Die Bedeutung des Populären: Kulturpoetische Studien zu Benn, Böll und Andersch. 1949–1959 9783110739947, 9783110739602

Welche Funktionen haben etwa der Schauspieler James Dean, die Zeitschrift Reader’s Digest oder eine Werbeanzeige für Per

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German Pages 352 Year 2021

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Table of contents :
Inhalt
1 Einleitung
2 Auslassung und Andeutung. Heinrich Bölls Kriegsprosa
3 Parlando und Überhöhung. Gottfried Benns späte Lyrik
4 De- und Re-Mythisierung. Alfred Andersch: Der Tod des James Dean
5 Rückblick und Ausblick: Pop-Literatur um 1968
6 Abbildungsverzeichnis
7 Literaturverzeichnis
8 Personen- und Werkregister
9 Dank
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Die Bedeutung des Populären: Kulturpoetische Studien zu Benn, Böll und Andersch. 1949–1959
 9783110739947, 9783110739602

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Philipp Pabst Die Bedeutung des Populären

Studien zur deutschen Literatur

Herausgegeben von Georg Braungart, Eva Geulen, Steffen Martus und Martina Wagner-Egelhaaf

Band 225

Philipp Pabst

Die Bedeutung des Populären Kulturpoetische Studien zu Benn, Böll und Andersch. 1949–1959

Gedruckt mit der Unterstützung der FAZIT-Stiftung.

ISBN 978-3-11-073960-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-073994-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-074005-9 ISSN 0081-7236 Library of Congress Control Number: 2021944155 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt  . . .. .. . .. ..

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Einleitung 1 Methodische Vorbemerkung: Kulturpoetik, Textverfahren, 9 Bedeutung – und die ‚harten Unterlagen‘ der Literatur Begriffliches: Populärkultur, Masse, Pop 17 Masse und Populäres 19 27 Pop in den 1960er Jahren Gegenständliches: Heinrich Böll, Gottfried Benn, 36 Alfred Andersch et al. Kritik (der Kritik): Die Gruppe 47 und das Beispiel Ingeborg Bachmann 43 ‚Begeisterte Verachtung‘: Ambivalenz am Beispiel von Arno 48 Schmidt 61 Auslassung und Andeutung. Heinrich Bölls Kriegsprosa Trümmerliterarischer Schulunterricht: „Wanderer, kommst Du nach 61 Spa…“ Anakoluthe, Aposiopesen und ‚schwere Zeichen‘ 71 78 Desavouierte Ikonizität: „Grün ist die Heide“ Löns als Kontext 90 Aus dem Bauch heraus. Zur Desavouierung des Liedes 94 100 Markennamen und das Problem der Realien Pathos der Auslassung: Der Zug war pünktlich 108 115 Soldatenmusik vs. gratia lacrymarum Tränen I: Im „siebenten Himmel der Liebe…“ 120 Tränen II: Bach als Epiphanie 125 131 Die Dichotomie E / U: Kitsch Parlando und Überhöhung. Gottfried Benns späte Lyrik 136 136 Kein modernes Gedicht: Über Benns Poetologie I Parlando im ‚marklosen‘ Abendland: „Kleiner Kulturspiegel“ 143 Parlando zwischen Popularisierung und Überhöhung: 161 „Restaurant“ Artistik auf dem „Olymp des Scheins“: Über Benns Poetologie II 173 Zweisprachigkeit und Aneignung: „Bar“ 184

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Inhalt

Ahnung statt Gesetz: „Konfetti“ 194 Distinktion und Zweifel: „Hör zu:“ 201 Zwischenresümee: Bedeutsamkeit – ontosemiologisch und 210 verfahrenstheoretisch

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De- und Re-Mythisierung. Alfred Andersch: 222 Der Tod des James Dean Ein diskursives Relais 222 224 Die „finstere Jugend“ im Radio Ein Blick zurück: Generationen 236 Montage: Text, Musik, Übersetzung 244 „Einfach rauh“. James Dean: Teenageridol Exkurs – ‚Rauh‘ 2.0: Hans-Christian Kirschs Mit Haut und Haar 268 278 Mythenleser und Mythologen



Rückblick und Ausblick: Pop-Literatur um 1968



Abbildungsverzeichnis

 a) b) c) d)

308 Literaturverzeichnis 308 Primärtexte Sekundärtexte 318 Filmquellen 334 335 Vorarbeiten



Personen- und Werkregister



Dank

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1 Einleitung 1953 hält der deutsch-amerikanische Publizist Norbert Muhlen in der Zeitschrift Der Monat fest, dass sich in der Bundesrepublik ein „Neon-Biedermeier“ breitmache:¹ Dem Westdeutschland bereisenden Berichterstatter fällt es schwer, seiner Gewohnheit gemäß lang in den Tag hineinzuschlafen; in aller Frühe weckt ihn Hämmern, Klopfen und anderer Lärm von nebenan, wo ein Haus fertiggestellt, von gegenüber, wo eine Ruine ausgebaut wird, bis er sich schließlich griesgrämig an sein Tagwerk macht und – infolge deutschen Fleißes und deutschen Wiederaufbaus etwas unausgeschlafen – über ebendiese seine Notizen macht. Am Abend, nachdem er fleißig geschaut, gehorcht, gefragt, gelesen und geschrieben hat, geht er in das mit uralt-behaglichem Wirtszeichen und sehr neuer Neonleuchtschrift einladende Gasthaus, wo er zur Not noch einen freien Stuhl findet. Aber zur Ruhe kommt er auch hier nicht; am Tisch nebenan und am Tisch gegenüber geht es laut und lustig zu. Die Gäste „schunkeln“ – eine neue, gesamtwestdeutsche Massengewohnheit, früher gab’s das doch nur im rheinischen Karneval? Eingehängt am Tisch sitzend, pendeln sie, im Takt und zufrieden, von rechts nach links und von links nach rechts […]. Und dazu singen sie von einem Hofbräuhaus, das in München steht, von einem rheinischen Mädchen beim rheinischen Wein, von anderen althergebrachten, gutbürgerlichen Gegenständen. Die Frage, wer das bezahlen soll und wer so viel Geld hat, wird nur noch selten, und dann mit Schmunzeln gestellt; beliebter ist ein neues Lied, das mit noch froherem Schmunzeln kategorisch wiederholt: „Weil wir ja so brav sind, weil wir ja so brav sind…“²

Muhlen, geborener Fürther, im Widerstand gegen den Nationalsozialismus aktiv und seit 1947 amerikanischer Staatsbürger, ist von der deutschen Behaglichkeit irritiert. Sein Text ruft ein Bild der bundesrepublikanischen Gründerjahre auf, das sich im kulturellen Gedächtnis etabliert hat. Es ist das Bild einer biederen und miefigen Dekade, die das Wirtschaftswunder, das Wunder von Bern, den Mettigel, den Urlaub mit dem VW-Käfer, Heimatfilme wie Schwarzwaldmädel (1950) oder Grün ist die Heide (1951) und Schlager mit Titeln wie „Wer soll das bezahlen?“ (1949) oder „Capri-Fischer“ (1943/46) zu ihren kulturellen Konstituenten zählt.³ Es

 Norbert Muhlen, Das Land der Großen Mitte. Notizen aus dem Neon-Biedermeier. In: Der Monat. Eine internationale Zeitschrift, 6, 1953, S. 237– 244, hier S. 241.  Muhlen, Das Land der Großen Mitte. Notizen aus dem Neon-Biedermeier, S. 237.  Diese und ähnliche Aspekte reproduzieren Bildbände und populäre Überblicksdarstellungen zu den 1950er Jahren. Vgl. Josef Darchinger, Wirtschaftswunder. Deutschland nach dem Krieg / Germany after the war, Köln 22018.Vgl. Jürgen Holtfreter / Irene Lusk / Eckhard Siepmann, Bikini. Die fünfziger Jahre. Kalter Krieg und Capri-Sonne. Fotos, Texte, Comics, Analysen, Berlin 31992. https://doi.org/10.1515/9783110739947-001

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1 Einleitung

ist, so Muhlen, eine Dekade, die sich ihre Sorgen wegschunkelt. Die Beliebtheit des beschmunzelten Liedes „Wir kommen alle in den Himmel“ (1952) – weil „wir ja so brav sind“ – muss auf den Publizisten angesichts der jüngeren Kriegsvergangenheit besonders befremdlich gewirkt haben. Doch Muhlens Bild ist differenzierter als es anfangs scheint.Westdeutschland sei zwar bieder und restaurativ, sehr bieder und restaurativ sogar,⁴ aber daneben sind erste Tendenzen der Modernisierung zu spüren.⁵ Der Text deutet das mit dem Hinweis auf die kontrastive Fassadengestaltung des Gasthauses an; „uralt-behaglich[e] Wirtszeichen“ einerseits, „sehr neue Neonleuchtschrift“ andererseits. Und tatsächlich: Im Verlauf der 1950er Jahre treten zu den genannten populärkulturellen Konstituenten andere, vor allem amerikanische hinzu, die einen weniger biederen Eindruck machen und die ‚Verwestlichung‘ der Bundesrepublik vorantreiben. Man denke an Elvis Presley, an Marlon Brando und James Dean, deren Musik, deren Filme und Lifestyles die deutsche Teenagerkultur prägen. Der Deutsch-Amerikaner Muhlen notiert abschließend versöhnlich und mit einer gewissen Erleichterung: Das Biedermeier-Gasthaus ist stilecht wieder aufgebaut worden, aber Küche, Keller und Speisekarte sind modern, aus unserer Zeit; das Neon-Licht über der Fassade lädt die Gäste, die auf dem Motorrad angerast kommen. […] Die Restauration war der erste Schritt zur

Vgl. auch die ironische Zusammenstellung von Nikolaus Jungwirth / Gerhard Kromschröder, Die Pubertät der Republik. Die fünfziger Jahre der Deutschen [1978], Reinbek bei Hamburg 1991.  Seine Biedermeier-These unterstreicht Muhlen mit der Beobachtung, dass die bundesrepublikanischen Bürgerinnen und Bürger unpolitisch seien und sich ins Private zurückzögen. Dabei spielt das „juste milieu“ eine Rolle, ein Begriff, der seit dem Vormärz zur Kritik an der politischen Mitte gebraucht wird. Muhlen, Das Land der Großen Mitte. Notizen aus dem Neon-Biedermeier, S. 242.  Dies entspricht dem komplexeren Bild, das Forschungsbeiträge seit der Jahrtausendwende von der Nachkriegsphase zeichnen. „Nicht mehr von Restauration, Muff, Enge und Verstocktheit ist die Rede, sondern von Liberalisierung, Modernisierung, Westernisierung, Normalisierung und Rezivilisierung“, wie Erhard Schütz festhält. Erhard Schütz, Nach dem Entkommen, vor dem Ankommen. Eine Einführung. In: Handbuch Nachkriegskultur. Literatur, Sachbuch und Film in Deutschland (1945 – 1962), hg. von Elena Agazzi und Erhard Schütz, Berlin / Boston, MA 2013, (= De Gruyter Handbook) S. 1– 139, hier S. 2. Vgl. zur genannten These insbesondere Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006; sowie Lars Koch / Petra Tallafuss, Modernisierung als Amerikanisierung? Anmerkungen zur diskursiven Dynamik einer Analysekategorie. In: Modernisierung als Amerikanisierung? Entwicklungslinien der westdeutschen Kultur 1945 – 1960, unter Mitarbeit von Petra Tallafuss hg. von Lars Koch, Bielefeld 2015, S. 9 – 22, hier S. 9.

1 Einleitung

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Evolution; auch wenn noch, wie in Westdeutschland, das behagliche Gewand der Vergangenheit sie umkleidet – die Zukunft hat unweigerlich begonnen.⁶

Historikerinnen und Historiker schreiben angesichts des skizzierten Spannungsgefüges zwischen Restauration und Modernisierung – beziehungsweise sachlicher formuliert „Kontinuität und Diskontinuität“ – von den „janusköpfigen“ 1950er Jahren, von einer Zeit, die erstens Kontinuitäten zur Kriegs- und Vorkriegsphase herstellt, die sich zweitens in konstruierten, in verklärten Vergangenheiten wohlfühlt und die drittens vorsichtige Schritte in Richtung Zukunft macht.⁷ Ähnliche Positionen vertreten die germanistischen Literaturgeschichten. Namhafte Autorinnen und Autoren des Nachkriegs proklamieren zwar einen radikalen Neuanfang (‚Stunde Null‘),⁸ knüpfen aber vor allem an etablierte Ver-

 Beobachtungen des nachkriegsdeutschen Historismus macht Muhlen mehrfach: „Anderswo sah ich eine auf einem Ruinengrundstück erbaute Bude, an der der Mörtel noch frisch schien; ihre längliche Fassade war dekoriert mit einem Stück Leinwand, auf das die Mauer einer mittelalterlichen Schloßruine gepinselt war, und darüber leuchtete es in Neon-Buchstaben: ‚Altdeutscher Keller‘“. Muhlen, Das Land der Großen Mitte. Notizen aus dem Neon-Biedermeier, S. 238 und 243 f. Ganz ähnlich wie Muhlen schreibt Erich Kästner 1956: „Wir leben im Motorisierten [sic] Biedermeier“. Erich Kästner, Heinrich Heine und wir [1956]. In: Erich Kästner, Gesammelte Schriften. Bd. 5, Zürich 1959, S. 529 – 530, hier S. 530.  Georg Bollenbeck / Gerhard Kaiser, Einleitung. In: Die janusköpfigen 50er Jahre. Kulturelle Moderne und bildungsbürgerliche Semantik III, hg. unter Mitarbeit von Edda Bleek von Georg Bollenbeck und Gerhard Kaiser, Wiesbaden 2000, S. 7– 15, hier S. 8.Vgl. auch Axel Schildt / Detlef Siegfried, Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik – 1945 bis zur Gegenwart, München 2009, S. 95 – 97 sowie Axel Schildt, Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und „Zeitgeist“ in der Bundesrepublik der 50er Jahre, Hamburg 1995 und Axel Schildt / Arnold Sywottek (Hg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993.  Dabei hat man es bekanntlich mit der strategischen Proklamation eines kompletten Neuanfangs zu tun, der auch unter anderen Begriffen wie ‚Kahlschlag‘ oder ‚Tabula rasa‘ lief. Dass es diesen Neubeginn in seiner radikal-traditionsvergessenen Form de facto nicht gab, ist offenkundig. Aus der großen Zahl der Kommentatorinnen und Kommentatoren der ‚Stunde Null‘ sticht vor allem Hans Dieter Schäfer heraus. Schäfer hat in seiner Monographie Das gespaltene Bewußtsein (1981) eindrucksvoll auf die Kontinuitäten der deutschen Literaturen der 1930er bis 1950er Jahre hingewiesen. Vgl. Hans Dieter Schäfer, Das gespaltene Bewußtsein. Vom Dritten Reich bis zu den langen Fünfziger Jahren. Erweiterte Neuausgabe, Göttingen 2009, (Mainzer Reihe. Neue Folge 8). Zur konstitutiven Rolle der amerikanischen Alliierten im Zusammenhang mit der ‚Stunde Null‘ vgl. Uta Gerhardt, Soziologie der Stunde Null. Zur Gesellschaftskonzeption des amerikanischen Besatzungsregimes in Deutschland 1944– 1945/46, Frankfurt a. M. 2005. Die ‚Stunde Null‘ wird in der Forschung darüber hinaus als „spätere Erfindung zum Zweck ihres Dementis“ gelesen, da das Konzept in den ästhetischen sowie politischen Debatten der 1960er Jahre an diskursiver Brisanz gewinnt und bezweifelt wird. Schütz: Nach dem Entkommen,vor dem Ankommen. Eine Einführung, S. 30.

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fahren des Realismus sowie der Klassischen Moderne an.⁹ Erst peu à peu schließe die deutsche Literatur zu anderen Literaturen auf und hole nach, was die Kriegsphase verhindert habe, lautet eine gängige literaturhistoriographische These.¹⁰ Seit einigen Jahren wird das dominante Geschichtsnarrativ – Restauration / Modernisierung, Kontinuität / Diskontinuität – im weiten Kreis der Geschichtsund Kulturwissenschaften um zusätzliche Facetten ergänzt, unter anderen Gesichtspunkten betrachtet sowie mit Hilfe neuer Kategorien behandelt. Es besteht ein verstärktes Interesse an den Abgründen, den Ängsten, an der Brüchigkeit der jungen Bundesrepublik. So schreibt ein Kulturjournalist ein mit dem Preis der Leipziger Buchmesse prämiertes Sachbuch über die ersten deutschen Nachkriegsjahre, die sogenannte Wolfszeit, während ein Zeithistoriker eine Geschichte der bundesrepublikanischen Angst vorlegt (beide 2019).¹¹ Unter dem Titel BRD Noir (2016) führen ein Kulturhistoriker und ein Schriftsteller einen Dialog über Psychopathologien von Serienmördern, den Schrecken der deutschen Provinz und Figuren des Untoten in den Texten Adornos.¹² Aus der Medienwissenschaft stammt ein Beitrag über die Kachelfassaden der Kölner Nachkriegsarchitektur (2016), der ausgehend von einem Merkmal der Kacheln, ihrer Abwaschbarkeit, Rückschlüsse auf die obsessive Reinlichkeit der 1950er-Jahre zieht.¹³ Des Weiteren hat man versucht, das Diskursklima und die gesellschaftlichen Dynamiken des

 Vgl. zur Konstanz realistischen Erzählens nach 1945 Moritz Baßler, Deutsche Erzählprosa. Eine Geschichte literarischer Verfahren 1850 – 1950, Berlin 2015, S. 397– 406.Vgl. ferner Wilfried Barner et al., Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. München 22006, (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. XII) S. 3 – 337. Vgl. Wolfgang Beutin et al., Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart / Weimar 82013, S. 483 – 515 und 585 – 612. Vgl. Peter Nusser, Deutsche Literatur. Eine Sozial- und Kulturgeschichte. Vom Barock bis zur Gegenwart, Darmstadt 2012, S. 674– 692.  In diesem Zuge wird zum Beispiel das Jahr 1959 hervorgehoben, in dem die Romane Billard um halb zehn, Die Blechtrommel und Mutmaßungen über Jakob von Heinrich Böll, Günter Grass und Uwe Johnson sowie der Lyrikband Sprachgitter von Paul Celan erscheinen. Vgl. Ralf Schnell, Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945. Stuttgart / Weimar 22003, S. 215 – 225. Schütz weist vorsichtig auf „berechtigt[e] Relativierungen“ dieses zum Mythos gewordenen „annus mirabilis“ der deutschen Literatur hin. Schütz, Nach dem Entkommen, vor dem Ankommen. S. 138.  Vgl. Harald Jähner, Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945 – 1955, Berlin 32019 sowie Frank Biess, Republik der Angst. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik, Reinbek bei Hamburg 2019, S. 41– 192.  Vgl. Philipp Felsch / Frank Witzel, BRD Noir. Berlin 2016.  Vgl. Markus Krajewski, Bauformen des Gewissens. Über Fassaden deutscher Nachkriegsarchitektur, Stuttgart 2016.

1 Einleitung

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Nachkriegs mit Hilfe des Schlagworts ,Latenz‘ zu reflektieren (2004 / 2012).¹⁴ Im Verborgenen, unter den Oberflächen lauere die Geschichte, lauere der Krieg, während die Zukunft hochgradig ungesichert sei. Wenngleich diese Arbeiten neuartige Materialverknüpfungen sowie anschlussfähige, zum Teil auch fragwürdige Thesen vorbringen, handelt es sich bei ihnen doch, so der Eindruck, vor allem um Re-Figurationen des etablierten Paradigmas.¹⁵ Um es zu klären: Auch diese Arbeit schickt sich nicht an, die These der restaurativ-modernen Bundesrepublik literaturwissenschaftlich zu verwerfen. Was sie anbietet, ist dennoch grundlegend, denn von der germanistischen Forschung wurden die Literatur der 1950er Jahre und ihre Bezugnahmen auf populäre Kulturen weitestgehend stiefmütterlich behandelt. Mitunter hat man den literarischen Texten ein Interesse an der Populärkultur sogar abgesprochen.¹⁶ Aber weshalb eigentlich? Beispiele gibt es zu genüge. So bindet der nach dem Zweiten Weltkrieg wiedererstarkte Gottfried Benn zum Beispiel Songs und Markennamen in hoher Frequenz in seine Lyrik ein, „Du rauchst die ,Juno‘, / ,Würzburger Hofbräu‘ drei, und liest die Uno, / wie sie der ,Spiegel‘ sieht“, heißt es etwa im Gedicht „Hör zu:“.¹⁷ Heinrich Böll, der in der öffentlichen Wahrnehmung wie kaum ein zweiter für die Literatur der jungen Bundesrepublik steht, rekurriert in seinen Prosatexten beständig auf deutsche Schlager, Volks- und Soldatenlieder, zum Beispiel in der nach einem Hermann Löns-Gedicht benannten Kurzgeschichte „Grün ist die Heide“.¹⁸ Alfred Andersch, wie Böll Mitglied der Gruppe 47 und im

 Vgl. Anselm Haverkamp, Latenzzeit. Wissen im Nachkrieg, Berlin 2004. In assoziativer Weise hat Hans Ulrich Gumbrecht Schlüsselereignisse des Nachkriegs Revue passieren lassen:Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, Nach 1945. Latenz als Ursprung der Gegenwart, aus dem amerikanischen Englisch von Frank Born, Berlin 2012.  Vgl. über die erwähnten Titel hinaus auch die Veröffentlichungen von: Alexander Gallus / Sebastian Liebold / Frank Schale (Hg.), Vermessungen einer Intellectual History der frühen Bundesrepublik. Göttingen 2020; sowie Axel Schildt, Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik, hg. und mit einem Nachwort versehen von Gabriele Kandzora und Detlef Siegfried, Göttingen 2020, S. 215 – 608.  Sascha Seiler behauptet etwa in seiner Studie zu Pop-Diskursen, dass sich „deutschsprachige Autoren bis in die späten 60er Jahre hinein wenig bis gar nicht mit der populären Kultur auseinandergesetzt haben“. Sascha Seiler, „‚Das einfache wahre Abschreiben der Welt‘“. Pop-Diskurse in der deutschen Literatur nach 1960, Göttingen 2006, (Palaestra. Untersuchungen aus der deutschen und skandinavischen Philologie. Bd. 324) S. 123. Vgl. auch Jörgen Schäfer, Pop-Literatur. Rolf Dieter Brinkmann und das Verhältnis zur Populärkultur in der Literatur der sechziger Jahre, Stuttgart 1998, S. 47– 72.  Gottfried Benn, Hör zu: [1954 / 1955]. In: Benn, Sämtliche Werke. Bd. II, hg. von Gerhard Schuster, Stuttgart 1986, S. 171.  Vgl. Heinrich Böll, Grün ist die Heide [1949]. In: Böll, Werke. Kölner Ausgabe, hg. von Hans Joachim Bernhard, Bd. 4, Köln 2003, S. 163 – 170.

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nachkriegsliterarischen Feld umtriebig, widmet dem Starkult um James Dean, der ,amerikanisierten‘ Teenagerkultur, Jazz sowie der Lyrik der Beat Literature ein ganzes Hörspiel.¹⁹ Doch was macht das mit den Texten? Welche semiotischen Implikationen folgen aus solchen referenziellen beziehungsweise intertextuellen und intermedialen Konstellationen?²⁰ Warum sollte man nachkriegsliterarische Rekurse auf Populäres in systematischer Hinsicht zum Gegenstand einer Monographie machen? Cui bono? Man hat die Frage nach den Funktionen populärer Zeichen in literarischen Texten der 1950er Jahre allenfalls ansatzweise gestellt.²¹ Das Gegenteil lässt sich über die Literatur der 1920er sowie die Pop-Literatur der 1960er Jahre sagen. Hier

 Vgl. Alfred Andersch, Der Tod des James Dean. Eine Funkmontage [1959]. In: Andersch, Gesammelte Werke in zehn Bänden. Kommentierte Ausgabe, hg. von Dieter Lamping, Bd. 7, Zürich 2004, S. 203 – 235.  ‚Referenz‘ (franz. (se) référer = ‚sich auf etwas beziehen‘) meint in literaturwissenschaftlicher sowie semiotischer und sprachphilosophischer Hinsicht den „Akt sprachlicher Bezugnahme auf Gegenstände der Wahrnehmung oder die Objekte der Bezugnahme“. Dabei wird zwischen 1) „Referenzen des Textes auf die nicht-sprachliche ‚Welt‘“ und 2) „Referenzen eines Textes auf andere Texte“ unterschieden, womit man sich im Bereich der Intertextualität beziehungsweise Intermedialität bewegt. Guido Naschert, s.v. Referenz. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Jan-Dirk Müller, Bd. 3, Berlin / New York, NY 2006, S. 239 – 241, hier S. 239. Beide Formen der Bezugnahme spielen hier eine Rolle, etwa wenn Markennamen oder Schauspielerinnen und Schauspieler in den Texten des Nachkriegs lediglich erwähnt werden oder wenn zum Beispiel aus populären Liedern oder Illustrierten zitiert wird und folglich ein Text-Text-Bezug vorliegt. Zur uferlosen Intertextualitätsforschung vgl. grundlegend Gérard Genette, Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe [1982]. Aus dem Französischen von Wolfram Beyer und Dieter Hornig, Frankfurt a. M. 1993 sowie die Systematisierungen in Ulrich Broich / Manfred Pfister (Hg.), Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen 1985 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft. Bd. 35).Vgl. ebenso den instruktiven, auf die Entwicklung des Begriffs, seine Vorstufen und seine engen sowie weiten Fassungen (Bachtin, Kristeva, Barthes, Derrida, Genette, Riffaterre, Lachmann) eingehenden Beitrag von Frauke Berndt / Lily Tonger-Erk, Intertextualität. Eine Einführung, Berlin 2013 (Grundlagen der Germanistik. Bd. 53). Zur Intermedialität als Sonderform der Intertextualität vgl. die Monographie von Irina Rajewsky, Intermedialität. Stuttgart 2002.  Die wenigen bisherigen Arbeiten befragen vor allem die Integration oder Vermeidung von Markenartikeln in der Literatur der 1950er Jahre. Bernd Seiler geht sporadisch auf den Umgang mit Marken bei Grass, Walser und Böll ein. Vgl. Bernd W. Seiler, Die leidigen Tatsachen. Von den Grenzen der Wahrscheinlichkeit in der deutschen Literatur seit dem 18. Jahrhundert, Stuttgart 1983, S. 289 – 297. Eine eingehende Reflexion über Marken im literarischen Feld nach 1945 stellt Thomas Wegmann an. Vgl. Thomas Wegmann, Dichtung und Warenzeichen. Reklame im literarischen Feld 1850 – 2000, Göttingen 2011, S. 456 – 497. Vgl. auch Björn Weyands Untersuchung der Markenkultur in Wolfgang Koeppens Tauben im Gras (1951): Björn Weyand, Poetik der Marke. Konsumkultur und literarische Verfahren 1900 – 2000, Berlin / Boston, MA 2013, S. 241– 286 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur. Bd. 136).

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sind die Bereiche besser abgesteckt.²² Beziehungsweise war die Frage nach dem Populären allein schon durch die Betitelung der literarischen Strömung unumgänglich.²³ Zwischen diesen Phasen existiert ein blinder Fleck von rund dreißig Jahren, ein Fleck, den die hier vorliegende Arbeit bezogen auf die Zeit von 1949 bis 1959 erhellt.²⁴ Sie erweitert die historische Kartierung um eine Phase, die meist unter dem Radar lief – zu Unrecht, wie zu zeigen ist. Es gilt also, einen breiten Untersuchungsbereich anhand exemplarischer Analysen zu erschließen und systematisch zu befragen. Der Begriff ‚Populärkultur‘ dient dabei, die Textbeispiele von Benn, Böll und Andersch zeigen es an, als Sammelbezeichnung für Phänomene verschiedener Herkunft: Marken und Werbung, Unterhaltungszeitschriften, Kinofilme und Filmstars, populäre Lieder sowie deren Interpretinnen und Interpreten. In der populären Kultur treffen sich die Sphären des Konsums und der Werbung, der Unterhaltung und des Alltags. Während man mittlerweile annimmt, dass die Grenzen zwischen high und low culture erodieren oder sich zumindest sehr fluide gestalten,²⁵ sind die literarischen Texte der frühen Bundesrepublik damit beschäftigt, die Trennlinien zwischen Hoch- und Populärkultur nachdrücklich zu betonen. Das tun sie im

 Zum Themenkomplex ‚Populärkultur, Urbanität, Girlkultur‘ und dergleichen in der Literatur der 1920er Jahre vgl. etwa Maren Lickhardt, Pop in den 20er Jahren. Leben, Schreiben, Lesen zwischen Fakt und Fiktion, Heidelberg 2018 (Reihe Siegen. Beiträge zur Literatur, Sprach- und Medienwissenschaft. Bd. 177). Vgl. Helmuth Kiesel, Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1918 – 1933. München 2017, (Geschichte der deutschsprachigen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. 10) S. 538 – 650. Vgl. Sabina Becker, Neue Sachlichkeit. Die Ästhetik der neusachlichen Literatur (1920 – 1933). Bd. 1, Köln 2000, S. 138 – 170, S. 205 – 219.  Zur frühen Pop-Literatur vgl. etwa Seiler, „‚Das einfache wahre Abschreiben der Welt‘“. PopDiskurse in der deutschen Literatur nach 1960 sowie Schäfer, Pop-Literatur. Rolf Dieter Brinkmann und das Verhältnis zur Populärkultur in der Literatur der sechziger Jahre und Thomas Hecken, Pop-Literatur um 1968. In: Pop-Literatur. Hg. von Heinz Ludwig Arnold, München 2003, (Text + Kritik. Sonderband) S. 41– 54.  Dabei konzentriert sich die Untersuchung auf die Literatur der Bundesrepublik. Was sie allenfalls peripher berücksichtigt, sind die Entwicklungen in der Literatur der DDR. Da die gesellschaftlichen und kulturpolitischen Bedingungen der DDR signifikant andere sind (Planwirtschaft, Zensur, Aufbauliteratur, Sozialistischer Realismus, Bitterfelder Weg etc.), hat die Frage nach den Bezugnahmen auf Populäres in der ostdeutschen Literatur sowie ein Vergleich beider deutscher Literaturen eigene Studien verdient. Ansätze gibt es bereits.Vgl. den Beitrag von Carola Hähnel-Mesnard, Formen des Trivialen im Aufbau- und Betriebsroman der DDR in den 1950er Jahren. Aporien der Kunstdoktrin des Sozialistischen Realismus. In: Das Populäre. Untersuchungen zu Interaktionen und Differenzierungsstrategien in Literatur, Kultur und Sprache, hg. von Olivier Agard, Christian Helmreich und Hélène Vinckel-Roisin, Göttingen 2011, S. 297– 312.  Vgl. dazu Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017, S. 107; sowie Diedrich Diederichsen, Körpertreffer. Zur Ästhetik der nachpopulären Künste, Frankfurter Adorno-Vorlesungen, Berlin 2015, S. 8.

