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German Pages 454 [455] Year 2005
Studien und Texte zu Antike und Christentum Studies and Texts in Antiquity and Christianity Herausgeber/Editor:
CHRISTOPH MARKSCHIES
(Berlin)
Beirat/Advisory Board (Berlin) • G I O V A N N I C A S A D I O (Salerno) (Berkeley) • J O H A N N E S H A H N (Münster) J Ö R G R Ü P K E (Erfurt)
HUBERT CANCIK SUSANNA E L M
26
Silke Floryszczak
Die Regula Pastoralis Gregors des Großen Studien zu Text, kirchenpolitischer Bedeutung und Rezeption in der Karolingerzeit
Mohr Siebeck
geboren 1974; Studium der Geschichte und katholischen Theologie; 2003 Promotion; z.Zt. wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Arbeitsstelle „Fontes Christiani" an der Universität Bochum. SILKE FLORYSZCZAK,
978-3-16-158662-0 Unveränderte eBook-Ausgabe 2019
ISBN 3-16-148590-4 ISSN 1436-3003 (Studien und Texte zu Antike und Christentum) Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2005 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Guide Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Held in Rottenburg gebunden.
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum im Sommersemester 2003 als Dissertation angenommen unter dem Titel „Ars artium regimen animarum - Die Regula Pastoralis Gregors des Großen. Studien zu Text, kirchenpolitischer Bedeutung und Rezeption in der Karolingerzeit". Für den Druck ist der Titel in Absprache mit Prof. Dr. W. Geerlings und dem Verlag Mohr Siebeck verändert worden. Zunächst möchte ich meinem Doktorvater Prof. Dr. W. Geerlings ganz herzlich danken. Er hat mein Interesse an diesem Thema geweckt und mich die ganze Zeit hervorragend betreut. Des weiteren gilt mein Dank Herrn Prof. Dr. W. Damberg, der das Korreferat übernommen hat und inhaltliche Hinweise lieferte. Auch Prof. Dr. R. Schiefer, Präsident der Monumenta Germaniae Histórica, danke ich für die Lektüre meiner Arbeit und die Hinweise zur Rezeption in der Karolingerzeit. Herrn Prof. Dr. Chr. Markschies sei gedankt für die Aufnahme in die Reihe „Studien und Texte zu Antike und Christentum". Die Arbeit konnte nur entstehen, weil ich durch das Graduiertenkolleg „Der Kommentar in Antike und Christentum" sowohl finanziell als auch geistig gefördert worden bin. Mein Dank gilt daher ganz besonders der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Viele Freunde haben die Arbeit begleitet. Besonders danke ich Stephan Chr. Müller für seinen Rat und seine Unterstützung. Evelyn Floryszczak, Monika Klein, Stefanie Märtin und Stefan Wachner danke ich recht herzlich für die große Hilfe bei den Korrekturen. Am Ende steht der Dank an meine Eltern, die mich während der Zeit meines Studiums und der Dissertation immer unterstützt haben, und an meinen Freund, Christian Köster, der die Endphase dieser Dissertation mit großer Ruhe und Gelassenheit überstanden hat. Hilden, im Januar 2005
Silke Floryszczak
Inhaltsverzeichnis Einleitung
1
I. Teil: Die Regula Pastoralis Gregors des Großen
7
1. Zum Begriff regula - Bedeutung
9
und Gattungsbestimmung
1.1 Regula / regulae in der römischen Jurisprudenz
9
1.1.1 Ursprünge in der Rechtspraxis Exkurs: xavcov 1.1.2 In der Rechtstheorie 1.1.3 Die Libri regularum 1.1.4 Regula im kirchenrechtlichen Bereich
9 12 14 17 22
1.2 Regula als Begriff der altkirchlichen Theologie
24
1.2.1 Regula in der lateinischen Bibelübersetzung 1.2.2 Regula fidei bzw. regula veritatis 1.2.2.1 Irenäus von Lyon 1.2.2.2 Tertullian 1.2.2.3 Clemens von Alexandrien 1.2.2.4 Origenes 1.2.2.5 Novatian
24 26 27 29 33 36 38
1.3 Regula als Lebensordnung
40
1.3.1 Entstehung von regulae Exkurs: Exemplum 1.3.2 Entwicklung des Mönchtums 1.3.3 Semantische Entwicklung der regulae 1.3.4 Die Bezeichnung regula bei Gregor dem Großen
40 41 42 48 60
1.4 Ertrag
62
2. Der Autor und sein Werk
66
2.1 Gregor der Große
66
2.2 Die Pastoralregel
70
2.2.1 Der Adressat 2.2.1.1 Die Quellenlage 2.2.1.2 Die Forschungsdiskussion 2.2.2 Intention und Funktion Exkurs: Analogien bei Gregor von Nazianz und lohannes Chrysostomos
70 70 75 82 85
VIII
Inhaltsverzeichnis
2.2.3 Komposition 2.2.4 Die Quellen 2.2.4.1 Griechische Patristik 2.2.4.2 Lateinische Kirchenväter
88 94 95 100
2.3 Ertrag
109
3. Analyse der Regula Pastoralis
111
3.1 Inhaltliche Analyse
111
3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4
111 124 139 175
Prima Pars Secunda Pars Tertia Pars Quarta Pars
3.2 Die Argumentationsstruktur
177
Exkurs: Discretio
183
3.3 Sprache und Stil
185
3.4 Terminologie
188
3.5 Bildlichkeit und Motivik
197
3.6 Die Bibel in der Regula Pastoralis 3.6.1 Die Bibel als Grundlage der Lebensführung des pastor 3.6.2 Biblische Vorbilder des Seelsorgers 3.6.3 Auslegung der Bibel 3.6.3.1 Bibelstellen und Schriftgebrauch 3.6.3.2 Prinzipien der Exegese 3.6.3.3 Die Exegese in der Regula Pastoralis
208 208 211 218 218 219 223
3.7 Ertrag
229
4. Die kirchenpolitische
Bedeutung
der Pastoralregel
231
4.1 Die Begriffe Herrschaft und Macht
232
Exkurs: Zum römischen Machtbegriff
233
4.2 Die Situation der Bischöfe in Italien
236
4.2.1 Gesellschaftliche Position angesichts der Kriegszustände 4.2.2 Funktion des Bischofs 4.2.3 Die Personalpolitik Gregors des Großen
236 240 246
4.3 Die Herrschaftsfrage in der Pastoralregel
252
Inhaltsverzeichnis
IX
4.3.1 Das Leitungskonzept 4.3.1.1 Leitungsausübung durch Vorbildfunktion 4.3.1.2 Leitungsausübung durch Predigt 4.3.1.3 Die hierarchische Struktur der Pastoralregel 4.3.1.4 Der Zusammenhang von Macht und Wortwahl 4.3.2 Gregors pädagogische Vorstellungen 4.3.3 Legitimation der bischöflichen Leitungskompetenz 4.3.4 Der Machtmißbrach 4.3.5 Peter Browns These von der Machtausübung der Bischöfe
254 254 255 257 259 260 263 266 269
4.4 Ertrag
271
II. Teil Die Regula Pastoralis und das Thema regimen animarum Karolingerzeit
in der
1. Vorbemerkungen 2. Karolingische
277 279
Kirchenreform
und Gregors Regula Pastoralis
285
2.1 Bonifatius und Chrodegang
285
2.2 Die Zeit Karls des Großen
293
2.2.1 Alcuin 293 2.2.2 Die Admonitio Generalis und das Frankfurter Konzil 297 Exkurs: Die Regula Pastoralis im Brief des Elipandus von Toledo gegen Migetius .... 3 0 0 2.2.3 Bis zum Tode Karls des Großen - Die großen Konzilien von 813 306
2.3 Die Herrschaft Ludwigs des Frommen
317
2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4
317 323 328 332
Das Die Die Die
Aachener Konzil von 816 820er Jahre Synode von Paris (829) und die Relatio Episcoporum Aachener Synode von 836
2.4 Die Reform des Bischofsamtes unter den Söhnen Ludwigs des Frommen
335
Exkurs: Hrabanus Maurus De institutione
337
clericorum
2.5 Ertrag 3. Die Spiegelliteratur
346 der Karolingerzeit
3.1 Alcuins De virtutibus
et vitiis
3.2 Smaragds von St. Mihiels Via regio.
353 354 359
Inhaltsverzeichnis
X
3.3 Jonas von Orléans De institutione
regia und De institutione
laicli.... 364
3.3.1 De institutione
laicali
364
3.3.2 De institutione
regia
370
3.4 Dhuodas Liber Manualis
für ihren Sohn
3.5 Sedulius Scottus De rectoribus 3.6 Die Schriften
Hinkmars
373
christianis
377
von Reims
3.6.1 Der Laienspiegel De cavendibus vitiis et virtutibus 3.6.2 De regis persona et regio ministerio 3.6.3 De ordine palatii und Ad episcopos regni
383 exercendis
383 389 392
3.7 Ertrag
396
Schlußfolgerung
400
Literaturverzeichnis
405
1. Quellen
405
1.1 Schriften
Gregors d. Gr
405
1.2 Viten
406
1.3 Rechtsquellen
406
1.4 Andere Autoren
406
2. Sekundärliteratur
409
Register
421
Einleitung Die Frage nach der Beschaffenheit von Führungspersonen bewegte die Menschen zu allen Zeiten und in allen Bereichen der Gesellschaft, so auch in der Kirche. Derlei Fragen führen zur Festlegung von Maßstäben, die einerseits dem öffentlichen Anspruch genügen und folglich auf allgemein anerkannten Werten basieren, andererseits aber auch ein Idealbild schaffen, dem sich die Realität annähern soll. Angesichts seines eigenen Amtsantritts stellte sich im Jahr 590 auch Papst Gregor - mit dem späteren Beinamen der Große - die Frage, welche Qualitäten und Stärken jemand aufweisen muß, der die Aufgaben des Bischofsamtes übernimmt. Denn die Verantwortung eines Bischofs hatte seit der Mitte des sechsten Jahrhunderts enorm zugenommen. In seiner Schrift Regula Pastoralis widmet Gregor sich ausführlich und umfassend diesem Thema, zeichnet dabei aber nicht das Bild eines Verwaltungsspezialisten oder Technokraten, sondern das eines idealtypischen Seelsorgers. In der cura pastoralis oder auch animarum sah Gregor die Hauptaufgabe des Bischofs, die für ihn nicht einfach nur in der Betreuung von Gemeindemitgliedern bestand. Sie war vielmehr ausgedehnt auf sein ganzes Leben, auf seinen Glauben, seine Einstellung, sein Verhalten und seinen Wandel. Folglich versucht er in seinem Buch auch das Leben des Bischofs in all seinen Dimensionen zu beschreiben, vom Wunsch das Amt zu erlangen angefangen bis hin zum immer wiederkehrenden Kreislauf von Pflichten und Versenkung. Er thematisiert die Predigt als Kernaufgabe, und begreift sie als das seelsorgliche Eingehen auf die verschiedenen Hörer-Typen. Die Pastoralregel war im lateinischen Westen die erste Schrift, die sich derart mit den Qualitäten des Bischofs auseinandersetzte. Über Jahrhunderte hinweg war sie das der Ausbildung und Formung des Episkopates zugrundeliegende Standardwerk. Die Gründe für den Erfolg der Regel mögen in der Zeitlosigkeit von Gregors Vorstellungen liegen. Auch in der neueren Forschung fanden Gregor d. Gr. und seine Werke Aufmerksamkeit, die letzte deutschsprachige Übersetzung der Regula Pastoralis stammt allerdings von Joseph Funk aus dem Jahr 1933 (BKV) 1 . Eine zeitgemäßere wäre sicherlich wünschenswert. Mit der Edition des Textes in der französischen Reihe Sources Chrétiennes (381 und 382) aus dem Jahre 1992 liegt eine hervorragende moderne Ausgabe der Pastoralregel vor 2 . Bruno Judic leistete zudem in seiner Einleitung einen wichtigen Beitrag für 1
Greg.-M., Past. (BKV 2. Reihe, 4,1 FUNK). Greg.-M., Past. (SC 3 8 1 + 3 8 2 JUDIC/ROMMEL/MOREL). Diese Edition bildet auch die Textgrundlage meiner Untersuchungen. 2
2
Einleitung
das Verständnis von Gregors Werk. Bereits in den 80er Jahren beschäftigte er sich in zwei Aufsätzen mit der Struktur und Funktion sowie der Bibel in der Pastoralregel 3 . Einer dieser Aufsätze erschien in der umfangreichen Dokumentation des internationalen Kolloquiums in Chantilly im Jahre 1986, das sich mit Gregor d. Gr. in all seinen Facetten auseinandersetzte 4 . Auf zwei weiteren Treffen befaßten sich Forscher Anfang der 90er Jahre in Italien und den USA mit verschiedenen Themen zu Gregor und seiner Zeit 5 . In Deutschland, wo die Gregor-Forschung zwar Mitte der 90er Jahre von Modesto 6 (schon 1989), Kessler 7 (1995) und Fiedrowicz 8 (1995 und 97) drei Vertreter fand, die sich mit Primat, Kirchenverständnis und exegetischen Schriften auseinander setzten, fiel die Beschäftigung mit dem Kirchenvater ansonsten in den letzten zwanzig Jahren im Vergleich zu den romanischen Ländern aber eher gering aus. Zu Beginn der 90er Jahre erlebte die Pastoralregel in der deutschsprachigen Forschung allerdings eine Art Renaissance, erschienen in den Jahren 1990-93 doch gleich drei Aufsätze über sie. Wilhelm Gessel 9 , Hanspeter Heinz 1 0 sowie Jakob Speigel" hatten die Schrift Gregors für sich entdeckt und boten - mit verschiedenen Schwerpunkten - einen Ansatz zu ihrem Verständnis. Wie auch Judic in seiner Einleitung zur SC-Ausgabe konnten sie alle aber in der ihnen zur 3 B. JUDIC, Structure et fonction de la Regula Pastoralis, in: Grégoire le Grand. Chantilly. Colloques internationaux du centre national de la recherche scientifique, hrsg. von
J . FONTAINE / R . G I L L E T / S . PELLISTRANDI, P a r i s 1 9 8 6 , 4 0 9 - 4 1 7 ; D E R S . : L a B i b l e m i r o i r
des pasteurs dans la Règle pastorale de Grégoire le Grand, in: Le monde antique et la Bible, hrsg. von J. FONTAINE / C. PIETRI, BTS 2, Paris 1985, 455-473. 4 J. FONTAINE / R. GILLET / S. PELLISTRANDI (Hrsg.), Grégoire le Grand. Chantilly. Colloques internationaux du centre national de la recherche scientifique, Paris 1986. 5 GREGORIO MAGNO E IL SUO TEMPO. XIX Incontro di studiosi dell'antichità cristiana in collaborazione con l'École Française de Rome, Roma 9 - 1 2 maggio 1990, 2 Bde., Studia Ephemeridis Augustinianum 33.34, Rom 1990.1991; CAVADINI, J.C. CAVADINI (Hrsg.), Gregory the Great. A symposium, Notre Dame/London 1995. 6 J. MODESTO, Gregor der Große. Nachfolger Petri und Universalprimat, STG 1, St. Ottilien 1989. 7 S.C. KESSLER, Gregor der Große als Exeget. Eine theologische Interpretation der Ezechielhomilien, IThS 43, Innsbruck/Wien 1995. 8 M. FIEDROWICZ, Das Kirchenverständnis Gregors des Großen. Eine Untersuchung seiner exegetischen und homiletischen Werke, RQ.S 50, Freiburg/Basel/Wien 1995; Greg.-M., Horn. ev. (FChr 28, FIEDROWICZ). 9 W.M. GESSEL, Reform am Haupt. Die Pastoralregel Gregors des Großen und die Besetzung von Bischofsstühlen, in: Papsttum und Kirchenreform, FS G. SCHWAIGER, hrsg. v o n M . W E I T L A U F F / K . HAUSBERGER, St. O t t i l i e n 1 9 9 0 ,
17-36.
10
H. HEINZ, Der Bischofsspiegel des Mittelalters. Zur Regula Pastoralis Gregors des Großen, in: Sendung und Dienst im bischöflichen Amt, FS J. STIMPFLE, hrsg. von A. ZIEGENAUS, St. Ottilien 1991, 113-135. " J. SPEIGEL, Die Pastoralregel Gregors des Großen, RQ 88, 1993, 59-76.
Einleitung
3
Verfügung stehenden Kürze keine umfassende Analyse und Einordnung des Werkes leisten. Die letzten Studien zur Pastoralregel sind demnach nun auch schon wieder zehn Jahre alt. Auch wenn sich die Forschung bereits mehrfach der Regula Pastoralis angenommen hat, ist eine umfassende, inhaltliche Betrachtung bis dato noch nicht unternommen worden. Herauszustellen, wie sich das Idealbild des pastor in seinen Einzelheiten präsentiert, soll im Mittelpunkt vorliegender Arbeit stehen, denn nur so läßt sich erklären, wieso die Ausführungen eines Papstes aus dem 6. Jahrhundert bis zum Tridentinischen Konzil so große Beachtung fanden. Welche einzelnen Eigenschaften eines Bischofs Gregor für unablässig hält, welche er für das Amt als abträglich ansieht, welche einzelnen Aufgaben und Pflichten, welche Verhaltensweisen und Haltungen er in den Vordergrund stellt, gilt es ebenso näher zu beleuchten wie das ethische Lebenskonzept für Männer in Führungspositionen, das sich daraus ergibt. Aber auch denjenigen, um die sich der Bischof bemüht, die Gemeindemitglieder, gilt Gregors Augenmerk, der sich in seinen Ausführungen als hervorragender Psychologe und Menschenkenner erweist. Eine solche Analyse kann aber nicht völlig kontextlos im freien Raum stehen. Eine Einordnung der Pastoralregel in ihren geschichtlichen Horizont ist notwendig, um Gregors Anschauungen in ihrem Aussagewert besser bewerten zu können. Nahegelegt durch den Titel der Schrift und Gregors persönliche Verbindung zum Mönchtum seiner Zeit, soll mittels einer begriffsgeschichtlich orientierten Untersuchung erforscht werden, welche Entwicklung der Begriff regula durchgemacht hat. Ziel dieser Herangehensweise ist es, zum einen herauszuarbeiten, mit welchen Konnotationen ein Werk versehen ist, das den Titel Regula trägt, und zum anderen, ob sich die Regula Pastoralis tatsächlich in diese Entwicklung einordnen läßt, und welche Konsequenzen dies für ihr Verständnis mit sich bringt. Einen weiteren Hintergrund für die Einordnung der Schrift bilden dann kirchenpolitische Aspekte. In Anbetracht Gregors nur kurz zurückliegenden Amtsantritt stellt sich natürlich die Frage nach dem Anlaß und Zweck des päpstlichen Personalkonzeptes. Die Situation der Bischöfe im Italien dieser Zeit sowie Gregors übrige Personalmaßnahmen können helfen, die Herrschaftsfrage in der Pastoralregel ins rechte Licht zu rücken. Des weiteren vermitteln Gregors pädagogische Vorstellungen, die Begründung der Legitimation der Leitungskompetenz und Mahnungen vor dem Machtmißbrauch ein umfassendes Bild des Leitungskonzepts der Regula Pastoralis. In diesem Zusammenhang sei auf Peter Browns Entstehung des christlichen Europas12 hingewiesen, dessen Kapitel über Gregor wichtige Anregungen zur kirchenpolitischen Relevanz entnommen sind.
12
P. BROWN, Die Entstehung des christlichen Europas, M ü n c h e n 1996.
4
Einleitung
Bei der Analyse der Pastoralregel sind zunächst ihre formalen Entstehungshintergründe näher zu erläutern, bevor eine inhaltliche Interpretation gewagt werden kann. Diese Rahmenbedingungen lassen sich aus dem Widmungsbrief, den Gregor der Regel voranstellt, ablesen. Die Frage nach ihrem Adressaten ist dabei eng mit der nach der Intention verknüpft. Intention und Funktion der Regel sind zum besseren Verständnis des Hauptteils zu erörtern. Auch die von Gregor vorgenommene Komposition der Schrift soll eine genauere Untersuchung erfahren, um den Aufbau des Werkes analysieren zu können. Nachdem die einzelnen Teile der Regel auf den Aussagegehalt ihrer Kapitel untersucht sind, soll mittels einer Analyse der Verknüpfung der Teile die übergeordnete Argumentationsstruktur herausgeschält werden. Weitere zu erforschende Aspekte sind die von Gregor verwendete Sprache, sein Stil und seine Wortwahl. Charakteristische Begriffe werden präsentiert und in Beziehung auf den Inhalt geklärt. Gregors Stil ist stark durch die Allegore se geprägt. Seine reiche Bildersprache bedarf daher einer eigenen Untersuchung, bei der Bilder, Metaphern und Vergleiche vorgestellt werden. Dabei muß auch hier die Relevanz von Gregors inhaltlichen Aussagen genauer überprüft werden. Welche Bedeutung die Bibel für das Werk Gregors trägt und inwieweit die allegorische Schriftauslegung im Rahmen der Regula eine Rolle spielt, muß dann im letzten Schritt der eigentlichen Analyse geklärt werden. Die Struktur des ersten Hauptteils vorliegender Arbeit ist durch das chronologische, an der Regel angelehnte Vorgehen gekennzeichnet. Ergänzt wird dieses Vorgehen durch die systematischen Themen, die weitere Schwerpunkte bei der Analyse setzen sollen. Rückgriffe - besonders im vierten und fünften Kapitel - ergeben sich aus einem solchen Vorgehen, sind aber tatsächlich Vertiefungen eben jener Themen, die somit eine ausführliche Erläuterung erfahren sollen. Schließlich gilt es im zweiten Hauptteil den angesprochenen Erfolg von Gregors Schrift nachzuzeichnen und zu belegen. Hier soll die Konzentration auf die Epoche, in der die häufigste Benutzung des Werkes vorliegt, einen vertieften Einblick in die Rezeption der Regula ermöglichen. Die Karolingerzeit mit ihren Reformanstrengungen und vielfältigen Führungskonzepten der Spiegelliteratur entnahm gerne Anleihen bei Gregor d. Gr. Welche Aspekte der Regula Pastoralis bei ihrer Rezeption in dieser Zeit besonders ins Gewicht fielen, ist genauer zu untersuchen. Hinsichtlich der Rezeptionsgeschichte lag die Dissertation von Dorothy Wertz aus den 30er Jahren leider nur in einem Exzerpt vor, das zwar die wichtigsten Ergebnisse präsentiert, diese aber eben nur auszugsweise vorstellt 13 . Angesichts 13 D . M . WERTZ, The influence of the Regula Pastoralis to the year 900. An abstract of a Dissertation, Ithaca/New York 1936.
Einleitung
5
ihrer und Judics umfassender Bearbeitung des Themas konzentriert sich die Untersuchung der Rezeptionsgeschichte zur Vertiefung auf nur eine Epoche, um die Problematik des vorher entworfenen Leitungskonzepts hier wieder aufzunehmen.
Teil I
Die Regula Pastoralis Gregors des Großen
1. Zum Begriff regula Bedeutung und Gattungsbestimmung 1.1 Regula/regulae in der römischen Jurisprudenz 1.1.1 Ursprünge in der
Rechtspraxis
Der Terminus regula leitet sich vom Stamm reg- ab und diente zunächst ganz allgemein zur Bezeichnung von etwas Geradem bzw. Richtunggebendem. In diesem Sinn wurde er im Bereich des Bauhandwerks für Latte, Leiste, Stab - sowohl aus Holz als auch aus Eisen - , aber auch für Richtholz bzw. Richtscheit benutzt und gehörte damit zu den Werkzeugen der Bauleute. Als solches konnte es mit Maßeinteilungen versehen sein und als Maßstab verwendet werden. 1 Die semantische Bedeutung von regula verschob sich im Laufe der Zeit zu einem Terminus der römischen Rechtssprache und zählte bereits zu den Arbeitsmethoden der veteres2. Hier wurden Entscheidungen durch Induktion gewonnen, indem man aus vorliegenden Entscheidungen auf neue Sachverhalte mit der gleichen ratio decidendi schloß. Ein vorausgegangenes Ähnlichkeitsurteil war Voraussetzung; als Argumentationshilfen dienten die fachjuristische Diskussion und die Tradition, die Gesetzesworte erklären und auslegen halfen. Eine regula war aber kein wissenschaftlicher Obersatz, sondern das Ergebnis einer Erfahrung, die mittels Vergleich und 1 K.E. GEORGES, Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch 1/2, Basel " 1 9 6 2 (Nachdruck der 8. verbesserten und vermehrten Aufl. von H. GEORGES), 2285; H. OPPEL, Kavcbv. Zur Bedeutungsgeschichte des Wortes und seiner Lateinischen Entsprechungen (regula-norma), Ph.S 30/4, Leipzig 1937, 509 f. Weitere Bedeutungen: Lineal; Eisenstange zum Verschließen des Schiffraums, auf der das Ladegewicht verzeichnet wurde; verzierte Leiste unter dem Epistylband des Architravs; Schieber in der Wasserorgel; Stamm der Pflanze, vgl. dazu A. HUG, Art. Regula, PRE II/l, Stuttgart 1914, 590 f.
u n d OPPEL, Kavcóv 7 6 - 7 8 . 2 Über die Entstehungszeit der regulae herrscht keine Einigkeit: OPPEL, Kavwv 99, plädiert für die republikanische Zeit; NÖRR, Spruchregel und Generalisierung, ZSRG.R 89, 1972, 4 3 - 4 6 , datiert nicht vor dem 2. Jahrhundert v. Chr., in republikanischer Zeit zudem in die Spätklassik; B. SCHMIDLIN, Die römischen Rechtsregeln. Versuch einer Typologie, Forschungen zum römischen Recht 29, Köln/Wien 1970, 55, spricht von ihrem hohen Alter und der Zeit der veteres, datiert aber nicht genauer. Denkt er hier etwa an archaische Zeit? P. STEIN, Regulae iuris. From juristic rules to legal maxims, Edinburgh 1966, 50, wiederum erklärt: „There are a number of classical texts which mention regulae, not all of which can be regarded as survivals from the republican era or as the result of post-classical interpolation." Damit schreibt er sie zum Teil auch der klassischen Zeit zu.
10
1. Zum Begriff
regula
Ähnlichkeitsurteil zu allgemeineren, begrifflich aber nicht randscharfen Maximen avanciert war. 3 Es handelte sich folglich um „nicht mehr umstrittene Grundsätze des außergesetzlichen Ius" 4 . Wieacker führt verschiedene Kriterien dieser Rechtsregeln an. Dazu gehört ihre Anonymität, die in Verbindung mit ihrem hohen Alter steht - die regulae wurden von den Klassikern oft kollektiv den veteres zugeschrieben. Ein weiteres Merkmal ist die Spruchform. Zumeist haben diese regulae „die Gedrungenheit knapper Merksprüche" und sind als solche „Erfahrungskonzentrat altrömischer Rechtsklugheit" 5 . Man darf sie aber nicht als plumpe Faustregeln mißverstehen, da sie bereits differenzierte juristische Einsichten zeigen. Zu den weiteren Kriterien der regulae gehört ihre Normativität. Sie sind ihrer Form nach Deskription, insofern sie eine Norm beschreiben. Auf der Ebene des Inhalts aber sind sie Normen, da sie normativ wie oder ähnlich einem Ausspruch des Gesetzgebers sind. Normativ ist dabei nicht nur, wie Nörr andeutet, im Sinne eines Gesetzes zu verstehen, sondern auch im Sinne einer Erwartung, nach der entsprechend gehandelt bzw. entschieden werden muß. 6 Darüber hinaus läßt sich eine ursprüngliche Berührung mit altrömischen Lebensregeln (praecepta, carmina) nachweisen - gerade bei mit dem
3
F. WLEACKER, Römische Rechtsgeschichte. Quellenkunde, Rechtsbildung, Jurisprudenz und Rechtsliteratur I, München 1988, 594 f; vgl. auch R. LEONHARD, Art. Regula iuris, PRE I I / l , Stuttgart 1914, 511, und H. OHME, Kanon ekklesiastikos. Die Bedeutung des altkirchlichen Kanonbegriffs, AKG 67, Berlin/New York 1998, 51. Gegen die Induktion argumentieren SCHMIDLIN, Die römischen Rechtsregeln 158-160, und NÖRR, Spruchregel 80 (in bezug auf die kasuistischen Regeln [dazu siehe unten]), daß dies nur in parallelen Fällen möglich sei, aus denen sich die Regel als Obersatz formulieren ließe, dem aber nur deskriptiver Gehalt zuzuschreiben sei. Vielmehr könne aber auch die empirisch gewonnene Regel normativen Sinn enthalten, wenn beispielsweise exempla die festgelegten Normen vorbereiteten. Des weiteren könne sich eine Regel auch aus Einzelentscheidungen bilden. Dann beruhe sie nur auf einem Kriterium, das als Evidenz bezeichnet werden könne, und nicht auf Induktion. 4
WIEACKER, R e c h t s g e s c h i c h t e 5 9 0 .
5
WIEACKER, R e c h t s g e s c h i c h t e 5 9 2 .
6
NÖRR, Spruchregel 24 f. Er charakterisiert sehr ausführlich das Wesen der regula in bezug auf ihre Normativität unter Verwendung der Begriffspaare normativ - deskriptiv, normativ - kasuistisch, normativ - empirisch und normativ - wissenschaftlichdogmatisch. SCHMIDLINs Argumentation, Die römischen Rechtsregeln 4 6 - 6 0 , stützt sich auf die Unterscheidung normativ - kasuistisch. Die Frage des verwendeten Normbegriffs hat dabei besonders NÖRRS Widerspruch hervorgerufen. Er schlägt eine Unterteilung der regula-Arten in Spruchform, Standard und Rechtsnorm vor, zeichnet aber auch die Entwicklung dieser Unterscheidung nach. Demzufolge nahmen die Bedeutungen Standard und Rechtsnorm in spätklassischer Zeit ab, wohingegen die Spruchregel bezeichnend wurde. Somit weist NÖRR, Spruchregel 40 f, den Spätklassikern einen technischen Begriff regula zu.
