verdeckt markiert wird, spiegelt die historische Entwicklung wider, die den Narren mit Beginn der bürgerlichen Moderne in die professionelle Schaustellerkultur abgedrängt und damit das Berufsbild des Zirkusclowns erzeugt hatte. Im 18. Jahrhundert war der Narr bereits zu einer reinen Theaterfigur geworden, nachdem sich entlang der instabilen Grenzen zwischen dem weltlichen Repräsentationstheater der elisabethanischen court masque, in der die Mitglieder eines Hofes ihren sozialen Status unter mythologischen Masken öffentlich buchstäblich ausspielten, und des prototypischen katholischen Welttheater-Theaters eines Pedro Calderòn de la Barca seit dem 16. Jahrhundert der Typus des Spiel im Spiel-Drama ausgebildet hatte. Dazu entwickelt, den Topos des theatrum mundi, das zeitgenössische Komplement zum moralisierenden Bildungswillen der frühneuzeitlichen Narrenliteratur, damit die fundamentale Theatralität der von gottgegebenen Hierarchien gesteuerten menschlichen Existenz auf die Bühne zu bringen, platzierte das vormoderne Spiel im Spiel-Drama den Narren in der Rolle eines Sachwalters jener metaleptischen Sprünge und Brüche, mit denen es in prekärer Balance zwischen Affirmation und Subversion die Grenzen zwischen den Spielebenen zugleich ausstellte und unterlief.13 Dem Theaternarren fiel es mithin zu, der absolutistischen Wirklichkeit einen Spiegel vorzuhalten, indem er eine von der strikten Trennung politischer und sozialer Sphären geprägte Realität reflektierte und dabei die Wahrheit über die Beziehung dieser Sphären zueinander auszusprechen, dass nämlich die Spielebenen einander strukturell verwandt waren und ihre Trennung daher nicht einer vorab gegebenen fundamentalen Differenz folgte, sondern vielmehr Resultat einer strate-
12 Vgl. dazu H.R. Velten: Körper. 13 Zum Terminus ›Spiel im Spiel‹ vgl. J. Voigt: Spiel im Spiel sowie K. Vieweg-Marks: Metadrama.
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gisch-inszenatorischen Definitionsanstrengung war.14 Damit stellte der vormoderne Theaternarr den Mechanismus, mit dem sich die historische Realität als Realität konstituierte, selbst zur Disposition. Hinweise auf Hofmannsthals Auseinandersetzung mit diesem Aspekt finden sich, im fertigen Text selbst dann wieder zurückgenommen, in den Entwürfen des Jahres 1917, mitten im Krieg also, als dessen Ausgang bereits absehbar zu werden begann: »Hoheiten irren sich immer. Das ist ihr Beruf«, heißt es da etwa, und wenig später, keiner bestimmbaren Figur zugeordnet: »über die Unmöglichkeit, den Herrscher zu loben: weil dies eine Art Kritik wäre« (SW 12. S. 233f.), eine Kritik, wie sie dem Hofnarr im Modus der Uneigentlichkeit, verbrämt als Herrscherlob, nicht nur zustand, sondern aufgetragen war, und als solche in der Vormoderne die permanente Brechung der Bühnenillusion durch den Theaternarren semantisch unterfüttert hatte. Zu der Zeit, zu der Hofmannsthal seine Komödie fertigstellte, war die Option, »den Herrscher zu loben: weil dies eine Art Kritik wäre«, schon deswegen eine »Unmöglichkeit«, weil es diesen Herrscher als solchen nicht mehr gab: Am 11. November 1918 hatte Kaiser Karl I. von Österreich sämtliche Staatsgeschäfte niedergelegt, einen Tag, bevor die Provisorische Nationalversammlung Österreichs die Republik proklamiert und den Adel abgeschafft hatte. Damit war nicht nur die Kritik an einem Herrscher selbst, sondern auch die hierarchische Struktur hinfällig geworden, in der der vormoderne Narr seine Daseinsbedingung gefunden hatte. Österreich hatte so nachvollzogen, was Frankreich bereits mit der Französischen Revolution von 1789 mit einer das ganze absolutistische Europa erschütternden Radikalität durchlebt hatte – einer Radikalität, die auch die Institution des Theaternarren obsolet gemacht hatte. Durch den fundamentalen Umbruch, mit dem die Revolution die hierarchisierende Trennung sozialer Sphären – zumindest theoretisch – zugunsten des eigenverantwortlichen Gestaltungsspielraums vernunftgeleiteter Subjektivität abgelöst hatte, war die historische Realität, auf der das traditionelle Spiel im Spiel aufgeruht hatte, effektiv als das ausgestellt worden, als was dessen Narren sie immer schon erkannt und inszeniert hatten: als künstliches Instrument des ordnenden Zugriffs auf eine Wirklichkeit, die, im Gegensatz zu den entsprechenden Behauptungen geistlicher und weltlicher Machthaber, eben nicht a priori von unüberschreitbaren Grenzen organisiert wurde. Vor dem Hintergrund des metaleptischen Zusammenbruchs des ancien régime verwandelte sich die Metalepse, einst durch den Narren kontrolliert, nunmehr in einen von diesem weitgehend unabhängigen Modus der Repräsentation von Wahrheit. In Ludwig Tiecks Spiel im Spiel-Komödie Der gestiefelte Kater (1797) etwa reagierte sein Autor auf die Erfahrung der Revolution, indem er Spielebene auf Spielebene nur darum eröffnete, um sie ineinander umschlagen zu lassen, Rollen einführte, nur um die Schauspieler
14 Vgl. dazu B. Greiner: Welttheater sowie D. Schwanitz: Wirklichkeit.
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effektvoll aus ihnen heraus fallen zu lassen, und den Narren dabei auf eine bestenfalls subsidiäre, gleichsam zitathafte Nebenrolle relegierte. Nach der Französischen Revolution war der Narr nicht länger notwendig dazu, ausdrücklich auszusprechen, dass die Welt ein Theater sei – und mutierte damit zu dem Zirkusclown, als den Hofmannsthal die Figur des Furlani in seine Komödie einschrieb. Auf Hofmannsthal hatte der Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen k.u.k. Monarchie im Gefolge des Ersten Weltkriegs eine der Französischen Revolution vergleichbar traumatische Wirkung. Ein Brief, den er im August 1913 während einer der Krisen im Balkan, die dem Krieg vorausgingen, an Leopold von Andrian schrieb, zeugt davon, in welchem Ausmaß er das Gefüge der österreichischen Vorkriegsgesellschaft durch die sich abzeichnende Entwicklung zum Krieg hin bedroht sah: Er habe »das Vertrauen vor dem obersten Stand, dem hohen Adel, das ich hatte, das Zutrauen, er habe, gerade in Österreich, etwas zu geben und zu bedeuten, völlig verloren, und damit meine Achtung vor dem Stand als solchem [...]. Wir müssen es uns eingestehen, Poldy, wir haben eine Heimat, aber kein Vaterland – an dessen Stelle nur ein Gespenst.«15 Dass er seine Komödie dennoch, als er sie nach dem Krieg fertigstellte, in einem Milieu ansiedelte, das diese Vorkriegsgesellschaft zu reproduzieren schien, wurde ihm insbesondere von Julius Bab in der Rezension, die dieser nach einem Probenbesuch von Der Schwierige im August 1921 in Die Hilfe veröffentlichte, scharf zum Vorwurf gemacht: »Hofmannsthals MilieuLustspiel spielt im leeren Zeitraum – eine Wiener Hocharistokratie nach dem Weltkrieg, die immer noch im erblichen Herrenhaus sitzt! Aber vielleicht hat die Wirklichkeit doch folgerichtiger gedichtet, als sie diese Herrenhäuser enterbte und zusammenbrechen ließ«.16 Bab war entgangen, dass Hofmannsthal seiner Komödie das Ende des österreichischen ancien régime sehr wohl eingeschrieben hatte, in der Figur von Hans Karls ehemaliger Geliebter Antoinette Hechingen nämlich, deren Vornamen auf die 1793 im Gefolge der Revolution hingerichtete französische Königin Marie Antoinette anspielt und die »alte französische Sachen […] [a]us dem XVIII« liest, was, wie Hans Karls Neffe Stani, ihr aktueller Geliebter, bemerkt, »zu ihren Möbeln« passe (SW 12, S. 31). Sie habe, erklärt ihr Ehemann Stani später, »die Natur der grande dame des XVIII. Jahrhunderts« (SW 12, S. 111), und es ist diese »Natur«, an der sie als einzige der Figuren der Komödie in einer Weise scheitert, die eine – von Hans Karls emphatischem Mitleid mit ihr immer wieder unterstrichene – durchaus tragische Komponente hat. In den Entwürfen von 1917 als ebenso »kurzsichtig« (SW 12, S. 299) wie eitel geschildert, ist Antoinette genuin hilflos in einer Verfassung gefangen, die sie als unzeitgemäß nicht einmal zu erkennen, geschwei-
15 H.v. Hofmannsthal – L.v. Andrian. Briefwechsel, S. 199f. 16 J. Bab: Hilfe, S. 158f.
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ge denn zu kontrollieren in der Lage ist, und verkörpert damit ein ancien régime, das in ihr wie die von Bab monierte »Wiener Hocharistokratie nach dem Weltkrieg, die immer noch im erblichen Herrenhaus sitzt«, in der Komödie als nicht mehr überlebensfähig porträtiert wird. Wie alle anderen Figuren der Komödie mit Ausnahme Hans Karls und der als Projektionsfläche von Hans Karls Begehren eigentümlich oberflächenunscharf inszenierten Helene ist die Rolle Antoinettes dabei als die eines Rollennarrs bzw. einer Rollennärrin – und nicht als Narrenrolle – konzipiert. Der treue alte Diener Lukas und der unverschämte neue Diener Vinzenz, die mütterlich outrierte Crescence und ihr beschränkt intelligenter Sohn Stani, der selbstherrliche Neuhoff und das zerstreute Berühmtheitsgroupie Edine sind Narren im Sinne der frühneuzeitlichen Diagnostik menschlichen Narrentums, wie Brant sie in seinem Narrenschiff versucht hatte, ohne dass auch nur eine dieser Figuren auf die Weisheit Anspruch erheben könnte, sich selbst närrisch zu wissen. Narren sind sie vielmehr durchweg aufgrund ihrer unhinterfragten Identifikation mit ihren sozialen Rollen und deren ebenso unhinterfragten normativen Implikationen für ihr Selbstverständnis, in ihrer Verhaftetheit in jenen Strukturen mithin, die mit der Monarchie Österreich-Ungarns zum Zeitpunkt der Uraufführung von Der Schwierige – und, so insinuiert der Text der Komödie, eben dieser unreflektierten Verhaftetheit wegen – ihre Ordnungsmacht katastrophisch verloren hatten. Hans Karl dagegen spielt die Rolle des Narren in der Komödie kraft der fundamentalen Skepsis gegenüber der Tragkraft sozialer Rollen, die in seinem gebrochenen Verhältnis zur sprachlichen Kommunikation zum Ausdruck gelangt. Für ihn ist weniger die Sprache als solche als vielmehr das Sprechen im Sinne eines Instruments zur Stiftung und Stabilisierung sozialer – einschließlich erotischer – Beziehungen Inzitament und Medium der konstitutionellen Narrheit seiner gesellschaftlichen Existenz. Sprechen oder, wie es in der Komödie genannt wird, »Konversation« (SW 12, S. 61) ist ein Modus unausweichlicher Uneigentlichkeit, der nur »chronische Mißverständnisse« (SW 12, S. 13) produzieren kann: »Die Missverständnisse entstehen ja nur dadurch dass sich die Leut nicht verstehn die sich eigentlich verstehn« (SW 12, S. 315), hatte Hofmannsthal in einem seiner Entwürfe aus dem Jahr 1917 notiert. Im Gegensatz zu den Rollennarren seines gesellschaftlichen Milieus weiß Hans Karl um diese Uneigentlichkeit, ohne sich ihr entziehen zu können, da sie für ihn wie für den mittelalterlichen Narren die Voraussetzung dafür ist, seine Funktion als Kritiker ausüben zu können – und setzt sie in ähnlicher Weise wie einst der vormoderne Theaternarr dazu ein, Spiel und Ernst metaleptisch ineinander umschlagen zu lassen.
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II.
»Die beständigen Entschlüsse des contre-equilibristen«: Hans Karl Bühls Tanz mit dem Clown
Die Doppelfigur aus Hans Karl und Furlani hat ein literarisches Vorbild, auf das bereits im ersten Akt die Figur des Neuhoff anspielt, als er Stani erzählt, Hans Karl habe, als er ihm während des Krieges begegnet sei, »unendlich wenig« gesprochen und anschließend erläutert, dies liege daran, dass Hans Karl nur Wesentliches aussprechen wolle: »Ihr Onkel liebt es, in Gold zu zahlen; er hat sich an das Papiergeld des täglichen Verkehrs nicht gewöhnen wollen.« (SW 12, S. 43f.) In einem Kontext, in dem Hans Karls souveräne Eloquenz von seinem Bewusstsein der Unwesentlichkeit jeder sprachlichen Äußerung getragen wird, betont inkongruent anmutend, verweist diese Passage auf die Szene Kaiserliche Pfalz im ersten Akt von Goethes Faust II17, in der Mephisto und Faust gemeinsam den Platz des verschwundenen Hofnarren einnehmen. In dieser Rolle gelingt es ihnen, den Kaiser und seinen Rat zur Linderung der drängenden Geldnot des Reichs von der Einführung des Papiergelds im Sinne einer Hypothekarverschreibung auf noch ungehobene Bodenschätze – »Gold gemünzt und ungemünzt«18 – zu überzeugen – mit der gleichzeitigen Mahnung, diese Schätze ungehoben zu lassen, um das faktische Ausmaß der angenommenen Ressourcen offen zu lassen und damit die Belastbarkeit der Verschreibungen möglichst dehnbar zu halten. Wie in Faust II, so geht es auch in Hofmannsthals Komödie um die Frage nach der Existenz von noch ungehobenen Ressourcen für den »täglichen Verkehr«, hier als Frage danach, ob und inwieweit dem Gebrauch von Sprache ein Potential zugrunde liegt, das Kommunikation allenfalls gelingen lassen könnte, und wenn ja, ob dieses Potential in irgendeiner Form ermessen werden könnte oder sollte. Bei Goethe wird diese Frage nicht weiterverfolgt, nachdem Faust und Mephisto während der auf die Kaiserliche Pfalz folgenden Mummenschanz-Szene den Kaiser zur Abgabe einer Unterschrift bewegt haben, die, als Geldschein reproduziert, die Reichsfinanzen über Nacht saniert. Bei Hofmannsthal entsprechen diesem durchaus wörtlich als solchem zu verstehenden Geld-Schein jene Passagen, in denen Hans Karl den Clown Furlani in die von ihm geführten Gespräche bringt. Anders als es der pseudointellektuelle Neuhoff in seiner antagonisierenden Gegenüberstellung von Gold und Papiergeld darstellt freilich sind diese Passagen sowohl Gold als auch Papiergeld: Papiergeld, insofern sie beliebige, fast belanglos anmutende anekdotische Beiträge an diese Gespräche zu sein scheinen; Gold, insofern letztlich sie es
17 In der Arbeitsphase von 1917 notierte Hofmannsthal in den Entwürfen zum ersten Akt zwei Verse aus der Szene Walpurgisnacht im zweiten Akt von Faust II, vgl. SW 12, S. 240. 18 J.W.v. Goethe, Faust II, S. 113.
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sind, die am Ende nicht nur die Verständigung zwischen Hans Karl und Helene, sondern auch und vor allem die Lektüre der poetologischen Äquilibristik ermöglichen, mit der die Doppelfigur aus Hans Karl und Furlani die durch Hans Karls Sprachskepsis erzeugte Kommunikationsblockade im Verkehr mit Helene lösen. Was bei Goethe das Vertrauen ist, das die Zirkulation von Papiergeld als Zirkulation realer materieller Werte zu behandeln erlaubt und damit die Grundlage für die Kapitalwirtschaft des 19. Jahrhunderts legt, ist bei Hofmannsthal das Vertrauen in die Belastbarkeit jener Beziehung zwischen Sprechen und unmittelbarem Erfahren, deren unwiderruflichen Zerfall der Brief des Lord Chandos postuliert hatte. Es ist diese Beziehung, die die Furlani-Passagen der Komödie thematisieren. Furlani ist nicht nur poetologisch, sondern auch auf der Handlungsebene von Der Schwierige eine rein sprachlich erzeugte Figur, deren Existenz mit der einen Ausnahme von Crescences Bemerkung, sie habe schon von ihm gehört, ausschließlich durch Hans Karl verbürgt wird, eine Figur zudem, die in seinen Erzählungen selbst sprachlos bleibt.19 Ihre Funktion ist die des Geld-Scheins in Faust II, einer auf selbst materiell wertlosem Papier niedergelegten Bonitätsbehauptung, deren Tauglichkeit für den »täglichen Verkehr« durch Hans Karls Rollenrede gedeckt werden muss. Die Ressource, die dieser Deckung zugrunde liegt, ist mithin ausgerechnet jene Figur, die in der Komödie den fundamentalen Zweifel an der Fähigkeit des Sprachzeichens verkörpert, durch eine belastbare Beziehung zu dem von ihm behaupteten Wert eine solche Deckung gewährleisten zu können. Gleichwohl gibt es im Text von Der Schwierige ein Bindeglied zwischen Furlani und Hans Karl, das außerhalb der Rollenrede des letzteren angesiedelt und damit dem alles darin Gesagte unterstellten Uneigentlichkeitsverdacht entzogen ist. Die Regieanweisungen insbesondere des ersten Akts schreiben Hans Karl eine Reihe von Bewegungen zu, die in seiner Rollenrede kein sprachliches Pendant haben, dennoch aber in direkter kausaler Beziehung zu dem von ihm geführten Gespräch stehen: »Er hat eine Lade herausgezogen«, heißt es, während er auf Crescences Bemerkung, sie sei »zu Tod froh«, dass er Helene nicht geheiratet habe, da sie beide »so komplizierte Menschen« seien, antwortet, er sei »der unkomplizierteste Mensch der Welt«; er »[s]ucht in der Lade nach etwas« und »stößt die Lade zu«, nachdem Crescence die Vermutung geäußert hat, Helene werde Neuhoff heiraten; als sie spekuliert, dies geschehe rein »sich und der Welt zum Trotz«, zieht er »mit einiger Heftigkeit eine andere Lade heraus«, bis Crescence ihm anbietet, ihm suchen zu helfen und er sie bescheidet, er suche »eigentlich gar nichts, ich hab` den
19 Auf die Beziehung zwischen sprachlichen und sprachlosen Zeichen hat bereits Peter Kofler hingewiesen: »Im Schwierigen befragen verbale und kinetische signes einander über ihre Zeichennatur, indem sie sich entweder gegenseitig stützen oder konterkarieren.« P. Kofler: Schwierige, S. 160.
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falschen Schlüssel hineingesteckt« (SW 12, S. 15). Bereits in der ersten Szene des ersten Akts wird dieses Verhalten von dem Diener Lukas erläutert: »Wenn er anfängt, alle Laden aufzusperren oder einen verlegten Schlüssel zu suchen, dann ist er sehr schlechter Laune« (SW 12, S. 8). In dem 1917 entstandenen Entwurf zu dieser Szene folgte darauf noch der später gestrichene Satz: »Auf solche kleinen Zeichen muss man bei ihm gut achten, denn aus dem was er zu ihnen sagt werden sie nicht wissen woran sie mit ihm sind, so eine directe Äusserung liebt er nicht« (SW 12, S. 310). Hans Karl bedient sich für »solche kleine Zeichen« desselben Verfahrens, das ihn an Furlani so fasziniert, des pantomimischen Ausdrucks nämlich, der in diesem ersten Akt zudem durch Hans Karls Gebärdensprache den Index des unhinterfragbar Authentischen erhält, ist er doch offensichtlich im Gespräch mit Crescence deshalb »sehr schlechter Laune«, weil er Helene erheblich mehr »attachiert« (SW 12, S. 14) ist, als er es Crescence und später Stani gegenüber offenlegt – eine Tatsache, die als solche durch den Ausgang der Komödie mit seiner Verlobung mit Helene gedeckt wird. Diese Verbindung mit Furlanis Darstellungstechnik jedoch bezeichnet zugleich auch eine wesentliche Differenz zwischen den beiden Figuren. Die Regieanweisungen nämlich, die Hans Karls Bewegungsprogramm vorgeben, haben einen ähnlichen Status wie die Pantomimen, die Hofmannsthal während der Entstehungszeit der Komödie schrieb – darunter 1916 den Entwurf zu einer Pantomime über Till Eulenspiegel, eine der bekanntesten Narrenfiguren des Spätmittelalters also –, insofern sie den Modus des Pantomimischen affirmativ behandeln, als eine nicht- bzw. körpersprachliche Vermittlung von Handlungsinhalten also, die nicht reflexiv auf deren sprachliche Verfasstheit zurückgebrochen wird. Furlanis Pantomimik dagegen wird in der Komödie als theatralisches Verfahren ausgestellt, indem sie als Bestandteil eines Zirkusprogramms erscheint, in einem Rahmen also, der ihr die Signatur einer gezielten Simulation einschreibt. Dies geschieht bereits, als Hans Karl in seinem Dialog mit Crescence im ersten Akt erstmals über Furlani spricht. Eigentlich wenig geneigt, die für den Abend geplante Soiree im Hause Altenwyl zu besuchen, hat er bereits seinem Freund Hechingen versprochen, sich dort bei dessen Frau und seiner, Hans Karls, ehemaligen Geliebten Antoinette für eine Versöhnung der Ehegatten einzusetzen und wird nun von Crescence dazu überredet, die Gelegenheit zu nutzen, um Helene als Braut für seinen Neffen Stani zu werben: »Da habʼ ich also ein richtiges Programm. […] Aber weiß sie, vorher – ich habʼ eine Idee – vorher gehʼ ich für eine Stunde in den Zirkus, da haben sie jetzt einen Clown – eine Art von dummem August … […] Ich findʼ ihn delizios. Mich unterhält er viel mehr als die gescheiteste Konversation von Gott weiß wem. Ich freuʼ mich rasend. Ich gehe in den Zirkus, dann esse ich einen Bissen in einem Restaurant, und dann kommʼ ich sehr munter in die Soiree und absolvier mein Programm.« (SW 12, S. 61) Erstmals fällt hier der Name der »Konversation« für jenes Sprechen, das Hans Karl aufgrund der dadurch produzierten
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»chronischen Mißverständnisse« (SW 12, S. 13) perhorresziert, ein Sprechen, demgegenüber Furlani Hans Karl besser unterhält als dieses, weil er – Furlani – es nicht praktiziert. Gleichzeitig wird der Vergleich zwischen Zirkus und Soiree von der zweimaligen Nennung des Begriffs »Programm« gerahmt und damit suggeriert, dass die von Hans Karl für die Soiree geplanten Gespräche dieselbe Qualität der routinierten Ableistung angelernter Ausdrucksmuster hat wie der Auftritt Furlanis im Zirkus. Diese Parallelisierung wiederholt sich in der ersten Szene des zweiten Akts, in der die Gruppe der zur Soiree geladenen Gäste zunächst noch ein gemeinsames Gespräch führt. Gegenstand ist der von Crescence angezweifelte Unterhaltungswert »weltberühmter Gelehrter« wie des neu in den Kreis eingetretenen Professors Brücke, gegen den sie geltend macht, sie und ihr Bruder »schwärmen für triviale Menschen und triviale Unterhaltungen«, und Hans Karls Unterstützung für diese Behauptung fordert; Helene bezieht in einem Einwurf scharf Stellung gegen das von Crescence damit propagierte Gesprächsideal – »Wir haben alle Ursache, wir jüngeren Menschen, wenn uns vor etwas auf der Welt grausen muß, so davor: daß es etwas gibt wie Konversation; Worte, die alles Wirkliche verflachen und im Geschwätz beruhigen« – und Hans Karl, danach neuerlich von Crescence angesprochen – »Sag, daß du mir recht gibst, Kari!« – antwortet: »Ich bitte um Verzeihung. Der Furlani ist keine Vorbereitung darauf, etwas Gescheites zu sagen.« (SW 12, S. 64) Gleich im Auftakt zu dem Programm, das Hans Karl während der Soiree zu absolvieren entschlossen ist, werden die »Konversation« und der Clown solcherart ähnlich aufeinander bezogen wie in Hans Karls Gespräch mit Crescence zuvor. In dessen Licht liegt der Akzent von Hans Karls Antwort auf Crescences Forderung, ihr recht zu geben, nicht auf der Qualität dessen, was er allenfalls »Gescheites« sagen könnte, sondern darauf, dass der Zirkusbesuch ihn nicht darauf vorbereitet, überhaupt etwas zu sagen, da der Pantomime Furlani dafür in der Tat »keine Vorbereitung« sein kann; »Vorbereitung« ist Hans Karls Ankündigung seines Zirkusbesuchs im ersten Akt, deutet sie doch auf die Bedeutung voraus, die Furlani für seinen späteren Dialog mit Helene haben wird. Es ist Helenes Vater, der Hans Karl daraufhin in der impliziten Absage an das Sprechen im Namen Furlanis sekundiert, indem er das Ende der Monarchie als Ende der Konversation beklagt: In meinen Augen ist Konversation das, was jetzt kein Mensch mehr kennt: nicht selbst peroriren, wie ein Wasserfall, sondern dem andern das Stichwort bringen. Zu meiner Zeit hat man gesagt: wer zu mir kommt, mit dem muß ich die Konversation so führen, daß er, wenn er die Türschnallen in der Hand hat, sich gescheit vorkommt, dann wird er auf der Stiegen mich gescheit finden. – Heutzutag hat aber keiner, pardon für die Grobheit, den Verstand zum Konversationmachen, und keiner den Verstand, seinen Mund zu halten (SW 12, S. 64f.).
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Furlani dagegen, der Clown, der aufgrund seines sozial abjekten Status als Mitglied des Schaustellermilieus den Salon eines Altenwyl wohl nie hätte betreten können, hat als Pantomime »den Verstand, seinen Mund zu halten« in einem Ausmaß, das es Hans Karl ermöglicht, im Sprechen über ihn jene Stichworte zu geben, die im dritten Akt dazu führen werden, dass er bei seinem vorzeitigen Verlassen der Soiree, als »er die Türschnallen in der Hand hat, sich gescheit vorkommt« dabei, Helene zu verlassen, und dann »auf der Stiegen« seine Entscheidung bereits zu revidieren beginnt, um dann zurückzukehren und die Verlobung mit ihr zu ratifizieren – ein Echo auf jenen »Treppenwitz eines Heiratsentschlusses«20, den Stani im ersten Akt vorträgt, als er Hans Karl mitteilt, er habe »[a]uf der Stiege von hier in den zweiten Stock« (SW 12, S. 53) entschieden, sich mit Helene zu verloben. Im Dialog mit Crescence im ersten Akt noch Exponent einer sprachlosen Ausdruckskunst, die Hans Karl »viel mehr als die gescheiteste Konversation von Gott weiß wem« unterhält, ist es damit im zweiten Akt die sprachlich vermittelte Präsenz Furlanis, die das von Altenwyl als verloren beklagte »Konversationmachen« restituiert, insofern das Sprechen über ihn zum Gelingen der Kommunikation zwischen Hans Karl und Helene führt. Was Hans Karl Helene gegenüber von seinem Zirkusbesuch berichtet, enthält die Substanz des Programms, das während der Soiree abzuleisten er Crescence gegenüber im ersten Akt zugesagt hatte. Es ist das Programm des »contreequilibristen«, der die Bewegungen des von ihm geschilderten Clowns hermeneutisch so gegenbalanciert, dass er damit im Schutz des traditionellen närrischen Wahrheitsprivilegs seine eigene Rolle im theatrum mundi des Altenwylschen Salons zu erläutern vermag: Sehen Sie, Helen, alle diese Sachen sind ja schwer: die Tricks von den Equilibristen und Jongleurs und alles – zu allem gehört ja ein fabelhaft angespannter Wille und direkt Geist. Ich glaubʼ mehr Geist, als zu den meisten Konversationen. – […] Aber das, was der Furlani macht, ist noch um eine ganze Stufe höher, als was alle andern tun. Alle andern lassen sich von einer Absicht leiten und schauen nicht rechts und nicht links, ja, sie atmen kaum, bis sie ihre Absicht erreicht haben: darin besteht eben ihr Trick. Er aber tut scheinbar nichts mit Absicht – er geht immer nur auf die Absicht der andern ein. Er möchte alles mittun, was die andern tun, soviel guten Willen hat er, so fasziniert ist er von jedem einzelnen Stückl, was irgendeiner vormacht: wenn einer einen Blumentopf auf der Nase balanciert, so balanciert er ihn auch, sozusagen aus Höflichkeit. (SW 12, S. 68)