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Verbund mit den akademischen und feuilletonistischen Beiträgen ihrer Zeit. Vor diesem Hintergrund gestalten sich die Bezugnahmen auf populäre Kulturen häufig spannungsreich und problematisch. Beiläufig geschehen die Rekurse auf das Populäre selten, sie wecken die Aufmerksamkeit, stechen heraus. Wenn literarische Texte populäre Zeichen integrieren, also Schlagersongs zitieren, auf Marken rekurrieren und Kinofilme erwähnen, gehen damit in aller Regel produktive Reibungen einher. Der Effekt dieser semiotischen Aushandlungsprozesse lässt sich thesenhaft präzisieren: In Relation zu den populären Intertexten und Kontexten treten Merkmale in besonderer Weise hervor, die als Spezifika der frühen bundesrepublikanischen Literatur gelten – die ,Schwere‘ der Sujets, der ,hohe‘ Duktus, der Hang zu poetischen ,Wahrheiten‘, zum Existenziellen, Transzendenten, zu Mythologemen, zum Engagierten und Moralisierenden.²⁶ Deshalb ist die Auseinandersetzung mit dem Populären in der Literatur der 1950er Jahre nicht nur reizvoll, sondern überfällig. Will man die Literatur dieses Zeitraums verstehen, muss man dahin gehen, wo einer ihrer bisher kaum berücksichtigten Reibungspunkte, einer ihrer neuralgischen Punkte liegt – zur populären Kultur. Anders ausgedrückt: Die literarischen Texte sind grosso modo darum bemüht Substantielles gegenüber den nur unterhaltenden und scheinbar belanglosen, den häufig als suggestiv und als narkotisierend wahrgenommenen Bestandteilen der populären Kultur in Anschlag zu bringen. Sie sind bestrebt, die populären Zeichen mit Bedeutung zu kontrastieren oder sie andersherum mit Bedeutung zu versehen. Damit zielen sie wiederum auf ihre eigene Bedeutung, ihre Tragweite als literarischer Text in Abgrenzung zum Populären. Das erweist sich angesichts der seit dem neunzehnten Jahrhundert nachhaltig in Zweifel geratenen Welterklärungsmodelle und Sinnentwürfe – Religion, Geschichte, Natur, Familie usw. – als diffiziles Unterfangen. Bei der hier anvisierten Literatur hat man es mit Erzeugnissen der europäischen Spätmoderne zu tun, mit Texten, die in der Regel um die Unmöglichkeit stabiler Metacodes wissen,²⁷ die  Vgl. zu diesen Spezifika Manfred Karnick, Krieg und Nachkrieg, Erzählprosa im Westen. In: Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. Hg. von Wilfried Barner et al., München 22006, (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. XII) S. 31– 75; vgl. Schnell, Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945, S. 131– 144 und 201– 206; vgl. Friedhelm Kröll, Anverwandlung der ‚klassischen Moderne‘. In: Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967, hg. von Ludwig Fischer, München 1986, (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd. 10) S. 244– 262.  Der literarische Verschleiß von Codes seit dem Realismus des neunzehnten Jahrhunderts wurde instruktiv von Hans Vilmar Geppert dargelegt. Vgl. Hans Vilmar Geppert, Der realistische Weg. Formen pragmatischen Erzählens Balzac, Dickens, Hardy, Keller, Raabe und anderen Autoren des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1994, (Communicatio. Bd. 5) bes. S. 126 – 128.

1.1 Methodische Vorbemerkung

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aber angesichts ihrer Konfrontationen mit dem Populären trotz allem versuchen, Bedeutung und Sinn aufzubauen. Eine Sphäre, in der dies noch möglich scheint, ist häufig die Kunst selbst. Der an dieser Stelle einleitend skizzierte Gedanke zur Bedeutung des literarischen Textes begleitet die Arbeit. Im Laufe der Untersuchung wird er begrifflich präzisiert, an literarische Verfahren rückgebunden und schließlich anhand mehrerer Modelle diskutiert. Damit macht die Untersuchung systematische Vorschläge, wie sich literarische Bezugnahmen auf populäre Kulturen erfassen lassen und wie Bedeutungskonstitution in literarischen Texten vor diesem Hintergrund abläuft. Neben den beiden Leitfragen, wie literarische Texte der 1950er Jahre populäre Zeichen funktionalisieren und warum sie das tun, ist also die Frage, wie Literatur sich als bedeutungsvolles Kunstwerk kenntlich macht, ein wiederkehrender Punkt der Arbeit. Diese Fragen werden im Verlauf der Einleitung theoretisch und methodisch konkretisiert (Kap. 1.1). Daran knüpft sich eine Präzisierung der verwandten Begriffe ‚Populärkultur‘, ‚Masse‘ und ‚Pop‘ vor dem Horizont der Diskurslage der frühen BRD an (Kap. 1.2). Diese mündet in eine Reflexion der Gegenstandswahl (Böll, Benn, Andersch) sowie in einen Überblick des Forschungsfelds ‚Literatur und Populäres in den 1950er Jahren‘, der anhand von Texten Ingeborg Bachmanns und Arno Schmidts kritische sowie ambivalente Positionierungen gegenüber dem Populären diskutiert (Kap. 1.3).

1.1 Methodische Vorbemerkung: Kulturpoetik, Textverfahren, Bedeutung – und die ‚harten Unterlagen‘ der Literatur Dass literarische Texte Auskunft über die Kultur ihres Entstehungszeitraums geben, gehört zu den Evidenzen der literaturwissenschaftlichen Diskussion. Umso mehr trifft das auf Texte zu, die Realien einbinden, also etwa real existierende Markennamen, Songtexte, Filmtitel, Illustrierte etc., wie es die Texte von Böll, Benn und Andersch tun. Diesen Texten wird man gerecht, indem man die eingebundenen Realien nicht allein als interpretationsunterstützende Kontextinformationen abhandelt, sondern ihnen in analytischer Weise begegnet – wie dem literarischen Text selbst. In strukturalistisch-semiotischer Hinsicht meint das, dass man das Syntagma eines Textes nur adäquat erfasst, wenn man angeben kann, welche Informationen der Text über das in praesentia Notierte hinaus noch mit sich führt. Wie sieht es zum Beispiel mit dem Hinweis aus, dass die lyrische Instanz in Gottfried Benns

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1 Einleitung

Gedicht „Hör zu:“ (1954 / 1955) die Zigarettenmarke „Juno“ raucht?²⁸ Was verbindet man mit der Marke Juno in den 1950er Jahren? Ist sie seit langem etabliert oder neu auf dem Markt? Ist sie weit verbreitet? Ist sie ein europäisches oder ein amerikanisches Produkt? Wie sehen Werbeanzeigen für die Marke aus? Gilt sie als Zigarette des Arbeitermilieus, der Mittelschicht oder wurde sie in feinen Kreisen geraucht? Warum raucht die lyrische Instanz keine Zigaretten einer anderen beliebten Marke der Nachkriegszeit, etwa Salem, NIL, Zuban oder Gloria? Für die Analyse des literarischen Textes sind solche Informationen signifikant, nur werden sie in aller Regel nicht oder zumindest nicht expressis verbis im Syntagma mitgeteilt. Das heißt, sie befinden sich in absentia, sie sind Teil der Paradigmen einer Kultur zu einer spezifischen Zeit. Im Paradigma ‚Zigarettenmarken der 1950er Jahre‘ geht die Juno ein äquivalentes Verhältnis zu allen anderen Zigarettenmarken ein. Das schließt verfügbare sowie nicht mehr verfügbare Marken mit ein, prinzipiell auch Rauchalternativen in der Peripherie dieses Paradigmas, also etwa Zigarren, Drehtabak, Pfeifentabak und Vergleichbares. Erst die Unterscheidung von ähnlichen, aber nicht identischen Teilen des Paradigmas erlaubt valide Aussagen über den Status der Marke Juno in den 1950er Jahren und spezifischer über die Funktion der Marke in Gottfried Benns Gedicht.Würde man andere Paradigmen zu Grunde legen, zum Beispiel ‚Zigarettenmarken der 2010er Jahre‘, käme es zu Verständnislücken oder zu ahistorischen Fehlschlüssen.²⁹ Will man dies vermeiden, nähert man sich einem literarischen Text auf der Grundlage des zu seiner Zeit kursierenden kulturellen Wissens, welches in Form von gespeicherten und lesbaren Quellen vorliegt (Schrifterzeugnisse, Bilder, Filme etc.). Dieses Vorgehen resultiert in mitunter kleinschrittiger Text-Kontext-Arbeit, die auf einem kulturellen Archivbegriff aufbaut, der materialiter angelegt ist. Solch eine textualistische Auffassung von Kultur, wie sie Moritz Baßler in seiner Text-Kontext-Theorie (2005) entfaltet,³⁰ fußt auf Ferdinand de Saussures

 Benn, Hör zu: S. 171.  Gewiss sind aktualisierende Lektüren je nach Fragestellung denkbar und legitim, nur können diese Lektüren nicht den Anspruch erheben, einen Text in seinem Entstehungszusammenhang zu begreifen.  Vgl. Moritz Baßler, Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie, Tübingen 2005 (Studien und Texte zur Kulturgeschichte der deutschsprachigen Literatur. Bd. 1). Vgl. auch die komprimierte Entfaltung des Gedankens in Moritz Baßler, Analyse von Text- und Kontextbeziehungen. In: Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände – Konzepte – Institutionen, hg. von Thomas Anz, Bd. 2, Stuttgart / Weimar 2007, S. 225 – 231. Baßler setzt sich in der Text-Kontext-Theorie unter anderem von Foucaults Verständnis des Archivs ab, das abstrakter angelegt ist, da es Regularien der Sagbarkeit im Blick hat. Vgl. Michel Foucault, Archäologie des Wissens [1969]. Suhrkamp 1973. Zu den unterschiedlichen

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und Roman Jakobsons Überlegungen zur Verfasstheit der Sprache und der Bedeutung von Zeichen. Nach Saussure wird die Bedeutung eines Zeichens bekanntlich arbiträr innerhalb einer Sprachgemeinschaft hergestellt. Ein Zeichen funktioniert also nur in der Differenz zu anderen Zeichen. Das heißt, die Bedeutung ist dem Zeichen nicht vorgelagert, sondern wird von einer Sprachgemeinschaft konventionalisiert und relational zu anderen Zeichen ausgebildet, die wiederum andere Bedeutungen aufweisen.³¹ Jakobson knüpft daran an, wenn er eine Achse der Kombination (Syntagma) und eine Achse der Selektion (Paradigma) bestimmt, deren Zusammenwirken die Basis jeder Sprache ausmacht. Während die Achse der Kombination auf dem Prinzip der Kontiguität beruht, basiert die Achse der Selektion auf dem Prinzip der Äquivalenz, der Ähnlichkeit und Unähnlichkeit.³² Bedeutung von Zeichen und Texten – lies: Bedeutung innerhalb von Kulturen – entsteht also auf syntagmatische sowie auf paradigmatische Weise. Unter dem Namen Kulturpoetik (Cultural Poetics) wird dieses textualistische Verständnis von Kultur zur Methode. Mit Hilfe der kulturpoetischen Perspektive können literarische Texte in Kombination mit weiteren Einträgen des Archivs darüber informieren, was in einer Kultur zu einer bestimmten Zeit als äquivalent wahrgenommen wird und was nicht, welche Semantisierungen möglich und gängig sind. Ein Detail wie die Zigarettenmarke Juno in Benns „Hör zu:“ gerät dadurch, so lässt sich die Idee im Anschluss an den New Historicism zusammenfassen, von der Hintergrundinformation, vom bloßen Kontext des literarischen Textes zum eigenständigen Interpretandum.³³ Aus der poststrukturalistischen Skepsis gegen Metanarrationen und dem gleichzeitigen Interesse an historischen Konstellationen erwachsen, findet dieser methodische Zugriff auf Texte in der konkreten Analyse von Einzelbefunden zu seiner Form. Im Fokus steht also, textuelle Poiesis

Standpunkten im Zusammenhang mit der These von der Textualität der Kultur vgl. etwa Moritz Baßler et al., Forum: Kultur als Text? In: Kulturpoetik, 1, 2002, S. 102– 113.  Vgl. Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft [1931]. Hg. von Charles Bally und Albert Sechehaye, unter Mitwirkung von Albert Riedlinger, übersetzt von Hermann Lommel, mit einem Nachwort von Peter Ernst, Berlin 32011, S. 132– 159.  Vgl. Roman Jakobson, Linguistik und Poetik [1960]. In: Jakobson, Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921– 1971, hg. von Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert, Frankfurt a. M. 1979, (suhrkamp taschenbuch wissenschaft. Bd. 262) S. 83 – 121, hier S. 94.  Vgl. Baßler, Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. S. 1– 36. Vgl. Stephen Greenblatt, Shakespearean Negotiations. The Circulation of Social Energy in Renaissance England, Berkeley, CA 1989 (New Historicism. Studies in Cultural Poetics. Bd. 84). Vgl. ferner Anton Kaes, New Historicism: Literaturgeschichte im Zeichen der Postmoderne? In: New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Mit Beiträgen von Stephen Greenblatt, Louis Montrose u. a., hg. von Moritz Baßler, Frankfurt a. M. 1995, S. 251– 267.

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als kulturelle Poiesis lesbar zu machen.Was der Ansatz zurückzuweisen versucht, sind weitestgehend quellenentbundene, umspannend-allgemeine Aussagen; etwa über ‚die‘ Kultur einer Epoche in Gänze. Gewiss meint das nicht, dass auf Abstraktionen und Verdichtungen verzichtet wird. Kein Text, der sich wissenschaftlich nennen will, ist dazu in der Lage. Die Methode impliziert vielmehr eine Sensibilität für die Komplexität von Geschichte sowie für das textuelle Detail. Auf genau solche Partikularitäten zielen meine Fragen, wie literarische Texte der 1950er Jahre Populärkulturelles einbinden und weshalb sie das tun. Damit sind der Stellenwert von Kontexten, der Umgang mit ihnen sowie die These von der Textualität der Kultur umrissen. Die systematische Untersuchung des literarischen Textes erfordert indes einen weiteren Methodenimpuls. Dieser Impuls kommt von der Verfahrenstheorie. Ein Verfahren bezeichnet generell einen Vorgang oder eine Methode, die prozessuale Weise der Durchführung von etwas.³⁴ In der literaturwissenschaftlichen Diskussion geht der Begriff auf die russischen Formalisten um Viktor Šklovskij zurück, der die Kunst als Verfahren (1916), als prijom, bezeichnet hat.³⁵ Literatur, so seine basale Prämisse, irritiert den „Automatismus der Wahrnehmung“, die pragmatische Sprache des Alltags, mit Hilfe poetischer Mittel.³⁶ Die Literatur konstituiert sich überhaupt erst durch diese „besonderen Verfahren“, die das Funktionieren des literarischen Textes bestimmen und die ihn als „künstlerisch“ markieren.³⁷ Demnach meint die Hin-

 So lautet die Duden-Definition. Vgl. auch die Bestimmung im Grimm’schen Wörterbuch, das eine neuhochdeutsche Begriffsverwendung ab dem siebzehnten / achtzehnten Jahrhundert ausmacht: „abstract, aus der sinnlichen bedeutung mit etwas dahinfahren, mit etwas zusammengehen, entwickelt sich die bedeutung in thätigkeit sein in bezug auf einen oder etwas, beschäftigt sein mit einem oder etwas.“ Jakob Grimm / Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch. Bd. 25, Leipzig 1854– 1960, S. 288 und 292.  Vgl. Viktor Šklovskij, Die Kunst als Verfahren [1916]. In: Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, hg. von Jurij Striedter, München 51994, S. 4– 33. Rüdiger Campe ist der Verwendung des Begriffs in anderen Disziplinen kursorisch nachgegangen, etwa in der naturwissenschaftlichen Verfahrenstechnik, im Recht sowie in der Systemtheorie und in der Epistemologie. Zu seinen Ausführungen über Niklas Luhmanns Legitimation als Verfahren (Frankfurt 1983) und Bruno Latours Science in Action (Cambridge, MA 1987) sowie zum Verfahren bei Kleist vgl. Rüdiger Campe, Verfahren. Kleists ‚Allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden‘. In: Sprache und Literatur, 110, 2012, S. 2– 21, hier S. 2– 5.  Šklovskij, Die Kunst als Verfahren. S. 7.  „[K]ünstlerisch nun, im engen Sinne, wollen wir Dinge nennen, die in besonderen Verfahren hergestellt wurden, deren Zweck darin bestand, daß diese Werke mit größtmöglicher Sicherheit als künstlerisch wahrgenommen würden.“ Šklovskij schreibt an anderer Stelle emphatisch: „Und gerade, um das Empfinden des Lebens wiederherzustellen, um die Dinge zu fühlen, um den Stein steinern zu machen, existiert das, was man Kunst nennt. […] Kunst ist ein Mittel, das Machen einer

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wendung zur Verfahrensseite der Literatur eine Hinwendung zur formalen Machart, zu den Kunstmitteln, zum zeichenhaften „Material“ des Textes in seiner prozessualen, dynamischen und relationalen Verfasstheit.³⁸ Oder wie Rüdiger Campe chiastisch über Šklovskijs Idee der verfahrensmäßigen Ent-Automatisierung der Literatur schreibt: „Das Verfahren der Wahrnehmung wird […] zur Wahrnehmung des Verfahrens.“³⁹ Um die Prozessualität, Dynamik und Relationalität – die „Ausführungsmodi“⁴⁰ – literarischer Texte zu erfassen, wendet sich die vor allem in der formalistisch-strukturalistischen Theorietradition beheimatete Verfahrensanalyse der textuellen Stilisierung in ihrer breiten Vielfalt zu.⁴¹ Das umfasst Bereiche wie die Rhetorik und Topik, die Verslehre, die Narratologie und die Semiologie. Zusätzlich konsultiert der Ansatz poetologische Beiträge und Programmatiken, die er mit den literarischen Texten verknüpft. Das geschieht nicht, um das Gelingen oder Misslingen dieser Texte zu eruieren, nicht aus Gründen der Wertung, sondern um die Verfahren der Texte vor dem Hintergrund von Epochenlogiken und ästhetischen Standards zu reflektieren, welche von den Zeitgenossinnen und Zeitgenossen lanciert werden.⁴²

Sache zu erleben; das Gemachte hingegen ist in der Kunst unwichtig.“ Šklovskij, Die Kunst als Verfahren. S. 14.  Vgl. Boris Eichenbaum, Die Theorie der formalen Methode [1925]. In: Eichenbaum, Aufsätze zur Theorie und Geschichte der Literatur, übersetzt von Alexander Kaempfe, Frankfurt am Main 1965, S. 7– 52, hier S. 9. Vgl. ferner Robert Matthias Erdbeers Definition des Verfahrensbegriffs: „Der Begriff ,Verfahren‘ also dient – schon seiner Etymologie zufolge – zur Bezeichnung von dynamischen Prozessen, und er ist ein Relationsbegriff: Dynamisch ist er, weil er Vorgänge bezeichnet, und ein Relationsbegriff, weil die dynamische Bewegung sich immer relativ zu einem (oder mehreren) Bezugssystemen vollzieht.“ Robert Matthias Erdbeer, Der Text als Verfahren. Zur Funktion des textuellen Paradigmas im kulturgeschichtlichen Diskurs. In: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, 46/1, 2001, S. 77– 105, hier S. 84.  In der Perspektivierung Šklovskijs macht dies hermeneutisches Sinnverstehen sekundär. Campe konstatiert darüber hinaus zutreffend, dass es den Formalistinnen und Formalisten nicht „um das Verfahren der Kunst“, „sondern um dasjenige“ geht, „was als Verfahren Form wird“, also um die prozesshaften, unterschiedlichen Hervorbringungen von literarischer Form in ihrer „Jeweiligkeit“. Campe,Verfahren. Kleists ‚Allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden‘, S. 4 f.  Campe, Verfahren. Kleists ‚Allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden‘, S. 3.  Der Begriff ‚Verfahren‘ wurde im Anschluss an den russischen Formalismus im Strukturalismus aufgegriffen, etwa von Jurij Lotman und Roman Jakobson. Vgl. zur Theoriegeschichte des Begriffs innerhalb der Literaturwissenschaft Alexander Wöll, s.v. Verfahren. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. von Jan-Dirk Müller, Bd. 3, Berlin / New York, NY 2003, S. 749 – 751, hier S. 750 f.  Moritz Baßler hat diesen Aspekt stark gemacht. Vgl. Baßler, Deutsche Erzählprosa. Eine Geschichte literarischer Verfahren 1850 – 1950, S. 14 f. Mit der Text-Kontext-Theorie teilt die Verfah-

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Gottfried Benns Poetologie liefert einen Denkanstoß, wenn man diese Konstellation auf den Gegenstandsbereich ‚Literatur und Populärkultur‘ überträgt. Sein Essay „Probleme der Lyrik“ (1951), der aus einem Vortrag an Benns Alma Mater in Marburg hervorgeht, bemängelt die schlechte Verfassung der Nachkriegspoesie im Rahmen eines Kriterienkatalogs, mit dem man die Modernität von Gedichten bemessen könne. Dilettantismus herrsche allenthalben, vor allem die Zeitungen seien voll von Naturlyrik, die mit schwulstigen Vokabeln im Frühling die Krokusse begrüßt und im Herbst den Fall der Blätter besingt. Es sei bedenklich, dass die meisten Texte ohne Rückbindung an sprachliche „Wirklichkeiten“, also an die Sprachen des Alltags, der Unterhaltung und des Konsums operieren und sich umstandslos transzendenten „Allgefühlen“ hingeben.⁴³ „Dieser seraphische Ton ist keine Überwindung des Irdischen, sondern eine Flucht vor dem Irdischen“.⁴⁴ ‚Seraphisch‘ (von lat. seraphus) lässt sich als ,engelgleich‘ oder ,verzückt‘ übersetzen, gemeint ist also ein ‚hoher‘ literatursprachlicher Duktus, der in den Texten um sich greift. Dieser Duktus ist laut Benn nicht grundsätzlich abzulehnen, er ist vielmehr maßvoll, in einer bestimmten Weise zu handhaben. Daher konkludiert er: Der „große Dichter“ wird das „Esoterische, das Seraphische ungeheuer vorsichtig auf harte realistische Unterlagen“ verteilen.⁴⁵ Der Spott gegen Gelegenheitsgedichte aus Zeitungen und die ins Ironische tendierende Wortwahl können dazu verleiten, dass man die Produktivität dieses Gedankens übersieht. Harte Unterlagen – das sind die (programmatisch notwendigen) populären Zeichen, die Kolloquialismen, Markennamen und Schlagerzitate, die in Benns späten Gedichten das Fundament für sprachliche Registerwechsel ins ‚Seraphische‘ bilden. Die Rede von den harten Unterlagen ist in mehrfacher Hinsicht anschlussfähig für eine Analyse des Populären in der Nachkriegsliteratur. Als Metapher ruft sie erstens die im literarischen Feld der 1950er Jahre dominante Dichotomie von ‚hoher‘ und ‚niederer‘ Kultur auf. Dabei weist sie auf die Interdependenz der

rensanalyse den mikrologischen Blick auf Texte. Das Surplus der Verknüpfung beider Methoden ist offenkundig: Man diskutiert die formalen, strukturellen Prinzipien literarischer Texte nicht nur vor dem Hintergrund ihrer historisch-kontextuellen Verankerung, wie es eine ambitionierte Analyse tun sollte. Vielmehr eruiert man zugleich über den Weg der ästhetischen Verfasstheit der literarischen Texte kulturelle Bedeutungsmuster einer Zeit – anhand konkreter (Kon‐)Texte. Robert Matthias Erdbeer hat solch eine Form der Analyse methodologisch skizziert. Vgl. Erdbeer, Der Text als Verfahren. Zur Funktion des textuellen Paradigmas im kulturgeschichtlichen Diskurs. S. 77– 105.  Gottfried Benn, Probleme der Lyrik [1951]. In: Benn, Sämtliche Werke. Hg. von Holger Hof, Bd. 4, Stuttgart 2001, S. 9 – 44, hier S. 19.  Benn, Probleme der Lyrik. S. 19.  Benn, Probleme der Lyrik. S. 19 [meine Hervorhebung, P.P.].

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beiden hin. Zweitens eignet sie sich für eine verfahrenstheoretische Reflexion, da sie eine ästhetische Vorgehensweise beschreibt und prozessuale sowie relationale Momente unterstreicht. Das wird umso ersichtlicher, wenn Benn bemängelt, dass es häufig „gleich anlangt oder schnell losgeht mit Brunnenrauschen und Neugottesgründung“,⁴⁶ dass viele Texte also von Beginn an mit schematischen, sprachlichen Preziosen oder Transzendenzangeboten aufwarten, ohne ihnen ein Gegengewicht zu verleihen. Drittens lässt sich aus Benns Rede von den harten Unterlagen ein Prinzip ableiten, das über seine eigenen Texte und die Zeitungsgedichte hinaus Geltung hat. Man muss den Gedanken umformulieren: Wenn literarische Texte der 1950er Jahre populäres Zeichenmaterial integrieren, tun sie das in aller Regel im Sinne der Dynamik, die Benn en passant in seinem Essay skizziert. Das heißt, die Texte behandeln das populäre Zeichenmaterial im Modus der Differenz, also mit distinktiven und kontrastiven Verfahren. Diese Verfahren zielen darauf, die literarischen Texte in markierter Form als künstlerische auszuweisen, ihre Tragweite auszustellen. Damit rückt der literaturwissenschaftliche Bedeutungsbegriff in einer spezifischen Weise in den Blick. Im Anschluss an die Bedeutungen des literarischen Zeichengefüges stellt sich die verfahrenstheoretisch motivierte Frage, auf welchen Wegen der literarische Text unterstreicht, dass er als ästhetisches Erzeugnis von Bedeutung ist. Demzufolge geht es in den hier folgenden Analysen nicht nur um die Bedeutungen der populären Zeichen, sondern ebenso um die textuelle Figuration von Bedeutsamkeit im literarischen Text. Im Gegensatz zu Kategorien wie ‚Text‘, ‚Autor‘ und ‚Leser‘ ist die ‚Bedeutung‘ ein „unbekannte[r] Grundbegriff der Literaturwissenschaft“.⁴⁷ Es ist häufig nicht eindeutig, was Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler meinen, wenn sie den Sammelterminus ‚Bedeutung‘ verwenden (Zeichenbedeutung, Textbedeutung, intentionale Autorbedeutung usw.), da grundlegende, begriffliche Operationalisierungen fehlen.⁴⁸ Noch mehr trifft dies auf den Begriff ‚Bedeutsamkeit‘ zu, der soviel wie ‚Tragweite‘ oder ‚Wichtigkeit‘ meint, in der

 Benn, Probleme der Lyrik. S. 18.  Fotis Jannidis et al., Der Bedeutungsbegriff in der Literaturwissenschaft. Eine historische und systematische Skizze. In: Regeln der Bedeutung. Zur Theorie der Bedeutung literarischer Texte, hg. von dens., Berlin / New York, NY 2003, (Revisionen. Grundbegriffe der Literaturtheorie. Bd. 1) S. 3 – 30, hier S. 6.  Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matías Martínez und Simone Winko haben eine Systematisierung und forschungsgeschichtliche Einordnung des Begriffs vorgenommen. Vgl. Fotis Jannidis et al., Der Bedeutungsbegriff in der Literaturwissenschaft. Eine historische und systematische Skizze, S. 3 – 30. Meines Wissens liegen keine aktuelleren literaturwissenschaftlichen Beiträge vor, die sich systematisch mit dem Begriff auseinandersetzen.