1.1 In der römischen
Jurisprudenz
11
Rechtswesen vertrauten Männern wie Ap. Claudius Censor 7 , dem älteren Cato oder auch bei Cascellius 8 - sowie Wurzeln in sakralen und rechtlichen Spruchritualen der pontifices.9 Trotz dieses hohen Alters der Gattung regula findet sich die Bezeichnung selbst aber erst in den Schriften der Klassiker, frühestens bei Sabinus , das heißt ungefähr ab Mitte des 1. Jahrhunderts n. C h r . " Oppel erklärt dies mit der Übernahme des griechischen Gedankengutes durch die Römer, die für den griechische Begriff xavobv den lateinischen Ausdruck regula verwendeten, welches Oppel zufolge also ein „Übersetzungswort" 1 2 ist. Regula hatte bereits in der lateinischen Sprache eine gewisse Bedeutungsentwicklung durchgemacht, ehe sich die griechische Wissenschaftstheorie auf sie auswirkte, „die wirklich große Bedeutungsverzweigung ... setzt jedoch erst beim Eindringen der griechischen Gedankenwelt in die römische ein." 13 Daß die griechische Wissenschaftstheorie nicht nur neue 7 Gemeint ist wohl Ap. Claudius Caecus, der 307 und 296 v. Chr. Cónsul und 295 v. Chr. Praetor war, eine Sentenzensammlung sowie juristische Abhandlungen verfaßte, siehe dazu K.-L. ELVERS, Art. Ap. Claudius Caecus, DNP III, Stuttgart/Weimar 1997, 8. 8 Cascellius ist für das Jahr 73 v. Chr. als Senator belegt, siehe dazu T. GIARO, Art. Cascellius, D N P II, Stuttgart/Weimarl997, 1001. 9 WIEACKER, Rechtsgeschichte 592 f Anm. 112. Den Ursprung des römischen Rechts sieht WIEACKER in der irrationalen Spontanität der Rechtsorakel, der Gottesurteile oder des Medizinmannes. Solche Entscheidungen seien aber auf die Vorwegnahme einer dauernden Regel menschlichen Zusammenlebens angelegt, das heißt, in jeder Entscheidung sei unausgesprochen bereits ein Prinzip für folgende Entscheidungen gegenwärtig. Hierin zeige sich schließlich auch die Antinomie des Juristenrechts, da jede Entscheidung nach altem Recht zugleich eine Regel für künftiges Recht schaffe und damit unbewußt neues Recht an sich. Siehe dazu: F. WIEACKER, Rezension zu: Peter Stein, Regulae iuris. From juristic rules to legal maxims, University Press, Edinburgh 1966 X, 206S., ZSRG.R 84, 1967, 439. Der weiteste klassische Begriff von regula ist für ihn der des Juristenrechts, das durch eine abgeschlossene Diskussion als auctoritas festgestellt ist und daher der Beglaubigung durch Zitate und Argumente nicht mehr bedarf. Solche Sätze sind auf künftige Fälle unstreitbar anwendbar. Bis zur nachklassischen Zeit hatte regula für WLEACKER mit dem Problem der rechtswissenschaftlichen Begriffsbildung durch ÖQOI, yevr| und ei6r| aber verhältnismäßig wenig zu tun, für ihn liegt der Bezug zum „Kanon" für die veteres daher auch fern. Siehe WIEACKER, Rezension zu: Peter Stein 434, und DERS.: Rechtsgeschichte 590 f. Anm. 103. 10 Jurist, der 22 n. Chr. die Führung der Rechtsschule der Sabianer übernahm; vgl. auch T. GIARO, Art. Sabinus [II 5] Mas(s)urius S., D N P X, Stuttgart/Weimar 2001, 1191 f. " NÖRR, Spruchregel 31; aber auch hier ist dies nicht sicher belegt. NÖRR, Spruchregel 36, weist auch daraufhin, daß die Juristen der hochklassischen Zeit den Terminus nicht mit solcher Unbefangenheit benutzten wie es die Spätklassiker taten oder wie wir heute mit dem Begriff Regel umgehen. In der hochklassischen Zeit handelte es sich vielmehr um einen künstlichen, manierierten Terminus. 12
OPPEL, Kavcóv 80.
13
OPPEL, Kavróv 74.
I. Zum Begriff
12
regula
Denkmöglichkeiten eröffnete, sondern auch „längst geübte Denkmöglichkeiten bewußt und beschreibbar gemacht hat" 14 , darf hierbei jedoch nicht außer acht gelassen werden, besaßen doch die Römer bereits eine gefestigte Rechtstradition, als sie mit der Dialektik in Berührung kamen. Exkurs: xavcov Der griechische Begriff x a v w v ist dem Semitischen entlehnt, in dem der botanische Begriff H]p (Schilfrohr) bereits zu einer technischen Bezeichnung für Meßrohr, Meßrute, Maßeinheit geworden und es zu einer „Gleichsetzung der Begriffe Rohr und Gradheit" 15 gekommen war. Da im griechischen Kontext die semitische Urbedeutung zurücktrat, wurde diese Gleichsetzung zur dominierenden und grundlegendsten. Seit homerischer Zeit überwog also die Vorstellung von der geraden Stange oder vom Stab. Bestimmend war dabei nicht das Material des Kanons, sondern seine Form. 16 Ähnlich der lateinischen regula bezeichnete xavtbv in der Baukunst das Richtscheit, „das völlig gerade sein muß, um die Herstellung ebener Flächen zu ermöglichen. [Diese Einzelbedeutung des Wortes] bildet den Ausgangspunkt für die Übertragung auf das Gebiet des Geistigen: Mit dem xavd)v der Maurer und Zimmerleute kommt der Begriff des Maßes zu dem der Gradheit. Die beiden Bilder vom Ausrichten und Messen haben sich dann von hier aus dem stets auf das Anschauliche gerichtete Denken der Griechen aufgedrängt." 17 Zweck des Kanons ist es, der Genauigkeit, das heißt der dxQißeia, zu dienen 18 . Im ethischen Bereich lassen sich verschieden Stufen feststellen, die aber gemein haben, daß der Kanon als Schlagwort für das Exaktheitsstreben des 5./4. Jahrhundert v. Chr. verstanden wurde 19 . Zunächst wurde der Begriff zuerst faßbar in den Schriften Epikurs - als geistiges Werkzeug verstanden, das heißt als ein geistiges Richtscheit, mit dessen Hilfe man das sittlich Gute vom Schlechten zu trennen vermag. „In der späten platonischen und frühen aristotelischen Ethik sind die Termini xavcov und ÖQ05 Ausdruck einer Einwirkung der exakten Wissenschaften auf die Ethik." 20 Besonders bei Piaton spielte die mathematisch gefaßte Idee des Guten eine wichtige Rolle, die nur durch exakte Verstandestätigkeit mittels der Vernunft erfaßt werden kann. Aristoteles übertrug die Exaktheitsforderung auf 14
NÖRR, Spruchregel 28; vgl. auch SCHMIDLIN, Die römischen Rechtsregeln 2. OPPEL Kavcüv 2; vgl. auch OHME, Kanon ekklesiastikos 21. 16 OHME, Kanon ekklesiastikos 21; vgl. OPPEL, Kavcöv 3 - 9 , der auch genaue Auskunft über die unterschiedliche Verwendung des Begriffs gibt, zum Beispiel als Bezeichnung für Waagebalken, Webstab, et cetera. 17 OPPEL, Kavwv 10. 18 OPPEL, Kavcbv 12; OHME, Kanon ekklesiastikos 21. 19 OHME, Kanon ekklesiastikos 22-27; OPPEL, Kavmv 14-72. 20 OHME, Kanon ekklesiastikos 22. 15
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Jurisprudenz.
13
das Gebiet der Politik und Sozialethik, allerdings unter Verwendung des Begriffs der ÖQOI. Die spätere Aufgabe der Forderung nach Akribie bewirkte in der hellenistischen Ethik, daß Kanon fast völlig gemieden wurde, statt dessen benutzten die Stoiker die neue Metapher XQiTr)0LOV.21 Im Bereich der Erkenntnistheorie fällt als erstes Demokrits Werk xavcbv ins Auge, das das Problem von Wirklichkeit und Erscheinung angesichts optischer Täuschungen thematisiert. In Abhängigkeit davon steht wahrscheinlich auch das verlorene Hauptwerk Epikurs IleQi XQiTr|Qiou f| x a v w v demzufolge ein Kanon zur Überprüfung der Vernunfterkenntnis zu suchen ist und in dem XQrcf|Qiov in enger Verbindung und Analogie zum Kanon-Begriff verwendet wird. „Beide Begriffe ... spielen eine zentrale Rolle in der erkenntnistheoretischen Diskussion der griechischen Philosophenschulen des 3. und 2. Jahrhunderts. Dabei ging es im wesentlichen um die Frage nach dem Kriterium der Wahrheit, also ob und wie man mit Sicherheit zwischen falschen und wahren Meinungen unterscheiden könne." 2 2 Die Stoiker und Skeptiker benutzten hingegen das Kriterium als ein Mittel zur Feststellung dessen, was im Bereich der W a h r n e h m u n g der Fall ist oder nicht, und stellten so die Wahrheit oder Falschheit von Meinungen heraus. 2 3 Ein weiterer Bedeutungskreis von Kanon betrifft den hellenistischen [ii[iT]oi5-Gedanken. Dabei wird die Bezeichnung Kanon auf einen Menschen übertragen, der zum ethischen Vorbild und Maßstab des Handelns wird. „Die Bedeutung des Vorbildhaften und der N a c h a h m u n g wird dann allgemein in der hellenistischen und frühkaiserzeitlichen Popularethik gebraucht, genauso auch in der Stillehre der Attizisten und im Bereich der Kunst" 2 4 . Der dritte und letzte Bedeutungskreis von Kanon findet sich im Zusammenhang mit den ÖQog-Vorstellungen, die das genau bestimmbare sittlich Gute durch eine Grenzlinie festlegen. Der Kanon, der sich dieser Grenzlinie anpaßt, muß zur Richtschnur für das Handeln werden. Entlang dieser Richtschnur geht man in Richtung des Guten, überschreitet man aber die Grenze (ÖQ05), so handelt man auch nicht gerecht. Bei Aristoteles sind eine solche Richtschnur für das Handeln der Bürger vor allem die Gesetze. Kanon als Richtschnur der Gerechtigkeit verband sich am Ausgang des Hellenismus mit der Bedeutung des Abgegrenzten, Festgelegten und Feststehenden und setzt sich als Bezeichnung für Regel und Norm des klugen und tugendhaften Handelns durch. Zwei in diesen Z u s a m m e n h a n g ge-
21 22 23 24
OHME, OHME, OHME, OHME,
Kanon Kanon Kanon Kanon
ekklesiastikos ekklesiastikos ekklesiastikos ekklesiastikos
22 f. 24. 25 f. 26.
14
1. Zum Begriff
regula
hörende Bedeutungen sind zum einen Kanon als (grammatische) Regel, zum anderen als Tabelle, welche die sichtbar gemachte Regel darstellt. 25 Oppel weist auch noch auf die Steuerordnung der späten Kaiserzeit hin, in der man unter Kanon die ständige und daher feststehende jährliche Naturalabgabe verstand. Sein anschließender Ausblick auf den Sprachgebrauch der Kirche basiert auf der These, daß sich alle Bedeutungen aus dem Zusammenhang der ÖQog-Vorstellungen erklären. 2 6 Bei der Verwendung des Begriffs Kanon - genau wie bei regula - sind in den Quellen des römischen Rechts zwei unterschiedliche Begriffe von einander zu trennen: der theoretisch-rechtsphilosophisch abstrakte Begriff auf der einen vom praktisch-rechtsdogmatisch konkreten auf der anderen Seite. „Der rechtsphilosophische Begriff geht auf die Charakterisierung des Nomos in der stoischen Rechtsphilosophie zurück, wie sie durch Chrysippos (281/77-208/4 v. Chr.) in seiner Schrift ,n£Qi vöjj.ou' erfolgte." 2 7 Chrysipp vertrat die Auffassung, daß der Nomos als prinzipielle Unterscheidung von Recht und Unrecht den Kanon der Juristen, das heißt die Richtschnur ihres Gewissens, darstellte. Dabei wird der Kanon-Begriff zum Erkenntniskriterium. „Dieser grundlegenden rechtsphilosophischen Aussage entspricht die Verwendung des Kanon-Begriffs im Singular." 2 8 Ein Reskript der Kaiser Konstantin, Konstantius und Konstans zum Immobilienbesitz im römischen Provinzialrecht stellt das älteste erhaltene Zeugnis der Verwendung des Begriffs Kanon für eine positive Rechtsvorschrift dar. Häufiger als die Bedeutung Rechtsvorschrift findet sich aber der abgabenrechtliche Terminus, auf den auch Oppel hingewiesen hat. 29 Hier kann man ebenfalls von Kanon im Plural sprechen, da es sich um den praktisch-konkreten Rechtsbegriff handelt. 1.1.2 In der
Rechtstheorie
Regula in übertragener Bedeutung benutzten zuerst Cicero und Varro in ihren Schriften, indem sie Ergebnisse der griechischen Wissenschaften in den römischen Horizont einbezogen. Sicherlich war die übertragene Bedeutung aber auch schon vor diesen beiden im lateinischen Sprachgebrauch üblich. Da Cicero regula nie durch das griechische Wort erklärt, wie er es bei anderen Fachausdrücken tut, kann man auch nicht von einem
25
OHME, Kanon ekklesiastikos OPPEL, Kavcov 69 f; OHME, zurecht, daß dieser auf der Basis argumentiert. 27 OHME, Kanon ekklesiastikos 28 OHME, Kanon ekklesiastikos 29 OHME, Kanon ekklesiastikos 26
27. Kanon ekklesiastikos 27 Anm. 44, kritisiert allerdings einer sehr beliebigen Auswahl an Texten und Zitaten 45. 46. 46.
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Jurisprudenz
15
verbum inauditum sprechen. 30 Anknüpfend an die Fachsprache der Mittelstoa versteht er im ethischen Bereich unter régula die Richtschnur allen Handelns. Diese Richtschnur ist die Natur des Menschen: Sic enim est faciendum, ut contra universam naturarti nihil contendami, ea tarnen conservata propriam nostram sequamur, ut etiamsi sint alia graviora atque meliora, tarnen nos studia nostra nostrae naturae régula metiamur; neque enim attinet naturae repugnare nec quicquam sequi, quod assequi non queas,31 Auch bei Seneca gehört régula in den ethischen Bereich. Für ihn ist das sittlich Gute, welches allein als Tugend bezeichnet werden kann, ein Maßstab: Quod summum bonum est, supra se gradum non habet, si modo Uli uirtus inest, si illam aduersa non minuunt, si manet edam comminuto corpore incolumnis: manet autem. Uirtutem enim intellego animosam et excelsam, quam incitât quicquid infestât. Hunc animum, quem saepe induunt generosae indolis iuuenes quos alicuius honestae rei pulcheritudo percussit, ut omnia fortuita contemnant, profecto sapientia [non] infundet et tradet: persuadebit unum bonum esse, quod honestum: hoc nec remitti nec intendi posse, non magis quam regulam, qua rectum probari solet, flectes. Quicquid ex illa mutaueris, iniuria est recti. Idem ergo de uirtute dicemus: et haec recta est, flexuram non recipit. Rigidari quidem amplius? Nec intendi potest. Haec de omnibus rebus iudicat, de hac nulla.32 Der unbedingte Wert der virtus begründet ihre Eigenschaft als régula33. Seneca folgt der Tradition, wenn er das Gesetz als iusti iniustique régula bezeichnet, um zu verdeutlichen, daß es sich um eine Metapher handelt: régula non est res per se expetenda. Ad haec verba demonstrandae rei causa descendimus,34 Er bezeichnet aber auch eine Person oder ein Phänomen, die als Vorbild dienen, als régula35. Wenn er aber in De beneficiis den ethischen Grundsatz Sciat nec malum esse ullum nisi turpe nec bonum nisi honestum; hac régula uitae opera distribuât; ad hanc legem et agat cuncta et exigat miserrimosque mortalium iudicet,36 als régula und lex bezeichnet, so kommt er näher an den juristischen Sprachgebrauch heran, insofern er die régula als generellen Maßstab kennzeichnet. Dieser kann dann auch von seinem Inhalt her als eine moralische Regel oder Verhal-
30 OPPEL, Kavcbv 80. Er untersucht die Bezeichnung regula in der philosophischen Fachsprache und als T e r m i n u s der Rechtsphilosophie sowie der praktischen Jurisprudenz. 31 Cic., O f f . I 110 (94 BÜCHNER). 32 Sen., Ep. mor. L X X I 1 8 - 2 0 (32 PRECHAC/FUHRMAN). 33 OPPEL, Kavcuv 91. 34 Sen., Ben. IV 12, 1 (312 PRECHAC/FUHRMANN). 35 Sen., Ep. mor. XI 10 (74 P./M.) ; Ben. III 11, 3 (232 P./M.). 36 Sen., Ben. VII 2, 2, (528 P./M.).
I. Zum Begriff
16
regula
tensnorm bezeichnet werden. 3 7 Auch für die Pflichten gibt es Seneca zufolge eine regula, die Parallelen zum Gesetz aufweist. Quis est iste qui se profitetur omnibus legibus innocentem? Ut hoc ita sit, quam angusta innocentia est ad legem bonum esse! Quanto latius officiorum patet quam iuris regula! Quam multa pietas, humanitas, liberalitas, iustitia, fides exigunt, quae omnia extra publicas tabulas sunt! Sed ne ad illam quidem artissimam innocentiae formulam praestare nos possumusM. „Die regula officiorum geht wie die regula iuris der Rechtsphilosophie ... letzten Endes auf den bekannten Satz Chrysipps zurück vom vö^iog als dem xavcbv Stxaicov xcä aöixoov." 3 9 Auf diesen Satz greift auch Cicero zurück, wenn er regula im Sinne von Maßstab verwendet und die lex als iuris atque iniuriae regula40 bezeichnet. In De legibus I 19 legt er vom philosophischen Standpunkt aus die principia iuris dar. Als Grundlage des Rechtes wird das Gesetz betrachtet, das sich im Griechischen für ihn von vejxetv herleitet - was soviel heißt wie J e d e m das Seine zuteilen' - und im Lateinischen von ,auswählen' (legere). So verbindet sich beim einen die Vorstellung von Gerechtigkeit, beim anderen diejenige von Auswahl mit dem Begriff des Gesetzes, und beides ist der eigentliche Inhalt eines Gesetzes. Es verkörpert das Wesen der Natur, entspricht dem Geist sowie der Vernunft des Klugen und ist Richtschnur für Recht und Unrecht. Für die Grundlage des Rechtes geht Cicero aus ab illa summa lege capiamus exordium, quae saeclis omnibus ante nata est quam scripta lex ulla aut quam omnino ciuitas constituta.4I Cicero gibt hier den Rechtsbegriff der Stoa getreu wieder, welcher auf der Anerkennung des allgemeinen Gesetzes basiert. Auf diesem vöfxoc; xoivög beruht die gesamte Weltordnung, und er offenbart sich als Auswirkung des "köyoc,, der die Welt beherrscht. Aus diesem Grund bezeichnen die Stoiker auch die Natur selbst, in der sich dieses allgemeine Gesetz verkörpert, als xavcbv. Wenn Cicero in De legibus II 61 die natura zwar als norma bezeichnet, so wechselt er nur den Ausdruck, folgt aber ansonsten völlig den Stoikern. Neben der natura befähigt die Menschen darüber hinaus in sich selbst die praktische Vernunft, die (j)Q6vrioic;, zu solcher Entscheidung. Cicero nennt sie in De legibus I 19 prudentia. Mit ihrer Hilfe unterscheiden wir zwischen wahr und falsch, zwischen gut und schlecht, zwischen gerecht und ungerecht, denn sie gibt uns die regula an die Hand. Auffällig ist, daß sich bei Cicero nur der singuläre Gebrauch von regula findet, da bei ihm offenbar die ursprüngliche Bedeutung und nicht die technische für
37
NÖRR, Spruchregel 33.
38
S e n . , D e ira II 2 3 , 2 f ( 198 BOURGERY/ WALTZ).
39
OPPEL, Kavröv 94.
40
C i c . , L e g . I 19 ( 2 4 NICKEL).
41
Cic., Leg. I 1 9 ( 2 4 N.).
1.1 In der römischen
Jurisprudenz.
17
einzelne Regeln vorherrscht. 4 2 Die regula als Maßstab für Recht und Unrecht ist hier also ein Entscheidungskriterium sowohl im Sinne des Richtscheites als auch in dem des geraden Verhaltens. Sie ist ein abstraktes Maß und keine Einzelregel. Oppel legt allerdings dar, daß es sich bei der ciceronischen, von der griechischen Philosophie beeinflußten Anschauung um ein eher singulares Verständnis handelt. „Die Praxis der römischen Jurisprudenz ist andere Wege gegangen. Ihr Prinzip ist es, Kasuistik zu treiben, den Einzelfall in seiner besonderen Artung zu behandeln. Von der Gesamtheit des Rechts als einer ,Richtschnur' zu sprechen, ist ihr deshalb völlig fremd: in diesem Sinne hat sie niemals die Worte regula oder norma gebraucht. ... Die regula iuris in diesem Sinne ... ist auf ein eng begrenztes Einzelproblem beschränkt, faßt aber hier wieder eine Summe fast gleichgearteter Einzelfälle zu gemeinsamer Beurteilung zusammen." 4 3 1.1.3 Die Libri
regularum
Im späteren Schrifttum wurde mit regula sowohl ein Verhaltensmaßstab als auch eine Verhaltensregel bezeichnet, und der Gebrauch des Plurals regulae für Verhaltensnormen setzte sich durch, so bei Tertullian 4 4 . Den Übergang von regula als Maßstab zur Einzelregel im juristischen Verständnis erklärt Nörr damit, daß im Maßstab zwar die Form des Rechts gegeben ist, diese Form aber erst auf gegebene Stoffe angewendet werden muß, um das Gebäude der Rechtslehre selbst zu errichten 45 . Der Plural regulae wurde in der Rechtssprache aber wohl vor allem in Anlehnung an die Grammatik verwendet, wo Flexionsregeln seit dem 1. Jahrhundert v. Chr. bei dem Grammatiker L. Crassicus Pasicles 4 6 als solche bezeichnet wurden. Diese Übernahme des Begriffs - so Schmidlin - ist auf das Interesse der Juristen an der Entwicklung der Grammatik zurückzuführen, die damit einerseits einzelne allgemein bekannte Rechtsansprüche bezeichneten, und regula andererseits als Titel einer besonderen Werkgattung benutzten: der libri regularum 47
42
OPPEL, K a v c b v 9 5 f; SCHMIDLIN, S p r u c h r e g e l
43
OPPEL, K a v w v 9 8 .
44
19.
Siehe Kapitel 1.2.2.2. Tertullian, unten 25-29. NÖRR, Spruchregel 33-35. 46 L. Crassicus Pasicles, mit dem Beinamen Pansa, war in den 30er-20er Jahren des 1. Jahrhunderts v. Chr. tätig. Vgl. auch K.-L. ELVERS, Art. Crassicus Pasicles (Pansa), L., DNP III, Stuttgart/Weimar 1997, 216. 47 SCHMIDLIN, Die römischen Rechtsregeln 20 f; STEIN, Regulae iuris 53-61, widmet sich ausführlich dem Thema Grammatik, dem Analogie-Anomalie-Streit sowie der Übernahme des griechischen Kanon-Begriffs in den lateinischen regü/a-Begriff. 45
1. Zum Begriff
18
regula
Im letzten Kapitel der Digesta4S des Iustinian haben die Kompilatoren unter dem Titel De diversis regulis iuris antiqui49 211 solcher Rechtsregeln der veteres zusammengestellt. Daß der Terminus regula hier allerdings nicht auf die veteres zurückgeht, wird schon daraus ersichtlich, daß in keinem der Fragmente der Begriff regula verwendet wird. Zu Beginn wird diesen Rechtsregeln nun eine Definition vorangestellt, die dem Kommentar des Juristen Iulius Paulus 5 0 zu den Büchern des Plautius entnommen ist. Schmidlin zufolge kommt der Definition eine Sonderstellung als Leitgedanke des ganzen Kapitels zu, die sie ursprünglich so nicht hatte. 51 Es handelt sich um die wichtigste theoretische Aussage über die regulae. Paulus stützte sich dabei auf eine Aussage des Sabinus: Regula est, quae rem quae est breviter enarrat. non ex regula ius summatur, sed ex iure quod est regula fiat. per regulam igitur brevis rerum narratio traditur, et, ut ait Sabinus, quasi causae coniectio est, quae simul cum in aliquo vitiata est, perdit officium suum.51 Der erste Satz beinhaltet die Definition nach stoischem Vorbild in Anlehnung an Chrysipp. Hiernach faßt eine regula kurz das Wesen einer Sache zusammen. Nörr vermutet, daß „Paulus durch die Hervorhebung des definitorischen Zuges der regula ihre n o r m a t i v e n ' Elemente zurückzudrängen sucht." 53 Der nächste Satz widmet sich dann dem Verhältnis von regula und ius. Dem ius wird der Vorrang vor der regula zugesprochen, „nicht die Regel bestimmt das Recht, sondern das Recht die Regel." 5 4 Mit dem Verweis auf die Bezeichnung des Sabinus drückt Paulus nun, positiv gewendet, sein Verständnis von einer Rechtsregel aus. Es handelt sich dabei um einen „kasuistischen Regeltyp, der ähnlich einer die Fallage zusammenstellenden causae coniectio bestehendes Recht und geltende Rechtsauffassungen zusammenfaßt. Solche Regeln dürfen ohne weiteres wieder beseitigt werden, wenn sich die Rechtsauffassung gewandelt hat." 55 48
Die Digesten wurden im Dez. 533 in Kraft gesetzt. Vgl. auch: F. TINNEFELD, Art. Justinian, DNP VI, Stuttgart/Weimar 1999, 101-105. 49 Corpus Iuris Civilis, Digesta L 17 (920 M./K.). 50 Er lebte zwischen 160 und 230 n. Chr.; vgl. auch T. GIARO, Art. Iulius [IV 16] Paulus, DNP VI, Stuttgart/Weimar 1999, 50 f. 51 SCHMIDLIN, Die römischen Rechtsregeln 8, weist darauf hin, daß noch weitere Fragmente aus der Schrift in Dig. L 17, 168-180 (925 M./K.), aufgenommen worden sind. 52 Corpusus Iuris Civilis, Digesta L 17 (920 M./K.). 53 Bezüglich der Definitionslehre wendet sich NÖRR, Spruchregel 29, damit gegen SCHMIDLINS Auffassung, Die römischen Rechtsregeln 13 f, daß hier nach aristotelischer Definitionslehre vorgegangen werde. OHME, Kanon ekklesiastikos 54, folgt NÖRR hierin. 54 SCHMIDLIN, Die römischen Rechtsregeln 15. 55 SCHMIDLIN, Die römischen Rechtsregeln 11-18. Ihm zufolge wendet sich Paulus damit gegen die Normativität und strenge, allgemeine Geltung der Regeln. Er sieht hier zwei von Paulus einander gegenübergestellte Regeltypen: den normativen - als Beispiel
1.1 In der römischen
Jurisprudenz
19
Paulus stellt somit heraus, daß Regeln auch unbrauchbar werden können, und warnt vor ihrer Verselbständigung über deren angemessenen Wirkungsbereich hinaus. Neben den in den Digesten einzeln überlieferten regulae zeigen die libri regularum der römischen Juristen seit dem 2. Jahrhundert n. Chr. das methodische Streben nach Regelbildung an. Sie kamen in hadrianischer Zeit verstärkt auf und waren in der spätklassischen Zeit weit verbreitet. Die frühesten erhaltenen libri regularum sind die des Neratius ( t nach 133 n. Chr.), eingeteilt in 15 Bücher 5 6 . Wie die bei den in den Digesten zusammengestellten regulae handelt es sich auch hier um einen Regeltyp, der von der Kasuistik geprägt und weniger stabil war, und sich dadurch von den regulae der veteres unterschied. Hinter diesen Werken mag sich das Anliegen versteckt haben, zu generalisierenden und zusammenfassenden Grund- und Leitsätzen zu kommen, wobei die stets kasuistischen Formulierungen des klassischen römischen Juristenrechts und die zum Teil unüberschaubaren Fallentscheidungen dafür den Hintergrund lieferten. 5 7 „Die alten Rechtsregeln sind Rechtsquellen, die neuen Rechtsregeln beschreiben das Recht. Die alten Rechtsregeln erheben den Anspruch, bindende Entscheidungsgrundlage zu sein, die neuen Rechtsregeln sind Elemente der Rechtsdiskussion, Prinzipien, die wohl wahrscheinlich sind, die aber doch immer wieder in Frage gestellt werden können ... In klassischer Zeit spielen die normativen Regeln eine bescheidene, die definierenden Regeln eine etwas größere, die kasuistischen Regeln die Hauptrolle." 5 8 Möglicherweise handelte es sich hierbei um eine eigene Werkgattung, die eine neue Art von Regelgattungen enthielt; jedoch nicht zu verwechseln mit den festen, zitierfähigen Rechtssprüchen. Ein Zusammenhang mit dem Schulbetrieb der Rechtsschulen ist möglich, wobei bedacht werden muß, daß diese Lehrgemeinschaften keine festen Lehrpläne oder Schulliteratur besaßen und in den libri regularum jegliche didaktische Absicht fehlt. Schmidlin zufolge sind zumeist nicht die Juristen, denen die libri zugeschrieben werden, die Autoren, sondern ihre Schüler - wie bei Neratius vermutet - oder unbekannte Juristen, die die libri regularum aus den Texten und Büchern jener bekannten Autoren zusammenstellten - was bei Ulpian angenommen
h i e r f ü r dient ihm die regula Catatonia - und den kasuistischen Typ, wie Paulus ihn beschreibt. NÖRR, Spruchregel 30, hält eine Argumentation zugunsten dieser T h e s e auf der Basis des Paulus-Zitates nicht für möglich. Er bestätigt zwar, daß Unsicherheit oder gar Streit über die Rolle der regula aus dieser Passage ersichtlich sind, bestreitet aber eine Existenz von verschiedenen Regeltypen. 56 STEIN, Regulae iuris 79. 57 OHME, Kanon ekklesiastikos 58. 58 NÖRR, Spruchregel 26 f, faßt so die Aussagen SCHMIDLINS z u s a m m e n .