20 I. Mülder-Bach: Häuser, S. 173.
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Die einzige konkrete Information, die der Text zu Furlanis Akt bereitstellt, ist die, dass die von ihm erzeugten komischen Effekte durch die Nachahmung dessen entstehen, »was irgend ein anderer vormacht«. Dass »die Tricks von den Equilibristen und Jongleurs und alles« so »schwer« sind, wie Hans Karl sie darstellt, wird dagegen nicht substantiiert und bleibt damit Konjektur. In noch erheblich höherem Maß gilt dasselbe für seine Behauptung, es gehöre dazu »mehr Geist, als zu den meisten Konversationen«; gedeckt ist sie ausschließlich in ihrem situativen Kontextbezug zu der Unterhaltung über die »Konversationen«, die Helene und Altenwyl in das Gespräch der Soiree-Gäste eingespeist hatten, so dass sie das Sprechen über Furlani unmittelbar an die sprachliche Performanz der Komödie und damit vor allem an diejenige Hans Karls zurückkoppelt. Was Hans Karl Helene hier mitteilt, ist, dass seine Nachahmung der etablierten Muster des »Konversationsmachens«, vermittels derer er das ihm von Hechingen und Crescence aufgetragene Programm absolviert, Resultat einer massiven Anstrengung ist, diese Muster eben nicht nur nachzuahmen, sondern sie »um eine ganze Stufe höher« zu heben: Er deklariert ihre Nachahmung zum Instrument dafür, in der paradoxen Verschränkung von Simulation und deren gleichzeitiger Markierung als solcher die Authentizität seines »guten Willens« dazu zu beweisen, im selbst absichtslosen Eingehen auf »die Ansicht der andern« das Ehepaar Hechingen zu versöhnen und Stanis Verlobung mit Helene vorzubereiten. Etymologisch gelesen, verweist der Begriff der »Höflichkeit« in diesem Zusammenhang auf ein Verhaltensparadigma, das mit dem Zusammenbruch der Monarchie ebenso obsolet geworden war wie die Rolle des Hofnarren, auf ein am strengen gesellschaftlichen Reglement absolutistischer Hofkultur geschultes Benehmen, das zur Zeit der Vollendung von Der Schwierige zum Relikt einer unwiederbringlich verlorenen Epoche und damit zur bloßen Pose geworden war: Furlanis »Höflichkeit« und mit ihr diejenige, mit der Hans Karl diese Pose imitiert, verdichtet sich im Motiv des Blumentopfs zum Sinnbild einer sozialen Formgebungskonvention, die nur noch den metaleptischen Verlust ihrer Balance dazu einsetzen kann, ihre kommunikative Bonitätsbehauptung zu decken. Hans Karls Antwort auf Helenes Rückfrage nach dem Schicksal des von Furlani balancierten Blumentopfs – »Aber er wirft ihn hinunter?« (SW 12, S. 68) – bereitet mit der Bestätigung dessen, dass der Blumentopf tatsächlich fällt, den Moment vor, in dem dieser Balanceverlust in den Dialog mit ihr einbrechen wird: »Aber wie er ihn hinunterwirft, darin liegtʼs! Er wirft ihn hinunter aus purer Begeisterung und Seligkeit darüber, daß er ihn so schön balancieren kann! Er glaubt, wenn manʼs ganz schön machen tät, müßtʼs von selber gehen.« (Ebd.) Ergebnis des gelingenden Balanceakts ist mithin eine »Begeisterung und Seligkeit« über dessen Gelingen, die die Balance zerstört; »von selber« entsteht sie auch dann nicht, »wenn manʼs ganz schön machen tät«, da sie das permanente aktive Austarieren eines prekären Gleichgewichts zur Voraussetzung hat, die »beständigen Entschlüsse des contre-
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equilibristen« aus der Arbeitsschicht von 1917 also. »Und das hält der Blumentopf gewöhnlich nicht aus und fällt hinunter«, bemerkt Helene dazu »vor sich« (SW 12, S. 68), unmittelbar bevor der sinnbildliche Blumentopf der Konversation gleich doppelt in ihren Dialog mit Hans Karl einfällt, nämlich mit der Konversation der anderen Gäste über den Niedergang des »Konversationmachens«. Eigentlich an Edine gerichtet, klassifiziert Altenwyls Klage – »Dieser Geschäftston heutzutage! Und ich bitte, auch zwischen Männern und Frauen: dieses gewisse Zielbewußte in der Unterhaltung!« (Ebd.) – die Trockenheit, mit der Helene die Hans Karls ästhetischem Programm zugrunde liegende Paradoxie aufgewiesen hat, als »Geschäftston« und die Art, in der Hans Karl anhand der Figur des Furlani den Dialog mit ihr führt, als »dieses gewisse Zielbewußte«, das nichts mehr gemein hat mit der »Höflichkeit«, die Hans Karl Furlani und damit sich selbst in diesem Dialog beigelegt hatte. »Man will doch ein bißl eine schöne Art, ein Versteckenspielen«, antwortet Edine, und Altenwyl fährt fort: »Die jungen Leut` wissen ja gar nicht mehr, daß die Sauce mehr wert ist als der Braten – da besteht ja eine Direktheit!« (SW 12, S. 68f.) Das »Versteckenspielen«, das Hans Karl mit Helene im Sprechen über Furlani betrieben hatte, geht damit seinem Ende zu. Die letzten Worte, die Hans Karl über Furlani spricht, lassen in einem letzten komischen Effekt Spiel und Realität ineinander umschlagen: »Wenn man dem Furlani zuschaut, kommen einem die geschicktesten Clowns vulgär vor. Er ist förmlich schön vor lauter Nonchalance – aber natürlich gehört zu dieser Nonchalance genau das Doppelte wie zu den andern ihrer Anspannung« (SW 12, S. 69). Das »Doppelte« meint hier über die gesteigerte Anstrengung, die seiner wie Furlanis »Nonchalance« zugrunde liegt, hinaus den doppelten Umschlag, als den Hans Karl das Finale seines clownesken Darbietungsprogramms vollzieht. Zum einen enthüllt Hans Karl damit die reine Sprachförmigkeit Furlanis: »Förmlich schön« ist Furlani, weil Hans Karl ihm eine sprachliche Form gibt, die ihn von den »geschicktesten Clowns« abhebt; Furlani zeigt sich hier also nicht mehr als Clown, sondern als die Kreatur Hans Karls, als die er dessen Rede über die unauflösliche Verschränkung von »Anspannung« und »Nonchalance«, Simulationsakrobatik und realitätstauglichem Authentizitätsanspruch unter den Schutz des närrischen Wahrheitsprivilegs gestellt hat. Gleichzeitig ist diese Passage der Ausgangspunkt dafür, dass das »gewisse Zielbewußte in der Unterhaltung« mit Helene nun explizit thematisiert wird. Helenes Kommentar dazu – »Ich find auch alles, wo man eine Absicht merkt, ein bißl vulgär« – führt dazu, dass Hans Karl aus der Rolle uneigentlichen Sprechens heraustritt: »Oho, heute bin ich selber mit Absichten geladen, und diese Absichten beziehen sich auf Sie, Gräfin Helene.« (Ebd.) Der komische Effekt dieser Dialogsequenz entsteht daraus, dass diese »Absichten« das ganze Gegenteil seiner wirklichen Absichten sind, spricht Hans Karl hier doch von seiner geplanten Vorbereitung der Verlobung Helenes mit Stani, während die pantomimischen Signale Hans Karls im ersten Akt darauf hingedeutet haben,
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dass er selbst in Helene verliebt ist. Wie zuvor weist Helene prompt auf die diesem Widerspruch unterliegende Spannung hin, indem sie Hans Karls Gebrauch ihres Titels als Distanzierungssignal erkennt – »Oh, Gräfin Helene! Sie sagen »Gräfin Helene« zu mir?«–, und wie zuvor bricht damit die »Konversation« in den Dialog zwischen beiden ein, diesmal in den Worten Hans Karls selbst: »Nein, im Ernst, ich muß Sie um fünf Minuten Konversation bitten – dann später, irgendwann – wir spielen ja beide nicht.« (Ebd.) »Ernst« ist hier freilich am Ende nicht seine Bitte »um fünf Minuten Konversation«, von denen Helene sofort befürchtet, das könne »nichts Gutes sein« (ebd.); »ernst« im Sinne seiner wirklichen Absichten ist vielmehr die Bemerkung »wir spielen ja beide nicht«. Im Kontext auf den ersten Blick darauf bezogen, dass sie beide nicht an dem während der Soiree von einigen Gästen zelebrierten Bridge-Spiel teilnehmen, kündigt die Bemerkung auf den zweiten Blick an, dass Hans Karl und Helene während dieser »Konversation« nicht spielen werden, und bereitet damit das Einmünden des späteren Gesprächs in die Verlobung beider vor. Die Figur des Furlani hat damit ihre Funktion für die Komödie erfüllt. Anhand der »beständigen Entschlüsse des contre-equilibristen«, als der Hans Karl durch das Erzählen von dem Zirkusclown den Blumentopf des »Konversationmachens« zu Fall bringt, in virtuoser Verbalakrobatik ausgespielt, ist sie zugleich Ressource und Produkt der Sprachhandlung: Auf der Handlungsebene erscheint sie als Ressource, insofern diese den Zirkus als außerhalb des Geschehens erfahrene Realität inszeniert; auf der poetologischen Ebene ist sie das Produkt einer Narrenweisheit, die die ebenso paradoxe wie unauflösliche Gleichzeitigkeit von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit als Kernqualität sprachlicher Kommunikation diagnostiziert. In der Doppelfigur aus Hans Karl und Furlani wird die Sprachskepsis der Klassischen Moderne so zum Instrument jenes Wahrheitsprivilegs, mit dem einst der Hofnarr und nach ihm die moralisierende Narrenliteratur der frühen Neuzeit die Grenze zwischen Spiel und Wirklichkeit als epistemologisches Artefakt demaskiert hatten. Die poetologische Äquilibristik des Balanceakts, durch den die Komödie diese Grenze zum Kollaps bringt, unterwirft damit das »Konversationmachen« derselben Logik, mit der die Figur des Narren durch die Französische Revolution von 1789 auf dem Theater obsolet geworden war, indem sie es als komisch verzerrtes Klischee zum reinen Zirkusprogramm deklassiert. Auch Hofmannsthals doppelte Narrenfigur verlässt deshalb am Ende ostentativ die Bühne: Nach erfolgter Verlobung verschwindet Hans Karl und verweigert so die Pantomime »der Umarmung des verlobten Paars«, deren Fehlen Stani in seinen Schlussworten als Bruch mit den konventionell üblichen »Formen« (SW 12, S. 144) moniert – und stattdessen die pantomimische Imitation dieser Umarmung durch seine Mutter Crescence und Helenes Vater in Auftrag gibt, mit der die »Konversation« dann endgültig verstummt.
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Störenfriede, worauf warten wir noch? Eine Stelle bei Blanchot Gerhard Richter
Das weitreichende kritische Schaffen Dieter Thomäs, das der vorliegende Band würdigt, kann, so legen die Herausgeber zurecht nahe, als ein stets grenzüberschreitendes Denken verstanden werden, als eine theoretisch durchwirkte Praxis des Schreibens, die es darauf abgesehen hat, an die offensichtlichen wie an die versteckten Grenzen des Bestehenden und des innerhalb der jeweils vorherrschenden Wahrnehmungsschemata einer Kultur überhaupt Denkbaren zu rühren. So lässt sich Thomäs Art des Denkens in der Tat als die Praxis eines agent provocateurs verstehen, als das Werk eines rastlosen mainómenos, eines ikonoklastischen Quertreibers also, der in der Tradition Sokrates’ steht, welcher ebenfalls als ein solcher bezeichnet wurde. Thomäs facettenreiches kritisches Werk setzt sich dabei nicht nur mit der Figur des Störenfrieds auseinander, es sieht sich auch selbst dem vielschichtigen Erbe des Störenfrieds als unhintergehbare Voraussetzung des eigenen grenzüberschreitenden Diskurses verpflichtet. Nicht umsonst heißt es bei Ernst Bloch programmatisch: »Denken heißt überschreiten.«1 Und wer denkt, das heißt Grenzen überschreitet, wird in diesem Überschreiten, das immer auch einen Akt der gleichzeitigen Anerkennung und Nicht-Anerkennung des jeweils Überschrittenen darstellt, als provozierende Figur, als Unruheherd innerhalb des Bestehenden wahrgenommen. Der genuine Denker ist, noch vor allem Inhalt des jeweils Gedachten, strukturell bereits ein Störenfried, weil er sich – überschreitend – eben nicht mit dem Gegebenen und Unhinterfragten begnügen mag. In Puer robustus. Eine Philosophie des Störenfrieds beschreibt Thomä die Figur des Störenfrieds, die er im
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E. Bloch: Prinzip Hoffnung, S. 2.
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Diskurs der Moderne von Hobbes über Rousseau, Schiller und Marx bis hin zu Carl Schmitt und anderen nachzeichnet, auf besonders anschauliche Weise: Der puer robustus schlägt zu, eckt an, begehrt auf. Er spielt nicht mit, gibt nicht klein bei, handelt auf eigene Faust, verstößt gegen Regeln. Er ist unartig, unverschämt, unbequem, unbehaust, unbekümmert. Er wird gefürchtet, ausgegrenzt, abgestraft, aber auch bewundert und gefeiert. Der puer robustus – der kräftige Knabe, der starke Kerl – ist ein Störenfried. Der Störenfried stört den Frieden. Er ist also nicht gerne gesehen – es sei denn, er wendete sich gegen einen faulen, falschen Frieden. Dann dankt man ihm für den Bruch mit der bleiernen Zeit. Mit seinem abstoßend-anziehenden Gesicht passt er auf eines jener Wackelbilder, mit denen ich als Kind gespielt habe: Wenn man sie nur ein bisschen zur Seite kippte, verwandelte sich die grimmige in eine freundliche Miene – oder umgekehrt. So kennt man den puer robustus als Unhold oder Held, Schreck- oder Wunschbild, Angstgegner oder Leitfigur. Der Streit, der sich am puer robustus entzündet hat, betrifft nicht irgendein, sondern das Problem der politischen Philosophie: die Frage, wie sich eine Ordnung etabliert und legitimiert, wie sie kritisiert, transformiert oder attackiert wird, wie Menschen von dieser Ordnung einbezogen oder ausgeschlossen werden, sich anpassen oder quertreiben. Zum Thema der Ordnung gehört notwendigerweise das der Störung, also auch die Rolle von Außenseitern und Randfiguren, Querulanten und Quertreibern. Die politischen Aufbrüche und Umbrüche der Moderne stehen, so meine ich, für Krisen, die nicht vom Zentrum der Macht, sondern vom Rand her zu verstehen sind. Entsprechend kann auch nur dort der Umgang mit diesen Krisen gelernt und ihre Lösung gesucht werden.2
Dieses Denken der Krisen vom Rande her, sozusagen über die Randgänge des Denkens und der Erfahrung, ist damit kein ausschließlich philosophisches – es zielt vielmehr in das eigentliche politische Herz der Moderne und ihrer »Traditionsbrüche« (Arendt). Die Unentscheidbarkeit des Störenfrieds, die Unlesbarkeit seines wechselhaften Antlitzes, von der Thomä berichtet, verdankt sich dabei seinem doppelten Charakter zwischen Befreier von unnötigem Leiden bzw. von Ungerechtigkeit und – andererseits – Zersetzer der von einer Gemeinschaft vermeintlich befürworteten Ordnung der Dinge. Will man Logik und Struktur einer bestehenden Ordnung fassen lernen, so ist es notwendig, nicht nur das (Macht)zentrum dieser Ordnung zu beleuchten, sondern die jeweilige Ordnung gerade auch vom Standpunkt dessen aus zu betrachten, das eben nicht in das System dieser Ordnung passt, sich aufgrund seiner Randständigkeit nicht nahtlos einfügen kann oder will, sondern durch sein bloßes Existieren bereits eine Provokation gegenüber dem Bestehenden darstellt. Gegebenenfalls ließe sich der Störenfried unter diesem Gesichtspunkt auch als eine Art Autoimmunschwäche eines bestehenden Systems auffassen – um
2
D. Thomä: Puer Robustus, S. 11f.
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einen Begriff des späten Derrida aufzugreifen3 –, eine Autoimmunschwäche also, durch die sogar das nach außen am stärksten und am ehesten unumstößlich wirkende System ungewollt sich selbst zersetzen kann, so vielleicht, wie es in H.G. Wells The War of the Worlds am Ende eine Art Schnupfen ist – ein Erkältungsvirus, der die übermächtigen und durch keines von den Menschen zum Einsatz gebrachten militärischen Mitteln zu bewältigenden außerirdischen Invasoren, welche die Erde als Kolonialmacht besetzen wollen –, der die Besatzer unverhofft doch noch zu Fall bringt. Einen quertreibenden Störenfried stellt man sich dabei womöglich so vor, dass er aktiv eine bestehende Organisationsstruktur unterläuft, indem er bewusst gegen ausdrückliche oder unausgesprochene Regeln verstößt oder andere zu einem solchen Verstoß ermutigt oder gar anstiftet. Man mag in der jüngeren deutschen Geschichte etwa an die Figur des politischen Aktivisten Rudi Dutschke denken, der als Wortführer der studentischen 1968er-Bewegung gegen das Diktat des Bestehenden opponierte. Selbst wenn sich die Figur eines Störenfrieds nicht eines deutlichen oder im Nachhinein rekonstruierbaren rechtlichen Verstoßes schuldig macht, lässt der Störenfried sich zumindest seine Missbilligung oder Nicht-Akzeptanz einer so oder so gearteten normativen Ordnung anmerken – und stiftet so zur Unruhe, vielleicht sogar zur einer umstürzlicheren Haltung oder Handlung an. Dem Widerstand, den der Störenfried gegen das Bestehende leistet – auch wenn es kein so öffentlicher Widerstand ist, wie eine Figur wie Dutschke ihn geleistet hat – , haftet immer etwas Aufrührerisches an, das ihn im Hinblick auf die jeweilige Gemeinschaft, in der er agiert, als Außenseiter erscheinen lässt, der es darauf abgesehen hat, die gerade geltenden Prinzipien dieser Gemeinschaft auf irgendeine Weise zu schwächen, zu unterbrechen oder eventuell völlig außer Kraft zu setzen. Ob der Störenfried innerhalb der normativen Ordnung, in die er einbricht, nun als positiv oder negativ kodiert wird – man mag an Freiheitskämpfer wie Nelson Mandela denken oder an Bürgerrechtler wie Martin Luther King Jr., die beide den zivilen Ungehorsam verfochten –, er wird im Normalfall als ein sich aktiv einmischendes Element wahrgenommen, das durch bewusstes Eingreifen, Manipulieren oder Unterhöhlen das Bestehende in Frage stellt. Vielleicht mischt er sich aktiv in das Politische ein, vielleicht nimmt er aber auch als im Stillen agierender Unruhestifter nur indirekt Einfluss auf das jeweils aktuelle politische Geschehen. Mal ist er offen Rebell, mal stategisch agierender Skeptiker; mal handelt er also in der Sichtbarkeit des Öffentlichen, mal zieht es ihn hinter die offiziellen Kulissen eines bestimmten Systems. Jedenfalls wartet er nicht erst noch auf seine Chance – er greift jetzt ein, unterbricht, stört, hinterfragt, unterwandert.
3
Vgl. J. Derrida: Schurken.
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Wie aber wäre die Rolle eines Störenfrieds zu denken, so könnte nun gefragt werden, wenn man ihn nicht mit dem aktiven Beeinflussen oder Unterbrechen des Bestehenden seiner Welt identifizierte, sondern sich ihm über das Denken eines Begriffs näherte, der im herkömmlichen Verständnis eher mit Passivität und Zurückhaltung in Bezug gesetzt wird? Ein derartiger Begriff ist der des Wartens. Als eine Art Meisterdenker des Wartens darf Maurice Blanchot betrachtet werden, der dem Warten und den mit ihm verbundenen Formen der Wachsamkeit in verschiedenen seiner literarisch-philosophischen Werke nachgeht, vielleicht jedoch nirgendwo nachhaltiger und denkwürdiger als in L’attente l’oubli, seinem 1962 erschienenen, formal schwer zu klassifizierenden Text, der im Deutschen den Titel Warten Vergessen trägt. In einer Art meditativem, gespentischem Gespräch zwischen zwei nicht näher definierten Personen, die sich offenbar in einer Art Liebesbeziehung zueinander befinden und die von Blanchot lediglich über grammatikalische Markierungen als männlich und weiblich ausgewiesen werden, dreht es sich unter anderem um die Idee und die Erfahrung des Wartens. So heißt es an einer entscheidenden Stelle des Textes: Warten, wachsam werden für das, was das Warten zu einem Akt der Unentschiedenheit macht, in sich zusammengerollt, in Kreise geschnürt, von denen der innerste und der äußerste eins sind, Wachsamkeit, vor Warten zerstreut, die sich schließlich zum Unerwarteten kehrt. Warten, Warten, das Weigerung ist, auf etwas Bestimmtes zu warten, stille Weite, die entsteht durch die eigenen Schritte. Er stand, das war sein Eindruck, im Dienst einer ursprünglichen Zerstreutheit, die sich erreichen ließ nur in der verzerrten und zersetzenden Form von Akten äußerster Wachsamkeit. Wartend, doch in der Abhängigkeit von etwas, worauf sich nicht warten ließe. Warten scheint für sie die Auslieferung ihrer selbst an eine Geschichte zu bedeuten, deren Vollendung sie ihm zur Verpflichtung machen würde und die sein Fortschreiten auf ein Ziel hin bewirken soll. Die Wachsamkeit müßte bei dieser Erzählung in der Weise ausgeübt werden, daß sie ihn der ursprünglichen Zerstreutheit langsam entrisse, ohne welche die Wachsamkeit freilich, wie er deutlich spürt, zur sterilen Handlung würde. Warten, worauf denn galt es zu warten? Sie war erstaunt, wenn er sie danach fragte, denn für sie gab es nichts über dies Wort hinaus. Wartete man auf etwas Bestimmtes, so wartete man schon etwas weniger.4
Das Warten, wie es hier gedacht wird, ist kein bloßes Erwarten eines noch ausstehenden Eintretens von etwas, keine vorausgehende Bestätigung dessen, was noch kommen wird. In diesem Warten kommt vielmehr eine bislang nur andeutungswei-
4
M. Blanchot: Warten, S. 16f.
Störenfriede, worauf warten wir noch? | 225
se erfahrene Wachsamkeit zum Tragen, eine Wachsamkeit, die, vom Warten ausgehend, von diesem nicht völlig bestimmt und ausgelotet wird. Dieses Warten erwartet kein noch ausstehendes Eintreffen, keine Ankunft, kein Stattfinden einer Verabredung, keinen Termin, keinen vertraglich geregelten Austausch, keine Bestätigung, keine bereits bekannte Verfügung. Vielmehr deutet das von Blanchot gedachte Warten auf eine gewisse Unentscheidbarkeit hin, auf einen Rückzug des voraussetzungslos Verständlichen und damit ein Aussetzen oder gar Ausstehen der Bedeutung. In diesem Sinne verstanden, wartet das Warten nicht auf etwas zu Erwartendes, sondern stets auf das Unerwartete, das einem wahrhaftigen Warten, jenseits aller Erwartung, eine konzentriert-zerstreute Wachsamkeit abfordert. Das Warten, das hier gedacht wird, ist zwar von seiner Abhängigkeit von etwas Erwartbarem nicht abzulösen, dieses Erwartbare erweist sich im emphatischen Warten allerdings als das Unerwartbare schlechthin. Ein solches Warten ereignet sich gewissermaßen ohne Fahrplan, ohne Drehbuch, ja ohne eigentliche Handlung im herkömmlichen Sinne. Jenseits jeglicher Erfüllung, erwartet das wahrhafte Warten die Erfahrung und das Denken des Wartens selbst. »Warten, worauf denn galt es zu warten?« fragt eine der Stimmen in Blanchots Text, nämlich die männliche, die mit einem »Er« gekennzeichnet wird. Für die andere Stimme, die weibliche, die über ein bloßes »Sie« bestimmt wird, besteht das Warten in sich selbst, niemals aber in einem »worauf«, in einer anders-gerichteten Zielstrebigkeit auf ein in dieser oder jener Weise gedachtes Ereignis. Im Gegenteil, das emphatische Warten kommt erst dann ganz zu sich selbst, wenn es sich des Denkens des »auf etwas« entledigt hat, wenn es nur noch in sich selbst besteht. Denn, so Blanchots Figur, »[w]artete man auf etwas Bestimmtes, so wartete man schon etwas weniger«. Wenn es so etwas wie eine Intensitätsskala des Wartens geben kann, dann wird sie dieser Logik zufolge dadurch bestimmt, inwieweit sich das Warten selbst von einem Etwas entfernen kann, sich also vom Erwartbaren des Zukünftigen freisprechen kann. Man wartet deswegen »etwas weniger« wenn man auf etwas Bestimmtes wartet, weil man in dem Fall das zukünftige Ende des Wartens in gewisser Weise bereits vorhersehend vorwegnehmen kann, auch wenn einem für das Ende des Wartens, das durch ein Eintreten oder Eintreffen eines Ereignisses markiert wird, kein genaues Datum zur Verfügung steht. Denn bereits die bloße Vorstellung eines Etwas, eines Objekts des Wartens trägt das mögliche Ende des Wartens als Potentialität in sich, auch wenn sein tatsächliches Stattfinden dem Unbestimmt-Zukünftigen eingeschrieben bleiben muss. Vielleicht wird das Warten hier zu einer Art Lebenshaltung erklärt, einer Daseinserfahrung, die nicht mehr von einem souveränen Selbst und seinem allmächtigen Bewusstsein gelenkt wird. Das Warten wäre, unter diesem Blickwinkel betrachtet, keine bewusste Entscheidung eines autonomen Subjekts, das sich das Warten unter vielen anderen möglichen Handlungen und Haltungen für sich selbst auserkoren hat. Vielmehr stellte das Warten eine Art Hingabe an einen gewissen Seinszu-
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stand dar, ein Sich-Öffnen, ein Sich-Frei-Machen für die Erfahrung der Zeitlichkeit und der Endlichkeit selbst. Dieses Warten wäre nicht mit bloßer Passivität oder mit Resignation zu verwechseln, es verkörpert auch keinen Rückzug aus dem Leben in die Unterordnung des Selbst unter das Bestehende, dessen Ansprüche und Verfügungen, wie sie auch jeweils ausfallen mögen, einfach passiv übernommen, ja schweigend hingenommen werden. Im Gegenteil, das Warten, wie Blanchot es zu denken versucht, hätte sich an der eigenen Unentscheidbarkeit und an der Unentscheidbarkeit der Daseinserfahrung selbst dergestalt auszurichten, dass gerade im Warten auf nichts Bestimmtes und Bestimmbares auch eine Art Widerstand gegen die Normen und Erwartungen des jeweils bloß Bestehenden Niederschlag findet. Ein solches Warten müsste dabei kein messianisches sein, wie es im theologischen Denken des historischen Messianismus sich ausprägt. Es würde sich wohl auch nicht um das Warten von Kafkas Mann vom Lande handeln, welcher im Laufe der Türhüter-Parabel in Der Proceß vergeblich auf Einlass in das Gesetz wartet. Auch wäre eine solche Idee des Wartens nicht auf ein Denken von erfahrener Abwesenheit als Vorstellung ferner (aber uns prinzipiell unzugänglicher) Anwesenheit zu verstehen, wie es zum Beispiel in Becketts Warten auf Godot der Fall ist. Vielleicht weist das hier gedachte Warten am ehesten noch gewisse Berührungspunkte mit dem Denken des Wartens bei Siegfried Kracauer auf, der in seinem Text »Die Wartenden« (1922) zu dem Schluss kommt: »Übrig bleibt vielleicht nur noch die Haltung des Wartens.« Dieses »Warten«, so Kracauer, » ist ein zögerndes Geöffnetsein in einem allerdings schwer zu erläuternden Sinne«.5 Versteht man unter dem »Warten ein Geöffnetsein, das natürlich keineswegs mit einer Entspannung der auf die letzten Dinge hinwirkenden Seelenkräfte verwechselt werden darf«, dann erblickt man darin »angespannte Aktivität und tätiges Sichbereitmachen«, ein Sichbereitmachen, das »nur Vorbereitung des Nichterzwingbaren: der Wandlung und der Hingabe ist«.6 Das zögernde Geöffnetsein, von dem hier die Rede ist, rührt an die Erfahrung des unentscheidbaren Wartens bei Blanchot, insofern nämlich auch dort das Warten keine Entspannung und keinen Rücktritt aus der Welt markiert, sondern eine Art unvorgreifliche Vorbereitung auf jenes, auf das man sich im strengen Sinne nicht vorbereiten, das man nicht erzwingen und nicht erschaffen, dem man sich jedoch mit einer gewissen Wachsamkeit hingeben und dem gegenüber man seine Aufmerksamkeit schärfen kann. Dass in dieser Wachsamkeit des Wartens nicht lediglich eine Selbstreferentialität des Subjekts, sondern vielmehr ein nachhaltiger Weltbezug angelegt ist, davon weiß Kafka – einer von Blanchots bevorzugten Autoren und intertextuellen Be-
5
S. Kracauer: Die Wartenden, S. 116.
6
Ebd., S. 117ff.
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zugspunkten7 – zu berichten. In einem der Zürauer Aphorismen Kafkas heißt es: »Es ist nicht notwendig, daß Du aus dem Haus gehst. Bleib bei Deinem Tisch und horche. Horche nicht einmal, warte nur. Warte nicht einmal, sei völlig still und allein. Anbieten wird sich Dir die Welt zur Entlarvung, sie kann nicht anders, verzückt wird sie sich vor Dir winden.«8 Nicht nur findet im stillen Warten ein Bezug zur Welt statt, der das Weltliche der Welt nicht vernachlässigt oder gar verneint, im Warten bietet sich die Welt aus offenbar eigenen Stücken sogar »zur Entlarvung« an. In gewisser Weise entlarvt sie sich stets selbst, kommt auf ihren wartenden Kritiker zu und öffnet sich seinem hinterfragenden Blick. Selbst wenn das Warten des Kritikers überhaupt nicht als ein Warten »auf« die Welt beabsichtigt war, sondern vielmehr als eine Art nicht-zielgerichtetes Warten, in das die Welt dann gewissermaßen erst nachträglich einbricht, so hat dennoch der Gedanke Bestand, dass sich die Welt dem Wartenden, der sich in Zurückhaltung und zögernder Offenheit übt, offenbart und ihm wesentliche Gesichtspunkte ihres Seins preisgibt. Der Wartende, der bei Kafka zu Hause still an seinem Tisch sitzt, könnte in diesem Sinne auch als wachsamer Kritiker dieser Welt verstanden werden, der es gelernt hat, die Zeichen jener Welt, die sich ihm entlarvend darlegt, aufmerksam, doch in besonnener Gelassenheit zu lesen. Ein solcher Wartender stört durch sein zögerliches Warten den reibungslosen Ablauf des Geschehens in dieser Welt, steht (bzw. sitzt) er doch quer zu dem nur verschleierten, undeutlichen Bild, das die Welt sonst von sich abzugeben pflegt. Kann also auch ein Wartender am Ende ein Störenfried sein? Ist es möglich, dass auch die Haltung, Erfahrung oder Grundstimmung des Wartens einen Bruch mit dem vermeintlich Bestehenden benennt? Könnte der Riss, den der Störenfried in das so oder so geartete Bestehende einfügt oder in diesem sichtbar macht, ebenfalls durch ein gewisses Zögern, Sichverweigern, Nachdenken, die dem Warten auch eignen, erfolgen? Steckt im zögernden Geöffnetsein eines Wartens, das auf nichts (mehr) wartet, nicht ebenfalls eine Geste des Widerstands, eine Geste also, die sich dem Erfahrungsraum des modernen Subjekts und seiner spezifischen Lebensformen unverhohlen stellt, ja sich in seiner Skepsis gegenüber der binären Möglichkeiten von Ja und Nein, die unseren neoliberalen Rhythmus auf dem globalen Markt zu diktieren scheinen, den inneren Widersprüchen unserer heutigen Lebenswelt erst zuwenden kann? Denn das Warten – wenn es keine bloße Unentschlossenheit, Trägheit oder Willenschwäche ist – , unterbricht die Metaphysik der Tat, der Handlung und des direkten Eingriffs, wendet es sich doch, »zusammengerollt, in Kreise geschnürt«, wie Blanchot schreibt, über die zwischen Festigung und Zerstreuung sich entfaltende Wachsamkeit, dem »Unerwarteten« zu. Das Unerwar-
7
Vgl. zum Beispiel M. Blanchot.
8
F. Kafka: Aphorismen, S. 117.
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tete oder Un-er-wartete des Wartens, dasjenige also, welches das Warten sich nie erarbeitet oder er-wartet haben kann, ist nicht nur das, was sich dem Warten entzieht, es rührt auch in seiner Unvorhersehbarkeit an das Kontingente und Aleatorische, das sich dem Bestehenden nie restlos einfügt. Doch selbst diese Dimensionen des Wartens sind nicht als Rezepte oder kalkulierbare Algorithmen aufzufassen, denn dann fänden sie sich wiederum einem Erwartbaren und von vornherein Erwägbaren zugehörig. Aber das, was am und im Warten den Frieden stört und den Wartenden zwar nicht zu einem puer robustus – weil dem Wartenden alle Burschikosität abgehen mag – , aber dennoch zu einem unberechenbaren Störenfried macht, wäre jenseits aller vorprogrammierten Verwertbarkeit und aller vorwegnehmenden Bedeutungsverwaltung zu suchen. Denn der wartende Störenfried weiß: Dann und nur dann, wenn man auf nichts Bestimmtes wartet, wartet man nicht bereits etwas weniger.
LITERATUR Blanchot, Maurice: Warten Vergessen, übers. von Johannes Hübner, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1964, 16f. Blanchot, Maurice: Von Kafka zu Kafka, übers. Elsbeth Dangel, Frankfurt am Main 1993. Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, Werkausgabe Bd. 5, Frankfurt am Main 1985. Derrida, Jacques: Schurken. Zwei Essays, übers. von Horst Brühmann, Frankfurt am Main 2006. Kafka, Franz: Die Zürauer Aphorismen, hg. von Roberto Calasso, Frankfurt am Main 2006. Kracauer, Siegfried: »Die Wartenden«, in: Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt am Main 1989, S. 106-119. Thomä, Dieter: Puer Robustus. Eine Philosophie des Störenfrieds, Berlin 2016.