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Literaturwissenschaft aber bislang nur punktuell Anwendung gefunden hat. Ein Grund dafür ist die spezifische Vagheit, die der Begriff transportiert. Instruktive Überlegungen gehen von Jochen Hörischs Monographie Bedeutsamkeit. Über den Zusammenhang von Zeit, Sinn und Medien (2009) aus. Der Text ist eine an Heideggers Fundamentalontologie angelehnte Studie zu Figurationen des Bedeutsamen (Heidegger, Dilthey und Husserl profilieren den Begriff als Philosophem in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts).⁴⁹ Hörisch versteht unter Bedeutsamkeit ein „fundamentalsemiologisches Differenzgeschehen, das jedoch nicht distinkt verfasst ist“.⁵⁰ Bedeutsamkeit meint also, verkürzt ausgedrückt, eine unspezifische Form von Zeichenbedeutung – eine Form, die viele der hier untersuchten literarischen Texte für sich beanspruchen. An dieser Bestimmung kann man sich zunächst orientieren. In Kap. 3.3 wird der Begriff unter verfahrenstheoretischen Gesichtspunkten präzisiert und aktualisiert. Der verfahrensseitig wichtige Punkt ist, dass das Gros der nachkriegsliterarischen Texte den populären Zeichen signifikante Funktionen für die eigene Stilisierung einräumt. Über den Weg der Populärkultur markieren sich die Texte also als künstlerische Artefakte, über diesen Weg betonen sie ihre Bedeutsamkeit in nachdrücklicher Weise. Wie ausgeprägt Distinktion und Kontrast auch sein mögen, die integrierten Zeichen aus dem Bereich des Populären stellen meist einen wichtigen Faktor der literarischen Poiesis dar. Welche Form dies annehmen kann, zeigt wiederum die Zigarettenmarke Juno in Benns Gedicht „Hör zu:“ Hör zu, so wird der letzte Abend sein, wo du noch ausgehen kannst: du rauchst die „Juno“, „Würzburger Hofbräu“ drei, und liest die Uno, wie sie der „Spiegel“ sieht, du sitzt allein […] Mehr warst du nicht, doch Zeus und alle Macht, das All, die grossen Geister, alle Sonnen sind auch für dich geschehen, durch dich geronnen, mehr warst du nicht, beendet wie begonnen – der letzte Abend – gute Nacht.⁵¹

 Jochen Hörisch, Bedeutsamkeit. Über den Zusammenhang von Zeit, Sinn und Medien, München 2009.  Um diese Formulierung zu vertiefen: „Bedeutsam nennen wir das, wovon wir nicht recht wissen, was genau es bedeutet, von dem wir aber annehmen, daß es nun eben nicht einen konkreten Sinn habe, sondern überhaupt bedeutsam sei, also nicht einfach nur da ist.“ Hörisch, Bedeutsamkeit. Über den Zusammenhang von Zeit, Sinn und Medien, S. 16 und 193.  Benn, Hör zu: S. 171.

1.2 Begriffliches: Populärkultur, Masse, Pop

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Die erste Strophe von „Hör zu:“ greift auf ein für Benn seit der expressionistischen Phase charakteristisches Setting zurück: das Lokal. Benns lyrische Instanzen halten sich regelmäßig in Kneipen, Nachtlokalen, in Bierschänken und Cafés auf. Kolloquialismen, Bier- und Zigarettenmarken sowie Zeitschriftenlektüren fügen sich in diese Umgebung. Im Gedicht werden sie exponiert, mit Hilfe von Anführungszeichen als Realien aus der Sphäre des Konsums gekennzeichnet – „Würzburger Hofbräu“, „Juno“, „Spiegel“. Zudem lässt sich der Titel des Gedichts als Markenallusion auf die zu dieser Zeit führende Rundfunkzeitung Hör zu! lesen. Abrupt erfolgt der überhöhende Wendepunkt in der vierten, der letzten Strophe, wenn „Zeus“, das „All“, „gross[e] Geister“ und „alle Sonnen“ das karge Kneipensetting kontrastieren. Das lyrische Du ist plötzlich Teil von etwas Größerem, ist eingebunden in weltleitende, metaphysische Zusammenhänge, die Bedeutsames ins Werk setzen. Der Registerwechsel kontrastiert also, strukturalistisch ausgedrückt, zwei Paradigmen miteinander. Auf der einen Seite steht das Paradigma des Alltags / des Konsums, auf der anderen Seite das metaphysische / überhöhende Paradigma. Auffällig ist, dass die beiden paradigmatischen Bereiche über die Zigarettenmarke Juno miteinander verbunden sind. Der Markenname weist in den römischen Götterhimmel. Bereits in der ersten Strophe leitet diese semiotische Spur von dem einen in den anderen Bereich. Abschließend kippt das zirkulär aufgebaute Gedicht dann wieder zurück ins Alltagssprachliche. „[G]ute Nacht“, heißt es bescheiden und zufrieden. Wie sich solche Konstellationen analytisch vertiefen lassen, veranschaulichen detaillierte Untersuchungen von „Hör zu:“ sowie von weiteren Gedichten im Kapitel zu Benns später Lyrik. Zuvor gilt es aber, eine Unterscheidung der verwandten Begriffe Populärkultur, Masse und Pop zu treffen. Mit ihrer Hilfe lässt sich zugleich die diskursive Gemengelage der frühen Bundesrepublik skizzieren.

1.2 Begriffliches: Populärkultur, Masse, Pop Definitionen der Populärkultur (lat. populus = ‚Volk‘, ‚Gemeinde‘) existieren in Fülle.⁵² „Populär ist das, was viele beachten“, taugt insofern als Definition, da der Satz darauf verzichtet, den Begriff zu verengen.⁵³ Um es noch einmal zu betonen:

 Thomas Hecken hat zahlreiche Definitionen zusammengetragen. Vgl. Thomas Hecken, Populäre Kultur, populäre Literatur und Literaturwissenschaft. Theorie als Begriffspolitik. In: Journal of Literary Theory, 4.2, 2010, S. 217– 234, hier S. 219 – 221.  Thomas Hecken, Populäre Kultur. Mit einem Anhang ‚Girl und Popkultur‘, Bochum 2006, S. 85. Gewiss gibt es Beiträge, die Alltagskultur, Unterhaltungskultur, Konsumkultur etc. als

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1 Einleitung

Der Begriff ‚Populärkultur‘ dient hier als Sammelbezeichnung für die Sphären der Unterhaltung, des Konsums, der Werbung und des Alltags. Ein kurzer Rückblick auf die Geschichte des Begriffs erlaubt es, die historische Reichweite der Diskurse über das Populäre in den 1950er Jahren in ihrer (west‐)deutschen Prägung nachzuvollziehen. Es hat eine lange Tradition, die populäre Kultur von ihrem Gegenteil, der Hochkultur, her zu denken. Im Spannungsfeld von Aufklärung und Romantik, kulminierend im Konflikt zwischen Gottfried August Bürger und Friedrich Schiller, verfestigt sich der Dualismus ‚hohe‘ Kultur / ‚populäre‘ Kultur im achtzehnten Jahrhundert.⁵⁴ Schillers Rezension „Über Bürgers Gedichte“ (1791) zufolge ist „Popularität“ Bürgers „höchste[s] Gesetz“, er versteht sich „ausdrücklich als ‚Volkssänger‘“.⁵⁵ Das Problem sei, dass seine Fokussierung der „Popularität“ zu Ungunsten „der höhern Schönheit“ gehe. „Haben sie [die Gedichte, P.P.], was sie für die Volksmasse an Interesse gewannen, nicht für den Kenner verloren?“ Anstatt das Volk „hinaufzuziehen“, es zu bilden und zu sublimieren, „gefällt es ihm [Bürger, P.P.] oft, sich ihm gleichzumachen“.⁵⁶ Für deutschsprachige Diskurse über das Populäre sind diese Gedanken über lange Zeit hinweg richtungsweisend. Seit der von Schiller ausgelösten Bürger-Kontroverse wurden populäre Erzeug-

Subkategorien definieren. Vgl. etwa die Einträge in Hans-Otto Hügel (Hg.), Handbuch Populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussionen, Stuttgart / Weimar 2003.  Vgl. Hermann Herlinghaus, s.v. Populär / volkstümlich / Popularkultur. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. von Karlheinz Barck et al., Bd. 4, Stuttgart / Weimar 2002, S. 833 – 884, hier S. 841, 844 f. Vgl. zum Schwerpunkt ‚hohe und niedere Literatur‘ auch Christa Bürger / Peter Bürger / Jochen Schulte-Sasse (Hg.), Zur Dichotomisierung von hoher und niederer Literatur. Frankfurt a. M. 1982 (Hefte für kritische Literaturwissenschaft. Bd. 3). Neuere Beiträge umgehen die wertende Komponente der historischen Dichotomie, indem sie ‚populär‘ als Gegenteil von ‚nicht-populär‘ verstehen. Vor dem Hintergrund fluider Grenzen zwischen der Hoch- und der Populärkultur ist das konsequent. Mit der Diskursrealität der 1950er Jahre hat es aber nichts zu tun. Vgl. Niels Penke / Matthias Schaffrick, Populäre Kulturen zur Einführung. Hamburg 2018, S. 11.  Friedrich Schiller, Über Bürgers Gedichte [1791]. In: Schiller, Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. von Rolf-Peter Janz, Bd. 8, Frankfurt a. M. 1992, S. 972– 988, hier S. 975.  Schiller geht davon aus, dass „zur Vollkommenheit eines Gedichts die erste unerläßliche Bedingung“ gehört, „einen von der verschiednen Fassungskraft seiner Leser durchaus unabhängigen absoluten, innern Wert zu besitzen“. Im Falle von Bürgers Gedichten sei dieser nicht gegeben: „Und hier müssen wir gestehen, daß uns die Bürgerischen Gedichte noch sehr viel zu wünschen übrig gelassen haben, daß wir in dem größten Teil derselben den milden, sich immer gleichen, immer hellen, immer männlichen Geist vermissen, der, eingeweiht in die Mysterien des Schönen, Edeln und Wahren, zu dem Volke bildend herniedersteigt, aber auch in der vertrautsten Gemeinschaft mit demselben nie seine himmlische Abkunft verleugnet.“ Schiller, Über Bürgers Gedichte. S. 977 f.

1.2.1 Masse und Populäres

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nisse von intellektueller Seite in der Regel mit Skepsis betrachtet. So erschien das Populäre als Antagonist, der mit dem Hochkulturellen konkurriert und es bedroht. Das gilt insbesondere für die 1950er Jahre. Es ist bezeichnend, dass der Begriff ‚Populärkultur‘ spät in den deutschen Wortschatz eingeht. Im wissenschaftlichen Kontext taucht er wohl zum ersten Mal in einem Beitrag des Literatursoziologen und Adorno-Vertrauten Leo Löwenthal auf. Da schreibt man das Jahr 1960. Löwenthal, der die Dichotomie zwischen „‚echter Kunst‘ und ‚Populärkultur‘“ vorsichtig hinterfragt, bleibt eine Ausnahme und rückt in späteren Veröffentlichungen selbst wieder vom Begriff ab.⁵⁷ Eine Entspannung der Debatte tritt nur sukzessive ein.

1.2.1 Masse und Populäres Stattdessen dominieren andere Termini: Die ‚Masse‘ beziehungsweise die ‚Massen‘ (von lat. massa = ‚Teig‘, ‚Klumpen‘), von denen nur selten als ‚Massenkultur‘ die Rede ist. Vielmehr spricht man ihnen meist jegliche Kultur ab. Wenn in dieser Arbeit die Kategorien ‚Populärkultur‘, ‚populäre Kulturen‘ oder das ‚Populäre‘ verwendet werden, umgeht der Gebrauch pejorative und meliorative Verengungen. Er grenzt sich gleichermaßen von den tendenziösen Diskursen der frühen Bundesrepublik sowie von Theoriepositionen ab, die nach Möglichkeiten des empowerment in der popular culture suchen.⁵⁸ Die Masse ist ein historisch einschlägiger Begriff, den man erläutern sollte, um den diskursiven Horizont der literarischen Texte dieser Arbeit nachzuvollziehen. Damit ist nicht gemeint, dass alle Autorinnen und Autoren gleichermaßen mit den kursierenden Positionen zur Masse konform gehen oder zwingend als Kritikerinnen und Kritiker der Masse in Erscheinung treten. Es ist vielmehr kaum vorstellbar, dass sie die Dominanz massekritischer Beiträge nicht bemerken. Wenn sie sich also in ihren literarischen Texten auf Populäres beziehen, geschieht das vor dem Hintergrund dieser diskursiven Konstellation. Mit den Massen verbinden die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen Primitivität, Verführbarkeit, Konformität, Verfehlungen der Kriegszeit und kulturellen Niedergang auf ganzer Linie. Das bezieht Beiträge unterschiedlicher politischer

 Leo Löwenthal, Das Problem der Populärkultur. In: Rundfunk und Fernsehen. Vierteljahrsschrift, Jg. 8, 1960, S. 21– 32, hier S. 22. Vgl. dazu Thomas Hecken, Der deutsche Begriff ‚populäre Kultur‘. In: Archiv für Begriffsgeschichte 49, 2007, S. 195 – 204, hier S. 196.  Vgl. zur Meliorisierung der Begriffe etwa Lawrence Grossberg, Another Boring Day in Paradise: Rock and Roll and the Empowerment of Everyday Life, in: Popular Music, 4, 1984, S. 225 – 257 sowie John Fiske, Understanding Popular Culture. London 1989.

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1 Einleitung

Couleur mit ein, von José Ortega y Gasset bis Theodor W. Adorno und Max Horkheimer. Ortega y Gassets kulturpessimistische Abhandlung La rebelión de las masas (1930) fordert eine souveräne Elite als Steuerungsinstanz der aufbegehrenden Massen. In der Bundesrepublik bringt man dieser Idee großes Interesse entgegen, allein von 1947 bis 1961 erscheinen acht Auflagen der deutschen Übersetzung.⁵⁹ Adorno und Horkheimer legen parallel dazu die aus heutiger Sicht wohl wirkreichsten Überlegungen zur Masse vor. Das berühmte Kapitel „Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug“ ist jedoch, wie die gesamte Dialektik der Aufklärung,⁶⁰ zunächst ein Geheimtipp. Das Buch kommt 1947 in kleiner Auflage im Amsterdamer Exilverlag Querido heraus und gilt bald als vergriffen. Dagegen sind es Veröffentlichungen wie Minima Moralia (1951),⁶¹ Prismen (1955) und das „Résumé über Kulturindustrie“ (1963), die Adorno zum Starintellektuellen machen und die These von der Entmündigung der Massen in der Bundesrepublik verbreiten. Zwar gibt es im Umfeld von Adorno und Horkheimer auch moderatere Betrachtungen über die Masse, etwa von Walter Benjamin im Kunstwerk-Aufsatz (1936 / 1955) oder von Siegfried Kracauer in Das Ornament der Masse (1963; in den 1920er Jahren als Einzelveröffentlichungen in der Frankfurter Zeitung).⁶² Doch diese Texte werden in der Bundesrepublik zunächst weit weniger rezipiert. Anders sieht es im Falle von David Riesmans soziologischem Bestseller The Lonely Crowd (1950 / 1956) aus. Der Text setzt sich mit den Ängsten des postindustriellen Menschen in den USA auseinander. Maßgeblich für diesen sozialen Typus sind, so Riesman, seine intensive Freizeitnutzung und sein konformes Verhalten. Seine Angst entstehe aus allem Abweichenden.⁶³ Zu denken ist ebenfalls an politisch und philosophisch so unterschiedliche Beiträge wie Hendrik de  Vgl. José Ortega y Gasset, Der Aufstand der Massen [1930]. Wesentlich erweiterte und aus dem Nachlass ergänzte Neuausgabe, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1957.  Erst im Zuge der Neuauflage der Dialektik der Aufklärung bei S. Fischer (1969) entwickelt sich das „Kulturindustrie“-Kapitel zum kulturphilosophischen Klassiker.Vgl. Theodor W. Adorno / Max Horkheimer, Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug [1947]. In: Adorno / Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M. 212013, S. 128 – 176.  Zu den Minima Moralia in den 1950er Jahren vgl. das Kapitel „Bundesrepublik Adorno“ in Philipp Felsch, Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960 – 1990, München 3 2015, S. 23 – 45.  Vgl. Siegried Kracauer, Das Ornament der Masse. In: Kracauer, Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1963, S. 50 – 63; vgl. Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [1936 / 1955]. In: Benjamin, Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. 1.2, Frankfurt a. M. 21978, S. 471– 508.  Vgl. David Riesman, Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters [1950], mit einer Einführung in die deutsche Ausgabe von Helmut Schelsky, Darmstadt / Berlin / Neuwied 1956.

1.2.1 Masse und Populäres

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Mans Vermassung und Kulturzerfall. Eine Diagnose unserer Zeit (1951),⁶⁴ Günther Anders’ Die Antiquiertheit des Menschen (1956),⁶⁵ Arnold Gehlens Die Seele im technischen Zeitalter (1957),⁶⁶ Elias Canettis Abhandlung Masse und Macht (1960)⁶⁷ oder Herbert Marcuses One-Dimensional Man (1964 / 1967).⁶⁸ Von ihnen werden die bundesrepublikanischen Diskurse über den kulturellen Niedergang, das ‚Mängelwesen‘ Mensch und sein Verhältnis zu den Medien, die psychologischen Herausforderungen angesichts technisch-industrieller Entwicklungen sowie die politische Verführbarkeit der Massen nachhaltig geprägt. Kurzum: Die Masse ist ein Schlüsselterminus kulturphilosophischer und insbesondere kulturkritischer Positionen nach 1945. Das zeigt sich auch anhand der sogenannten ‚Schmutz- und Schunddebatte‘ gegen verschiedene Formen von leichter Unterhaltung, vor allem Heftromane und Comics. Die Debatte, die seit dem Wilhelminischen Kaiserreich wiederholt aufscheint, mündet 1953 in das „Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften“, aus dem ein Jahr später die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften in Bonn hervorgeht.⁶⁹ Wie intensiv manche Zeitschriftenbeiträge, die den Erlass des Gesetzes und die Einrichtung der Behörde anregen, auf Metaphern der Masse und des kulturellen Hoch-Tief-Gefälles zurückgreifen, veranschaulicht ein Text aus der Sammlung. 1949 fragt sich der aufgebrachte Beiträger Eduard Schröder in dieser Zeitschrift, was gegen die Schundliteratur zu tun ist. Schröders Artikel verbindet dabei nicht die Leserinnen und Leser, sondern die ‚Schundprodukte‘ selbst mit dem Bild der Masse: Eine Welle von „Schmutz und Schund“ überflutet seit geraumer Zeit wieder den Markt der gedruckten Ware. Nicht nur in Deutschland (das den rechten Gebrauch der Freiheit auch auf diesem Gebiete erst erlernen soll), sondern auch in den Vereinigten Staaten, aber auch in

 Vgl. Hendrik De Man, Vermassung und Kulturzerfall. Eine Diagnose unserer Zeit, Bern 1951.  Vgl. Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten technischen Revolution [1956], München 2002.  Vgl. Arnold Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft [1957], Frankfurt a. M. 2007.  Vgl. Elias Canetti, Masse und Macht [1960]. In: Canetti, Gesammelte Werke. Bd. 3, München 1994.  Vgl. Herbert Marcuse, One-Dimensional Man. Studies in the Ideology of Advanced Industrial Society, Boston, MA 1964. Das Buch erscheint 1967 in einer Übersetzung von Alfred Schmidt unter dem Titel Der eindimensionale Mensch bei Luchterhand und wird bekanntlich zu einem zentralen Referenztext der Studentenbewegung.  Das bundesrepublikanische Gesetz hat ein Vorgängergesetz in der Weimarer Republik. Dort hieß es Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften.Vgl. zur Geschichte der Schunddebatten Kaspar Maase, Die Kinder der Massenkultur. Kontroversen um Schmutz und Schund seit dem Kaiserreich, Frankfurt a. M. 2012.

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1 Einleitung

Frankreich ist nach dem Kriege die literarische Unterwelt immer ungenierter ans Tageslicht getreten. In Deutschland haben wir es erlebt, dass jugendliche Kriminelle sich als begeisterte Leser dieser „Literatur“ auswiesen. Ja es ist schon vorgekommen, daß nach allzu anregenden literarischen Vorbildern solcher Art Straftaten aufgeführt worden sind. Das sind sicher nur die krassesten Anzeichen eines Übels, das im Geheimen weiter um sich greift. Die primitiven Verbrechergeschichten und Sensationsgroschenhefte, die auf Nervenkitzel abzielen und selbst die Untergründe des Neurotischen und Perversen ausbeuten, wirken auch dort auf ihre Art, wo sie nicht – wie bei besonders anfälligen Lesern – zur verbrecherischen Tat führen. Wer hier seine ausschließliche geistige Nahrung findet – und das Lesen dieser Sensationsliteratur hat die Eigenart rasch zu einer Art Süchtigkeit zu führen –, wird auf Dauer nicht nur im sittlichen Unterscheidungsvermögen verwirrt. Schlimmer noch ist das verzerrte Wirklichkeitsbild, das sich in ihm festsetzt, denn hier wird die Voraussetzung des Sittlichen zerstört; am schlimmsten, daß der seelische Raum vor allem im jugendlichen Leser, der wahren geistigen Erfahrungen weit offen bleiben sollte, bald ausschließlich von einem toten Geröll, von dem Kehrricht schlechtester Zivilisation ausgefüllt wird.⁷⁰

Groschenhefte, eine Literatur in Anführungszeichen, „überfluten“ wie eine „Welle“, eine Wassermasse, den Buchmarkt. Die Masse, die unförmige Vielheit, erhält dabei mehrfach die Konnotation von etwas ‚Unreinem‘. So wird der „seelische Raum“ von einer schmutzigen Füllmasse, „einem toten Geröll, von dem Kehrricht schlechtester Zivilisation ausgefüllt“. Nach Schröders kriminalisierender und pathologisierender Lesart kommen die Hefte aus der „Unterwelt“, aus dem Dunkel ans „Tageslicht“, sprechen neurotische, perverse „Untergründe“ der Psyche an und sorgen für die moralische Verrohung („Sitte“) ihrer jungen Leserinnen und Leser, die sich der Lektüre wie einer Sucht hingeben („Süchtigkeit“). Von diesem Punkt an ist die Straftat nicht mehr weit. Wie es häufig in der kulturkritischen Auseinandersetzung mit dem Populären passiert, macht der Artikel aus ästhetischen Erzeugnissen Angelegenheiten des Ethisch-Sittlichen. Die Groschenhefte verstellen die Möglichkeit für „wahr[e] geistig[e] Erfahrungen“, für die „eigentliche Tiefe des Daseins“,⁷¹ wie es an anderer Stelle im Beitrag heißt. Von einer gesellschaftlichen ‚Erkrankung‘ ist die Rede, „das alles sind Schäden unserer Zivilisation […]. Auf diesem erkrankten Gewebe wuchert der literarische ‚Schmutz und Schund‘ als ein echter Schmarotzer“.⁷² Parallelen zur Rhetorik des Nationalsozialismus gehen bei Schröder Hand in Hand mit demokratischen Absichtsbeteuerungen. Das mag irritieren, ist aber charakteristisch für die Diskussion. Letztlich zielt der Artikel darauf, die „geistige Freiheit“ durch

 Eduard Schröder, Was ist gegen die Schundliteratur zu tun? In: Die Sammlung. Zeitschrift für Kultur und Erziehung, Jg. 4, 1949, S. 736 – 737, hier S. 736.  Schröder, Was ist gegen die Schundliteratur zu tun? S. 736.  Schröder, Was ist gegen die Schundliteratur zu tun? S. 736.

1.2.1 Masse und Populäres

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erzieherische Maßnahmen zu schützen.⁷³ In einer Zeitschrift wie der Sammlung, 1945 vom Pädagogen Herman Nohl gegründet und vom Lebensphilosophen Otto Friedrich Bollnow mitherausgegeben, ist dieser erzieherische Ansatz naheliegend. Schröder will das Publikum der „billigen Schundhefte“ nicht zum Kauf von ‚hoher‘ Literatur animieren. Dazu fehlen erstens die finanziellen „Mittel“ und zweitens könne der „Hunger“ nach leichter Unterhaltung, auf den es die Leserinnen und Leser der Groschenliteratur abgesehen haben, auf diesem Wege nicht bedient werden.⁷⁴ Sein Vorschlag bringt eine „wirklich volkstümlich[e] Literatur“ ins Gespräch, eine Literatur, die „wirkungsvoller, unbefangener, selbst knalliger“ gestaltet sein soll, „als es im Bereich der braven Volksbildung üblich war und ist“.⁷⁵ Man hat es hier mit dem Versuch der Integration unterhaltungskultureller Elemente in das Volkskulturelle zu tun. Dabei ist es zeittypisch, wie unbefangen mitunter das Volkskulturelle gegen das historisch belastete Völkische in Position gebracht wird. Hinsichtlich der Distribution der ‚wirklich volkstümlichen‘ Texte hat Schröder ebenfalls eine Idee. Die volkskulturell-‚knalligen‘ Hybride – ein Konzept, das meines Wissens nach in der frühen Bundesrepublik keine Beispiele kennt – sollen über das öffentliche Büchereiwesen verbreitet werden, also gleichzeitig Marktprinzipien aufgreifen und am Markt vorbeioperieren.⁷⁶ Dass das nicht funktionieren kann, ist offenkundig.

 Schröder, Was ist gegen die Schundliteratur zu tun? S. 737. Der Artikel entspricht der Tendenz der Debatte nach 1945, wie sie Maase nachzeichnet: „Bekenntnisse zu und Bezüge auf Freiheit und Republik, zunehmend als pluralistische Demokratie definiert, waren erwünscht, teilweise Pflicht. Das gab dem Nachkriegs-Schunddiskurs einen merkwürdigen Übergangscharakter. Fast könnte man in den Quellen die kleine, aber entscheidende Verschiebung übersehen. Weiterhin erschienen die Massen als Problem – ihre fehlende Kultiviertheit, die von der Kulturindustrie ausgebeutet werde. Aber der beklagte Zustand der Menge und ihrer Vergnügungen diente jetzt nicht mehr als Argument für Selbsthilfe gegen Demokratie und Liberalität, er figurierte als Schwäche und Gefährdung der freiheitlichen Ordnung. Vermassung und Schund seien zu bekämpfen, um die liberale Demokratie zu festigen, so hieß es nun“. Maase, Die Kinder der Massenkultur. Kontroversen um Schmutz und Schund seit dem Kaiserreich, S. 326.  Vgl. Schröder, Was ist gegen die Schundliteratur zu tun? S. 737.  Schröder, Was ist gegen die Schundliteratur zu tun? S. 737. Zum Volkstümlichen vgl. Herlinghaus, s.v. Populär / volkstümlich / Popularkultur. S. 833 – 848. Adornos Position zur „Volkskunst“ vor dem Kapitalismus und Faschismus ist erwähnenswert. Im „Résumé über Kulturindustrie“ bezeichnet er sie als „etwas“, das „wie spontan aus den Massen selbst aufsteig[t]“. Ihr wohnte ein „ungebärdig Widerstehende[s]“ inne, aber nur solange „gesellschaftliche Kontrolle nicht total war“. Theodor W. Adorno, Résumé über Kulturindustrie [1963]. In: Adorno: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann, Bd. 10.1, Frankfurt a. M. 2003, S. 337– 345, hier S. 337.  Schröder, Was ist gegen die Schundliteratur zu tun? S. 737.