20
1. Zum Begriff
regula
wurde. Da die libri regularum zum Teil sehr anspruchsvoll sind, werden sie eher zur wissenschaftlichen Diskussion genutzt worden sein. 59 Eine andere Möglichkeit der Verwendung zieht Stein in Betracht, der sie in den Raum der kaiserlichen Verwaltung einordnet. Ihre Verfasser seien zumeist Mitglieder des kaiserlichen consilium gewesen, womit die Abfassung der Schriften auf dem Hintergrund der kaiserlichen leges zu sehen sei. 60 „Clearly the Regulae were written for people who knew some law but who were not interested in arguments and reasons, i.e. people who required working rules of thumb to guide them in the routine cases with which they had to deal. I suggest that the typical reader whom the authors of the Regulae had in mind was a subordinate official in the bureaux ab epistulis and a libellis. ... The subordinate officials in the bureaux would have no time for the subtleties of juristic discussion contained in such [i.e. classical commentaries on the edict and the collection of the response]works. What they wanted was a guide offering a short-cut to the official view of the law." 61 Stein hält die libri regulae des Neratius für „the basic treatment of the main matters handled by the imperial bureaux" 6 2 , die regulae der späteren Juristen seien Ergänzungen dazu gewesen. Seit der Mitte des 3. Jahrhunderts stellt er dann eine Entwicklung „from juristic rules to legislativ maximes" 6 3 fest. Während man in der klassischen Epoche unter regula eine juristische Regel verstand, die die juristische Praxis zusammenfaßte, wurde der Begriff in nachklassischer Zeit für das gebraucht, was in den kaiserlichen Konstitutionen dargelegt ist. Nicht die Autorität ihres Autors oder das Ändern der Korrektheit durch andere Juristen war fortan entscheidend, sondern daß es sich um legislative Regeln handelte, die ihre Gültigkeit dadurch erhielten, daß sie direkt vom Kaiser begründet wurden. Weiterhin stellt Stein eine Unfähigkeit der Juristen des 4./5. Jahrhundert fest, die Feinheiten der juristischen Diskussion in den klassischen Werken überhaupt zu würdigen. „As long as they could find a definite rule of respectable authority they were satisfied. So the postclassical period saw the publication of numerous abridgements of classical works, in which special prominence was given to any proposition law
59
V g l . SCHMIDLIN, D i e r ö m i s c h e n R e c h t s r e g e l n
1 2 0 . 1 2 7 - 1 3 0 . NÖRR,
4 3 . 7 4 f, p l ä d i e r t a l l e r d i n g s d a f ü r , d i e G r e n z e n d e r W e r k g a t t u n g regula
Spruchregel
n i c h t a l l z u e n g zu
z i e h e n , z u m a l d e r T e r m i n u s e r s t bei d e n S p ä t k l a s s i k e r n t e c h n i s c h w u r d e u n d e s W e r k e m i t ä h n l i c h e n G e n e r a l i s i e r u n g s t e n d e n z e n g a b , d i e a b e r n i c h t u n t e r d e m T i t e l libri rum
regula-
erschienen. 60
STEIN, R e g u l a e i u r i s 7 5 - 8 0 .
61
STEIN, R e g u l a e i u r i s 81. SCHMIDLIN h ä l t STEINS T h e s e n n i c h t f ü r z w i n g e n d , D i e
r ö m i s c h e n R e c h t s r e g e l n 128; OHME, K a n o n e k k l e s i a s t i k o s 5 4 f. 62
STEIN, R e g u l a e i u r i s 82.
63
S o d e r T i t e l d e s 7. K a p i t e l s bei STEIN, R e g u l a e iuris 1 0 9 - 1 2 3 .
1.1 In der römischen
Jurisprudenz
21
which could be regarded as a regula, in the sense of something authoritatively laid down." 6 4 Die in den libri regularum befindlichen Regeln sind in kasuistische und definierende Regeltypen zu unterteilen 6 5 . Typisch f ü r die kasuistischen Regeln ist die Einleitung mit einem Konditionalsatz, das heißt mit si. Es finden sich aber auch andere Konjunktionen wie cum, dum, ubi oder quamvis. „Die einschlägigen Fragmente [sind] von unterschiedlicher Länge. Bald bestehen sie aus einem kurzen Satz, bald ballen sich um die regula ganze Knäuel von Ergänzungen, Erklärungen und Begründungen zusammen." 6 6 Das methodische Schema, auf dem dieser Regeltyp basiert, ist immer Bedingung - Folge, es wird nur in verschiedenen A u s s a g e f o r m e n variiert. Zumeist wird die Regel im ersten Satz wiedergegeben, der sich von den erklärenden Sätzen in Diktion und Inhalt deutlich unterscheidet. Wenn mehrere Bedingungen z u s a m m e n g e k n ü p f t werden, verliert ein solcher Regelsatz an Allgemeinheit und nähert sich der Lösung von Einzelfällen an. Allerdings werden die Bedingungen stets allgemein formuliert. Übliche Subjekte sind aliquis, möglich ist auch die zweite Person oder die W e n d u n g ins unpersönliche Passiv. 6 7 Der andere Regeltyp ist die definierende Regel. Diese sind in den libri regularum unverbunden zwischen den kasuistischen Regeln eingestreut. Zwei Arten dieses Typs lassen sich unterscheiden. Die eine Gruppe leitet die Rechtsfolge weniger aus einem Sachverhalt als vielmehr aus einem Rechtsinstitut ab, das heißt, sie bestimmt „Rechtseinrichtungen durch ihre spezifischen Wesensmerkmale. Die andere umfaßt divisiones und partitiones, mit denen eine Rechtseinrichtung in ihre Unterarten verzweigt oder in ihre integralen Teile zerlegt wird." 6 8 Bei dieser Gruppe liegt die Betonung auf der Einteilung und Gliederung eines Rechtsinstitutes, ihr Zweck ist es, Überblick und Ordnung zu schaffen. Beide Arten nehmen den Standpunkt des objektiven Beobachters ein. Hier tritt die institutionelle Seite des Rechts hervor, weshalb solche Regeln auch als institutionelle Regeln bezeichnet werden können. 6 9
64 STEIN, R e g u l a e iuris 111; OHME, K a n o n e k k l e s i a s t i k o s 55: „ D e m e n t s p r i c h t d a n n das allgemeine Bedürfnis der nachklassischen Zeit nach regulae, Generalisierungen und e p i t o m a i . " A u c h e r b e s t i m m t sie e h e r in d e n R a u m d e r R e c h t s f i n d u n g als in d e n d e r R e c h t s s e t z u n g , K a n o n e k k l e s i a s t i k o s 58. 65 SCHMIDLIN k e n n t d a r ü b e r h i n a u s n o c h die regulae a u s R e s k r i p t e n , d i e a b e r v o n d e r S t r u k t u r d e r A u s s a g e h e r i d e n t i s c h m i t d e n k a s u i s t i s c h e n R e g e l n s i n d u n d sich n u r d u r c h ihre G e l t u n g s g r u n d l a g e v o n d e n a n d e r e n u n t e r s c h e i d e n , D i e r ö m i s c h e n R e c h t s r e g e l n
141 f. 66
67
SCHMIDLIN, D i e r ö m i s c h e n R e c h t s r e g e l n 131. SCHMIDLIN, D i e r ö m i s c h e n R e c h t s r e g e l n 131-138.
68
SCHMIDLIN, D i e r ö m i s c h e n R e c h t s r e g e l n 138.
69
SCHMIDLIN, D i e r ö m i s c h e n R e c h t s r e g e l n 139 f.
22
/. Zum Begriff
regula
Sowohl die kasuistischen als auch die definierenden Regeln werden der Bedeutung regula gerecht, „denn beide sind auf ihre Weise Richtmaß und Leitsatz, die kasuistischen Regeln in der dynamischen Perspektive der Rechtsanwendung, die definierende Regel in der statischen Perspektive des Rechtsaufbaus." 7 0 Sobald aber den kasuistischen Regeln der normative Charakter abgestritten wird, erscheint diese Regelgruppe von ihrer Bindewirkung her als eine besondere. Nimmt man allerdings die rechtsschöpferische auctoritas der Juristen ernst und sieht auch das Juristenrecht als Rechtsquelle an, so bleibt allenfalls ein quantitativer Unterschied der Normativität zwischen den regulae der Juristen und denen des Kaisers. 71 1.1.4 Regula im kirchenrechtlichen
Bereich
In kirchlichen Vorschriften wurden die Bezeichnungen xavcbv und regula erst im 5. und 6. Jahrhundert verwendet, dort besonders in der griechischen Rechtssprache der Novellen Iustinians. Eine Konstitution des Kaisers Marcianus über eine vom Kleriker abzugebende nicht-eidliche cautio stellt den ältesten Beleg für den lateinischen Sprachgebrauch von ecclesiasticae regulae dar: clericus lite pulsatus, det executori pro residua quantitate cautionem suam, cui nulluni tarnen insertum erit iusiurandum, quia ecclesiasticis regulis et canone a beatissimis episcopis antiquitus institutio clerici iurare prohibentur12. Ohme hält den singularischen Kanon-Begriff für einen kirchlichen Normenbegriff für das in der Kirche absolut Maßgebliche, das sich aus den Normen des Evangeliums und der apostolischen Weisungen herleitet. Die regulae ecclesiastici seien als die in Geltung stehenden kirchlichen Normen, die nicht auf Synodalkanones zu reduzieren sind, zu verstehen. 73 Eine Stelle der Novellen Iustinians, in denen die kirchlichen Kanones häufig Niederschlag fanden, bezeichnet Mönchsregeln als |xovaXixoi xavöveg 7 4 , benutzt allerdings im Lateinischen nicht den Terminus regulae monarchorum. Hier wird Bezug auf die Mönchskanones von Chalkedon genommen, die zum Teil erweitert, präzisiert, mit älteren Synodalbestimmungen kombiniert und so auf einem zweiten, offiziellen Weg zur Gültigkeit und Verbreitung gebracht wurden. Iustinian fühlte die Verpflichtung - parallel zu den Klerikern und Bischöfen betreffenden Verord-
70
SCHMIDLIN, D i e r ö m i s c h e n R e c h t s r e g e l n 140.
71
NÖRR, S p r u c h r e g e l 7 7 ; zu h i n t e r f r a g e n ist hier, o b NÖRR d i e auctoritas
e r n s t g e n u g n i m m t . Ist e s d o c h f r a g l i c h , o b d i e s e e i n e auctoritas
des Kaisers
der Juristen gleichbe-
r e c h t i g t n e b e n sich z u l ä ß t . 72
C o r p u s I u r i s C i v i l i s , C o d e x I u s t i n i a n u s I 3, 2 5 , l b , (21 KRÜGER).
73
OHME, K a n o n e k k l e s i a s t i k o s 4 7 f.
74
C o r p u s Iuris C i v i l e , N o v e l l a e C X X I I I 3 6 ( 6 1 9 f SCHOELLE/KROL).
1.1 In der römischen
Jurisprudenz
23
nungen auch im Bereich der Klöster ordnend einzugreifen. 7 5 Weiter findet sich bei Iustinian eine relativ strikte Trennung von vöftog und xavdbv, bei der xavcbv der kirchenrechtlichen Bedeutung auch in der kaiserlichen Rechtssprache reserviert blieb. Die Trennung war allerdings auf die Rechtsterminologie beschränkt. „Für Justinian bestand die Konsequenz einer so gearteten staatlichen Anerkennung der bestehenden kirchlichen Vorschriften hinsichtlich der erkannten Rechtslücken dann in der Schaffung eines umfangreichen kirchlichen Verwaltungsrechtes." 7 6 Betrachtet man die Bezeichnung der regulae im griechischsprachigen Osten des römischen Reiches, so fällt die allein erhaltene griechische Fassung des Index Florentinus, auf, der Werke enthält, die in den Digesten Aufnahme fanden. Dort blieb bei der Wiedergabe der Buchtitel der regula-Begriff unübersetzt, zum Beispiel N e g a t i c u regularion ß i ß / i a öexajtevxe 7 7 . „Die Beibehaltung des lateinischen Terminus regula in der griechischen Übersetzung der Werktitel ist wohl nicht nur unter die bekannte beherrschende Stellung der Latinität in der Jurisprudenz Ostroms zu verbuchen, vielmehr scheint es sich hier auch um einen jener Latinismen der juristischen Fachterminologie zu handeln, die als Lehn- und Fremdwörter im griechischen Osten für Rechtsinstitutionen und Rechtsfälle Verwendung fanden, die einer genauen sprachlichen Entsprechung entbehrten ... Der Begriff regula, für ein Rechtsinstitut der römischen Jurisprudenz ursprünglich unter dem Einfluß griechischer Wissenschaftstheorie und u.a. des dortigen Kanon-Begriffes aufgekommen, wird demnach als juristischer römischer Fachterminus nicht ohne weiteres im griechischen Osten in den griechischen Begriff xuvcov aufgelöst." 78
75 Vgl. G. JENAL, Italia ascetica atque monastica. Das Asketen- und Mönchtum in Italien von den Anfängen bis zur Zeit der Langobarden (ca. 150/250-604) II, MGMA 39/2, Stuttgart 1995. 811 f, vgl. auch 786-804. Da es sich um Konzilskanones handelt, kann hier aus Gründen des Umfangs nicht näher darauf eingegangen werden. 76 OHME, Kanon ekklesiastikos 49 f. 77 Corpus Iuris Civilis, Digesta, Index Auctorum VIII 1 (25 M./K.); vgl. a. Nr. XI 8 (25 M./K.); XVIII 4 (25 M./K.); XX 11 (26 M./K.). 78 OHME, Kanon ekklesiastikos 57. Der Index der Digesten stellte aber ein höchst offizielles Zeugnis dar und xavobv als Übersetzungswort für regula war in der weiteren Literatur des 6. Jahrhundert durchaus üblich. OHME wendet sich damit gegen OPPELS These, der behauptete, es habe keine griechischsprachige Entsprechung für regula gegeben, Kavcöv 100, - zumindest für die nachklassische Zeit weist OHME dies nach.
24
/. Zum Begriff
regula
1.2 Regula als Begriff der altkirchlichen Theologie 1.2.1 Regula in der lateinischen
Bibelübersetzung79
Der Begriff regula spielt in der Bibel, sowohl im Alten Testament als auch im Neuen Testament, ähnlich dem griechischen xavcöv keine große Rolle 80 . Zu einem großen Teil decken sich die bisher gemachten Feststellungen, da es sich eben um eine Übersetzung handelt, die dem Begriff xavcov entsprechen mußte. Da das Hauptaugenmerk dieser Untersuchung auf dem Begriff beziehungsweise der Gattung regula liegt, braucht auf xavcov nur am Rande eingegangen werden. Im Alten Testament findet sich regula in Lev 19, 35 in regula pondere in mensuram. Der Terminus ist in seiner ursprünglichsten Konnotation, nämlich der des bauhandwerklichen Maßstabs gemeint. In Jos 7, 21.24 ist die Rede von einem Goldstab. Auch hier geht es um die ursprüngliche Bedeutung Latte, Leiste, Stab. Der gleiche Bedeutungszusammenhang ist in 1 Sam 6, 35 anzutreffen. 8 1 Für das Alte Testament ist also nur die ursprüngliche Wortbedeutung von regula bekannt. Hierbei handelt es sich um eine Übersetzung des hebräischen i"Op. Das griechische xavtöv dient übrigens an keiner Stelle der Septuaginta als Übersetzung dieses Begriffs. Im Gegensatz zum lateinischen regula hatte xavcbv anscheinend sein ursprüngliches Bedeutungsspektrum verloren. Die Stellen, an denen xavcov in der LXX verwendet wird, decken sich daher auch nicht mit denen, bei denen regula in der lateinischen Übersetzung auftaucht. 8 2 Im Neuen Testament hingegen entsprechen sich die xavcbv-regulaStellen völlig. Hier liegt also eine Übersetzung vor. Aber auch im Neuen Testament ist xavcov beziehungsweise regula kein Kernbegriff, sondern insgesamt nur vier (fünf) Mal im paulinischen Schrifttum zu finden. 8 3 In Gal 6, 16 Vg. et quicumque hanc regulam secuti fuerint ist ein Grundsatz, eine Merkregel gemeint. Hier liegt die erste Erwähnung des Begriffs in der christlichen Literatur vor. Die Richtschnur und der Maßstab für ein christliches Leben wird in einer kurzen Merkregel zusammengefaßt, die eigentlich mehr als eine Merkregel ist: nämlich eine komprimierte Darlegung der
79 Ab der Mitte des 2. Jahrhunderts gibt es Zeugnisse für ein lateinisches Neues Testament, ebenso sind ab dem Ende des 2. Jahrhundert christliche Übersetzungen der alttestamentlichen Texte bezeugt. Die Vulgata, die erst im 4. Jahrhundert entstand, greift auf diese Vetus Latina zurück bzw. Ubersetzt neu. Vgl. O.B. KNOCH / K. SCHOLTISSEK, Art. Bibel. VII. Bibelübersetzung. 1. Die alten Übersetzungen des AT und NT, LThK II, Freiburg u.a. 3 1994, 383. 80 Vgl. OHME, Kanon ekklesiastikos 29 f.37. 81 Siehe auch oben 9. 82 Vgl. dazu auch OHME, Kanon ekklesiastikos 29 f. 83 OHME, Kanon ekklesiastikos 37.
1.2 Als Begriff der altkirchlichen
Theologie
25
Kernaussage des paulinischen Schrifttums in paränetischer und polemischer Ausrichtung. 84 Ohme bezeichnet den Vers 15b als die Spitze des Briefes und argumentiert, daß die Einführung des Kanon-Begriffs (damit auch des regula-Begriffs) im Spitzensatz des Galaterbriefes „eine grundlegende Norm [benennt], durch die eine Grenze gezogen wird gegenüber jeder Verfälschung der Wahrheit des Evangeliums (2,5.14) im Kern." 85 Mit dem ersten Auftreten des Kanon-Begriffs im christlichen Sprachgebrauch wird also sogleich die Frage nach dem unaufgebbaren Kern der Wahrheit des Evangeliums gestellt. Für die Bewahrung der Wahrheit benennt der xavcov / die regula somit die maßgebliche Richtschnur und Norm. 8 6 In manchen Handschriften von Phil 3, 16 ist der Begriff xavcov beziehungsweise regula enthalten: et in eadem permaneamus regulam. Dies entspricht dem antinomistischen und paränetischen Sprachgebrauch von Gal 6, 16.87 Es geht darum, die eingeschlagene Richtung beizubehalten. Im zehnten Kapitel des zweiten Korintherbriefs findet sich regula bzw. xavcbv gleich dreimal in den Versen 13-16. Hier ist von einem Maßstab, den Gott Paulus zugeteilt hat, die Rede: sed secundum mensuram regulae quam mensus est nobis Deus. Über die Bedeutung des Kavdiv-regulaBegriffs an dieser Stelle herrscht Uneinigkeit, allerdings hat sich in der deutschen Exegese eine theologische Interpretation herauskristallisiert, die sich an der Grundbedeutung Maßstab (und nicht Längenmaß wie zum Beispiel in der englischsprachigen Exegese) orientiert 88 . Der Kontext ist auch hier wieder apologetisch-polemischer Natur. Paulus verteidigt seine apostolische Vollmacht und Autorität vor der Gemeinde von Korinth und weist Angriffe gegen seine Person zurück. Die Verwendung von x a v w v / regula im Sinne von Maßstab geschieht allerdings in paulinischer Verdichtung. Er benutzt den Begriff, um den apostolischen Anspruch und den des von ihm Verkündeten normativ festzuschreiben. Der von Gott Paulus zugemessene xavcov / regula ist eine im Erwähnungshandeln Gottes begründete richtungsweisende Norm, die seine Priorität legitimiert. 89 In der Benutzung des Begriffs ist vom Alten Testament zum Neuen Testament folglich eine Entwicklung festzustellen, die der im juristischen Bereich entspricht: vom konkreten Gegenstand - dem Werkzeug - zum abstrakten Maßstab.
84 85 86 87 88 89
OHME, Kanon ekklesiastikos 37 f. OHME, Kanon ekklesiastikos 39. OHME, Kanon ekklesiastikos 40. OHME, Kanon ekklesiastikos 40. Vgl. OHME, Kanon ekklesiastikos 41-43. OHME, Kanon ekklesiastikos 44.
26 1.2.2 Regula fidei bzw. regula
I. Zum Begriff
regula
veritatis
Der Begriff regula fidei (bzw. regula veritatis mit den griechischen Entsprechungen xavcbv xfjg dA/r|6eiag oder xavcbv xfjg jciaxecog gehört zu den wichtigen theologischen Konzepten des 2. und 3. Jahrhunderts Neben dem Kanon-Begriff gewann damit auch der lateinische regula-Ausdruck eine spezifische Bedeutung im Vorgang der Bekenntnisbildung. Hier findet sich die frühkirchliche Wortbedeutung des Begriffs Kanon als dogmatisches Grundmuster der Glaubenswahrheit. Andere Bedeutungen wie die der Konzilskanones oder die des Bibelkanons stammen erst aus späterer Zeit (4. Jahrhundert). 9 0 Es ging nun zunächst nicht um einzelne Bekenntnisformeln, sondern um den Bekenntnisakt, der eine verbindliche Erklärung darstellte. Sein Inhalt war keine Aufzählung von Überlieferung und Lehren, sondern eine kurze und unmißverständliche Bezeichnung Jesu Christi, auf den sich der christliche Glaube richtet. Während im jüdischen Kulturbereich das Bekenntnis an den einen Gott mitgedacht wurde, mußte es im hellenistischen Bereich ausdrücklich einbezogen werden. Vom Bekenntnis, das sich „auf den erhöhten und lebendigen Herrn in seiner gegenwärtigen Stellung und Funktion" 91 bezieht, zu unterscheiden ist die Glaubensformel, welche primär in der Vergangenheit redet und zurückblickt auf das, was geschehen ist; dabei stehen Jesu Tod und Auferstehung im Vordergrund, sind aber nicht der einzige Inhalt. Auch Menschwerdung und Erhöhung werden thematisiert. „In jedem Fall hat die Glaubensformel gegenüber dem Bekenntnis im engeren Sinn ,explikative Funktion', insofern sie, als Basis für das Bekenntnis, Gottes eigenes Handeln in Christus aufweist und bezeugt." 9 2 Sobald sich in den christlichen Gemeinden Gegensätze und theologische Auseinandersetzung zeigten, die zur Aufhebung der Gemeinschaft hätten führen können, trat die Glaubensformel in den Vordergrund. Hauptfunktion des Bekenntnisses wurde die innerchristlichen Grenzziehung und Sammlung. 9 3 In der Theologie der ersten Jahrhunderte spielte der Begriff der Glaubensregel eine wichtige Rolle, meinte aber nicht das Symbol oder die Glaubensformel, sondern die Autorität des apostolischen Kerygmas in der kirchlichen Vermittlungsgestalt, somit also das inhaltlich umrissene Glaubensbekenntnis der Kirche selbst. Die Glaubensregel leitete sich ab aus dem Bekenntnis der
90 Vgl. OHME, Kanon ekklesiastikos 2 f. Diese Bedeutungsebenen des Kanonbegriffs werden hier nicht weiter in Augenschein genommen, da sich die vorliegende Untersuchung auf den Begriff regula und dessen Entsprechungen in der Kanonterminologie bezieht. 91 A.-M. RITTER, Art. Glaubensbekenntnis(se) V., TRE XIII, Berlin/New York 1984, 401. 92 RITTER, Glaubensbekenntnis(se) 401. 93 RITTER, Glaubensbekenntnis(se) 400 f.
1.2 Als Begriff der altkirchlichen
Theologie
27
Gemeindemitglieder, mit welchem das Heilshandeln Gottes aufgenommen und beantwortet wurde. Eingeschlossen war die Verpflichtung, Glauben und Leben durch das von den Aposteln verkündete Wort normieren zu lassen und unverfälscht gegenüber allen Häresien zu bewahren. 94 „Wenn die Kirchenväter von der ,regula fidei' oder ,regula veritatis' reden, setzen sie damit voraus, daß der Inhalt des Christentums eine von Anfang an bestimmte (wenn auch nicht immer fest formulierte) Lehre, ein fixiertes Lehrganzes ist, von dem aus nicht nur über alle anderen Lehrsätze und häretischen Sondermeinungen, sondern auch im absoluten Sinn über Wahres und Falsches überhaupt geurteilt werden kann." 95 Die Füllung des Begriffs regula fidei bzw. regula veritatis durch Irenäus von Lyon, Tertullian, Clemens von Alexandrien, Origenes und Novatian ist im folgenden näher zu beleuchten. 1.2.2.1 Irenäus von Lyon Bei Irenäus von Lyon sind die ältesten sicheren Bezüge auf die regula veritatis zu finden 9 6 . Regula veritatis ist dabei in der Schrift Adversus Haereses eine spezifische und wörtliche Übersetzung eines ausgesprochen speziellen Begriffs - xavcbv xrjg a^r]6eiag - , ein Terminus, den Irenäus durchgängig verwendet. Darin folgt er dem klassischen Sprachgebrauch, da er xavcbv / regula im Sinne von Maßstab, Richtscheit und Vorbild benutzt. 9 7 Die Frage nach der Deutung des Genitivs wird heute allgemein als Genitiv Attribut und nicht als Genitivus obiectivus verstanden. Es geht um „die Glaubenswahrheit, nicht aber [um eine] Regel für den Glauben." 9 8 Die Wahrheit stellt also selbst die Regel dar, die Richtschnur und Norm bei der Verkündigung, Schriftauslegung und Lösung von Fragen der Lehre ist: 94
W. BEINERT, Art. Regula fidei, LThK VIII, Freiburg u.a. 3 1999, 976. B. HÄGGLUND, Die Bedeutung der regula fidei als Grundlage theologischer Aussagen, StTh 12, 1958, 2. 96 A. EBNETER, Die ,Glaubensregel' des Irenäus als ökumenisches Regulativ, in: Unterwegs zur Einheit, FS H. STIRNIMANN, hrsg. von J. BRANTSCHEN / P. SELVATICA, Freiburg/Wien 1980, 589 Anm. 7, weist daraufhin, daß der Ausdruck Wahrheitsregel oder Glaubensregel schon vor Irenäus geprägt worden sein dürfte. In der Kirchengeschichte des Eusebius finden sich Aussagen, wonach sich jemand auf dem Boden der Glaubensbzw. Wahrheitsregel sieht. Vgl. Eus, h.e. IV 33, 4 (SC 31, 203 BARDY) oder h.e. V 24, 6 (68 B.). Allerdings ist nicht sicher ob diese Formeln von Eusebius oder den jeweils genannten Personen (Dionysius von Korinth [um 170] und Polykrates von Ephesus) stammen. 97 OHME, Kanon ekklesiastikos 61-63; Adversus Haereses ist im griechischen Original nur in Fragmenten erhalten. Die lateinische Übersetzung ist aber sehr wörtlich: U. HAMM, Art. Irenäus von Lyon, LACL, Freiburg u.a. 2002, 351. Die Übersetzung von xavtbv xfjc; aVr|0eiac; mit regula veritatis wird vor allem durch Iren., haer. I 9, 4 (FC (8/1,194 BROX) belegt. 98 ELDERS, Art. Regula fidei, LMA VII, München 1995, 605; vgl. EBNETER, Glaubensregel 591. 95
28
1. Zum Begriff
regula
Habentes itaque regulam ipsam veritatem et in aperto positum de Deo testimonium". „Der Wahrheitsbegriff wird bei Irenaus durch den Gegensatz zu den Spekulationen der Gnostiker scharf umrissen. Es gibt nur eine Lehre von Gott, nur eine Botschaft des Heils, die wahrhaft ist, das heißt die in dem tatsächlichen Geschehen, in der Wirklichkeit selbst gegründet ist." 100 Der Wahrheitsbegriff ist für Irenaus nicht etwas, das erst im Glauben des einzelnen Christen zur Wahrheit wird, sondern etwas, das klar bezeugt ist und sich tatsächlich ereignet hat. Glaube und Wahrheit gehören unmittelbar zusammen: Sie bewirken die Einsicht der Dinge; die Wahrheit führt zum Glauben. Diese Wahrheit empfängt der Christ in enger Verbindung mit der Taufe. 101 Die Richtschnur der Wahrheit kann nur bestehen durch ihre Beziehung zum Wirklichen, ansonsten würde sie der Willkür unterliegen. Damit orientiert sie sich an den tatsächlich geoffenbarten Heilstatsachen, welche den entscheidenden Maßstab und die Richtschnur bilden. In diesem Zusammenhang geht es dann auch um Wahrheit im absoluten Sinn, allerdings darf nicht übersehen werden, daß Irenäus' Wahrheitsbegriff immer im Kontext des Kampfes gegen die Gnosis steht und der Kennzeichnung der Orthodoxie dient. 102 Die gnostischen Lehren und Mythologien sind für ihn völlig unverständlich, die Vernunft erweist ihre Unsinnigkeit. Auf dem Hintergrund der Häresien versucht Irenäus den Gnostikern die Bedeutung des sachgemäßen, zur Erkenntnis der Wahrheit führenden Verstehens der Schrift zu verdeutlichen. Bei diesem Grundkonflikt um die wahren hermeneutischen Prinzipien zum Verständnis der Schrift hat der xuvo'tv kritische Funktion, ist aber kein exegetisches Prinzip, sondern meint das Gesamt der Schrift. 103 Eine solche regula veritatis kann nicht aus einem einzelnen Text bestehen, sondern sie ist die Richtschnur der Verkündigung und steht von Anfang an fest. An ihr kann gemessen und beurteilt werden, da sie gerade ist. Es geht hier also um den Glaubensinhalt selbst, da sich die Wahrheit als solche auf die Offenbarung bezieht, welche hinter der Schrift und der Verkündigung der Kirche steckt. Den Terminus regula veritatis verwendet Irenäus allerdings sowohl zur Bezeichnung des Taufbekenntnisses als auch der
99
Iren., haer. II 28, 1; v g l . I 22, 1, (FChr 8/1 + 8/2, 2 2 4 . 2 8 6 B . ) .