Siegfried Kracauer: Wirklichkeit als Störung Bernd Stiegler
Siegfried Kracauer hat auf ebenso beharrliche und irritierende wie programmatische und subtile Weise versucht, die filmische Wirklichkeit als Störung zu denken. Zwischen Ideologie und Errettung, Kritik und Affirmation pendelt sein Bild des Films, der bei aller Buntscheckigkeit und Heterogenität hingegen immer eines ist: eine Wirklichkeit, die sich gegen die Wirklichkeit stellt. Diese paradoxe Grundkonstellation durchzieht alle seine größeren Arbeiten zum Film und bestimmt die theoretische Ausrichtung seiner Analysen. Auch diese vollziehen zwar diverse politische und weltanschauliche, ästhetische und konzeptuelle Volten und bilden alles andere als eine homogene Theorie, bleiben sich aber in einem treu: Sie imaginieren eine Wirklichkeit, die sich voller Emphase einem ideologisch festgefügten Bild entgegenstellt. Es sind Filmbilder, die sich gegen ideologische Wirklichkeitsbilder stellen, und selbst in der pathetischen Formel einer »Errettung der äußeren Wirklichkeit« geht es ihm um einen Widerstand gegen die Vereinnahmung durch die Ideologie. Diese Bilder entziehen sich konsequent dem Zugriff des Menschen, sind ungestalt, widerständig, unformatiert und unkontrolliert. Die errettete äußere Wirklichkeit ist vor allem eines: Störung. Kracauer hat das Ungestalte und Unformatierte und mit diesen eine widerständige Wirklichkeit als das Ureigenste der Fotografie und des Films zu denken versucht, als seine besondere Aufgabe und Möglichkeit. Was ich im Folgenden versuchen will, ist seine Theorie als einen Denkweg in drei Etappen zu rekonstruieren, der auf je unterschiedliche Weise dem Unformatierten, Widerständigen, Ungestalten, Störenden der Wirklichkeit eine zentrale Rolle zuweist. Dies hat etwas – wir sind noch ganz in analogen Zeiten – mit der Ontologie des Films zu tun, aber auch mit seiner besonderen Geschichte, da Kracauer – emphatisch genug – das Wesen des Films an seine fotografische Natur und Herkunft knüpft. Gerade weil der Film ein fotografisches Medium ist, erscheinen das Unformatierte, das Rohe, das Ungestalte, die Oberflächen der Dinge in sichtbarer Gestalt auf der Leinwand und ma-
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chen, so würde Kracauer sagen, den Film zum Film. Das Störende, Ungestalte ist das Herz der filmischen Wirklichkeit. Kracauer versieht bekanntlich seine Theorie des Films von 1960 mit dem ebenso programmatischen wie emphatischen Untertitel »Die Errettung der äußeren Wirklichkeit«. Diese verdankt sich der besonderen Fähigkeit des Films, eine ungestellte und ungestalte Realität aufzuzeichnen, eine »Natur im Rohzustand«, die eben nicht ästhetisch, formal, narrativ oder gattungsorientiert formatiert ist. Dieses Programm einer »Errettung der äußeren Wirklichkeit« ist dabei weder selbstverständlich noch einer durchgängigen und ungeteilten Begeisterung Kracauers hinsichtlich der Fotografie oder des Films geschuldet. Kracauer hatte 1927, also fast drei Jahrzehnte vorher, der Fotografie einen längeren Essay gewidmet, in dem er mit ihr ordentlich ins Gericht ging. Und er hatte in seinen Studien zur nationalsozialistischen Propaganda die Fotografie und insbesondere den Film gerade in ihren propagandistischen Möglichkeiten untersucht. Von Rettung oder Errettung ist hier nicht die Rede, eher vom Untergang. Der folgende kleine Rundgang durch die Filmtheorie Kracauers hat drei Etappen, bei denen es jeweils um unterschiedliche Spielformen der widerständigen filmischen Realität geht, die ihrerseits auf unterschiedliche historische Konstellationen reagieren. Die erste Etappe führt uns zurück in das Jahr 1927 in die erste Hochzeit der dokumentarischen Fotografie, genauer in die erste Blütezeit der illustrierten Presse. Die zweite ist dann mitten in der Zeit des Nationalsozialismus angesiedelt und die dritte dann deutlich nach ihr, nämlich im Jahr 1960. 1. Kontingenz als Störung Wir schreiben das Jahr 1927. Die Fotografie hat unübersehbar Einzug gehalten in die illustrierte Presse. Überall erscheinen Bildberichte, die kleine oder große Geschichten erzählen, aus fernen Ländern berichten und über wichtige Ereignisse informieren. Die Zeit ist verliebt ins Bild, die ganze Welt wird in Fotografien, Fotoserien oder Filme gebannt, der pictorial turn wird massenmedial umgesetzt. 1927 erscheint Ruttmanns Berlin. Symphonie einer Großstadt in den Kinos und werden Vertovs Beiträge der Kino-Prawda gezeigt, die von einer neuen Wirklichkeit nicht nur träumen, sondern diese aktiv erzeugen wollen. Die Großstadtsymphonien, die auch von anderen Städten erscheinen, sind das eine, die faszinierende Ferne, wie sie Flahertys Nanook der Eskimo, bereits fünf Jahre vorher zeigte, das andere. Es entstehen die ersten Gattungen und Formate, die das fotografische und filmische Material dann über Jahrzehnte hinweg organisieren sollten. Die Welt erblickt sich im Spiegel der Fotografie und des Films und sie tut es in der Regel lustvoll. Siegfried Kracauer beobachtet diese Entwicklung hingegen äußerst kritisch und teilt keineswegs Walter Benjamins Vision einer politischen Aufklärung im Zeitalter
Siegfried Kracauer: Wirklichkeit als Störung | 231
der massenmedialen technischen Reproduzierbarkeit – im Gegenteil: die Fotografie ist in seinen Augen erst einmal einer der mächtigsten Agenten der Gegenaufklärung und der Volksverdummung. Sein Essay »Die Fotografie« beginnt mit einer Art imaginären Montage, einer Gegenüberstellung von zwei Bildern, die jedes für sich den Lesern vertraut gewesen sein dürften. Daher braucht es keine Namen und auch keine Abbildungen, allein die Bildbeschreibungen evozieren unmittelbar Vorstellungsbilder. So sieht die Filmdiva aus. Sie ist 24 Jahre alt, sie steht auf der Titelseite einer illustrierten Zeitung vor dem Excelsior-Hotel am Lido. Wir schreiben September. Wer durch die Lupe blickte, erkannte den Raster, die Millionen von Pünktchen, aus denen die Diva, die Wellen und das Haus bestehen. Aber mit dem Bild ist nicht das Punktnetz gemeint, sondern die lebendige Diva am Lido. Zeit: Gegenwart. […] Sah so die Großmutter aus? Die Fotografie, über 60 Jahre alt und schon eine Fotografie im modernen Sinn, zeigt sie als junges Mädchen von 24. Da Fotografien ähnlich sind, muß auch diese ähnlich gewesen sein.1
Was sollen wir nun aber durch diese Gegenüberstellung sehen oder – besser – erkennen? Kracauer versucht, eben jene Qualität der Fotografie zu dementieren, die sie eigentlich auszeichnet: die Ähnlichkeit. Ja, die Fotografie ist ähnlich, das ist unbestreitbar und zwar sowohl bei dem Foto der Großmutter als auch bei dem der Diva, aber diese Ähnlichkeit ist, wie Kracauer unterstreicht, notwendig an einen Augenblick gebunden, und »erfaßt das Gegebene als räumliches (oder zeitliches) Kontinuum«.2 Sie zeigt das Dargestellte eben nur im Moment dieser Aufnahme und entzieht ihm seine Geschichte. Diese erfordere im Gegensatz zur fotografischen Aufnahme eine Wahrnehmung von größeren Zeiträumen, scheide Wichtiges von Unwichtigem und sei an die synthetisierende Leistung des Gedächtnisses und auch der Erzählung gebunden. Nicht so das Foto: Es entkleidet das Dargestellte von der Fülle der Geschichte und reduziert es auf die Kontingenz des Augenblicks. Was bedeutet das nun aber für die visual culture der Weimarer Republik? Was bleibt von der Wirklichkeit im fotografischen Bild übrig? Nach Kracauer wenig, da in seinen Augen die »vollständige Wiedergabe der dem fotografischen Apparat zugänglichen Welt« zu einer Vernichtung der Wirklichkeit schlechthin führt. Die Flut der Bilder zerstört die Bilder des Gedächtnisses und ersetzt eine vom Bewusstsein durchdrungene Erinnerung durch kontingente Fragmente reiner Äußerlichkeit und bloßer Zeitgebundenheit. Das Urteil könnte harscher kaum ausfallen:
1
S. Kracauer: Fotografie, S. 101 f.; mit »Ph«-Schreibung von Photographie auch abgedruckt in S. Kracauer: Werke Bd. 5. 2 sowie in der Essaysammlung S. Kracauer Ornament.
2
Ebd., S. 103.
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Noch niemals hat eine Zeit so wenig über sich Bescheid gewußt. Die Einrichtung der Illustrierten ist in der Hand der herrschenden Gesellschaft eines der mächtigsten Streikmittel gegen die Erkenntnis. Der erfolgreichen Durchführung des Streiks dient nicht zuletzt das bunte Arrangement der Bilder. Ihr Nebeneinander schließt systematisch den Zusammenhang aus, der dem Bewußtsein sich eröffnet.3
Das Reich der fotografischen Bilder ist einer der reinen Äußerlichkeit, der Kontingenz, aber eben auch der Erkenntnisverhinderung und somit der Macht und der Ideologie. Wir haben es mit jener radikalen Medienkritik zu tun, die sich in Schüben durch die Mediengeschichte zieht – von den Kritikern der Lesesucht im 18. Jahrhundert, über Neil Postmans Wir amüsieren uns zu Tode, der hier die Fernsehgesellschaft attackiert, bis hin zur aktuellen Kritik an Computerspielen, Social Media und der Netzkultur. Das Modell ist immer dasselbe und in der MatrixTrilogie in eine filmische Fabel gebracht worden: Die Wirklichkeit wird durch eine virtuelle Welt ersetzt, die sich an ihre Stelle setzt. So weit, so bekannt. Aber – und das macht das Interesse dieses Essays für die Frage nach dem Widerständigen, Störenden, Irritierenden und Ungestalten aus – Kracauers scharfe Kritik schlägt am Ende eine Art dialektische Volte. In der Fotografie erblickt Kracauer nämlich auch das, wie er es nennt, »Vabanque-Spiel der Geschichte«, da die Fotografie gerade durch ihre Kontingenz, Punktualität, Oberflächlichkeit und Geschichtslosigkeit die Möglichkeit eröffnet, die Wahrnehmung zu schärfen, Geschichte und Natur voneinander zu trennen und eine »Vorläufigkeit aller gegebenen Konfigurationen nachzuweisen«.4 Mit anderen Worten: Die Fotografie zeigt, dass alles auch anders sein könnte und dass das, was wir als vermeintlich unveränderlich oder notwendig gegeben ansehen, historisch und somit radikal kontingent ist. Sie trennt Geschichte und Natur und eröffnet, indem sie dies tut, eine Möglichkeit der konkreten Entmythologisierung. Ideologie und Mythos sind, daran erinnert noch Roland Barthes in seinen Mythen des Alltags, der Versuch, Geschichte als Natur und Kontingenz als Notwendigkeit auszugeben. Dem stellt sich die Fotografie und – unter bestimmten Bedingungen – auch der Film entgegen. Sie entwenden uns die Erkenntnis und schenken uns den Zufall. Und dieser leistet immer dann Widerstand, wenn er eben nicht formatiert, in Programme überführt und in Gattungen eingespeist wurde.
3
Ebd., S. 109.
4
Ebd., S. 112.
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2. Die Wirklichkeit als störende Gegenwirklichkeit Wir schreiben das Jahr 1942. Es ist das Jahr des deutsch-sowjetischen Kriegs und das von Stalingrad. Ende Januar findet die Wannseekonferenz statt und beschließt die »Endlösung der Judenfrage«. Der Weltkrieg erreicht Nordafrika und den Pazifik. Mit Lübeck wird die erste deutsche Stadt einem Flächenbombardement unterzogen. Der Widerstand gegen Hitler organisiert sich, bleibt aber erfolglos. Siegfried Kracauer, der zwei Jahre vorher im letzten Moment in die Vereinigten Staaten emigriert war, verfasst in diesem Jahr seine Studie »Propaganda und der Nazikriegsfilm«, in der er u.a. nationalsozialistische Wochenschauen und Feldzugsfilme analysiert.5 Besonders interessiert ihn dabei der eigentümliche Gegensatz zwischen dem »vermeintliche[n] Realismus der Darstellung« und dem offenkundigen ideologischen Gehalt. Ihm geht es darum, herauszufinden, mit welchen Strategien die dokumentarisch getarnten Berichte ihre ideologische Botschaft im Zuschauer zu deponieren suchen. Die Wochenschauen bedienen sich dabei bestimmter Kniffs, etwa einer besonderen Verkettung von Text und Bild, durch die der Kommentar etwas konstatiert, was auf den Bildern nicht zu erkennen ist, und einer Inszenierung, durch welche die Zuschauer zu Augenzeugen werden sollen. »Nichts als die Wahrheit« suggeriert die Inszenierung und doch handelt es sich um »psychologische Überfälle«, die auf die Eroberung des Unbewussten aus sind, das mit Voice Over-Kommentaren, propagandistischem Kartenmaterial oder eingeblendeten Erläuterungen traktiert wird. Heute kommt, das sei à part ergänzt, noch die Musik hinzu, die insbesondere bei Dokumentarfilmen das Gezeigte – freundlich formuliert – orchestriert. Die Abwehr des Ich gegenüber der Fremdbeeinflussung soll durchbrochen und die Wirklichkeit als potemkinsches Dorf neu konstruiert werden. Die Wochenschauen zielen auf eine Vernichtung der »verstörenden Unabhängigkeit der Realität«, die sich – unverständlich genug – den ideologischen Vorstellungen widersetzt, die nun ihre Stelle einnehmen sollen.6 Mitunter, so merkt Kracauer an, ist der Anspruch so universell, dass unklar ist, ob nur die Darstellung der Realität ideologisch verändert werden soll, oder ob sich die Wirklichkeit insgesamt nicht bereits ihrem ideologischen Modell anverwandelt habe. In Zeiten der Fake News haben diese Strategien neue Aktualität gewonnen. Kracauer arbeitet in seinem Aufsatz nun über eine filigrane Analyse von Wochenschauen und sogenannten Feldzugsfilmen die Verfahren heraus, durch die Filmmaterial, das tatsächlich von der Front stammte, ideologisch formatiert wurde. Es geht nicht darum, so Kracauer, »Realität darzustellen, sondern sie zu verfilmen«
5
S. Kracauer: Propaganda. In revidierter Edition in S. Kracauer: Werke 2.1. Ich zitiere im Folgenden die stw-Ausgabe.
6
Ebd., S. 347.
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und zugleich mit einem Narrativ zu versehen, das einem jeden Wirklichkeitsfragment seinen Platz in der Geschichte im Kampf zwischen Licht und Finsternis und dem zwischen Individuum und Volk zuwies.7 Gleichwohl – und das ist eine Denkfigur, die dann in der Theorie des Films weiterentwickelt wird – kommt es vor, dass die formatierte Wirklichkeit sich dem Zugriff entzieht, der sie liquidieren soll. Mitunter unterlaufen Bilder die propagandistische Intention, oder in den Worten Kracauers: »Bilder genuiner Realität klagen die totalitäre Propaganda« an.8 »Der Grund dafür liegt darin, daß die ungestellte Realität ihre eigene Bedeutung in sich trägt, die manchmal die propagandistische Bedeutung, die den Wochenschauen aufgezwungen ist, unterläuft.«9 Die unformatierte, ungestalte, störende Realität entzieht sich der in den Filmen vollzogenen ideologischen Metamorphose der Realität und entlarvt diese als ideologisches Konstrukt. Dieser Gedanke eines Widerstands des filmisch eingefangenen Realen sollte dann zum Kerngedanken seiner Theorie des Films werden. 3. Die konkrete, fragmentarische Welt als Störung Wir schreiben das Jahr 1960. In den Vereinigten Staaten wird John F. Kennedy zum Präsidenten gewählt. 18 ehemalige Kolonien in Nordafrika werden unabhängig. Das auf dem Reißbrett entworfene Brasilia wird neue Hauptstadt Brasiliens. Der israelische Geheimdienst ergreift Adolf Eichmann in Argentinien. Die Antibabypille kommt in Amerika auf den Markt. Psycho kommt in die Kinos und La Dolce Vita erhält die »Goldene Palme«. Erste Filme des direct cinema und des cinéma vérité erscheinen und die vielleicht unzeitgemäßen Betrachtungen von Kracauers Theorie des Films.10 Siegfried Kracauers Theorie des Films ist der – neben Godards Histoire(s) du cinéma – vielleicht konsequenteste Versuch, das Unformatierte, Ungestalte, Störende als dasjenige zu bestimmen, was den Film zum Film macht. Kracauer geht dabei ad fontes, indem er den Film historisch und ontologisch auf die Fotografie gründet und aus dieser die theoretischen Grundunterscheidungen seiner Überlegungen ableitet. Die Kontingenz, die in seinem Essay »Die Photographie« von 1927 noch die »Vorläufigkeit aller gegebenen Konfigurationen« und somit die Möglichkeit einer anderen Ordnung der Dinge markierte, wird nun zur Grundbedingung des Unformatierten, Ungestalten, Störenden und – in einem Zug – zum Wesen des Films. Nimmt
7
Ebd., S. 342.
8
Ebd., S. 361.
9
Ebd.
10 S. Kracauer: Theorie. In einer um den »Marseiller Entwurf« ergänzten und revidierten Edition als S. Kracauer: Werke, Bd. 3. Ich zitiere im Folgenden die stw-Ausgabe.
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man die »fotografische Natur des Films«, so ist in den Worten Kracauers die »Welt des Films ein Fluß zufälliger Ereignisse, der sowohl Menschen wie Objekte mit sich führt.«11 Entscheidend ist dabei, dass der Film sich selbst dann, wenn die formgebende Tendenz dominiert und die ästhetische Gestaltung das filmische Material organisiert und »formatiert«, dem Zugriff des Menschen strukturell entzieht. Kracauer hatte das in einem frühen Entwurf am Beispiel des Theaters verdeutlicht, das anthropozentrisch sei, auf Bedeutungszusammenhänge ziele, ein Ganzes mit Anfang und Ende vorstelle und somit auf Geschlossenheit aus sei.12 Anders der Film, der seinem Wesen nach nicht-anthropozentrisch sei, vor allem materiale Zusammenhänge aufzeige, einen potentiell unabschließbaren Prozess vor Augen führe und die Fragmentierung zu seiner Sache mache. Im Film komme es zu einer Konzentration auf »unbemerkte Elemente unserer Umgebung«, zu einer Anerkennung ihres »unabhängigen Seins« und ihrer »möglichen Wirkung«. »Filme bringen«, so Kracauer, »die ganze sichtbare Welt ins Spiel.«13 Erst kommen die Sinne, dann erst das Bewusstsein. Diese besondere Qualität des Films, immer auch etwas zu zeigen, das sich der Kontrolle des Menschen entzieht, weist ihm eine genuin dokumentarische und zugleich widerständige Funktion zu. Ein jeder Film berge eine ungestellte Realität, eine »Natur im Rohzustand«, die noch nicht für und durch den Menschen eingerichtet sei.14 Die Entfremdung ist sein Prinzip, zeigt der Film doch das Unformatierte, die »Natur in ihrer Undurchdringlichkeit« und ein nicht nur virtuell, sondern höchst konkretes »unerschöpfliches Universum«.15 Kracauer zielt auf eine Theorie des Films, die diesen vor jedwedem ideologischen Zugriff in Sicherheit zu bringen sucht. Der Beobachtung, »daß die physische Realität ständig durch Ideologien verhüllt worden ist«, stellt er nun eine Konzeption des Films entgegen, die die »Erfahrung von Dingen in ihrer Konkretheit« wiederzugewinnen sucht.16 Nicht zuletzt die Erfahrungen des Nationalsozialismus, aber auch der stalinistischen und kommunistischen Ideologien, denen er nun kritisch begegnet, waren ein entscheidender Movens dieser Neubestimmung des Films, der bemerkenswerterweise dann zu sich kommt, wenn er sich dem Zugriff des Menschen entzieht und ganz auf die Welt der Dinge und der Erscheinungen konzentriert. »Das Kino ist materialistisch gesinnt«, schreibt Kracauer, meint damit aber
11 Ebd., S. 13. 12 S. Kracauer: Skizzen. 13 Ebd., S. 819. 14 S. Kracauer: Theorie des Films, S. 216. Diese Formulierung durchzieht das Buch Kracauers und findet sich in diversen Varianten. 15 Ebd., S. 46 und 47. 16 Ebd., S. 388 und 459.
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einen unideologischen Materialismus der konkreten Realität.17 Im Aufzeichnen einer Wirklichkeit, die frei von Glaubensinhalten ist, im Zeigen von Bildern, die ihre eigene Geschichte erzählen, treten »zufällige Ereignisse, verstreute Objekte und namenlose Formen« an die Stelle von Erzählungen und Narrativen, von Deutungen und Erklärungen.18 Fasst man dieses ganz und gar unphänomenologische »Zurück zu den Dingen« als das Wesentliche des Films auf, so eröffnet er die Konkretheit der Erfahrung als »detachierte wie intensive Teilnahme« einer fragmentarischen Welt, die Details, nie aber das Ganze zeigt.19 Kracauers emphatische Theorie einer »Errettung der äußeren Wirklichkeit« versucht dem zunehmenden Abstraktwerden der Lebenswirklichkeit, in der der Mensch »die Realität nur mit den Fingerspitzen berührt«, mit einer eindringlichen Erinnerung an die physische Realität zu begegnen.20 Diese könne dann auch zu einer schmerzhaften Erfahrung werden. Der Film ist eben auch – und das wesentlich – ein Störenfried. »Indem das Kino uns die Welt erschließt, in der wir leben, fördert es Phänomene zutag[e], deren Erscheinen im Zeugenstand folgenschwer ist. Es bringt uns Auge in Auge mit Dingen, die wir fürchten. Und es nötigt uns oft, die realen Ereignisse, die es zeigt, mit den Ideen zu konfrontieren, die wir uns von ihnen gemacht haben.«21 Das Unformatierte kann sich also der vorformatierten, präformierten Einrichtung der Welt widersetzen – und hat letztlich genau dies auch zur Aufgabe. Es ist eine, die nach Kracauer, nur das Kino zu leisten imstande ist. »Unter allen existierenden Medien ist es allein das Kino, das in gewissem Sinne der Natur den Spiegel vorhält und damit die ›Reflexion‹ von Ereignissen ermöglicht, die uns versteinern würden, träfen wir sie im wirklichen Leben an. Die Filmleinwand ist Athenes blanker Schild.«22
17 Ebd., S. 473. 18 Ebd., S. 465. 19 Ebd., S. 385. 20 Ebd., S. 453. 21 Ebd., S. 467. 22 Ebd., S. 468.
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4. Ein Bild
Abb. 1 Manchmal zeigt uns diese Leinwand auch einen zerbrochenen Spiegel. Im Nachlass Kracauers im Deutschen Literaturarchiv Marbach habe ich irgendwo zwischen den tausenden von Papieren einen losen, unbezeichneten film still gefunden, der vermutlich für »Les Yeux sans visage« von Georges Franju angefertigt wurde und wie ein Rätselbild daherkommt. Franjus Film erschien wie Kracauers Theorie des Films 1960 und der Regisseur nimmt bei ihm eine besondere Rolle ein. Zwar bleibt »Les Yeux sans visage« dort unerwähnt, aber am Ende des Buchs – und zwar im Zusammenhang der beiden letzten Zitate aus dem mit »Das Haupt der Medusa« überschriebenen kurzen Abschnitt – geht Kracauer auf Franjus Film »Le Sang des bêtes« ein. Es ist meines Wissens nach das einzige Mal in seinem gesamten Werk, dass Kracauer explizit von den nationalsozialistischen Konzentrationslagern spricht. Auch deshalb kommt dieser Stelle eine besondere Bedeutung zu. Sie sei ausführlich zitiert: Die Filmleinwand ist Athenes blanker Schild. Aber das ist nicht alles. Der Mythos gibt außerdem zu verstehen, daß die Abbilder auf dem Schild oder der Leinwand Mittel zu einem Zweck sind; sie sollen den Zuschauer befähigen –
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und mehr noch: dazu antreiben -, das Grauen zu köpfen, das sie spiegeln. Viele Kriegsfilme schwelgen in Grausamkeiten aus eben diesem Grund. Erfüllen solche Filme ihren Zweck? Im Mythos selber bedeutet die Enthauptung der Medusa noch nicht das Ende ihrer Herrschaft. Athene, so wird uns berichtet, befestigte den entsetzlichen Kopf an ihrer Ägis, um ihren Feinden Schrecken einzujagen. Perseus, dem Betrachter des Spiegelbilds, gelang es nicht, das Gespenst für immer zu bannen. So erhebt sich die Frage, ob es überhaupt sinnvoll ist, die Bedeutung solcher Schreckensbilder in den ihnen zugrunde liegenden Intentionen oder ihren ungewissen Effekten zu suchen. Man denke an Georges Franjus ›Le Sang des bêtes‹, einen Dokumentarfilm über ein Pariser Schlachthaus: Pfützen von Blut breiten sich auf dem Boden aus, während Pferde und Kühe methodisch geschlachtet werden […]. Es wäre töricht, anzunehmen, diese unerträglich widrigen Bilder hätten die Absicht, die Botschaft des Vegetariertums zu verkünden; ebensowenig können sie als ein Versuch gebrandmarkt werden, dunkle Sehnsüchte nach Szenen der Zerstörung zu befriedigen. Die Spiegelbilder des Grauens sind Selbstzweck. Und als Bilder, die um ihrer selbst willen erscheinen, locken sie den Zuschauer, sie in sich aufzunehmen, um seinem Gedächtnis das wahre Angesicht von Dingen einzuprägen, die zu furchtbar sind, als daß sie in der Realität wirklich gesehen werden könnten. Wenn wir die Reihen der Kalbsköpfe oder die Haufen gemarterter menschlicher Körper in Filmen über Nazi-Konzentrationslager erblicken – und das heißt: erfahren –, erlösen wir das Grauenhafte aus seiner Unsichtbarkeit hinter den Schleiern von Panik und Fantasie. Diese Erfahrung ist befreiend insofern, als sie eines der mächtigsten Tabus beseitigt. Perseus’ größte Tat bestand vielleicht nicht darin, daß er die Medusa köpfte, sondern daß er seine Furcht überwand und auf das Spiegelbild des Kopfes im Schild blickte. Und war es nicht gerade diese Tat, die ihn befähigte, das Ungeheuer zu enthaupten?23
Im Film erblickt der Mensch sich selbst, seine Geschichte, seine Welt, das Grauen, für das er verantwortlich ist. Der Film macht sichtbar, indem er etwas zeigt, was in der Alltagsrealität unsichtbar bleibt, weil es verstellt wird, weil es »hinter den Schleiern von Panik und Fantasie« versteckt und verhüllt wird. Erst im Spiegel des Films kann es betrachtet und dann, so die Hoffnung Kracauers, auch gebannt und überwunden werden. In dieser Hinsicht ist der Film ein magischer und zugleich höchst realer Spiegel der Wirklichkeit. Kracauers materialistische Filmtheorie des Unformatierten lässt am Beispiel Franjus ihren historischen Bezug für einen kurzen Moment aufblitzen. Es ist das Grauen, vor dem sie sich entwirft. Kracauers Versuch einer Errettung der äußeren Wirklichkeit ist keineswegs eine Affirmation des Bestehenden und auch keine Verklärung der Oberfläche der Dingwelt wie in den Zeiten der Neuen Sachlichkeit. Sie versieht vielmehr das Unforma-
23 Ebd., 395f.
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tierte, Ungestalte, Störende des Films, der besonderen, weil mit der Fotografie zusammen »einzigen Kunstart, die ihr Rohmaterial zur Schau stellt«, mit einem dezidierten ethischen und auch politischen Index.24 Dieser ist nicht als plumpe politische oder auch theoretisch differenzierte Botschaft zu verstehen, denn es kommt gerade nicht darauf an, eine geschlossene Geschichte zu erzählen, die die aufgezeichneten Fragmente der Wirklichkeit erklären oder sogar verklären würde. Entscheidend ist vielmehr, sie überhaupt zu zeigen und so als Reflexion im Spiegel des Films die Möglichkeit zur Reflexion der Zuschauer zu eröffnen. Der Film hält, so Kracauer, »der Natur den Spiegel vor« und ermöglicht eben dadurch die »‹Reflexion‹ von Ereignissen, die uns versteinern würden, träfen wir sie im wirklichen Leben an«.25 Der Film ist im Sinne Kracauers immer und wesentlich radikal dokumentarisch, stellt eine Wirklichkeit gegen eine und viele andere, wenn er denn die äußere Wirklichkeit zu seinem Gegenstand macht. In seinen Worten: »Um uns die physische Realität erfahren zu lassen, müssen Filme wirklich zeigen, was sie zeigen.«26 Und mitunter zeigen sie dann eine komplexe Konstellation wie bei jenem eigentümlichen Rätselbild, das Kracauer uns ohne jeden Kommentar hinterlassen hat. Der Spiegel ist zerbrochen. Ihm gegenüber steht eine junge Frau, die sich eine Maske aufgesetzt hat und unverwandt und vielleicht auch hinter der starren Form bewegt, in die verbliebenen Scherben schaut. Neben dem Spiegel liegt hinter einer abgebrannten Kerze ein Fotoalbum, wie wir es aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert kennen, mit schon abgegriffenem Samtbezug und einer defekten Schließe. Es ist vermutlich voller normierter Portraits im Carte de Visite-Format wie jenes der Großmutter aus dem Fotografie-Essay. Die Frau trägt einfache Kleidung und eine Schürze und erweckt keineswegs den Eindruck, als sei ihr Spiegelbild ihr vorrangiges Interesse. Die Szene ist als film still ohne jeden Kontext, ohne das Vorher und Nachher einer Geschichte, die das Rätselbild erklären würde. Und gerade deshalb liest es sich wie eine Allegorie der Geschichte des Films, die mit der Fotografie einsetzt, über den von Kracauer mehrfach erinnerten Vergleich des Mediums mit einem Spiegel – wenn man etwa an die berühmte Formel eines »mit einem Gedächtnis begabten Spiegels«, das er zu Beginn seiner Theorie des Films zitiert, denkt.27 Der Spiegel ist zerbrochen, die zu Beginn dominierende realistische Tendenz ist in der Geschichte des Films weitgehend der formgebenden gewichen, die Bilder einrichtet, formatiert und sie in Geschichten und Erzählungen fasst, sie, mit anderen Worten, maskiert. Das Fotoalbum, der Spiegel, die Maske – drei Etap-
24 Ebd., S. 464. 25 Ebd., S. 468. 26 Ebd., S. 461. 27 E bd., S. 27.
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pen einer Geschichte des Films, die hier aber als film still, als Momentaufnahme in ein Denkbild verwandelt wird. Was würde geschehen, wenn die Frau ihre Maske abnimmt? Ist der Spiegel zerbrochen, weil der Anblick unerträglich wäre? Oder wird er erträglicher, weil er zerbrochen ist? Und wie würden wir im Kinosaal reagieren? Wie auch immer, der Film würde es zeigen. Unverstellt, ungeschminkt und – so steht zu hoffen – störend.
LITERATUR Kracauer, Siegfried: Das Ornament der Masse, Frankfurt am Main 1977. Kracauer, Siegfried: »Die Fotografie«, in: Wolfgang Kemp (Hg.), Theorie der Fotografie II. 1912-1945, München 1979, S. 101-112. Kracauer, Siegfried: »Propaganda und der Nazikriegsfilm«, in: Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films, Frankfurt am Main 1984, S. 321-396. Kracauer, Siegfried: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt am Main 1985. Kracauer, Siegfried: »Skizzen und Vorentwürfe zu einer Ästhetik des Films«, in: Werke, Bd. 3, S. 805-846. Kracauer, Siegfried: Werke, Bd. 2.1, Von Caligari zu Hitler, hg. von Sabine Biebl, Berlin 2012, S. 331-408. Kracauer, Siegfried: Werke, Bd. 3, hg. von Inka Mülder-Bach, Frankfurt am Main 2005. Kracauer, Siegfried: Werke, Bd. 5.2, Essays, Feuilletons, Rezensionen 1924-1927, hg. von Inka Mülder-Bach, Berlin 2011, S. 682-698.
Walt Whitman – ein Querulant im demokratischen Getriebe Axel Honneth
We have frequently printed the word Democracy. Yet I cannot too often repeat that it is a word the real gist of which still sleeps, quite unawaken'd, notwithstanding the resonance and the many angry tempests out of which its syllables have come, from pen or tongue. It is a great word, whose history, I suppose, remains unwritten, because that history has yet to be enacted. It is, in some sort, younger brother of another great and often-used word, Nature, whose history also waits unwritten. Walt Whitman, »Democratic Vistas«
Im deutschsprachigen Raum ist Walt Whitman seit dem Ende des II. Weltkrieges, trotz großer Bemühungen in der Zeit der sogenannten Reeducation, seine Popularität zu erhöhen,1 weitgehend ein Unbekannter geblieben. Was der amerikanische Poet zu sagen hatte, was er in hymnischen Gesängen anpries, blieb der hiesigen
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Zu diesen Bemühungen gehören u. a. die folgenden Veröffentlichungen: H.-G. Cwojdrak: W. Whitman: Dichter und Demokrat Amerikas; W. Whitman: Hymnen für die Erde; W. Whitman, Tagebücher 1862 – 1864; 1876 – 1882; W. Whitman: Salut au monde; W. Whitman: Gesang von mir selbst; W. Whitman, Grashalme; H. S. Canby: Walt Whitman; W. Whitman: Demokratische Ausblicke. Es war natürlich eine halsbrecherische, ans Absurde grenzende Idee, den demoralisierten, in Schuld verstrickten Deutschen gerade anhand von Whitmans Werk die Demokratie wieder nahebringen zu wollen, hatte dieser doch für die rechtlichen und institutionellen Voraussetzungen demokratischer Prozesse keinerlei Gespür.