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Schröders vorgeschlagene Mittelweglösung liegt abseits des Üblichen. Was er hingegen kritisch über die Heftromanserien festhält, trifft aus der Perspektive vieler Intellektueller in ähnlicher Form für weite Teile des Kinos und der populären Musik, für Illustrierte, Comics, das Fernsehen, Werbung, für Unterhaltungskulturelles und die Sphäre des Konsums generell zu. Neben der Masse gelten vor allem der Bereich der Technik und die mit beiden einhergehende Entfremdung des Menschen in der modernen Gesellschaft als Probleme.⁷⁷ Beinahe alle kulturkritischen Texte wenden sich gegen diese drei Übel, die in den Produkten des Konsums zusammenkommen (hohe Verbreitung, technische Reproduktion und Schematisierung, ‚Abstumpfung‘ der Konsumentinnen und Konsumenten). Die Entwicklung der Bundesrepublik zur Mediengesellschaft, die sich einerseits auf der Grundlage der freien Marktwirtschaft und andererseits vor dem Hintergrund des Bildungs- sowie des Unterhaltungsauftrags der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten vollzieht, verkompliziert die Situation und verhärtet das Konkurrenzverhältnis zwischen populärer und ‚hoher‘ Kultur.⁷⁸ Das häufig emphatische Literaturverständnis der 1950er Jahre ist sichtlich davon geprägt. Als Gegenpol zur Trias ‚Masse, Technik und Entfremdung‘ betont man die Autonomie und die ‚Wahrheit‘ sowie die therapeutischen und gemeinschaftsstiftenden Funktionen ‚hoher‘ Literatur. Dies geschieht in verschiedenen Kontexten, etwa im Kulturbetrieb, in den Feuilletons, der Essayistik, der Philosophie sowie in der Germanistik der Zeit. So unterschiedliche Phänomene wie die Jubiläumsfeierlichkeiten im Goethe-Jahr 1949, Martin Heideggers Begeisterung für Dichtung, Friedrich Sieburgs literaturkritische Publizistik oder Hans Egon Holthusens Der unbehauste Mensch (1951), ein viel gelesenes, salbungsvolles Buch über die literarische Moderne, gehören alle in diesen Bereich.⁷⁹

 Axel Schildt hat diese Aspekte anhand zahlreicher Quellen untersucht. Vgl. Schildt, Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und „Zeitgeist“ in der Bundesrepublik der 50er-Jahre, S. 325 – 350.  Vgl. Knut Hickethier, Literatur und Massenmedien. In: Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967, hg. von Ludwig Fischer, München: 1986, (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd. 10) S. 125 – 141. Zum Bildungsund Unterhaltungsauftrag der öffentlich-rechtlichen Anstalten vgl. Brigitte Weingart, Fatales Wort in Gänsefüßchen. ‚Unterhaltung‘ im Mediendiskurs der 50er Jahre. In: Medienkultur der 50er Jahre. Hg. von Irmela Schneider und Peter M. Spangenberg, Opladen 2002, (Diskursgeschichte der Medien nach 1945. Bd. 1) S. 299 – 321. Zur Konkurrenzthese vgl. Thomas Hecken, Das Versagen der Intellektuellen. Eine Verteidigung des Konsums gegen seine deutschen Verächter, Bielefeld 2010, S. 53.  Vgl. Martin Heidegger, Wozu Dichter? [1946]. In: Heidegger, Holzwege. Frankfurt am Main 4 1960, S. 248 – 295. Vgl. Hans Egon Holthusen, Der unbehauste Mensch [1951]. Motive und Probleme der modernen Literatur. Essays, München 31955.

1.2.1 Masse und Populäres

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Andere Beiträger, etwa Adorno oder Karlheinz Deschner, wenden sich gegen bürgerliche Vorstellungen von Kunst. Deschner vollzieht das in der stilistischen Unterscheidung zwischen Kitsch, Konvention und Kunst (1957), indem er unter anderem die Prosa Brochs und Hesses oder die Lyrik Benns und Kellers vergleicht.⁸⁰ Adorno bringt sein Unbehagen gegen erbaulich-bürgerliche Kunst im Diktum über das Gedicht nach Auschwitz auf den Punkt. Zudem stößt ihm der lebensphilosophisch-ontologisch geprägte Tonfall – der Jargon der Eigentlichkeit (1964) – zahlreicher Intellektueller auf; sei es im Kulturbetrieb oder im universitären Zusammenhang. Adornos Kunstverständnis ist dennoch ein emphatisches. Vor allem die klassische Moderne sowie der Autonomiebegriff sind rekurrente Aspekte seiner Texte.⁸¹ Zusammenfassend formuliert: Aus völlig unterschiedlichen Richtungen, aber jeweils mit großem Aufwand ziehen Beiträge nach 1945 Trennlinien zwischen ‚hoher‘ Kunst und Literatur auf der einen Seite und den marktförmig-repetitiven Produkten der Massenkultur sowie pseudokünstlerisch-dilettantischen Erzeugnissen auf der anderen Seite.⁸² Ein Text aus dem Merkur verdeutlicht den Zusammenhang auf eindrückliche Weise. Es handelt sich um Arnold Bergsträssers Artikel „Die Dichtung und der Mensch des technologischen Zeitalters“ aus dem Jahr 1953. Bergsträsser gilt als eine der prägenden Figuren der bundesrepublikanischen Politikwissenschaft. Interessant sind seine Tätigkeiten als Literatur- und Kulturvermittler.Während des Zweiten Weltkriegs bekleidet er eine Professur für deutsche Literatur und Geschichte in Chicago. 1949 ist er Mitveranstalter der mehrwöchigen Goethe Bicentennial Convocation in Aspen (Colorado). Teilnehmer wie Thomas Mann, Albert Schweitzer, Thornton Wilder und José Ortega y Gasset feiern dort die „large-

 Vgl. Karlheinz Deschner, Kitsch, Konvention und Kunst. Eine literarische Streitschrift, München 1957.  Vgl. Theodor W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft [1951]. In: Adorno, Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann, Bd. 10.1, Frankfurt a. M. 1977, S. 11– 30.Vgl. Theodor W. Adorno, Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie [1964]. In: Adorno, Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann, Bd. 6, Frankfurt a. M. 31984, S. 413 – 526. Der Text ist eine sprachkritische Auseinandersetzung mit Heideggers Ontologie und ihren vulgarisierten Ausprägungen im intellektuellen Milieu der frühen Bundesrepublik.  Angesichts dieses Diskursklimas zu konstatieren, die „bildungsbürgerliche Kunstsemantik“ erlebe „ihr unaufgeregtes Ende“, es finde also insgesamt eine „Deemphatisierung“ des Kunstbegriffs statt, ist verwunderlich. Bollenbeck / Kaiser, Einleitung. S. 9 (Hervorhebung von mir, P.P.). Davon kann man nur ausgehen, wenn man die evidenten diskursiven Spannungen zwischen ‚hoher‘ Kunst und ‚niederer‘ Unterhaltung in den 1950er Jahren außer Acht lässt.

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mindedness“ der ‚Goethezeit‘ und konfrontieren diese mit dem zwanzigsten Jahrhundert.⁸³ Goethe und die Weimarer Klassik sind auch in Bergsträssers Artikel aus dem Merkur zentral. Im Januar 1953 schreibt er: „Die Dichtkunst ist ein autonomes Vermögen“, das „ihrem Wesen nach eine Beziehung zur Wahrheit“ hat.⁸⁴ Jedoch könne am modernen Menschen […] eine Neigung beobachtet werden, der technologisch gestalteten Welt auch da zu verfallen, wo es nicht nötig wäre, also eine Neigung zu freiwilligem Aufgeben einer Möglichkeit und eines Vorrechts des Selbstseins, das heißt aber der Freiheit. Diese Neigung deutet hin auf die Gefahr schwerwiegender Verluste an geistigen Fähigkeiten und erklärt sie, wo sie stattfanden. Diese Verluste bedrohen das Vermögen zum Genießen, zur Ausbildung und Ausübung der symbolischen Einbildungskraft, zum Bestehen der Einsamkeit, zur Gestaltung nicht organisierbarer zwischenmenschlicher Verhältnisse und schließlich zur Ehrfurcht vor dem Lebendigen selbst.⁸⁵

Bergsträssers Text ist insofern ungewöhnlich, weil er einen weihevollen, an Lebensphilosophie und Ontologie erinnernden Duktus („Vorrech[t] des Selbstseins“, „Ehrfurcht vor dem Lebendigen“) mit Überlegungen zur Freizeitindustrie verbindet, wie man sie von der Kritischen Theorie kennt: „Heute sind ganze Industrien […] damit beschäftigt, den Gehalt der Muße zu ‚liefern‘.“⁸⁶

 In der Ankündigung der Veranstaltung heißt es: „Goethe exerts a profound influence on our civilizations, and it is this impress on modern thought that the Goethe Bicentennial Foundation plans to bring to bear on the most significant problems of the twentieth century“. Zit. nach Ronald Peacock, The Goethe Bicentennial Convocation and Music Festival, Aspen, Colorado, U.S.A., 1949. In: German Life and Letters. A Quarterly Review, 3.4, 1950, S. 300 – 302, hier S. 301. Zur Goethe Bicentennial Convocation vgl. auch Daniel Carranza / Kai Sina, Goethe, ‚the last universal man‘. Zur amerikanischen Erfindung eines neuen Humanismus nach 1945. In: ‚Humanismus‘ in der Krise. Debatten und Diskurse zwischen Weimarer Republik und geteiltem Deutschland, hrsg. von Matthias Löwe und Gregor Streim, Berlin / Boston, MA 2017, (Klassik und Moderne. Schriftenreihe der Klassik Stiftung Weimar. Bd. 7) S. 253 – 267.  Arnold Bergsträsser, Die Dichtung und der Mensch des technologischen Zeitalters. In: Merkur. Zeitschrift für europäisches Denken, 1, 1953, S. 1– 13, hier S. 9.  Bergsträsser, Die Dichtung und der Mensch des technologischen Zeitalters. S. 9.  „Von dieser technologisch ermöglichten Funktionalisierung des Verhältnisses zwischen Mensch und Muße ist es nur ein Schritt dahin, daß ihr Gehalt vorgeschrieben wird. Der Mensch, der die technologische Daseinsfunktion auch für seine Muße maßgebend werden läßt, drängt sich in die Extraversion, d. h. in die bloße Sozialität. […] Er ist auf der Flucht, und zwar weg von jenem engeren Bereich, aus dem geistig-selbstständiges Tätigsein hervorgeht. […] Wer dergestalt an die Funktionalisierung seines Daseins verfallen ist, ist zu einem Teil dessen geworden, was man Masse nennt.“ Bergsträsser, Die Dichtung und der Mensch des technologischen Zeitalters. S. 8.

1.2.2 Pop in den 1960er Jahren

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Die Dichtung ist im Artikel ein Ausweg aus dem technologisch induzierten Mangelzustand. Deshalb hat sie maximale Relevanz. Dichtung aktiviert, befreit, bildet den Menschen zum „Geistwesen“ heran, lautet die Losung: Die Fruchtbarkeit des Verhältnisses zum dichterischen Kunstwerk, das der moderne Mensch eingehen kann, beruht also letzten Endes auf der Einsicht in seine Bedeutung für die Sammlung der Person, d. h. für die Erfüllung des authentischen Daseinssinnes. Als verantwortlicher Mitträger der Sprache, als tätiger Mitbildner und Pfleger der Gestaltung ihres Reiches vermag er das menschliche Vorrecht auszuüben, ein Geistwesen zu sein. Darüber hinaus kann unsere hoffende Einsicht das dichterische Kunstwerk als eines der Organe verstehen, durch das sich zur gegebenen Zeit der ‚koinos Logos‘, die geistige Gemeinschaft freier Menschen, ins Werk zu setzen vermochte [sic].⁸⁷

Im Gegensatz zur „Entspannung“ der Massenkultur liefere Dichtung die Möglichkeit zur „Sammlung der Person“ und befördere „die Erfüllung“ eines (wie auch immer gearteten) „authentischen Daseinssinnes“.⁸⁸ Wie normativ diese Vorstellung ist, unterstreicht der abschließende, umständlich formulierte Satz über den „‚koinos Logos‘“. Gemeint ist das allgemeine Vernunftgesetz, im Sinne der Stoa eine transhistorische, auf der Ratio beruhende Gesetzmäßigkeit, der Gemeinschaften folgen, die im Einklang mit sich selbst leben – die sich also von der technologischen Entfremdung emanzipieren, kann man mit Bergsträssers Artikel von 1953 ergänzen.

1.2.2 Pop in den 1960er Jahren Um 1968 kommt Bewegung in die skizzierte Konstellation. Der amerikanische Literaturwissenschaftler Leslie Fiedler löst eine richtungsweisende Debatte in der Bundesrepublik aus. Seine in Freiburg vorgetragenen, zunächst in der Zeitschrift Christ und Welt (1968) und danach im amerikanischen Playboy (1969) unter dem Titel „cross the border, close the gap“ gedruckten Überlegungen erklären die Literatur der Moderne à la „Proust-Mann-Joyce“ für überholt.⁸⁹ ‚Heiß‘ sei zeitgenössische Literatur, wenn sie sich in affirmativer Weise den Erzeugnissen populärer Kulturen zuwende, also zum Beispiel Comics, Groschenheften, Zeitschriften, Werbung, vor allem der Musik sowie dem Kino. Dadurch entstehe eine Literatur, die sich vom ästhetischen Status quo der 1950er Jahre, von Introspektion, Logos

 Bergsträsser, Die Dichtung und der Mensch des technologischen Zeitalters. S. 8.  Bergsträsser, Die Dichtung und der Mensch des technologischen Zeitalters. S. 8.  Leslie Fiedler, cross the border, close the gap. In: Playboy, 12, 1969, S. 151, 230, 252– 254, 256 – 258, hier S. 230.

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1 Einleitung

und Prätention, abwende („the greatest distance from inwardness, analysis and pretension“).⁹⁰ Die Schriftsteller Kurt Vonnegut (The Sirens of Titan, 1959) und John Barth (The Sot-Weed Factor, 1960) werden neben anderen amerikanischen Autoren als Vertreter des neuen Stils erwähnt.⁹¹ Mit ihnen habe das Zeitalter der postmodernen Literatur bereits begonnen. Fiedlers Text ist spürbar von der Aufbruchsstimmung der späten 1960er Jahre geprägt. Die literarische Hinwendung zum Populären soll, so der Ansatz, nicht nur die Grenze zwischen high und low culture, sondern gleich den Unterschied zwischen gesellschaftlichen Klassen insgesamt aufheben. Das wird in dieser radikalen Form nicht eintreten. Dennoch passiert etwas. Man hat es, pointiert ausgedrückt, mit einer positiven Umwertung und Aneignung populärkultureller Erzeugnisse innerhalb der Literatur zu tun. In der massekritischen Bundesrepublik macht diese Idee unter dem Namen ‚Pop-Literatur‘ eine eigene Karriere. Rolf Dieter Brinkmann, einer der ersten deutschen Pop-Autoren, verwendet Fiedlers Überlegungen als Vorlage, um mit den Autorinnen und Autoren der Nachkriegszeit kategorisch zu brechen („Ich hasse alte Dichter“).⁹² Martin Walser, Jürgen Becker, Hans Egon Holthusen und andere Beiträger der Literaturdebatte stehen Fiedlers Gedanken reserviert bis ablehnend gegenüber.⁹³ Laut Brinkmann mache Fiedlers Vortrag deutlich, „wie sehr Literatur der Aktualität bedarf, will sie sich nicht selber aufgeben“.⁹⁴ Da die deutsche Literatur solch ein Aktualitätsdefizit aufweise, sei für sie „der Ofen so ziemlich aus“. Allein aus Gründen des Selbstschutzes würden Fiedlers Kritiker ignorieren, dass das „europäischabendländische Kulturmonopol“ längst „gebrochen“ sei – und zwar durch populärkulturelle Phänomene aus den USA.⁹⁵ An einem prägnanten Beispiel wird dieser Gedanke in „Der Film in Worten“ veranschaulicht. Der Text ist ein begleitender Essay der von Brinkmann und RalfRainer Rygulla herausgegebenen Anthologie ACID (1969), ein Schlüsseldokument der frühen deutschen Pop-Literatur, in dem Beiträge der Neuen amerikanischen

 Fiedler, cross the border, close the gap. S. 253.  Autorinnen spielen in Fiedlers maskulinem Szenario kaum eine Rolle. Hingewiesen sei auf Mary Beach (The Electric Banana, 1969), die eine der wenigen Ausnahmen der Zeit bildet, von Fiedler aber nicht erwähnt wird.  Vgl. die Replik auf Fiedler: Rolf Dieter Brinkmann, Angriff aufs Monopol. Ich hasse alte Dichter [1968]. In: Roman oder Leben. Postmoderne in der deutschen Literatur, hg. von Uwe Wittstock, Leipzig 1994, S. 65 – 77, hier S. 65.  Uwe Wittstock hat die Gegenpositionen von Autoren wie Walser und Becker sowie Literaturkritiker wie Reinhard Baumgart zusammengetragen. Vgl. Uwe Wittstock (Hg.), Roman oder Leben. Postmoderne in der deutschen Literatur, Leipzig 1994, S. 40 – 64.  Brinkmann, Angriff aufs Monopol. Ich hasse alte Dichter. S. 77.  Brinkmann, Angriff aufs Monopol. Ich hasse alte Dichter. S. 65 und 70.

1.2.2 Pop in den 1960er Jahren

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Szene in Übersetzung veröffentlicht werden.⁹⁶ Wie in seiner Fiedler-Replik bemängelt Brinkmann auch in „Der Film in Worten“ die Absenz relevanter Bezüge zur Gegenwart innerhalb der deutschen Literatur.⁹⁷ Vor allem in Texten der 1950er Jahre finde man „nicht einmal Verweise auf aktuelle Gegenstände“, „die genormtes Verhalten löchrig“ machen, wie „die Stirnlocke Bill Haleys, das wunderbare, wirre, aufregend schöne Geschrei Little Richards, Buddy Hollies [sic] Balladen oder den Rock Elvis Presleys“.⁹⁸ Brinkmanns Rock’n’Roll-Beispiele rufen Generationenkonflikte auf, kreischende Teenager, Saalschlachten bei HaleyKonzerten und randalierende Halbstarke in Städten wie Berlin, Hamburg und Essen (1958) sowie ganz generell eine Musik, die vom älteren Teil der nachkriegsdeutschen Gesellschaft als Bedrohung der öffentlichen Ordnung angesehen wird.⁹⁹ All das ist innerhalb der deutschen Literatur der gleichen Zeit tatsächlich nur marginal präsent (eine Ausnahme bildet Anderschs Hörspiel über James Dean). Die Nachkriegstexte machen also einen Bogen um die musikalische Geburtsstunde von Pop, als die der Rock’n’Roll in der Regel verstanden wird.¹⁰⁰ Pop erreicht die Literatur der Bundesrepublik mit einiger Verspätung. Erstmalig ist im Jahr 1964 im Tagebuch des österreichischen Dichters H. C. Artmann von einer deutschen „Pop-literatur“ [sic] die Rede.¹⁰¹ Neben Artmann

 Teil der Anthologie sind unter anderem Fiedler, William S. Burroughs, Charles Bukowski und Mary Beach, aber auch Andy Warhol, Marshall McLuhan und Frank Zappa. Vgl. Rolf Dieter Brinkmann / Ralf-Rainer Rygulla (Hg.), ACID. Neue amerikanische Szene, Frankfurt a. M. 1969.  Eckhard Schumacher hat Rekurse auf Gegenwärtiges als Spezifikum pop-literarischer Texte von Rainald Goetz, Andreas Neumeister, Hubert Fichte und anderen reflektiert und daraus Verfahrensweisen abgeleitet. Vgl. Eckhard Schumacher, Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart, Frankfurt a. M. 2003 (edition suhrkamp. Bd. 2282).  Rolf Dieter Brinkmann, Der Film in Worten. In: ACID. Neue amerikanische Szene, hg. von dems. und Ralf-Rainer Rygulla, Frankfurt a. M. 1969, S. 381– 399, hier S. 386.  Zu den Ausschreitungen während der Deutschlandtournee Bill Haleys im Jahr 1958 vgl. Bodo Mrozek, Jugend – Pop – Kultur. Eine transnationale Geschichte, Berlin 2019, (suhrkamp taschenbuch wissenschaft, Bd. 2237) S. 175 – 178, 265 – 273; sowie Thomas Grotum, Die Bill-HaleyTournee 1958. ,Rock’n’Roll Panic‘ in der Bundesrepublik Deutschland. In: Popgeschichte. Bd. 2: Zeithistorische Fallstudien 1958 – 1988, hg. von Jürgen Dayel, Alexa Geisthövel und Bodo Mrozek, Bielefeld 2014, S. 19 – 38.  Zum Rock’n’Roll als dem ersten musikalischen Pop-Phänomen vgl. etwa Moritz Baßler, Leitkultur Pop? Populäre Kultur als Kultur der Rückkopplung. In: Kulturpolitische Mitteilungen, 148/1, 2015, S. 34– 39, hier S. 35.  Artmann schreibt: „Pop-literatur ist heute einer der wege [wenn auch nicht der einzige], der gegenwärtigen literaturmisere zu entlaufen. Anzeichen sind bereits überall zu merken…“ H. C. Artmann, Das suchen nach dem gestrigen tag oder schnee auf einem heißen brotwecken. ein-

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1 Einleitung

(Allerleirausch) und Brinkmann („Godzilla“, „Flickermaschine“, Keiner weiß mehr) rechnet man etwa Hubert Fichte (Die Palette), Peter O. Chotjewitz (Die Insel), Hadayat-Ullah Hübsch (ausgeflippt), Jürgen Ploog (Cola-Hinterland; Die Fickmaschine) und Jörg Fauser (Tophane) sowie zum Teil Peter Handke („Die japanische Hitparade vom 25. Mai 1968“) und Elfriede Jelinek (wir sind lockvögel, baby) der frühen Pop-Strömung zu.¹⁰² Dabei handelt es sich um ein Feld, das noch ausgehandelt wird. In den größeren Literaturgeschichten taucht die Pop-Phase der 1960er und frühen 1970er Jahre oft gar nicht oder nur am Rande auf. Die Autorinnen und Autoren werden anderen Begriffen wie „Alltagslyrik“¹⁰³ und Dieter Wellershoffs Idee des „Neue[n] Realismus“¹⁰⁴ zugeordnet oder in den Kapiteln über die bekanntere Pop-Literatur der 1990er Jahre als Vorläuferinnen und Vorläufer kurz erwähnt. Ein Grund für die vorsichtige literaturhistoriographische Behandlung dürfte sein, dass der Begriff ‚Pop‘ um 1968 zwar punktuell in den Feuilletons und in programmatischen Texten präsent ist,¹⁰⁵ dann jedoch rasch

tragungen eines bizarren liebhabers [1964]. In: Pop seit 1964. Hg. von Kerstin Gleba und Eckhard Schumacher, Köln 2007, S. 25 – 26, hier S. 26.  Vgl. Eckhard Schumacher / Kerstin Gleba, Einleitung. In: Pop seit 1964. Hg. von Eckhard Schumacher und Kerstin Gleba, Köln 2007, S. 17– 24. In diese Anthologie wurden die meisten der genannten Autorinnen und Autoren aufgenommen. Vgl. auch Thomas Ernst, Popliteratur. Hamburg 2005, (eva wissen) S. 32– 43; sowie Heinrich-Heine-Institut (Hg.), Popliteraturgeschichte(n). Texte, Schriften, Bilder, Laut! Dichtung, Düsseldorf 22007. Zu den genannten Texten vgl. H. C. Artmann, Allerleirausch. Neue schöne Kinderreime [1965], München 1997. Vgl. Rolf Dieter Brinkmann, Godzilla [1968]. In: Brinkmann, Standphotos. Gedichte 1962– 1970, Reinbek bei Hamburg 22012, S. 161– 182. Vgl. Rolf Dieter Brinkmann, Flickermaschine. In: Supergarde. Hg. von Vagelis Tsakiridis, Düsseldorf 1969, S. 31– 42. Vgl. Rolf Dieter Brinkmann, Keiner weiß mehr. Roman [1968], Reinbek bei Hamburg 22013. Vgl. Elfriede Jelinek, wir sind lockvögel baby! roman [1970]. Reinbek bei Hamburg 1980.Vgl. Peter Handke, Die japanische Hitparade vom 25. Mai 1968: In: Handke, Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt. Frankfurt a. M. 1969, S. 78 – 80. Vgl. Hubert Fichte, Die Palette. Roman [1968]. Frankfurt a. M. 2005. Vgl. Peter O. Chotjewitz, Die Insel. Erzählungen aus dem Bärenauge, Reinbek bei Hamburg 1969. Vgl. Hadayat-Ullah PG Hübsch, ausgeflippt. gedichte, München 1971. Vgl. Jürgen Ploog, Die Fickmaschine. Ein Beitrag zur kybernetischen Erotik, Göttingen 1970. Vgl. Jürgen Ploog, Cola-Hinterland. Darmstadt 1969. Vgl. Jörg Fauser, Tophane [1972]. Schönebeck 2011.  Schnell, Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945. S. 314 f. und 580 f.  Beutin, Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, S. 627.  Vgl. dazu Seiler, „Das einfache wahre Abschreiben der Welt“. Pop-Diskurse in der deutschen Literatur nach 1960, S. 174– 195. Vgl. Schäfer, „Neue Mitteilungen aus der Wirklichkeit“. Zum Verhältnis von Pop und Literatur in Deutschland seit 1968, in: Pop-Literatur. Hg. von Heinz Ludwig Arnold, München 2003, (Text + Kritik Sonderband) S. 7– 25.Vgl. Hecken, Pop-Literatur um 1968. S. 41– 54.

1.2.2 Pop in den 1960er Jahren

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wieder verschwindet, um erst Jahrzehnte später breitflächig von der Kritik sowie von literaturwissenschaftlichen Beiträgen aufgegriffen zu werden.¹⁰⁶ Die genannten Texte von Brinkmann, Artmann, Jelinek, Fichte, Handke, Chotjewitz, Hübsch, Ploog und Fauser beziehen sich in bis dahin unbekannter Frequenz auf populäre Zeichen und kommen so dem von Brinkmann betonten Gegenwartsbezug in der Literatur nach. Dabei sind es hauptsächlich die angesprochenen Phänomene anglo-amerikanischer und britischer Herkunft, auf die man emphatisch oder spielerisch rekurriert, zum Beispiel Musik von den Doors, den Beatles und den Rolling Stones oder Comicfiguren wie Batman und Superman. Populärkulturelle Phänomene deutscher und österreichischer Prägung, also etwa Roy Black, Heintje, Peter Alexander, Romy Schneider als Kaiserin Sissi oder das Hör zu!-Maskottchen Mecki werden entweder gar nicht oder lediglich als Negativbeispiele herangezogen. Das ist wiederum in der Literatur der 1950er Jahre ähnlich, doch die Tonalität ändert sich um 1968 völlig: „Schlagt Heintje tot“.¹⁰⁷ Auch die literarischen Bezugspunkte der Texte stammen aus den USA, etwa der Beat Literature um Autoren wie William S. Burroughs und Lawrence Ferlinghetti sowie der New York School mit Vertretern wie Frank O’Hara. Die so entstehenden deutschen Pop-Texte sind dann eines überhaupt nicht: Populär im Sinne von niedrigschwellig zugänglich und gefällig.Vielmehr binden sie populäre Zeichen ein, um diese Zeichen mit Nachdruck zu ent-automatisieren. Verfahrenstechnisch dominieren kohärenzirritierende Montagen (etwa in Form von Cutup), Text-Bild-Kompositionen, Kataloge, auf Komik zielende Nonsenstexte, dissoziative Verschriftlichungen von Drogenerfahrungen, Slangsprachlichkeit und Vulgarismen, found poetry und Kontrafakturen.¹⁰⁸ Verständlicherweise wurde diese Literatur von Beginn an mit den Avantgarden der ersten Jahrhunderthälfte

 Das bedeutet freilich nicht, dass man es bezogen auf die 1960er Jahre mit einem zu vernachlässigenden, historischen Randbegriff zu tun hätte. Mittlerweile lässt sich von einem ‚PopParadigma‘ in der deutschen Literatur sprechen. Vgl. Moritz Baßler, Definitely Maybe. Das PopParadigma in der Literatur. In: POP. Kultur & Kritik, 6, 2015, S. 104– 127. Dieses Paradigma wurde um 1968 konstituiert – auch wenn sich die Texte dieser Zeit und die späteren Pop-Texte der 1990er Jahre in vielen Aspekten unähnlich sind.  Brinkmann, Der Film in Worten. S. 391. Einschlägig ist Brinkmanns Schimpftirade gegen die Bundesrepublik im Roman Keiner weiß mehr (1970): „Deutschland, verrecke. Mit deinen ordentlichen Leuten in Massen sonntags nachmittags auf den Straßen. Deinen Hausfrauen. Deinen Kindern, Säuglingen, sauber und weich eingewickelt in sauberstes Weiß. Mit den langweiligen Büchern, den langweiligen Filmen. Mit Roy Black und Udo Jürgens. Mit Thomas Fritsch. Verrecke mit deinen Wein-Königinnen Jahr für Jahr und mit Thomas Liessem. Verrecke, auf der Stelle, sofort.“ Brinkmann, Keiner weiß mehr. S. 186.  Artmanns Allerleirausch ist eine Kontrafaktur von: Allerleirauh. Viele schöne Kinderreime. Versammelt von Hans Magnus Enzensberger, Frankfurt a. M. 1961.