' 0 0 HAGGLUND, R e g u l a fidei 8. 101
Iren., E p i d e i x i s . 3 ( F C 8/1, 3 4 f BROX). D i e in der älteren Forschung vertretene
G l e i c h s e t z u n g von T a u f s y m b o l und x a v w v t f j g a ^ O e t a ? . ist aber nicht mehr haltbar. V i e l m e h r geht e s hier w o h l um die T a u f k a t e c h e s e , in der der Christ das K e r y g m a e m p fängt und darin u n t e r w i e s e n wird. S. dazu OHME, K a n o n e k k l e s i a s t i k o s 6 3 . 102
OHME, Kanon e k k l e s i a s t i k o s 6 6 f; vgl. auch N . BROX, Einführung in A d v e r s u s
H a e r e s e s , in: Irenäus v o n L y o n , E p i d e i x i s . A d v e r s u s H a e r e s e s , übersetzt und e i n g e l e i t e t von N. BROX, FChr 8/1, Freiburg u.a. 1 9 9 3 , 2 8 4 A n m . 9 2 . 103
Iren., haer. I 9, 4 - 1 0 ( 1 9 3 - 1 9 6 B.).
1.2 Als Begriff der altkirchlichen
Theologie
29
Heilige Schrift. Wichtig hierbei ist, daß die regula veritatis dies alles enthält, weshalb sie mit der einen oder anderen Größe gleichgestellt werden kann, ohne gleich identisch zu sein. Die Richtschnur der Wahrheit ist Summe dessen, was Christus gelehrt hat, die Apostel überliefert haben und in der apostolischen Tradition weitergegeben wird, das heißt, der bündige Ausdruck dessen, was zu allen Zeiten und an allen Orten von der christlichen Kirche verkündet wird. Damit ist sie auch der Glaube selbst. Der Nachweis der Tradition zeigt dabei, daß sich die Wahrheit gradlinig in der Kirche fortsetzt. 104 Die Richtschnur der Wahrheit ist also sowohl Summe der Wahrheit auf der inhaltlichen Ebene als auch ihre Grenze auf der formalen Ebene. Sie ist alles, was zur Wahrheit gehört und damit nicht nur Synonym, sondern Gegenwärtigkeit und Fülle der Wahrheit in kritischer Funktion. In diesem Sinne besitzt regula eine unumstößliche Verbindlichkeit, die sich in Brox' Übersetzung dann wiederspiegelt, wenn er den Terminus mit Norm wiedergibt 105 . Ohme sieht auch „sittliche Verpflichtung" und „dogmatische Norm" in Hinsicht auf Irenäus' Wahrheitsbegriff eng aufeinander bezogen. „Der gesamte Bereich der Gesinnung, des Lebenswandels und der Gebräuche ist hier also engstens der ... fides zugeordnet. Auch wenn sich formal eine Trennung von fides und consuetudo usw. durch die sprachliche Neuordnung der letzteren hinter die fides vertreten ließe, so ist die gelobte Weisheit des Wandels propter fidem unmittelbar dazugehörig." 106 1.2.2.2
Tertullian
Auch bei Tertullian, der einzelne theologische Themen in der Auseinandersetzung mit Heidentum und Häresie klärte, finden sich die Begriffe regula und regula fidei wieder, hier mit noch größerer Bedeutung als bei Irenäus. In seinem Werk findet sich eine Fülle von Wortverbindungen mit regula, insgesamt benutzt er das Wort 81 mal. Das Wort xavcov hingegen benutzt er nicht. Da, wo eine Verwendung naheliegend wäre, wird es mit regula übersetzt. Hier liegt die Übersetzung eines griechischen Terminus mit einem eigenständigen, durch die längere Geschichte geprägten lateinischen Begriff vor. Aber es wäre übertrieben, hinter jeder Verwendung von 104
HÄGGLUND, Regula fidei 1 0 - 1 5 führt genau aus, in w e l c h e m Verhältnis die Größen zueinander stehen. Auf den Seiten 1 5 - 1 7 erhellt er das Verhältnis von regula veritatis und Tradition; vgl. auch RITTER, Glaubensbekenntnis(se) 401; HAMM, Irenäus von Lyon 354; EBNETER, Glaubensregel 5 9 5 - 6 0 0 . Nach b e k e n n t n i s h a f t e n F o r m e l n zu suchen, kann daher nicht im Sinn des von Irenäus A n g e d a c h t e n sein. So aber RITTER, Glaubensbekenntnis(se) 4 0 3 f. 105 BROX, Adversus Haereses 107 f, zur Übersetzung vgl. Iren., haer. I, 22, 1 f ( 2 8 4 2 8 6 B.). 106 OHME, Kanon ekklesiastikos 74, siehe auch 77, hebt hervor, daß wegen der vordringlichen B e s c h ä f t i g u n g mit der Wiederlegung des gnostischen L e h r g e b ä u d e s diese Bereiche nicht im Vordergrund der irenäischen Reflexionen stehen.
30
1. Zum Begriff
regula
regula ein griechisches Pendant im Sinne von xavcov versteckt zu sehen. Auf die Eigenprägung des regw/a-Begriffs im lateinischsprachigen Raum ist bereits hingewiesen worden 1 0 7 . Gerade bei Tertullian sollte auch die juristische Prägung des Begriffs bedacht werden. Im Gegensatz zu den Texten des Irenäus handelt es sich also hier nicht einfach um eine Übersetzung. Vielmehr sind die Begriffe nicht immer deckungsgleich, und regula kann eine Vokabel mit eigener Dynamik sein. 108 Unter dem Ausdruck regula fidei versteht Tertullian zunächst einmal aber das gleiche wie Irenäus unter xavcov xfjg aXr|0eiag, nämlich den Bestand der Lehre, wie sie in der Kirche durch die Schrift und Tradition weitergegeben wird. 109 Wahrheit kann bei Tertullian nur über die Offenbarung und nicht mittels klassischer Bildung erlangt werden. Da der Mensch als Abbild Gottes aber vernünftigen Argumenten aus Natur und Logik zugänglich ist, dienen die über die klassische Bildung vermittelten Einsichten der Vorbereitung auf den Empfang der Offenbarung. Aus dieser Erkenntnistheorie ergibt sich für Tertullian, daß der Maßstab für die christliche Wahrheit die regula fidei ist. 110 Für ihn „ist der sachliche Inhalt der regula fidei die Lehre der Kirche, die in der Taufe bekannt wird; formal ist sie der Glaube der Kirche." 111 Regula quidem fidei una omnino est, sola immobilis et irreformabilis, credendi scilicet in unicum deum omnipotentem, mundi conditorem, et filium eius Iesum Christum, natum ex virgine Maria, crucifixum sub Pontio Pilato, tertia die resuscitatum a mortuis, receptum in caelis, sedentem nunc ad dexteram patris, venturum iudicare vivos et mortuos per carnis etiam resurrectionem. Hoc lege fidei manente cetera iam disciplinae et conversationis admittunt novitatem correctionis, operante scilicet et proficient usque in finem gratia dei.ln Die regula fidei ist inhaltlich also ganz auf den ersten und zweiten Glaubensartikel bezogen und wurde von Christus eingesetzt, welcher sie von Gott selbst erhalten und den Aposteln und damit der Kirche überliefert hat. Da die Lehre eine von außen an den Menschen herankommende Of107
Siehe Kap. 1.1.1 Ursprünge in der Rechtspraxis, oben 9 f.
108
OHME, K a n o n e k k l e s i a s t i k o s 7 9 - 8 2 .
109
J.N.D. KELLY, Altchristliche Glaubensbekenntnisse, 3. überarbeitete Aufl. London 1972, 86 f. 110
E . SCHULZ-FLÜGEL, T e r t u l l i a n , L A C L , F r e i b u r g u.a. 2 0 0 2 , 6 7 1 .
111
ELDERS, Regula fidei 605. Tert., Virg. 1, 4 f (CSEL 76, 79 f BULHART); vgl. auch Praescr. XIII 6 (SC 46,
112
106 f REFOULE/LABRIOLLE). KELLY, A l t c h r i s t l i c h e G l a u b e n s b e k e n n t n i s s e 8 9 - 9 1 , ist v o r
allem unter Verweis auf Praescr. XIII (SC 46, 106 f) der Meinung, daß es sich nicht um ein binitrarisches, sondern um ein trinitarisches Glaubensbekenntnis handelt. Außerdem weist er daraufhin, daß sich gerade hier bei Tertullian polemische Interessen widerspiegeln, da Streitpunkte ausgedrückt werden, die die Kirche mit der Gnosis ausfocht.
1.2 Als Begriff der altkirchlichen
Theologii
31
fenbarung ist, ist der Glaube an sie wie eine régula fidei gebunden und allein auf sie bezogen; folglich wird sie auch als lex fidei113 bezeichnet aber auch hier nicht konkret in einem bestimmten Text faßbar. Tertullian betont also stärker als Irenaus ihren bindenden Charakter als einzig wahrhafte Norm der Heilslehre. „Die Befolgung dieses Glaubensgesetzes ist heilsnotwendig." 114 Ohme, der die Benutzung des Wortes streng zwischen dem katholischen und dem montanistischen Tertullian unterscheidet, stellt fest, daß beim montanistischen die régula fidei häufig in Hinsicht auf eine Veränderung der disciplina benutzt wird, während beim katholischen noch der Kontext der antihäretischen Polemik im Vordergrund stand. In De praescriptione haereticorum weist er den Anspruch aller christlichen Richtungen - außer der der Großkirche - auf die Wahrheit zurück. Nur die Großkirche befinde sich im rechtmäßigen Besitz der christlichen Wahrheit und der Heiligen Schrift, da sie sich auf die auf der Apostolizität beruhende régula fidei als Maßstab berufen kann. 115 In der montanistischen Zeit fällt auf, wie der inhaltliche Rahmen der régula fidei unter den Stichworten omnis ordo regulae und plenitudo der apostolischen Verkündigung überschritten wird, womit apostolische Paränesen, conversatio der Gemeinden und unius institutionis iura in den Blick geraten. In diesem Zusammenhang kann die „disciplina auch als ,congruens' ausführlich gewürdigt [werden] (Praescr. 41-44), denn in der disciplina hat die conversatio der Kirche ihre wahrheitsbestimmte Norm." 1 1 6 Der Begriff régula veritatis - der übrigens nur dreimal bei Tertullian auftaucht - steht dann wieder ganz im Kontext der antihäretischen Auseinandersetzungen. Expedite autem praescribimus adulteris nostris illam esse regulam veritatis, quae veniat a Christo transmissa per comités ipsius, quitus aliquanto posteriores diversi isti commentatores probabuntur. Omnia adversus veritatem de ipsa veritate constructa sunt, operantibus aemulationem istam spiritibus erroris.nl Der Begriff ist aber für Ohme nicht deckungsgleich mit der régula fidei. Während régula fidei die normativen Glaubensinhalte des ersten und zweiten Artikels umfasse, „scheint die régula veritatis das Gesamt des Normativen für Glauben und Leben der Christen und die Ordnung der Kirche zu umfassen. Tertullian scheint auch in diesem Sinne von dem omnis ordo 113 Zur Gleichsetzung von lex und regula vgl. auch die Ausführungen zu Cicero, oben 14-16. 114 OHME, Kanon ekklesiastikos 117; vgl. auch HÄGGELUND, Regula fidei 20 f, und SCHULZ-FLÜGEL, Tertullian 671; auch KELLY, Altchristliche Glaubensbekenntnisse 87, betont, daß Tertullian mit größerer Deutlichkeit den Lehrgehalt der Regel heraushebt. 115 Tert., Praescr. XIII 6 (106 f R./P.); vgl. SCHULZ-FLÜGEL, Tertullian 669. 116 OHME, Kanon ekklesiastikos 117. 117 Tert., Apol. XLVII 10 f (CSEL 69, 111 HOPPE).
32
I. Zum Begriff
regula
regulae als dem Gesamt des Maßgeblichen in der Kirche reden zu könn e n . " " 8 Ohme erklärt dies im Rückgriff auf Tertullians Wahrheitsbegriff und auf die Beschränkung der regula im genannten Sinn. Ein solches Verständnis der regula veritatis zeichne sich dadurch aus, daß es fides und disciplina einschließen und auf den Punkt bringen könne. Im Unterschied zu Irenäus trete bei Tertullian der Begriff regula veritatis auch in den Hintergrund, da es ihm vielmehr darum gehe, fides und disciplina theologisch gegeneinander abzugrenzen, um so die Modifizierung der disciplina vertreten zu können. Daher trete der Begriff disciplina bei ihm in den Vordergrund und bekomme Bedeutung für die Frage nach der regula.U9 Tertullian nennt darüber hinaus die kennzeichnenden Züge der regula fidei: ihr göttlicher Ursprung, ihre Priorität und ihre Totalität. Da sich die regula auf das Heilsgeschehen bezieht, von dem in der Schrift berichtet wird, ist ihr Urheber Gott selbst. Der Prioritätsbeweis richtet sich gegen heidnische Philosophien und Häresien. Die Lehre der Propheten ist älter als diese, und sie ist zudem ursprünglich, was sie als wahr kennzeichnet. Das Merkmal der Totalität läßt die regula fidei die ganze Wahrheit enthalten. Über diese hinaus darf nicht gefragt und geforscht werden, da sie bereits vollendet und umfassend ist. Hier geht es nicht um die Quantität, sondern um die Qualität der Gotteserkenntnis. 1 2 0 Tertullian stellt zwar am häufigsten die regula fidei mit der Gesamtheit der christlichen Lehre gleich, kann den Begriff aber auch für einzelne Dogmen, einzelne Teile der regula fidei oder auch die Lehren der Häretiker verwenden, womit die Benutzung auf den gesamten Bereich des Lehrhaften ausgeweitet wird. Dies soll aber nicht die Normativität der regula fidei schmälern. In diesem Zusammenhang zieht Tertullian daher auch den Terminus lex heran, um die Normativität stärker zu unterstreichen, im Vergleich zu Irenäus eine Neuerung. 1 2 1 118
OHME, Kanon ekklesiastikos 118. OHME, Kanon ekklesiastikos 1 1 8 - 1 2 1 . Der Begriff regula spielt darüber hinaus eine wichtige Rolle f ü r die Konkretionen der christlichen disciplina im Sinne des M a ß g e b lichen und Normativen und wird zur B e z e i c h n u n g von Vorschriften aus allen Bereichen der disciplina. Ferner weist OHME auch auf den pluralischen Gebrauch des T e r m i n u s in diesem Kontext hin, erklärt aber ausdrücklich, daß es nur eine Glaubens- und Wahrheitsnorm geben kann. Er plädiert allerdings dafür, die verbale P r ä g u n g in ihrer B e d e u t u n g nicht zu unterschätzen. 119
120 Vgl. HÄGGLUND, Regula fidei 2 1 - 2 9 , der die genannten M e r k m a l e sehr genau untersucht. 121 OHME, Kanon ekklesiastikos 118 f; HÄGGLUND, Regula fidei 21, weist daraufhin, daß Tertullian auch den Plural regulae benutzt, um das G e s a m t aller christlichen Lehren zu bezeichnen. EBNETER, Glaubensregel 590, führt an, daß auch schon Irenäus den Plural regulae verwendete, um damit die A n s c h a u u n g e n der Gnostiker zu kennzeichnen. Er findet bereits bei Irenäus eine Verbindung zu doctrina und bezieht sich dabei besonders auf das Vorwort zum vierten Buch (Pr. 1 und 2). D e m ist entgegenzuhalten, daß das la-
1.2 Als Begriff der altkirchlichen
Theologie
33
Betrachtet man den isolierten Gebrauch von regula bei Tertullian, so fällt die Angleichung des Wortes an doctrina besonders auf, da es als solches eine beherrschende Stellung gewinnt und in vielen Variationen zu dieser Angleichung vorkommt. Tertullian kann sowohl im Sinne der Gesamtheit der Lehren von der regula oder den regulae der Häretiker sprechen, als auch das Gesamt der christlichen Lehre als regula bezeichnen. Auch in der Bedeutung von Dogma wird der Terminus eingesetzt; der Plural kann für die verschiedenen christlichen Lehren verwendet werden. Tertullian unterscheidet also im Gebrauch des Wortes nicht zwischen christlichen und häretischen Lehren. Dabei steht dann die Normativität des Kanon-Begriffes aber nicht im Vordergrund. „Man muß hier anscheinend mit einer Ausweitung des lateinischen Begriffes regula in seiner christlichen Verwendung rechnen, die sich so in der außerchristlichen Literatur nicht belegen läßt. Dazu würde auch die konsequente Eingrenzung der regula fidei auf die dogmatischen Aussagen des 1. und 2. Artikels passen. Man wird diese Bedeutungsverschiebung also auch für die zentralen Wortverbindungen regula fidei und regula veritatis im Blick haben müssen." 122 Eine Verbindung zwischen der regula fidei und den regulae iuris, die Tertullian aufgrund seiner juristischen Bildung bekannt gewesen sein müssen, ist für Ohme nicht gegeben. Dies sei besonders dann nicht der Fall, wenn man die im Wortlaut nicht fixierten Formulierungen der regula fidei mit den generalisierenden und zusammenfassenden Grund- und Leitsätzen und didaktischen Merkregeln des viele Einzelfälle abdeckenden Rechtsgrundsatzes vergleiche. 123 1.2.2.3 Clemens von Alexandrien Bei Clemens von Alexandrien, dem es vor allem um die philosophische und moralische Vorbereitung für den Glauben ging, finden sich in den Stromata insgesamt 22 Belege für xavcöv, die eine Vielfalt von Aspekten thematisieren. Der Begriff xavcbv xfjc; Jtiaxecog hingegen läßt sich nur einmal belegen und kann daher wohl kaum zum Zentralbegriff der Clementinischen Theologie gemacht werden, besonders nicht zu einer, die der Irenäischen und Tertullianischen entspricht. 124 Statt dessen treten die von
teinische regula an solchen Stellen wohl nicht eine Übersetzung des griechischen xavcbv, sondern von JioGeiaig ist. Die Verwendung des Begriffs xavcüv für die häretische Lehrsubstanz durch Irenaus scheint ausgeschlossen, vgl. dazu OHME, Kanon ekklesiastikos 61 f. 122 OHME, Kanon ekklesiastikos 101 f; zur Angleichung an doctrina: 100. 123 OHME, Kanon ekklesiastikos 121. 124 Diesen Vorwurf macht OHME, Kanon ekklesiastikos 149, auch HAGGLUND, Regula fidei 3 0 - 3 4 , der zum einen behauptet, der Begriff regula fidei komme nicht so häufig wie bei Irenaus und Tertullian vor, und zum anderen von einer Regel für die Lebensführung der Christen im äußeren Sinn ausgeht. HÄGGLUND ist zudem der Meinung, daß Clemens
34
/. Zum Begriff
regula
diesen her bekannten Begriffsverbindungen regula fidei und regula veritatis in neuen und überraschenden Zusammenhängen auf. Iva xi ycIQ f| eA.ei)0eQia fxou xgivexat JTÖ ä>iXr|g auveiöf|GecDg; ei eycb xaQLti jxex E ^ W , xi ßA.aac|)r)|iofjfiai JTEQ OIJ eycb e"U)(ag>iaxcI); Jtavxa ovv ooa JtoteTxe eig ö ö ^ a v 0eoi) Jtoielxe-öaa Jtö TÖV x a v ö v a RFJ^ jtiaxecog J T O I E I V emxexQajtxat. 1 2 5 Insgesamt steht der xavcbv xfjg jriaxecog bei Clemens „für eine Norm, an der die christliche Lebenspraxis hinsichtlich des dem Christen Erlaubten und Verbotenem Maß findet. Gleichzeitig normiert die so verstandene Richtschnur des Glaubens aber auch die Auslegung einer konkreten Stelle der apostolischen Schrift (1 Kor 10, 31) in Abwehr ihrer Mißdeutung." 126 xavcbv xfjg aXr]0eiag wiederum bezeichnet Kriterien bzw. Prinzipien der christlichen Wahrheitserkenntnis, wozu grundlegend die persönliche Glaubensbeziehung zu Christus als dem Herrn gehört, der als Prinzip (CIQX1!) ¡ n aller Erkenntnis leitet. Christus ist der Ausdruck der konstitutiven Verbindung von Glauben und Erkennen und somit das entscheidende Kriterium für die Wahrheitserkenntnis bei der Auslegung der Schrift. 127 jtagaörixr] yag> ajtoöiöo|J,evr] 0eö> F| x a x a xfjv xoü X U Q I O U ÖLö a a x a X i a v ö i a xcöv djroox6A,a)v aiixofj xfjg ©eoaeßoüg JTapaööaecog cruveoig xe x a i 0uvdaxr|aig- „o öe axoiiexe eig xö oüg" (£juxexQU[i[i£vcog ör]A.ovöxi, x a i ev |i,uaxT|Qiü), x ä x o i a ü x a ydq eig xö oi>g XeyeaBai a^XriyoQelxai), „ejrixörv ötu^dtcDv", c()r|oi, „xriQiJ^axe", jieyataxjjQÖvöjg xe exöe^dixevoi x a i tyr|yög>cog jiaQaötöövxeg x a i x a x a xöv xfjg a>ir|0eiag x a v ö v a ö i a a a ^ o ü v x e g xag y g a ^ a g 1 2 8 Im Zusammenhang der Weitergabe dieser Erkenntnis der Wahrheit, das heißt der Lehre, spielt der Wahrheitskanon die Rolle eines didaktischen Prinzips, dessen Ausgangspunkt die Auslegung der Schöpfungsgeschichte ist. Zudem ist der xavcbv xfjg aA.r]0eiag auch „maßgeblich für die gesamte Lebensführung des wahren Gnostikers." 129 n g o i c u o r i g öe x f j g yQa(j>fjg xoüg J t Q o e i Q r i n e v o u g J t ö xoü JtQC>(f)f|xou XQÖJioug x a ö = exdoxT]v jreQixojrfiv o r ^ x e i c j o a d ^ e v o L j r a Q a o x f | a o [ x e v , xf]v yvcjt)0xtxf)v a y c o y f j v x a x a x ö v x f j g a X r i O e i a g x a v ö v a cJ)iAoxexva>g e v
öetxvu^evoi. 1 3 0 Als Wahrheitskriterium der rechten Schriftauslegung steht der xavcbv weder außerhalb der Schrift noch ist er einfach mit ihr zu identifizieren. die regula fidei - wie sie bei Tertullian und Irenaus vorkommt - auch kenne. OHME bezieht sich vor allem auf die Stromata, da im Paidagogos der Begriff Kanon völlig fehlt. 125 Clem., str. IV 15, 98, 3 (GCS Clemens Alexandrinus 2, 291 f STÄHLIN). 126 OHME, Kanon ekklesiastikos 150, vgl. dazu Clem., str. IV 1 5 , 9 8 , 3 (291 f S . ) . 127 HÄGGLUND, Regula fidei 32 f. 128 Clem., str. VI 15, 124, 4 f (494 S.). 129 OHME, Kanon ekklesiastikos 151. 130 Clem., str. VI 15, 131, 1 (497 f S . ) .
1.2 Als Begriff der altkirchlichen
Theologie
35
Die Quelle alles Kanonischen ist in der Schrift zu finden, wie sie in der Kirche gelehrt, gelebt und ausgelegt wird und somit das kirchliche Leben 131
normiert. Der Wahrheitsbeweis gründet sich auf den Glauben. Zeuge der Wahrheit ist die Schrift, die das Wort und die Taten Christi enthält. Eine Auslegungsnorm der Schrift kann daher nur in ihr selbst gefunden werden, indem die Wahrheit aus der Quelle selbst bekräftigt wird und die Texte in Übereinstimmung mit der Hauptwahrheit der Heilsgeschichte gedeutet werden. Der innere Zusammenhang von Altem und Neuen Testament ist der Kanon der Kirche, das heißt, es geht um das Geschehen, von dem die Schrift zeugt, und nicht um einen formalen Maßstab für die Lehrentscheidungen der Kirche. Es geht um die Ordnung der Schöpfung und des Heils. Von ihr aus als Hauptinhalt der Schrift muß alles andere gedeutet werden. 132 Bei seiner Bestimmung des Kanonischen ist daher für Clemens die Ausrichtung auf das kirchlich Verbindliche, das heißt auf all das, was in und für die Kirche maßgeblich und normativ ist, bestimmend. Am häufigsten tauchen daher die Begriffsverbindungen xavcbv exxA.T|aiaaTLXöq oder xf\c, exx)a]aiag unter allen Wortverbindungen mit xavcbv auf. Grundlegende Bedeutung haben dabei die Schriften, das Gesetz und die Propheten sowie das Evangelium. Das einheitliche und durchgängige Zeugnis der Schriften ist als wahrhafte evangelische Norm daher auch für die Lebensführung der Christen maßgeblich, wie dies am Beispiel der Ehe und Enthaltsamkeit deutlich wird - hier findet sich auch der einzige Beleg für den Begriff xavcbv xfjg mateu»?. Er ist somit die Richtschnur des christlichen Wandels und der Praxis des Glaubens. Weil der Glaube selbst aber in einer Wechselbeziehung zum Evangelium als einer solchen Richtschnur steht, bestimmt diese Glaubensnorm auch, was dem Christen zu tun erlaubt ist und was nicht. Möglichkeiten der Fehldeutung der Schrift schließt Clemens im Hinblick auf falsche Lehren und Praktiken aber nicht aus und betont wiederholt die authentische Auslegung der Schrift. 1 3 3 Das Kanonische als Normbegriff wird bei Clemens ausschließlich in der Auseinandersetzung mit der Häresie, das heißt mit der Gnosis, zum Einsatz gebracht. „Der Kanonbegriff bringt in all seinen Anwendungsfeldern nicht das Normativ-Grundlegende zum Ausdruck, sondern das Normativ-Unterscheidende und Abgrenzende gegenüber Irrlehre, Irrglaube, falscher Auslegung der Schrift und falscher Praxis." 134 Folglich ist eine Beschränkung des kirchlichen Kanons, der regula fidei bzw. regula veritatis, auf den Bereich 131 132 133 134
OHME, Kanon ekklesiastikos 153. HÄGGLUND, Regula fidei 30-34. OHME, Kanon ekklesiastikos 134-136.152. OHME, Kanon ekklesiastikos 154.