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Leserschaft zutiefst fremd;2 auch die Tatsache, dass die Dichter der Beatgeneration, Kerouac, Ferlinghetti, Ginsberg, ihn zu ihrem Vorreiter und Vorbild erklärten, konnte später dem weitverbreiteten Desinteresse nicht abhelfen. Es wäre eine gesonderte Aufgabe, den Gründen nachzugehen, die für diese bis heute anhaltende Taubheit verantwortlich sind; mag man im deutschsprachigen Raum Schwierigkeiten mit den amerikanischen Dichtern des frühen 20. Jahrhunderts haben, mit Robert Frost oder William Carlos Williams, weil ihre Sprache vergleichsweise einfach, ja volkstümlich ist und nicht den hohen Ton anschlägt, der hierzulande als charakteristisch für die Dichtkunst gilt, so kann dies nicht für den fünfzig Jahre älteren Whitman gelten; seine Poesie ist von Pathos getragen, ist bildreich, voll sinnlicher Kraft, greift zu Mitteln schwärmerischer Übertreibung und beschwört den Kosmos, die Städte und die Individualität des einzelnen Menschen – das also kann es nicht sein, was uns Deutsche für seine lyrischen Werke so unempfindlich gemacht hat. Aber der Typ des Dichters, den er repräsentierte, ist uns seit geraumer Zeit vollkommen fremd geworden; kein Bildungsmensch, kein feinsinniger Geist ist hier am Werk, sondern ein mit Land und Leuten vertrauter Bürger, gleichberechtigt unter allen anderen, der sich als Stimme des demokratischen Geistes seines Heimatlandes verstand. Dass Demokratie und Poesie ein Bündnis eingehen könnten, dass die Lyrik die demokratische Lebensform als Ausdruck eines geglückten Zusammenspiels natürlicher Kräfte mehr verkörpern als nur feiern sollte, das ist es, was dem deutschen Ohr seit dem II. Weltkrieg fremd geblieben ist. Ein Fremder ist Walt Whitman jedoch in gewisser Weise auch in seiner Heimat geblieben. Gewiss, Ralph Waldo Emerson und Henry David Thoreau stand er schon deswegen nahe, weil sie etwa zeitgleich mit ihm schriftstellerisch wirkten und wie er an den unerschöpflichen Reichtum des einzelnen Individuums glaubten; von Emerson erhielt er sogar ganz am Anfang seines Schaffensweges einen ermunternden, freundschaftlichen Brief, der nicht wenig dazu beigetragen haben dürfte, ihm Mut zur Weiterführung seiner poetischen Anfänge zu machen.3 Aber das Einzelgängertum der beiden Transzendentalisten, ihr Vorbehalt gegen die städtischen Massen und das »niedere« Volk im Ganzen, war ihm von Beginn an suspekt,4 glaubte er doch zutiefst daran, dass in jedem der vielzähligen Mitglieder dieser
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Zur Anhängerschaft Whitmans vor der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zählte neben Hugo von Hofmannsthal an vorderster Stelle Thomas Mann, der in einem offenen Brief an seinen Freund Hans Reisiger, den Übersetzer Whitmans, sagt, zu Goethe gehöre »ein Schuss Whitman«, »um das Gefühl der neuen Humanität zu gewinnen« (T. Mann: »Hans Reisiger Whitman Werk«, S. 619 – 620).
3
Der Brief Ralph Waldo Emersons findet sich in deutscher Übersetzung in: G. Wilson Allen: Walt Whitman in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, S. 57 – 59.
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B. Wineapple (Hg.): Walt Whitman speaks, S. 32 – 36.
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Massen die Kraft zur Belebung und Erneuerung der demokratischen Gemeinschaft wurzelte. Von den amerikanischen Pragmatisten, deren Ideen Whitman sicher nahegestanden hätten, allen voran der demokratische Naturalismus eines John Dewey,5 trennte ihn das Misstrauen gegenüber jeglicher Theoriebildung, welches sich seiner bildungsfernen Erziehung und seiner durch und durch handwerklichen Orientierung verdankte. So ist denn Walt Whitman in seiner Zeit entgegen seinem kommunistischen Temperament und seiner Sehnsucht nach sozialer Vereinigung ein Einzelner geblieben, zwar eingetaucht ins städtische Treiben, aber es doch auch nur beobachtend und davon schwärmend. Zum Querulanten wurde er deswegen, weil er in einer Zeit wachsender Betriebsamkeit und wirtschaftlicher Zielstrebigkeit nicht gelten lassen wollte, dass »Demokratie allein politisches Geschäft und Mehrheitsbildung sein sollte«6 darin vielmehr ein gelungenes, aber erst noch zu verwirklichendes Abbild der organischen Selbstorganisation der vielstimmigen Natur zu erkennen, sah er als seinen poetischen Auftrag an. Das Grundprinzip der Dichtung Walt Whitmans, die Lyrik im freien, rhythmisierten Vers der Prosa annähernd, ist die Zusammenführung weit auseinanderliegender Erfahrungsgehalte und Weltbezüge in einem einzigen, den Leser in verschiedenen Sprachen anrufenden Sprechgesang; alles, was auf diese Weise in den Grashalmen besungen wird, sollen Splitter des natürlichen, ja kosmischen Prozesses sein, der in der organisierten Vielstimmigkeit demokratischer Gesellschaften endlich zu Selbstbewusstsein gelangen würde. Das Bild von den Grashalmen, überhaupt die Unzahl der geradezu magischen Beschwörungen der Schönheit, Fruchtbarkeit und Fülle der Natur, haben hierin ihren exakten Sinn: jedes Bruchstück organischen Lebens ist in seiner inneren Vielfalt und gleichzeitigen Abhängigkeit von allen anderen ein Vorbote derjenigen menschlichen Subjekte, die in einer wahren Demokratie sich wechselseitig unterstützend den Reichtum ihrer Begabungen und Antriebe entdecken könnten. So wird die Organizität der Natur zum Gleichnis für die demokratische Solidarität einer zukünftigen Menschheit, wie umgekehrt diese »Brüderlichkeit« ein Sinnbild dessen schafft, was die Natur kraft ihrer organi-
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Die von Whitman selbst nicht gesehene Nähe zur Gedankenwelt John Deweys betont auch G. Wilson Allen: Walt Whitman in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, S. 102. Eher unbeholfen schildert Henry Seidel Canby in seiner Monographie das demokratische, Dewey nahestehende Credo Whitmans: H. S. Canby: Walt Whitman, Kap. XXIV.
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»Did you, too, O friend, suppose democracy was only for elections, for politics, and for a party name? I say democracy is only of use there that it may pass on and come to its flower and fruits in manners, in the highest forms of interaction between men, and their beliefs – in religion, literature, colleges, and schools – democracy in all public and private life, and in the army and navy«, in W. Whitman: Democratic Vistas, S. 33.
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schen Selbsttätigkeit auf stumme Weise vermag. Wer nicht versteht, dass daher jede Liedzeile in den Grashalmen mit allen anderen in einem untergründigen, komplexen Zusammenhang steht, wird sich anfänglich durch einzelne von ihnen vor den Kopf gestoßen fühlen. »Walt Whitman, ein Kosmos, der Sohn Manhattans« – so beginnt eines der berühmtesten Gedichte aus dem »Gesang meiner selbst« betitelten Teil der Grashalme7 – eine Zeile, von der Bob Dylan sehr viel später einmal behaupten wird, sie sei jedem Amerikaner so vertraut wie ansonsten nur die Refrains von gängigen Rocksongs.8 Was an diesem Anfangssatz zunächst provozieren mag, der unverhohlen bekundete Stolz darauf, in sich einen ganzen Kosmos von unerschöpflichen Möglichkeiten zu beherbergen und der Hauptstadt der Neuen Welt zu entstammen, verliert den narzisstischen Zug sehr schnell, wird er im engsten Zusammenhang mit anderen, ebenso bedeutenden Gedichten der Grashalme gelesen. Da gibt es nicht nur »Ein Gesang für Berufe«, der einem Bertolt Brecht vergleichbar die Vielzahl der ungenannt bleibenden, von keinem Staatsmann hervorgehobenen Tätigkeiten arbeitender Menschen anpreist und mit dem geglückten Ineinandergreifen natürlicher Lebensprozesse vergleicht9 da gibt es nicht nur die bereits erwähnten, ständig wiederkehrenden Naturbilder, in denen einzelne Pflanzen oder Tiere in ihrer organischen Üppigkeit und Triebhaftigkeit wie Chiffren für die Existenz der in einer zukünftigen Demokratie zusammenwirkenden Subjekte erscheinen; und da gibt es die über den gesamten Sprechgesang verstreuten Anrufungen verschiedener Länder – nicht nur der USA, sondern auch Europas, ja, der ganzen Welt – ,10 deren Einbeziehung die Spiegelung des Kosmos im Kosmopolitismus des Autors signalisieren soll. Im Gravitationszentrum all dieser Gedichte aber steht, will man es mit Durkheim sagen, die Sakralisierung der individuellen Person, deren Loslösung von traditionellen Zwängen und Befreiung zur ungezwungenen Selbstartikulation in einer zukünftigen Demokratie hier gefeiert werden soll: »Das Selbst sing ich, die schlichte Einzelperson, Doch spreche das Wort demokratisch, das Wort en-masse.«11 In dieser ersten Zeile der Grashalme steckt schon wie in einer Kurzformel die ganze Botschaft, die der Gedichtzyklus seinen Lesern und Leserinnen vermitteln soll. Das
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Ich verwende im Folgenden weiter den alten deutschen Titel für die Leaves of Grass, obwohl die beeindruckende Neuübersetzung von Jürgen Brôcan, von der ich Gebrauch mache, den Titel »Grasblätter« verwendet: W. Whitman: Grasblätter, S. 71.
8
So in dem Interview, das den Film Rolling Thunder Revue: A Bob Dylan Story von Martin Scorsese begleitet (Netflix, 2019).
9
W. Whitman: »Ein Gesang für Berufe«, in: ders. Grasblätter, S. 269 – 278; ähnlich: »Ich höre Amerika singen«, in ebd., S. 21.
10 »Salut au Monde!«, ebd., S. 176 – 188. 11 Ebd., S. 9.
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Wort »Einzelperson« »demokratisch« zu sprechen, soll heißen, es nur im Plural der ungezählten Mitglieder einer demokratischen Gemeinschaft zu verwenden, weil nur mit Hilfe solidarisch verbundener Anderer die Einzelnen ihr wahres Potenzial an Begabungen, Talenten und Fähigkeiten werden freisetzten können; es ist die »Masse« – wie Whitman in positiver Verwendung des zumeist pejorativ gebrauchten Begriffs auch häufig sagt –, die uns aufgrund ihrer vielseitigen Unterstützung und Ermutigung dazu verhelfen wird, je individuell in uns zu entdecken, was an vielen Möglichkeiten sozialen Wirken-Könnens uns jeweils gegeben ist. Dass jeder einzelne Mensch in sich ein Bündel potenzieller Befähigungen und schlummernder Energien bereithält, die erst unter geeigneten Bedingungen, nämlich kraft »geschwisterlicher« Ermutigung, entdeckt und freigesetzt werden müssen, war Whitmans Überzeugung von Beginn an; in einem Gespräch, das Horace Traubel mit dem späten Whitman geführt und aufgezeichnet hat, heißt es ganz in diesem Sinn: »To me there is something curious, indescribably divine, in the compound individuality that is in every one. I suppose there are four hundred leaves of grass, one after another, contradictory, held together by the iron band – individuality, personality, identity«.12 In dem Verweis darauf, dass jedes Individuum »vierhundert Grashalme« im »eisernen Gehäuse« seiner Identität bewahre, die es zukünftig je für sich erst zur Entfaltung zu bringen gälte, steckt erneut jener naturalistische Universalismus, durch den Whitmans Lehre von der Demokratie geprägt ist. Auf seinem Schreibtisch soll, so wird berichtet, stets eine amerikanische Ausgabe der ersten Bände von Alexander von Humboldts Kosmos gelegen haben13 an diesem großen Werk des deutschen Gelehrten, das Kompendium eines sinnlich-physikalischen Humanismus, formte sich daher wohl Whitmans Vorstellung, dass die gesamte Natur einen sich durch wechselseitige Bereicherung aufstufenden Prozess bildet, dessen Vervollkommnung in einer menschlich geschaffenen Demokratie ihren krönenden Abschluss finden würde – die »Politik der Natur«, wie es in einem Gedicht kurz heißt.14 Dass es keine leichte Aufgabe sein würde, eine solch umfassende, das natürliche Universum gleichsam zum Sprechen bringende Demokratie zu schaffen, war Whitman trotz all seines Vertrauens in die selbstorganisierenden Kräfte der Natur vollkommen bewusst; immer wieder ist in seinen Gedichten daher auch von den Kämpfen und Schlachten die Rede, die zukünftig noch gegen die Herrschen-
12 B. Wineapple (Hg.): Walt Whitman speaks, S. 105. 13 Zur Bedeutung des »Kosmos«- Werkes von Alexander von Humboldt für Whitman vergleiche jetzt den Gedicht-Kommentar von P. von Becker: »Als Poesie und Physik noch nicht geschieden waren«. 14 W. Whitman: »An einen Präsidenten«, in: ders. Grasblätter, S. 343 (»– von der Politik der Natur hast Du nichts über Weite, Geradlinigkeit, Unparteilichkeit gelernt…«).
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den, die »ornamental classes«15, geführt werden müssten, bevor jeder Einzelne in einer wirklichen Demokratie seine expressive Freiheit finden könnte.16 Zwar kommt uns die Natur in diesen Kämpfen kraft ihrer eigenen Mittel so weit wie nur eben möglich entgegen, indem sie uns in ihrer organischen Kommunikation eine Anweisung und Chiffre für das zu Erreichende liefert, aber die Erfüllung des von ihr gegebenen Versprechens bleibt unsere eigene Aufgabe, die Tat von Frauen und Männern, die als Gleiche unter Gleichen für die Verwirklichung der Demokratie streiten. Durch die ständige Anrufung dieser Mitkämpfer, das eine Mal als »Camerados«, das andere Mal als »Bürgerinnen und Bürger« tituliert, dann wieder als »geliebtes Volk« oder nur »Du Amerika« angesprochen, wird der Sprechgesang der Grashalme zugleich zur Hymne einer zukünftigen Demokratie und zur militanten Losung, deren Verwirklichung gemeinsam herbeizuführen; performativ soll die lyrische Prosa in ihrem Vollzug die soziale Bewegung erzeugen, die das zur Realisierung bringt, was sich in ihr schon in Form einer sprachlichen Entbindung natürlicher Kräfte vorgriffhaft verkörpert findet. Gewiss, von heute aus kann man auf diesen Versuch der poetischen Erzeugung eines Vertrauens in die Absicht der Natur, uns eine demokratische Lebensform zu ermöglichen, mit einem leicht mitleidigen Lächeln zurückblicken und ihn als romantisierenden Kitsch abtun; nichts daran stimmt mit den säkularen Prämissen unseres modernen Welt- und Selbstverständnisses überein, so dass sich leicht der Verdacht eines Rückfalls hinter bereits erreichte Differenzierungen zwischen Natur und Kultur, zwischen dem Raum natürlicher Ursachen und dem Raum vernünftiger Gründe einstellt. Auch mag man die sich ewig wiederholenden »O«s (»O ich! O Leben!«)17als aufdringlichen Tand empfinden und für sprachliche Überbleibsel einer Epoche halten, als Beschwörungen und Anrufungen einer heilsbringenden Macht noch zu helfen schienen; hier ist jemand am Werk, so ließe sich dann einwenden, der sich in einer Zeit historischer Ernüchterungen und wissenschaftlicher Auskühlungen im stilistischen Register vergriffen hat, indem er glaubte, noch einmal die lebendige Natur als intersubjektiven Mitstreiter ansprechen zu können. Aber solche naseweisen Abkanzelungen des Dichters Walt Whitman unterschlagen nicht nur, dass sich die Poesie von Haus aus mehr Freiheiten zum Spiel mit kognitiven Unterscheidungen nehmen darf als die Wissenschaften oder die Philosophie; wenn nicht ihr, wem stünde sonst das Recht zu, uns gelegentlich daran zu erinnern, dass alles auch anders sein könnte, als wir es im selbstverliebten Stolz auf unsere
15 B. Wineapple (Hg.): Walt Whitman speaks, S. 105. 16 W. Whitman: »Gesang von der offenen Strasse«, in: ders. Grasblätter, S. 189 – 202, bes. S. 201 (»Allons! Durch Kämpfe und Kriege! Das genannte Ziel kann nicht wiederrufen werden«). 17 Ebd., S. 342.
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theoretischen Leistungen vorauszusetzen bereit sind. Für den demokratischen Naturalismus Whitmans spricht jedoch noch etwas ganz anderes, ein Argument, das nicht der Berufung auf poetische Freiheiten bedarf: Wie armselig beflissen, rechtschaffen und bieder stünde es um die Demokratie, käme nicht stets wieder jemand daher, der den Mut besitzt, uns an das große Versprechen einer demokratischen Befreiung aller Kreatur und Natur von gesellschaftlicher Unterdrückung zu gemahnen. Zu seiner Zeit, in seinem Lebensalter war es Walt Whitman, der sich zu einer solchen Unterbrechung demokratischer Routinen hat aufschwingen können; ihm verdanken wir mit den Grashalmen ein poetisches Werk, das sich verwegen und kühn die Freiheit nimmt, die Natur als Bündnispartner im Kampf für die Verwirklichung der Demokratie anzusprechen.
LITERATUR Becker, Peter von: »Als Poesie und Physik noch nicht geschieden waren«, Kommentar zum Gedicht »Kosmos« von Walt Whitman, Frankfurter Anthologie, FAZ v. 24.5.2019. Canby, Henry Seidel: Walt Whitman. Ein Amerikaner, Berlin 1947. Cwojdrak, Hans-Günther: Walt Whitman. Dichter und Demokrat Amerikas, Hamburg 1946. Mann, Thomas: »Hans Reisiger Whitman Werk«, in: ders., Rede und Antwort, Gesammelte Werke in Einzelbänden. Frankfurter Ausgabe, Frankfurt am Main 1984. Whitman, Walt: Dichter und Demokrat Amerikas, Hamburg 1946. Whitman, Walt: Hymnen für die Erde, Wiesbaden 1946. Whitman, Walt: Tagebücher 1862 – 1864; 1876 – 1882, Berlin 1946. Whitman, Walt: Salut au monde, Berlin 1946. Whitman, Walt: Gesang von mir selbst, Berlin 1946. Whitman, Walt: Grashalme. In Auswahl, Erlangen 1947. Whitman, Walt: Demokratische Ausblicke, Berlin 1948. Whitman, Walter: Democratic Vistas, Iowa City 2010. Whitman, Walt: Grasblätter. Nach der Ausgabe von 1891 – 92, München 2019. Wilson Allen, Gay: Walt Whitman in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1961. Wineapple, Brenda (Hg.): Walt Whitman speaks, His Final thoughts on Life, Writing, Spirituality, and the Promise of America, New York, N.Y. 2019.
Glück im Unglück. Über Leben in der Moderne
Die Postmoderne und das Problem der Wissenskulturen Michael Hagner
Niemand, der in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts in die Wissenschaftsgeschichte geriet, wird vergessen haben, dass diese Disziplin damals auf wunderbare Weise in Bewegung war und sich quasi neu erfand. Versuchsweise lassen sich diese Bewegungen an einer Reihe von Begriffen festmachen, die so eine Art Berliner Schlüssel für den Eintritt in diese neue Wissenschaftsgeschichte darstellten: Inskriptionen, boundary objects, Experimentalisierung des Lebens, immutable mobiles, epistemische Dinge, Räume des Wissens, trading zones, epistemische Tugenden, paper tools oder little tools of knowledge – das waren weitgehend geglückte Begriffe, mit denen sich zuweilen ganze Forschungsprogramme aufgleisen ließen. Trotz ihrer Unterschiedlichkeit war diesen Begriffen gemein, dass sie sich gegen die Vorstellung richteten, naturwissenschaftliche Erkenntnis ließe sich so rekonstruieren, als ob sie nur aus Ideen, Theorien und unveränderlichen methodischen Regeln bestünden. Dagegen wurde ins Feld geführt, dass auch die Naturwissenschaften keinen unmittelbaren Zugang zur Wahrheit haben – schon gar nicht durch eine bestimmte, philosophisch approbierte Methode. Sie benötigen Instrumente, Objekte, Modelle, räumliche Anordnungen, Handlungsanweisungen, entwickeln lokale Gewohnheiten, spezifische Verhaltensregeln und soziale Allianzen, um ihre Erkenntnisse zu erreichen und plausibel zu machen. All diese Praktiken und Technologien sind nicht auf betonharte Kategorien wie Rationalität, Objektivität und Präzision zu reduzieren, sie enthalten vielmehr auch kulturelle Vorannahmen, Werte und Überzeugungen, die bei näherer Betrachtung nicht immer den selbstgesteckten Idealen entsprechen und im Übrigen historisch wandelbar sind. Was mit Paul Feyerabends Entzauberung einer verbindlichen und unverrückbaren Epistemologie begonnen hatte, fächerte sich zu einem breit angelegten wissenschaftshistorischen Forschungsprogramm auf, in dem naturwissenschaftliche Forschung als Kaskade von materiellen Repräsentationen verstanden wurde.
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Diese Verschiebung ist häufig als practical turn bezeichnet worden, was auch nicht falsch ist, wenn die kritischen und hoffnungsvollen Untertöne, die mit diesem Unternehmen verbunden waren, mitgehört werden. Denn die Infragestellung des Realismus und seiner Auszeichnung des Wahrheitskriteriums als alleiniger Instanz für die Etablierung und Zirkulation des wissenschaftlichen Wissens war in epistemologischer und politischer Hinsicht konsequent und zunächst einmal befreiend. Zum einen war (und ist) die Differenz zwischen dem Anspruch, dauerhaft gültige Erkenntnis zu produzieren und ihrer stillschweigenden Revision, die dann mit der Vorläufigkeit des wissenschaftlichen Wissens erklärt wurde, nicht selten eklatant. Zum anderen wurde (und wird) der dogmatische Anspruch mancher Wissenschaften, ihren Geltungsbereich auf Weltanschauungsfragen und lebensweltliche Belange auszudehnen, mit Recht eher auf die dunkle Seite des Aufklärungsversprechens geschlagen und dementsprechend skeptisch betrachtet. Zweifellos liegt hier ein kritisches Moment der historischen Wissenschaftsforschung, das diese sich allerdings nicht immer eingestanden hat, weil sie nicht als diejenige Instanz erscheinen wollte, welche die Wissenschaften durchschaut, ihre Mechanismen offenlegt und gleich auch noch gute Ratschläge verteilt. Damit hatte die klassische Wissenschaftstheorie bereits Schiffbruch erlitten. Insofern ist es verständlich, dass die kritische Rekonstruktion des Wissens stets auch eine starke affirmative Komponente hatte, die darauf abzielte, die Wissenschaften trotz aller Abstraktion und Komplexität in den Bereich kultureller Aktivitäten zurückzuholen. Das bedeutete, Kontingenz und Unvorhersehbarkeit gegenüber Planung und Rationalität hervorzuheben, und das mit Irrtümern und Zufällen behaftete Basteln gegenüber dem fixierten Ingenieursplan als produktive Momente dieser Tätigkeit zu markieren. Die theoretischen Fixsterne dieser Bemühungen versammelten sich – nachdem Feyerabends Stern nicht mehr so hell strahlte – fast alle in einer einzigen epistemologischen Galaxie, der französischen, und das wurde damals, ohne ein allzu großes Risiko einzugehen, als Postmoderne bezeichnet. Das war zeitgemäß, ließ aber bisweilen vergessen, dass es einige Mühen gekostet hätte, die Frage zu beantworten, was an dieser oder jener Position überhaupt das Kennzeichen des Postmodernen wäre. Dass darunter sowohl Begründer der historischen Epistemologie wie Gaston Bachelard und Georges Canguilhem als auch Wissenschaftssoziologen wie Bruno Latour subsumiert wurden, lässt sich rückblickend vielleicht nur damit erklären, dass Postmoderne in diesem Zusammenhang als kleinster gemeinsamer Nenner fungierte, um eine Heterogenität zu kennzeichnen, die sich allenfalls in dem vergleichen ließ, was sie zurückwies, keineswegs aber in dem, was sie sich in ihr Theorieprogramm geschrieben hatte. Diese Heterogenität kommt in zwei kanonischen Texten zum Ausdruck, die beide das Verhältnis von Wissen und Postmoderne zum Gegenstand haben. Beide tragen den Begriff im Titel, der mehr sein soll als eine Epochenbezeichnung: explizit Jean-François Lyotards Gründungsurkunde Das postmoderne Wissen von 1979,
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die zentrale Stichworte für die nachfolgenden Diskussionen lieferte; implizit Bruno Latours aufmüpfiger Essay Wir sind nie modern gewesen von 1990, in dem die Postmoderne als trostlose Veranstaltung verabschiedet wurde, gegen die es zu verstehen galt, dass wir die Moderne noch nicht einmal erreicht hatten. Meine These besteht, kurz gesagt, darin, dass sich genau im Spannungsfeld zwischen Lyotard und Latour das kurze Momentum einer postmodernen Wissenschaftsforschung ereignet hat. An dieser postmodernen Wissenschaftsforschung, als die sich die Wissenschaftsgeschichte in den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts formierte, scheinen mir drei Aspekte relevant zu sein. Erstens bestand sie, wie schon angedeutet, in einer Untersuchung der Legitimierung des Wissens, die sich von der wissenschaftstheoretischen Suche nach verbindlichen Regeln und Eindeutigkeiten dadurch abgrenzte, dass sie die Mechanismen, Methoden, Instrumente und Objekte der Erkenntnisproduktion ins Visier nahm. Es ging jedoch nicht nur darum, bis dahin marginalisierte Formen und Praktiken des Wissens im wissenschaftlichen Diskurs zu untersuchen. Zugleich kam es, zweitens, zu einer Rehabilitation von Wissenstraditionen, die irgendwann aus der kanonischen Wissenschaft ausgeschieden worden waren oder nie zu ihr gehört hatten. Diese Ausweitung des Untersuchungsspektrums führte zu einer (partiellen) Transformation der Wissenschaftsgeschichte zur Wissensgeschichte. Drittens schließlich trat die postmoderne Wissenschaftsforschung mit der optimistischen Erwartung an, die bis dahin in Disziplinen formierten und entlang der sogenannten zwei Kulturen verteilten Wissenskulturen neu zu sortieren. Die Naturwissenschaften sollten kulturalisiert, das außerwissenschaftliche Wissen ernst genommen und die Geisteswissenschaften mit ihren chronisch gewordenen Minderwertigkeitskomplexen aufgewertet werden. Die normativen Implikationen dieser Neuverteilung von Wissenskulturen liegen auf der Hand. Dass es ganz anders kommen sollte, als man sich das gewünscht hatte, muss niemandem zum Vorwurf gemacht werden, aber es gilt doch, dieses vorläufige Scheitern näher in Augenschein zu nehmen, um die Frage nach den Wissenskulturen in unserer Zeit neu aufwerfen zu können. Ich werde darauf zurückkommen, aber zunächst geht es darum, die Positionen von Lyotard und Latour wenigstens skizzenhaft zu markieren. Aus der Distanz von inzwischen 40 Jahren, die für Angehörige meiner Generation ungefähr die Zeit zwischen Studienbeginn und Rentenaussicht markiert, erscheint Lyotards Bericht mehr denn je als Analyse, welche die Postmoderne nicht als ästhetisches oder politisches Phänomen beschreibt, sondern aus wissenschaftlichen Fortschritten heraus erklärt, die für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts konstitutiv waren. Darunter wird mal die Erforschung der Instabilitäten verstanden, für die Lyotard als Beispiele die Teilchenphysik, die Mathematik der Fraktale oder die Spieltheorie anführt, mal bezieht er sich auf die technologischen Transformationen, die mit den Stichworten Computerwissenschaften, Kybernetik und Datenbanken besetzt werden. Letztere führen zu einer Veränderung in der Natur des Wissens, was bedeutet, dass nur
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dasjenige Wissen als solches erkennbar wird und zirkulieren kann, das sich in einen digitalen Code fassen lässt und somit die digitalen Kanäle passieren kann. Alles, was nicht in dieser Weise übersetzbar ist, kann vernachlässigt werden, und das heißt auch, dass sowohl die Produzenten als auch die Konsumenten des Wissens Zugang zu den entsprechenden Kanälen haben müssen, um an den Kommunikations- und Zirkulationsprozessen teilhaben zu können. Lyotard spricht in diesem Zusammenhang von einer »Hegemonie der Informatik«, die es mit sich bringe, dass es eine zunehmende Dissoziation zwischen Wissen und Wissenden gibt, die mit dem traditionellen Wissensprinzip grundlegend bricht. Dieses Prinzip – man kann es das Humboldt’sche nennen – hatte postuliert, dass Wissen und Wissender eine Einheit in dem Sinne bilden, dass »Wissenserwerb unauflösbar mit der Bildung des Geistes und selbst der Person verbunden« war.1 Genau dieses Bildungsversprechen hat einen Legitimationsgenerator der modernen Ordnung seit der Aufklärung dargestellt, der aber nun seinen Betrieb einstellt. Wissen verliert seinen Selbstzweck, der jedoch nie als geistloser Autopilot verstanden wurde, sondern sich im direkten Kontakt mit den Idealen von Wahrheit und Gerechtigkeit befinden sollte. Anstelle des Wahren und des Guten, dem das Wissen dient, tritt für Lyotard nun ein Warencharakter: »Das Wissen ist und wird für seinen Verkauf geschaffen werden, und es wird für seine Verwertung in einer neuen Produktion konsumiert [...] Es hört auf, sein eigener Zweck zu sein, es verliert seinen ›Gebrauchswert‹.«2 Dementsprechend wird auch das Personal ausgewechselt. Der klassische Intellektuelle tritt ab und wird ersetzt durch den Spezialisten für Effizienz und Optimierung. Das Kriterium der Universalität wird substituiert durch dasjenige der Problemlösung in einem bestimmten Bereich, der nach technischen bzw. ökonomischen Kriterien strukturiert wird. Erkenntnisse werden »wie Geld in Umlauf gebracht« und dienen der »Leistungsoptimierung eines Programms«.3 Wissen wird damit wesentlich zu einer Produktivkraft, und deswegen wird es für die Staaten im postmodernen Zeitalter immer noch wichtiger werden. Konkurrenz um Macht bedeutet nicht mehr nur, wer die Kontrolle über Territorien und Rohstoffe hat, sondern auch, wer über Daten und Informationen verfügt, denn es geht um »Fragen der Finanzierung, des Zeitgewinns oder Zeitverlusts, der Evaluierung von Handlungserfolgen usw.«, wie es wenig später in Grabmal des Intellektuellen heißt.4 Das legendäre Bonmot Carl Schmitts abwandelnd, wissen wir heute: Souverän ist, wer über den leistungsstärksten Server verfügt. 1979 war das noch
1
J.-F. Lyotard: Das postmoderne Wissen, S. 20–24; S. 24.
2
Ebd., S. 24.
3
Ebd., S. 29.
4
J.-F. Lyotard: Grabmal des Intellektuellen, S. 11.
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kein diskursprägendes Thema, doch ganz hellsichtig sah Lyotard neben nationalstaatlichen Konflikten auch solche zwischen ökonomischen und rechtsstaatlichen Interessen heraufziehen, weil letztere für den freien Verkehr durch die globalen digitalen Kanäle und die damit einhergehende Kommerzialisierung des Wissens einen Hemmfaktor, ein Rauschen darstellen könnten. Man kann den Scharfsinn Lyotards bewundern, der maßgebliche Momente unserer Gegenwart antizipiert, deren zentrale Elemente wie WWW, Google, Facebook, Cambridge Analytics oder NSA doch erst – so glauben wir – nach Lyotards Tod im Jahr 1998 auf den Plan getreten sind. Aus dieser Perspektive wäre der vollentwickelte postmoderne Zustand, den er skizziert, erst in der zweiten Dekade des 21. Jahrhundert erreicht. Allerdings entspricht das nur der halben Wahrheit, denn zur postmodernen Bedingung gehört nach Lyotard auch die Frage, wie sich das Wissen in einer solchen Situation legitimieren kann. Seine Antwort hierauf fällt ausgesprochen gemischt aus, denn wer erwartet, dass ein düsteres Szenario für die Zukunft gezeichnet wird, sieht sich getäuscht. Das wird bereits daran deutlich, welche Legitimationsverfahren Lyotard für verfehlt hält. Nacheinander fertigt er das funktionalistische Argument, wonach man sich damit zufriedengibt, dass die technologisch gesteuerte Wissenszirkulation bestens funktioniere, als bloße Technokratie ab;5 der Diskusethik von Habermas, die nach einem »universellen Konsens« strebt, wird vorgeworfen, der »Heterogenität der Sprachspiele Gewalt« anzutun;6 und schließlich, weniger offensichtlich, wird Foucaults These der gegenseitigen Verstärkung von Macht und Wissen entgegengehalten, dass das postmoderne Wissen keineswegs nur ein Instrument der Mächtigen darstelle und eine Expertokratie installiere, sondern der »Paralogie der Erfinder« entspringe. Paralogie meint hier weniger das neurologische Syndrom der falschen Bezeichnung von Gegenständen und auch nicht die in der Logik unter Strafe gestellte Vernunftwidrigkeit, sondern eher eine Rebellion gegen die Vernunft und eine Stärkung unserer »Fähigkeit, das Inkommensurable zu ertragen«.7 Angesichts der düsteren, resignativen Diagnosen, die Lyotard später gestellt hat, mag dieser Euphemismus überraschen, aber er markiert – wenigstens zu diesem Zeitpunkt – sein Vertrauen in das Spontihafte und Rhizomatische, das die Informatisierung in der postmodernen Welt eben auch bedeuten kann. Dementsprechend bleibt es am Ende von Das postmoderne Wissen offen, ob das Wissen unter den Bedingungen seiner Digitalisierung zum »kontroll- und Regulierungsinstrument des Systems des Marktes« und damit unvermeidlich »den Terror mit sich« bringt; oder ob das Wissen zu emanzipatorischen Zwecken genutzt wird, was unter der Bedingung gelingt, dass
5
J.-F. Lyotard: Das postmoderne Wissen, S. 16, S. 43-46.