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1 Einleitung

in Verbindung gebracht.¹⁰⁹ In diegetischer Hinsicht weisen die Texte Präferenzen für Außenseiterfiguren, für Milieus, den ‚Underground‘, für Szenen und Subkulturen auf. In solchen sind die Autorinnen und Autoren zum Teil selbst unterwegs. Wie verhält sich all das zum Konzept ‚Pop‘? Der vielschichtige Begriff kursiert ab Mitte der 1950er Jahre in der Kunstszene Großbritanniens sowie parallel im Musikbetrieb der USA (natürlich unter jeweils anderen Vorzeichen). Elvis’ Hüftschwung im amerikanischen Fernsehen und vor Livepublikum firmiert als „Urknall“ von Pop.¹¹⁰ Im Bereich der Kunst wird unter anderem Richard Hamiltons Collage Just what is it that makes today’s homes so different, so appealing (London 1956) als initiales Artefakt angeführt.¹¹¹ Auf der kleinformatigen Collage (26 x 24,8 cm) sind Werbebotschaften, ein Fernseher, ein Tonbandrekorder, eine nackte Frau sowie ein Bodybuilder zu sehen, der sich einen Dauerlutscher mit der Aufschrift ‚POP‘ (engl. ‚knallen‘, ‚aufplatzen‘) vor seinen Schritt hält. Ausgehend von Hamilton und der Londoner Independent Group (Lawrence Alloway, Peter Smithson et al.) spricht man bald von Pop Art, die USamerikanische Vertreter wie Roy Lichtenstein, Robert Rauschenberg und Andy Warhol weltberühmt macht. In diesem Zusammenhang entwickelt sich ‚Pop‘ in den 1960er Jahren zu einem Modebegriff, der Aktualität sowie bunte, spektakuläre Gestaltungen verspricht. Der Bruch mit gesellschaftlichen sowie ästhetischen Konventionen beziehungsweise das Liebäugeln mit solch einem Bruch ist darin eingelassen. Dem deutschen Nachkriegsschimpfbegriff ‚Massenkultur‘ tritt mit

 Brinkmann erwähnt die Überbetonung dieser Parallele 1969 in „Der Film in Worten“. Anstatt sich direkt an den europäischen Avantgarden zu orientieren, seien die deutschen Pop-Autorinnen und -Autoren von amerikanischen Rezeptionen und Ausformungen (z. B. Burroughs) der europäischen Avantgarden geleitet. Genau diese präsentiert Brinkmann in der Anthologie ACID: „Doch wenn gesagt wird, daß europäische Spielarten der Literatur wie Surrealismus, Expressionismus, Dada etc. aufgegriffen wurden, so heißt das, daß sie zu etwas spezifisch Amerikanischem gemacht worden sind, sie wurden nicht nur aufgenommen, sondern auch verändert, dem neuen Material angepaßt.“ Brinkmann, Der Film in Worten. S. 387, vgl. auch S. 399. Damit grenzt sich Brinkmann von neo-avantgardistischen Tendenzen der Bundesrepublik ab, etwa von Helmut Heißenbüttel, der als Kritiker von Fiedlers Ideen in Erscheinung tritt. Vgl. Helmut Heißenbüttel, Tote Aura [1968]. In: Roman oder Leben. Postmoderne in der deutschen Literatur, hg. von Uwe Wittstock, Leipzig 1994, S. 43 – 46. Zu den Avantgarde-Beobachtungen der Forschung vgl. Baßler, Definitely Maybe. Das Pop-Paradigma in der Literatur. S. 120 – 123. Vgl. auch Karl Riha, Prä-Pop / Pop / Post-Pop. In: Abfälle. Stoff und Materialpräsentationen in der deutschen Pop-Literatur der 60er Jahre, hg. von Dirck Linck und Gert Mattenklott, Hannover-Laatzen 2006, S. 17– 30.  Baßler, Leitkultur Pop? Populäre Kultur als Kultur der Rückkopplung. S. 35.  Vgl. zur Entstehung von Pop aus der Pop Art: Thomas Hecken, Pop. Geschichte eines Konzepts 1955 – 2009, Bielefeld 2009, (Kultur- und Medientheorie) S. 51– 92.

1.2.2 Pop in den 1960er Jahren

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‚Pop‘ folglich eine internationale Alternative gegenüber, die ganz andere Evaluationen des Populären erlaubt.¹¹² Pop wird allgemeinsprachlich als Synonym des Populären, als Abbreviatur der popular culture gebraucht, mit der Pop den Wortstamm teilt. Verwendet man den Begriff im wissenschaftlichen Kontext, muss man die beiden Phänomene unterscheiden. Das Verhältnis von Pop und Populärkultur ist doppelseitig beschaffen. Pop greift die Mechanismen der Populärkultur auf, grenzt sich aber zugleich markiert von ihr ab. Oder: Mit Pop wird das Populäre reflexiv, entwickelt es ein „Selbstbewusstsein“.¹¹³ Darin liegen, kompakt formuliert, alle Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Phänomenen begründet. Der Terminus bezeichnet also eine Ausdifferenzierung, einen historisch lokalisierbaren Strukturwandel in der populären Kultur (sowie in verschiedenen Künsten wie der Malerei und der Literatur). Dass eine die unterschiedlichen Facetten des Begriffs erfassende Definition dennoch schwierig ist, zeigt sich bis heute anhand der unterschiedlichen Auffassungen darüber, was Pop kennzeichnet.¹¹⁴ Systematisch wird der Begriff, wenn man ihn als ästhetischen Modus auffasst. Er setzt sich aus einem Bündel an Merkmalen zusammen: Zitathaftigkeit, Künstlichkeit, Klischees, Rollenspiel, Sinnlichkeit und Körperlichkeit, technische Reproduzierbarkeit, die Faszination für Oberflächen, die Absage an tradierte Metanarrationen und Sinnentwürfe sowie (damit verbunden) die Provokation ästhetischer sowie gesellschaftlich-ethischer Normen treffen sich im Pop-Modus.

 Ähnliches gilt selbstverständlich auch für Sontags Konzeptualisierung des Begriffs ‚Camp‘ (1964), der allerdings erst später in der Bundesrepublik wahrgenommen wird und mit dem Radius der Großkategorie Pop nicht zu vergleichen ist. Zum Verhältnis von Pop Art, die sich im Jahr 1964 auf ihrem Zenit befindet, und Camp hält Sontag fest: „An dieser Stelle könnte man Camp mit einem Großteil der Pop Art vergleichen, die – wenn sie nicht einfach Camp ist – eine Haltung zum Ausdruck bringt, die verwandt, aber dennoch ganz anders ist. Pop Art ist fader und trockener, ernster und gleichgültiger, letztlich nihilistisch“. Susan Sontag, Anmerkungen zu ‚Camp‘ [1964]. In: Sontag, Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen, Frankfurt a. M. 1989, S. 322– 341, hier S. 340.Vgl. auch den englischen Originaltext: Susan Sontag, Notes on ‚Camp‘. In: Partisan Review, 4, 1964, S. 515 – 530.  Vgl. Frank Kelleter, Populäre Serialität. Eine Einführung. In: Populäre Serialität: Narration – Evolution – Distinktion. Zum seriellen Erzählen seit dem 19. Jahrhundert, hg. von Frank Kelleter, Bielefeld 2012, S. 11– 46, hier S. 16.  Thomas Hecken argumentiert dafür, Pop „nicht als fest konturiertes materielles Ding“ (warum auch?), sondern „als Hervorbringung unterschiedlicher weltanschaulicher und ästhetischer Reden und Interessen“ zu begreifen. Hecken, Pop. Geschichte eines Konzepts 1955 – 2009, S. 14.

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1 Einleitung

Um das Pop-Feld abzustecken, muss noch ein soziales Phänomen erwähnt werden – die Fankulturen, auf deren Resonanz Pop angewiesen ist.¹¹⁵ Eine marktorientierte Jugendkultur wie die Rock’n’Roll-hörenden Halbstarken ist so eine Fankultur,¹¹⁶ eine „Stilgemeinschaf[t]“¹¹⁷ im Zeichen von Pop. Gemeinschaften populärkulturell Gleichgesinnter bilden sich auf der Grundlage kultureller Artefakte, die prinzipiell allen zur Verfügung stehen, da sie käuflich sind, also etwa Musik auf Schallplatten, Blue Jeans, Mopeds und Pomade, um sich die Haare nach der Art Bill Haleys oder James Deans zu frisieren. Nur eignet sich eine Gruppe diese Artefakte als Insignien im Sinne eines spezifischen Codes an,¹¹⁸ der auch habituelle und slangsprachliche Besonderheiten umfasst und dadurch eine (mehr oder weniger exklusive) Gemeinschaft konstituiert. Auf diese Weise grenzen sich die Halbstarken – ein pejorativer Begriff, der in der Presse der 1950er Jahre die Runde macht, aber deutlich älter ist –¹¹⁹ etwa von der breiteren Teenagerkultur ab, die ebenfalls Rock’n’Roll hört, jedoch den Code der Halbstarken nicht in allen Punkten teilt.¹²⁰ Es ist offenkundig, dass die Grenzen zwischen

 Vgl. Dean MacCannell, Sights and Spectacles. In: Iconicity. Essays on the Nature of Culture. Festschrift für Thomas A. Sebeok, hg. von Paul Bouissac und Michael Herzfeld, Tübingen 1986, S. 421– 435.  Bodo Mrozek, Halbstark! Aus der Urgeschichte der Popkultur. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 7, 2008, S. 630 – 635.  Jochen Venus schreibt von „Stilgemeinschaften normalisierten Spektakels“ und bettet dies in ein populärkulturelles Merkmal ein, welches er „spektakulär[e] Selbstreferenz“ nennt. Damit ist die Serialisierungstendenz populärer Phänomene bezeichnet, also etwa die Verbreitung dieser Phänomene innerhalb einer und durch eine Stilgemeinschaft. Jochen Venus, Die Erfahrung des Populären. Perspektiven einer kritischen Phänomenologie. In: Performativität und Medialität populärer Kulturen. Theorien, Ästhetiken, Praktiken, hg. von Marcus S. Kleiner und Thomas Wilke, Wiesbaden 2013, S. 49 – 73, hier S. 67.  Diedrich Diederichsen hat das folgendermaßen ausgedrückt: „Pop tritt nur als Geheimcode auf, der aber gleichzeitig allen zugänglich ist.“ Diedrich Diederichsen, Pop – deskriptiv, normativ, emphatisch [1996]. In: Texte zur Theorie des Pop. Hg. von Charis Goer und Christoph Jacke, Stuttgart 2013, S. 182– 195, hier S. 192.  Vgl. Mrozek, Halbstark! Aus der Urgeschichte der Popkultur. S. 630 – 635.  Vgl. dazu Diederichsens Unterscheidung von Populärkultur und Pop: „Das, was alle angeht, nimmt kulturell die Gestalt des Populären an. Das wäre eine erste inhaltliche Bestimmung. PopMusik ist die Aufkündigung einer solchen Gemeinschaft aller mit den Mitteln, mit denen sich Gemeinschaften sonst symbolisch herstellen: Klänge, Abzeichen, Auftrittsformen, Verhaltensregeln. Im Gegensatz zu einer Elite und ihrer sich abgrenzenden Hochkultur, trennt sich die PopMusik von der populären Kultur auf deren Terrain und mit deren Mitteln. Ihre Sezession teilt sie den anderen mit, die sie nun wahlweise als zu alt, als faschistisch, zu deutsch, aber auch als zu schwach, zu weich und als inkonsequent adressiert. Pop-Musik führt die Möglichkeit der Nonkonformität in eine Kultur ein, deren Grundlage und deren Darstellungsmittel auf Konformität und Zustimmung angelegt sind“. Diedrich Diederichsen, Über Pop-Musik. Köln 22014, S. XII.

1.2.2 Pop in den 1960er Jahren

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diesen Bereichen durchlässig sind, also eine strikte Trennung zwischen Halbstarken und Teenagern nur eingeschränkt möglich ist, man es vielmehr mit diversen Überschneidungen zu tun hat. Dennoch lässt sich anhand des Beispiels festhalten: Pop impliziert Distinktionsbildung durch Geschmacksentscheidungen, die als Marktentscheidungen im Feld der Populärkultur getroffen werden. Vor allem in der deutschsprachigen Forschung existiert eine rege Beschäftigung mit der Geschichte von Pop. Jüngere Beiträge verschiedener Disziplinen rekonstruieren das Konzept seit seinen Anfängen in den 1950er Jahren mit zum Teil großer Emphase. Dadurch ist wohl dafür gesorgt, dass man die Zeit nach 2000 innerhalb der Pop-Forschung als Historisierungsphase in Erinnerung behalten wird.¹²¹ Die hier vorliegende Untersuchung beteiligt sich an der Diskussion, indem sie die Literatur der 1950er Jahre als Literatur vor Pop in den Blick nimmt. Solch eine Perspektivierung fehlt, um angemessen nachvollziehen zu können, wie der literarische Umgang mit dem Populären beschaffen war, bevor das PopKonzept die Parameter der Bezugnahmen verändert hat. In diesem Zusammenhang fällt ein literaturwissenschaftlicher Beitrag von Maren Lickhardt auf, der anders als andere Beiträge datiert. Ihre Monografie untersucht Pop in den 20er Jahren (2018).¹²² Lickhardt diskutiert Texte der 1920er und frühen 1930er Jahre sowie ihre Produktions- und Rezeptionsbedingungen vor dem Hintergrund verschiedener Merkmale der Pop-Literatur, wie Verfahren der Listenbildung, Figurationen der Oberfläche, identitätskonstitutive Referenzen auf Musik, Kino und Lifestyle sowie dandyhafte Autorinnen- und Autoreninszenierungen,¹²³ die sich mit den Personae späterer Pop-Schriftstellerinnen und ‚Nonkonformität‘ ist hier ein sehr dehnbarer Begriff. Die beschriebene Konstellation kann widerständig auftretende Gruppenphänomene wie die Halbstarken umfassen, muss sich aber nicht notwendig in so einer gesellschaftlich brisanten Form äußern, wie die letzten Pop-Jahrzehnte gezeigt haben. Vgl. Diedrich Diederichsen, Pop – deskriptiv, normativ, emphatisch. S. 182– 195.  Vgl. vor allem Bodo Mrozeks umfangreiche kulturgeschichtliche Studie, die Pop von 1956 bis 1966 anhand von Quellen aus unterschiedlichen Ländern untersucht: Bodo Mrozek, Jugend – Pop – Kultur. Eine transnationale Geschichte, Berlin 2019 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) sowie Diederichsen, Über Pop-Musik und Hecken, Pop. Geschichte eines Konzepts 1955 – 2009. Vgl. ebenso die Sammelbände von Alexa Geisthövel / Bodo Mrozek (Hg.), Popgeschichte. Bd. 1: Konzepte und Methoden, Bielefeld: 2014; sowie Jürgen Dayel / Alexa Geisthövel / Bodo Mrozek (Hg.), Popgeschichte. Bd. 2: Zeithistorische Fallstudien 1958 – 1988, Bielefeld 2014 sowie Gerhard Kaiser / Christoph Jürgensen / Antonius Weixler (Hg.),Younger Than Yesterday. 1967 als Schaltjahr des Pop, Berlin 2017.  Vgl. Maren Lickhardt, Pop in den 20er Jahren. Leben, Schreiben, Lesen zwischen Fakt und Fiktion, Heidelberg 2018.  Vgl. zu diesen Aspekten etwa Moritz Baßler, Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten, München 22005.Vgl. Till Huber, Ausweitung der Kunstzone. Ingo Niermanns und Christian Krachts ,Docu-Fiction‘. In: Depressive Dandys. Spielformen der Dekadenz in der Pop-Moderne,

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1 Einleitung

-Schriftsteller zusammenbringen lassen (man denke an Christian Kracht oder Sybille Berg). Das Material ist reichhaltig, Ruth Landshoff-Yorck, die Fitzgeralds, Klaus und Erika Mann, Mascha Kaléko, Vicki Baum und Irmgard Keun werden unter anderem der frühen Form von Pop zugerechnet. Sicher, angesichts des Interesses, das diese Literatur für die populären Kulturen ihrer Zeit aufbringt, liegt es nahe, eine Brücke von den urbanen und mondänen, den ‚Goldenen 1920er Jahren‘ zum Pop-Dispositiv zu schlagen und das Verhältnis der beiden einmal durchzuspielen. Lickhardts Untersuchung wartet mit folgendem Clou auf: Die Autorinnen und Autoren – das zeigt sie überzeugend – konstituieren ihre Texte und öffentlichen Images primär über die populären Zeichen, sie betreiben geschmacksbasierte Distinktion im literarischen Feld mit den und nicht gegen die populären Kulturen ihrer Zeit.¹²⁴ Pop avant la lettre mag es bereits in den 1920er Jahren gegeben haben. Historisch unproblematischer ist es jedoch, sich an die Begriffsverortung von Pop ab den 1950er Jahren zu halten, so wie es hier geschieht. Für die Zeit von der nationalsozialistischen Machtergreifung im Jahr 1933 bis zu den 1960er Jahren bestimmt Lickhardts Studie abschließend eine Phase, die sie als „Anti-Pop“ bezeichnet. Das ist keine Überraschung. Mit Pop haben die Literatur des Nationalsozialismus sowie die Literatur der Nachkriegszeit keine beziehungsweise nur minimale Überschneidungspunkte. Schon Brinkmann wusste das. Im Falle der Nachkriegszeit liege das womöglich auch, schreibt Lickhardt knapp, „an einer bestimmten BRD-Atmosphäre“.¹²⁵ Die kulturellen und literarischen Spezifika der Bundesrepublik, die damit nur angedeutet werden, stehen im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen.

1.3 Gegenständliches: Heinrich Böll, Gottfried Benn, Alfred Andersch et al. Der Fokus auf Texte von drei exemplarischen Autoren der Nachkriegsliteratur, der diese Untersuchung leitet, hat literaturgeschichtliche sowie systematisch-analytische Gründe. Heinrich Böll, Gottfried Benn und Alfred Andersch treten mit ihren

hg. von Alexandra Tacke und Björn Weyand, Köln / Weimar / Wien 2009, S. 218 – 233.Vgl. Matthias Schaffrick, Listen als populäre Paradigmen. Zur Unterscheidung von Pop und Populärkultur, in: KulturPoetik, 16/1, 2016, S. 109 – 125.  Vgl. Lickhardt, Pop in den 20er Jahren. Leben, Schreiben, Lesen zwischen Fakt und Fiktion, z. B. S. 10 f., 27 f.  Lickhardt, Pop in den 20er Jahren. Leben, Schreiben, Lesen zwischen Fakt und Fiktion, S. 237.

1.3 Gegenständliches: Heinrich Böll, Gottfried Benn, Alfred Andersch et al.

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Texten einerseits für den literarischen Neuanfang der Bundesrepublik ein und stellen andererseits Kontinuitäten zu den Phasen vor und während des Krieges her. Sie rücken damit konträre literaturprogrammatische Entwürfe nach 1945 in den Blick. Zudem decken sie verschiedene Genera ab und erlauben es der Untersuchung, ihre Überlegungen anhand von drei Gattungen zu entfalten (Prosa, Lyrik, Hörspiel). Dabei wird jedes der größeren Analysekapitel von zwei Verfahrensbegriffen geleitet, welche jeweils andere Formen der Bedeutungsbildung im Text bezeichnen. Die Texte von Böll, Benn und Andersch bieten sich folglich für nähere Analysen an, da sie in prägnanter Weise bestimmte verfahrensmäßige Kunstgriffe gebrauchen. Diese Kunstgriffe weisen wiederum über die drei im Fokus stehenden Autoren hinaus, es sind Merkmale, die literarische Texte der 1950er Jahre in breiter Form kennzeichnen. Böll, Benn und Andersch stehen ferner im Zentrum, da ihre Texte konkrete Bezugnahmen auf populäre Realien vornehmen. Zahlreiche Autorinnen und Autoren der 1950er Jahre tendieren dazu, realexistierende Markennamen, Filme, Zeitschriften, Unterhaltungsmusik und ähnliches zu umgehen. Das heißt, sie vermeiden die Nennung von Realien aus der Sphäre des Populären schlichtweg oder fingieren Marken, Filme, Illustrierte etc. Daraus resultieren seltsam gegenwartsenthobene Texte, die sich trotz zum Teil datumsgenauer, zeitlicher Verortung in Sphären des existenziellen Allgemeinen entziehen.¹²⁶ Aufgrund des kulturpoetischen Ansatzes richtet sich die Aufmerksamkeit auf Gegenstände, die mit Hilfe von Rekursen sowie mit zitathaften Verfahren realexistierendes, populäres Zeichenmaterial inkludieren und semiotisch produktiv machen. Das heißt jedoch nicht, dass das Operieren im Allgemeinen keine Rolle spielt. Vielmehr ist zu diskutieren, wie und weshalb Böll, Benn und Andersch ausgehend vom konkreten Bezug auf das Populäre ebenfalls den Weg ins Allgemein-Abstrakte wählen. Obwohl Böll, Benn und Andersch in den Literaturgeschichten Konstanten der frühen bundesrepublikanischen Literatur bilden, existieren im textanalytischen Bereich zahlreiche Forschungslücken. Das betrifft kanonisierte Textbeispiele genauso wie nur rudimentär oder bislang gar nicht diskutierte Texte, die hier jeweils von Relevanz sind. Ein zusätzlicher Faktor sind die verwendeten Forschungs-

 Björn Weyand hat anhand der Prosa Bölls und Koeppens eine ähnliche Unterscheidung getroffen. Böll fungiert in seinem Beitrag als Beispiel für die Vermeidung von realexistierenden Markennamen, Koeppen als Beispiel für die Inkludierung von Marken. Vgl. Björn Weyand, Jetztzeitarchivalik. Markenwaren als zeitgeschichtliche Archivalien in Heinrich Bölls Das Brot der frühen Jahre (1955) und Wolfgang Koeppens Tauben im Gras (1951). In: Keiner kommt davon. Zeitgeschichte in der Literatur nach 1945, hg. von Erhard Schütz und Wolfgang Hardtwig, Göttingen 2008, S. 74– 86.

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1 Einleitung

methoden. Neuere, einschlägige Studien zu Benn, Böll und Andersch wählen autorschafts- und feldtheoretische Ansätze.¹²⁷ Damit wird die Frage nach der dynamischen, relationalen und prozessualen Verfasstheit der Texte ein Stück weit aus dem Blick gerückt. Es ist also an der Zeit, die Gemachtheit der Texte mit detaillierten Verfahrensanalysen zu eruieren. Die Untersuchung folgt einem chronologischen Vorgehen: Kapitel 2 untersucht Heinrich Bölls trümmerliterarische Prosa aus dem Jahr 1949, die seinen Weg zu einem der meistgelesenen Autoren des Nachkriegs vorbereitet. Romane wie Und sagte kein einziges Wort (1953), Haus ohne Hüter (1954) oder Billard um halb zehn (1959) festigen Bölls Status als moralische Instanz, als sogenanntes „Gewissen der Nation“.¹²⁸ Dass bereits seine frühen, moralisierenden Kurzgeschichten und Erzählungen wie „Wanderer, kommst Du nach Spa…“, „Grün ist die Heide“ und Der Zug war pünktlich ¹²⁹ Anteil an diesem Image haben, ergibt sich aus den Analysen des zweiten Kapitels. In Bölls frühen Texten werden populäre Phänomene, vor allem Schlager, eng mit dem Kriegssujet verknüpft. Auf diese Weise schlagen die Texte einen Bogen zum Populären der Kriegsvergangenheit, insbesondere zum Volkskulturellen respektive zum politisch belasteten ‚Völkischen‘. In formaler Hinsicht fallen Verfahren der Auslassung und Andeutung in Bölls Prosa auf, etwa Auslassungspunkte, die zum Teil inflationär Verwendung finden. Ein Beispiel liefert die Erzählung Der Zug war pünktlich, in welcher Kunstzitate aus dem Bereich der klassischen Musik mit Unterhaltungsmusik konfrontiert werden. Der Protagonist Andreas, ein Wehrmachtssoldat, verbringt die letzten Stunden vor seinem Tod mit der polnischen Prostituierten Olina, einer virtuosen Musikerin, die diverse Stücke auf einem Bordellklavier darbietet. Wenn Olina tief in der Nacht Bach „bis an die Grenzen des Menschlichen“ spielt, erfährt Andreas eine Epiphanie: „… vielleicht spielen die Engel … die Engel der Klarheit … sie singen in immer feineren helleren Türmen … Licht, o Gott … dieses Licht …“.¹³⁰ Klassische

 Vgl. etwa Norman Ächtler (Hg.), Alfred Andersch. Engagierte Autorschaft im Literatursystem der Bundesrepublik, Stuttgart / Weimar 2016; sowie Christian Sieg, Die ‚engagierte Literatur‘ und die Religion. Politische Autorschaft im literarischen Feld zwischen 1945 und 1990, Berlin / Boston 2017, S. 47– 213 und Wegmann, Dichtung und Warenzeichen. S. 456 – 462.  Vgl. zu diesem Autorimage Sieg, Die ‚engagierte Literatur‘ und die Religion. Politische Autorschaft im literarischen Feld zwischen 1945 und 1990, S. 99 – 213.  Vgl. Heinrich Böll,Wanderer, kommst Du nach Spa… [1949]. In: Böll,Werke. Kölner Ausgabe, hg. von Hans Joachim Bernhard, Bd. 4, Köln 2003, S. 547– 556; Heinrich Böll, Grün ist die Heide. S. 163 – 170; Heinrich Böll, Der Zug war pünktlich [1949]. In: Böll, Werke. Kölner Ausgabe, hg. von Hans Joachim Bernhard, Bd. 4, Köln 2003, S. 294– 402.  Heinrich Böll, Der Zug war pünktlich [1949]. In: Böll, Werke. Kölner Ausgabe, hg. von Hans Joachim Bernhard, Bd. 4, Köln 2003, S. 294– 402, S. 392 und 394.

1.3 Gegenständliches: Heinrich Böll, Gottfried Benn, Alfred Andersch et al.

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Musik ist hier eine hochemotionale Ausdrucksform, die Tränen beim Protagonisten hervorruft. Das gilt allerdings nicht ausschließlich für Kunstmusik. So kann Olinas Klavierbearbeitung des Schlagers „Ich tanze mit Dir in den Himmel hinein“ Andreas ebenfalls zu Tränen rühren. Doch diese Tränen haben eine andere Qualität, wie zu zeigen ist. Überformt von Bölls nüchternem Nachkriegspathos liest sich die Reaktion auf das Schlagerlied folgendermaßen: Es ist nicht mehr dieser Schlager, den sie spielt, und doch ist es nur dieser Schlager. Wie schön ist dieser Schlager, denkt Andreas. Unheimlich, was sie aus diesem Schlager macht. […] Ich tanze mit dir in den Himmel hinein, in den siebenten Himmel der Liebe! Es ist gar kein Traum, der zu Ende geht mit dem letzten Ton dieser melodischen Paraphrase, es zerreißt nur ein schwaches Gespinst, das über ihn geworfen war, und jetzt erst, am offenen Fenster, in der Kühle des Dämmers spürt er, daß er geweint hat.¹³¹

Davon ausgehend ergeben sich verschiedene Perspektiven auf Bölls Texte. So ist zu fragen, wie über die Verwendungsweisen der Auslassung und Andeutung Bedeutung konstituiert wird und welche Rolle dabei die intermediale Einbindung der populären Lieder spielt? Genauer: Wie verhalten sich im Falle von Der Zug war pünktlich Schlager und Kunstlied zueinander? Zudem diskutiert Kapitel 2 einen seltenen Fall von realexistierenden Markennamen innerhalb der Prosa. Fingierte Marken sind in der Regel die Mittel der Wahl in Bölls Texten.Warum bilden gerade Maggi und Persil in „Grün ist die Heide“ Ausnahmen? Und welche Funktion hat Hermann Löns’ titelgebendes Gedicht für Bölls Kurzgeschichte? Kapitel 3 untersucht die Einbindung von amerikanischen Songs, Zeitschriften, Marken und Kolloquialismen in Benns späten Gedichten der Jahre 1951 bis 1955. Mit vertiefenden Überlegungen zu den ‚harten Unterlagen‘ der Literatur sowie mit einem Zwischenresümee zur Frage nach der Bedeutungs- beziehungsweise Bedeutsamkeitsseite literarischer Texte bietet das Kapitel einen semiologischen sowie verfahrenstheoretischen Angelpunkt der Arbeit (vgl. vor allem Kap. 3.3). Benn gilt als Doyen der Nachkriegslyrik und dient zahlreichen jüngeren Autorinnen und Autoren als Orientierung. Seine Hinwendung zum Populären, zu den Sprachen des Alltags, der Unterhaltung und des Konsums, sorgt allerdings bei einigen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen für Irritation. Von der Forschung wurde Benns späte Phase mit dem Begriff „Parlando“ belegt.¹³² Der Begriff ist

 Böll, Der Zug war pünktlich. S. 374 und 376.  Vgl. etwa Helmut Lethen, Der Sound der Väter. Gottfried Benn und seine Zeit, Berlin 2006, S. 259 – 279.