1. Zum Begriff
36
regula
von Lehre, Dogma oder Bekenntnis nicht möglich. Vielmehr betrifft er auch die Prinzipien der Gotteserkenntnis, Hermeneutik und theologischen Didaktik sowie zudem die christliche Lebensgestaltung und kirchliche Ordnung. 135 1.2.2.4
Origenes
Bei Origenes sollte zunächst bedacht werden, daß seine Werke bekanntermaßen vor allem in der Übersetzung des Rufin vorliegen und nur Fragmente des griechischen Originals erhalten sind. Rufin übersetzt zwar sinngemäß korrekt und keineswegs falsch, aber sehr oft nicht wörtlich. Er führt nun andere Begriffe ein, wo xavtbv steht, ergänzt die KanonBegrifflichkeit, tauscht xavtbv xf^g cc?ir|0eiag gegen regula fidei aus und spricht häufig von regula, ohne daß eine korrespondierende KanonTerminologie vorhanden wäre. „In seiner Übersetzungspraxis schlägt sich eine stärkere rechtliche Betonung des Regula-Begriffs nieder, genauso aber eine wesentlich breitere Benutzung von regula als der von ihm vorgefundene Terminus xavtbv." 1 3 6 Rufin steht mit einem solchen Sprachgebrauch im Gefolge Tertullians 137 . Die erhaltenen griechischsprachigen Zeugnisse weisen dem hingegen nur die W e n d u n g e n x a v t b v exxXr|CHaaxixög bzw. xfjg
£XXÄ,r]oiag
und
einen absoluten Gebrauch von xavtbv auf. Auch wenn in der Übersetzung die Begriffe scriptura canonicae und regula fidei statt Jiimg, xavtbv xf]g exx?iT|oiag und Y0Oi4>r| verwendet werden, scheint Origenes' Intention aber getroffen zu sein. Die Anerkennung des Maßstabes, der in der Kirche für die Geltung von Schriften als Bestandteil der yQac|)r| gilt, ist wichtige Voraussetzung für die kirchliche Gemeinschaft. Denn wenn jene anerkannten Schriften nicht im Rahmen der maßgeblichen Gemeinschaft des Glaubens der Kirche empfangen und verstanden werden, schützt auch die Berufung auf die Heilige Schriften nicht davor, ein falscher Prophet zu sein. So verweist Origenes auf den xavtbv xfjg exx>a]aiag welcher auch bei ihm in antihäretischem Kontext angesprochen wird. 138 Zu den lateinischen Wortkombinationen für den Kanon-Begriff gehört die regula ecclesiastica, durch welche ausgedrückt wird, daß ohne Taufe kein Zugang zum Heil möglich ist. Sed quomodo apostolus tantarn spem gentibus nondum credentibus ponit, cum ecclesiastica regula videatur ob-
135
OHME, Kanon ekklesiastikos 127. OHME, Kanon ekklesiastikos 187. 137 OHME, Kanon ekklesiastikos 187-189. In diesem Kontext spricht er zurecht von einer Inflation der reg«/a-Begrifflichkeit im Latein der Christen seit Tertullian, Kanon ekklesiastikos 192. 138 OHME, Kanon ekklesiastikos 196. 136
1.2 Als Begriff der altkirchlichen
Theologie
31
sistere, quae statuit, ut ,nisi quis renatus fuerit ex aqua et Spiritu Sancto, non' possit ,introire in regnum caelorum,l39 Der zur Taufe gehörende trinitarische Glaube wird so eigens angesprochen. Diese kirchliche Richtschnur ist aber auf die Schrift gegründet, mit der sie zwar inhaltlich identisch, aber nicht zu identifizieren ist. Weiterhin ist sie Bestandteil der kirchlichen Verkündigung und des Bekenntnisses zum trinitarischen Gott aber auch hier nicht einfach mit dem Kerygma zu identifizieren. 1 4 0 „Der in der Kirche geltende Kanon gibt die Richtung an für das, was ein Christ nicht tun soll. Der Kanon ist hier eine Handlungsnorm, das Attribut,christiana' s c h e i n t . . . ein Zusatz Rufins zu sein." 141 Regula veritatis findet sich sowohl in der Übersetzung Rufins als auch in der von Hieronymus, und man wird auch im Sprachgebrauch Origenes' mit dem Terminus xavcbv t f j g a^riBeiag rechnen müssen. Eingeführt als antihäretischer Normbegriff in Zusammenhängen, in denen er auch schon früher begegnete, ist er eine Größe, die das Christusbekenntnis der Kirche betrifft und durch die Häresie verfälscht wird. Er steht in enger Beziehung zu regula scripturarum. Seine Verfälschung geschieht, wenn anderes gelehrt wird, als die Schriften es erlauben. 142 De his sane qui de Christo aliter docent quam scripturarum regula patitur, non otiosum est intueri, utrum insidioso proposito aduersum Christi fidem nitentes contrariae uirtutes fabulosa quaedam simul et impia dogmata commentatae sint, an uero etiam ipsae audito uerbo Christi et neque euomere id ualentes ex arcanis conscientiae suae neque pure sancteque retinere, per uasa opportuna sibi et, ut ita dicam, per prophetas suos diuersos errores contra regulam christianae ueritatis induxerint.143 Es gibt Origenes zufolge also eine inhaltliche Übereinstimmung der Lehre der Schrift mit dem Wahrheitskanon der Kirche. Um in der Wahrheit zu bleiben, muß sich das geistliche Verstehen der Schrift von der Richtschnur der Wahrheit leiten lassen als einer Norm, deren Zugang auch das Verständnis der Schrift versperrt. Aber zum Wahrheitskanon gehört auch der Absolutheitsanspruch des biblischen Gottes, da unter der regula des göttlichen Gesetzes das erste Gebot zu verstehen ist. Der Begriff regula fidei kommt nicht vor, wird aber mit den genannten griechischen Wortverbindungen abgedeckt. Allerdings läßt sich schwerlich von der regula fidei als einer Kernformulierung des Origenes sprechen. Ganz im Vordergrund hingegen steht die Rede vom kirchlichen Kanon. 144
139
Orig., C o m m . in Rom. 2, 7 (FChr 2 / 1 , 2 1 0 HEITHER). OHME, Kanon ekklesiastikos 204. 141 OHME, Kanon ekklesiastikos 206. 142 OHME, Kanon ekklesiastikos 207 f. 143 Orig., Princ. III 3, 4 (SC 268, 192 CROUZEL/SIMONETTI). 144 OHME, Kanon ekklesiastikos 2 0 7 - 2 0 9 . 2 1 4 f. 140
38
1. Zum Begriff
1.2.2.5
regula
Novatian
Novatians Schrift De Trinitate beginnt mit einem direkten Verweis auf die regula veritatis: Regula exigit ueritatis ut primo omnium credamus in Deum Patrem et Dominum omnipotentem, id est rerum omnium perfectissimum conditorem]45. Im weiteren Verlauf spielt dieser Terminus, der insgesamt 9mal benutzt wird, eine bedeutende Rolle. Inhalt und Aufbau der Schrift, bei der es sich um eine antihäretische, polemische Lehrschrift handelt, sind deutlich von der apologetischen Intention bestimmt. An Schlüsselstellen wird Bezug auf die regula veritatis genommen, die den ersten Teil der Abhandlung eröffnet, in dem es um das Bekenntnis zu Gott als Schöpfer geht. Auch der zweite Teil, der das Bekenntnis zum Sohn Gottes und die Vereinigung von Gottheit und Menschheit in Jesus Christus behandelt, wird unter Bezug auf die regula veritatis begonnen. 1 4 6 Eadem regula ueritatis docet nos credere post Patrem etiam in Filium Dei Christum Iesum Dominum Deum nostrum, sed Dei Filium, huius Dei qui et unus et solus est, conditor scilicet rerum omnium, ut iam et superius expressum est.141 In diesem Kapitel, das das inhaltliche Schwergewicht darstellt, taucht der Terminus noch 3mal auf' 4 8 . Im Teil über den Heiligen Geist wird aber am Anfang nicht die regula veritatis bemüht 1 4 9 , was wohl darauf zurückzuführen ist, daß die Auseinandersetzung über die Person des Heiligen Geistes noch nicht zum theologischen Streitpunkt geworden war. Mit Ohme ist in der regula veritatis ein doppelter axiomatischer Ausgangspunkt der Darstellung zu sehen. Zum einen wird durch die Bezugnahme auf sie ausgedrückt, daß der Glaube an Gott als Schöpfer eine unveränderbare Maßgabe des christlichen Gottesglaubens ist. Zum anderen ist der Glaube an Christus als wahren Gott und Menschen eine Richtschnur für die Rede über den Glauben an Christus, besonders aber in Hinsicht auf die Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Dabei steht die Rede über die regula veritatis im Gegensatz zu allen häretischen Ausrichtungen und Lehren. Um diesen Wahrheitsmaßstab des christlichen Glaubens herauszustellen, macht 145
Novatian., Trin. I 1 (CChr.SL 4, 11 DIERCKS). OHME, Kanon ekklesiastikos 219 f, gibt auch an, daß der Titel De Trinitate nicht ursprünglich ist und in der Forschung ein möglicher Titel De regula veritatis diskutiert wird. Diesem schließt er sich an, allerdings mit der Einschränkung, daß der Titel ausschließlich im Sinne von De regula veritatis circa Deum Patrem et personam Christi zu denken sei. Alle weiteren Problemstellungen, wie die circa Spiritum Sanctum, circa vitam christianam oder circa ecclesiae sancta ordinem habe Novatian in diesem Zusammenhang nicht interessiert, vgl. Kanon ekklesiastikos 239. Siehe auch H.J. VOGT, Art. Novatian, L A C L , Freiburg u.a. 2002, 523. 146
147 148 149
Novatian., Trin. IX 1 (25 D.). OHME, Kanon ekklesiastikos 222 f. Vgl. Novatian., Trin. X X I X 1 (69 D.).
1.2 Als Begriff der altkirchlichen
Theologie
39
der Heilige Geist die Richtschnur kampfbereit und verhilft ihr zur Durchsetzung. Die régula veritatis wird von Novatian als das eine, singuläre Bekenntnis zu Christus verstanden, das auch nicht einfach mit der Gottesund Schöpferlehre zu verwechseln ist. 150 Es handelt sich dabei, „um den richtungs- und maßgebenden Ausgangspunkt für alles, was an christlicher Lehre zu entfalten und darzustellen ist." 151 Novatian kennt aber auch den Sprachgebrauch, der régula (isoliert und nicht in Kombination mit veritatis) im Sinne von doctrina benutzt, das heißt in Abhängigkeit von Tertullian 152 . Die régula fidei war zunächst also nicht wörtlich festgeschrieben, sondern in unterschiedlichen Formulierungen zu finden, die persönliche Akzentuierungen zuließen. Die Notwendigkeit der Taufkatechese und der Glaubensverteidigung machten aber die Ausbildung fester Formeln notwendig, so daß die régula fidei den Anstoß für die Formulierung der Symbola und Dogmen gab. Als Maßgabe, Lehrauslegung und Lehrgefüge in einem war sie aber keine formale Regel für den Glauben, sondern eine Richtschnur, die durch den Glauben selbst gegeben wurde. 1 5 3 Das Christentum der ersten beiden Jahrhunderte begnügte sich, nach Ritter, noch mit einer substantiellen Bekenntniseinheit ohne verbindliche Bekenntnisformel, ohne ein normatives, im einzelnen wie im ganzen verbindliches Lehrbekenntnis oder Symbol. Über den Sitz im Leben dieser régula fidei bestehen verschieden Theorien. Kunze zufolge wurden Taufbekenntnis und Glaubensregel häufig gleichgesetzt, charakteristisch dabei sei die antihäretische Wendung. Allerdings erkennt er auch mannigfache Unterschiede zwischen den beiden und stellt fest: „aber auch in jenen Fällen [sc. der Identität] ging die régula fidei im Taufbekenntnis nie ohne Rest auf." 1 5 4 Ohme ordnet sie, besonders bei Irenäus, in den Raum der Taufkatechese ein 155 . Kelly, der sie auch im Zusammenhang mit Taufe und Glaubensbekenntnis diskutiert, weist nochmals auf ihren antignostischen Charakter hin und sieht in dem Beharren auf dem als régula fidei in der Kirche tradierten Lehrvermächtnis der Apostel eine Reaktion auf die gnostische Krise 156 . Ritter weist die Verknüpfung zwischen régula und Taufe zurück. Für ihn ist die Bedeutung als „wirklicher Inhalt und Sinn der Schrift" 1 5 7 maßgeblich. Eyden hat nachgewiesen, daß die régula fidei den ganzen Corpus der unveränderlichen Lehre bedeutete: „La règle de la vérité est 150 151
OHME, Kanon ekklesiastikos 229. OHME, Kanon ekklesiastikos 237.
152
OHME, K a n o n ekklesiastikos 2 3 0 - 2 3 3 .
153
BEINERT, Regula fidei 976; KELLY, Altchristliche Glaubensbekenntnisse 99. J. KUNZE, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis, Leipzig 1899, 91. OHME, Kanon ekklesiastikos 64 f. KELLY, Altchristliche Glaubensbekenntnisse 101.
154 155 156 157
RITTER, G l a u b e n s b e k e n n t n i s ( s e ) 4 0 5 .
40
/. Zum Begriff
regula
donc l'ensemble des doctrines, considérées comme immuables qui distinguent les églises d'avec les hérésies." 1 5 8 Letztendlich schafft die régula fidei zwar eine erste Vereinheitlichung der kirchlichen Lehren, aber noch keine Einheit, denn diese kam erst durch das Glaubenssymbol zustande 159 .
1.3 Regula als Lebensordnung 1.3.1 Entstehung von regulae Im mönchischen Bereich avancierte der Terminus régula zu einem eigenen Gattungsbegriff: der Lebensregel beziehungsweise Lebensordnung. Man versteht darunter legislative Texte, die an eine Gemeinschaft von Mönchen bzw. Nonnen gerichtet sind. Voraussetzung für eine régula war das gelebte Mönchtum, in dem es einen vorgegebenen Konsens über das monastische Leben gab. Regulae ordneten das Leben dann in Textform und konkretisierten den Konsens für eine bestimmte Gemeinschaft. Sie entstanden häufig in einem längeren Prozeß und in verschiedenen Redaktionsstufen. 1 6 0 Ahnliche Titel für solche Texte waren instituta, monita, statuta, praecepta, ordo, iudicia oder auch leges. Der Umfang der Texte war sehr unterschiedlich, zumeist vorherrschend war allerdings der kurze normierende Text - oft im Frage-Antwort-Schema. Inhaltlich variierten die Texte stark, da manche das ganze Leben der Gemeinschaft umfaßten, andere den Blick auf nur einzelne Schwerpunkte lenkten. Eine inhaltliche Gemeinsamkeit stellte aber die ständige Bezugnahme auf die Heilige Schrift dar, welche für die Deutung der monastischen Grundthemen herangezogen wurde. Dabei wurden die Textstellen und Interpretationsweisen kaum variiert. Durch Themen wie die Ausgestaltung der klösterlichen Aufnahmeformalitäten oder die Einführung eines gemeinsamen Dormitiums kam es zu Beginn des 6. Jh. zu einem Einschnitt in der inhaltlichen Entwicklung der Mönchsregeln. 161 Bevor die Entwicklung der régula näher untersucht wird, ist jedoch noch kurz ein Blick auf den Begriff exemplum zu werfen, da dieser in der römischen Gesellschaft weit mehr als die régula eine wichtige Rolle für die Vorstellung davon spielte, wie man sich richtig zu verhalten habe.
158 D. VAN DEN EYDEN, Les normes de l'enseignement patristique des trois premiers siècles, Paris 1933, 312. 159 W. GEERLINGS, Art. Régula fidei / Régula veritatis, 608. 160 K.S. FRANK, Art. Mônchsregeln, LThK VII, Freiburg GUÉ, Les règles monastique anciennes (400-700), T S M Â O SKEB, Art. Mônchsregel, LACL, Freiburg u.a. 2002, 506. 161
chrétien dans la littérature LACL, Freiburg u.a. 2002, u.a. 3 1998, 394; A. DE VO46, Turnholt 1985, 11; M.
FRANK, M ô n c h s r e g e l n 3 9 4 ; VOGUÉ, L e s r é g i e s 12; SKEB, M ô n c h s r e g e l 5 0 7 .
1.3 Als
Exkurs:
41
Lebensordnung
Exemplum
Der ursprünglich aus der Handelssprache stammende Terminus Probe hatte einen „handgreiflichen Charakter" und bezog sich auf einzelne, früher gemachte Erfahrungen, die zu einer Erfahrungsmasse angehäuft wurden und auf die man dann zurückgriff. In ihnen spiegelte sich die „Bevorzugung der greifbaren Einzelheiten gegenüber einem Gesamtbild" wider. 162 Taten, Aussprüche oder Fähigkeiten eines Menschen gaben als Beispiel Aufschluß über seinen Charakter oder die Eigenschaften einer Gruppe. Dabei wurden einzelne Züge herausgegriffen. Zunächst im engen Kreis der Familie weitergegeben, erweiterte sich ihr Umfeld schließlich bis auf das Gebiet der Geschichtsschreibung, so daß sie Teil eines kollektiven Gedächtnisses wurden und Familienumstände nicht mehr von Interesse waren. In jedem Fall war aber die Übereinstimmung mit dem mos maiorum wichtig. Beispielsammlungen - wie etwa die Facta et dicta memorabilia des Valerius Maximus 1 6 3 - vertraten daher eine moralisierende Geschichtsauffassung. Eine solche zeigte sich aber auch in der Rhetorik, wo eine Fülle von exempla dem Redner zur Verfügung standen. Sie konnten zur Lenkung der Aufmerksamkeit der Zuhörer, als Redeschmuck, aber auch mit demonstrierender Funktion als Beweismittel dienen. Durch die Autorität einer Persönlichkeit oder durch das hohe Alter des exemplum gewann es dann selbst an Bedeutung. 1 6 4 Ausgehend von der Vorstellung, daß virtus lernbar sei, dienten exempla als Erziehungsmethode im Sinn sowohl eines Vorbildes als auch einer Warnung. „Jeder Römer steht so in doppelter Hinsicht unter dem Eindruck von Exempla, denen der Vorfahren, aber auch denen, die er selbst der Nachwelt geben wird." 1 6 5 Vorschriften allein konnten das Erreichen von hergebrachten Tugenden nicht hervorrufen, da sie nicht eindringlich genug wirkten; vorgelebte exempla aber verdeutlichten das Erziehungsziel und waren einfacher nachvollziehbar. 1 6 6
162
Studie,
Göttingen
1936, 8 8 , s i e h e a u c h 87. D i e f o l g e n d e n A u s f ü h r u n g e n z u m T e r m i n u s exemplum
H . KORNHARDT, E x e m p l u m .
Eine bedeutungsgeschichtliche
betreffen
vor allem den Bereich der L e b e n s o r d n u n g , alle anderen K o n n o t a t i o n e n sind hier aus G r ü n d e n d e s U m f a n g s u n d w e i l sie zu s e h r v o m e i g e n t l i c h e n T h e m a a b w e i c h e n , n i c h t a u f g e f ü h r t . D i e S c h r i f t v o n KORNHARDT ist in d i e s e m Z u s a m m e n h a n g n o c h i m m e r m a ß geblich. 163
V . M a x . , F a c t a et d i c t a m e m o r a b i l i a (BRISCOE).
164
W . GEERLINGS, C h r i s t u s e x e m p l u m . S t u d i e n z u r C h r i s t o l o g i e u n d C h r i s t u s v e r k ü n -
d i g u n g A u g u s t i n s , T T S 1, M a i n z 1 9 7 8 , 1 4 8 - 1 5 1 ; A . FELMY, D i e r ö m i s c h e R e p u b l i k i m G e s c h i c h t s b i l d d e r S p ä t a n t i k e . Z u m U m g a n g l a t e i n i s c h e r A u t o r e n d e s 4 . u n d 5. J a h r h u n d e r t s n. C h r . m i t d e n e x e m p l a m a i o r u m , B e r l i n 2 0 0 1 , 3 6 - 4 1 . 165
FELMY, D i e r ö m i s c h e R e p u b l i k 36.
166
GEERLINGS, C h r i s t u s e x e m p l u m 151 f.
42
1. Zum Begriff
regula
Im Unterschied zu den exempla sollte eine régula eine Richtschnur sein, die das Ergebnis aus mehreren Einzelfällen zusammenfaßte, damit diese nicht mehr für sich allein begutachtet werden mußten. Sie faßte somit das zusammen, was an mehreren, praktischen Fällen als Gemeinsamkeit gefunden wurde, und leitete daraus eine Norm ab. In der régula zeigte sich folglich „ein Streben nach höheren Einheiten". 1 6 7 Sowohl originale, selbständige Formulierungen als auch Anlehnungen an andere Texte bzw. die Abhängigkeit von Vorlagen finden sich bei den einzelnen Regeln. Häufig wurde régula in Texten benutzt, in denen von der lebendigen Autorität eines Abtes gesprochen wurde, ohne daß dieser eine Regel ausdrücklich geschrieben hätte. Hierbei handelte es sich dann meist um eine bestimmte Observanz. Regula war also nicht immer auf einen schriftlichen Text bezogen, sondern konnte auch eine anerkannte Lebensform, eine bewährte Lebensweise oder auch einfach die Idealnorm der Regula Patrum bzw. Apostolorum meinen. 1 6 8 Die Bedeutung von régula im Sinne von Maßstab und Vorbildsein trat hierbei in den Vordergrund. Vogûé, der sich ausführlich mit dem Thema beschäftigt hat, ist auch der semantischen Geschichte des Begriffes und seiner Äquivalente nachgegangen. Zur Bestimmung der Gattung régula ist eine Verdeutlichung der Begriffsgeschichte notwendig, wobei die Ausführungen Vogûés hilfreich sein werden, der sich ausführlich mit dem Thema beschäftigt hat. 169 Zuvor ist aber zum besseren Verständnis ein kurzer Abriß der Entwicklung des Mönchtums und der Mönchsregeln zumindest bis zum Ende des 6. Jahrhunderts zu geben. 1.3.2 Entwicklung des
Mönchtums
Die Ursprünge des christlichen Mönchtums sind im Asketismus der ersten beiden nachchristlichen Jahrhunderte zu suchen. Dieser bezog sich auf das Neue Testament und die Nachfolge Jesu, dessen Worte und Verhalten als asketisch vorbildlich und wegweisend gedeutet wurden. Von großem Vorteil für die sich entwickelnde christliche Askese zeigte sich der Einfluß einer askesefreundlichen Umwelt. Hier ist zunächst die Apokalyptik des Spätjudentums, verbunden mit einer militanten Befürwortung asketischer Leistungen wie zum Beispiel bei den Essenern zu nennen. Auch die „Therapeuten", die Philo von Alexandrien beschrieb 170 , stellten den Entwurf einer asketischen Theorie und 167
KORNHARDT, Exemplum 80, bezieht diese Aussagen nur auf die Rechtsregeln, sie betreffen meines Erachtens aber den Terminus régula generell. 168
F R A N K , M ö n c h s r e g e l n 3 9 4 ; V O G Û É , L e s r é g i e s 1 2 ; SKEB, M ö n c h s r e g e l 5 0 6 .
169
A. DE VOGÛÉ, Art. Regola. I. Visione generale filologico-storica delle r. e costituzione religiose. 1. Antichità. 2. In Occidente + II. R. cenobitiche d'Occidente, DIP VII, Rom 1983, 1414-1420. 170
PHILO., D e v i t a c o n t e m p l a t i v a 2 ( 4 8 - 5 1 COHN/REITER).
1.3 Als
Lebensordnung
43
Vollkommenheitslehre dar, auf deren Boden der christliche Asketismus fiel. Philosophischen Schulen des hellenistischen Raums wie die Stoa übertrugen die ursprüngliche Bedeutung der Askese - handwerkliche Fertigkeit und sportliche Ertüchtigung - auf den Bereich der menschlichen Vervollkommnung. Verzichtleistungen, besondere körperliche und geistige Übungen in den Tugenden, um zu einem idealen Menschensein zu gelangen, gehörten zu den vordersten Anliegen des philosophischen Asketismus. In der Praxis bedeutete dies nichts Neues: materielle Zurückhaltung und Armut, Einschränkung der Nahrung, Beherrschung der Triebe. Die antike heidnische Askese verschwand nun mit dem Auftreten des Christentums nicht, sondern gab diesem zunächst wichtige Impulse für eine eigenständige Entwicklung. In der Konkurrenz mit dem Heidentum wurde das Christentum zur Beschäftigung mit dieser Lebensweise gezwungen und beanspruchte ab dem 2. Jahrhundert ausschließlich den Titel des philosophischen Lebens, mit dem die Askese j a auf das Engste verbunden war. Auch die Auseinandersetzung mit der Gnosis und deren metaphysischem Dualismus brachte verstärkt die Beschäftigung mit der richtig gedachten und geübten Askese mit sich. Sie verband sich zudem mit der propagandistischen Bekämpfung der Gnosis als Häresie. Askese wurde so als hochwertige Lebensform eines intensiv gelebten Christentums verstanden und fand in den Gemeinden großen Anklang. Die Möglichkeit der verschiedenen Intensität des christlich-asketischen Lebens zeigte sich schon bei Paulus (1 Kor 7) und war für ihre Anerkennung von großer Bedeutung. Besonders die Nachfolge Christi und Ehelosigkeit spielten bei den Wanderaposteln und den Wanderasketen, den bevorzugten Trägern der christlichen Askese, eine wichtige Rolle. Im Laufe des 3. Jahrhunderts wurde das jungfräulich-asketische Leben fest in den Gemeinden und im Selbstverständnis der Kirche verankert sowie theoretisch unter anderem durch Tertullian und Origenes begründet. Die Motivation des christlichen Asketismus erfolgte vor allem durch den Anspruch der Nachfolge Christi und durch eschatologische Vorstellungen. Die Askese wurde zum lebenslangen Martyrium stilisiert und damit zum Zeugnis des wahrhaften Christenlebens. Im 3. Jahrhundert entwuchs sie dem zunächst familiären bzw. innergemeindlichen Rahmen und wurde zur monastischen, außergemeindlichen Lebensform. Dies geschah vor allem mit dem Auszug in die Wüste, mit dem man sich von der Gemeinde um der individuellen Heilssorge willen distanzierte. Ungestörte Kontemplation und mystische Gottesschau waren die Ziele, der Welt als solcher, in die die christlichen Gemeinden sich immer mehr eingebunden sahen, den Rücken zu kehren. Die Wüste bot dabei im östlichen Mittelmeerraum den einzig
1. Zum Begriff
44
regula
möglichen Aufenthaltsort, an dem man in diesem Sinne Frieden üben konnte. 171 Diese Anachorese in die Wüste fand in Ägypten, dem Musterland der monastischen Entwicklung, großen Anklang. Die Zentren des ägyptischen Eremitentums lagen südwestlich des Nildeltas (Sketis, Nitria und Kellia) sowie in der oberägyptischen Thebais. Hier sticht besonders Antonius hervor, dessen Vita Athanasius von Alexandrien 172 verfaßte. Antonius lebte zunächst in einer losen Eremitenkolonie, der Urform der Wüstenaskese, die keiner Regel folgte, sondern sich einem Vater unterordnete. Diese Unterordnung war freigewählt und konnte jeder Zeit wieder gelöst werden. 173 Das Wort des Vaters, das als Hilfe oder Rat erbeten wurde, diente als Wegweiser. Solche Sprüche wurden später in den sogenannten Apophtegmata Patrum gesammelt und bilden die wichtigste Quelle für Erkenntnisse über die Wüstenaskese. Zum Gottesdienst, der einmal in der Woche gefeiert wurde, versammelten sich die Mönche und zogen - falls kein eigener Priester vorhanden war - zusammen in die nächste Gemeinde. Auch die von ihnen hergestellten Produkte verkauften sie dort und sorgten damit für ihren Lebensunterhalt. 174 Unter Pachomius entwickelte sich im 4. Jahrhundert in Ägypten ein neuer monastischer Typ, das Koinobium, das heißt die geordnete Lebensgemeinschaft, da nicht alle Asketen die notwendige Reife für die Einsamkeit besaßen. Diese wurde zum konstitutiven Element, geprägt von einem abgeschlossenen Wohnraum, einheitlicher Kleidung, Nahrung und Arbeit sowie gemeinsamen Gottesdiensten. Evangelium und Heilige Schrift galten als Erstnorm für das Leben im Kloster. Der Gründung des ersten Klosters in Tabennisi in der Thebais folgten bald weitere, die einen großen Zulauf genossen und sich zu einem Klosterverband zusammenschlössen. Die Organisation der Brüder - bereits zu Pachomius' Lebzeiten waren es mehr als 5000 - machte besondere Reglungen nötig, so daß es zur Niederschrift der ersten zönobitischen Klosterregel kam. Die Gehorsamsbindung an die Regel war eine wesentliche Neuerung des Zönobitentums. Hierbei ging es aber nicht um einen Katalog juristisch definierter Verhaltensregeln für die Mönche, sondern um die Transformation der Weisungen der Heilige Schrift auf das Klosterleben wie es die alltägliche Praxis erforderte. Trotz des langsamen Verfalls der Pachomius-Klöster nach dessen Tod erlebte das Zönobitentum in Ägypten im 5. Jahrhundert noch große Erfolge, ohne
171 K.S. FRANK, Geschichte des christlichen Mönchtums, 5. verbesserte und ergänzte Aufl., Darmstadt 1996, 1-19. 172
173
A t h . , V . A n t o n . ( S C 4 0 0 BARTELINK).
Zum Beispiel Ath., V.Anton., 4.13.16 (139-141.168-173.177-181 B.); siehe auch den Rest der Schrift, die Antonius weiteres, asketisches Leben beschreibt. 174 FRANK, Mönchtum 20-22.
1.3 Als
Lebensordnung
45
daß es zum Aussterben des Eremitentums gekommen wäre. Allerdings führten unter anderem theologische und kirchenpolitische Spannungen sowie Angriffe barbarischer Stämme schließlich zum Niedergang des ägyptischen Mönchtums, das sich aber bereits in der ganzen Kirche zum Allgemeingut entwickelt hatte. Zudem trugen die ägyptischen Mönchsflüchtlinge ihre Lebensform in andere Länder. 175 In Palästina ging zwar zunächst ein unmittelbarer Einfluß von Ägypten aus, über diesen hinaus entwickelte sich hier aber auch der Typ der Laura, einem Kloster im Tal, an dessen Hängen die Zellen und Höhlen der Mönche lagen. Jerusalem wurde desweiteren - nahegelegt durch Pilgerscharen - zum Mönchszentrum, in dem die je heimische Observanz eingeführt wurde. Durch Theologen wie Hieronymus und Rufin trat hier die Verbindung von Askese und theologischem Studium als Eigenart besonders hervor. In Syrien dominierte zunächst die Eremitenbewegung, während das Zönobitentum erst an zweiter Stelle auftrat. Schroffe Askese konnte zu so seltsamen Formen wie dem Säulenstehen führen. Trotzdem blieb auch hier die Verbindung zwischen Mönchtum und Kirche bestehen, zumal gerade die Säulensteher oft pastoral tätig waren. Im kleinasiatischen Raum sammelte Basilius von Cäsarea, der auf Reisen in die monastischen Zentren des Ostens Erfahrungen und Vorstellungen vom gemeinsamen Leben gewinnen konnte, im 4. Jahrhundert die asketischen Kräfte und verstand es, sie in die Kirche einzubinden. Er verfaßte ein Asketikon (kleines und großes), das zum Programm und zur Systematik des klösterlichen Lebens im Osten werden sollte. Ähnlich dem Pachomius war auch für Basilius die Bibel die Norm des Gemeinschaftslebens, die die Regeln in Einzelfällen auf das konkrete Klosterleben anwandten. Im Unterschied zu Pachomius befaßte sich Basilius aber stärker mit der theoretischen Reflexion und legte so die fundamentale Bedeutung der brüderlichen Gemeinschaft ausführlich dar. Die Urgemeinde, wie sie in Apg 4, 32-35 geschildert wird, wurde zum Vorbild der idealen Gemeinschaft, dem sich später auch Augustinus und die Leriner Regula Patrum secunda verpflichteten. „Für die ersten Regelautoren sind folglich die Freude der ,Brüder, die miteinander in Eintracht wohnen' und das Qui inhabitare facit unius moris in domo eine Art Topos." 176 Durch die Idee des Pachomius, eine Klausurmauer zu schaffen, wurde das Koinobitentum auch in der Stadt ermöglicht. Unter Theodosius entstanden in Konstantinopel zahlreiche Stadtklöster, welche in unmittelbarem Kontakt mit dem kirchlichen und politischen Leben standen und so in theologische Streitereien verwickelt wurden. Auf dem Konzil von Chalcedon wurde 175 LUTTERBACH, Monachus factus est. Die Mönchswerdung im frühen Mittelalter, B G A M 44, Münster 1995, 27 f; FRANK, Mönchtum 2 2 - 2 8 . 176 A. DE VOGÜE, Die Regula Benedicti. Theologisch-spiritueller Kommentar, RBS.S 16, Hildesheim 1983, 31.