6
Ebd., S. 16, S. 188-190.
7
Ebd., S. 16.
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die Öffentlichkeit unbeschränkten »Zugang zu den Speichern und Datenbanken« erhält.8 Legitimation des Wissens durch Öffnung der Netzkanäle stellte also auch für Lyotard eine Option dar. Bekanntlich war die Idee der Netzfreiheit, des Cyberspace als Raum der Anarchie und der »neuen Heimat des Geistes«9 sowie der Verfügbarkeit des gesamten Wissens im Netz für alle die stärkste politisch-emanzipatorische Trumpfkarte im Übergang zur digitalen Gesellschaft, und die Entstehungsherde dazu lagen weniger in Europa als an der amerikanischen Westküste. Wissenschaftshistoriker haben diese Zusammenhänge in den letzten Jahren aufgearbeitet, zum Beispiel David Kaiser in seinem Buch mit dem schönen Titel How the Hippies saved Physics, oder Fred Turner mit seiner Rekonstruktion des Übergangs From Counterculture to Cyberculture. Es hat seine eigene Ironie, dass die Heroen der Cyberculture, die trickreichen, anarchistischen und subversiven Hacker und Cyber-Enthusiasten im Tagesgeschäft zwar durchaus rhizomatisch agierten, gleichzeitig jedoch eine neue, episch ausgebreitete Erzählung verbreiteten, welche die große Zukunft der Menschheit in der Freiheit des Netzes sah. Von der virtuellen Welt aus sollte sich das emanzipatorische Potential in der realen Welt rhizomatisch verbreiten. Und es hat seine eigene Tragik, dass diese postmoderne Großerzählung eine dramatisch kürzere Halbwertszeit hatte als die moderne. Auch die Paralogie der Erfinder wird man zwar kaum bestreiten wollen, aber ebenso unbestreitbar hat sie dem Erfindungsreichtum des Informationskapitalismus nicht wirklich etwas entgegenzusetzen. Ohne Zweifel ist die historische Entwicklung der letzten zwanzig Jahre Lyotard nicht zur Last zu legen, aber dennoch scheint mir die größte Leerstelle in seiner Analyse darin zu liegen, dass er zwar eine Alternative zwischen subversiver Paralogie oder marktkonformen Kontrollmechanismen postuliert, ein mögliches Bündnis zwischen diesen beiden jedoch nicht ins Auge gefasst hat. In die Sphäre der postmodernen Wissenschaftsforschung übertragen, würde die Frage lauten: Wie gestaltet sich das Verhältnis zwischen dem notorisch unberechenbaren epistemischen Ding auf der einen und Anwendungsorientierung, Effizienzgebot sowie kurzfristiger Projektsteuerung auf der anderen Seite? Bei Lyotard wird diese Kluft in etwas anderer Weise problematisiert. Für ihn ist die Postmoderne weder bloße Entzauberung der modernen Metaerzählungen noch eine schlichte Delegitimierung von Ansprüchen auf Wahrheit. Bloß stützt sich die Legitimierung des Wissens nicht mehr auf Einheit, Konsens und Homogenität, sondern operiert mit einer Sensibilität für und Akzeptanz von Unterschieden, Inkommensurabilität und Pluralität. Es bleibt offen, wie sich diese Legitimierung zu jener anderen verhält, die auf Deregulation setzt, um die ökonomische Effizienz des Wissens zu
8
Ebd., S. 192.
9
J. P. Barlow: »A Declaration of the Independence of Cyberspace«.
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optimieren. Und auch im Gefolge von Lyotard wurde hier erst einmal kein Problem gesehen, wohl weil es für viele Ohren verführerisch klang, dass die eine Erzählung durch die vielen, die große Erzählung durch die kleinen ersetzt wurde. Für manche mag das immer noch gut klingen, weil es im besten Fall zu einer Bescheidung der ideologischen und potentiell auch der materiellen Ansprüche, einer Relativierung der Wissensordnungen, einem Aushalten der Nichtvereinbarkeit und damit einer Absage von fundamentalistischer Totalität und zu einer Toleranz gegenüber Andersartigkeit führen kann. Keiner dieser Punkte ist kleinzureden – sie betreffen uns nach wie vor –, aber es bleibt die lästige Frage, wie die Heterogenität sich mit dem Optimierungsgebot arrangieren soll, und ob nicht die Legitimierung des Wissens doch wieder in das Magnetfeld von Homogenität und Universalität gerät, wenn das technische Primat der effizienten Problembewältigung und der erzielten Leistungen nicht mehr vorsieht, die präferierte Art von Effizienz und Leistung in Frage zu stellen. Postmoderne hat sich, zumindest in der Version Lyotards, zugleich als epistemologisches und als toleranzaffines, also politisches Projekt verstanden, das die Autorität des wissenden Subjekts in Frage stellte. Diese moderne Autorität hatte ihren stärksten Legitimationsgenerator in der wissenschaftlichen Rationalität, die – mit all den damit verbundenen zivilisatorischen Kosten – von Galilei und Newton bis Peenemünde und Los Alamos reicht. Wenn Lyotard die Legitimation der Postmoderne mit dem Schiffbruch begründete, den das Regime der Moderne mit seinen universalistischen Ansprüchen erlitten hatte, fragt sich, welcher Rationalität das postmoderne Wissen unterliegt. Genau hier liegt der Einsatzpunkt für das Projekt, das mit dem Namen Bruno Latours verbunden ist. Es würde zu weit führen, die Beziehungen zwischen diesen beiden näher unter die Lupe zu nehmen, etwa Latours Beteiligung an Lyotards legendärem Ausstellungsprojekt »Les Immatériaux« von 1985, bei dem der zugehörige Textband gewissermaßen author networks in action demonstrierte,10 was wiederum sowohl für Latours Netzwerk-Theorien als auch für seine eigenen Ausstellungsprojekte bedeutsam gewesen sein dürfte. In den zwölf Jahren zwischen Lyotards und Latours Buch sind zwei für unseren Zusammenhang bedeutsame Veränderungen zu konstatieren. Zum einen ist Lyotards vorsichtiger Optimismus in Pessimismus umgeschlagen, den er mit der auf Optimierung fixierten Art und Weise begründet, in der die zeitgenössischen Techno-Wissenschaften ihr Wissen entwickeln und verwenden. Die Suspendierung emanzipativer Bestrebungen zur Legitimierung des Wissens verleitet Lyotard zu düsteren Posthumanismen, die ihn in die Nähe Jean Baudrillards rücken. Latour wirft einer derart resignativen Haltung vor, nur die alte Einteilung zwischen Wissenschaft und Lebenswelt bzw. zwischen Na-
10 Siehe J.-F. Lyotard/T. Chaput (Hg.): Les Immatériaux.
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tur und Kultur zu wiederholen und dabei zu übersehen, dass ständig Hybride zwischen beiden Sphären gebildet werden.11 Er teilt zwar die postmoderne Skepsis gegenüber der großen modernen Erzählung vom Wahren und Guten und ist ebenfalls überzeugt, dass sie nun an ein Ende gekommen sei. Seine Pointe besteht jedoch darin, dass diese Erzählung zumindest in Bezug auf die Wissenschaft immer schon Augenwischerei gewesen ist, weil sie die für die Produktion von Wissen konstitutiven Vermischungen, Übersetzungen, Allianzen und Netzwerke zwischen jenen Sphären unterschlagen hat. Die zweite Veränderung besteht natürlich im Fall der Berliner Mauer. Der Sozialismus, der sich wie keine andere Gesellschaftstheorie der Emanzipation des Menschen, der Abschaffung von Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Ausbeutung verschrieben hatte, war an der Wirklichkeit gescheitert. Der westliche Kapitalismus hat gesiegt, doch anders als die Evokationen der Hegelianischen Einreden vom Posthistoire, in dem die Geschichte befriedet und erschöpft an ein Ende kommt, merkt Latour an, dass der Westen sich nicht zu früh freuen solle. Wenn für Lyotard die Hegemonie der Informatik den Gravitationspunkt für seine Diagnose der Postmoderne bedeutet, so ist es für Latour der besorgniserregende ökologische Zustand des Planeten, der am Beginn seiner Diagnose einer Nichtmoderne und einer Neubestimmung des Wissens steht.12 Aufgeschreckt durch globale Umwelt-Konferenzen, die keinen Hehl daraus machten, dass die auf Wissenschaft und Technologie basierende Beherrschung und Ausbeutung der Natur sich zu einer Bedrohung für die Lebensbedingungen des Menschen entwickelte, setzte Latour darauf, eine neue politische Philosophie zu etablieren, die sich der vorherrschenden Dichotomien von Natur und Gesellschaft, Realismus und Konstruktivismus, Tatsachen und Werten, menschlichen und nicht-menschlichen Wesen definitiv entledigt. Anders als eine mögliche Ethik der Natur, die den Menschen in die Pflicht nimmt, setzt Latour bei der Epistemologie an und verabschiedet die bisherigen Alternativen gleichermaßen: »Wenn die Wissenschaft auf Lebensformen, Praktiken, Laboratorien und Netzen aufbaut,« dann ist sie »gewiß nicht auf der Seite der Dinge an sich [einzuordnen], denn die Fakten sind fabriziert«. Das mag Realisten skandalös erscheinen, aber den Konstruktivisten ergeht es nicht besser, denn der Fokus der Wissenschaft liegt auch nicht »auf der Seite des Subjekts [...]: Gesellschaft, Gehirn, Geist, Sprachspiel, Episteme oder Kultur. Denn der erstickende Vogel, die Marmorkugeln, der sinkende Quecksilberspiegel sind nicht unsere eigenen Schöpfungen.«13 Man kann also nicht Konstruktivist in Bezug auf die Natur und Realist in Bezug auf die Gesellschaft sein – oder umgekehrt. Wie aus diesem
11 B. Latour: Wir sind nie modern gewesen, S. 82-83. 12 Ebd., S. 16. 13 Ebd., S. 37-38.
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Dilemma entkommen? Die realistische Weltanschauung mag Atome, DNA, Viren oder Bakterien auch unabhängig von wissenschaftlicher Manipulation als real ansehen. Damit wir uns jedoch von dieser Realität überzeugen können, benötigen wir komplexe wissenschaftliche, also experimentelle, mathematische oder simulierende Verfahren. Bakterien hat es längst auf der Erde gegeben, bevor der erste Mensch irgendwann auftauchte, doch indem sie im späten 19. Jahrhundert zum Gegenstand der Naturwissenschaften werden, verändert sich ihr Realitätsstatus, und das macht ihre Geschichte aus. Die Realität eines Dings wird somit nicht in der Polarität von »ja« oder »nein« aufgefasst, sondern im Sinne einer feineren Bestimmung von »mehr« oder »weniger« Realität. Die verschiedenen Verbindungen zwischen Natur und Kultur freizulegen, ist für Latour das Kernstück einer symmetrischen Anthropologie, und das bezieht sich sowohl auf räumliche Anordnungen als auch zeitliche Entwicklungen. An diesem Punkt trifft sich die Anthropologie mit der Wissenschaftsgeschichte, die nun neben der Geschichte von Ideen, Theorien oder Institutionen auch der Historizität wissenschaftlicher Gegenstände nachgeht. Diesen Punkt hat Latour vor allem am Beispiel der Untersuchungen Louis Pasteurs zum Milchsäureferment verdeutlicht. In einer exemplarischen Formulierung heißt es: »Im Verlauf des Experiments finden ein gegenseitiger Austausch und eine Erweiterung der Eigenschaften Pasteurs und des Ferments statt. Pasteur verhilft dem Ferment dazu, seine Standfestigkeit zu beweisen, und das Ferment verhilft Pasteur zu einer seiner vielen Medaillen«.14 Pasteur manipuliert das Ferment, und dieses manipuliert den Naturforscher. Aus dieser symmetrischen Betrachtung hat Latour weitgehende Konsequenzen gezogen. Wissenschaftlersubjekt und Forschungsobjekt werden ersetzt durch Netzwerke, die sich zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren bilden. In dieser Assemblage erhalten die Wissenschaften eine völlig neue Physiognomie. Es geht nicht mehr darum, »sie in ihrer Objektivität zu nehmen, ihrer Wahrheit, ihrer Kälte, ihrer Exterritorialität«, sondern in dem, »was immer schon das Interessanteste an ihnen war: ihrem Wagemut, ihrem Experimentieren, ihrer Ungewißheit, ihrer Hitze, ihrem ungebührlichen Mischen von Hybriden, ihrer wahnsinnigen Fähigkeit, das soziale Band neu zu knüpfen«.15 Man sieht, wie sich die Epistemologie um 180 Grad gedreht hat. Die Legitimierung des Wissens erfolgt nicht mehr durch Trennung, Reinigung und Weltabgewandtheit, wie es die Moderne und die Postmoderne à la Lyotard angenommen hatten, sondern durch Vermischung und Unsicherheit. Schätzenswert an der Wissenschaft ist also genau das, was diese jahrhundertelang zu marginalisieren versuchte. Und Latour geht noch einen Schritt weiter. Wenn sich in der symmetrischen
14 B. Latour: »Von der Fabrikaton zur Realität«, S. 150. 15 B. Latour: Wir sind nie modern gewesen, S. 190.
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Anthropologie Polaritäten auflösen wie eine Brausetablette in einem Glas Wasser, wenn sich Theorie und Praxis, Subjekt und Objekt, Wissenschaft und Lebenswelt, Natur und Kultur zu einem dynamischen Gewimmel vermengen, bei dem kein einziger der Bestandteile, die diese Dynamik ausmachen, außer Acht gelassen wird, dann gilt es auch die nicht-wissenschaftlichen Stimmen zu berücksichtigen und sogar die Belange der nicht-menschlichen Akteure mit einzubeziehen. Entscheidend sind die Beziehungen, Austauschprozesse und Vermischungen, die zwischen all diesen Elementen vorherrschen und die Hybride, die sich aus ihnen bilden. Die Wendungen dieser Tour de force sind nicht zu verachten. Ausgehend von der Diagnose einer beunruhigenden ökologischen Krise nimmt Latour eine Revision der Epistemologie vor, in der die Legitimation des Wissens auf Ungewissheit und Vermischung basiert, um dann zu einer historischen Ontologie überzugehen, in der den Gegenständen oder Dingen ein variabler Realitätsstatus zukommt. Damit ist der Weg geebnet, um von der Forschungssituation im Labor in die Gesellschaft zu gelangen. Das »Parlament der Dinge« – so lautet das letzte Kapitel in Wir sind nie modern gewesen und die deutsche Übersetzung des 1999 erschienenen Buches Politiques de la nature16 – stellt den systematischen Versuch dar, eine politische Ökologie zu entwerfen, die von Mischwesen, relationalen Objekten oder Hybriden ausgeht, die unsere Welt in immer größerem Maßstab bevölkern. Diese Objekte oder Phänomene, die unsere Gegenwart und Zukunft bestimmen, lassen sich nur noch als vielfach miteinander verwobene Gebilde auffassen, die etwa im Falle der Vogelgrippe aus Geflügel und Viren, Wissenschaftlern und Politikern, Bauern und Verbrauchern, Ärzten und Patienten, Pharmafirmen und Umweltaktivisten bestehen. Diese Gebilde fallen nicht mehr unter die moderne Kategorie der »matters of fact« und auch nicht in die postmoderne Heterogenität, sondern in die »matters of concern«, in denen Natur und Politik wie siamesische Zwillinge aneinanderkleben. Betrachten wir nun die Verschiebungen, die sich auf dem Weg von Lyotard zu Latour ergeben haben. Beide wenden sich gegen bloße Kritik und Demaskierung, doch wenn es beim ersteren (zumindest 1979) um Akzeptanz von Inkommensurabilität geht, die sich auf eine fröhliche Paralogie stützen kann, so geht es beim letzteren um eine Aufhebung von Gegensätzen. Lyotard hält an der Trennung von lebensweltlichem und wissenschaftlichem Wissen fest, Latour baut seine ganze Theorie auf der unauflöslichen Verstrickung dieser beiden auf. Bei Lyotard ist die Veränderung der Natur des Wissens digital begründet, und es bleibt vorerst offen, ob das Wissen durch Optimierung und Effektivität oder durch Subversivität geprägt wird. Bei Latour ist die Veränderung der Natur des Wissens ökologisch begründet, indem er dessen Legitimation durch eine Vermischung von Natur- und Geisteswis-
16 B. Latour: Das Parlament der Dinge.
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senschaften, Wissenschaftlern und Nicht-Wissenschaftlern, menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren neu zu fassen versucht. Diese Verschiebung von der Paralogie hin zum Hybriden scheint mir das wesentliche Moment des postmodernen Wissens auszumachen. Die neue Mischung der Wissenskulturen setzte sich als Verheißung auch in der Wissenschaftsgeschichte fest, aber was ist daraus geworden! Mit einer Überwindung der Gegensätze von Natur und Kultur war sicherlich nicht gemeint, Natur- und Geisteswissenschaften einander bis zur Ununterscheidbarkeit anzunähern. Trotz aller Cyberphantasien ging es in den Neunzigern noch nicht darum, Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft am Prinzip von Zählen und Messen zu eichen – das blieb erst dem Biedermeier unserer Gegenwart vorbehalten. Und auch die Molekularbiologie sollte gewiss nicht nach dem Prinzip des hermeneutischen Zirkels umgebaut werden. Doch an den Rändern zeigten sich Durchlässigkeiten und Übergangszonen. Bei der Erkundung dieser Bereiche kam der Wissenschaftsgeschichte eine Schlüsselstellung zu, und zwar in zweierlei Hinsicht. Erstens sind die Antinomie von Natur und Gesellschaft (oder Kultur) und dementsprechend auch die Trennung von wissenschaftlicher Entzauberung und kultureller Überfrachtung bzw. die Aufteilung in große disziplinäre Verbände oder Kulturen selbst als ein historisches Phänomen anzusehen, das nicht wegzudiskutieren ist, das aber einen historischen Anfang hatte, immer wieder neu definiert wurde und auch einmal aufgelöst werden könnte. Das bedeutete auch, dass jene Trennung als brauchbares historiographisches Orientierungsinstrument verabschiedet wurde. Zweitens ging es um die Frage, in welchen historischen Konstellationen sich Spannungsfelder unterschiedlicher Praktiken, Theorien und Dispositive ergeben, wo bestimmte Barrieren errichtet, eingerissen oder gar nicht erst zugelassen werden. Es war eine große Zeit des Vergleichens und Assoziierens, des Herstellens von Bezügen und des Nachweises der Durchlässigkeit von spezifischen Wissenskulturen, zuerst in den Wissenschaften, später auch in anderen Wissenskulturen. Anders als bei Latour, der der Postmoderne eine Nase drehte und an seiner eigenen großen Erzählung zu arbeiten begann, kamen hier viele kleine Erzählungen heraus, deren legitimatorische Kraft für sich genommen durchaus hinreichte, die aber nicht genügend Kraft hatten oder auch haben wollten, um auf ein gemeinsames Ziel hinzusteuern. Das wäre auch nicht schlimm, wenn sich alle die Ideale von Bricolage und Skepsis, Kooperation und Pluralität zu eigen gemacht hätten. Lyotard hatte diese Hoffnung noch geäußert: »Die Vielheit der Verantwortlichkeiten, ihre wechselseitige Unabhängigkeit oder gar Unverträglichkeit verpflichten diejenigen, die sie, ob groß oder klein, übernehmen werden, zu Geschmeidigkeit, Toleranz und Wendigkeit«.17 Dieser Ansicht war im Grunde auch Latour, wenn er sein Parlament so
17 J.-F. Lyotard: Grabmal des Intellektuellen, S. 18.
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großzügig anlegte, dass die Eigeninteressen, Lobbys, Idiosynkrasien und Machtspiele spezifischer Akteure angesichts der gemeinsamen planetarischen Aufgaben vernachlässigt werden konnten. Das war ein großer Irrtum. Es dürfte eine der größten Enttäuschungen der Postmoderne gewesen sein, dass diese Toleranz sich in der historischen Realität als Schimäre erweisen sollte. Die Überwindung der zwei Kulturen, die neue Vermischung verschiedenartiger Wissenskulturen in- und außerhalb der Wissenschaften, wie sie seit jener Zeit programmatisch vertreten worden sind (auch von mir selbst),18 scheinen alles andere als kostenlos zu sein. Zwar kann man sagen, dass es obsolet ist, von einer oder auch zwei Kulturen zu reden, da es eben nur noch eine Vielfalt von Forschungskulturen gibt, die ihrer jeweils eigenen Logik folgen. Das aber stimmt nur unter der prekären Prämisse, das ungeklärte Verhältnis von Heterogenität und Effizienzgebot auszublenden, was nicht nur bei Lyotard und auch Latour den wunden Punkt darstellt, sondern im Grunde bei der gesamten nachfolgenden Generation zu verzeichnen ist. It’s the economy, stupid – diese grundlegende Einsicht wollte offensichtlich niemand hören. Dabei können wir seit einer Reihe von Jahren beobachten, was unter einer sich abzeichnenden Konvergenz verschiedener Wissenskulturen zu verstehen ist: eine gar nicht so geschmeidige Investition in Bereiche wie Digital Humanities, neuro- und biowissenschaftliche Zugänge zu Geschichte, Kunst und Literatur oder das Zusammenstutzen der öffentlichen Wissenspräsentation in potentiell allen Disziplinen auf den lobotomieähnlichen Effekt von TED Talks.19 Das Effizienzgebot hat zur Re-Homogenisierung geführt, und das auf Kosten der Geisteswissenschaften und ihres Potentials zur Nuancierung und Differenzierung. Man könnte sagen, dass diese Entwicklung gut mit Lyotards Voraussage zusammenpasst, wonach der kritische Intellektuelle durch problemlösende Spezialisten ersetzt wird. Ja, aber inzwischen ist ein weiterer neuer Typus auf der historischen Bühne aufgetaucht: der »thought leader«, eine sinistre Figur zwischen CEO, Experte und Guru, der Mahnungen, Aufforderungen und Weisheiten verbreitet, aber nichts mehr zur Diskussion stellt, weil es ihm nur noch um Verordnung geht, nicht mehr um Mündigkeit.20 Vor 15 Jahren konnte man den Eindruck gewinnen, dass Postgenomics, also die weitere Erforschung der genetischen und epigenetischen Prozesse nach dem Human Genome Project, einer historisch-epistemologischen Sichtweise zugänglich wäre. Das mochte eine Illusion sein oder nicht, aber heute dürfen wir zur Kenntnis nehmen, dass das Feld der Postgenomics nach ökonomischen Gesichtspunkten parzelliert ist.
18 Siehe M. Hagner: »Versuch über historische Experimentalkulturen«. 19 Den Lobotomie-Vergleich entnehme ich dem Essay von E. Morozov: »Capitalism’s New Clothes«. 20 D. W. Drezner: The Ideas Industry.
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Es sei noch einmal betont: Lyotard bezog 1979 seine These von der Delegitimierung des Wissens im Prinzip auf alle Wissenschaften und argumentierte, dass nur diejenigen Forschungsbereiche überleben werden, die zur Optimierung des politisch-ökonomischen Systems beitragen. Damit sollte er Recht behalten. Einige Jahrzehnte später drängt sich die – freilich noch weiter zu begründende – Vermutung auf, dass sich die Naturwissenschaften mit diesem Anspruch in weiten, wenn auch nicht in allen Teilen arrangiert haben, selbst da, wo sie ihn überhaupt nicht einlösen. Die Geisteswissenschaften hingegen haben es nicht so gut getroffen. In den USA ist seit Jahrzehnten von einer Krise der Geisteswissenschaften die Rede, die zu Recht lange nicht ernstgenommen wurde. Aber seit der Finanzkrise 2008 sind die Zahlen der Studenten, die sich an Universitäten für geisteswissenschaftliche Fächer einschreiben, dramatisch eingebrochen. Handelt es sich um eine zwischenzeitliche Schwächeperiode oder eine unaufhaltsame Abwärtsspirale?21 Die Engführung der Wissenskulturen als epistemisches Momentum der Postmoderne hat unter dem Dach des digitalen Gehäuses und mit einer Ausstattung, die in den Think tanks der globalen Unternehmen entworfen wurde, nicht zur Verbesserung, sondern zur Verwässerung wissenschaftlicher Tugenden, Methoden und Praktiken geführt. Wenn also aus dem kurzen Sommer der postmodernen Wissenschaft und der Berührungspunkte zwischen Geistes- und Naturwissenschaften der letzten 30 Jahre heute etwas zu lernen ist, dann aus der Frage, welche Wissensansprüche aus den sich bewegenden Wissenskulturen hervorgegangen bzw. welche an sie herangetragen worden sind. Wie sind diese Veränderungen im Zuge des akademischen Kapitalismus zu sehen, der sich der Forschung und der Lehre seit zwei Jahrzehnten nach und nach bemächtigt hat? Und was hat das mit den irrwitzigen Attacken zu tun, denen die Wissenschaften in den letzten Jahren mehr und mehr ausgesetzt sind? Eine geistesgegenwärtige Wissenschaftsgeschichte müsste politisch-epistemologische Analysen solcher Legitimations- und Delegitimationsstrategien vornehmen, denen Wissen, und zwar wissenschaftliches und außerwissenschaftliches Wissen, in unterschiedlichen Medien, Wissensräumen und Kontexten ausgesetzt ist. Ist sie für eine solche Herausforderung hinreichend präpariert? Das wird sich in den nächsten Jahren zeigen. Denn angesichts der politischen Zumutungen, die hier auszublenden nur dadurch zu rechtfertigen ist, dass sie so offensichtlich sind, geht es um eine historisch und systematisch belastbare Standortbestimmung der verschiedenen Wissen(schaft)skulturen im frühen 21. Jahrhundert, damit die dringend notwendige Frage nach der Legitimierung des Wissens neu gestellt werden kann. Zumindest diese Lektion sollten wir aus der Postmoderne mitgenommen haben.
21 B. Schmidt: »The Humanities are in Crisis«.
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LITERATUR Barlow, John Perry: »A Declaration of the Independence of Cyberspace« (https://projects.eff.org/~barlow/Declaration-Final.html). Drezner, Daniel W.: The Ideas Industry: How Pessimists, Partisans, and Plutocrats are Transforming the Marketplace of Ideas, Oxford 2017. Hagner, Michael: »Versuch über historische Experimentalkulturen«, in: Norbert Haas/ Rainer Nägele/Hans-Jörg Rheinberger (Hg.): Kontamination. Liechtensteiner Exkurse IV, Eggingen 2001, S. 83-102. Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie [1991], Berlin 1995. Latour, Bruno: »Von der Fabrikaton zur Realität. Pasteur und sein Milchsäureferment«, in: ders., Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt am Main 2000, S. 137-174. Latour, Bruno: Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie [1999], Frankfurt am Main 2001. Lyotard, Jean-François: Grabmal des Intellektuellen, Wien 1985. Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht [1979], Wien 1986. Lyotard, Jean-François/ Chaput, Thierry (Hg.): Les Immateriaux. Epreuves d’écriture, Paris 1985. Morozov, Evgeny: »Capitalism’s New Clothes«, in: The Baffler, February 4 (2019) (https://thebaffler.com/latest/capitalisms-new-clothes-morozov). Schmidt, Benjamin: »The Humanities are in Crisis«, in: The Atlantic 23 (2018) (https://www.theatlantic.com/education/archive/2018/08/the-humanities-face-acrisisof-confidence/567565/).
Die Schatten des Lebens: Über Lars Von Triers Melancholia Vincent Kaufmann
Prolog Meine Eltern waren umgezogen, wir mussten nun Französisch lernen. Wenn man fünf Jahre alt ist, geht das wie atmen und ohne Ahnung, wie man es schafft. Es war also kein Problem, aber es gab so ein paar Lücken. Es gab Wörter, die man falsch verstanden und noch nie geschrieben gesehen hatte. So kam es, dass mein Bruder und ich immer mit Begeisterung von »désanimé« statt »dessin animé« (Trickfilm) sprachen: Nicht »animierte« Zeichnungen, sondern im Gegenteil etwas »Entanimiertes«, etwas wie entseelte Zeichnungen. Für diesen Fehler gab es mildernde Umstände: Die Eltern haben Ihre Sache insgesamt bestimmt richtig gemacht, aber unsere audiovisuelle Ausbildung wurde dezidiert vernachlässigt. Zu Hause gab es kaum Zeitschriften mit Fotos und vor allem kein Fernsehen, man lebte in einer protestantisch organisierten Knappheit an (audio)visuellen Produkten. Das einzige interessante Buch im Wohnzimmer, an das ich mich erinnern mag, war ein etwas beunruhigender Band über die nicht besonders protestantische flämische Malerei in ihrer Blütezeit, mit Abbildungen von ungeheuerlichen Figuren à la Breughel und mit SM-Szenen, die sich üblicherweise auf den fast nackten Christus am Kreuz bezogen, wobei Jesus eben immer nur fast nackt war, mit diesem ewigen Tuch über seinem Glied, dem Einzigen, das man eigentlich sehen wollte. Ich habe mir das oft angeschaut, als ich im Wohnzimmer allein war, aber ich bin damit nie wirklich weitergekommen. Jedenfalls hat das audiovisuelle Defizit dazu beigetragen, dass wir einerseits von den »désanimés«, die wir im Fernsehen nie sehen konnten, fasziniert waren, andererseits eben nicht wussten, dass man nicht »désanimés« sondern »dessins animés« sagt. In Anlehnung an Jacques Lacan könnte man also sagen, dass die Trickfilme mehr oder weniger für das verlorene Objekt der Begierde standen und dass sie in diesem Verloren-
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Gehen entanimiert oder entseelt wurden: Sie bewegten (sich) nicht(s), sie waren nicht lebendig, sie gehörten nicht zu unserem Leben. Es waren animierte Bilder, die man sich vorstellen musste, es waren Wünsche, oder auch nur Schatten, die unser Leben ein wenig betrübten, weil wir sie eben nicht sehen konnten. Es hat zehn weitere Jahre gebraucht, um meine Eltern zu überzeugen, dass nicht nur Bücher ins Wohnzimmer gehören, sondern auch ein Fernsehapparat. Eigentlich habe ich sie dazu gezwungen, als ich 1972 ankündigte, dass ich mir für die olympischen Spiele von Sapporo selbst einen Apparat mieten würde. Wenn schon, dann aber im Wohnzimmer, das war dann die Antwort. Man schaut nicht im Bett fern, die audiovisuelle Ausbildung sollte im Familienkreis nachgeholt werden. Dank meines Tricks hat sich also meine Familie schlussendlich der Videosphäre angeschlossen. Für die erste Mondlandung war es allerdings reichlich spät und auch Trickfilme waren nicht mehr so interessant, besonders, wenn man sie sich im Familienwohnzimmer anschauen sollte. Jedenfalls habe ich ein Jahr später auf die Vergnügen der Videosphäre vorläufig wieder verzichtet und bin ausgezogen, um zu studieren. Ein Abschied vom Audiovisuellen sollte das nicht sein. Der Plan war, Filmoder, wenn das nicht klappen würde, zumindest Theaterregisseur zu werden (Plan B). Weil ich aber keine Ahnung hatte, wie man das eine oder andere wird, habe ich mich entschlossen, einen Umweg einzuschlagen und zuerst als intellektuelle Vorbereitung ein wenig Literatur und Philosophie zu studieren, was sich ja rechtfertigen lässt, wenn die Vorbilder Michelangelo Antonioni, Pier Paolo Pasolini oder Jacques Rivette heißen. Und dann bin ich auf dem Umweg irgendwie stecken geblieben, einerseits weil ich relativ schnell entdeckt habe, dass es schwierig ist, ohne die geringste Begabung für das Schauspielen Film- oder Theaterregisseur zu werden, andererseits weil ich den Eindruck gewonnen habe, dass Roland Barthes, Maurice Blanchot, Jacques Lacan oder Jacques Derrida intellektuell spannender sein könnten als die spannendsten Filmregisseure. Zu diesem Eindruck bin ich insbesondere mit meinen zahlreichen Besuchen der damals berühmten »Librairie Maspéro« in Paris gekommen, die ungefähr wie heute ein Open-Air Festival aussah. Es hätte da noch die Lösung von dem ebenfalls spannenden Anführer der Situationistischen Internationale, Guy Debord, gegeben, der seine Filmregisseurkarriere 1951 mit einem bild- und teilweise sogar tonlosen Film angefangen hat – also ein Kompromiss zwischen Ikonoklastie und Videosphäre, an der auch er offensichtlich nicht so Spaß hatte1. Aber logischerweise habe ich damals diesen Film weder gesehen noch davon gehört, zumal dieser eher vertraulich zirkulierte, und es hätte sowieso nichts gebracht, die schlichte Leere von Debords Filmen zu wiederholen.