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1 Einleitung

gewissermaßen zur Signatur der späten Lyrik geworden. Was die Rede vom lyrischen Plauderton aus der Aufmerksamkeit rückt, sind die groß dimensionierten, überhöhenden Vokabeln und Ahnungen transzendierender Zusammenhänge, die zum Teil in den gleichen Texten präsent sind. Der kursorische Blick auf das Gedicht „Hör zu:“ hat dieses Zusammenspiel gestreift. Wie verhalten sich also Parlando und Überhöhung? Kapitel 4 wählt einen anderen Zugang. Während im Falle von Böll und Benn mehrere Prosatexte oder Gedichte diskutiert werden, untersucht das vierte Kapitel Anderschs Hörspiel Der Tod des James Dean aus dem Jahr 1959.¹³³ Die Arbeitsweise liegt in der Verfasstheit des Hörspiels begründet. Anderschs Tod des James Dean ist eine komplexe Montage, die auf Jazzmusik sowie auf Übersetzungen zahlreicher US-amerikanischer Texte zurückgreift, unter anderem auf Allen Ginsbergs „Howl“ (1956) und auf einen Zeitungsbericht von John Dos Passos. Um das Textkonglomerat adäquat zu erfassen, wird verglichen, welche Text- und Musikteile ausgewählt wurden und wie sich die Übersetzungen zu den Vorlagen verhalten. Mit seiner Behandlung der Beat Literature und des jugendkulturellen Revoltierens weist Anderschs Montage vorsichtig in Richtung Zukunft, in Richtung PopPhase der 1960er Jahre – ohne allerdings selbst Pop zu sein (im Gegenteil).¹³⁴ Dafür ist das Hörspiel dem bedeutungsheischenden Ton der 1950er Jahre zu sehr verpflichtet. Bei aller Strenge, mit der die Entwicklungen aus den USA evaluiert werden, ist Anderschs Text jedoch eine gewisse Begeisterung für seinen Gegenstand nicht abzusprechen. Eine Kostprobe aus dem Dos Passos-Teil, dessen Übersetzung Anderschs Kollege Hans Magnus Enzensberger besorgt hat, veranschaulicht dies: James Dean ist tot seit drei Jahren, aber immer noch geistert er, jung und finster, durch die Schlagzeilen. James Dean ist tot, seit drei Jahren, aber wenn sie aus dem dumpfen Dunkel, aus der Stickluft der Vorstadtkinos drängeln, wo ein alter Dean-Film läuft, die Boys in den Lederjacken, in den hohen Stiefeln, die Boys in den hautengen Blue Jeans, die Boys mit den handbreiten Motorradkoppeln um den Leib, so stehen sie heute noch da, einer neben dem andern, vor den Spiegeln in der Herrentoilette, und sie blicken ihr Spiegelbild an und sehen James Dean; die meuternde Frisur, die tiefsitzenden schwimmenden Augen des Ausgestoßenen, den bitteren Ausdruck des Geschlagenen im Gesicht, die Lippen höhnisch verzogen.

 Vgl. Andersch, Der Tod des James Dean. Eine Funkmontage, S. 203 – 235.  Ein weiterer Grund für die Wahl des Hörspiels: Mit ihm wird das Radio zum Gegenstand der Diskussion, ein Leitmedium der Zeit, das zahlreiche Autorinnen und Autoren in der kulturellen Szene etabliert, allen voran Andersch. Im Zusammenhang dieser Arbeit ist das Radio von Interesse, da es als breitflächige Distributionsform die Dichotomie von Hoch- und Massenkultur in Bewegung bringt, welche sich als prägend für den Untersuchungszeitraum erweist.

1.3 Gegenständliches: Heinrich Böll, Gottfried Benn, Alfred Andersch et al.

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Sie ziehen die Taschenkämme, sie wühlen in ihrem Haar und klatschen es hin, einer wie der andere, auf den Millimeter genau, hingerissen tauchen ihre Augen in die Augen im Spiegel, sie verzerren den Mund zu einer Grimasse der Verachtung, jeder Fan ein gottverlassener Narziß, verliebt in sein eigenes Bild, jeder ein kleiner James Dean.¹³⁵

Im Rahmen der Analyse des Hörspiels stellt sich die Frage, wie solche Passagen und insbesondere die von Andersch verfassten Sprecherkommentare der Montage mit dem Schauspieler James Dean und seinen jugendlichen Fans verfahren. Warum kann man in diesem Zusammenhang gleichermaßen von einer De-Mythisierung und einer Re-Mythisierung ausgehen? Des Weiteren fungiert Kapitel 4 als eine Überleitung zum Schlussteil der Arbeit, der neben resümierenden Überlegungen zu Böll, Benn und Andersch dem Verhältnis von Nachkriegsliteratur und Pop-Literatur der 1960er Jahre gewidmet ist. Dass Pop-Autoren wie Brinkmann und Nachkriegsautoren wie Böll oder Andersch in einer antagonistischen Relation stehen, ist kein Geheimnis. Brinkmann selbst hat dies in Texten wie „Angriff auf’s Monopol“ (1968) nachdrücklich betont.¹³⁶ Dass der Antagonismus unmittelbar mit der Frage nach der Zeichenbedeutung literarischer Texte zusammenhängt, wurde bislang nicht bemerkt. Kapitel 5 verknüpft diese Frage sowohl mit Brinkmanns Poetologie als auch mit der Lyrik der Pop-Phase. Gewiss sind Böll, Benn und Andersch nicht die einzigen Autoren, die sich für eine exemplarische Untersuchung des Populären in der Literatur der frühen Bundesrepublik anbieten. Vielmehr hat man es mit einem breiten Gegenstandsbereich zu tun, der unterschiedliche Zugänge und Schwerpunkte zulässt. Texte von anderen Autorinnen und Autoren wie Ingeborg Bachmann, Günter Grass, Ilse Aichinger, Arno Schmidt, Gerd Gaiser, Martin Walser, Heinz von Cramer, Hans Magnus Enzensberger, Peter Rühmkorf, Wolfgang Koeppen oder Hans Scholz lassen ebenfalls eine Beschäftigung mit dem Komplex zu. Da wären Oskar Matzeraths Jazzbegeisterung in Günter Grass’ Blechtrommel (1959),¹³⁷ Ilse Aichingers fingierte Werbeanzeige für ein Jugendferienlager in der magisch-realis-

 Andersch, Der Tod des James Dean. Eine Funkmontage, S. 208 f.  Vgl. Rolf Dieter Brinkmann, Angriff auf’s Monopol. Ich hasse alte Dichter [1968]. In: Roman oder Leben. Postmoderne in der deutschen Literatur, hg. von Uwe Wittstock, Leipzig 1994, S. 65 – 77.  Vgl. Günter Grass, Die Blechtrommel. Roman, Darmstadt / Berlin / Neuwied 1959. Vgl. dazu Andrew Wright Hurley, ‚Always within reach, trumpet gold, interpretation-free, above suspicion‘? Günter Grass, Jazz and Literature. In: Jazz in Word. European (Non‐)Fiction, hg. von Kirsten KrickAigner und Marc-Oliver Schuster, Würzburg 2018, S. 311– 330.

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1 Einleitung

tischen Kurzgeschichte „Das Plakat“ (1953),¹³⁸ Gerd Gaisers und Martin Walsers Auseinandersetzungen mit der Konsumsphäre in den Wirtschaftswunderromanen Schlußball (1958)¹³⁹ und Halbzeit (1960),¹⁴⁰ Heinz von Cramers intermediale Swing-Sonette (1949),¹⁴¹ Hans Magnus Enzensbergers medien- und massekritische Gedichte im Debüt Verteidigung der Wölfe (1957),¹⁴² Peter Rühmkorfs spannungsreiche, an Benn ausgerichtete Behandlung des Alltags im Gedichtband Irdisches Vergnügen in g (1959),¹⁴³ die amerikanischen Songs sowie die durch den Text mäandernde Coca Cola-Flasche in Wolfgang Koeppens Tauben im Gras (1951)¹⁴⁴ oder Hans Scholz’ unprätentiöse, raffinierte Integration populärer Lieder und Marken (vor allem Getränkemarken) im Roman Am grünen Strand der Spree (1955), der die Vorlage für einen der ersten ,Straßenfeger‘ des deutschen Fernsehens bot.¹⁴⁵  Vgl. Ilse Aichinger, Das Plakat [1953]. In: Aichinger, Der Gefesselte. Erzählungen I, hg. von Richard Reichensperger, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1991, S. 39 – 47.  Gerd Gaiser, Schlußball. Aus den schönen Tagen der Stadt Neu-Spuhl, München 1958. Vgl. dazu Ulrike Leuschner, Der Tanz um das Goldene Kalb. Gerd Gaisers Roman ,Schlußball‘ (1958) im Zeichen des Wirtschaftswunders, in: Der Tanz in der Dichtung – Dichter tanzen, hg. von Gabriele Busch-Salmen, Monika Fink und Thomas Nußbaumer, Hildesheim u. a. 2015, (Terpsichore. Tanzhistorische Studien. Bd. 8) S. 277– 291.  Vgl. Martin Walser, Halbzeit. Roman, Frankfurt a. M. 1960.  Vgl. Heinz von Cramer, Swing-Sonette. Berlin / Bielefeld 1949.  Vgl. Hans Magnus Enzensberger, Verteidigung der Wölfe. Frankfurt a. M. 1957. Vgl. zur Masse und zu den Medien bei Enzensberger: Markus Joch, Medien der Flexibilität. Zu Enzensberger. In: Transformationen des literarischen Feldes in der Gegenwart. Sozialstruktur – Medien-Ökonomien – Autorpositionen, hg. von Klaus-Michael Bogdal und Heribert Tommek, Heidelberg 2012, (Diskursivitäten, Literatur, Kultur, Medien) S. 245 – 260; sowie Roman Luckscheiter, Utopie und politischer Lernprozess. Hans Magnus Enzensberger und die Massen. In: Hans Magnus Enzensberger und die Ideengeschichte der Bundesrepublik. Mit einem Essay von Lars Gustafsson, hrsg. von Dirk von Petersdorff, Heidelberg: Winter 2010, (Jenaer germanistische Forschungen. Bd. 30) S. 37– 44.  Vgl. Peter Rühmkorf, Irdisches Vergnügen in g. 50 Gedichte, Hamburg 1959.Vgl. dazu Philipp Pabst, Meridian und Müllabfuhr. Peter Rühmkorf: Irdisches Vergnügen in g. 50 Gedichte (1959). In: Vom Heimatroman zum Agitprop. Die Literatur Westfalens 1945 – 1975. 118 Essays, hg. von Moritz Baßler et al., Bielefeld 2016, (Veröffentlichungen der Literaturkommission für Westfalen. Bd. 68) S. 158 – 162.  Vgl. Wolfgang Koeppen, Tauben im Gras [1951]. In: Koeppen, Gesammelte Werke in sechs Bänden. Hg. von Marcel Reich-Ranicki, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1986, S. 11– 219. Vgl. dazu das exzellente Koeppen-Kapitel in Björn Weyand, Poetik der Marke. Konsumkultur und literarische Verfahren 1900 – 2000, S. 241– 286.  Vgl. Hans Scholz, Am grünen Strand der Spree. So gut wie ein Roman, Hamburg 1955. Vgl. zum Roman sowie zur Hörspiel- und Fernsehadaption den Sammelband von Stephanie Heck / Simon Lang / Stefan Scherer (Hg.), Am grünen Strand der Spree. Ein populärkultureller Medienkomplex der bundesdeutschen Nachkriegszeit, Bielefeld 2020.

1.3.1 Kritik (der Kritik): Die Gruppe 47 und das Beispiel Ingeborg Bachmann

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Um den hier gewählten Gegenstandsbereich in der Breite abzustecken, richtet sich der Blick im Folgenden auf einige Texte von Bachmann und Schmidt, deren Verhältnis zum Populären zumindest punktuell kommentiert, allerdings kaum zeichen- bzw. verfahrenstheoretisch reflektiert wurde. Bachmanns Lyrik und Schmidts Prosa liefern Beispiele für die erwähnte Vermeidung konkreter Bezüge auf populäre Realien einerseits und die Inkludierung populärer Realien andererseits. Ferner lassen sich an ihnen zwei zusätzliche Faktoren diskutieren, welche das Verhältnis von Literatur und Populärkultur in der frühen Bundesrepublik leiten: die kritische Positionierung der Gruppe 47 sowie Momente der Ambivalenz im Umgang mit dem Populären. Beides wird in den Kapiteln zu Böll, Benn und Andersch in signifikanter Weise wiederkehren. Die hier folgenden Überlegungen verbreitern also nicht nur den Blick auf die 1950er Jahre, als Abschluss der Einleitung liefern sie kontextuelle sowie systematische Impulse, die im Verlauf der Arbeit aufgegriffen werden.

1.3.1 Kritik (der Kritik): Die Gruppe 47 und das Beispiel Ingeborg Bachmann Untersucht man nachkriegsliterarische Thematisierungen des Populären, fällt umgehend die Hegemonie kritischer Positionen auf, die von den Erzählerinnen und Erzählern, von den Figuren und lyrischen Instanzen der Texte sowie von ihren Autorinnen und Autoren vertreten werden. Dies hängt eng, so die Überlegung der Forschung, mit der Dominanz der Gruppe 47 zusammen, der bekanntlich ein Who’s Who des nachkriegsliterarischen Betriebs angehörte. Neben unter anderem Bachmann, Aichinger, Grass, Eich, Enzensberger und Walser waren auch Böll und Andersch Teil der von Hans Werner Richter initiierten Vereinigung. Hinzu kamen Kritiker wie Marcel Reich-Ranicki, Joachim Kaiser und Walter Jens. Während der mit Richter befreundete Andersch zu den Gründungsmitgliedern zählte – beide hatten zuvor mit der Nachkriegszeitschrift Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungen Generation für Aufsehen gesorgt –, entwickelte sich Böll im Laufe der 1950er Jahre zu einem der Starautoren der Gruppe. 1951 erhielt er den intern vergebenen Literaturpreis für seine Satire „Die schwarzen Schafe“. Bölls Erfolg als Schriftsteller ist eng mit der Geschichte der literarischen Vereinigung verbunden, wie Marcel Reich-Ranicki in einer Interviewerinnerung aus dem Jahr 1989 bemerkt. Der sogenannte ‚Literaturpapst‘ Reich-Ranicki erhebt den jungen Böll rückblickend zum Protagonisten, der von der Gruppe 47 gegen konservative Autoren wie Gerd Gaiser im literarischen Betrieb der 1950er Jahre in Position gebracht wurde:

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1 Einleitung

Wir, die wir zu Bölls Ruhm beigetragen haben, sahen keinen anderen Ausweg. Es gab keinen anderen. Die konservative Kritik wollte Gerd Gaiser zur Gallionsfigur der Literatur machen. Den konservativen, exnazistischen Schriftsteller. Das konnten wir nicht zulassen. Wir haben uns auf Böll als Gegenkandidaten geeinigt. Es gab andere, die besser waren. Aber sie waren nicht geeignet. […] [A]ußer Böll kam für diese moralische Position niemand in Frage.¹⁴⁶

Die Anekdote verschafft einen Eindruck von der strategischen Einflussnahme der Gruppe und dokumentiert vor allem das Selbstverständnis ihrer Mitglieder im literarischen Feld der Nachkriegszeit. Böll erscheint in der zugespitzt-jovialen Erinnerung Reich-Ranickis als eine Schachfigur, die von den einflussreichen Literaturkritikerinnen und -kritikern zum Erfolg geschrieben wurde. Literarische Qualität ist dabei offenbar kein Hauptkriterium, es geht um anderes, um moralische Integrität und politische, also demokratisch-antifaschistische Gesinnung. Mit der Rolle der Gruppe 47 im Feld hat sich Thomas Wegmann in seiner Monographie Dichtung und Warenzeichen (2011) auseinandergesetzt.¹⁴⁷ Wegmanns Studie, die den langen Zeitraum von 1850 bis 2000 untersucht, widmet sich in einem gut fünfzigseitigen Kapitel unter anderem den aufmerksamkeitssteuernden und Kapitalformen akkumulierenden Mechanismen der Gruppe 47. Dabei steht das Verhältnis der Gruppe zur Sphäre der Werbung im Fokus. Wenngleich meiner Arbeit ein kulturpoetisch-verfahrenstheoretischer Ansatz zu Grunde liegt, der feldtheoretische Aspekte allenfalls sekundär tangiert,¹⁴⁸ bieten sich Wegmanns Überlegungen an, um die Gruppe erstens als Faktor innerhalb der

 Zit. nach Axel Schildt, Heinrich Böll – Schriftsteller und Publizist in der frühen Bundesrepublik. Onlinequelle: https://www.boell.de/de/2017/11/08/heinrich-boell-schriftsteller-und-publizist-der-fruehen-bundesrepublik (zuletzt aufgerufen am 03. Juni 2021). Schildt skizziert, wie die Kritikerinnen und Kritiker der Gruppe 47 Gaisers Position durch negative Rezensionen geschwächt haben. Gaiser, Mitglied der Luftwaffe und Verfasser regimetreuer Lyrik im Nationalsozialismus, reüssierte nach dem Zweiten Weltkrieg in konservativen Kreisen mit Romanen wie Die sterbende Jagd (1953) und Schlußball (1958).  Vgl. das Kapitel „Warenadvent und das literarische Feld nach 1945“ in Wegmann, Dichtung und Warenzeichen. S. 456 – 497, vor allem S. 472– 497. Wegmanns Text besticht dadurch, dass er bezüglich der Zusammenhänge von Werbung und Literatur in den 1950er Jahren einen breiten Bogen spannt. So wird neben der Gruppe 47 auch die gleichzeitige Virulenz langer Werbegedichte thematisiert, mit denen Autorinnen und Autoren wie Irmgard Keun und Kasimir Edschmid Einnahmen generieren konnten. Keun und Edschmid reimten 1954 / 1955 für die Zigarettenmarke Lord. Vgl. Wegmann, Dichtung und Warenzeichen. S. 462– 464.  Dass sich Autorinnen und Autoren mit bestimmten Textverfahren im literarischen Feld positionieren, Distinktion betreiben und dadurch Kapitalformen akkumulieren, ist eine methodisch ganz anders gelagerte Frage. Vgl. zur Feldtheorie grundlegend Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft [1979], aus dem Französischen von Bernd Schwibs und Achim Russer, Frankfurt a. M. 1982 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft. Bd. 658).

1.3.1 Kritik (der Kritik): Die Gruppe 47 und das Beispiel Ingeborg Bachmann

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Nachkriegsliteratur zu diskutieren und sie zweitens auf ihr Verhältnis zum Populären hin zu befragen. Wegmann beobachtet eine grundsätzliche literarische Distanzierung gegenüber der Konsumsphäre im Feld der 1950er Jahre, Konsum und Werbung werden mit „Pauschalkritik“ überzogen.¹⁴⁹ Durch diese Kritik lassen sich doppelte „Distinktionsgewinne“ erzielen, zum einen „demonstriert man, dass man bei der Geschmacksbildung auf Populäres, auf Werbung nicht angewiesen ist; zum anderen, dass man ihr Opakisierendes, ihr Täuschendes durchschaut“.¹⁵⁰ Werbung und Marken erweisen sich, im Sinne eines in der frühen Bundesrepublik populären Gedankens des amerikanischen Soziologen Vance Packard, als ,geheime Verführer‘, als Hidden Persuaders (1957),¹⁵¹ die die Menschen in Zustände der Unfreiheit und Entfremdung abdriften lassen. Im Zuge ihres kritischen, dekuvrierenden Umgangs mit Werbung und Marken stilisieren sich deutsche Autorinnen und Autoren der 1950er Jahre häufig als moralische Instanzen respektive werden sie von der Kritik dementsprechend profiliert.¹⁵² Dies gilt besonders für die Mitglieder der Gruppe 47, wie das Beispiel Böll zeigt. Ein Spezifikum der Gruppe liegt darin, dass dieser lose Zusammenschluss von Autorinnen und Autoren selbst intensiv Markenbildung in eigener Sache betreibt und sich darüber sukzessive zu einem prägenden Organ im literarischen Feld der 1950er Jahre entwickelt. Dazu gehören etwa die ritualisierten Formen des Vortrags und der Kritik während der Treffen der Gruppe, die sich zum Teil wie Werbeveranstaltungen verhielten. Ebenso von feldtheoretischer Relevanz ist die Vergabe des Preises der Gruppe 47, deren Preisgelder etwa von Verlagen (Kiepenheuer & Witsch) oder von Werbefirmen (McCann Company) gestiftet wurden. Ein weiterer Punkt ist die Verzweigung von Autorinnen und Autoren einerseits sowie Kritikerinnen und Kritikern, Verlegerinnen und Verlegern andererseits, die im Rahmen der Gruppentreffen Netzwerkbildung betrieben und literarische Karrieren beförderten beziehungsweise ausbremsten. Der Vorwurf, die Gruppe 47 sei eine Clique, eine Interessengemeinschaft, die sich den Mechanismen des Marktes anpasse und die weniger literarische Texte als die Presseöf-

 Wegmann, Dichtung und Warenzeichen. S. 476.  Wegmann, Dichtung und Warenzeichen. S. 476.  Vance Packard, Die geheimen Verführer. Der Griff nach dem Unbewussten in Jedermann [1957], Düsseldorf 1958. Signifikant an Packards Argumentation ist, dass sie die ‚Schuld‘ von den Konsumentinnen und Konsumenten in Richtung der Produzentinnen und Produzenten der Produkte und ihrer Werbung verschiebt.  Vgl. Wegmann, Dichtung und Warenzeichen. S. 468.

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1 Einleitung

fentlichkeit in den Vordergrund stelle, wurde bereits von Zeitgenossinnen und Zeitgenossen erhoben, etwa vom Schriftsteller Hans Habe.¹⁵³ Wegmann exemplifiziert diese Überlegungen zur Gruppe 47 unter anderem am Beispiel des Gedichts „Reklame“ (1956) von Ingeborg Bachmann, das zu den bekanntesten Texten der Autorin sowie der bundesrepublikanischen Nachkriegsliteratur im Allgemeinen zählt. Die folgende Analyse diskutiert Wegmanns These zum Gedicht: Wohin aber gehen wir ohne sorge sei ohne sorge wenn es dunkel und wenn es kalt wird sei ohne sorge aber mit musik was sollen wir tun heiter und mit musik und denken heiter angesichts eines Endes mit musik und wohin tragen wir am besten unsre Fragen und den Schauer aller Jahre in die Traumwäscherei ohne sorge sei ohne sorge was aber geschieht am besten wenn Totenstille eintritt.¹⁵⁴

Die dialogische Struktur des Textes konfrontiert zwei Sprecherinstanzen. So artikulieren die recte gedruckten Teile des Gedichts existenzielle Sorgen („was

 Wegmann hat diese Kontroversen um die Gruppe 47 informativ nachgezeichnet. Dabei weist er darauf hin, dass der Vorwurf der Marktgängigkeit gegen die Gruppe wiederum selbst eine marktstrategische Operation ist, mit der Akteure wie Habe ihre Position im Feld zu stärken versucht haben. Vgl. Wegmann, Dichtung und Warenzeichen. S. 482– 493, hier vor allem S. 489. Eine nach wie vor zentrale Gesamtdarstellung der Gruppe 47 besorgt: Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Die Gruppe 47. Ein kritischer Grundriss, München 32004 (edition text + kritik. Sonderband). Aufschlussreiches Quellenmaterial liefern die Selbstbeschreibungen von Hans Werner Richter (Hg.), Almanach der Gruppe 47, 1947 bis 1962. Reinbek bei Hamburg 1962; sowie Reinhard Lettau, Die Gruppe 47. Ein Handbuch. Bericht, Kritik, Polemik, Neuwied / Berlin 1967.  Vgl. Ingeborg Bachmann, Reklame [1956]. In: Bachmann, Werke. Hg. von Christine Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Münster, Bd. 1, München 1978, S. 114.

1.3.1 Kritik (der Kritik): Die Gruppe 47 und das Beispiel Ingeborg Bachmann

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sollen wir tun“, „angesichts eines Endes“ usw.), während die kursiv gedruckte Instanz mit insistierenden Beschwichtigungen auf die vorgebrachten Fragen reagiert („sei ohne Sorge“, „heiter und mit musik“ usw.). In Verbindung mit dem Titel des Gedichts lässt sich darin die überzeichnete Imitation suggestiver Reklamebotschaften erkennen. Eine spezifische Quelle, auf die die in recte gesetzten Passagen zurückzuführen sind, liegt nicht vor. Brisanz erhält der Text, indem er die im Nachkrieg heikle Frage nach historischer Schuld („Schauer aller Jahre“) in der Konsumsphäre aufgehen lässt.¹⁵⁵ In diesem Zusammenhang steht der markante Neologismus „Traumwäscherei“, der unterschiedliche Assoziationen zulässt, etwa die ‚Traumfabrik‘ als Chiffre der amerikanischen Unterhaltungsindustrie Hollywoods, die ‚Gehirnwäsche‘ oder das ‚Reinwaschen‘ von Schuld. Dass die Exkulpation im Nachkrieg kolloquial mit einer Marke, dem sogenannten ‚Persilschein‘, verknüpft war, fügt sich in die konsumkritische Anlage des Gedichts. Man könnte resümieren, dass Bachmanns Text „existenzielle Wahrhaftigkeit […] mit dem oberflächlichen Gerede der Reklame“ kontrastiert,¹⁵⁶ dass also Bedeutsames gegen die Suggestivbotschaften der Werbung in Position gebracht wird.Wegmann plädiert für eine andere Lesart. Ausschlaggebend ist der auffällige Begriff ‚Traumwäscherei‘, der ausgerechnet auf „Bilder aus der Umgangssprache“ rekurriert.¹⁵⁷ „Werbe- und Medienkritik“ stehen „in Bachmanns Gedicht eben nicht auf der Seite der existenziellen Wahrhaftigkeit“, sondern werden „dem werblichen Teil zugeschlagen“, konkludiert Wegmann.¹⁵⁸ Daraus folgt, „dass hier Werbekritik in ihrer populären Variante ebenfalls als Teil der Reklamekultur verhandelt wird“. Die Kritik ist also mit ihrem Gegenstand „katachrestisch […] verschränkt“, sie bedient sich vergleichbarer sprachlicher Mechanismen wie dem

 Bezogen auf den Konsum ist nach 1945 eine zweifache Verschiebung der „kaum konsensfähige[n] Frage der Schuld“ zu bemerken. „Zunächst führt die Produktkommunikation mit den wieder erhältlichen Marken in ‚Friedensqualität‘ den Nationalsozialismus als bloßes Intermezzo und damit als bewältigte Vergangenheit vor: Je mehr Fernseher und Kühlschränke mit einschlägigen Sekundärtugenden wie Fleiß und Sparsamkeit erworben und vorgezeigt werden konnten, desto wirkungsvoller schien sich auch die problematische Vergangenheit beiseiteschieben zu lassen. Doch die mit solch ‚unausgesprochener Entlastungssehnsucht‘ einhergehende Verschiebung der Schuldfrage warf ein weiteres Problem auf: Auch Konsum war (und ist zum Teil noch) aus unterschiedlichen Gründen tendenziell mit Schuld konnotiert, wofür in den 1950er Jahren ein traditioneller, nicht zuletzt religiös grundierter Verhaltenskodex verantwortlich war.“ Wegmann, Dichtung und Warenzeichen. S. 466.  Wegmann, Dichtung und Warenzeichen. S. 473.  Wegmann, Dichtung und Warenzeichen. S. 473.  Wegmann, Dichtung und Warenzeichen. S. 474.

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1 Einleitung

Slogan.¹⁵⁹ Adornos und Horkheimers sloganhafte Sentenzen wie „Vergnügtsein heißt Einverstandensein“ oder „Fun ist ein Stahlbad“ aus der Dialektik der Aufklärung (1944 / 1947) werden von Wegmann als Beispiele dieser Überlegung herangezogen.¹⁶⁰ Wegmanns Lektüre des Gedichts ist reizvoll, allerdings rückt sie das Faktum in den Hintergrund, dass „Reklame“ ungeachtet der raffinierten Kritik an den Mechanismen der Werbe- und Medienkritik seiner Zeit auf Verfahren baut, die Bedeutsames ins Werk setzen und damit die Gewichtung des Geschilderten sowie des ästhetischen Kunstwerks selbst markieren. Anders formuliert: Der Text lässt sich nicht auf den propositionalen Gehalt seiner Kritik (der Werbekritik) reduzieren, er ist ebenso durch bedeutsames Geraune, durch das Abdriften in eine Sphäre des Existenziellen-Allgemeinen geprägt, wie es ein signifikanter Teil der Literatur der frühen Bundedesrepublik tut. Im Falle von „Reklame“ sind das groß dimensionierte Fragen, deren Beantwortung im Unbestimmten verbleibt sowie das wiederholte Betonen von Existenzialien wie Sorge, Tod etc. Zu diesen in recte gedruckten Teilen geht das Gedicht gerade nicht auf Distanz. Hinzu kommt die auffällige Leerzeile, die eine Pause im Lesefluss markiert und die „Totenstille“ graphisch umsetzt, ähnlich wie es Eugen Gomringers Gedicht schweigen von 1960 macht. Durch diese Textmerkmale bleibt die Evokation „existenzieller Wahrhaftigkeit“¹⁶¹ in Bachmanns „Reklame“ letztendlich unangetastet.