1. Zum Begriff
46
regula
cedon wurde schließlich das Kloster dem jeweiligen Diözesanbestand eingegliedert und den Bischöfen die Klostergründungen und die Aufsicht über die Klöster zugesprochen. 1 7 7 Der lateinischen Westen zeigte zwar eine gewisse Eigenständigkeit in der Entwicklung der innergemeindlichen Askese, besonders bezüglich des Familienasketismus, er folgte aber dem östlichen Mönchtum mit zeitlicher Verspätung, das dann als Helfer und als Stimulus zur Seite stand. Reisende aus dem Osten berichteten über die dortigen Mönche, ein Teil der asketischen Literatur (Pachomius und Basilius) wurde im Westen durch lateinische Übersetzungen bekannt. 1 7 8 In der 2. Hälfte des 4. Jahrhunderts schließlich fand hier dann der Übergang vom vormonastischen zum monastischen Mönchtum statt. Dabei spielten die Domestizierung des nicht überall angesehenen Wanderasketentums sowie der Familienasketismus, der zur organisierten Mönchsaskese heranwuchs, eine entscheidende Rolle. In Rom, wo die Askese schnelle Verbreitung in aristokratischen Kreisen fand, wurde Hieronymus zum Lehrer in der geistlich-asketischen Unterweisung der reichen Witwe Marcella und ihrer Hausgemeinschaft, die sich nach seinem Weggang aufs Land zurückzog. Es bildete sich ein Typ von Landkloster heraus, dessen Ursprünge im altrömischen Ideal der nun christianisierten vita rustica lagen. Der Landaufenthalt wurde dabei als Gegensatz zum Tumult der Stadt zur Einsamkeit und Wüste. Auch das Stadtkloster, wie es bereits aus Konstantinopel bekannt war, fand in römischen Familienpalästen starke Verbreitung. Im 5. Jahrhundert wurde dieser Typ von römischen Bischöfen zum Basilikakloster weiterentwickelt, bei dem sich die Mönche in den Dienst einer bestimmten Kirche stellten. Auch im restlichen Italien setzte sich das Mönchtum schnell durch. Mailand wurde unter Ambrosius zu einem Zentrum klösterlicher Aktivität. Als Besonderheiten des westlichen Mönchtums galten die enge Verbindung zur Aristokratie, die als Förderer tätig wurde, die Initiative von Bischöfen, die eine festere Bindung zwischen Kloster und Kirche bewirkte sowie zur Anpassung an die jeweilige gesamtkirchliche Situation führte, und die geringe Bedeutung des Eremitentums. 1 7 9 In Nordafrika war Augustinus als Bischof von Hippo die zentrale Gestalt des Mönchtums. In seinem Elternhaus in Thagaste hatte er zunächst mit Freunden das monastische Leben eingeübt, an welchem er auch nach seiner Priesterweihe und Berufung zum Bischof festhielt. Er empfahl dieses gemeinsame Leben seinen Klerikern, gründete Klöster und verfaßte
177
LUTTERBACH, M ö n c h s w e r d u n g 4 5 ; FRANK, M ö n c h t u m
178
LUTTERBACH, M ö n c h s w e r d u n g 5 2 .
179
FRANK, Mönchtum 35-40.
28-34.
1.3 Als
Lebensordnung
AI
Schriften zum asketisch-monastischen Leben, die den Anspruch einer Regel erhoben. 1 8 0 Die Abfassung von Regeln, die der festen Ordnung und Reglementierung des mönchischen Lebens dienen sollte, erlebte im 5. und 6. Jahrrhundert eine Hochkonjunktur. Gallien wurde bereits im 4. Jahrhundert zur fruchtbaren Mönchslandschaft. Hier fand sich einerseits eine monastische Richtung, die in Martin von Tours ihr Norm- und Leitbild hatte und durch kirchlich-missionarische Tätigkeit trotz der Neigung zum Eremitentum einen weltzugewandeten, aktiven Zug trug. Andererseits entwickelten sich im Rhönetal und auf der vor Marseille liegenden Insel Lerins (gegründet zwischen 405-410) monastische Zentren. Diese Klöster wurden aus der Schicht der gallorömischen Aristokratie gespeist, weshalb in ihnen Askese, Wissenschaft und Kultur stark miteinander verknüpft waren. Viele Bischöfe der Umgebung, besonders aus Lyon, Riez und Arles stammten aus Lerins und wurden in ihren Bistümern selbst wieder zu Klostergründern. In Lerins wurden die Regula Quatuor Patrum und die Regula Patrum Secunda verfaßt. Die erste Väterregel bestand aus vier Vorträgen von nicht näher bekannten Männern mit den Namen Macarius, Serapion, Paphnutius und nochmals Macarius. Die zweite Regel, von der ersten abhängig, spiegelte die Übergangssituation vom Gründer des Klosters Honoratius von Arles zum zweiten Klostervorsteher Maximus wider. Der große Theoretiker des Rhönemönchtums war Johannes Cassian, der umfangreich monastisches Brauchtum beschrieb. Irische Mönche schließlich leiteten im 6. Jahrhundert eine neue Phase des Mönchtums in Gallien ein. Als peregrini verließen sie um Christi willen ihre Heimat und gründeten - wie zum Beispiel Columban in den Vogesen - neue Klöster, in die sie Traditionen ihrer Heimat mitbrachten. 181 Neben der Bejahung des Mönchtums durch die spätantike Aristokratie und der engen Verbindung von Kloster und Kirche spielte das Selbstverständnis der Mönche eine entscheidende Rolle für die schnelle Annahme und Verbreitung des monastischen Lebens im Westen bis zum Ende des 6. Jahrhundert. Im Mönchtum zeigte sich die Bekehrung (ein ursprünglich aus dem Mönchtum stammender Begriff) zum Christentum am deutlichsten, und so wurde das Klosterleben als wahres Christsein gefeiert. Seit dem 5. Jahrhundert wurde eine straffere Organisation des Mönchtums an-
180
181
FRANK, M ö n c h t u m
40-42.
LUTTERBACH, Mönchswerdung 52 f.56; FRANK, Mönchtum 4 2 - 4 5 ; zur Vierväterregel vgl. auch C.M. KASPER, Von der exhortatio zur regula. Von mündlicher Regelung zu schriftlicher Regel im Mönchtum von Lerins, in: Vom Kloster zum Klosterverband. Das Werkzeug der Schriftlichkeit, Akten des internationalen Kolloquiums des Projektes L 2 im SFB 231 (22.-23. Feb. 1996), MMAS 74, hrsg. von H. KELLER / F. NEISKE, München 1997, 4 4 - 5 5 .
48
1. Zum Begriff
regula
gestrebt. Zahlreiche schriftlich fixierte Klosterordnungen versuchten der Notwendigkeit der Eingrenzung von Wildwuchs und Individualismus nachzukommen. Das lateinische Mönchtum tendierte nun stärker zu einer festen Ordnung und Reglementierung als das östliche. Eine fruchtbare Zeit der Mönchsregelproduktion zwischen dem 5. und dem Anfang des 8. Jahrhundert ließ im Westen ca. 30 Mönchsregeln entstehen, die die Sicherung des lebens- und bewahrenswerten anerkannten Mönchslebens zum Ziel hatten. Auch die italischen Regeln des Benedikt von Nursia und des Magister, die miteinander verwandt sind, folgten diesem Trend. Die Benediktregel galt zunächst nur für das von jenem gegründete Kloster auf dem Monte Cassino und war eine von vielen italischen Klosterregeln. Sie wurde erst als Ergebnis einer späteren Entwicklung zu der das Abendland beherrschenden Mönchsregel. Ihre Vorteile lagen in der Schlichtheit und Praxisnähe, die eine Anpassung der asketischen Forderungen gemäß der Lebensumstände ermöglichte. Der Abt, der von allen Mönchen gewählt wurde, war dabei der geistliche Lehrer und Vater der Mönchsfamilie, die in sich geschlossen und sich selbst genügend war. 182 1.3.3 Semantische Entwicklung der regulae Mit Vogüe lassen sich die Regeln schließlich in die Folge der Mönchsregeln besonders gut charakterisierende Generationen einteilen. Zumal jede Regel von einer oder mehrer Vorgängerinnen beeinflußt wurde, so daß sie eine literarische Familie bilden. Er kommt dabei zwischen 400 und 700 auf acht Generationen. Der ersten Generation um 400 gehören der Ordo monasterii Augustins (ca. 395) sowie sein Praeceptum und das Asketikon des Basilius (397) an, außerdem auch die Pachomius-Regel (404) und die VierVäter-Regel (400-410). Zur zweiten um 425 gehören die zweite Väterregel sowie De Institutis coenobiorum et de octo principalium vitiorum remediis und die Conlationes Patrum des Cassian. Um 500 schließlich entstand die die dritte Generation repräsentierende Macarius-Regel. Zwischen 515—542 sind die Regula Orientalis, die Regel des Caesarius für Jungfrauen und Mönche, die Magisterregel, die Regel des Eugipp, die dritte Väterregel mitsamt der zweiten Rezension dieser Regel einzuordnen. Zur fünften Generation (530-560) zählen die Benediktregel und die Aurelius-Regel für Jungfrauen und Mönche, zur sechsten die in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts entstandene Regula Tarnatensis, die Regel von Fereol und die Paulus-Stephan-Regel. Der siebten Generation (1. Viertel 7. Jahrhundert) gehören die Columban-Regel, die Regula coenobialis und Isidors Regel an, der letzten Generation (Ende 7. Jahrhundert) schließlich die Re182 FRANK, Mönchtum 4 5 - 5 0 ; K.S. FRANK, Grundzüge der Geschichte der Alten Kirche, Grundzüge 25, Darmstadt 4 1984, 181 f; siehe auch LUTTERBACH, Mönchswerdung 79.
1.3 Als
Lebensordnung
49
geln von Fructaeux und die Regula communis. Vogüe beschreibt ausführlich in welcher Weise die Regeln untereinander Anleihen machen. In einem Schema versucht er ihre Abhängigkeiten graphisch darzustellen. Zur chronologischen Anordnung kommen geographische, semantische und organisatorische Aspekte hinzu. 183 Der Umfang der Regeln schwankt enorm. Deshalb läßt sich unter diesem Gesichtspunkt auch keine Verbindung ziehen. Sowohl in den Anfängen der Gattung als auch an ihrem Ende finden sich sehr kurze Regeln. Es lassen sich darüber hinaus verschiedene Typen von Regeln unter formalen Aspekten unterscheiden, zum Beispiel bezüglich ihres Zweckes: normativ - informativ - legislativ; oder bezüglich des Adressaten: für ein einzelnes Kloster oder mehrere; bezüglich des Autors: ein einzelner, eine Synode, ein Anonymus; oder des Überlieferungszustandes: nur eine einzige Form oder auch Rezension etc. Auch die gattungsgeschichtliche Verwandtschaft kann ein Unterscheidungskriterium bilden: mit kirchenrechtlichen Sammlungen, mit Quaestiones et responsiones oder den östlichen Typika.]S4 In semantischer Hinsicht ist zunächst einmal festzustellen, daß der Begriff regula schon im 6. Jahrhundert vom Magister 1 8 5 und Benedikt sowie ihren Zeitgenossen in Gallien benutzt wurde, um ihre eigenen, legislativen Arbeiten zu kennzeichnen. In der älteren monastischen Literatur hingegen wurde das Wort regula im Sinne der Observanz gebraucht, während die Regeln selbst einen anderen Namen bekamen. 1 8 6 Augustinus spricht an keiner Stelle von einer Regel. Seinem ersten Werk in dieser Richtung gibt er den Titel De ordine monasterii, während der Titel des zweiten Werkes, das sich mit einem solchen Thema beschäftigt, Praeceptum, eine moderne Schaffung ist; er selbst nennt es am Ende des Werkes nur hoc libellom. Allerdings spricht er in De moribus ecclesiae catholicae et de moribus
183 VOGÜE, Les règles 12-16; das Schema befindet sich auf Seite 14, die Untersuc h u n g der Anleihen auf den Seiten 14-16. Diese A u s f ü h r u n g e n sind auch in VOGÛÉ, Regola 1 4 2 0 - 1 4 2 8 , abgedruckt. 184 VOGÛÉ, Les règles 16 f. 1 9 - 2 2 ; vgl. auch SKEB, Mönchsregel 507. 185 Der Verfasser dieser Regel ist unbekannt, er nennt sich selbst Magister. Die Kontroverse um die beiden Regeln konnte in der heutigen Forschung mittlerweile soweit geklärt werden, als daß die Abhängigkeit der Benedikt- von der u m f a n g r e i c h e r e n Magisterregel als gesichert gilt, j e n e damit vorbenediktinisch zu datieren ist. Diese Feststellung basiert vor allem auf den Forschungsergebnissen VOGÛÉs. Siehe dazu auch K.S. FRANK, Art. Regula magistri, L T h K VIII, Freiburg u.a. 3 1999, 977 f. Strittig sind aber nach wie vor die genaue Entstehungszeit und -ort der Magisterregel. Siehe dazu LUTTERBACH, M ö n c h s w e r d u n g 124 f. 186 187
VOGÛÉ, Regola 1414 f. Aug., Praeceptum VIII 2 (435 VERHEIJEN).
50
/. Zum Begriff
regula
Manicheaorum von einer uiuendi regula de Manichaeim, der Regel einer römischen Gemeinschaft von manichäischen Asketen. 189 Zur gleichen Zeit übersetzte Rufin Basilius' Kleines Asketikon und bezeichnete es im Vorwort als Sancti Basilii Cappadociae episcopi, ..., instituía monachorum190 oder einfach nur instituía. Er benutzt aber auch den Begriff regula lOmal in der Übersetzung des Textes, immer im Singular, entweder um ein Gebot Gottes oder der Schrift zu kennzeichnen, zum Beispiel Sujficieníer quoque etiam apostolus huiuscemodi usibus brevi sermone regulara dicens ,Habenies autem victum et vestitum his contenti sumus'i9\ oder um eine Einzelregel - dann aber ergänzt durch einen Zusatz wie regula pietatis192 oder regula uoluntariae paupertatism - oder eine funktionale Liste von jedem Mitglied der Gemeinschaft zu bezeichnen 194 , nie aber um das Werk des Basilius in seiner Gesamtheit zu kennzeichnen. Rufin beruft sich auch auf das griechische Zeugnis und setzt regula mit xavobv gleich. Allerdings muß hier auch die Rufinische Eigenart berücksichtigt werden, die schon bei der Übersetzung des Werkes von Orígenes begegnete, zum Beispiel wenn er Kanon mit ordinem uel modum ac regularn 95 wiedergibt. Daher hat die Verwendung von regula hier auch ihre Grenzen. 196 Sieben Jahre später (407) übersetzte Hieronymus die Pachomiusregel mit den dazugehörigen Stücken ins Lateinische. Dort findet sich mit 9mal - davon 3mal in den Praecepta et instituía und 3mal in den Praecepta aique iudica - ein ähnlich häufiger Gebrauch wie bei Rufins Übersetzung von Basilius' Asketikon. Auffällig sind besonders zwei Wendungen, die öfters gebraucht werden. 4mal spricht Hieronymus von den regulis mona-
188 189 190
191
Aug., Mor. eccl. II 20, 74 (CSEL 90, 155 BAUER). Vgl. VOGÜE, Regola 1415. R u f . , B a s i l . r e g . , P r a e f . 6 ( C S E L 86, 4 ZELZER).
Ruf., Basil. reg. XI 9; II 92 f; XII 11; LXXXIII 3; CXCI 3 (53; 22; 60; 122; 211 Z.). 192 Ruf., Basil. reg. CCII, 8 (220 Z.). 193 Ruf., Basil. reg. XI 15 (54 Z.). 194 VOGÜE, Regola 1415, führt hierzu Ruf., Basil. reg. CVII 1 (134 Z.), an: Unus quisque in opere suo observare debet propriam regulam sicut membrum in corpore. Dieser Interpretation zu folgen ist meines Erachtens schwierig. Viel eher folgt Basilius / Rufin hier dem klassischen Sprachgebrauch im Sinne von Maßstab, Richtschnur. 195 Ruf., Basil. reg. IX 3 (46 Z.). 196 VOGÜE, Regola 1415. Er nennt hier vier Stellen, an denen die Gleichsetzung stattfindet. Ruf., Basil. reg. XII 11 (60 Z.) bezieht sich meines Erachtens aber auch auf ein Gebot der Schrift. CVII 1 (134 Z.) ist strittig (siehe Anm. oben). Bei I 3 (8 Z.) und LXV (102 Z.) wäre eine Interpretation im Sinne von Klosterregel möglich - ob damit ein schriftlich fixierter Text gemeint ist, läßt sich aber nicht sagen.
1.3 Als
Lebensordnung
51
steru91 und verwendet dabei immer den Plural. Die regulae monasterii werden zudem in die Nähe von praecepta maiorum gerückt: Qui contemnunt praecepta maiorum et regulas monasterii, quae Dei praecepto constitute suntm. Hier scheint ein Hendiadyoin vorzuliegen, da sich die praecepta maiorum ja in den regulae monasterii niedergeschlagen haben und somit in ihnen enthalten sind. Vogiié vermutet, daß der Begriff regulae monasterii unter dem Einfluß von regula scripturarum steht, der ihm voranging. Diese Wendung wird 2mal benutzt, immer im Singular. Im Gegensatz zu Augustinus und Rufin bezeichnet Hieronymus, laut Vogüé, die regulae zum ersten Mal als „una legislazione monstica offerta al pubblico latino, ma il termine, sempre usato al plurale in questo senso, non ha un significato cosi chiaro come se fosse al singolare. La ,r[egola] delle Scritture' è unica, ma ,le r.[egola] del monastero' non sono ancora che un aggregato, non un oggetto semplice." 199 Auch Skeb führt an, daß bei Hieronymus zum ersten Mal „eine für das Mönchtum relevante Gesetzgebung (c. Joh. 40) (allerdings im Plural im Sinne von Einzelvorschriften)" 200 belegt ist. Regula scripturarum und das Gesetz des Klosters stehen sich aber sehr nah, wie Instituía 10 zeigt: et omnio quicquid contra regulam scripturarum est et monasterii disciplinam. Hier sind mit monasterii disciplina aber nicht die einzelnen Reglungen gemeint, sondern die Gesamtheit der monastischen Disziplin, wie der Singular zeigt. Obwohl Hieronymus das Werk auch als patris nobis regulas201 bezeichnet, gibt er ihm dennoch nicht den Titel Regulae Pachomii, sonder prae-
197 Pachomiana Latina, Règle et épitres de S. Pachome, èpitre de S. Théodore et „Liber" de S. Orsiesius, texte latin de S. Jérôme, édité par A. BOON; Appendice: La règle de S. Pachome. Fragments coptes et excerpta gregs, édités par L.-T. LEFORT (Bibliothèque de la revue d'histoire ecclésiastiqué 7), Louvain 1932, Inst. 17; lud. 8; 12 und 15. Auch im Liber Orsiesii taucht der Begriff im § 26 auf. 198 Pachomiana Latina: lud. 8. Der Begriff praeceptum wird im übrigen 23mal benutzt, vgl. Praecepta 8; 18; 23; 51; Inst. Prol.; 18; Leg. 2 et cetera. 199 VOGÜÉ, Regola 1416. Er vergleicht die lateinischen Ausdrücke auch mit den koptischen Originalen und befindet, daß Hieronymus korrekt übersetzt, wenn er das pshi nnegraphè mit regula scriptarum wiedergibt. Der Begriff regulae monasterii korrespondiert, laut VOGÜÉ, im ersten Fall mit dem koptischen netkè ehrai. Hierzu ist anzumerken, daß bei BOON zwei koptische Fragmente ediert sind. Das erste betrifft die Praecepta, das Zweite die Praecepta et instituía. Da die Praecepta den Begriff regula nicht aufweisen, ist für uns nur das zweite Fragment interessant. Dort ist der Prolog nicht erhalten. VOGÜÉ kann seine Angabe zu pshi nnegraphie (es müßte sich um Inst. 10 handeln, da er zu Inst. 1 pshi nnkôt angibt) nicht von BOON haben. Der § 10 ist nur bruchstückhaft erhalten, so daß VOGÜÉ auch von dort keine der beiden koptischen Fassungen von regula scripturarum haben kann. Woher sie sonst stammen sollten, gibt er nicht an. 200 SKEB, Mönchsregel 506. Seine Quelle ist allerdings nicht die Pachomiusregel, sondern die Schrift Contra Johannem cap. 40: ut ab aliis contra regulas ordinati essent. 201 Pachomiana Latina, Epístola patris Theodori ad omnia monasteria de Pascha.
52
/. Zum Begriff
regula
cepta Pachomii. Der Terminus regula hingegen taucht erst am Ende der Pachomiana auf. Der Name regulae, zur Bezeichnung der pachomianischen Gesetzgebung, wurde folglich nicht auf Anhieb vom Übersetzer gewählt. 202 In der Regula Quatuor Patrum wird der Begriff regula 7mal (einschließlich Titel) benutzt. Dabei ist eine Verwendung im Sinne einer lebendigen Norm in ihrer Gesamtheit, die aber kein schriftliches Zeugnis darstellt, zu unterscheiden von der Benutzung des Terminus regula in bezug auf die Heilige Schrift. Im ersten Fall sprechen die Väter von regulam ordinäre oder regulam teuere. Besonders die Formulierung uitam fratrum uel regulam teuere203 verdeutlicht diese überwiegende Bedeutung von regula sehr treffend. Daß hier aber noch keine ausschließliche Benutzung von regula zur Kennzeichnung der Norm vorliegt, zeigt sehr deutlich Regula Quatuor Patrum 3, 31: Custodienda sunt ista praecepta et singulos dies in aures fratrum recensenda. Die andere Verwendung von regula betrifft die Heilige Schrift. Regula pietatis204 bezieht sich 2mal auf ein vorangegangenes Schriftwort. Der Titel Incipit Regula Sanctorum Patrum Serapionis, Macarii, Pafnutii et alterius Macarii scheint aber nicht ursprünglich zu sein, da regula auch hier wiederum kein schriftliches Zeugnis, sondern die lebendige Norm meint 205 . Zwanzig Jahre später (427) aber schlugen die Autoren der zweiten Väterregel vor, eine regula zu schreiben: uisum est nobis conscribere uel ordinäre regulam, quae in monasterio teneatur ad profectum fratrum206. Hier trägt das Wort regula die uns bekannte Konnotation der Schriftlichkeit 2 0 7 . Im Titel des Werkes kommt die Bezeichnung regula aber nicht vor, statt dessen wird der Name Statuta Patrum gewählt. Den Zweck ihres Vorhabens umschreibt die Zweite Väterregel im Vorwort folgendermaßen: ut neque nos laboremus, neque sanctus praepositus qui constitutus est in loco dubitationem aliquam patiatur, ut omnes unianimes, sicut scribtum est, et unum sentientes, inuicem honorantes, ea quae statuta sunt a Domino iugi obseruatione custodiant.2m Es gilt also die Gefahr zu überwinden und die Einmütigkeit zu beschwören. Die Regel endet mit den Worten Excipit sta-
202
VOGÜE, R e g o l a
1416.
203
La règle des quatres pères II 28 (SC 297, 190 DE VOGÜE); vgl. auch Praef. 3 (180 V.) ; I 7 (182 V.); II 21 (188 V.). Bei der letzten Stelle ist VOGÜÉ der M e i n u n g , daß sie sich auf einen besonderen Punkt der Regel bezieht; VOGÜÉ, Regola 1416. 204 Vgl. La règle des quatres pères IV 2 ( 198 V.) ; 1 7 ( 182 V.). 205
VOGÜE, R e g o l a
206
S e c o n d e règle des pères Praef. 2 (SC 297, 274 DE VOGÜÉ).
207
VOGÜÉ, R e g o l a
208
Seconde règle des pères Praef. 3 f (274 V.).
1416. 1416.