1
Hurlements en faveur de Sade (France 1951, R: Guy Debord). Der begleitende Text zum Film ist zu lesen in: G. Debord: Œuvres, S. 61-68.
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Jedenfalls ist aus dem Umweg sehr schnell der Weg geworden, der bis jetzt nicht wirklich zur audiovisuellen Welt zurückgeführt hat: Mit meiner Karriere als Regisseur komme ich nur langsam vorwärts. Die oben erwähnten (post-) strukturalistischen Autoren, wie man sie aus Bequemlichkeit bezeichnet hat, teilen eine unübersehbare Ikonoklastie, die auf die maßgebenden Werke von Marx, Nietzsche und Freud zurückzuführen ist2. Für die Videosphäre ist ihr Interesse entsprechend gering geblieben, um es mild auszudrücken: Sie haben sogar viel Energie damit verbracht, sie nicht wahrzunehmen, wie ich viel später festgestellt habe 3. Der ganze Poststrukturalismus lässt sich als Beschwörung der aufkommenden audiovisuellen kulturellen Hegemonie beschreiben, als eine Sakralisierung von Sprache und Schreiben in einer Zeit, in der Autorität und Macht ein bis jetzt nachhaltiges Bündnis mit Sichtbarkeit und den audiovisuellen Technologien eingegangen sind. Entsprechend hat der Umweg nie zu den Trickfilmen, zu den bewegten oder beseelten Bildern, sondern systematisch zu dem »désanimé« zurückgeführt, den man als einen der gemeinsamen Nenner der ganzen poststrukturalistischen Konstellation beschreiben kann: das Desanimierte, das Entseelte, mit dem man eine Welt betritt, wo Subjekt, Leben und Präsenz endlos hinterfragt und durch Leere oder Abwesenheit »ersetzt« werden. Eigentlich habe ich mich vierzig Jahre lang fast nur mit Entseelung und Leere beschäftigt, als wäre ich den unwahrscheinlichen »désanimés« aus der Kindheit treu geblieben. Die Rückkehr des Lebens Was ist damit genau gemeint? Damals, als man sich für Leere und Entseelung begeistern vermochte, war die Welt einfach zu verstehen. Rechts die alte Literatur und Kunst, die grundsätzlich als ideologisch verdächtig einzuordnen war. Sie bestand aus Autoren, die an der Tatsache, dass sie lebendig waren und eben Autoren waren, nie zweifelten. Die würde bald verschwinden, zusammen mit allen möglichen religiösen Glaubensbekenntnissen und sozialen Ungerechtigkeiten. Und links, notwendigerweise links, die neue desanimierte Kunst, die dazu neigte, sich vom »Lebendigen« zu verabschieden und deren Aufkommen und Triumph nur noch eine Frage der Zeit war. Man spielte also ein letztes Mal das Spiel der Avant-Garden, zwar in einer melancholischen Tonart (so etwa D-Moll, eine dem Jenseits verhaftete Tonart, wie behauptet wird, oder vielleicht E-Moll, wie in Haydns Trauersinfonie), zumal sich in den 60er und 70er Jahren eigentlich niemand mehr zu einer avantgardistischen Utopie oder zu einem Lebensprojekt aufraffen konnte. Man war offensichtlich etwas müde vom Leben oder von der erlebten Kunst. So war’s schlussendlich
2
J.-J. Goux: Les Iconoclastes.
3
V. Kaufmann: La Faute à Mallarmé.
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ebenfalls bei den Situationisten, die sich an und für sich an die großen Utopisten angeschlossen hatten, aber zumindest der berühmteste von ihnen, Guy Debord, hat sich schon damals als ein sehr begabter Melancholiker etabliert. Ja, die ganze poststrukturalistische Konstellation und die damit verbundenen avantgardistischen Experimentierungen standen nicht nur im Zeichen einer unübersehbaren Ikonoklastie, sondern auch im Zeichen einer nicht weniger unübersehbaren Melancholie, mit der die Welt und das Leben zugunsten ihrer sprachlichen Auflösung verabschiedet wurden. Das Interessanteste an der Welt war, dass man sie verlieren und ihr nachtrauern konnte. Wie genau sich die Ikonoklastie und die Melancholie gegenseitig verstärkt haben, wird hier nicht genauer erläutert, aber es ist mehr als wahrscheinlich, dass sie sich tatsächlich verstärkt haben. Es ist vermutlich immer einfacher, sich an ein Nicht-Sehen-Sollen zu halten, wenn man zur gleichen Zeit behauptet, es gäbe gar nichts zu sehen. So entsteht eben Theorie4. Man bewegte sich in einem Bündel von konvergenten, notwendigerweise theoretischen Ansätzen (zumal die Theorie das zu sehen vermag, was nicht zu sehen ist und umgekehrt auf das Verschwinden des Sichtbaren angewiesen ist, um sich zu etablieren und zu rechtfertigen), deren gemeinsamer Nenner die Idee war, dass Literatur – oder allgemeiner: Kunst – da anfängt, wo es ein Ich nicht mehr schafft, sich zu erfassen, zu erleben und zu inszenieren, wo es sich aus den Augen verliert, wo es nicht mehr so wirklich da oder dabei ist. Entseelung und Leere fangen mit dem Ausfall oder dem Versagen eines Subjektes an, das es nicht mehr zu Leben oder Präsenz schafft: Ich schreibe, also bin ich nicht da, also gibt es mich nicht (mehr). Schon am Ende der 40er Jahre, als Reaktion auf Sartres Existentialismus, der sich diesbezüglich als Vitalismus und Aktivismus definieren lässt, hatte Maurice Blanchot mit einer Reihe berühmter Essays zu Mallarmé, Kafka, Hölderlin, Rilke usw. Dichtung als Erfahrung des Verschwindens und des Todes beschrieben – das war sogar ein Grundmerkmal des literarischen Raums (»Espace littéraire«)5. Etwas später hat dann Roland Barthes den toten Autor mit Hilfe des strukturalistischen linguistic turn erfolgreich etabliert: Und wenn er noch da zu sein scheint, sei er nur ein Effekt der Sprache6. Jacques Derrida hat sich etwas später für die Gespenster begeistert, und Julia Kristeva hat uns erklärt, wie die »Revolution der poetischen Sprache« darin besteht, dass das »semiotisch-körperliche« in der poetischen Sprache das Subjekt als Identitätsprinzip untergraben würde7. Obschon man sich in dieser Zeit sehr oft auf Sigmund Freud berief, ging es insgesamt nicht so
4
D. Thomä/U. Schmid/V. Kaufmann: Der Einfall des Lebens. Siehe dazu auch M. Jay: Downcast Eyes.
5
M. Blanchot: L’Espace littéraire.
6
R. Barthes: »La mort de l’auteur«.
7
J. Kristeva: La Révolution du langage poétique.
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sehr um ein »wo es war, soll ich werden« als um ein »wo ich war, soll es werden«. Es? Das Nicht-Ich, mein Schatten, mein Gespenst, die Literatur, vielleicht. Jedenfalls war das »Ich« nur noch als Fiktion, d.h. als sprachliche Konstruktion zulässig und grundsätzlich sehr unsicher geworden. »Qui parle?« war die zentrale Frage, wurde sogar zum Titel einer immer noch blühenden amerikanischen geisteswissenschaftlichen Zeitschrift, aber es war grundsätzlich eine Frage, die man stellte, um sie nie abschließend zu beantworten. Entsprechend hat man sich damals von Kunst als Ausdruck des Lebens oder des Erlebten systematisch verabschiedet. Es war die Aufgabe des Schriftstellers oder des Künstlers, das Leben in Texten oder Bildern aufzulösen, wie die Dementoren in Harry Potter aus den verurteilten Zauberern die Seele aussaugen. Eben Entseelung als eine Praxis, die entsprechend auch von der Frömmigkeit, der Religiosität der gegenwärtig so lebendigen Kunst so entfernt wie möglich bleibt. Man war irgendwie müde vom Buch als Verwahrer des (heiligen) Geistes und entsprechend des Lebens, das es ohne Seele und göttliche Funken ja nicht geben kann8 . Autobiographie – auch eine Gattung mit dezidiert religiösen Wurzeln – gehörte auf keinen Fall zum Pflichtenheft des Schriftstellers, zumal gerade festgestellt worden war, dass es unmöglich sei, sich selbst zu erfassen und entsprechend sein Leben zu erzählen. Und wer es trotzdem versuchte, verfiel den Illusionen des Imaginären (also dem, was man zu sehen glaubt, um es frei nach Lacan zu formulieren), oder blieb in einem endlosen Sich-Selbst-Erzählen stecken, wie etwa ein Michel Leiris oder ein Roger Laporte, die damit zu unseren modernen Helden wurden, die von den Gefahren des Schreibens wussten. Symmetrisch konnte auf der Seite der Rezeption nicht davon die Rede sein, dass man beim Lesen etwas (mit)erleben würde, dass man sich mit irgendjemand oder mit irgendetwas identifizieren würde. Man las und sah sich Filme bestimmt nicht aus Sympathie an, sondern um sich auch als Leser oder Zuschauer zu verlieren oder zu vergessen. Es war eine Erfahrung der Leere, des Nicht-Da-Seins, oder des Allein-Seins und der Desorientierung. Man denke an die ersten Filme von Wim Wenders, wie z.B. Falsche Bewegung oder etwas später Paris Texas: Falsche Bewegungen oder (fast) keine Bewegungen, Erfahrung des Still-Stehens. Oder an die Filme von Jacques Rivette: L’Amour Fou, eine vierstündige Liebesgeschichte ohne Geschichte, in der die Zeit still steht oder vergeht, in der gewartet wird, oder an den berühmten Out One, sein zwölfstündiges Meisterwerk, das eigentlich gar nie angefangen hat oder zu einem Ende gekommen ist. Mitleiden oder Miterleben gehörte jedenfalls nicht zur Agenda. Solche Filme konnten zwar manchmal sehr langweilig sein, aber im Gegensatz zur Sympathie war die Langeweile politisch-
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Maurice Blanchot spricht diese Thematik im letzten Kapitel von seinem Entretien infini ausdrücklich an: M. Blanchot: »L’Absence de livre«.
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avantgardistisch sehr korrekt. Es ging schlussendlich nicht um (immer religiöses) Mitleiden, wie bei der flämischen Malerei, sondern um die nächste Revolution, und das ging nicht ohne manchmal langweilige Anstrengungen. Man wusste ja, dass die Revolution kein Gala-Dinner sein konnte und Unterhaltung gehörte entsprechend auch nicht zur Agenda. An der ersten Tagung, an der ich teilgenommen habe, sagte ein Kollege am letzten Tag, er gehöre nicht zu denen, die das Lachen als revolutionär betrachten würden. Da haben natürlich alle gelacht, aber trotzdem, er hat es gesagt. Das alles hört sich heutzutage bestimmt etwas spanisch oder eben melancholisch an. Wir lachen wieder gern, haben es mit der Revolution noch weniger eilig als damals und wer nicht unterhaltend ist, hat praktisch keine Chancen, sich durchzusetzen. Langeweile, Entseelung und Leere wirken in Literatur und Kunst altmodisch. Und vor allem haben wir alle möglichen Fäden, die das Leben und die Kunst verbinden, wieder aufgenommen. Wir haben sie repariert, verstärkt und sogar priorisiert. Niemand bezweifelt heute im Ernst, dass Literatur und Kunst Ausdruck des Lebens sind oder sein sollten. Der Zeitgeist will sogar, dass es grundsätzlich die Aufgabe der Literatur ist, das Leben zu reparieren, als wäre ein nicht erzähltes Leben ein wertloses Leben9, als wäre ich nur ich selbst unter dem Blick eines Anderen, vieler Anderer: Meine Sichtbarkeit, meine neue Transzendenz, meine neue Religion. Diese Wende lässt sich auf verschiedene Weisen beschreiben. Man kann sie z.B. mit Lyotard oder Lipovetzky auf das Ende der großen ideologischen Erzählungen und den damit verbundenen verstärkten Hyperindividualismus zurückführen10. Mit dem Hyperindividualismus wären Subversion, Langeweile und Entseelung aus dem Pflichtenheft des Schriftstellers oder des Künstlers gefallen: Wenn man am »Ende der Geschichte« angekommen ist, oder wenn zumindest niemand mehr so recht weiß, welche Geschichten man noch für alle erzählen könnte, haben die Avantgarden ein Problem, zumal niemand mehr hinter ihnen nachzieht. Entsprechend ist dann jeder oder jede frei, das zu schreiben oder zu lesen, was ihm oder ihr Spaß bereitet, und das ist dann meistens sein oder ihr eigenes Leben. Oder man beschreibt die Entwicklung als die Konsequenz einer medialen Wende, als Übergang von der Grafosphäre zur Videosphäre11, was vielleicht mit Blick auf Entseelung ergiebiger ist. Wenn das Fernsehen das dominante Medium wird, wenn Macht konsequent über TV statt über das Geschriebene läuft, dann müssen sich auch Autor und Künstler den Imperativen des Auftretens und der Aufmerksamkeit fügen und entsprechend dauernd Lebenszeichen abgeben – hallo, ich bin
9
A. Gefen: Réparer le monde.
10 J.-F. Lyotard: La Condition postmoderne; G. Lipovetzky: L’Ère du vide. 11 R. Debray: Cours de médiologie générale.
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da, sehen Sie mich? In der gegenwärtigen Ökonomie der Sichtbarkeit sieht es für den verschwindenden, entseelten, fiktionalisierten (»qui parle?«) oder sogar toten Autor nicht gut aus. Stellen Sie sich vor: Er wird in die verschiedensten Talk-Shows eingeladen und würde behaupten, er sei heute ein wenig tot, oder gar nicht da, und gäbe es ihn überhaupt? Das sei doch gar nicht sicher und über sein Leben hätte er jedenfalls nichts zu sagen. Das kommt schlecht an, das ist langweilig, kontraproduktiv und in der Ökonomie der Aufmerksamkeit nicht vorgesehen: Wenn Sichtbarkeit zur Bedingung des Überlebens und vor allem der Autorität oder Aura wird, ist »Nicht-Leben« keine Option. Die »Situation« (im Sinne von Sartre) des gegenwärtigen Künstlers ist Hausarrest: Er muss da sein, wo er ist, wo er lebt, wo er wohnt und muss dort auffindbar sein. Das erwarten von ihm die Medien, aber auch die Leser und die Zuschauer, oder genauer die »User« (der sozialen Medien). Für Autoren und Künstler ohne Facebook-, Twitter- oder Instagramkonto sieht die Zukunft düster aus, zumal der Autor nicht nur sichtbar (und entsprechend lebendig), sondern eben auch erreichbar und auffindbar sein muss. Ein Marcel Proust hätte heute in seinem Korkzimmer seine Mühe12. Das Ganze lässt sich freilich auch als Spektakel beschreiben, in Anlehnung an Guy Debords Begrifflichkeit, oder genauer vielleicht »gegen« ihn, d.h. wenn man das Spektakel nicht mehr als das Instrument einer mehr oder weniger geheim gehaltenen Ideologie des späten Kapitalismus, sondern, wie es sich aufdrängt, als das Ziel der sich verselbstständigenden Ökonomie der Aufmerksamkeit versteht. In praktisch allen Bereichen der Kultur – aber auch in der Politik und sogar z.T. in der Wissenschaft – ist Spektakel die Konsequenz oder die Bedingung der Ökonomie der Aufmerksamkeit, die sich ohne Spektakularisierung gar nicht durchzusetzen vermag. Um Aufmerksamkeit bzw. Sichtbarkeit zu erzeugen, empfiehlt es sich, »da« zu sein, d.h. im Spektakel aufzutreten. Das Spektakel ist diese Tautologie, die uns zwingt, das zu sein, was wir sind und da zu sein, wo wir sind. Es ergreift uns als ein Imperativ – oder genauer eine Rhetorik – der Authentizität und der Transparenz, die freilich ein Imperativ bleiben (noch nie waren wir eigentlich von Authentizität und Transparenz so weit entfernt) und im Bereich der Literatur auch zu einem grundsätzlich autobiographischen Ethos führen. Entsprechend kann das Spektakel mit Fiktion, Ironie, Distanz, Leere und Entseelung schlicht nichts anfangen. Es reduziert Kunst grundsätzlich auf Erlebtes oder, in der Perspektive der »User«, auf Erlebbares. Es lässt Fiktion nur zu, wenn diese von der Wirklichkeit klar abgekoppelt ist, wie das in mittlerweile zahlreichen »Sagas« der Fall ist (Harry Potter, Game of Thrones, Hunger Games usw.). Im gleichen Schritt reduziert es die Opazität des Symbolischen auf transparente Kommunikation: Nichts soll mich bei meinem Erlebnis stören, nichts und schon gar
12 Siehe dazu V. Kaufmann: Dernières nouvelles du spectacle.
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nicht die Sprache und deren Entfremdungs- und Entseelungseffekte sollen mir dazwischenkommen, sollen mich von meinem Erlebnis und meinen Emotionen fernhalten. Auch nur in diesem Sinne ist Lars Von Triers Dogma-Manifest von 1995 ein absolut antispektakuläres Manifest13 und Proust hätte heute nicht nur Probleme mit seinem Korkzimmer, sondern auch mit seinen offensichtlich zu langen Sätzen. Spektakel und lebensorientierte Kultur sind eng verbunden: Es braucht diese, damit man an jenes glauben kann, damit sich das Spektakel als unsere gegenwärtige Religion durchsetzen kann. Man glaubt an das Spektakel, weil man’s sieht, weil man live dabei ist oder sich sogar dank Facebook oder Instagram live an der Produktion des Spektakels beteiligen kann. Mit Distanz als Bedingung der ästhetischen Erfahrung und des Erhabenen ist Spektakel nicht kompatibel. Melancholia: Die Rückkehr der Entseelung Haben wir mit der gegenwärtigen Hegemonie des Spektakels die Melancholie verloren, wird ihr hier nachgetrauert? Wird eine Kultur vermisst, die mit Verzicht auf das Leben, mit der Fiktionalisierung des Subjektes, mit Entseelung und Melancholie vertraut war, die diese Fähigkeit hatte, die Welt verschwinden zu lassen, sie zu schlucken oder sich von ihr zu verabschieden? Das ist nicht auszuschließen, aber vielleicht lässt sich die eben beschriebene Entwicklung nicht so einfach zusammenfassen. Lässt sich die Melancholie überhaupt verlieren, so dass man ihr nachtrauern muss? Ist es nicht so, dass wer auf den Geschmack gekommen ist, Mühe hat, sie zu vergessen und durch sie wie durch ein Gespenst heimgesucht wird? Wer der Melancholie nachtrauert, »aktualisiert« sie, als könnte das Verlieren nicht verloren gehen. Und es tut immer gut, ein wenig dialektisch zu denken: Wenn die Melancholie ziemlich systematisch aus der gegenwärtigen Kulturindustrie rausgefallen ist, wird diese umso mehr durch sie bestimmt oder definiert, d.h. durch das, was ihr fehlt, was sie ausschließt. Mein Punkt wäre hier, dass die spektakuläre Kultur mit dem Ausschluss von Entseelung, Leere und Fiktionalisierung der Subjektivität entsteht, dass es sie nur als deren zwingende Verdrängung gibt, dass sie deren Kehrseite ist. Sie gleicht einer Kultur, die ihren Schatten verloren hätte, sie inszeniert dauernd ein Leben ohne Schatten, ein schattenloses Leben, das sich von seiner Tautologie zu überzeugen vermag. Guy Debord hat in seinem Meisterwerk von 1978, In Girum imus nocte et consumimur igni, darauf hingewiesen, in dem er die damals populäre Aussage, bzw. den Titel eines damals erfolgreichen Filmes, als Emblem der Sinnlosigkeit des Spektakels herausgreift: »Quand on aime la vie, on va au cinéma«14.
13 J. Hallberg/A. Wewerka: Dogma 95. 14 G. Debord: »In Girum imus nocte et consumimur igni«, in: ders. Œuvres, S. 1335.
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Umgekehrt ließe sich sagen, dass die poststrukturalistisch-avantgardistische Kultur der 60er und 70er Jahre den Sinn einer Beschwörung des aufkommenden Spektakels hat. Sie war der Schwanengesang der Grafosphäre, sie war wie eine letzte Aufführung vor dem Untergang. Und wir verstehen vielleicht erst heute besser als damals, als wir live dabei waren, was an den Werken eines Michel Leiris, eines Maurice Blanchot, aber auch eines Thomas Bernhardt, oder an den Filmen eines Luchino Visconti, eines Wim Wenders oder eines Jean-Luc Godard so wichtig war. Wir verstehen, was bei Leere, Entseelung, und Langeweile, die sich ebenfalls als Entschleunigung beschreiben lässt, so faszinierend war. Wir verstehen es, weil das Spektakel uns das alles abgenommen hat, weil wir es verloren haben, weil wir uns (fast) nicht mehr in der Leere der entanimierten Kunst aufhalten können. Es gab da Raum, um nicht da oder nicht sich selbst zu sein, um zu verschwinden, zugunsten von was? Unsere nicht-gelebten Leben? Unsere (bösen) Träume? Unsere unbekannten Wünsche? Jedenfalls ging es um alles, was uns mit der spektakulären Kultur verweigert bleibt, weil sie in den verschiedensten Formen eine Kultur der Fülle ist, in der nie etwas fehlt, eine Kultur, in der nie etwas zu wünschen übrigbleibt. Welche neuen Bücher würde es sich heute lohnen, ein zweites Mal zu lesen, weil noch etwas offenbleiben würde, weil sich in ihnen etwas dem unmittelbaren Verständnis widersetzt? Die spektakuläre Kultur ist entsprechend eine Kultur der Beschleunigung, wie man es insbesondere im Bereich der gegenwärtigen Filmproduktion feststellen kann: wieviel Sequenzen, wieviel Aufnahmen in einer Minute oder in einer Stunde? So lauten die für die Filmproduktion strategischen Fragen, was früher oder später dazu führt, dass Kultur transmedial als ein Aktions-Reaktionssystem definiert werden muss, bei dem es darum geht, mehr oder weniger physisch geprägte und automatische Emotionen zu erzeugen. Haben wir die Melancholie verloren? Können wir der Fülle, d.h. uns selbst, so wie wir sind und leben, noch entgehen? Gibt es noch Raum für einen Ausbruch aus der spektakulären Kultur? Bei solchen Fragen muss ich an Lars von Trier denken, stoße auf ihn, als hätte er die Antwort oder vielleicht einfach, weil sich der Melancholiker bei ihm zu Hause fühlt. Hätten wir mit der Spektakularisierung der Kultur die Melancholie verloren, gäbe es wenigstens noch Lars von Triers Melancholia, um uns an sie zu erinnern, um die Melancholie zurückzuholen und sie sogar in der Form eines bösen Planeten zu inszenieren, dem wir es nicht mehr schaffen zu entgehen. Mit Melancholia geschieht also eigentlich das Umgekehrte: Die Welt, wie wir sie (er)leben, geht unter, und wir verschwinden. Freilich sagt der Film scheinbar so genau das Gegenteil von dem, was ich hier versuche, davon abzuleiten, zumal im Film nicht der Welt entgangen werden muss, in der wir zu leben versuchen, sondern deren Zerstörung durch Melancholia. Aber vielleicht vernichtet Melancholia die Welt nur, weil wir von ihr nichts mehr wissen wollen. Der Planet kommt zurück, nachdem er die Erde ein erstes Mal haarscharf verpasst hat, er kommt zurück, als
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wir schon glaubten, dass wir ihn für die Ewigkeit losgeworden sind. Der Schatten des Lebens kommt vielleicht in der Form eines leuchtenden blauen Planeten zurück, weil wir nicht mehr wissen, wie wir mit ihm umgehen sollen, weil wir mit unserem Glauben an das Leben keinen Raum für ihn haben. Justine, die Melancholikerin und Hauptcharakter des Filmes, strahlt nur in der Nacht, in Melancholias Licht: Das macht sie an. Aber fangen wir beim Anfang an. Die Eingangssequenz von Melancholia besteht aus Szenen, die später zum Teil tatsächlich im Film als »echte« Filmszenen wiederholt werden, zuerst aber als Zeitlupenaufnahmen oder sogar unbewegte Bilder erscheinen: Motion Pictures ohne Motion, entseelte, entschleunigte, nicht lebendige Bilder, die langsam, sehr langsam an uns wie Fotos vorbeiziehen. Auch das Licht fehlt, alles ist irgendwie beschattet: In einem der ersten Bilder haben die Objekte sogar einen doppelten Schatten. Und die musikalische Begleitung (Wagners Ouvertüre von Tristan und Isolde) sorgt dafür, dass wir verstummen, bzw. in einen entanimierten Raum mitgerissen werden: Vielleicht das Erhabene, als wären wir dabei. Vermutlich um uns zu beruhigen, ist dieser »Abspann« als Traum interpretiert worden, aber eigentlich gibt es nicht den geringsten Beweis dafür, dass dieser Anfang »nur« ein Traum sein soll. Und wieso wäre es ein Traum? Können Filme überhaupt träumen? Können Filme etwas anders als träumen? Und wer träumt hier gegebenenfalls? Qui parle, qui rêve? Wem gehören die Träume, die Fantasien? Justine der Melancholikerin, die nie an dem kommenden Weltuntergang gezweifelt hat? Oder Lars von Trier, der ja selbst auch durch eine Depression ging? Mit welchem Leben wollen wir die entseelten Anfangsszenen oder -bilder verknüpfen? Oder wird hier gar nichts erlebt? Ist das Leben schon am Anfang weg? Justines Versuch zu leben wird jedenfalls relativ schnell scheitern und dieses Scheitern ist das Objekt des ersten Teils des Filmes (»Justine«). Die lange Limousine, in der sie mit ihrem Bräutigam zur Hochzeit fährt, bleibt stecken, schafft es nicht um eine Kurve. Das Brautpaar kommt mit Stunden Verspätung zu Fuß im fürstlichen Schloss der Schwester Claire an, alle sind schon ein wenig genervt. Endlich kann die Hochzeit anfangen, aber Justines Vater, der mit zwei jungen Maîtressen angereist ist, kann’s nicht unterbinden, in seiner Rede seine ehemalige Gattin, Justines und Claires Mutter, zu provozieren, die prompt zurückschnappt und sich ab diesem Zeitpunkt wie die böse Stiefmutter in einem Grimm-Märchen benimmt. Sei die Hochzeit verflucht, so ungefähr lautet die Zusammenfassung von allen ihren Äußerungen oder deren Wirkung. Auf ihre Tochter verfehlt diese Verhaltensweise jedenfalls seine Wirkung nicht. Das letzte, schon fragwürdige Strahlen verschwindet von deren Gesicht, Justine zieht sich wortwörtlich zurück, von ihren Gästen wie von sich selbst, vergisst sich in ihrem Badezimmer, ist grundsätzlich nicht mehr da, wirkt wie entseelt. Alle warten, sie kommt endlich zurück, geht wieder, alle warten wieder, sie kommt und geht, geht vor allem, geht auch noch nachdem sich das Brautpaar zurückgezogen hat und der Bräutigam endlich zur
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Sache kommen möchte. Statt sich ihm hinzugeben, geht Justine im Schlosspark spazieren und fickt einen jungen Kollegen auf dem privaten Golf-Kurs (sie arbeitet in der Werbebranche und soll sehr talentiert sein, aber von diesem Bezug mit dem kapitalistischen Spektakel ist im Film definitiv nichts zu sehen). Danach beleidigt sie ihren Boss auf die gröbste Weise und am Ende der Nacht ist sie nicht nur wieder einmal völlig deprimiert, vermutlich etwas betrunken, sondern auch wieder oder immer noch ledig und arbeitslos. Die Gastgeber (Claire, die Schwester, und John, ihr Mann) sind genervt, der Bräutigam haut ab. Die Nacht ist kein schönes Erlebnis und als ein entschiedener Rückschlag für die Gesellschaft des Spektakels einzustufen, damit hat Lars von Trier ja auch jede Menge Erfahrung. Justine hat’s zwar versucht, aber sie kommt nicht mehr in das Leben hinein. Eigentlich wusste es jedermann, dass es so kommen würde, oder hätte es wissen sollen, zumal sie offensichtlich nicht zum ersten Mal durch einen solchen Zustand geht. Der Film verrät uns zwar nichts von ihrer »Krankengeschichte«, aber er gibt uns mit dem Verhalten der Eltern wenigstens einen klaren Hinweis, wie alles möglicherweise angefangen hat: Mit Eltern, die versagen, die als Eltern scheinbar sehr schnell aufgegeben haben, ihrer Tochter eine Welt zuzuschneiden und zu übermitteln. Wo man Eltern als soliden Boden braucht, um leben zu können, öffnet sich für Justine ein Abgrund, der sie schlussendlich aus der Welt aussaugt, zumal man gescheiterte Eltern nicht loswird, sondern von ihrer Negativität heimgesucht wird – Justines Vater ist ein ekelhafter Lüstling oder auch nur ein Trottel und ihre Mutter eine böse Hexe oder auch nur eine verbitterte, verlassene Frau. Als symbolische Erbschaft dürfte das etwas problematisch sein und kommt einer Zerstörung des Symbolischen gleich, mit der Justine den im Dunklen lauernden Geistern und Schatten der Melancholie ausgesetzt wird, ohne zu sich selbst zu finden, ohne zu sich selbst als Frau, als Gattin, geschweige denn als Mutter zu finden (dafür, sagt sie ihrem noch künftigen Gatten am Anfang des Filmes, sei es jedenfalls noch zu früh). Alles, was so ein Leben ausmacht, fällt bei ihr auseinander, bleibt außer Reichweite. Ihre Welt ist leer, entseelt, wie die Bilder in der Eingangssequenz und eigentlich wie der ganze Film. Dass die Heimsuchung – oder die Verhexung der Welt – durch die Mutter im Film eine zentrale Rolle spielt, lässt sich ebenfalls an der Situation von Claire kontrapunktisch verfolgen. Als sich die Mutter während der Hochzeit schlecht benimmt, versucht John (Claires Gatte) seine Schwiegermutter rauszuwerfen, was er aber nur mit ihrem Koffer schafft, den ein Diener sofort in das Haus zurückholt. Später sagt John zu Justine: »Ich habe versucht, Deine Mutter rauszuwerfen«, und Justine antwortet: »Ja, das tust Du doch ständig.« John ist da, um die Mutter rauszuwerfen, um Claire vor ihr zu schützen, damit Claire ein Leben haben kann, mit einem Gatten, einem Sohn, einem Haus, damit sie es im Gegensatz zu ihrer Schwester schafft, im Leben Fuß zu fassen. Aber auch er scheitert: Gegen den drohenden Planeten Melancholia versagt er. Claire wehrt sich mit allen Kräften
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gegen die Verhexung der Welt, gegen ihr Verschwinden, versucht bis zur letzten Sekunde, bis zum Weltuntergang, für sich selbst aber vor allem auch für ihren Sohn einen Ort zu finden, wo man Melancholia entgehen könnte. Aber auch hier: kein Ort, nirgends. Melancholia kommt zurück und wird diesmal einschlagen, die Welt explodiert, kracht in Flammen auf, oder doch nur der Bildschirm? War es doch nur ein Traum? Können Filme doch nur träumen? Justine wehrt sich nicht. Sie hat nie geglaubt, wie die durch John den Wissenschaftler überredete Claire, dass Melancholia vorbeigehen würde. Als Melancholia zurückkommt, bringt sich John um, wird unter etwas Stroh im Stall versteckt, und Claire irrt verzweifelt in der Landschaft herum: Kein Ort. Nirgends. Aber je näher der Planet kommt, desto mehr freut sich umgekehrt Justine. Der Planet, das runde Ding (die Mutter?), das am Ende alles vernichtet, wird sie mitnehmen, sie gehört ja sowieso schon lange nicht mehr zu der Welt, hat nie dazu gehört, hat sich schon längst davon verabschiedet, hat immer der bösen Mutter gehört. Je näher der Planet, desto aktiver wird Justine, die sich bislang kaum aufraffen konnte, um etwas zu essen oder sich zu waschen. Sie ist durch Melancholia wie neu aufgeladen, sonnt sich nachts nackt in der schwarzen Sonne der Melancholie15 und am Schluss übernimmt sie die heikle Aufgabe, ihren Neffen (Claires Sohn) zu trösten, bzw. ihn mit Erzählungen von magischen Höhlen vor dem imminenten Weltuntergang zu schützen. Zusage zu Melancholia, zur Entseelung, aber auch zu den Erzählungen, das ist ihre Welt. Von der anderen hat sie sich schon längst verabschiedet und sagt dazu ihrer Schwester: »Die Erde ist schlecht, wir brauchen nicht um sie zu trauern.« Leben, Glauben »Die Erde ist schlecht, wir brauchen nicht um sie zu trauern«: Nicht nur an die Werbeagentur, nicht nur an ihre Hochzeit und an ihren reichen künftigen Gatten, sondern eben an die Welt und an das Leben in der Welt glaubt Justine nicht mehr und vermutlich Lars von Trier auch nicht. Jedenfalls ist der Unterschied zwischen Justine und z.B. dem Hauptcharakter von von Triers Dogville, Grace, nicht so groß. Grace braucht nur etwas mehr Zeit als Justine, um festzustellen, dass die Welt schlecht ist, dass es neben ihrem Vater, dem Gangsterboss, niemand Gutes gibt, dass die friedlichen Einwohner von Dogville, die sie allmählich wie ein Tier oder eine Sklavin behandeln, moralisch genauso verwerflich wie ihr Vater sind. Es gibt keinen Ort, um vor dem Bösen zu fliehen, nirgends, weder für Grace noch für die Einwohner von Dogville, die nicht per Zufall ganz hinten in einem Tal leben, an einem Ort, wo man nicht weiterkommt, was es dann auch einfach macht, sie alle