1.3.2 ‚Begeisterte Verachtung‘: Ambivalenz am Beispiel von Arno Schmidt Dass literarische Texte der frühen Bundesrepublik im Modus der Ablehnung und Kritik gegenüber dem Populären operieren, ist angesichts der intellektuellen Diskurslage der Nachkriegszeit keine Überraschung. Doch beim genaueren Hinsehen werden gemischte Positionen sichtbar, Momente der Ambivalenz, der Spannung und Zwiespältigkeit im literarischen Umgang mit dem Populären lassen sich erkennen.¹⁶²

 Wegmann, Dichtung und Warenzeichen. S. 474.  Adorno / Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, S. 162 und 167. Vgl. dazu Wegmann, Dichtung und Warenzeichen. S. 474.  Wegmann, Dichtung und Warenzeichen. S. 473.  Eine systematische Auseinandersetzung mit den verwandten Begriffen ‚Ambivalenz‘, ‚Ambiguität‘ und ‚Amphibolie‘ haben Frauke Berndt und Stephan Kammer unternommen. Dabei schreiben sie treffend von einer „antagonistisch-gleichzeitige[n] Zweiwertigkeit“, die Texte strukturell hervorbringen können. Frauke Berndt / Stephan Kammer, Amphibolie – Ambiguität –

1.3.2 ‚Begeisterte Verachtung‘: Ambivalenz am Beispiel von Arno Schmidt

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Die literarischen Texte des Nachkriegs können sich dem Populären nicht völlig entziehen, wie man mit einem von Umberto Eco abgeleiteten Gedanken festhalten kann. Der italienische Semiotiker hat in den 1960er Jahren genau dies der deutschsprachigen Kulturkritik seiner Zeit attestiert. Ecos Aufsatzsammlung Apokalyptiker und Integrierte (Apocalittici e Integrati, 1964) versammelt strukturalistisch-zeichentheoretische Analysen von populären Gegenständen wie Superman, Charlie Brown, den James Bond-Romanen oder der Kolportageprosa Eugène Sues. Zugleich ist der Band eine Auseinandersetzung mit Theorien der Masse, vor allem mit der Kritischen Theorie.¹⁶³ Wenngleich man die etwas blumigpsychologisierende Überlegung über die Ambivalenz kulturkritischer Beiträge nicht umstandslos auf den literarischen Bereich übertragen kann, bietet sie eine produktive Perspektive auf die Literatur der frühen Bundesrepublik. Eco schreibt: Es scheint hier eine mühsam verhüllte Leidenschaft am Werk zu sein, eine verratene Liebe, oder eine unterdrückte Sinnlichkeit, ähnlich der des Moralisten, der ein Bild der Obszönität anklagt und dabei dem Sog des Gegenstandes, dem er seine Verachtung bekundet, zu erliegen droht.¹⁶⁴

Mit der Beschreibung dieser gemischten Empfindung fällt Ecos Reflexion komplexer und differenzierter aus als es etwa bei Pierre Bourdieu der Fall ist, der in Die feinen Unterschiede (La Distinction, 1979) den „Ekel vor dem ‚Leichten‘“ zum primären Modus ästhetischer Auseinandersetzung mit dem Populären erhebt.¹⁶⁵ In Rekurs auf Kant und Schopenhauer sowie mit analytischer Distanz zum eige-

Ambivalenz: die Struktur antagonistisch-gleichzeitiger Zweiwertigkeit. In: Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz, hg. von Frauke Berndt und Stephan Kammer, Würzburg 2009, S. 7– 30.  Vgl. Umberto Eco, Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur, aus dem Italienischen von Max Looser, Frankfurt a. M. 1987. Die eigentümliche Betitelung des Bandes zielt auf die deutschen Kulturkritikerinnen und Kulturkritiker (Apokalyptiker) sowie auf amerikanische, nah am Markt operierende Autorinnen und Autoren (Integrierte), zum Beispiel auf den Marktpsychologen Ernest Dichter (Strategie im Reich der Wünsche, 1961). Eco strebt eine Mittelweglösung an, die sich auf Analysen konzentriert, ohne von vorneherein Kritik oder Affirmation zu äußern. Vgl. dazu das Vorwort der deutschen Ausgabe: Umberto Eco, Vorwort zur deutschen Ausgabe [1984]. In: Eco, Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur, aus dem Italienischen von Max Looser, Frankfurt a. M. 1987, S. 7– 13, hier S. 11.  Umberto Eco, Einleitung [1964]. In: Eco, Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur, aus dem Italienischen von Max Looser, Frankfurt a. M. 1987, S. 15 – 35, hier S. 26. Eco verknüpft diesen Gedanken im weiteren Zusammenhang mit Günther Anders’ Überlegungen zum Fernsehen. Vgl. Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Erster Band: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution [1956], S. 132.  Bourdieu, Die feinen Unterschiede. S. 757.

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nen Gegenstand hält Bourdieu über „die ,vulgären‘ Werke“, also Produkte der Unterhaltung fest, sie stellen gewissermaßen eine Beleidigung der Raffinesse des Kenners dar, einen Affront des ‚schwierigen‘ Publikums, dem es schier unbegreiflich ist, wie man ihm derart ‚oberflächliche‘ und ‚seichte‘ Sachen vorzusetzen wagt […]; ihre Methoden der Verführung, gewöhnlich als ‚niederträchtig‘, ‚entwürdigend‘, ‚erniedrigend‘ verworfen, erregen Mißbehagen und Widerwille beim Zuschauer und Zuhörer, der sich wie der Erstbeste behandelt sieht, den man mit den Reizen von Glamour und Schund zu bestricken versucht, den man einlädt, auf elementare, primitive Stufen der Lust zu regredieren, teils auf passiver Befriedigungen des infantilen Geschmacks für Weiches und Süßliches, teils auf den quasi tierischen Geschmack des Geschlechtstriebs.¹⁶⁶

Bourdieus Einschätzung mag auf die „bürgerlich[e] Ethik und Ästhetik“ des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts zutreffen,¹⁶⁷ für die Diskussion der literarischen Situation der frühen Bundesrepublik eignet sie sich nur bedingt. Zur doppelseitigen, ambivalenten Form der Auseinandersetzung, die Eco skizziert, tendiert etwa Arno Schmidt, ein literarischer Solitär, welcher der Gruppe 47 fernblieb.¹⁶⁸ Der Ambivalenzbefund in Verbindung mit Schmidt mag insofern verblüffen, da seine Protagonisten prima vista durch polemische Schimpftiraden gegen Swing, Schlager und andere Formen von leichter Unterhaltung hervortreten. Programmatisch für Schmidts idiosynkratische Prosa liest sich folgende Stelle aus der Erzählung „Brand’s Haide“ (1951): „Als junger Mensch: 16 war ich, bin ich aus Euerm Verein ausgetreten. Was euch langweilig ist: Schopenhauer, Wieland, das Campanerthal, Orpheus: ist mir selbstverständliches Glück; was Euch rasend interessiert: Swing, Film, Hemingway, Politik: stinkt mich an.“¹⁶⁹ Sabine Kyora hat zu dieser Textstelle richtig bemerkt, dass sie kein „Fortwirken kulturkritischer Stereotype aus der Weimarer Republik in der Bundesrepublik der 1950er Jahre“ anzeigt.¹⁷⁰ Wider Erwarten hat man es nicht mit einer Amerikakritik

 Bourdieu, Die feinen Unterschiede. S. 758.  Bourdieu, Die feinen Unterschiede. S. 757.  1953 entgegnete Schmidt auf die Einladung zu einem Gruppentreffen zynisch und homophob: „Ich nähre mich lieber still und redlich vom Übersetzen als von literarischer 175erei“, wodurch kolloquial auf den § 175 angespielt wird, welcher sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellte und bis 1994 im Strafgesetzbuch festgehalten war. Zit. nach Arnold, Die Gruppe 47. S. 80 f.  Arno Schmidt, Brand’s Haide [1951]. In: Schmidt, Bargfelder Ausgabe. Hg. von der Arno Schmidt Stiftung, Bd. I.1, Zürich 1987, S. 166 – 199, hier S. 166.  Kyora nutzt Schmidt als Aufhänger, um das ambivalente Verhältnis der westdeutschen Literatur zu amerikanischen Kulturerzeugnissen auszuloten. Sabine Kyora, ‚Swing, Film, Hemingway, Politik: stinkt mich an.‘ Die Neupositionierung der westdeutschen Literatur zwi-

1.3.2 ‚Begeisterte Verachtung‘: Ambivalenz am Beispiel von Arno Schmidt

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zu tun, die den europäischen Bildungskanon gegen amerikanische Kulturerzeugnisse ausspielt. So entsprechen die gewählten hochkulturellen Rekurse (Wieland, Jean Paul etc.) – wie bei Schmidt üblich – keineswegs dem Kanon der Nachkriegszeit¹⁷¹ und auch die Schelte der Americana (Swing, Hemingway) besitzt eine Kehrseite, wenn man bedenkt, dass Autoren wie James Fenimore Cooper, bekannt für seine Lederstrumpf-Abenteuerromane, zu den großen Referenzpunkten im Schmidt’schen Oeuvre zählen. Hinzu kommt die ausgeprägte Affinität für Western, Pornographie und Science-Fiction, die Schmidt in Romanen wie Die Gelehrtenrepublik (1957) an den Tag legt.¹⁷² Leslie Fiedler sieht 1968 in genau diesen Genres „pop forms“ und damit einen Ausweg aus der Misere der Moderne, aus der „deadly earnestness“ des literarischen Nachkriegs;¹⁷³ wohl ohne Schmidt zu kennen, dessen Texte eine eigentümliche Mischung aus Witz sowie semantischer und formaler Überfrachtung auszeichnet. Mit Fiedlers berühmtem Diktum cross the border, close the gap, welches einer literarischen Auflösung von Hochund Populärkultur das Wort redet, sind Schmidts bildungselitäre Texte trotz ihres Interesses für populäre Genres jedoch kaum in Verbindung zu bringen. Der Fall Schmidt verhält sich in rekursiver Hinsicht komplex. Im Kontrast zur programmatischen Äußerung aus „Brand’s Haide“ steht die breitflächige Inkludierung populärer Zeichen in Schmidts Prosa. Dass lässt sich produktionsästhetisch anhand von Notizheften und Zettelkastensammlungen mit Materialien zu den jeweiligen Texten nachvollziehen. Schmidt sammelt Werbeanzeigen, er schneidet Bilder aus Versandkatalogen aus, markiert Sendungen in Programmzeitschriften und erweist sich zudem als Leser von Illustrierten.¹⁷⁴ Populäre Zeichen sind als Ergebnis dieses Arbeitsprozesses ein integraler Be-

schen 1945 und 1960, in: Modernisierung als Amerikanisierung? Entwicklungslinien der westdeutschen Literatur 1945 – 1960, hg. von Lars Koch, Bielefeld 2007, S. 45 – 61, hier S. 45.  Zum „Privat-Kanon“ Arno Schmidts und zu seiner Position innerhalb der Nachkriegsliteratur vgl. Axel Dunker / Sabine Kyora, Arno Schmidt und der Kanon. Einleitende Überlegungen. In: Arno Schmidt und der Kanon. Hg. von Axel Dunker und Sabine Kyora, München 2015, (Bargfelder Bote. Sonderlieferung) S. 5 – 16, hier S. 6.  Vgl. Arno Schmidt, Die Gelehrtenrepublik. Kurzroman aus den Roßbreiten [1957]. In: Schmidt, Bargfelder Ausgabe. Hg.von der Arno Schmidt Stiftung, Bd. II.2, Zürich 1986, S. 221– 349.  Fiedler, cross the border, close the gap. S. 252.  2016 ist eine reichhaltige Bildbiographie über Schmidt im Suhrkamp Verlag erschienen. Darin sind unter anderem Ausschnitte aus Versandkatalogen für die Schule der Atheisten oder ein Weinbrandetikett aus der Materialmappe zu Zettel’s Traum zu sehen. Bei den gezeigten Katalogbildern handelt es sich überwiegend um Damenmode, so auch im Fall des über 40 Mal erwähnten roten Badeanzugs, den die Figur Franziska in Zettel’s Traum trägt. Vgl. Fanny Esterházy (Hg.), Arno Schmidt. Eine Bildbiographie. Mit einführenden Texten von Bernd Rauschenbach, Berlin 22017, S. 383 und 402.

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standteil der Prosa, die, so Schmidts poetologische Überlegung, keine „Themen“ aussparen und sich gezielt auch den Dingen des Alltags zuwenden solle.¹⁷⁵ Das Populäre fungiert dann meist als diskursive Reibungsfläche der Schmidt’schen Protagonisten. Dabei streuen sich meliorative Momente bezüglich bestimmter Unterhaltungsphänomene ein, wodurch die angesprochene Ambivalenzstruktur in Kraft tritt. Solch ein Muster zeigt Schmidts Erstling „Leviathan oder Die beste der Welten“ (1949), ein Text über eine Gruppe Deutscher, die gegen Ende des Zweiten Weltkriegs vor der nachrückenden Roten Armee flieht. Der homodiegetische Erzähler hält dabei auf der Flucht unter MG-Beschuss fest, dass das „MarleneDietrich-Profil“ seiner Angebeteten Anne Wolf, die ebenfalls Teil der Gruppe ist, ihn „wieder in selige Knechtschaft“ versetzt (sie sucht zu diesem Zeitpunkt neben ihm Deckung). Zuvor bemerkt er noch trocken-abgeklärt über den von der Hitlerjugend angestimmten Schlager „Man müßte Klavier spielen können“ („dann hätte man Glück bei den Frau’n“, 1941): „wir sind gerichtet!“¹⁷⁶ Weltläufige, regimefeindliche Filmdiva und Jopie Heesters-Schlager rangieren also keineswegs auf einer Stufe. Stattdessen kommen ästhetische (und implizit politische) Präferenzen im Bereich des Populären zum Tragen, Binnendifferenzierungen machen sich bemerkbar. Die Textstelle aus „Leviathan“ deutet es an: Schmidts Prosa verknüpft ambivalente Momente in der Beurteilung unterhaltungskultureller Produkte häufig mit der Libido ihrer Protagonistinnen und Protagonisten,¹⁷⁷ welche als Provoka-

 Schmidt geht darauf in einer als „Berechnungen“ betitelten, posthum veröffentlichten Vorstufe der „Berechnungen I“ ein. Die Textstelle lässt sich als Gegenentwurf zur bedeutsamen Unbestimmtheit und metaphysischen Überformung innerhalb der Nachkriegsliteratur lesen: „(Man werde vor allem freier und natürlicher. Man gebe die ‚Unendlichkeit‘ auf für die Endlichkeit; eine gutgemalte Katze ist mehr wert, als der erhabenste Seraf. […] [M]an lasse alle göttlichen Ambitionen aus dem Spiel : es waren ihrer schon verwirrend zu viele da (und mit was für Ansprüchen meist !). Themen fehlen nie! Es gibt so viele Beleuchtungen für die Dinge, so viel Blumensorten; täglich werden neue Technika erfunden; es ist tatsächlich noch gar nichts erschöpfend geschildert; weder Protuberanzen am Sonnenrand […] noch die neuen elektrischen Rasierapparate, und was meine Haut so dabei fühlt.“ Arno Schmidt, Berechnungen [1953]. In: Schmidt, Bargfelder Ausgabe. hg. von der Arno Schmidt Stiftung, Bd. III.1, Bargfeld / Zürich 1995, S. 101– 106, hier S. 105.  Arno Schmidt, Leviathan oder Die beste der Welten [1949]. In: Schmidt, Bargfelder Ausgabe. Hg. von der Arno Schmidt Stiftung, Bd. I.1, Zürich 1987, S. 34– 53, hier S. 43.  Libido wird hier als (sexuelle) Lust und Begehren der Figuren begriffen. Freud versteht Libido bekanntlich allgemeiner als Energie, die allen psychischen Prozessen zugrunde liegt. Zum Begriff der Libido in der Psychoanalyse, die für mein Argument jedoch von untergeordneter Bedeutung ist, vgl. etwa Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur. In: Freud, Das Unbehagen in

1.3.2 ‚Begeisterte Verachtung‘: Ambivalenz am Beispiel von Arno Schmidt

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tionsmoment angesichts der von Schmidt als prüde wahrgenommenen Nachkriegskultur einen festen Platz in seinem Oeuvre hat.¹⁷⁸ Ein Beispiel für diese Beobachtung liefert die Erzählung „Schwarze Spiegel“ (1951), die von George R. Stewarts post-apokalyptischem Science Fiction-Roman Earth Abides (1949) inspiriert ist. In „Schwarze Spiegel“ durchstreift der Erzähler – der als intellektueller, vor Gedankenreichtum sprühender Einzelgänger archetypisch für Schmidts Texte ist – auf einem Pferd reitend eine post-atomare Diegese. Der Text ist im ersten Teil eine Science-Fiction-Geschichte vom letzten Menschen, erst im zweiten Teil begegnet der Protagonist einer Frau, mit der sich ein amouröses Verhältnis entwickelt. Aufgrund des Endes der Menschheit rücken die materiellen Restbestände der Zivilisation in den Vordergrund. Neben Elementen der Hochkultur – „Schwarze Spiegel“ rekurriert an verschiedenen Stellen etwa auf Wieland und Herder – sind es vor allem die Dinge des vergangenen Alltags und der Unterhaltungskultur, die den Erzähler beschäftigen. Während des Streifzugs durch eine Siedlung entdeckt der Erzähler illustrierte Zeitschriften und schwingt sich zu einer knappen Polemik gegen ebensolche auf: Illustrierte: die Pest unserer Zeit! Blödsinnige Bilder mit noch läppischerem Text: es gibt nichts Verächtlicheres als Journalisten, die ihren Beruf lieben (Rechtsanwälte natürlich noch!). Die „Gondel“: fast nackte Mädchen besahen still und unschuldig ihr Geschenkel, und da mußte ich doch schlucken und einige Häuser zurückreiten.¹⁷⁹

Der Text verfährt in Form einer kolloquial-sprunghaften Gedankenrede, die das Wahrgenommene kommentiert und es bewertet. Erneut abgeklärt und spöttisch klingt das zunächst („Pest unserer Zeit!“, „Rechtsanwälte natürlich noch!“) – bis die „,Gondel‘“ auftaucht. Die vom Protagonisten gefundene Zeitschrift gehörte zu den ‚Herrenmagazinen‘ der Nachkriegszeit, welche oft nur als sogenannte ‚Bückwaren‘ unter dem Ladentisch verkauft wurden. Neben Pin-upZeichnungen und Aktfotografien verfügte die Zeitschrift über eine Vielzahl an

der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften. Mit einer Einleitung von Alfred Lorenzer und Bernard Görlich, Frankfurt a. M. 1994, S. 29 – 108.  Schmidt sieht sich aufgrund der verhältnismäßig offenen Thematisierung sexueller, vor allem aber blasphemischer Aspekte in seinen Texten in den 1950er Jahren mit juristischen Konsequenzen konfrontiert. Zum Vorwurf der Verbreitung pornografischer Schriften und der Gotteslästerung nach der Veröffentlichung von „Seelandschaft mit Pocahontas“ (1953) vgl. Philipp Pabst, Provokation mit Pocahontas. Arno Schmidts Häresie im literarischen Feld der 1950er-Jahre. In: Autorschaften im Spannungsfeld von Religion und Politik, hg. von Christian Sieg und Martina Wagner-Egelhaaf, Würzburg 2014, (Religion und Politik. Bd. 8) S. 45 – 69.  Arno Schmidt, Schwarze Spiegel [1951]. In: Schmidt, Bargfelder Ausgabe. Hg. von der Arno Schmidt Stiftung, Bd. I.1, Zürich 1987, S. 199 – 260, hier S. 206.

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Rubriken. So zählten Berichte über Hollywoodstars, Horoskope, Fortsetzungsromane, Ratgeberecken und Witze mit jeweils mehr oder minder erotischem Einschlag, aber auch Jazzkritiken und Schachaufgaben zu den Bestandteilen der monatlich erscheinenden Gondel. Diese Rubrikenvielfalt ist gängig in Illustrierten der Zeit, etwa in der marktdominierenden Programmzeitschrift Hör zu! oder der Frauenzeitschrift Constanze. Wie man der abgebildeten, bunt kolorierten und mit kunsthandwerklichem Flair kokettierenden Titelseite der Osterausgabe der Gondel vom März 1951 entnehmen kann, warb das Magazin im Erscheinungsjahr von „Schwarze Spiegel“ für die Teilnahme an der Miss Germany-Wahl, die vom Blatt selbst ausgerichtet wurde. Eine doppelte Adressierung wird dadurch kenntlich. Der Fokus liegt jedoch auf dem männlichen Publikum, zu dem der Erzähler aus „Schwarze Spiegel“ zählt, bei dem das Blatt seine erotisierende Wirkung entfalten möchte. Der Marlene-Dietrich-Stelle aus dem „Leviathan“ vergleichbar, wechselt der Duktus der Gedankenrede ins Kleinlaute („da mußte ich doch schlucken“). Die Generalschelte gegen illustrierte Zeitschriften weicht angesichts der libidinösen Affizierung einem ambivalenten Moment der Relativierung. Die Idee, dass Unterhaltungskulturelles auf das Triebleben der Konsumentinnen und Konsumenten einwirkt, gehört zu den Topoi der Kulturkritik. Karl Korn, einer der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, nimmt sich des Themas in seinem Buch Die Kulturfabrik (1953) an. Korn, der auch als Unterstützer der Gruppe 47 in Erscheinung trat, will „den Leser nicht mit einem neuen alten Lamento über Vermassung und Standardisierung“ abspeisen,¹⁸⁰ macht aber genau dies im losen Anschluss an Adornos und Horkheimers Begriff der Kulturindustrie sowie an Ideen der konservativen Denker Arnold Gehlen und Hans Freyer. Vor allem Prozesse der Substitution und ihre negativen Effekte besorgen Korn, wie im Kapitel „Der fabrizierte Eros“ deutlich wird: „Die erotische Imbißhalle mit Selbstbedienung, dieses riesige Automatenrestaurant für sexuellen Schnellverzehr und einschlägige Näschereien züchtet den Menschen, der nur noch von Surrogaten lebt.“¹⁸¹ Die von Korn beobachteten „Surrogatfreuden“ meinen „in Schnellpressen und auf Filmen hergestellte, konfektionierte Bilder“, denen der „isolierte Mensch“ ausgeliefert sei.¹⁸² Die Folge sei eine „Auslaugung seiner naturhaften Substanz“.¹⁸³ Das ist bekanntes essentialisierendes Vokabular, welches einen natürlichen, eigentlichen Zustand gegen zivilisatorische Künstlichkeit und Uneigentlichkeit ausspielt. Eng verbunden mit dem Prozess der Substitution ist

   

Karl Korn, Die Kulturfabrik. Wiesbaden 1953, (Die weißen Hefte. Bd. 2) S. 6. Korn, Die Kulturfabrik. S. 84. Korn, Die Kulturfabrik. S. 82 und 85. Korn, Die Kulturfabrik. S. 85.

1.3.2 ‚Begeisterte Verachtung‘: Ambivalenz am Beispiel von Arno Schmidt

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Abb. 1: Titelseite der Gondel, 3, 1951.

die Konfektionierung, welche Korn anhand von „Schönheitskonkurrenzen“¹⁸⁴ bemerkt, also zum Beispiel ‚Miss Germany‘-Wahlen, für die in der Gondel geworben wird. Korn beschreibt „die beständige Senkung des geistigen Niveaus“ im Zuge von Unternehmungen, die aus einigen fünfzig oder hundert Damen in Badebekleidung diejenige heraussuchen, die sich vom Laufsteg herunter der Perspektive am attraktivsten darbietet und zu einem konfektionierten Hollywoodlächeln den Rekord der genormten Brust-, Hüft, Nabelund sonstigen Messungen erringen konnte […]. Man macht Geschäfte mit der seit längerem

 Korn, Die Kulturfabrik. S. 81.

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auf Konfektionsreize dressierten Groschenerotik der Massen. Je genormter die Kür samt ihren Erwählten, um so breiter der Massenerfolg.¹⁸⁵

Der Beitrag des F.A.Z.-Herausgebers vermittelt einen Eindruck davon, wie nachdrücklich Schmidts Evaluation von Kultur in vielen Punkten an der konservativen Kulturkritik der 1950er Jahre vorbeioperiert. Anhand von „Schwarze Spiegel“ lässt sich das näher explizieren. Der Text pervertiert die von Kritikern wie Korn beklagte Isolierung und Entfremdung des Menschen in der modernen Zivilisation, indem er sie wörtlich nimmt. So ist der Erzähler hier de facto vereinzelt, ohne dass sich jedoch große Wehmut nach der Zeit vor der Katastrophe oder Entfremdung einstellen würden. Ohne Menschheit lebt es sich besser, kann man aus der meist vergnüglichen Einsamkeit des solipsistischen Erzählers schließen. Im Zentrum stehen genussvoll entfaltete Geschmacksurteile über die Residuen der Nachkriegskultur, denen durch die Absenz jeglicher anderer kultureller Bewertungsinstanzen eine Endgültigkeit zukommt. Schließlich gibt es niemanden mehr, der widersprechen könnte. So verhält es sich auch mit der Evaluation der Illustrierten, die eine zeitdiagnostisch-kulturkritische Aussage (Zeitschriften = „Pest unserer Zeit“), wie man sie in anderer Tonalität auch bei Korn lesen könnte, mit der libidinösen Affizierung durch den populären Gegenstand verknüpft. Allerdings wird diese Affizierung vom Text höchstens indirekt problematisiert, insofern man die Reaktion des Erzählers auf das ‚Herrenmagazin‘ als schamhafte lesen will. Vielmehr deutet sich hier eine sinnlichsexuelle Komponente an, die in der deutschen Literatur erst in den 1960er Jahren mit Pop eine größere Rolle spielen wird.¹⁸⁶ Das nimmt sich eigenwillig und pro-

 Korn, Die Kulturfabrik. S. 81.  So findet sich Arno Schmidt als einer von zwei deutschen Nachkriegsautoren im Widmungsteil von ACID wieder. Der andere von Brinkmann im Rahmen der Widmung erwähnte Autor ist Gottfried Benn. Vgl. Brinkmann / Rygulla (Hg.), ACID. Neue amerikanische Szene, S. 419. Einschlägig für die programmatische Sinnlichkeit der frühen Pop-Literatur ist eine Stelle aus „Der Film in Worten“, die sich gegen einen Aufsatz von Hans Magnus Enzensberger positioniert, der sensualistische Ideen Jack Kerouacs als „naiv“ abqualifiziert: „Enzensbergers ablehnende Haltung gegenüber dem Statement Kerouacs kann symptomatisch genommen werden für die bekannte Unsinnlichkeit des Denkens abendländischer Intellektueller, die heute zu Recht sich ausgeschlossen sehen von einer Bewegung, die auf erweiterte Sinnlichkeit drängt, die ganz selbstverständlich auch das Denken, die Reflexionsfähigkeit in sich aufgenommen hat. Es ist tatsächlich nicht einzusehen, warum nicht ein Gedanke die Attraktivität von Titten einer 19jährigen haben sollte, an die man gerne fasst…“. Rolf Dieter Brinkmann, Der Film in Worten. S. 384. Beim erwähnten Aufsatz handelt es sich um: Hans Magnus Enzensberger, Die Aporien der Avantgarde. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 5, 1962, S. 401– 424.

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vokant aus, steht es doch den kulturkritischen Positionen der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen Schmidts diametral entgegen. Die Textstelle über Illustrierte in „Schwarze Spiegel“ ist das Ende einer längeren Auseinandersetzung mit unterhaltungskulturellen Phänomenen, vor allem mit Musik. Ein weiterer Blick in den Passus hilft, die Funktionalisierung des Populären bei Schmidt näher zu erfassen. Zunächst gibt der Erzähler auf einem Provinzsportplatz die Aufstellung der „Spielgemeinschaft Benefeld-Cordingen […] für nächsten Sonntag“ wieder „(den sie nicht mehr erlebt hatten!)“,¹⁸⁷ um danach in einem verlassenen Haus ein Grammophon auszuprobieren.¹⁸⁸ Die gespielte Musik – Jazz, Schlager und ein Marsch – sorgt für eine Dynamisierung der Formseite des Textes. Dabei offenbart der Erzähler den von Eco beschriebenen „Sog des Gegenstandes“,¹⁸⁹ die ‚begeisterte Verachtung‘ für das Populäre: Beim Grammophonspielen: („singender klingender Melodienreigen“ hätten sie bedenkenlos im Südwestfunk gesagt) und ich erschrak des Todes: Duke Ellington sein Gesicht!! (Dafür kann er ja nischt; aber dann noch solch akustischen Abfall zu produzieren: dadurch wirds ein Makel). „Kennen Sie den alten Scheich von Pakistan?“ – „Pakistan?“ zweifelte tonlos ein flinker Chor, „Der sich alle Frauen hält –“ – „Frauen hält“ – Ich spielte die Platte, gleich nochmal, so süß heulte es aus den Luftröhren der Nihilisten, und dann „Ich liebe Dich!!“ betheurte (mit „h“) ein Männerchor so infernalisch dröhnend, daß es mir eiskalt den Rücken lief; na, fünf Minuten noch. „Ich fürcht mich so / im Dunkälln – : nach Haàus zu gehen….“ Nun, es war Zeit dem tapferen Blödsinn ein Ende zu machen; Mozart war mir zu schade dazu, so tats denn „Sousa, Washington Post“: „Sie hat ein Kind – sie hat ein kínd-lí-chés-Gémüt“: „daradattá, daradattá: da-dá“: Mann inne Tünn, was kann man Alles in der meilleur des mondes possibles erleben, bzw. veranstalten! Ich versetzte dem Namensschild des Inhabers, freilich war es ein Zahnarzt, einen komplizierten Tritt, und verließ das Lokal, in dem es noch immer blechbläserisch wumpte: „sie hat ein’ Floh – sie hat ein fló-rén-tí-nér-Hút: daradattá, daradattá….“¹⁹⁰

Die Formulierung „singender klingender Melodienreigen“ bezieht sich auf beliebte Radiosendungen im damaligen NWDR, die in loser Folge Unterhaltungsmusik spielten, insbesondere Teile aus Operetten. Im Stil eines solchen Reigens legt der Protagonist Grammophonplatten auf und schaut sich die Hüllengestal-

 Schmidt, Schwarze Spiegel. S. 205 f.  Eine ähnliche Konstellation findet sich in George R. Stewarts Earth Abides. „Nach einiger Zeit entdeckte er in einer Musikalienhandlung ein besseres Grammophon“, heißt es in der deutschen Übersetzung. George R. Stewart, Leben ohne Ende. München 1962, S. 82.  Eco, Einleitung. S. 26.  Schmidt, Schwarze Spiegel. S. 205 f.