1.3 Als
Lebensordnung
53
tuta patrum209. Ansonsten kommt der Begriff regula nicht weiter vor, auch kein ähnlicher wie etwa praecepta, leges oder instituía. In De Institutis Cassians findet sich der Sprachgebrauch im Sinne einer schriftlichen Regel allerdings an keiner der 25 Stellen, an denen der Terminus verwendet wird. Zumeist im Singular bezieht sich regula 9mal auf eine bestimmte Tugend und meint dabei den Maßstab, zum Beispiel ieiunii regula oder oboedientiae regula210, gewöhnlich zeigt ein Genitiv dabei an, welche gemeint ist, oder auf eine bestimmte Observanz, zum Beispiel secundum Aegyptiorum regulam2U. Bei sechs Bezügen findet sich der Begriff im Plural und bezeichnet die Gesamtheit der Observanzen der Gemeinschaften, die entweder im Osten oder im Westen zu finden sind, davon 4mal in Kombination mit dem Begriff typi2]2. Cassian kann aber auch - ähnlich den Vier Vätern - den Singular benutzen, um die Norm des monastischen Lebens zu bezeichnen: sub hac regula spiritali2U oder uel uivere sub regulae institutione2[4. Auch wenn Cassian den Terminus im Singular nicht verwendet, um eine schriftlich fixierte Regel zu bezeichnen, so läßt sich sein Vokabular doch mit dem des Hieronymus vergleichen. So nennt er die Arbeit des Pachomius auch regulae215. Regula wird in De Institutis wie eine einzigartige Gesamtheit von monastischen Prinzipien und Observanzen dargestellt. 216 Betrachtet man das Umfeld von Lérins Riez in einer Predigt bald nach der zweiten letzung der Regel Uerbi gratia: superbiae laui, seniorem laesi, iuniorem destruxi217 209
genauer, so spricht Fausto von Väterregel 4mal von einer Veracquiescere coepi, regulam ui- oder ihrer Überschreitung -
Seconde règle des pères 46 (282 V.). Cassian., Inst. coen. III 10 (CSEL 17, 44 PETSCHENIG): Ieiunii regula; Inst. IV 10, (53 P.): oboedientiae regula; vgl. auch II 18 (32 P.); XII 27 (225 P.); IV 39 (75 P.); V 5,1 (84 P . ) ; V 36 (108 P . ) ; VII 24 (146 P . ) . 211 Cassian., Inst. coen. Praef. 9 (7 P.); vgl. auch Praef. 8 (6 P.); IV 1 (49 P.); III 1 (33 P.). 212 Vgl. Cassian., Inst. coen. II 2 (17 f P. = 2x); II 3 (20 P.); IV 15 (57 P.). Außerdem einmal mit einer bestimmten Observanz (IV 1) und einmal mit dem Begriff instituía (I 2) gekoppelt. 213 Cassian., Inst. coen. IV 41 (76 P.). 214 Cassian., Inst. coen. VII 10 (135 P.): Die Kombination mit institutio fällt in diesem Zusammenhang besonders auf, vgl. auch IV 6.33 (51.72 P.) sowie VII 31 (149 P.). Die übrigen Stellen, an denen Cassian den Terminus verwendet, sind: secundam catholicam regulam I 2 (10 P.); monasteriorum regulam sancienda I 2 (10 P.) und contra huius regulae disciplinam II 15 (30 P.). 215 Cassian., Inst. coen. IV 1 (49 P.) de Tabennesiotarum regulis und IV 15 (57 P.). Der Plural resultiert daraus, daß an diesen Stellen nicht nur von Pachomius' Werk die Rede ist. 216 VOGÜÉ, Regola 1417. 217 Eus.-Gal., Homiliae XXXVIII 6 (CChr.SL 101, 446 GLORIE). 210
54
I. Zum Begriff
regula
nostram regulae transgressionem uiolamus2[&, ohne daß ersichtlich wird, ob es sich um eine schriftliche Regel handelt. Wenn Fausto formuliert: qui fideliter sanctam regulam custodierit ab illo [sc. Honoratiorio] allatum, et per illum a Christo ad confirmationem loci istius constitutam219, so drückt sich in der Formulierung Sanctam regulam die besondere Bedeutung der Regel und ihre göttliche Herkunft a Christo constitutam aus. Während für Vogûé aber auch hier noch nicht klar ist, ob es sich um ein schriftliches Zeugnis handelt 220 , urteilt Kasper, daß die régula „damit in die Nähe der Heiligen Schrift (bei Faustus sancta pagina) gerückt [wird], was sowohl ihre Qualität wie auch ihre Form, nämlich schriftlich verfaßt, unterstreicht." 221 Die Regula Macarii, die auch aus dem Umfeld von Lérins stammt, benutzt am Ende des 5. Jahrhunderts deutlich den Terminus régula und meint damit eine schriftliche Regel. Sie spricht zum einen davon, daß bei der Aufnahme ins Kloster die Regel verlesen werden sollte: régula ei introeunti legatur et omni actus monasterii Uli patefiat.222 Zum anderen von dem, was die Regel beinhaltet: Nam si aliquam in cellulam uoluerit inferre substantiam, in mensa ponatur coram omnibus fratribus, uelut régula continet,223 Regula ist hier also eindeutig ein schriftlicher, normativer Text 224 . Ihr Titel Incipit Regula Sancti Macarii Abbatis qui habuit sub ordinatione sua quinque millia monachorum225 ist authentisch. Auch die Regula Orientalis benutzt den Terminus régula im Sinne der schriftlichen Regel: quae in régula continentur226. Der Plural regulae im Sinne von Einzelregeln, die zusammengenommen die Norm bilden, ist hier wiederzufinden: Qui contemnunt praecepta maiorum et régulas monasterii, quae Dei praecepto constituta sunt227. Es wird dann auch wieder der göttliche Ursprung herausgestellt, zudem wird régula aber nicht monopolistisch benutzt, wie Regula Orientale 7 verdeutlicht: Nemo in cella et in domo sua habeat quicquam praeter ea quae in communi monasterii lege 218
Eus.-Gal., Homiliae. X L 6 (480 G.), vgl. auch XLIII 4 (514 G.); X L I V 2 (523 G.). Eus.-Gal., Homiliae L X X I I 4 (776 G.). 220 VOGÛÉ, Regola 1417, hält dies zwar f ü r möglich und setzt diese mit der VierVäterregel gleich. Fausto kann den Begriff aber auch im Sinne der lebendigen N o r m benutzt haben. 221 KASPER, Exhortatio 40. Auf Seite 43 k o m m t er zu d e m Schluß, daß bereits im zweiten Viertel des 5. Jahrhundert in Lérins von einer Regel im monastischen, nämlich schriflich fixiertem, Sinn gesprochen werden kann. 222 Reg. M a c . XXIII 2 (SC 297, 382 DE VOGÜE). 223 Reg. Mac. X X I V 1 f (382 V.). 224 VOGÛÉ, Regola 1417. 225 Reg. Mac. (372 V.). 226 Règle Orientale I X X X 3 (SC 298, 4 8 6 DE VOGÜE); vgl. auch I X X X 5 (486 V.). 227 Règle Orientale IXX (476 V.). Der Begriff régula monasterii tritt des weiteren auch in X V I 2 (472 V.) auf. 219
1.3 Als
Lebensordnung
55
praecepta sunt. Außerdem bezieht sich regula nicht allein auf die Kennzeichnung der Klosterregel, sondern kann auch die Heilige Schrift meinen: et omnino quicquid contra regulam scripturarum est et monasterii disciplinam22i. An dieser Stelle geht es der Regula Orientalis weniger um den schriftlich fixierten Text als um die lebendige Autorität der monastischen Lebensweise, deshalb verwendet sie auch nicht den Begriff regula monasterii. Um 500 verlegte sich die Tradition von Lérins nach Arles, wo der Terminus bei Caesarius einen andauernden und exklusiven Gebrauch erhielt. Dieser benutzte den Begriff 24mal um seine schriftliche Arbeit, die Regula ad uirgines, zu bezeichnen. Allerdings lautete der authentische Titel Statuta sanctarum uirginum, nicht regula. Das Werk endet dann aber mit den Worten: Caesarius peccator regulam hanc sanctarum uirginum relegi ac subscripsi.229 Wie Cassian, so verknüpft auch Caesarius regula gerne mit instituía oder institutio230. Und wie bei Fausto, so ist die regula auch bei Caesarius eine regula sancta23í. Außerdem finden sich bei ihm weitere bekannte Formulierungen 2 3 2 . Im übrigen zeugen Formeln wie regulam custodire233 von der Verbindlichkeit der Regel, die auch für die Äbtissin gilt, wie in Regula ad virgines 64, 5 bekräftigt wird: Quaecumque enim abbastissa aut quaelibet praeposita aliquia contra sanctae regulae institutionem facere temptauerit, nouerint se mecum ante tribunal Christi causam esse dicturas. Wir treffen bei Caesarius auch auf eine regulam monasterii Lyrinensis234, also eine Regel aus Lérins, was für deren Schriftlichkeit spricht. Obwohl seine Regula ad monachos erst nach der Regula ad uirgines erschien, findet sich der Terminus regula dort - bis auf zwei Erwähnungen im Incipit235 - gar nicht, was zumindest zum Teil auf die Kürze des Werkes zurückzuführen ist 236 . Die Regula Patrum Tertia (ca. 535) benutzte den Begriff ausschließlich im Sinne des schriftlichen Zeugnisses, sogar eines mit Tradition: in primo
228
Règle Orientale XV 2 (470 V.). Caes.-Arl., Virg. LXXIII 3 (SC 345, 272 DE VOGÜE / COURREAU). Im übrigen formuliert er auch sicut in ipsa régula constituimus LI 5 (238 V./C.) oder sicut in hac régula statuimus LUI 1 (240 V./C.) oder uobis regulam fecerimus X L V I I I 1 (232 V./C.). 2,0 Vgl. Caes.-Arl., Virg. X X V I 3 (204 V./C.); X L V I I 1 (232 V./C.); XLVIII 1 (232 V./C.); LXII 2 (246 V./C.); L X I V 1.5 (250 V./C.); L X V 3 (252 V./C.); LVIII 2 (242 V./C.). 231 Vgl. Caes.-Arl., Virg.. XVIII 4 (226 V./C.); X L V I I 1 (232 V./C.); L X I V 2.5 (246.250 V./C.). 232 Vgl. Caes.-Arl., Virg. XLIII 4 (226 V./C.); LVIII 1 (242 V./C.). 233 Caes.-Arl., Virg. X X X V 5 (216 V./C.); vgl. auch L X I 2 (244 V./C.). 234 Caes.-Arl., Virg. LVI 2 (254 V./C.). 235 Ceas.-Arl., Mon. Prol. 1.7 (SC 398, 204 COURREAU / DE VOGÜE). 236 VOGÛÉ, Regola 1417 f. 229
1. Zum Begriff
56
regula
placuit ut regula et instituta patrum per ordinem legerentur221. Im übrigen treffen wir auf zum Teil schon bekannte Formulierungen wie regula ei 238
239
introeunti legatur oder uelut regula continet , aber auch solche wie in regula innioribus prohibetur240 oder sicut regula docet241 bezeugen die Normativität des schriftlichen Textes. Aufgrund der zahlenmäßigen Zunahme der Mönchsregeln seit dem Beginn des 6. Jahrhunderts in Gallien lassen sich sowohl semantische als auch organisatorische Rückgriffe der Regeln aufeinander erkennen. Auf Vogües Ergebnis zu den Generationen der Mönchsregeln und ihren Anleihen untereinander stützt sich auch Lutterbach in seiner Untersuchung zur monachatio und stellt in semantischer Hinsicht darüber hinaus fest, daß im Zuge der Klosteraufnahme nun auch die Verlesung der Regel regula legere und ähnliches gefordert wurde, allerdings nie im Eigenstudium, sondern immer in Form des Vortrags. Das Mönchtum fühlte sich zunächst in seinen Anfängen der geistlichen Autorität in der konkreten Gestalt des abbas verpflichtet, unabhängig davon, ob dessen Weisungen bereits schriftlichen Niederschlag gefunden hatten. Im 6. Jahrhundert zeigte sich aber eine zweite Entwicklungsstufe, bei der einige abbiale Leitungstraditionen als regula festgehalten wurden, wobei diese „nur die konkretisierte und fixierte geistliche Führung [ist], ein Ausfluß der charismatisch begründeten Autorität, die immer über dem Regelbuchstaben steht." 242 Es geht hierbei folglich nicht um die buchstabengetreue Befolgung der Regel als Richtschnur im Sinne von regula promittere, sondern vielmehr darum, die literalen Regelvorschriften und die ortsüblichen Gewohnheiten zu versprechen, folglich um das Zusammenwirken von schriftlicher und mündlicher Autorität. 243 Sowohl bei dem Magister als auch bei Benedikt findet sich der Begriff regula oft. Die meisten der circa 75 Stellen beim Magister beziehen sich wie bei Caesarius auf eine schriftlich fixierte Regel in ihrer Gesamtheit; allerdings findet sich unter diesen auch eine regula quadragesimalis, die auf drei Kapitel beschränkt ist und eine bestimmte Observanz beschreibt. 237
Reg. Patr. I 1 (SC 298, 532 DE VOGÜE). Reg. Patr. I 3 (532 V.). 239 Reg. Patr. I 6 (532 V.). 240 Reg. Patr. II 3 (532 V.). 241 Reg. Patr. IV 1 (534 V.). 242 A.A. HÄUSSLING, Mönchskonvent und Eucharistiefeier. Eine Studie über die Messe in der abendländischen Klosterliturgie des frühen Mittelalters und zur Geschichte der Meßhäufigkeit, L W Q F 58, Münster 1973, 162. 243 LUTTERBACH, Mönchswerdung 109. Er bezieht sich hier auf die Regula Orientalis, Regula Macarii, Caesarius' Regulae ad virgines und ad monachos, Aurelians von Arles Regula ad virgines und ad monachos, Regula Patrum Tertia, Regula Tarnatensis und Regula Ferioli. 238
1.3 Als
Lebensordnung
57
Der Magister benutzt regula zunächst im Sinne eines Codex, der die regula enthält, häufig dann aber auch im Sinne eines Aktes des Befehlens, Verbietens oder Beratens. Benedikt spricht, wie der Magister, von regula, um seine eigene Arbeit zu beschreiben (27mal). Analog dem Magister gebraucht er regula, um in Form einer Personifikation, zum Beispiel regulae auctoritas eis prospiciat, einen besonderen Punkt derselben zu besprechen. Keiner von beiden gebraucht den Plural, aber beide erwähnen andere Regeln. Bei Benedikt findet sich schließlich auch - wie bei Fausto und Caesarius - die sancta regula.244 Die Tatsache, daß Benedikt Basilius' Werk Regula sancti patris nostri Basilii245 nennt, obwohl Rufin es als instituta und nie als regula bezeichnete, zeigt sehr gut den monpolistischen Gebrauch des Wortes regula während dieser Hälfte des 6. Jahrhundert und trennt Rufin von Benedikt. „Ormai qualsiasi testo monastico che presenti un certo carattere normativo, riceve il nome di r.[egola]" 2 4 6 Sowohl der Magister als auch Benedikt geben zu Beginn ihrer Werke eine Definition von regula. Beim Magister geschieht dies im Prolog, der erst am Schluß den Titel des Werkes nennt. Zuvor ist fast eine Verwechslung mit der Heiligen Schrift möglich, so nebulös klingen seine Ausführungen. Er definiert regula nun folgendermaßen: Audi ergo et age quod est bonum et iustum, per quod Deus inuenitur propitius, et haec regula quae tibi ostendit factis adinple. Quae regula ad perficiendum rectum regulae nomen accepit, sicut dicit apostolus in epistula sua: Secundum mensuram regulae, quam mensus est nobis Deus mensuram, pertingendi usque ad uos. Nam regula ueritatis habet initium et iustitiae finem241 Der erste Satz deutet das Verständnis von regula im Sinne einer Schrift an; diese Regel-Schrift zeigt, was in die Praxis umgesetzt werden muß. Regula ist etwas, das das Rechte / Gerade bewirken soll. Der Magister bezieht sich des weiteren in seiner Definition auf 2 Kor 10, 13-16, wo Paulus xavcbv / regula im Sinne des übertragenen Maßstabes versteht: ein Maßstab, den Gott dem Menschen an die Hand gegeben hat. Benedikt stellt seine Definition dem ersten Kapitel De generibus monachorum voran: Incipit textus Regulae. Regula appellatur ab hoc quod oboedientum dirigat mores.24S Zwei Aspekte treten hierbei in den Blick: zum einen gibt die regula der Lebensweise eine gerade Richtung, das heißt, sie ordnet und gibt ein Ziel, sie setzt einen Maßstab, eine Richtschnur, nach der man sich richtet. Zum anderen geht es um die, die gehor244
VOGÜE, R e g o l a 1 4 1 8 .
245
B e n . , R e g . L X X I I I 5 ( S C 1 8 2 , 6 7 2 DE VOGÜE / NEUFVILLE).
246
VOGÜE, R e g o l a 1 4 1 8 .
247
R e g . M a g . P r o l . 2 2 - 2 4 ( S C 1 0 5 , 2 9 2 . DE VOGÜE).
248
B e n . , R e g . I ( S C 1 8 1 , 4 3 6 DE VOGÜE/NEUFVILLE.
58
1. Zum Begriff
regula
chen, womit ein Kennzeichen des Lebens unter einer solchen regula genannt ist. Man muß ihr gehorchen, da sie eine gewisse Normativität besitzt. In diesem ersten Kapitel unterscheidet Benedikt nun vier Arten von Mönchen. Er übernimmt damit, in gekürzter Form, das erste Kapitel aus der Magisterregel. Beide, Benedikt und Magister, geben hier das wesentliche Kriterium der Zönobiten an: militans sub regula uel abbas249. Definierendes Element des Zönobitentums sind also regula und abbas. Vogüe bezeichnet diese Formulierung - die im übrigen Cassian entnommen ist, bei dem aber regula fehlt - zutreffend als „Verfassungsformel" 2 5 0 . Die Regel stellt das Gesetz und die Autorität des Buches dar, während der Abt der Vorgesetzte und die Autorität des lebendigen Menschen ist. Zwei Deutungen für den Vorrang von regula vor abbas sind möglich. Zum einen kann Benedikt einfach nur das Gesetzes des Textaufbaus befolgt haben, indem er die Gattung des Werkes zunächst voranstellt, bevor er mit seinen Ausführungen fortfährt. Zum anderen kann er aber auch den Vorrang des Gesetzes vor dem Menschen meinen. Regula dient hier als Richtlinie für die Amtsführung, sie ist Statut, das befolgt werden muß. Sie wird sogar auf die achte Stufe der Demut gehoben: Octavus humilitatis gradus est si nihil agat monachus, nisi quod communis monasterii regula uel maiorum cohortantur exempla,251 Auch der Abt ist nichts ohne eine Regel, die seine Autorität begründet und ihm die Richtung vorgibt. 252 Für diese Interpretation spricht auch das Kapitel III 7 - 1 1 der Regula Benedicti, in dem die regula als Lehrmeisterin bezeichnet wird. Die Regel erscheint hier als verbindliches Gesetz, an das sich alle, nicht zuletzt auch der Abt, zu halten haben: Ipse tarnen abba cum timore Dei et obseruatione regulae omnia faciat, sciens se procul dubio de omnibus iudiciis suis aequissimo iudica Deo rationem redditurum,253 Kritisch ist aber mit Jenal zu bedenken, daß die Regel eben nicht die einzige Norm der Gemeinschaft ist. „Zahlreiche Male vermerkt die Regula Benedicti, daß es dem Abt zustehe, begründeterweise die Regel abzuändern, sofern es die Situation erfordere. Das heißt, in der Gemeinschaft nach der Regula Benedicti bleibt es dem Abt gestattet, den Buchstaben der Regel jederzeit zu verändern, sofern nur der Geist bewahrt wird. Gegen den Geist der Regel ist allerdings auch ihm keine Abweichung
249 Ben., Reg. I 2 (436 V./N.); Reg. Mag. I 2 (328 V.). Benedikt übernimmt bis zum Ende des fünften Satzes den Magistertext wörtlich. 250 VOGÜE, Kommentar 73; vgl. Auch G. JENAL, Italia ascetica atque monastica. Das Asketen- und Mönchtum in Italien von den Anfängen bis zur Zeit der Langobarden (ca. 150/250-604) I, M G M A 39/1, Stuttgart 1995, 263. 251 Ben., Reg. VII 55 (486 V./N.). 252 VOGÜE, Kommentar 73 f. 253 Ben., Reg. III 11 (454 V./N.).
1.3 Als
Lebensordnung
59
gestattet." 254 Vogüe schließt an seine Überlegungen eine zugespitzte Deutung an, die sich auf die Quelle der regula zurückbezieht. Der Abt nimmt dabei die Stelle Christi ein, während die regula mit der Heiligen Schrift verglichen wird. Diese leite sich ja aus dem Wort Gottes her und sei daher eine Weise der Gegenwart und des Handelns Gottes unter seinen Mönchen. 255 Der früheste bekannte Kommentar zu einer Mönchsregel stammt aus dem 8. Jahrhundert und hat sich die Regula Benedicti als Vorlage gewählt 256 . Die Frage, warum es nicht früher schon Regelkommentaren verfaßt wurden, läßt sich wie folgt beantworten: Kommentierungen wurden erst dann erforderlich, wenn es einen Erklärungsbedarf gab. Da die meisten regulae zum Teil nur aus sehr kurzen Anweisungen für das Leben bestanden, waren sie kaum erklärungsbedürftig, besonders dann nicht, wenn sie sich auf einen bestimmten Ort bezogen und nur dort befolgt wurden. Desweiteren war bis zum 7. Jahrhundert auch kein zeitlicher Abstand gegeben, der ein verändertes Verständnis und somit Erklärungsnot hervorgerufen und eine Kommentierung erforderlich gemacht hätte. Bis zu diesem Zeitpunkt herrschte in der Regelproduktion eine äußerst kreative Phase. Ungefähr 30 schriftlich fixierte Regeln aus dieser Zeit sind erhalten geblieben. Statt zu kommentieren, schrieb man eine neue Regel, die sich zumeist auf ältere bezog. Auch wurden die verschiedenen Regeln, da wo es sinnvoll schien, miteinander vermischt. Dieses Phänomen wird auch die Zeit der Mischregeln genannt. Es gab keinen als allgemeingültig anerkannten Standard. „Im Zeitalter der Regula mixta war die tatsächliche Norm, nach der ein Kloster lebte, in einem kaum eindeutig feststellbaren Maß ein Akt privater Gesetzgebung, deren Inhalt vom Willen des Klostergründers, der Persönlichkeit des Abtes und den Traditionen und Bedürfnissen der Klo-
254
JENAL, Italia ascetica I, 263. Die betreffenden Stellen aus der Ben., Reg. sind: Ben., Reg. III 5 (452 V./N.); XXXIII 2 (562 V./N.); IXL 6 (576-578 V./N.); XL 5 (580 V./N.); XLIII 10 f (588-590 V./N.); XLIV 5 f (592 V./N.) und andere, siehe auch JENAL, Italia ascetica 1,263 Anm. 388. Auch LUTTERBACH, Mönchswerdung 109 f, ist dieser Meinung. Für ihn steht bei den Regeln dieser Zeit immer noch die abbiale Autorität über der schriftlichen, die nur deren Konkretisierung und Fixierung darstellt. 255
256
VOGOÉ, K o m m e n t a r 74.
P. ENGELBERT, Regeltext und Romverehrung. Zur Frage der Verbreitung der Regula Benedicti im Frühmittelalter, RQ 81, 1986, 60 Anm. 94. Es handelt sich hierbei um den Smaragduskommentar, geschrieben von Smaragd von St. Mihiel (siehe dazu auch II. Teil, Kap. 3.2 Smaragds von St. Mihiel Via regia, unten 362 f). Der zweite große karolingische Regelkommentar ist der Basiliuskommentar aus der 1. Hälfte des 9. Jahrhunderts. Er existiert in drei Fassungen.
60
I. Zum Begriff
regula
stergemeinde abhing." 2 5 7 Frühestens ab dem 9. Jahrhundert setzte sich dann die Regula Benedicti durch. 258 Brauchten die regulae zunächst gelebtes Mönchtum als Voraussetzung, stellten sie dann aber auch selbst eine Art von regula / Maßstab dazu dar, wie die richtige christliche Lebensführung aussehen sollte. Indem sie sich immer auf die Bibel als Erstnorm bezogen, und dabei einen kaum variierenden Kanon von Bibelstellen besaßen, waren sie als Deutung der Aussagen der Bibel für das monastische Leben eine Art von Kommentar. Sie blieben aber nicht auf dieser Stufe stehen, da sie die Aussagen der Bibel auch selbst beinhalteten, ihrem Selbstverständnis nach sozusagen konzentrierten. 1.3.4 Die Bezeichnung regula bei Gregor dem Großen Die Vieldeutigkeit von regula findet sich in ihrer ganzen Reichhaltigkeit auch bei Gregor d. Gr. Leider untersucht Vogüe nur den monastischen Gebrauch des Begriffs. In den Dialogi verwendet Gregor den Begriff lOmal. So kann er regula benutzen, um von der Autorität des Abtes zu sprechen: sub Aedodati patris regula259. An anderer Stelle bezeichnet der Begriff die Gesamtheit der monastischen Disziplin, das Gesetz, das von allen Coenobiten befolgt werden muß: ab ... internae regulae subtilitate260. In diesem Zusammenhang begegnet auch die Wortkombination in sanctae conuersationis regula (se fortiter stringens)261. Ein einziges Mal - laut Vogüe 2 6 2 nennt Gregor ein schriftliches Zeugnis regula. Hierbei handelt es sich um die von Benedikt geschriebene Regel - was für Gregor von großer Bedeu257
ENGELBERT, Regeltext 43. J. SEMMLER, Art. Regula mixta, LMA VII, München 1995, 606 f; ENGELBERT, Regeltext 49-52, nimmt eine starke Verbreitung schon für das 8. Jahrhunddert an. 259 Greg.-M., Dial. II 1, 5 (SC 260, 132 DE VOGÜE); VOGÜE, Regola 1420, führt zu dieser Gebrauchsart Greg.-M., Ep. I 42, an, wo dieselbe Formulierung benutzt wird. Dial II 1, 5 hingegen ordnet er als eine nicht schriftliche regula eines bestimmten Klosters ein. Meines Erachtens handelt es sich bei der Autorität eines Abtes und einer nicht schriftlichen regula um ein und dasselbe. Siehe dazu auch Ausführungen oben. Andere Stellen, die ein solches Verständnis nahelegen, sind Dial. IV 57, 10 (188 V.) oder Ep. IX 20 (CChr.SL 140A, 581 NORBERG). Auch bei Dial. II 12, 1 (174 V.) nimmt VOGÜE einen solchen Gebrauch an. Hier ist meines Erachtens aber eher an eine Verwendung im Sinne einer Einzelregel zu denken. 258
260
Greg.-M., Dial. IV 46, 9 (SC 265, 164-166 DE VOGÜE). Greg.-M., Dial III 18, 1 (344 V.); vgl. auch IV 9, 1 (42 V.). 262 VOGÜE, Regola 1420; JENAL, Italia ascetica I, 309 f, stützt sich bei Untersuchungen zum Problem der regula auf Gregors Register und stellt, ähnlich wie VOGÜE fest: „Alle diese Bezeichnungen und Tätigkeitsbeschreibungen aber sprechen an keiner Stelle von einer schriftlich fixierten oder einer bestimmten regula (folglich auch nicht von der Regula Benedicti)." Das heißt aber nicht, daß Gregor diesen Sprachgebrauch nicht kennen würde. Auch JENAL bedenkt hier nicht Gregors eigene Regula Pastoralis, allerdings thematisiert er das Problem unter einem anderen Aspekt, nämlich dem der Mischregel. 261
1.3 Als
Lebensordnung
61
tung ist: Nam scripsit [sc. Benedictas] monachorum regulam263. Aber auch in Dialolgi II 28,3 denkt er daran, daß etwas als Regel festgehalten werden muß: Nec tarnen hoc, quod de eisdem electis uiris dicimus, de cunctis iam quasi in regulam tenemus. Die schriftliche Regel ist ihm also nichts Fremdes. Daß Gregor den Begriff nur einmal in bezug auf eine schriftliche Regel benutzt, kann man - betrachtet man zudem die Bezeichnungen, die er seinem eigenem Werk zukommen läßt - daher so nicht stehen lassen. Gregor, der im Kloster das Leben unter einer Regel kennen lernte, wußte um die Wichtigkeit eines solchen Maßstabes. Auch Dagens betont, daß Gregor den Begriff régula im gleichen Sinn wie die monastischen Regeln benutzte. Obwohl er im Widmungsbrief der Regula Pastoralis den Terminus nicht verwendete, so nannte er sein Werk in seinen Briefen doch Codex regulae pastoralis264 oder Liber regulae pastoralis265, das heißt, er verstand ähnlich wie Benedikt und der Magister seine eigene Arbeit als eine schriftlich fixierte Regel, einen legislativen Text. „C'est la preuve que 1' on avait rapidement pris F habitude de rapprocher son traité pastoral des règles monastiques et lui-même ne pouvait refuser un tel usage, qui devait être conforme à ses intentions." 266 Dagens fügt noch hinzu, daß die Gattung der régula mit einer pädagogischen Intention korrespondiere, von der auch Gregor sich habe inspirieren lassen: der Lehrer, der in seinen Disziplinen unterrichtet. „En somme, il va s' occuper de 1' éducation des pasteurs, comme 1' abbé s' occupe de 1' éducation de ses moines. ... Il entend composer un manuel dans lequel les prédicateurs pourront trouver les moyens pratiques d' adapter leur enseignement à leurs auditeurs. Cette intention correspond sans doute à un appauvrissement de la culture, mais aussi et surtout à la finalité presque exclusivement pastorale que Grégoire assigne à la prédication." 2 6 7 Aus diesem Grund darf meines Erachtens die Regula Pastoralis von einer semanti-
263
Greg.-M., Dial. II 36 (242 V.). Greg.-M., Ep. V 17 (CChr.SL 140, 285 NORBERG); außerdem besonders für Ep. VIII-XIV: Greg.-M., Ep. I - X I V (PL 77, 431-1368). 265 Greg.-M., Ep. V 53 (348 N.). 266 C. DAGENS, Saint Grégoire le Grand. Culture et expérience chrétiennes, Paris 1977, 125; SKEB, Mönchsregel 506, sieht in der Verwendung des Wortes régula bei Gregor einen Beweis dafür, daß der Terminus régula als Begriff „für das monastische Leben einer Kommunität normative Schrift als Ganze" sich zwar in der monastischen Literatur fest etabliert, aber noch keine ausschließliche Geltung erlangt hat. Dem ist sicher nicht zu widersprechen, es darf aber nicht mißachtet werden, daß Gregor den Begriff aus dem monastischen Bereich überträgt und auf die Bischöfe anwendet. Dies macht er auf einem monastischen Hintergrund und benutzt den Begriff in ähnlicher Art und Weise. Es findet sich also keine gänzlich anders geartete Benutzung bei Gregor. 264
267
DAGENS, Culture 126.
62
1. Zum Begriff
regula
sehen Untersuchung des Begriffs regula nicht ausgeschlossen werden, auch wenn man sich auf die monastische Literatur konzentriert. Die starke Affinität Gregors zum Mönchtum und die ausdrückliche Bezeichnung des Werkes als regula legen dies nahe, besonders für eine Zeit, in der sich der Begriff zum Fachterminus für schriftliche Regeln des Mönchtums herauszukristallisieren begann.