15 Den Ausdruck »Soleil noir de la mélancolie« verdanken wir Gérard de Nerval. Siehe dazu J. Kristeva: Soleil noir.
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umzubringen. Die Schlussszene ist zumindest für die Einwohner von Dogville auch ein Weltuntergang, zumal Grace den Schergen ihres Vaters, der seine Tochter zurückholt (wie Justines Mutter ihre Tochter zurückholt), befiehlt, sie bis auf den letzten zu töten, Kinder inbegriffen: Kein Entgehen, und niemand wird den Dogvillern nachtrauern, niemand wird sie vermissen. Das Apokalyptische in von Triers Filmen kommt mit dem Verlust des Glaubens an das Gute in der Welt, an etwas, was Leben rechtfertigen würde. Und wenn sich das nicht mehr finden lässt, fallen wir sehr schnell in einen Horrorfilm, wie eben am Schluss von Dogville oder freilich mit von Triers Antichrist – was für ein klarer Titel: Es ist die Geschichte einer (namenlosen) Frau, die in einem verhexten Wald zur Hexe wird, da, wo sie früher einmal eine Dissertation über Hexen und was man in alten Zeiten so damit anfing geschrieben hat. Es ist die Geschichte ihres (namenlosen) Mannes, eines Therapeuten, der glaubt, er könne das Leben noch reparieren, es aber nicht mehr schafft, seine verhexte Frau nach dem Tod ihres Kindes in das Leben zurückzuholen. Sie foltert ihn grausam, bringt ihn beinahe um, dann erwürgt er sie und verbrennt sie, wie es sich bei Hexen gehört. In der Schlussszene ist der Mann durch zahlreiche Frauengestalten ohne Gesicht (ohne Seele? Das Gesicht gilt ja als das Fenster der Seele) umschlossen: Hexen in einer nun definitiv entseelten Welt, da hilft freilich keine Therapie mehr. Hexen sind untherapierbar. Von Triers Charaktere glauben nicht mehr an das Leben, sie werden verhext oder zu Hexen, werden zu (Selbst)mörderinnen, oder zu Sexbessessenen, wie in Nymphomania. Sie fallen aus dem Leben, verlieren ihre Seele. Wo Kinder sterben (und das ist in allen drei oben erwähnten Filmen der Fall), wo kein Raum für symbolische Übermittlungen entsteht, ist kein Leben möglich, weil damit ebenfalls der Glaube an das Leben verschwindet. Der Glaube und das Symbolische sind in diesem Sinne gegenseitige Voraussetzungen, die das Leben möglich machen. Aber was, wenn an deren Stelle Hexen, Geister und Gespenster treten? Wie soll man sich Grace nach Dogville, nach ihrer Versklavung und zahlreichen Vergewaltigungen vorstellen? Back home, mit einem netten Gatten, drei Kindern, mit dem Leben versöhnt, in einem schönen Haus in einem üppigen Vorort von Los Angeles? Man kann nur leben, wenn man daran glaubt, wenn es mit der symbolischen Bewahrung des Lebens, mit den genealogischen Koordinaten, mit dem Guten und dem Bösen usw. ungefähr klappt. Ansonsten herrscht eine absolut vernichtende Gewalt, ansonsten kommen Melancholia, oder die Hexen, die Mörderinnen und die Nymphomanen. Alle in von Triers Filmen inszenierten Charaktere überschreiten irgendwann die Grenzen zwischen Leben und Nicht-Leben, werden aus dem Leben getrieben, fallen in ein Dazwischen, in dem sie zu Gespenstern werden. Von Trier ist der gegenwärtige Meister des Dazwischen und der Entseelung, er ist entsprechend der Künstler. Das Entseelte ist sozusagen das natürliche Element, in dem sich seine Charaktere bewegen, aber vielleicht tun sie das nur, weil sie sich eben in einem Film bewegen
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und weil man sich mit dem Film grundsätzlich in diesem Dazwischen befindet, das vor ihm ein Rivette, ein Visconti, ein Wenders und viele andere erforscht haben. Von Trier mag manchmal ein geschmackloser Provokateur sein, er ist aber vor allem ein (Film)Fundamentalist, wie er es mit dem Dogma-Manifest (1995) selbst festgehalten hat. Er ist ein (Film)Dogmatiker, er hält sich an die Fundamente des »Motion Picture«, an das, was Film wirklich ist oder kann, an das was Film am besten kann, und das ist weder die Wiedergabe noch die Nachahmung des Lebens. Wie andere vor ihm schafft von Trier Räume für Entseelung, für Bilder, die nur scheinbar »animiert« sind, die sich im Gegenteil entanimieren, entschleunigen und vom Leben leeren. Es ist wohl kein Zufall, dass die »dessins animés« auf Deutsch »Trickfilme« heißen, als wollte man festhalten, dass sie nur dank einem Trick oder einer Illusion »lebendig« werden (was ja technisch gesehen zumindest vor der Digitalisierung genau der Fall war). Und wie seine Vorgänger (Brecht und viele andere) ist Von Trier entsprechend auch ein Meister der Distanzierung, der Entnaturalisierung: ein Film fängt da an, wo das Leben und dessen realistische Kulisse aufhört. Man denke hier nur an die minimalistische, »fiktionale« Kulisse von Dogville, wo das Dorf die Form einer in Lebensgröße auf dem Boden gezeichneten Skizze annimmt. Dieses Dazwischen bleibt nicht abstrakt oder sozusagen formell: In ihm wird inszeniert, was nach dem Leben kommt, oder was das Leben bedroht, oder was verdrängt werden muss, damit das Leben auszuhalten ist. Alle Filme von von Trier sind in diesem Sinne Einführungen in Freuds Unbehagen in der Kultur. Alle zeigen, wie hauchdünn der Lack der »Kultur« ist, wie es uns damit kaum gelingt, den Glauben am (guten) Leben aufrechtzuhalten und wie wenig es braucht, um durch Melancholia, Hexen oder MörderInnen – uns selbst – in den Abgrund gerissen zu werden. Von Trier zeigt uns die Schatten des Lebens, oder genauer: er gibt dem Leben seinen Schatten zurück. Das ist seine Lehre, seine Warnung: Wer an das Leben glaubt, wer glaubt, dass man den Schatten vergessen soll oder kann, um zu leben, wird früher oder später durch den Schatten heimgeholt, dann haben die Objekte plötzlich einen doppelten Schatten. Wer glaubt, Melancholia sei nur ein böser, vorübergehender Traum in einem Leben, das doch schön und gut sein kann, weiß nicht, was mit Kunst gemeint ist oder wofür Kunst steht: Er hat sich im Spektakel verloren. Quand on aime la vie, on va au cinéma.
LITERATUR Barthes, Roland: »La mort de l’auteur« [1968], in: ders. Le Bruissement de la langue, Paris 1993.
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Das Leben überleben? Rainer Marten
I. War das dann alles? Wer sechzig wird, hat, schon rein aus Zeitgründen, seine Midlife-Crisis hinter sich. Und nun? Was heisst da Aufbruch in die noch übrige Zeit (Sophokles: eis to loipon chronon)? Ist das der Rest des Lebens? War das dann alles? Soll das dann etwa alles gewesen sein? Wie diese Frage gemeint ist, lässt sie sich nicht an einem Tag beantworten, ja überhaupt nicht am helllichten Tag. Um ihr gerecht zu werden, muss mehr gewagt werden, als einfach redlich und bei Sinnen zu sein. »›Der Rest ist Schweigen.‹ Er stirbt.« (»›The rest ist silence.‹ Dies.«) Ja, der Tote hat nicht mehr zu sagen, kann nichts mehr sagen. Wer nach sich selbst fragt, nach seinem Ganzen, muss Licht in ein Dunkel bringen, das ein Dunkel bleibt. Selbstaufklärung, Aufklärung über das eigene Ganze – da ist das Dunkel wichtiger als das Licht. Es muss behütet werden, wie ein Schatz. Bei Überbelichtung würde es zerstört. Hat Einer sein endliches und einziges Leben gelebt, ist der Tod eingetreten, warum sollte das nichts alles gewesen sein? Noch darüber hinaus gefragt: Wie sollte es denn zugehen, dass das nicht alles war? Darf einer alt werden und, wenn »die Tage erfüllt sind«, sterben, dann werden ihn, wie es in unserer Kultur üblich war und noch üblich ist, Nahe und Nächste zur Ruhestätte bringen und ihm »Ruhe in Frieden!« wünschen. Er hat sein Requiem gefunden, seine Ruhe. Er ruht in der Erde. Ruht er für den Gläubigen in Gott, dann bleibt die Ruhe doch Ruhe. Er muss nicht mehr, wie es selbst Philosophen tun, sich in »immanenter Transzendenz« versuchen, um »Frieden mit sich selbst« zu finden. Er hat seinen Frieden. Was sollte er sonst haben? Es können allein Lebende sein, die ihm keine Ruhe, nicht seinen Frieden haben lassen. Ein »nach dem Tod«, das anderes und eben mehr meint, als dass nach Eintreten der Tote tot und nichts sonst ist, gibt es allein für Lebende, für die ja
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auch allein ein Toter tot sein kann. Der Tote hat kein Für-sich-Sein. Er ist für sich nicht tot. Der Tote, der als Lebender nichts anderes dachte, als im Tode seine endgültige (vom Wort »ewig« machte er keinen Gebrauch) Ruhe zu finden, hatte jedoch seine Rechnung ohne die Moralisten gemacht. Für sie ist menschliches Leben die Selbstaufführung je eines Einzelnen in der lebenspraktischen Spanne von Gut und Schlecht. Für sie ist es unabdingbar, dass über jedes Leben Recht gesprochen wird, was bedeutet, dass es zu einem zu Ende gebrachten Leben gehört, für dieses Leben belohnt oder bestraft zu werden. Für diese Moralisten ist es nicht die »Kürze« des Lebens, wie sie für Viele in der Endlichkeit als solcher liegt, die sie heftig gegen ein »Das war alles« rebellieren lässt. Ihnen liegt vielmehr daran, den Toten nicht zu billig davonkommen zu lassen. Für den Christus des Matthäusevangeliums und für den Apostel Paulus bedarf es der über die Zeitlichkeit des Lebens absolut hinausreichenden Ewigkeit, um den Himmel als den ewigen Lohn und die Hölle als die ewige Strafe ausrufen zu können. Für Platon und Kant wieder bedarf es der unsterblichen Seele, um sie für das, was sie trotz Ablösung vom Leibe an gelebte Leben in ihre zeitlose Existenz mitbringt, einem Lohn-Straf-Gericht unterziehen zu können. Die Seele frei vom Leib und ganz in ihrer eigenen Lebendigkeit? Platon war das dann doch nicht ganz geheuer. Er lässt seinen Sokrates bekennen, dass es da nicht mit rechten Dingen zugehen kann. Es bedarf der Zauberei und Verzauberung: Wenn er so etwas von der Seele behauptet, muss er sich selbst besingen (epadein heautôi) und eben verzaubern – das lässt Bewegung in die Wirklichkeit kommen, in Schwung und Überschwung. Wer geistig stark und besonnen genug ist, wählt nicht nur die Steigerung der Aufklärung vom Mythos zum Logos, sondern geht auch einmal vom Logos zum Mythos, versucht sich mit Licht am bleibenden Dunkel. Das bewahrt ihn vor dem sacrificium intellectus. Es gibt aber nicht nur den Einspruch der Moralisten, dass das gelebte Leben nicht alles gewesen sein darf, sondern auch den von bewusst und tätig Lebenden, dass mit dem Ende des Lebens doch ja nicht alles vorbei sein möchte. Einmal für immer vergessen zu sein, keine bleibende Spur hinterlassen zu haben – das wäre ganz gegen ihr Selbstwertgefühl und gegen ihre innersten Wünsche. Es wäre für sie, als hätten sie ganz umsonst gelebt. Als wäre es das größte Selbstverständnis, erfüllt sich das Leben für sie nicht in ihm selbst, sondern weist aus sich über sich hinaus. Sie können sich nicht vorstellen, dass es Recht wäre, wenn Vergänglichkeit voll zum Zuge käme. Die so denken, fühlen und wünschen sind keine verzärtelten »Seelen«, keine späten Romantiker. Es sind ja gerade die Starken, die sich Zeit ihres Lebens, also in der Zeit ihrer Vergänglichkeit, für das Unvergängliche verwenden. Der monotheistische Glaube setzt ganz auf die Verlässlichkeit des Göttlichen, auf seine Unveränderlichkeit. Die europäische Seinslehre ist seit den Vorsokratikern die Lehre vom unveränderlichen Bleiben. Ja, wie stellt es der Mensch wohl an, der
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nach dem großen Fest des Lebens nicht nach Hause gehen darf, wie der, der danach auf keinen Fall nach Hause gehen möchte? II. Das Buch des Lebens Für den Christusgläubigen, darin geübt, sein eigenes Licht mit seinem eigenen Dunkel Umgang haben zu lassen, gibt das Neue Testament eine wunderbare Möglichkeit vor, seine Selbstverzauberungskräfte zu aktivieren. Unversehens begegnet ihm in der Apokalypse ein Wunderding: das »Buch des Lebens« (hê biblos zôês). Wer anständig gelebt hat, wer seine »Kleider nicht besudelt« hat, dessen Name bleibe in das Buch eingeschrieben, werde nicht aus ihm getilgt. Eine phantastische Vorstellung: da existiert ein Buch voller geistiger Eintragungen von Namen religiös Gläubiger, Namen, die sie sich nicht durch ihr Leben gemacht haben, sondern mit denen Er sie gerufen hat: »Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein!«. Er hat mich zuerst geliebt, Er hat mich zuerst bei meinem Namen gerufen. Man könnte auch an eine Hollywoodschönheit wie Rita Hayworth (1918-1987) denken, die man, überlebensgroß in unverwüstlichem Material nachgebildet, tief in der Erde vergraben hätte, um posthumanen Zeiten zu überliefern, wie schön Menschenfrauen gewesen sind. Nein, ins Exemplarische gehoben ist das doch kein Zeichen, als ein mit Namen Gerufener dagewesen zu sein und so das zeitliche Leben zu überleben. Das Vergänglichste des insgesamt vergänglichen Menschen, das Fleisch, wäre da als besonderer Phänotyp für eine große, aber doch ungewisse Zukunft konserviert worden. Das goutiere, wer kann. Das Buch des Lebens ist dagegen als geistig-geistliches ein wirkliches Wunderding gleich einem strahlenden Dunkel. Welche Bedeutung hat es aber für den, dem das Wunder des Christusglaubens gelingt? Vielleicht ist es eine tiefe Beruhigung für ihn, mit dem Versprechen zu leben, dass ein »unbesudeltes« Leben unvergänglich als ein gelebtes notiert bleiben wird. Um wieviel mehr ist Bleiben als Vergehen – so scheint etwas im Mensch, der sich seiner Endlichkeit bewusst ist, zu sprechen. Ja nicht bloß ein Hauch, ein Schatten sein, ja nicht gleich einer »Blume des Feldes«, die dahin ist, wenn der Wind darüber geht und ihre Stätte nichts mehr von ihr weiß. Nun könnten aber Lebende, die sich sicher wähnen, im Buch des Lebens eingeschrieben zu sein, sich fragen, wer denn dieses Buch »von Zeit zu Zeit« wieder einmal in die Hand nimmt. Sind es der Geist und die Geister, die es mit dem Eintrag von Namen versehen? Auch das bleibt im Dunkel. III. Ewiges Leben Wie Hegel, obgleich ein Philosoph, den protestantischen Christusglauben für Eins mit dem wahren Wissen erklärt, und das für die über sich selbst aufgeklärte Aufklä-
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rung hält, so haben die Christusgläubigen seit Beginn der Christianisierung Europas sich geistig-geistlich von der Vorstellung in Besitz nehmen lassen, dass das Dunkelste das Lichteste ist: Für sie ist durch die Annahme der »Frohen Botschaft« das Überleben des Lebens gesichert – es ist von der bekannten Erde in den schlechtweg unbekannten Himmel verlegt, in einen Himmel, den keine Sterne und schon gar keine Vögel bewohnen, von einem Durchzug von Wolken erst gar nicht zu reden, sondern den ausschließlich Gott und seine Engel bewohnen, Gott und sein zum Himmel aufgefahrener Sohn, und dann schließlich der Gläubige, der im Himmelreich mit Gott Eins ist. Zeugt schon ein »Buch des Lebens«, das die Namen aller Rechtschaffenen für immer bewahrt, von nicht gerade geringer poetischer Kraft, so ist es geradezu unüberbietbare poetische Gewalt, die einen Himmel schafft, der alle Rechtschaffenen für immer als Lebende aufzunehmen verspricht. Das hat die Menschen verzaubert und durch den Glauben sich selbst verzaubern zu lassen, so dass sie Kirchen und Kathedralen bauten, den Glauben aller Orten im Kreuz und in religioösen Ritualen sichtbar machten. Für das Leben die Erde und für das Überleben des Lebens den ganz anderen Himmel zur Wohnstatt zu haben – das müsste einem Gläubigen, der zu Lebzeiten seinen Blick darauf richtet, es schwarz werden lassen vor den Augen. Doch der Zauberer im Gläubigen weiß Bescheid. Kundig gleich Hegel wird ihm die Schwärze zu Licht. Das schlechtweg unmögliche Leben, ja eben die contradictio in adiecto von Leben, ist das »ewige Leben«. Das soll nun unversehens das wünschenswerteste und obendrein natürlich ein mögliches sein. Leben ist zeithaft und prozesshaft. Ein lebender Organismus kann nur ein endlich lebender sein. Ohne poetische Eigenleistung, ohne Selbstverzauberung ist jede geistige Bemühung um ewiges Leben ein Rühren im Unmöglichen, ein Irren in der Finsternis. Mag es auch eine Qualle geben, die »ewig« lebt, weil sie über ein sich selbst reproduzierendes Gen verfügt, so hat das erdichtete ewige Leben im Himmel nicht das geringste damit zu tun. Es ist und bleibt die absolute Dunkelheit, die des Zaubers eines absoluten Lichtes bedarf, um menschliches Gemüt regieren zu können. Besingt Angelus Silesius, ein christlicher Mystiker, in 1256 Versen die vollkommene Ablösung des Menschen vom Menschsein, dann kann schon die Stadt, in der »Leben« nicht anders als ewig »gelebt« wird, nicht Licht genug sein: »Du übertriffst der Sonnen Licht,/Dein Ansehn glänzt von ferne/Weit über Himmels Angesicht,/Wenn er voll goldner Sterne.« »Dies Licht kommt nicht vom Mondenschein,/Nicht von der Sonne Strahlen,/Es fällt auch nicht vom Blitz hinein,/Der alls im Hui kann malen./Es ist das Licht der Herrlichkeit,/Die wesentliche Sonne,/Die Flamme der Durchläuchtigkeit,/Gott selbst und seine Wonne.« Die Monotonie des überbelichtenden Lichts soll offenbar das schwarze Dunkel, das das Himmelreich für den Geist ist, entkräften, auf dass er doch Zugang zu ihm finde. Dem Mystiker ist es sichtlich der Mühe wert, Andere für die Botschaft zu gewinnen, dass der geschichtliche Mensch, wie er die Erde bewohnt, gar nicht so gemeint war. Das Geschick hätte mit ihm anderes, ganz ande-
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res im Sinn gehabt: Das ewige Leben, nicht also ein Überleben des Lebens, sondern ursprünglich das Leben, das kein Überleben brauchen kann, weil es selbst die eigentliche Form des Lebens ist. Christlicher Glaube, der einen großen Baum mit langen Wurzeln in den See Genezareth, ja der selbst Berge versetzt, versetzt den Gläubigen mit dem Eintritt des Todes von der Erde in den Himmel. Es ist der Glaube des »alles Gläubigen«, nicht der des üblichen »wenig Gläubigen« (Luther: »Kleingläubigen«), der das vermag. Als die Frauen am Ostermorgen ans Grab kommen, liegt Christus nicht mehr dort, wo er gelegen hat. Zwei lichte Gestalten sitzen da, den in Erschrecken geratenen Gläubigen den Beginn der leibhaften Auferstehung zu verkünden. Das ist einzigartige Poesie, die eine mehr als zwei Jahrtausende währende Glaubenswelt geschaffen hat. Nicht einer dichtet und die anderen lesen das Gedicht. Nein, alle Gläubigen sind Sympoieten, Mitschaffende an dieser Welt. Die Glaubenswelt ist die der Lebenden, nicht die der Toten. Hier und jetzt wird geglaubt, ewig zu leben und im Himmel sich wieder zu begegnen. Auf dem Süddach der Kathedrale von Bourges ist es steingewordene Wahrheit: Alle Gräber öffnen sich und heraus kommen die Gestorbenen. Das Mysterium des Glaubens, das im glanzvollen Lichte des Neuen Jerusalem all seine Dunkelheit bewahrt, ist aus sich heraus wahr. Die Poesie religiösen Glaubens, die auf poetische Weise sich als Poesie bedeckt hält, ist in sich die Methode der Verifikation des Geglaubten. Dieser Glaube versetzt nicht nur Bäume und Berge. Er versetzt den Gläubigen, wenn er tot ist, wirklich in den Himmel. Es ist die Wirklichkeit des im Leben gelebten Glaubens. Was im Menschen wie eine Ursehnsucht lebendig ist, die Sehnsucht nach Überleben des Lebens, hat in der Poesie des Glaubens, zum Beispiel des christlichen, seine Erfüllung gefunden. Wer allen Glauben (pasan pistin) hat, erkennt alle Geheimnisse und alles Wissen, wie Paulus sagt. Wäre der Apostel erhellend, nicht entzaubernd aufgeklärt gewesen, hätte er erkennen müssen, was für ein ungeheures Menschenwerk der Glaube an ein ewiges Leben ist: die unlösbare Vereinigung von Licht und Dunkel, die das dunkelste Dunkel licht und das lichteste Licht dunkel macht. Es ist ein Bild der gelungenen und vom Menschen voll verantworteten Verzauberung seiner selbst. Die außergewöhnlich belebende Kraft, die von religiöser Selbstverzauberung ausgeht, ist es, die diese Extremform von Poesie immer neu mit Leben versieht. IV. Leben weitergeben Es ist, als habe die Natur den Lebenden nicht zugetraut, dass sie selbstlos und von selbst die Möglichkeit wahrnehmen, das Leben fortzuzeugen. Sie hat für die geschlechtliche Vereinigung, die weiteres Leben schafft, eine Belohnung ausgesetzt: die höchste Sinnenlust. Noch vor der listigen Vernunft, die das Besondere für das
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Allgemeine in Diensten nimmt, die menschlichen Leidenschaften für den Endzweck der Menschheit, hätte die List der Natur die menschlichen Verhältnisse regiert: die wechselseitige Liebe (erôs) der Geschlechter, die dazu führt, dass Menschen Leben weitergeben, das nicht ihr persönlich-eigenes ist, und die Liebe (agapé) der Eltern zu ihren Kindern, die ihnen das Leben bis zu ihrer Selbständigkeit garantiert. Sollte der Kinderwunsch eines Paares und der einer alleinstehenden Frau insgeheim der Erfüllung der Sehnsucht dienen, das Leben zu überleben? Mit den poetischen Erfüllungen dieser Sehnsucht hätte sie jedenfalls nichts gemein. Im Buch des Lebens steht der eigene Name, die Versetzung von der menschenbewohnten Erde in den gottbewohnten Himmel ist, zumal in der Form leibhafter Auferstehung, ganz die eigene. Das eigene Blut und die eigene Art, noch ehe sie faschistisch anrüchig werden, in Ehren! Aber das Überleben des Lebens, geht es ernsthaft darum, will sich nicht für das eigene Leben das Leben eines Andern unterjubeln lassen. »Der König ist tot. Es lebe der König!« – das taugt für ethnische und politische Gemeinschaften. Der alte Spruch »Das Leben geht weiter« ist immer neu wahr gegenüber jedem einzelnen Abschied vom Leben. Doch menschliches Selbstsein verlöre sich in falsche Selbstlosigkeit, wenn es sich instrumentalisieren ließe für die Erhaltung einer größeren Lebenseinheit. Das erinnerte dann doch an das Lied unter der Herrschaft der chinesischen »Viererbande«: »Ein Rädchen bin ich«. Das selbsthaft geführte Leben steht nicht im Dienste der Arterhaltung und der Evolution. Das Leben zu überleben, ist, falls möglich, Sache des Einen, nicht des Einen und Anderen. V. Überlebt der kriegerische Held sein Leben? Ein »Held« zu sein, es versteht sich hier: ein kriegerischer, spielt in menschlicher Selbstpoetisierung eine herausragende Rolle. Der alte Traum, wenn schon Mensch sein zu müssen, dann doch bitte wenigstens nicht bloß Mensch, findet im »Helden« seine Erfüllung. Der Held gleicht seiner Form nach einer Sphinx: Er ist ein Mischwesen. Er ist Mensch, aber zugleich noch etwas Anderes, Höheres. Die Helden der Frühzeit sind Gestalten der Sage, des Mythos. Die göttliche Mutter stellt Achill vor die Wahl: Held oder Langeweiler, früher Tod oder langes Leben, unverlöschlicher Ruhm oder verwelkender Ruhm. Halb göttlicher Natur, ist Achill schon prädestiniert zum Helden, noch ehe heldische Taten seine Herkunft in ihrem besten Licht erstrahlen lassen. Platons Sokrates kann mit »Heroen«, dem griechischen Wort für Helden, mit spielerischer Etymologie diese Prädestination begründen: für den hêrôs ist notwendig der erôs im Spiel, für den Heroen der zu Zeugung und Geburt führende Eros. Helden verdanken ihre Entstehung (genesis) der geschlechtlichen Liebe, sofern ein göttliches Wesen an ihr Anteil hat. Helden sind Halbgötter (hêmitheoi): entweder ist ein Gott der Vater oder eine Göttin die Mutter. Doch es geht auch noch
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differenzierter in der Heldenherkunft zu. Gilgamesch ist zu einem Drittel menschlich, zu zwei Dritteln göttlich, weil er nicht nur eine göttliche Mutter (drei Sechstel), sondern dazu auch noch einen heldenhaften Vater (ein Sechstel) hat. Der geborene Held Gilgamesch wagt es, das Unmögliche zu versuchen, nämlich, wie die Götter sagen, Einer »wie wir« zu werden. Doch genau das Menschenunmögliche gelingt ihm nicht. Bei ihm wahren die Götter die Undurchlässigkeit der Grenze zwischen Göttlichem und Menschlichem: Er wird nicht unsterblich. Als der Sinn seines kämpferisch gelebten Lebens erweist sich, dass es vergeblich war. Er wollte mehr sein als der mächtige König von Uruk und war am Ende doch nicht mehr als dieser. Aber der gescheiterte Held war ein Held. Das brachte ihm Nachruhm, diese menschliche Version der Unsterblichkeit. Das Gilgameschepos hat zwei ebenbürtige Helden mit zwei unterschiedlichen Schicksalen. Enkidu, der Wilde, der von einer Göttin geschaffene Ur-Mensch, ist, nachdem ihn die dazu bestellte Prostituierte durch Liebeslager und Sprachunterricht zum Menschen gemacht hat, Gilgamesch an Kraft, Schönheit und Größe gleich. Sie werden Freunde und begehen ihre Heldentaten gemeinsam. Der Held braucht aber nicht nur Gegner, ja geradezu übermächtige Gegner, die sich dann doch als besiegbar erweisen, sondern baucht auch Glück, wie es im Mythos Götter verbürgen. Der Held Gilgamesch endet ruhmvoll, der Held Enkidu ruhmlos. Ein Gott hat ihn gewählt, dass er für die Übertretungen sterben soll, die er mit Gilgamesch gemeinsam begangen hat. Er bekommt Fieber und stirbt im Bett. »Ich aber werde in der Schlacht nicht fallen und mir keinen Namen machen können!«. Zum Helden gehört das Glück, als Held den Tod zu finden. Im Bett zu sterben sieht offensichtlich nach Feigheit aus. Das Ideal des Helden zeichnet sich ab: Er ist groß und schön, von überlegener Kraft und verlässlich als Freund. Er braucht einen großen, einen ansehnlichen Tod. Und ein weiteres ist nicht zu vergessen: Er muss etwas für Menschen, am besten für die Menschheit getan haben. Gilgamesch und Enkidu haben erstmals die Weiten der Erde erkundet und erreichbar gemacht, haben der Menschheit ihren Wohnraum erschlossen, wozu nicht zuletzt gehört, dass beide gemeinsam den Unhold Humbaba, den Wächter des Zedernwalds, getötet haben. Ist auf Akkadisch von keinem größeren Held die Rede als von Gilgamesch, dann auf Griechisch von einem noch größeren: von Herakles. Der geborene Halbgott wird unsterblich, wenn auch kein Gott. Helden, die ihren Stand zwischen Dämonen und Menschen haben, aber auch Helden, die als solche göttlich geworden sind, verdanken sich mythischer Poesie. Die ist aber auch dann im Spiel, wenn zu Helden erklärte Menschen nicht kriegerisch, sondern friedfertig sind. Held zu sein, ist kein realer Befund, sondern eine von Menschen gewollte und durchgeführte Verklärung von Menschen, die sich auf besondere Weise als Menschen verdient gemacht haben. Erstaunlich bleibt freilich wohl nicht nur für den Philosophen, wie geistlos es dabei im Mythos zugehen kann. Erdenkt Aristoteles den Menschen als Mischwesen, dann gelingt ihm dabei die Gestaltung eines göttlichen Geistwesens.
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Aber er verklärt ja damit auch keinen Menschen zu einem »Helden«, sondern den Menschen allgemein zu seinem »Wesen«. Sieht man sich dagegen bei Herakles’ unzähligen Gewalttaten die berühmten zwölf an, dann hat sein Heldentum in nichts anderem seinen Grund als in seiner unbändigen physischen Kraft. Er nimmt es siegreich mit Löwen, Schlagen, Ebern, Hirschkühen, Vögeln, Schweinen, Stieren, Stuten, Rindern und selbst mit dem Höllenhund Kerberos auf. Dass ihm auch der Zugriff auf den Gürtel der Amazonenkönigin und die goldenen Äpfel der Hesperiden gelingt, kann das Bild heldischer Brachialgewalt auch nicht mehr schönen. Der nemeische Löwe ist unverwundbar, der Kopf der lernäischen Schlange unsterblich, was den Helden nicht anficht. Er bezwingt sie beide. Denkt man über den mythischen Halbgott, der ein Held, und über den philosophischen, der kein Held ist, nach, dann zeigt sich klar: Bei den Halbgöttern geht es um die Reinigung der den Menschen zugedachten Lebenswelt. Der Philosoph sieht ihre Unreinheit in den Unwahrheiten, auch Scheinmeinungen genannt, der Mythologe in den rohen Kräften des Lebendigen. Beide Male hat die poetische Gestaltung des Halbgotts den Menschen als solchen im Blick: seine Möglichkeit, im Reinen zu leben – als Natur und als Geist. Sich einen Namen machen, in der Hall of Fame seinen Platz finden – wer will das, wer braucht das? Im Mythos, so sieht es bislang aus, braucht der Mensch Helden, um eine gastliche Welt bewohnen zu können. Die männlichen und kämpferischen Helden des Gilgameschepos und der Herakleen schlagen keine Menschen tot, sondern Unholde. Bei den »kriegsverliebten« Helden der Ilias ist das anders. Da kämpfen Griechen gegen Troer, Völkerschaften gegen Völkerschaften: Helden verbeißen sich mit Waffen ineinander und schicken sich auf möglichst blutreicheffektive, Kniee »lösende« und Augen umnachtende Weise in den Hades, und dies nicht selten als Spielzeug von Göttinnen und Göttern. Dass Heldischsein zum Ergötzen derer, die dem Rhapsoden zuhören, zum Selbstzweck geworden ist, wird nur schwach überdeckt von dem heldischen Bemühen, die Stadt Troja vor dem Untergang und die Schiffe der Griechen vor der Vernichtung zu retten, ja davon, man merkt es kaum noch, dass es um eine schöne Frau geht und den Mann, der es auf die schöne Frau abgesehen hat. Krieg, wie es ein schrecklicher Deutscher wusste, als »Jungbrunnen der Völker« - das kann man bei Homer angelegt sehen: kriegerisches Heldentum als Königsweg, der Überbevölkerung entgegenzuwirken. Doch nein, die Helden werden ja gebraucht. In ihnen kommt das eigene Land, die eigene Stadt zu Ehren. Nicht Altern und Sterben, nicht der Tod, wenn seine Zeit gekommen ist, der frühe Tod muss es sein, der Tod zur Unzeit, wie ihn Nichthelden verstehen. Metzelt ein christlicher Held wie Dietrich von Bern mit seinem Eckesachs ganze Reihen von »Heiden« nieder, dann ist er für die Christen ein Held, nicht für die Heiden. Er muss nicht im Kampf fallen, um als kriegerischer Held nachhaltig Ruhm zu erwerben. Dieser Held wird alt und am Ende von einem weißen Hirsch entrückt.
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Der Held »lebt« von der Heldenverehrung. Kämpft Held gegen Held, dann gibt es am Ende des Kampfes, ist er entschieden, einen siegreichen und einen besiegten Helden, einen überlebenden und einen toten. Dass beide Helden sind und bleiben, verdanken sie der Großmut, das heißt der weiten Perspektive des Erzählers und Erdichters der Heldensage. Er weiß um die Verehrenden da und dort. Doch diese unterschiedliche Verortung der Verehrung bleibt von Bedeutung. Für die Verehrenden ist der in ihren Augen feindliche »Held« weit eher ein zu verachtender Schurke als ein hochzuachtender Guter. Der dem Ares gewogene (arêiphilos), der kriegsverliebte Held braucht, ob siegreich und spät oder besiegt und früh gestorben, die ihm eigene Spezies der Verehrer. Im Ruhm der Helden steckt das Rühmen und Preisen, das Prahlen und Brüllen, das Rufen und Schreien. Wie heutige Fußballhelden und Fußballverehrer, so braucht, im übertragenen Sinne, der kriegerische Held, der im Nachruhm sein Leben zu überleben wähnt, lautstarke Verehrer. Ruhm ist nichts, was im Verschwiegenen wächst, was emotional unter Kontrolle bleibt. Heldenruhm lebt von Heldenverehrern, die, was sie glauben an menschlicher Größe selbst zu wenig zu haben, bei einem Anderen, ob im wörtlichen oder übertragenen Sinne, lauthals in ein Zuviel zu verkehren. Heldenverehrung ist eine gefährliche Angelegenheit, weil sie das allgemeine Humanum in Frage stellt. Warum sollen nicht alle die Menschen für Helden erklärt werden, wenn es denn schon Helden geben soll, die die Herausforderung des Lebens annehmen, des endlichen und einzigen? Machen nicht Werke und Taten Menschen zu Helden, sondern allein Verehrende, die diese Werke und Taten dazu instrumentalisieren, dann ist jede Heldenverehrung ein Akt der Denunzierung und Diskriminierung: Ein Mensch, und zwar ein seltener, ist mehr Mensch als die überwältigende Mehrheit der Menschen. Die Diskriminierung ist in der Regel eine Selbstdiskriminierung. Der schreiende Fußballfan gibt ja mit seinem Geschrei unüberhörbar zu verstehen: »So bin ich nicht«, »Das kann ich nicht«. Eine Ausnahme von der Selbstdiskriminierung macht die Mutter, die eine Heldenmutter sein möchte. Sie sähe den Sohn lieber nicht aus dem Krieg heimkehren, um daraufhin das zu sein, was ihr innerster Wunsch ist. Der Stolz, Mutter dieses Sohnes zu sein, überhöhte sich durch dessen Soldatentod ins Makabre. Welch ein Glück für Söhne, denen eine solche Mutter erspart bleibt. Vl. Der Heldenfriedhof Unsterblichkeit will gelebt sein. Der Held des griechischen Mythos sieht zwei Arten von Unsterblichkeit vor: die echte und die metaphorische. Einmal lebt der Held auf vorzüglichste Weise weiter und weiter, ein andermal ist sein Ruhm ewig. Für das echte Fortleben hat sich der Mythos (4. Gesang der Odyssee, Hesiod, Werke und Tage) etwas Besonderes einfallen lassen. Das Leben fernab der Menschen am Ende
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der Erde. Das ist ein Topos. Bereits im Gilgameschepos lebt der einzige Mann, der ohne Tod fortlebt, weitab von den Menschen: Uta-napischti, der »Ferne«. Im griechischen Mythos hat das Fortleben von heldischen Heldentötern wie Achill und Menelaos, das nicht länger ein Leben unter Menschen, aber auch kein Leben unter Göttern ist, im Elysion statt, am Rande der Erde – von jedem Kummer entlastet, hochbeglückt, ohne Schneefall und Regen, mit freundlichsten Winden vom Meere her, die Honigernte dreimal im Jahr nicht zu vergessen. Ferne von den Menschen und den Unsterblichen echt weiterzuleben, schafft freilich ein Problem: Wie überleben die menschentötenden und selbst Unsterbliche verletzenden Helden dann unter Menschen? Von den seligen Inseln bei des Okeanos Strudeln her schallt ja kein Ruhm mehr zu den Menschen herüber. Die machen ihr Überleben ganz für sich ab, während es doch wohl den Helden, wenn nicht allein, so doch zumindest immer auch um den bleibenden Ruhm geht. Da bedarf es also der Rhapsoden oder, was nicht weniger wirkt, eines starken Zeichens. Für den Helden Agamemnon, der bereit war, damit endlich die Fahrt gegen den Feind weitergeht und etwas Wind in die Segel kommt, seine Tochter zu opfern, wird ein großer Grabhügel aufgeworfen, der für »unlöschbaren Ruhm« sorgt (Odysee). Der Christus des Evangeliums der Alten Kirche hatte denen, die ihm nicht folgen, mit unlöschbarem Feuer (pyr asbestos) gedroht. Unlöschbarkeit – was für ein mächtiges Wort, das ewige Verdammnis und ewiges Gedenken zu beschwören vermag. Ein Heldenfriedhof besonderer Art, der sich dem einander Totschießen von fortschrittlichen Kapitalisten und bodenständigen Sklavenhaltern im USamerikanischen »Sezessionskrieg« (1861-1865) verdankt, ist der unter Militärverwaltung stehende Nationalfriedhof Arlington. Ganz in der Nähe der Bundeshauptstadt Washington gelegen, gehören die 80 Hektar, die sein Gelände umfasst, doch nicht von ungefähr zu dem »Südstaat« Virginia. Es handelt sich um Ländereien, die dem Oberkommandierenden der Südstaaten, General R.E. Lee, gehörten. Er liegt nicht auf ihm begraben, aber auch der siegreiche Oberkommandierende der Nordstaaten, U.S. Grant, nicht, wohl aber sechzehntausend Gefallene des Bürgerkrieges. Auf dem Friedhof liegt, soweit sich eruieren lässt, kein indianischer Held, sehr wohl aber Helden, die sich bei der Ausrottung der Indianer einen Namen gemacht haben. Zu dem 1822 geborenen und 1898 in Arlington beigesetzten Joseph Rodman West, der im Sezessionskrieg als General in der Unionsarmee diente, heißt es bei Wikipedia: »Im Januar 1863 war West an der Ermordung des Apachen-Häuptlings Mangas Coloradas beteiligt, eines ehemaligen Verbündeten der US Army im Krieg gegen die Mexikaner. Obwohl Mangas Coloradas mit einer weißen Flagge ins Fort McLane […] kam, wurde er von Wests Soldaten gefangengenommen, gefoltert und anschließend getötet.« Von dem 1828 geborenen Kriegshelden Borge Crook berichtet dieselbe Quelle, dass er im »Großen Sioux-Krieg« eine der drei Heersäulen gegen die Indianer führte, aber verwundert durch den entschlossenen Widerstand, sich wieder ins Basislager zurückzog und so Custers Debakel am Little Bighorn
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River nicht verhinderte. »In der Folgezeit war Crook an der Verfolgung und Niederwerfung der feindlichen Indianer beteiligt. Im Winter 1876 [einhundertundzwei Jahre nach dem Erscheinen von Goethes »Werther«] leitete er eine großangelegte Kampagne, die […] mit einem Sieg über die Northern Cheyenne unter Morning Star (alias Dull Knife) […] in Wyoming kulminierte.« Der 1831 geborene Kriegsheld Philip Sheridan wieder, der im Sezessionskrieg und in den Indianerkriegen ein erstes Beispiel für die Taktik der »verbrannten Erde« gab, lebt vor allem in einer »Indianer«-Äußerung fort, die von ihm stammen soll: »The only good Indians I ever saw were dead«. Auf dem Helden- und Soldatenfriedhof liegen auch Schauspielerinnen und Boxer, Krimischreiber und Architekten, ja selbst eine geborene Lee Bouvier, die zuerst mit einem jugendlichen und mächtigen Seehelden, danach mit einem gealterten und reichen Reeder in Liebe verbunden war. Aus der breiten Auswahl an Helden, die den Einbruch in das Hauptquartier der Demokraten vor der Nixonwahl deckten und für den Tod des demokratisch gewählten Allende in Chile sorgten, sei noch ein ganz Großer angeführt, der nach George Washington auf dem zweiten Platz der ranghöchsten Offiziere der Vereinigten Staaten steht, John J. Pershing (1860-1949). Unbeliebt als zu strenger Ausbilder in West-Point, beaufsichtigte er Expeditionen gegen einheimische Widerständler auf den Philippinen. Im Ersten Weltkrieg wurde er zum Oberbefehlshaber der amerikanischen Streitkräfte in Europa ernannt. Der Heldenmythos, der sich um ihn bildete, bewahrte ihn später vor den Folgen einer heldischen Fehlleistung. Obwohl der Waffenstillstand für den 11. November 1918 um 11 Uhr beschlossen war, ließ er an diesem letzten Kriegstag noch einen Angriff auf deutsche Stellungen zu. Die unrechtmässigen Geländegewinne mussten wieder zurückgegeben werden. Im Prozess befragt, sagte ein hochrangiger Offizier dazu: »Sie waren wie Kinder, denen man Spielzeug zum Spielen gab und die wussten, dass sie es eines Tages zurückgeben müssen. Also spielten sie damit bis zum letzten Tag.« Auftrieb für bleibenden Nachruhm erhielt dieser Kriegsheld als Namengeber für Raketen, die zum Einsatz nuklearer Sprengköpfe dienten. Die letzte wurde allerdings in Erfüllung eines amerikanisch-sowjetischen Abkommens bereits 1991 vernichtet. Ein Heldenfriedhof wie Arlington ist ein nationaler Ehrenfriedhof, ein Friedhof nationaler Selbstverehrung. Die nationale Selbstverehrung schließt jeden nationalen Selbstzweifel aus, lässt eine Problematisierung nationaler Größe und kritische Geschichtsschreibung der Bildung der Nation und der Gewinnung des nationalen Territoriums nicht zu. Die Ausrottung der Bisons, die, von den Indianern schonend gejagt, zwischen Alaska, dem Norden Mexikos und dem Atlantik einmal bis zu 60 Millionen zählten, Ende des 19. Jahrhunderts und damit am Ende des an den Indianern verübten Genozids noch tausend Stück – nein, das belangt weder die Ehre der Helden, die für diesen Tatbestand gesorgt haben, noch die Ehre der Nation. In jedem Sterne-und-Streifenbanner ist sie frisch gewaschen und unbefleckt da. Deswe-
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gen ist es auch nicht möglich, die Frage zu stellen, ob tote Soldaten, seien sie im Krieg gefallen oder im Bett gestorben, besondere Tote sind. Es geht nicht länger um Persönlichkeiten. Sobald sie auf dem Heldenfriedhof beigesetzt sind, geht es ausschließlich um die Selbstehrung der Nation, die sich an sich selbst nicht sattsehen kann, weil sie, wie gesagt, unfähig und unwillens ist, sich befleckt zu sehen. Nun sind aber die Vereinigten Staaten bei ihrer so robusten Selbstbezogenheit und ihrem immer wieder einmal neu belebten Isolationismus, weil sie sich als Weltmacht verstehen, nie ohne geopolitische Interessen, aber auch nie ohne moralisches Sendungsbewusstsein gewesen. Haben sie auch bis in jüngste Zeit mit schlechter, nicht selten verwerflicher Machtpolitik in vielen Gegenden der Erde für großes Unrecht und schweres Leid gesorgt, so haben sie sich doch auch mit größtem Selbsteinsatz und hohem Blutzoll im Kampf für Recht und Gerechtigkeit verdient gemacht. Dafür sind, was Europa anbelangt, allem zuvor der Erste und Zweite Weltkrieg Zeuge. Die Deutschen haben diesem Einsatz das Ende des Kaiserreichs zu verdanken und die Befreiung von der nationalsozialistischen Tyrannei. Für den Ersten Weltkrieg steht da der Kriegsheld John J. Pershing, für den Zweiten der ebenfalls auf dem Nationalfriedhof in Arlington beigesetzte Kriegsheld Omar N. Bradley (1893-1981), dem in Nordafrika, in Sizilien, vor allem aber in der Normandie die entscheidenden Schläge gegen die auf Adolf Hitler eingeschworen Gebliebenen gelangen. Unter seinem Kommando sind von der Normandie bis an die Elbe erst 900.000, am Ende 1,3 Millionen Soldaten siegreich gegen deutsche Armeen vorgedrungen, die, den Verbrechen des Nationalsozialismus dienend, einen schon lange verlorenen Krieg bis zum Ende nicht verloren geben wollten. Doch Bradley, der Held, ehrt die US-amerikanische Nation, nicht sich selbst. Auf dem Heldenfriedhof in Arlington ruhend, überlebt nicht er sein Leben, sondern die Ehre der Nation, der er gedient hat, als einer für Gerechtigkeit streitenden Nation. VIl. Hinterlassenschaft Wem es gelingt, ein Werk zu schaffen, das ihn überlebt, hinterlässt etwas. Er ist weg, ist unter der Erde. Aber über der Erde und unter den Menschen ist etwas von ihm, das bleibt, natürlich auf Zeit. Es muss etwas Neues gewesen sein, was er dem für Menschen Bedeutsamem, Brauch- und Fruchtbarem hinzugefügt hat, etwas Eigenes, das ihn bekannt, wenn nicht berühmt gemacht hat. Sein Name lebt in seinen Werken fort. Das ist die Geburtsstunde wahrer Überlebensgiganten: Platon und Sigmund Freud, William Shakespeare und Wolfgang Amadeus Mozart, Robert Koch und Rudolf Diesel. Das besagt freilich nicht, dass ein lebendiges Band zwischen dem Toten und seinem hinterlassenen Werk bestünde. Dafür sorgt allein das lebendige Gedächtnis Späterer. Bereits Aristoteles stellt fest, dass der hausbauende Architekt, ist das Haus fertig, nicht mehr mit ihm verbunden ist. Beide bestehen für
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sich. Geht das Haus zugrunde, muss nicht auch sein Architekt zugrunde gehen. »Überlebt« ihn das Haus, dann besteht das Haus weiter, nicht aber überlebt er dadurch sein Leben. Freilich bleibt das Werk als greifbare Hinterlassenschaft von ihm mit seinem Namen verbunden. Wird der Name am Haus angebracht, besteht er mit dem Haus fort. Architekten haben einen Hang dazu, in spektakulären Bauten für ihr »Fortleben« zu sorgen. Da aber ist die mystische Vorstellung, im Buch des Lebens eingeschrieben zu bleiben, für das eigene Selbst doch belebender als die, dass Spätere sich an der eigenen Hinterlassenschaft zu schaffen machen, und dies ohne jede Garantie, ihr gerecht zu werden. Erstmals kommt etwas von der Fragwürdigkeit des Gedankens, wenn nicht Wunsches zutage, das eigene Leben zu überleben. Der Grundzug des menschlichen Lebens, die doppelte Alterität, wird verspielt, das eigene Leben als Leben mit dem eigenen Leben Anderer in ihrer Anderheit und Andersheit. Jedes Werk ist eine Mitteilung, jedes Schaffen hat seine Öffentlichkeit und Sozialität. Jeder, der sein Leben auf das Schaffen von Werken setzt, hat, ob er es weiß oder nicht, Adressaten im Sinn, was auch für den Autobiographen gilt. Die Maxime eines Schaffenden, sich selbst zu verewigen, wäre ein Selbstmissverständnis des Schaffens. VIIl. Das Mehr an Leben Ist das zu Ende gelebte Leben dann doch alles gewesen, und wenn, ist dann ein jeder ermuntert, sich das frivole »Carpe diem!« zur Lebensmaxime zu machen? Nein, der Mensch ist von Geburt übernatürlich, geht also als Lebendiger notwendig über das Leben als Mitgift der Natur hinaus. Die Übernatürlichkeit menschlichen Lebens zeigt sich ihm unverkennbar darin, dass es ein Rätsel ist, ein unlösbares. Auf das Woher und Wohin, Warum und Wozu gibt es keine Antwort. Die Erkenntnis, dass menschliches Leben ein Ergebnis der Evolution des Lebens ist, beantwortet in nichts die Frage, die der Mensch sich selbst ist. Ist das »Kainsmal«, das Kain trägt, das wunderbare Zeichen, dass sein Leben unter dem Schutze Gottes steht, dann ist das Rätsel, das sich der Mensch bleibend ist, das wunderbare Zeichen, dass seine Natur durch Übernatürlichkeit ausgezeichnet ist. Der Mensch ist dadurch ausgezeichnet, dass ihm all sein Licht und seine Erleuchtung an eine unaufhellbare Dunkelheit gebunden ist. Diese Einzigartigkeit ist auch der Grund dafür, dass der Mensch sein Leben darauf setzen kann, ein Schaffender zu sein. Alles schöpferische Schaffen macht sich direkt oder indirekt an der Unbeantwortbarkeit der Frage zu schaffen, die der Mensch sich selbst ist: Es gibt ihr eine Gestalt. Wer, sei es gebend, sei es nehmend, in menschliches Schöpfertum einbezogen ist, lebt im Leben mehr, als das Leben von Natur hergibt und zulässt. Er partizipiert am Übernatürlichen. Für ihn stellt sich am Ende des Lebens unmöglich die Frage, ob das dann alles gewesen ist. Er hat im Leben weit über das Leben hinaus gelebt, indem er die
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Lebenswelt nicht etwa verlassen, wohl aber gesteigert, intensiviert und überhöht hat. Die Mitgift der Evolution ist Zufälligkeit und Sinnlosigkeit. Darin das Rätsel des Lebens zu erkennen, hat den Menschen vom ersten Erkenntnisblick an geradezu unendlich über diese Mitgift hinausgehoben. Der Mensch überlebt sein Leben nicht. Hat er aber schöpferisch schaffend und mitschaffend gelebt, dann ist das Leben am Ende des Lebens nicht alles gewesen, sondern mehr als alles, was sich verstehen und begreifen lässt. Es ist mehr als bloß das Licht des Lebens gewesen, eben auch sein Dunkel, das durch übernatürliches Licht erhellt und belebt ist. Der Abschied wird dennoch schmerzlich, sogleich aber auch heilsam sein. Die Ruhe des Toten stört nichts mehr auf.
Die Beitragenden
Emmanuel Alloa ist seit Herbst 2019 Professor für Ästhetik und Kunstphilosophie an der Universität Fribourg (CH). Von 2011 bis 2019 war er an der Universität St. Gallen als Assistenzprofessor tätig. Er lehrte und forschte u.a. an der Universität Paris 8, am SNF Bildkritik eikones (Basel) und am Collège International de philosophie (Paris), und war Fellow am IKKM Weimar sowie am Italian Institute for Advanced Studies in the Americas New York. Seine Forschungen an der Schnittstelle von Phänomenologie, Ästhetik und Kulturtheorie wurden mit dem LatsisPreis 2016 und dem Aby-Warburg Wissenschaftspreis 2019 ausgezeichnet. Mit Dieter Thomä gab er den Band heraus: Transparency, Society, Subjectivity. Critical Perspectives (2018). Susanne Burri ist Assistenzprofessorin für Philosophie an der London School of Economics and Political Science. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der normativen Ethik im Allgemeinen, und im Besonderen der Kriegsethik, der Entscheidungsfindung unter Bedingungen der Ungewissheit und des Risikos sowie der Philosophie des Todes. Michael Festl ist seit 2013 Ständiger Dozent für Philosophie an der Universität St. Gallen. Er war in den vergangenen Jahren Gastwissenschaftler am Center for Ethics and Poverty Research in Salzburg, am Committee on Social Thought der University of Chicago und an der LaTrobe University Melbourne. Sein Spezialgebiet ist die Politische Philosophie in einem breiten Verständnis, Fragen nach Wissen ebenso inbegriffen wie beispielsweise die gesellschaftliche Wirkung des Liberalismus oder auch des Begriffs der Kontingenz. Michael Festl ist Gründer und Direktor des John Dewey Center Switzerland. Von 2013 bis 2015 war er Präsident der Schweizerischen Philosophischen Gesellschaft. Federica Gregoratto ist seit September 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Habilitandin im Fachbereich Philosophie der Universität St. Gallen. Sie promovierte 2012 an der Ca‘ Foscari Universität in Venedig und war von 2013 bis 2015 Postdoc-Stipendiatin im Exzellenzcluster »Die Herausbildung normativer Ordnungen«
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in Frankfurt am Main. 2019 war sie Visiting Scholar an der New School for Social Research (New York). Sie forscht und veröffentlicht über Fragen der Kritischen Theorie, Philosophie der Liebe und der Emotionen, feministische Philosophie und Pragmatismus. Jean Grondin lehrt Philosophie an der Université de Montréal. Er ist der Autor von u.a.: Hermeneutische Wahrheit? Zum Wahrheitsbegriff Hans-Georg Gadamers (1982; 2 Aufl.1994); Einführung in die philosophische Hermeneutik (1991; 3. Aufl. 2012); Kant zur Einführung (1994; 5. Aufl. 2013); Hans-Georg Gadamer. Eine Biographie (1999; 2.Aufl. 2013); Von Heidegger zu Gadamer. Unterwegs zur Hermeneutik (2001); Hermeneutik (2009; 2. Aufl. 2012); Introduction to Metaphysics (2012); Die Philosophie der Religion (2012); Paul Ricœur (2013); La beauté de la métaphysique (2019); Comprendre Heidegger. L’espoir d’une autre conception de l’être (2019). Florian Grosser unterrichtet im Visual & Critical Studies Program am California College of the Arts und, als Visiting Associate Professor, am PhilosophieDepartment der University of California, Berkeley. Neben Aufsätzen zu politikund sozialphilosophischen Themen sind von ihm die Monographien Revolution denken. Heidegger und das Politische 1919-1969 (2011) und Theorien der Revolution zur Einführung (2013, 2. überarb. Aufl. 2018) erschienen. Michael Hagner hat Medizin und Philosophie an der Freien Universität Berlin studiert. 1987 promovierte er zum Dr. med.; seine Habilitation erfolgte 1994 an der Medizinischen Fakultät der Georg-August Universität Göttingen. Er war von 1995 bis 2003 am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin tätig und ist seitdem Professor für Wissenschaftsforschung an der ETH Zürich. Er hat Gasprofessuren in Salzburg, Tel Aviv, Frankfurt am Main und Köln erhalten. 2000 wurde er mit dem Preis der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaft und 2008 mit dem Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ausgezeichnet. Heiner Hastedt ist Professor für Praktische Philosophie an der Universität Rostock. Frühere Stationen führten ihn über Göttingen, Hamburg, Bristol (UK), Paderborn und Ulm. Als Gründungsdirektor richtete er ab 1992 das neue Institut für Philosophie an der Uni Rostock ein und war in zahlreichen Forschungsinitiativen tätig (u.a. dem Forschungskolleg »Deutungsmacht«). Seit 2016 ist er Mitglied der »European Academy of Sciences and Arts« (Salzburg). Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Existentialismus, in der Ethik, in der Philosophie der Bildung und der Emotionen.
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Lisa Herzog arbeitet seit Oktober 2019 als Associate Professor an der Fakultät für Philosophie und am Center für Philosophy, Politics, and Economics der Rijksuniversiteit Groningen. Sie promovierte 2011 in Oxford, habilitierte sich 2016 in Frankfurt am Main und war 2017/18 Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Sie arbeitet derzeit vor allem zu Fragen der politischen Epistemologie und der Wirtschaftsdemokratie. Zuletzt erschienen: Die Rettung der Arbeit. Ein Aufruf (2019). Axel Honneth ist Jack C. Weinstein Professor of the Humanities an der Columbia University (New York). Von 2001 bis 2018 war er Direktor des Instituts für Sozialforschung (IfS) und Professor für Sozialphilosophie an der Johann WolfgangGoethe-Universität in Frankfurt am Main. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Sozialphilosophie, Kritischen Theorie, Anerkennungstheorie und Logik der Sozialwissenschaften. Er ist der Autor von u.a. Kampf um Anerkennung (Frankfurt am Main 1992), Pathologien der Vernunft (2007), Das Recht der Freiheit (2011); Die Idee des Sozialismus (2015), Anerkennung. Eine europäische Ideengeschichte (2018). Vincent Kaufmann ist Professor für Französische Literatur und Kultur und Inhaber des Lehrstuhls »Medien und Kultur« am MCM Institut der Universität St. Gallen. Er ist der Autor von u.a. La Faute à Mallarmé. L’Aventure de la théorie littéraire, Paris (2011); mit Dieter Thomä und Ulrich Schmid Der Einfall des Lebens. Theorie als geheime Autobiographie (2015); Dernières nouvelles du spectacle. Ce que les médias font à la littérature (2017). Ulrike Landfester hat Neuere deutsche Literatur, Mediävistik und Anglistik in Freiburg im Breisgau und München studiert. Sie promovierte 1993 und habilitierte 1998. Sie hat Gastprofessuren an den Universitäten Wien und Frankfurt am Main, eine Lehrstuhlvertretung an der Universität Konstanz (2000-2003) und eine Professur für Ästhetik und Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts an der Universität Frankfurt am Main (2003) erhalten. Seit 1993 ist sie Ordinaria für Deutsche Sprache und Literatur an der Universität St. Gallen. Veröffentlichungen (Auswahl):. Der Dichtung Schleier. Zur poetischen Funktion von Kleidung in Goethes Frühwerk (1995); Selbstsorge als Staatskunst. Bettine von Arnims politisches Werk (2000); Stichworte. Tätowierung und europäische Schriftkultur (2012); zus. mit Jörg Metelmann: Transformative Management Education (2019). Seit 2001 ist sie MitHauptherausgeberin der historisch-kritischen Frankfurter Brentano-Ausgabe (FBA). Rainer Marten ist Emeritus für Philosophie der Universität Freiburg, wo er seit 1964 lehrte und seit 1978 eine Ordentliche Professur bekleidete. Seine zahlreichen Monographien kreisen schwerpunktmäßig um Themen der Griechischen Philosophie, der Philosophie der Sprache sowie der Lebenskunst. Mit dem Denken seines
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Lehrers Martin Heidegger setzte er sich zeitlebens kritisch auseinander. Zuletzt erschienen: Lob der Zweiheit (2017) und Nachdenken über uns. Philosophische Texte (2018). Christoph Menke ist Professor für Praktische Philosophie im Exzellenzcluster »Die Herausbildung normativer Ordnungen« und am Institut für Philosophie der Goethe-Universität, Frankfurt am Main. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Politischen und der Rechtsphilosophie sowie in der Ästhetik. Zuletzt erschienen: Kritik der Rechte (2015), Am Tag der Krise. Kolumnen (2018), Autonomie und Befreiung. Studien zu Hegel (2018). Katrin Meyer ist Privatdozentin für Philosophie an der Universität Basel und Oberassistentin für Gender Studies an der Universität Zürich. Sie forscht schwerpunktmässig zu normativer Demokratietheorie, Theorien der Intersektionalität und Machttheorien. Zuletzt erschien von ihr: Macht und Gewalt im Widerstreit. Politisches Denken nach Hannah Arendt (2016) sowie Theorien der Intersektionalität zur Einführung (2017). Andrew Norris ist Professor für Politikwissenschaft und Affiliated Professor für Philosophie und Religionswissenschaft an der University of California, Santa Barbara. Er ist Autor von Becoming Who We Are: Politics and Practical Philosophy in the Work of Stanley Cavell (2017) und von zahlreichen Artikeln über Wittgenstein, Hegel, Arendt, Heidegger, Locke, Kant, Thoreau, Carl Schmitt, Giorgio Agamben, Ernesto Laclau, Raymond Geuss, Michael Oakeshott, und Jean-Luc Nancy. Er hat dazu drei Bücher herausgegeben: Politics, Metaphysics, and Death: Essays on Giorgio Agamben’s Homo Sacer (2005), The Claim to Community: Essays on Stanley Cavell and Political Philosophy (2006), und mit Jeremy Elkins, Truth and Democracy (2012). Juliane Rebentisch ist Professorin für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main, wo sie seit 2014 auch als Vizepräsidentin tätig ist. Von 2015-2018 war sie Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik. Sie ist Mitglied des Kollegiums am Frankfurter Institut für Sozialforschung. Arbeitsschwerpunkte: Ästhetik, Ethik, politische Philosophie. Bücher u.a.: Ästhetik der Installation (2003); Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus (hg. mit Ch. Menke, 2010); Die Kunst der Freiheit. Zur Dialektik demokratischer Existenz (2012); Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung (2013); Negativität. Kunst, Recht, Politik (hg. mit Th. Khurana u.a., 2018). Gerhard Richter ist Professor für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Brown University in Providence, Rhode Island (USA). Zu seinen
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Forschungsschwerpunkten gehören die Schnittstelle von Literatur und Philosophie; Theorien des Ästhetischen; Kunsttheorie und Formen des Wissens; Diskursfiguren der intellektuellen und kulturellen Erbschaft. Zu seinen neuesten Veröffentlichungen zählen Thinking with Adorno: The Uncoercive Gaze (2019); Ästhetische Eigenzeiten und die Zeit des Bewahrens. Heidegger mit Arendt, Derrida und Kafka (2019); Verweiste Hinterlassenschaften. Formen gespenstischen Erbens (2016); und Inheriting Walter Benjamin (London 2016). Ulrich Schmid ist Professor für Russian Studies an der Universität St. Gallen. Seine Forschungsinteressen umfassen Nationalismus, Populärkultur und Media in Osteuropa. Er studierte Deutsche und Slawische Literatur an der Universität Zürich, Heidelberg und Leningrad. Er hat akademische Stellen in Basel, Bern, Bochum erhalten und war Gastwissenschaftler in Harvard und Oslo. Er ist der Autor u.a. von: De profundis. Vom Scheitern der russischen Revolution (2017), Technologien der Seele. Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur (2015), Schwert, Kreuz und Adler : Die Ästhetik des nationalistischen Diskurses in Polen (2013), Tolstoj als theologischer Denker und Kirchenkritiker (2013, mit Martin George, Jens Herlth, Christian Münch), Lev Tolstoi (2010). Bernd Stiegler ist Professor für Neuere deutsche Literatur mit Schwerpunkt 20. Jahrhundert im medialen Kontext an der Universität Konstanz. Arbeitsschwerpunkte sind die Geschichte und Theorie der Photographie sowie die deutsche und französische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Zuletzt u.a. erschienen: Reisender Stillstand. Eine kleine Geschichte der Reisen im und um das Zimmer herum, Frankfurt am Main 2010, Belichtete Augen. Optogramme oder das Versprechen der Retina, (2011), Spuren, Elfen und andere Erscheinungen. Conan Doyle und die Photographie (2014), Photographische Portraits, (2015), Der montierte Mensch. Eine Figur der Moderne (2016), Nadar. Bilder der Moderne (2019). Thomas Telios ist wissenschaftlicher Assistent für Philosophie an der Universität St. Gallen. Seine Schwerpunkte liegen im Bereich der Sozial- und politischen Philosophie (Kritische Theorie, postmoderner Feminismus, französische Nachkriegsphilosophie), Theorien individueller und kollektiver Handlungsfähigkeit, Theorien der Subjektwerdung, Theorien der Gemeinschaft. Jüngste Publikationen (Auswahl): (Mithg.) The Russian Revolution as Ideal and Practice: Failures, Legacies and the Future of Revolution (2019); Das Subjekt als Gemeinwesen (2019).
Philosophie Andreas Weber
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Björn Vedder
Neue Freunde Über Freundschaft in Zeiten von Facebook 2017, 200 S., kart. 22,99 € (DE), 978-3-8376-3868-4 E-Book: 20,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3868-8 EPUB: 20,99€ (DE), ISBN 978-3-7328-3868-4
Harald Lemke
Szenarien der Ernährungswende Gastrosophische Essays zur Transformation unserer Esskultur 2018, 396 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4483-8 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4483-2 EPUB: 26,99€ (DE), ISBN 978-3-7328-4483-8
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Philosophie Jürgen Manemann, Eike Brock
Philosophie des HipHop Performen, was an der Zeit ist 2018, 218 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-4152-3 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation, ISBN 978-3-8394-4152-7
Hilkje Charlotte Hänel
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Dirk Braunstein
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