1.4 E r t r a g Als Begriff der römischen Rechtswissenschaften leitete sich regula von der ursprünglichen Bedeutung Maßstab, Richtscheit ab, wobei das Charakteristikum des Gradeseins eine wichtige Rolle spielte. Rechtsregeln in Spruchform waren bereits in älterer Zeit bekannt, wurden aber nicht so bezeichnet. Der Terminus regula tauchte erst mit der griechischen Wissenschaftsdiskussion auf. Zu unterscheiden sind ein rechtstheoretisches und ein rechtspraktisches Verständnis von regula. Vertreter der Rechtstheorie wie Cicero verstanden die Gesamtheit des Gesetzes als Maßstab für Recht und Unrecht und somit für alles menschliche Handeln. Hier ging es um einen Verhaltensmaßstab, bei dem sich Ethik und Rechtsphilosophie miteinander verbanden. Kennzeichnend für ein solches Verständnis von regula ist der ausschließliche Gebrauch des Begriffs im Singular. Die Rechtspraxis hingegen sah in den regulae einzelne Grundsätze, die sich auf eng begrenzte Einzelprobleme bezogen. Das wichtigste Merkmal der regula (ob nun in der Rechtspraxis oder theorie) war ihre Normativität. Diese konnte sich einerseits aus einer besonderen auetoritas herleiten - der Abstammung von den veteres oder der Ähnlichkeit mit der Gesetzgeberaussage - und andererseits aus einer allgemeinen, zu erfüllenden Erwartung. In beiden Fällen fand diese Normativiät ihren Ausdruck in der Bezeichnung Richtscheit oder Leitsatz. Was den biblischen und theologischen Bereich angeht, so nahm regula in der Heilige Schrift zunächst keine zentrale Position ein. Im Neuen Testament wurde der Begriff des Maßstabs in Gal 6, 16 zum einen mit einer Regel in Spruchform verbunden (diese ist bereits aus dem juristischen Bereich bekannt). Zum anderen wurde er gleich mit der Wahrheitsfrage zusammengebracht, was für die weitere Theologie noch eine Rolle spielte. Regula bezeichnete nun die Norm für die Bewahrung der Wahrheit. Auch in 2 Kor 10, 13-16 spielte die Normativität eine wichtige Rolle. Sie wurde begründet durch die Erwählungstat und auetoritas Gottes. Beide Stellen besaßen einen apologetischen Hintergrund. Ein Aspekt, der schließlich in der Theologie des 2./3. Jahrhunderts im Zusammenhang mit den Termini
1.4
Ertrag
63
regula fidei und veritatis von Bedeutung wurde. Diese sind in den Raum des Bekenntnisses einzuordnen und meinen den Inhalt der Gesamtheit der kirchlichen Lehren, das Glaubensbekenntnis der Kirche, das Niederschlag in der Heilige Schrift gefunden hat. Bei Tertullian fand sich die regula fidei daher auch in den Worten des ersten und zweiten Glaubensartikels ausgedrückt. Auch hier hatte regula die Bedeutung von Maßstab, und zwar als ein solcher, der halft ein Urteil über Wahr und Falsch zu fällen. Die regula fidei schloß, besonders bei Clemens von Alexandrien, die Verpflichtung zum Leben nach einer Norm ein. Solche Vorstellungen zeigten sich auch schon bei Seneca im Bereich der Rechtsethik und Lebenspraxis. Allen Theologen gemeinsam war die Verteidigung gegen Häresien. Das richtige Verständnis der Schrift und die apostolische auctoritas der regula fidei waren von großer Bedeutung. Der enge Zusammenhang der regula mit der Wahrheit, die sie beinhaltet und von der sie sich herleitet, verhalf ihr zur Position eines erkenntnistheoretischen Kriteriums. Die regula entwickelte sich im Bereich der Lebensordnung zur eigenen Gattung, bei der es sich um legislative Texte für Mönche und Nonnen handelte. Voraussetzung für das Entstehen solcher Texte war eine bestimmte Art der Lebensführung, das gelebte Mönchtum. Auch dieser regula-Begriff hatte seinen Ursprung sicherlich in römischen Vorstellungen zur ethischen Lebenspraxis und zu Verhaltensnormen. Die inhaltliche Gemeinsamkeit der Mönchsregeln war der Bezug auf die Heilige Schrift als Erstnorm. Aufgrund dieser auctoritas und der Weisheit der Mönchsväter, die in ihrer Lebensführung die Ausführungen der Heilige Schrift verwirklichten, besaßen die regulae eine hohe Normativität. Ihr Ziel war es, das Gerade zu bewirken beziehungsweise der Lebensweise eine gerade Richtung zu geben. Der Begriff bezog sich zunächst oft auf bestimmte Observanzen, die Autorität eines Abtes oder auf eine bestimmte Lebensweise als lebendige Norm. Dieses singularische Verständnis bezeichnete daher auch die Gesamtheit des monastischen Lebens. Die Schriftlichkeit einer Regel trat frühestens mit der Regula Patrum Secunda zum Terminus regula hinzu, deutlich dann in der Regula Macarii. Regula Benedicti und Regula Magistri meinten schließlich ihr eigenes Werk als legislativen Text. Aber auch hier wirkten schriftliche und mündliche Autorität noch zusammen: sub regula vel abbas. Diese Formel entsprach der Verfassung der Klöster. Die Regel war das Gesetz, sie stellte die Autorität des Buches dar. Gregor d. Gr. befand sich schließlich im Rahmen dieser Tradition, wenn er den Begriff regula verwendete. Während sich regula fidei bzw. veritatis auf das vom Christen zu Glaubende und damit auf ein inneres Phänomen bezogen, stellt die monastische regula eine Regel für die Lebensführung im äußeren Sinn dar.
64
1. Zum Begriff regula
Der Bereich der Lebensordnung weist aber sowohl Parallelen zum juristischen als auch zum theologischen Bereich auf, die auch als Übernahme eines bestimmten Gedankengangs gedeutet werden können. Sowohl der regula fidei / veritatis als auch monastischen Regeln geht es nicht um den Buchstaben, sondern um den Sinn, der dahintersteckt. Beide beziehen sich auf die Bibel als derjenigen, die diesen Geist im Sinne einer Erstnorm enthält. Mit dem Rechtsbegriff regula hat die Mönchsregel gemeinsam, daß sie von regulae (Plural!) im Sinne von Einzelregeln sprechen kann und daß es Codices / Libri gibt, die diese Regeln zusammengefaßt enthalten. Alle drei Bereiche aber beziehen sich auf das Verhalten und Handeln der Menschen in einer (bestimmten) Gesellschaft. In allen drei Bereichen wird der Begriff außerdem - mal mehr mal weniger - von mehreren Charakteristika geprägt, die Verbindungslinien herstellen. Die regula zeichnet sich aus durch eine Herkunft von höherer Stelle, welche ihre Autorität verleiht. Im juristischen Bereich waren dies ihr Alter, die Abkunft von den veteres und die gesetzgeberähnliche Abstammung. Im theologischen und klösterlichen Bereich gewinnt die Herkunft enorme Bedeutung, da Gott bzw. die Heilige Schrift selbst die Autorität verleiht. Aus dieser Herkunft leitet sich die Normativität der regula ab. Sie ist das hervorstechendste Merkmal in allen Bereichen und wirkt sich ganz konkret auf das Verhalten und die Lebensführung aus. Die regula ist geprägt durch das Geradesein, an ihr kann gemessen werden. Sie ist ein Maßstab und eine Richtschnur, nach der man sich richten muß. Das letzte Merkmal, das alle Bereiche betrifft, ist die Totalität. Sowohl in der Rechtsphilosophie, in der Theologie als auch in den monastischen Regeln findet sich ein Verständnis von regula, das eine Gesamtheit betrifft: Gesamtheit der Gesetze als regula, Gesamtheit der Lehren als regula und Gesamtheit des monastischen Lebens als Maßstab. Hier stellt sich nun die Frage, ob man von einer Gattung regula sprechen kann, die alle Bereiche mit einschließt. Sicherlich ist anzumerken, daß sich nicht aus einem Begriff eine Gattung ableiten läßt. Und im Sinne einer strengen literaturwissenschaftlichen Wertung kann man hier kaum von einer einheitlichen Textform sprechen. Wie gezeigt gibt es aber Grundbedeutungen, die diesem Begriff auf allen drei Ebenen zueigen sind und miteinander verneinen. Zudem finden sich, in den einzelnen Bereichen, auch bestimmte Formen wie die Spruchform. Daß die vorgestellten regulae miteinander auf das Engste zusammenhängen, sollte klar geworden sein. Um diesen Zusammenhang in eine prägnante Formel zu bringen, darf hier vielleicht von regula als einer offenen Gattung gesprochen werden. Ob und wie die hier erarbeiteten Bedeutungsebenen des Begriffs regula für das Werk Gregors d. Gr. zutreffend sind, ob sich also die Regula Pasto-
1.4 Ertrag
65
ralis in die Gattung regula und die aufgezeigten Traditionslinien einfügt, wird auf der Grundlage einer genauen Analyse der Pastoralregel zu klären sein.
2. Der Autor und sein Werk 2.1. Gregor der Große Gregor, geboren ca. 540 in Rom, entstammte einer wohlhabenden römischen Senatorenfamilie. Sein Vater Gordianus war regionarius. Die Familie zeichnete sich durch ihre Frömmigkeit aus: Drei Schwestern des Vaters waren in ein Kloster eingetreten, unter den Päpsten zählte Felix III. zu seinen Vorfahren. Ob auch Agapet I. aus dieser Familie stammte, ist umstritten. 1 Gregor erhielt eine klassische Bildung, besonders in Grammatik und Rhetorik, und schlug den cursus honorum ein. Im Jahr 572/73 hatte er das Amt des praefectus urbi inne. In dieser Funktion eignete er sich Kenntnisse in Verwaltungsangelegenheiten und in der Organisation des städtischen Lebens an, das heißt, er war vertraut mit der annona, mit der öffentlichen Ordnung, mit dem Bauwesen sowie mit der Instandsetzung der Stadtmauer, Wissen also, das ihm als Papst zugute kam. 2 575, wahrscheinlich nach dem Tod des Vaters, legte Gregor sein Amt nieder und gründete auf dem Familienbesitz am Clivius Scauri das Andreaskloster, in dem nicht der Regula S. Benedicti, sondern wahrscheinlich einer Form der Regula mixta entsprechend gelebt wurde. Obwohl er dem Kloster selbst beitrat, weitere Klostergründungen auf Sizilien kamen hinzu, war er nie Abt. Als Mönch widmete er sich vor allem dem Studium der Heiligen Schrift und verschiedener Autoren, darunter Hieronymus und Augustinus. 3 1 W.M. GESSEL, Art. Gregor I., LThK IV, Freiburg u.a. 31995, 1011; J. RICHARDS / M. GERWING / M. HEINZELMANN, Art. Gregor I. der Große, LMA IV, München 1989, 1663; R.A. MARKUS, Art. Gregor I., TRE XIV, Berlin/New York 1985, 135; A. ANGENENDT, Das Frühmittelalter. Die abendländische Christenheit von 400 bis 900, Stuttgart/Berlin/Köln 32001, 239; G. JENAL, Gregor I., der Große, in: Das Papsttum I. Von den Anfängen bis zu den Päpsten in Avignon, hrsg. von M. GRESCHAT, Stuttgart u.a. 1985, 83; H. ZIMMERMANN, Das Papsttum im Mittelalter. Eine Papstgeschichte im Spiegel der Historiographie, Stuttgart 1981, 37. 2 MARKUS, Gregor I. 135 f; R. MANSELLI, Art. Gregor V (Gregor der Große), RAC XII, Stuttgart 1983, 931 f; G. DENZLER, Das Papsttum. Geschichte und Gegenwart, München 1997, 25. 3
M A N S E L L I , G r e g o r , 9 3 2 f; G E S S E L , G r e g o r I. 1 0 1 1 ; F . B R U N H Ö L Z L , G e s c h i c h t e
der
lateinischen Literatur des Mittelalters I, München 1975, 50; H.R. DROBNER, Lehrbuch der Patrologie, Freiburg/Basel/Wien 1994, 416; JENAL, Gregor I. der Große 83 f; zum Klosterleben besonders: K. HALLINGER, Papst Gregor der Große und der HL. Benedikt, in: Commentationes in Regulam S. Benedicti, cura B. STEIDLE, StAns 42, Rom 1957, 319; dagegen vertritt F.-X. SEPPELT, Geschichte der Päpste II, 2. neu bearbeitete Aufl.,
2.1 Gregor der Große
67
Im Jahr 578/79 wurde er - ob noch von Benedikt I. oder schon von Pelagius II. ist ungeklärt - zum Diakon geweiht und 579 als Apokrisiar nach Konstantinopel geschickt, wo er als ranghöchster Vertreter des Papstes den Kaiser für die Unterstützung des von den Langobarden bedrohten Italiens gewinnen sollte. Dort setzte er, so weit es ging, seine abgeschiedene, mönchische Lebensweise fort, knüpfte aber auch wichtige Kontakte am Kaiserhof. Während dieser Zeit entstanden seine Auslegungen zum Buch Hiob. 4 Nach der Rückkehr nach Rom 585/86 widmete sich Gregor wieder dem Bibelstudium und der Predigttätigkeit im Andreaskloster, war wahrscheinlich aber auch als Ratgeber Pelagius' II. tätig. Als dieser im Frühjahr 590 an den Folgen der Pest starb, die Rom neben Überschwemmungen und Hungersnot bedroht hatte, wurde Gregor zu seinem Nachfolger gewählt. Er wartete die Bestätigung seiner Wahlanzeige durch Kaiser Mauricius ab und trat das Amt im September 590 mit Widerwillen an. Seine Amtstätigkeit begann mit Maßnahmen gegen die Seuche und zum Transport des notwendigen Getreides aus Sizilien nach Rom. 5 Die Kriege mit den Langobarden, bei denen der Kaiser oder der Exarch von Ravenna als sein Vertreter in Italien keine große Unterstützung für Rom boten, wirkten sich auf Gregors 14jähriges Pontifikat maßgeblich aus. Aufgrund fehlender kaiserlicher Verteidigungsmaßnahmen bemühte er sich fortwährend um Frieden mit den Langobarden, indem er Waffenstillstandsabkommen und Friedensverträge vermittelte, aus Quellen des Patrimoniums Gold als Tribut für ihren Abzug zahlte, um das von Flüchtlingen überbevölkerte Rom zu schützen, und sich um ihre Missionierung bemühte. Diese Politik führte, trotz Gregors grundsätzlicher Reichstreue, zum Konflikt mit dem Exarchen und Kaiser Mauricius, die Verhandlungen mit den Feinden nicht akzeptieren wollten. 6 München 1955, 10 f, die Auffassung, das Klosterleben sei bereits an der Regel ausgerichtet gewesen. 4 MARKUS, Gregor I. 136; MANSELLI, Gregor 934; JENAL, Gregor I. der Große 84; DROBNER, Lehrbuch der Patrologie 416; SEPPELT, Geschichte der Päpste 11-14. 5 RICHARDS/GERWING/HEINZELMANN, Gregor I. der Große 1663; GESSEL, Gregor I. 1011; MARKUS, Gregor I. 136; MANSELLI, Gregor, 934; JENAL, Gregor 1. der Große 84; A. FRANZEN / R. BÄUMER, Papstgeschichte. Das Petrusamt in seiner Idee und seiner geschichtlichen Verwirklichung in der Kirche, Freiburg/Basel/Wien 1974, 85. 6 Es wird ist hier nicht möglich sein, alle Aspekte von Gregors Pontifikat zu beleuchten; daher schneide ich nur die wichtigsten Gesichtspunkte an, verweise aber zu diesem Themenkomplex auf die Aufsätze dazu: JENAL, Gregor I. der Große 85-98; MARKUS, Gregor I. 141 f; MANSELLI, Gregor 936; K. BAUS / H.J. VOGT, Die Lateinische Kirche im Übergang zum Frühmittelalter. Innerkirchliches Leben bis zum Ausgang des 7. Jahrhunderts, in; HKG II/2, hrsg. von H. JEDIN, Freiburg/Basel/Wien 1975, 207 f; E.H. FISCHER, Gregor der Große und Byzanz. Ein Beitag zur Geschichte der päpstlichen Politik, Sonderdruck aus der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 67, Kann. Abt. 36, Weimar 1950, 7 7 - 9 7 ; ANGENENDT, Frühmittelalter 239; FRANZEN/BÄUMER, Papstgeschichte 8 5 -
68
2. Der Autor und sein
Werk
Seit Konstantin d. Gr. und später dann besonders aufgrund der Justinianischen Kirchengesetzgebung kamen den Bischöfen in Form der audientia episcopalis auch Aufgaben in der weltlichen Verwaltung zu. Als Adressaten für Unmutsäußerungen ergingen an sie Appellationen gegen Ungerechtigkeit und Amtsmißbrauch durch die Zivilbeamten, darüber hinaus waren sie als Gerichtsherren und auf militärischem Gebiet tätig. Verschärft durch die Langobardengefahr und die fehlende kaiserliche Hilfe, hatte dies für Gregor eine Position zur Folge, wie sie noch kein Papst vor ihm inne gehabt hatte. Er bestritt mit kirchlichen Mitteln die Versorgung Roms, kam für die Besoldung und Verpflegung der Soldaten auf und setzte sich besonders für die Armen- und Flüchtlingsfürsorge ein. 7 Der Gegensatz zu Konstantinopel wurde durch die Kontroverse mit dem dortigen Patriarchen Johannes dem Faster, der, wie in Konstantinopel, üblich den Titel oixou^ievixög JTaTQicxQX1!? führte, verschärft. Gregor warf ihm vor, die Brüderlichkeit der Bischöfe zu mißachten, und führte selbst in seinen Briefen den Titel servus servorum Dei.s Der Verwaltungs- und Wirtschaftsreform der kirchlichen Besitzungen, die zwar nach der Gesetzgebung Justinians durch Schenkungen zum größten Privatbesitz Italiens angewachsen waren, aber unter den Kriegen
87; DROBNER, Patrologie 4 1 7 f; zur Situation in Italien B. SCHIMMELPFENNIG, Das Papsttum. Grundzüge seiner Geschichte von der Antike bis zur Renaissance, Darmstadt 1984, 6 0 f und 65; M. ROCHE, Grégoire le Grand. Face à la situation économique de son temps, in: Grégoire le Grand. Chantilly. Colloques internationaux du centre national de la rec h e r c h e s c i e n t i f i q u e , h r s g . v o n J. F O N T A I N E / R . GLLLET / S . P E L L I S T R A N D I , P a r i s
1986,
41-58. 7 Zum Begriff der audientia episcopalis vgl. C. MUNIER, Art. Audientia episcopalis, A u g L I, Basel 1 9 8 6 - 1 9 9 4 , 5 1 1 - 5 1 5 . D e s weiteren: JENAL, Gregor I. der Große 85 f ; G. JENAL, Gregor der Große und die Stadt Rom ( 5 9 0 - 6 0 4 ) , in: Herrschaft und Kirche. Beiträge zur Entstehung und Wirkungsgeschichte episkopaler und monastischer Organisatio n s f o r m e n , h r s g . v o n F. PRINZ, M G M A 3 3 , M ü n c h e n 1 9 8 8 , 1 0 9 - 1 2 0 ;
FRANZEN/BAUMER,
Papstgeschichte 87; H. FUHRMANN, V o n Petrus zu Johannes Paul II. Das Papsttum: Gestalt und Gestalten, 2. verbesserte und ergänzte Aufl., München 1984, 97; SEPPELT, Geschichte der Päpste 16 f und 20; ANGENENDT, Das Frühmittelalter 2 4 0 f, stellt die Armenfürsorge sehr plastisch dar. 8
MANSELLI, Gregor 937; MARKUS, Gregor I. 140; JENAL, Gregor I. der Große 9 0 f; A. TUILIER, Grégoire le Grand et le titre de patriarche oecoménique, in: Grégoire le Grand. Chantilly. Colloques internationaux du centre national de la recherche scientifiq u e , h r s g . v o n J. F O N T A I N E / R . GLLLET / S . P E L L I S T R A N D I , P a r i s
1986, 6 9 - 8 2 .
Hierbei
geht es nicht um den Primatsanspruch, wie ihn die Päpste des Mittelalters stellten, sondern um die Stellung des B i s c h o f s von Rom als Patriarch des Westens innerhalb der Reichskirche, vgl. dazu SCHIMMELPFENNIG, Das Papsttum 78 f. Natürlich spielt die Gregors e i g e n e Demut bei dem von ihm gewählten Titel auch eine große Rolle, dazu FRANZEN/BÄUMER, Papstgeschichte 85 f; C. DAGENS, Saint Grégoire le Grand. Consul Dei in: Gregorio Magno e il suo tempo I, Studia Ephemeridis Augustinianum 33, Rom 1991, 3 9 f.
2.1 Gregor der Große
69
schwer gelitten hatten, widmete sich Gregor mit besonderem Interesse und Einsatz. Die weitverstreuten Güter in Süditalien, Sizilien, Sardinien, Dalmatien, Gallien und Nordafrika wurden von ihm neu geordnet, ihre Verwaltung reformiert. So setzte er den großen Patrimonien Männer aus seinem niederen Klerus als rectores für die administrativen Aufgaben vor und bemühte sich, die eingeschlichenen Mißstände zu beseitigen sowie die Wirtschaftlichkeit zu erhöhen. Reformen im innerkirchlichen Bereich bezogen sich zum Beispiel auf die Umstrukturierung des Diakonenkollegiums mit einem vicedomus an der Spitze und mit einer forcierten, seinen Vorstellungen entsprechenden Personalpolitik. Seine Amtstätigkeit spiegelt sich in seinem umfangreichen Register epistularum mit circa 850 erhaltenen Briefen wider. 9 Die Seelsorge und die geistlich-moralische Beschaffenheit des Klerus war ein großes Anliegen Gregors. Im Kampf gegen die Simonie, gegen irreguläre Amtseinsetzungen und gegen einen unwürdigen Lebenswandel schaltete er sich auch in Einzelfällen ein, führte eine gezielte Personalpolitik, schrieb Richtlinien für weiter entfernte Kirchen und verfaßte einen Leitfaden für die Seelsorger: die Regula Pastoralis. 10 Zu seinen weiteren Schriften zählt besonders die Auslegung des Buches Hiob in seinen Moralia in lob, die auf Predigten vor seiner Mönchsgemeinschaft in Konstantinopel zurückgehen und in endgültiger Fassung 595 vorlagen. 590/91 entstand eine Sammlung von 40 Predigten zu Evangelienperikopen". Eine weitere Sammlung von 22 Predigten zum Buch Ezechiel 12 entstand 593. Darüber hinaus schrieb Gregor die Expositiones in Canticum canticorum13 und Expositiones in Librum Primum Regumu. Ebenfalls in den ersten Jahren seines Pontifikats entstanden die Dialogi de vita et miraculi patrum Italicorum, Berichte über Wundertaten, Visionen
9 MARKUS, Gregor I. 137 f; BAUS/VOGT, Die Lateinische Kirche im Übergang 208 f; RICHARDS/GERWING/HEINZELMANN, Gregor I. der Große 1664; JENAL, Gregor I. der Große 85-88; SEPPELT, Geschichte der Päpste 17-19. In aller Kürze und Prägnanz schildert FIEDROWICZ die Probleme, mit denen Gregor d. Gr. während seines Pontifikats konfrontiert wurde, in seinem neuesten Aufsatz über dessen Kirchenverständnis: M. FIEDROWICZ, Gregor der Große - ein Verkündiger der Kirche, in: Väter der Kirche. Ekklesiales Denken von den Anfängen bis in die Neuzeit. FS H.J. SIEBEN, hrsg. von J. AR-
NOLD / R . B E R N D T / R . S T A M M B E R G E R , z u s a m m e n
mit C. FELD, P a d e r b o r n u.a.
2004,
521-531. 10 BAUS/VOGT, Die Lateinische Kirche im Übergang 208 f; MARKUS, Gregor I. 1 3 6 138; JENAL, Gregor I. der Große 88. " Greg.-M., Horn. ev. (FChr 28 FIEDROWICZ). 12 Greg.-M., Horn. Ez. (CChr.SL 142 ÄDRIAEN). 13 Ps.-Greg.-M., In Cant. (CChr.SL 144, 1-46 VERBRAKEN). 14
G r e g . - M . , R e g . ( C C h r . S L 144, 4 7 - 6 1 4 VERBRAKEN).
2. Der Autor und sein Werk
70
und Prophezeiungen, von denen besonders das zweite Buch als Lebensbeschreibung des Heiligen Benedikt starke Nachwirkung erzielte. 15 Besondere Berühmtheit erlangte Gregor auch durch seine Angelsachsen-Mission, bei der er den Mönch Augustinus mit einem genauen Plan zum Aufbau der Kirche nach England schickte. Dieses Vorhaben war maßgeblich mit den Verbindungen zum fränkischen Königshof und den dortigen Bischöfen verknüpft. In Afrika hingegen kämpfte Gregor vergeblich gegen die wachsende Unabhängigkeit der regionalen Kirchen. In Spanien waren seine Beziehungen zum Bischof Leander von Sevilla, den er seit seiner Zeit als Apokrisiar in Konstantinopel kannte, besonders intensiv. 16 Durch mehrere Krankheiten geschwächt, die ihn während der gesamten Amtszeit beeinträchtigt hatten, starb Gregor am 12. März 604. Sein Pontifikat war geprägt durch sein stetes Bemühen, die vita activa mit der von ihm so angestrebten vita contemplativa zu vereinen. Seit Bonifatius VIII. (1295) wird er zu den vier großen Kirchenlehrern des Westens gezählt. 17
2.2 Die Pastoralregel 2.2.7
Der
Adressat
2.2.1.1 Die
Quellenlage
Die Regula Pastoralis ist, so der Eingangssatz der Schrift, an den Reuerentissimo et sanctissimo fratri loanni coepiscopo18 gerichtet. Dieser frater carissime19 habe ihn getadelt, sich der Last der Seelsorge entziehen zu wollen. Gregor adressiert das Werk also an einen Mitbischof Johannes, an den er sich am Ende der Regula nochmals mit der Formel bone uir20 wendet. Dort bittet er ihn im Bild des Schiffbruchserleidenden, der einer hel-
15
M. FIEDROWICZ, Art. Gregor der Große, LACL, Freiburg u.a. 2002, 293; B. ALTANER / A. STOIBER, Patrologie. Leben, Schriften und Lehre der Kirchenväter, Freiburg/ Basel/Wien
8
1980, 466-469;
RICHARDS/GERWING/HEINZELMANN,
G r e g o r I. d e r
Große
1 6 6 4 f ; G E S S E L , G r e g o r I. 1 0 1 2 f ; M A R K U S , G r e g o r I. 1 3 7 . 1 3 9 ; B R U N H Ö L Z L , G e s c h i c h t e
der lateinischen Literatur 5 2 - 5 9 . 16
M A R K U S , G r e g o r I. 1 4 0 f ; M A N S E L L I , G r e g o r 9 3 7 - 9 4 0 ; F U H R M A N N , V o n P e t r u s z u
Johannes Paul II. 94; FRANZEN/BÄUMER, Papstgeschichte 88 f; JENAL, Gregor I. der Große 92-94; DROBNER, Lehrbuch der Patrologie 418 f. 17 GESSEL, Gregor I. 101; MARKUS, Gregor I. 137; J. RICHARDS, Gregor der Große. Sein Leben - seine Zeit, Graz/Köln/Wien 1983, 5 2 - 5 4 ; JENAL, Gregor I. der Große 98. 18 Greg.-M., Past., Reuer. (124 J./R./M.). " Greg.-M., Past., Reuer. (124 J./R./M.). 20 Greg.-M., Past. IV (540 J./R./M.).
2.2 Die
Pastoralregel
71
fenden Schiffsplanke - dem Gebet des Mitbruders - bedarf, um Rettung. 21 Die Anrede zu Beginn und am Schluß der Schrift stellen als Anfangs- und Endteil eines Widmungsbriefes den literarischen Rahmen des Werkes dar. 22 Die Frage, um wen es sich bei diesem ioanni coepiscopo handelt, ist nicht sicher zu beantworten, da der Bischofssitz des angesprochenen Johannes unerwähnt bleibt. Die Quellenlage ist bezüglich dieses Problems gespalten. Während die älteren Viten Gregors - von einem anonymen Mönch aus Whitby, von Paulus Diaconus und von Johannes Diaconus verfaßt - Johannes von Ravenna als Adressaten annehmen, nennen Isidor von Sevilla und Ildefons von Toledo den Patriarchen von Konstantinopel, Johannes den Faster. Johannes von Konstantinopel kannte Gregor bereits aus dessen Zeit als Apokrisiar dort. Bereits seit 585 mit Pelagius II. in einen Streit über den Titel OLXOU|A£VLXÖ5 JtaTQidQxrig verwickelt, nahm er diesen mit Gregor ab 595 wieder auf, obwohl die beiden zunächst befreundet waren. 2 3 Unter seinem Namen wurde eine Anzahl von Texten zur Enthaltsamkeit und Buße veröffentlicht, die aber nicht von ihm stammen. Ein Werk über die Taufe, das Leander von Sevilla gewidmet war, ist verloren. 2 4 Über Johannes von Ravenna ist nicht viel bekannt. Geboren in Rom, wurde er 578 von Pelagius II. zum Bischof von Ravenna geweiht. Er war mit Gregor d. Gr., für den er manche Aufgaben übernahm, befreundet, bis jener ihm verbot, das Pallium auch außerhalb der Messe zu tragen. 2 5 Johannes beendete den Bau der Kirche des heiligen Severus in Ravenna und brachte dessen Reliquien dorthin. Er soll ein leidenschaftlicher Prediger gewesen sein. Eine Beschreibung seiner Person findet sich im Liber pontificalis ecclesiae Ravennatis des Agnellus: Hic mediocris statura, nec satis longa habuit, nec brevem tenuit. Optimus corpore, nec macilenitus, nec multum pinguis. Crispus, capillis capitis canitie mixtis.26 Diesen Johannes von Ravenna führen drei Quellen als Adressaten an. Die älteste davon ist der Liber beati et laudabilis viri Gregorii pape urbis Rome de vita atque eius virtutibus, vermutlich zwischen 704 und 714 in 21
Greg.-M., Past. IV (540 J./R./M.). J. SPEIGEL, Die Pastoralregel 59 f; JuDic, Structure, et fonction 410, zählt dies zu den „emboîtements" des Werkes. 23 Greg.-M., Ep. V 44 ( 3 2 9 - 3 3 7 N.); E. CASPAR, Geschichte des Papsttums II, Tübingen 1933, 4 5 2 - 4 5 8 ; siehe auch Kap. 2.1 Gregor d. Gr, oben 68. 24 H.-G. BECK, Art. Johannes IV. Nesteutes, LThK V, Freiburg/Basel/Wien 2 1960, 1065 f. 25 Zum Streit über das Pallium vgl. F.H. DUDDEN, Gregory the Great. His place in history and thought I, New York 1967 = 1905, 229 Anm. 1; zur Freundschaft siehe unten Kap. 2.2.1.2 Die Forschungsdiskussion, unten 78 f. 26 Agnellus, Liber Pontificalis XCVIII (FChr 21, 2, 376 NAUERTH). 22
2. Der Autor und sein
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Werk
Whitby von einem englischen Mönch verfaßt, über den keine sicheren Informationen vorliegen 27 . Die Quellen, auf denen diese Vita basiert, sind vor allem die Werke Gregors selbst sowie die Heilige Schrift (Vulgata und Vetera Latina) und der Liber Pontificalis\ in erster Linie aber ist sie abhängig von nichtschriftlichen Traditionen aus Whitby. Gregors Briefe haben dem anonymen Schreiber nicht vorgelegen. 2 8 In Kapitel 31 gibt der Mönch nun den Inhalt der Regula Pastoralis wieder, wobei er nicht einfach den Widmungsbrief abschreibt, sondern selbständig Schwerpunkte bei seinen Erklärungen setzt und sogar aus Past. III den Prolog zitiert 29 . Zunächst aber führt er den Entstehungsgrund und damit den Adressaten an: Cur etiam pastoralem fugeret curam, cuius causam gravidinis Iohanni episcopo Ravenensi humiliter reprehendit, pro se apologeticon scripsit.3