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1 Einleitung

tung der Platten an. Zunächst werden die Lieder und ihre Interpreten mit Spott übergossen. Das kennt man. So wird das Erscheinungsbild des in den Bereichen Swing und Big Band tonangebenden Jazzpianisten Duke Ellington (1899 – 1974) genauso mit despektierlichen Kolloquialismen diskreditiert wie Ellingtons Musik („akustische[r] Abfall“).¹⁹¹ Die weitere Musikauswahl des Erzählers gibt philologische Rätsel auf. Auf Mozart, den die Plattensammlung ebenfalls beinhaltet, wird verzichtet, da er nicht in das unterhaltungskulturelle Paradigma passt („war mir zu schade“). Neben Kompositionen der Amerikaner Ellington und John Philip Sousa (1854– 1932), einem Kapellmeister des Marinekorps der USA, hört der Erzähler deutsche Schlager- und Volkslieder. Beziehungsweise ist es im Fall von Sousas „Washington Post“ (1889) wohl die Melodie des Marsches, die hier vom Volkslied „Sie hat ein kindliches Gemüt“ parodierend verwendet wird, wie Roland Burmeister in seinem akribisch-kommentierten Verzeichnis der Musikstellen in Schmidts Texten überlegt.¹⁹² Dafür spricht das Kolon nach der Erwähnung von Sousa, auf den schließlich der deutsche Text des Vexierliedes („Sie hat ein Kind – sie hat ein kínd-lí-chés-Gémüt“) und die erstaunte Äußerung des Erzählers folgen, was man nicht alles „erleben, bzw. veranstalten“ kann. Die musikalische Entlastung von den Texten der Schlager- und Volkslieder – das soll Sousas Instrumental bezwecken – bleibt aus. Doch ist solch eine Entlastung überhaupt notwendig? Der „tapfer[e] Blödsinn“, den man hier abqualifiziert, regt schließlich nicht nur arroganten Tadel an, er bereitet dem Erzähler zugleich allergrößtes Vergnügen (ironisch markiert: „so süß heulte es“, „eiskalt den Rücken lief“). Sein Privatamüsement führt dazu, dass er kaum von den populären Liedern ablassen will („gleich nochmal“, „na, fünf

 Auf die rassistischen Untertöne beziehungsweise auf die zum Teil offen rassistischen Äußerungen der Erzähler in Schmidts Texten wurde an verschiedenen Stellen hingewiesen.Vgl. zum Beispiel: Heinrich Schwier, Niemand. Ein kommentierendes Handbuch zu Arno Schmidts „Schwarze Spiegel“. München 2009, S. 73.  Burmeister hat die Rekurse auf Musik in Schmidts Oeuvre auf über 600 Seiten zusammengetragen und kommentiert. Bei den Quellennachweisen zu den im betreffenden Textausschnitt erwähnten Liedern treten Schwierigkeiten auf, was nahelegt, dass es sich um von Schmidt fingierte oder teilfingierte Titel handeln könnte. So ist „Ich fürcht’ mich so im Dunkeln nach Haus zu gehen“ ein Schlager „aus der Zeit um 1940“, dessen „Text und Verfasser nicht zu ermitteln“ sind. Auch der „Scheich von Pakistan“ ist weder „nachzuweisen“ noch von der „GEMA […] registriert“, steht aber wohl mit dem Song „The Sheik of Araby“ (1921) in Verbindung. Roland Burmeister, Die MusikStellen [sic] bei Arno Schmidt. Chronologisches Stellenverzeichnis zum Gesamtwerk von Arno Schmidt mit Erläuterungen & Kommentaren, Darmstadt 1991, S. 61 f. Im Fall von „Sie hat ein kindliches Gemüt“ lässt sich die von Burmeister nicht angegebene Quelle ergänzen. Das Lied ist Teil der folgenden Sammlung: Hans Ostwald, Erotische Volkslieder aus Deutschland. Berlin 1910, o.S.

1.3.2 ‚Begeisterte Verachtung‘: Ambivalenz am Beispiel von Arno Schmidt

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Minuten noch“). Daraus entsteht ein humorvolles Stück Prosa, das auf die parodierende Nachahmung des Gespielten setzt, indem es Zeilen aus den Schlagern phonetisch überzeichnet („‚im Dunkälln –: nach Haàus zu gehen‘“, „,fló-rén-tín-érHút‘“). Im Fall der bereits durch den Schlager verwendeten Sousa-Melodie handelt es sich dann um eine Verarbeitung zweiter Ordnung. Hinzu kommen Onomatopoetika („‚daradattá‘“), die Verbindungen zur Nonsensästhetik der europäischen Avantgarden herstellen („‚da-dá‘“). Das ist ein großer Spaß in der Einsamkeit der post-atomaren Landschaft. Zwar verlässt der Erzähler nach der Musikeinlage aufgebracht das Haus, da alles so fürchterlich flach ist und er es nicht erträgt. Doch erst weil die Lieder ja derart banal und unterkomplex sind, sorgen sie für die genussvoll zelebrierte Zerstreuung und Erheiterung, das für Schmidts Erzähler so kennzeichnende Echauffieren. Die Begeisterung des Erzählers für das Populäre erinnert entfernt an Susan Sontags Camp-Konzept, das die New Yorker Intellektuelle in den 1960er Jahren in mehreren Essays entworfen hat.¹⁹³ Sontag entwickelt den Begriff anhand der queer community, in der sie einen ausgeprägten Camp-Geschmack beobachtet. Camp meint eine spezifische „Erlebnisweise [sensibility]“,¹⁹⁴ einen ästhetischen Produktions- und Rezeptionsmodus, der die Feier des Künstlichen, des Exaltierten und Markierten, maßlos Übertriebenen, Banalen, aber liebevoll Gemachten bedeutet. Im Sinne von: „es ist gut, weil es schrecklich ist“.¹⁹⁵ Erklärt wird dies am Beispiel von Tiffany-Lampen, den Schauspielerinnen Bette Davis und Anita Ekberg, Schauerromanen, Schlagermusik, aber auch anhand von Rokoko-Kirchen in München oder der Musik von Mozart. Camp „zieht mich stark an und stößt mich fast ebenso stark ab“,¹⁹⁶ hält Sontag im Vorwort ihrer tentativen Anmerkungen zum Konzept fest. Wie verhält sich das zu Ecos Ambivalenzbeobachtung und zu Schmidts „Schwarze Spiegel“? Schlager, Mozart und die gemischte Empfindung des einzelgängerischen Erzählers könnten als Parallelen zu Camp aufgefasst werden, doch Sontags Konzept lässt sich allenfalls indirekt zu der in „Schwarze Spiegel“ beschriebenen Musikeinlage in Beziehung setzen. Denn es passt allgemein kaum zu den Werthierarchien, die der bundesrepublikanischen Literatur der 1950er Jahre zu Grunde liegen. Man sieht das in der Erzählung schon daran, dass Mozart von den

 Vgl. etwa Sontag, Anmerkungen zu ‚Camp‘ (Notes on ‚Camp‘). S. 322– 341 sowie Susan Sontag, Die Einheit der Kultur und die neue Erlebnisweise (One Culture and the New Sensibility), in: Sontag, Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen. Deutsch von Mark W. Rien, Frankfurt a. M. 1989, S. 342– 354.  Sontag, Anmerkungen zu ‚Camp‘. S. 322.  Sontag, Anmerkungen zu ‚Camp‘. S. 341.  Sontag, Anmerkungen zu ‚Camp‘. S. 322.

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1 Einleitung

Schlagern ferngehalten wird, um ihnen nicht nebengeordnet zu werden, nicht nivelliert zu werden. Die sensibility des Erzählers ist eine andere: Der Unterschied besteht darin, dass Camp den Gegenständen zwar Begeisterung („Liebe“),¹⁹⁷ aber keine Verachtung entgegenbringt. Camp ist vielmehr „eine Form des Genusses, der Aufgeschlossenheit – nicht aber des Wertens“¹⁹⁸ beziehungsweise des Abwertens, auf das sich Schmidts Erzähler leidenschaftlich kaprizieren. Das Populäre ist in ihren Perspektivierungen häufig ‚schrecklich‘, aber dadurch noch lange nicht ‚gut‘ im Sinne kultureller Valorität, an der sich Schmidts Texte exzentrisch abarbeiten. Camp zielt, so Sontag, auf die Relativierung von Wertnormen, auf die „Entthronung des Ernstes“.¹⁹⁹ Auch Schmidt verfolgt eine Korrektur normativästhetischer Wertigkeit, ohne dabei jedoch die Grenze zwischen E- und U-Kultur zu diffundieren, wie es Sontag macht. Im Fall von Schmidt sind es emphatische Aufwertungen marginalisierter Autoren wie Cooper, May oder Stewart, die den Kanon zwar reorganisieren, aber die hierarchische Wertlogik, die rubrizierende Unterteilung in wertige (E) und weniger wertige (U) kulturelle Güter, letztlich unangetastet lassen. Vom existenzialisierenden Geraune à la Bachmann ist das alles weit entfernt. Wie „Schwarze Spiegel“ zeigt, sind Schmidts Rekurse auf das Populäre konkret, idiosynkratisch und mitunter zynisch. Im Gegensatz zu Bachmanns „Reklame“ streben diese Rekurse nicht ins Unspezifische-Allgemeine, nicht in die Sphäre groß dimensionierter Zeichen. Stattdessen erheben sie sich souverän bis dünkelhaft über ihre Gegenstände und weisen doch Momente der Ambivalenz auf. Bedeutsames lancieren Schmidts Texte dabei schon deshalb nicht, weil der Humor und die ironischen Distanzgesten ihrer Erzähler dies verhindern. So wird innerhalb des Grammophonabschnitts etwa die Erwähnung von Leibniz’ Theodizee der „meilleur des mondes possibles“ – ein Philosophem, das sich als ,schweres‘ Zeichen anbieten würde – nicht zur Konstruktion von Bedeutsamkeit, zur Gewichtung des Dargestellten funktionalisiert, sondern vielmehr in die uneigentliche Rhetorik des Textes eingegliedert. ‚Die beste aller möglichen Welten‘ ist in den Diegesen des Atheisten Schmidt somit eine, in der neben Christoph Martin Wieland, Jean Paul und anderen hochkulturellen Fixpunkten das Populäre als diskursive Reibungsfläche der Protagonisten seinen rechtmäßigen Platz hat.

 Sontag, Anmerkungen zu ‚Camp‘. S. 326.  Sontag, Anmerkungen zu ‚Camp‘. S. 340.  Sontag, Anmerkungen zu ‚Camp‘. S. 336.

2 Auslassung und Andeutung. Heinrich Bölls Kriegsprosa 2.1 Trümmerliterarischer Schulunterricht: „Wanderer, kommst Du nach Spa…“ „Wanderer, kommst Du nach Spa…“ hat unter den frühen Veröffentlichungen Heinrich Bölls eine zentrale Stellung. Die Kurzgeschichte ist der titelgebende Text von Bölls erstem Erzählungsband.¹ Womit der Text nur singulär aufwartet, ist der Rekurs auf Populäres. „Wanderer kommst Du nach Spa…“ setzt sich dagegen kritisch mit der humanistischen Bildungstradition zur Zeit des Nationalsozialismus auseinander. Mit diesem Schwerpunkt – dem Rekurs auf Hochkulturelles statt Populärkulturelles – folgt die Kurzgeschichte dem Gros der (hoch‐)literarischen Produktion um 1950. Die Analyse von Bölls Nachkriegsprosa beginnt im Rahmen dieser Arbeit also mit einem analytischen Seitenweg, mit einem kanonischen Beispiel der Trümmerliteratur, welches eine Vergleichs- und Kontrastfolie bildet und die weiteren Analysen vorbereitet. In den Kapiteln 2.2 und 2.3 stehen mit „Grün ist die Heide“ und „Der Zug war pünktlich“ anschließend Texte im Fokus, die Populäres in breiter Form inkludieren. Der eingeschlagene Weg ist insofern zielführend, da sich anhand von „Wanderer, kommst Du nach Spa…“ kennzeichnende Verfahrensprinzipien der frühen Prosa Bölls diskutieren lassen. „Wanderer, kommst Du nach Spa…“ zeigt, wie zahlreiche Böll-Texte um 1950 verfahrensmäßig funktionieren und erlaubt anschließend eine Reflexion darüber, wie sich Texte dazu verhalten, die Populäres inkludieren. Dabei sind es die bislang nur wenig von der Forschung in den Blick genommenen Verfahren der Auslassung und Andeutung, etwa inflationär verwendete Auslassungszeichen, die im Vordergrund der Analyse stehen. Des Weiteren ist die Kurzgeschichte mit poetologischen Überlegungen Bölls verknüpft, die Parallelen zum literarischen Realismus des neunzehnten Jahrhunderts offenlegen. Dies ist zentral für die Frage nach der Bedeutungsbildung der Texte, der Art und Weise, wie sie zeichenhafte Bedeutung konstituieren, lancieren, unter Umständen reflektieren und mit dem Populären verknüpfen. „Wanderer, kommst Du nach Spa…“ erzählt von einem jungen Soldaten, der schwer verwundet in ein Lazarett eingeliefert wird. Dieses Lazarett ist, wie sich als wenig überraschende Pointe herausstellt, notdürftig in einem humanistischen

 Heinrich Böll, Wanderer, kommst Du nach Spa… [1949] Opladen 1950. https://doi.org/10.1515/9783110739947-002

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2 Auslassung und Andeutung. Heinrich Bölls Kriegsprosa

Gymnasium untergebracht, in dem der Verwundete noch vor „drei Monate[n]“ unterrichtet wurde.² Bölls Kurzgeschichte funktioniert dabei wie eine Indizienerzählung. Auf seinem Weg in den Operationssaal, den der homodiegetische Erzähler auf einer Trage erreicht, erhärtet sich sukzessive die Vermutung, dass es sich um eben jenes Gymnasium „Friedrich der Große“ in „Bendorf“ handelt.³ Dadurch wird das Lesen von Anzeichen, das Sammeln und Entziffern von Spuren aus dem früheren Schulalltag durch den Erzähler, zum strukturierenden Merkmal des Textes. Die intern fokalisierte Spurensuche beginnt mit der Einlieferung in das Schulgebäude: [D]a waren Türen mit Emailleschildchen: VI a und VI b, und zwischen diesen Türen hing, sanft glänzend unter Glas in einem schwarzen Rahmen, die Medea von Feuerbach und blickte in die Ferne; dann kamen Türen mit V a und V b, und dazwischen hing ein Bild des Dornausziehers, eine wunderbare, rötlich schimmernde Photographie in braunem Rahmen. Auch die große Säule in der Mitte vor dem Treppenaufgang war da, und hinter ihr, lang und schmal, wunderbar gemacht, eine Nachbildung des Parthenonfrieses in Gips, gelblich schimmernd, echt, antik, und alles kam, wie es kommen mußte: der griechische Hoplit, bunt und gefährlich, wie ein Hahn sah er aus, gefiedert, und im Treppenhaus selbst, auf der Wand, die hier mit gelber Ölfarbe gestrichen war, da hingen sie alle der Reihe nach: vom Großen Kurfürsten bis Hitler… Und dort, in dem schmalen kleinen Gang, wo ich endlich wieder für ein paar Schritte gerade auf meiner Bahre lag, da war das besonders schöne, besonders große, besonders bunte Bild des Alten Fritzen mit der himmelblauen Uniform, den strahlenden Augen und dem großen, golden glänzenden Stern auf der Brust. Wieder lag ich dann schief auf der Bahre und wurde vorbeigetragen an den Rassegesichtern: da war der nordische Kapitän mit dem Adlerblick und dem dummen Mund, die westische Moselanerin, ein bißchen hager und scharf, der ostische Grinser mit der Zwiebelnase und das lange adamsapfelige Bergfilmprofil; und dann kam wieder ein Flur, wieder lag ich für ein paar Schritte gerade auf meiner Bahre, und bevor die Träger in die zweite Treppe hineinschwenkten, sah ich es noch eben: das Kriegerdenkmal mit dem großen, goldenen Eisernen Kreuz obendrauf und dem steinernen Lorbeerkranz. Das ging alles sehr schnell: ich bin nicht schwer, und die Träger rasten. Immerhin: alles konnte auch Täuschung sein; ich hatte hohes Fieber, hatte überall Schmerzen. Im Kopf, in den Armen und Beinen, und mein Herz schlug wie verrückt; was sieht man nicht alles im Fieber! Aber als wir an den Rassegesichtern vorbei waren, kam alles andere: die drei Büsten von Caesar, Cicero, Marc Aurel, brav nebeneinander, wunderbar nachgemacht, ganz gelb und echt, antik und würdig standen sie an der Wand, und auch die Hermessäule kam, als wir um

 Heinrich Böll, Wanderer, kommst Du nach Spa… [1949]. In: Böll, Werke. Kölner Ausgabe, hg. von Hans Joachim Bernhard, Bd. 4, Köln 2003, S. 547– 556, hier S. 555.  Böll, Wanderer, kommst Du nach Spa… S. 551 f.

2.1 Trümmerliterarischer Schulunterricht: „Wanderer, kommst Du nach Spa…“

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die Ecke schwenkten, und ganz hinten im Flur – der Flur war hier rosenrot gestrichen – ganz, ganz hinten im Flur hing die große Zeusfratze über dem Eingang zum Zeichensaal; doch die Zeusfratze war noch weit weg. Rechts sah ich durch das Fenster den Feuerschein, der ganze Himmel war rot, und schwarze, dicke Wolken von Qualm zogen feierlich vorüber…⁴

Auffällig sind die zahlreichen indexikalischen Zeichen in Verbindung mit den bestimmten Artikeln: „Auch die große Säule in der Mitte vor dem Treppenaufgang war da“, „Und dort […], da war das besonders schöne […]“.⁵ Durch diese Deiktika orientiert sich der Erzähler im Raum und deutet in der Gedankenrede früh die Lokalisierung des vermuteten Gymnasiums an. Zudem ist das Erzählte durch das verwendete Präteritum als vergangen markiert, weshalb die Anzeichen in der nachzeitigen Betrachtung des Erzählers als verhängnisvoll eingeschätzt werden („und alles kam, wie es kommen musste: der griechische Hoplit“).⁶ Das Sammeln von Anzeichen erfolgt in Bölls Text in Form einer Enumeration. So listet der verwundete Soldat auf dem Weg zum Operationstisch das überwie Böll, Wanderer, kommst Du nach Spa… S. 547 f.  Böll, Wanderer, kommst Du nach Spa… S. 547 f. [meine Hervorhebung, P.P.].  Böll, Wanderer, kommst Du nach Spa… S. 547 f. Käte Hamburgers Kategorie des epischen Präteritums bietet sich insofern nicht für die Analyse dieser Tempuskonstruktion an, als Hamburger davon ausgeht, dass das „Präteritum“ in der Fiktion „seine grammatische Funktion, das Vergangene zu bezeichnen, verliert“. In diesem Sinne wäre eine zeitliche Verfasstheit wie die in Bölls Text vorliegende schlichtweg nicht möglich, weil literarische Texte grundsätzlich ‚präsentisch‘ verfahren würden. Hamburger kommt zu diesem Schluss, da sie literarische Texte als kommunikationsbasierte begreift und die Rezipierenden einer literarischen Aussage in die Tempuskonstruktion der Texte einbindet: „Der Fehler liegt darin, daß in die Definition der Aussage der strukturelle Faktor der Wirklichkeit und damit die Ich-Origo nicht aufgenommen wurde – und zwar die Ich-Origo nicht nur des Aussagenden, sondern auch des Empfangenden der Aussage. […] Die existenzielle Bedeutung der Zeit für das Erlebnis und Phänomen der geschichtlichen Wirklichkeit macht sich darin geltend, daß sie den ‚Sender‘ und den ‚Empfänger‘ der Aussage oder Mitteilung in einem Wirklichkeitsraum und einem Wirklichkeitserlebnis verbindet. Dies gilt sowohl für die Gleichzeitigkeit wie die Nicht-Gleichzeitigkeit der Existenz von Sender und Empfänger. Überdauert, im letzteren Falle, ein Wirklichkeitsbericht seinen Verfasser, in der Form eines gedruckten Buches oder hinterlassener Tagebücher usw., so tritt immer an die Stelle der Ich-Origo des ursprünglichen Mitteilers die des jeweiligen Lesers – wohlverstanden hinsichtlich des Zeiterlebnisses.“ Hamburgers Beispielsatz „Der König spielte jeden Abend Flöte“ aus Kuglers Geschichte Friedrichs des Großen (1840) würde also in einem historiographischen Text „Vergangenes“ mitteilen, „als Romansatz schildert er eine ‚gegenwärtige‘ Situation“, so auch in der Friedrich-Monographie, die sich narrativ-szenischer Verfahren bedient. Käte Hamburger, Die Logik der Dichtung [1957]. Stuttgart 21968, S. 61– 64. Das Problem an Hamburgers Konzept liegt darin, dass es die komplexe Zeitlichkeit literarischer Texte auf ein spezifisches Phänomen hin einebnet und daher die Analyse fiktionaler Tempuskonstruktionen nur eingeschränkt bereichert. Zur textualistisch motivierten Kritik an Hamburger vgl. auch Matías Martínez / Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie. München 91999, S. 72.

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2 Auslassung und Andeutung. Heinrich Bölls Kriegsprosa

gend humanistische Wanddekor des Gymnasiums auf, ‚Dornauszieher‘ reiht sich an ‚Parthenonfries‘, reiht sich an ‚Hoplit‘. Jedoch hängen diese Signaturen der abendländischen Bildungstradition eben auch umstandslos neben den preußischen und deutschen Herrscherbildnissen sowie eugenisch motivierten Abbildungen, den Signaturen des Kriegs und der nationalsozialistischen Ideologie. Über beide Paradigmen – das ästhetisch-bildungsbezogene und das politischideologische – fällt der Erzähler in ähnlicher Weise Geschmacksurteile, die er mit Urteilen über die Machweise der Darstellungen anreichert. Dadurch fallen die zwei Paradigmen schlussendlich in eins. Der ‚alte Fritz‘ gefällt im Speziellen, er ist „besonders schö[n], besonders gro[ß], besonders bun[t]“, das Parthenonfries und die römische Reihe Caesar, Cicero, Marc Aurel werden vergleichbar hervorgehoben („wunderbar nachgemacht“, „echt“ [!], „antik“, „würdig“).⁷ Nur als semiotische Ausnahme mischt sich Unterhaltungskulturelles in den Katalog, wenn das „lange, adamsapfelige Bergfilmprofil“ innerhalb der eugenischen Typisierungen erwähnt wird. Signifikant an den Rekursen in „Wanderer, kommst Du nach Spa…“ ist die bildliche Komponente, das Optische der Enumeration. Das Bild, das sich mit dem abschließenden Blick aus dem Fenster als einem weiteren Rahmen bietet, tritt mit den vorherigen, malerischen Darstellungen in Äquivalenz. So gleicht die brennende Stadt („der ganze Himmel war rot“, vgl. dazu „der Flur war hier rosenrot gestrichen“) in der Wahrnehmung des Soldaten einem Schlachtengemälde, das er ähnlich wie die Darstellungen des humanistischen Kanons attribuiert („schwarze, dicke Wolken voll Qualm zogen feierlich vorüber…“).⁸ Wörtlich benannt wird die Relevanz des Sehens in dem parataktischen, auf die gefühlsmäßige Abstumpfung des Erzählers zielenden Satz „du spürst nichts: kein Gefühl sagt es Dir: nur die Augen; kein Gefühl sagt, daß du in deiner Schule bist“.⁹ Das Sehen ist in dieser Form der Selbstadressierung mehr als eine Orientierung im Raum und ein Mittel zum Zusammentragen der Indizien. Mit dem Motiv der „Augen“ hebt der Text vielmehr auf eines der Grundprinzipien trümmerliterarischen Erzählens ab. In Bölls programmatischem „Bekenntnis zur Trümmerliteratur“ von 1952 heißt es, tatsächlich, die Menschen, von denen wir schrieben, lebten in Trümmern, sie kamen aus dem Kriege, Männer und Frauen, in gleichem Maße verletzt, auch Kinder. Und sie waren scharfäugig: sie sahen. […] [M]an schien uns zwar nicht verantwortlich zu machen dafür, daß Krieg gewesen, daß alles in Trümmern lag, nur nahm man uns offenbar übel, daß wir es

 Böll, Wanderer, kommst Du nach Spa… S. 547 f.  Böll, Wanderer, kommst Du nach Spa… S. 547 f. [meine Hervorhebung, P.P.].  Böll, Wanderer kommst Du nach Spa… S. 550.

2.1 Trümmerliterarischer Schulunterricht: „Wanderer, kommst Du nach Spa…“

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gesehen hatten und sahen, aber wir hatten keine Binde vor den Augen und sahen es: ein gutes Auge gehört zum Handwerkszeug des Schriftstellers.¹⁰

Was sich liest wie ein Plädoyer für die testimoniale Funktion der Literatur – im Sinne von: die Texte sollen Zeugnis geben über die Verletzungen ihrer Protagonisten, denen eine Stellvertreterfunktion zukommt – oder eine praxisbezogene Anleitung zum literarischen Schreiben (Sehen = ‚Handwerkszeug‘), bereitet die Verortung der Trümmerliteratur innerhalb der deutschen Literaturgeschichte vor. Es geht darum, dass man ‚es‘, etwas für die Erfahrungen im Krieg Signifikantes gesehen hat und dieses ‚es‘ zum Gegenstand der Literatur macht. Darauf verweist der Text insistierend, so auch die umständlich platzierte Konjunktion ‚aber‘. Die Fokussierung des Sehens zitiert den Realismus europäischer Prägung herbei, wie er im neunzehnten Jahrhundert die Literatur bestimmte. Charles Dickens wird von Böll als Kronzeuge genannt, seine Romane dienen als Beispiel für eine realistische Literatur, die auf Idyllisierungen verzichtet und ein Sensorium für gesellschaftliche Schieflagen aufweist. Böll hält fest, dass es auf die Balance ankomme, dass die „Augen“ der Autorinnen und Autoren weder „ganz trocken“ noch „ganz naß“, sondern vielmehr „feucht“ sein sollen,¹¹ also eine Mitte finden sollen zwischen verklärenden und defätistischen Darstellungen. Auf diesem Weg könne man „es so sehen, wie es ist“, lautet die essentialistische Konklusion.¹² Davon lässt sich eine Art mittlerer Realismus ableiten, ein Realismus des rechten Maßes, der die Dinge nicht nur ‚sieht‘, sondern gleichsam ‚durchschauen‘ soll, um schlussendlich zu einer Form von ‚Wahrheit‘ durchzudringen.¹³ Weniger pathetisch und mehr in der Terminologie des Realismus selbst ausge-

 Heinrich Böll, Bekenntnis zur Trümmerliteratur [1952]. In: Böll, Werke. Kölner Ausgabe, hrsg. von Arpád Bernáth, Bd. 6, Köln 2007, S. 58 – 62, hier S. 58.  Böll bemüht dafür auch ein Bild von schwarzen (trocken) und rosaroten (nass) Brillen, die man ablegen sollte. Böll, Bekenntnis zur Trümmerliteratur. S. 62.  Böll, Bekenntnis zur Trümmerliteratur. S. 62.  Mit dieser Konstruktion der programmatischen Mitte ist Böll in den 1950er Jahren nicht allein. Von ganz anderer Seite, vom einflussreichen Essayisten und weniger erfolgreichen Lyriker Hans Egon Holthusen, stammt ein Beitrag mit dem Titel „Über den sauren Kitsch“ (1954). Darin plädiert Holthusen für ein ästhetisches Maßhalten. Vor allem die Konjunktur eines dunklen beziehungsweise ‚sauren‘ Kitsches ohne Hoffnungsmoment sieht er als bedenklich an (das entspricht gewissermaßen der Trockenheit bei Böll). Gemeint sind drastische und defätistische Darstellungen im Zusammenhang mit der Weltkriegsthematik, die Holthusen zum Beispiel im Debütband der jungen Lyrikerin Dagmar Nick (Mäyrtyrer, 1947) ausmacht. Sein Verhältnis zum Krieg thematisiert Holthusen 1966 im berüchtigten Beitrag „Freiwillig zur SS“ im Merkur. Vgl. Hans Egon Holthusen, Über den sauren Kitsch. In: Holthusen, Ja und Nein. Neue kritische Versuche, München 1954, S. 240 – 248.

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2 Auslassung und Andeutung. Heinrich Bölls Kriegsprosa

drückt, aber nicht weniger problematisch, heißt das: Die Trümmertexte sollen zu einer Form von Objektivität gelangen. Dieses Programm trifft in der frühen Prosa dann immer wieder auf Stellen, die das angestrebte Maßhalten vollkommen vermissen lassen, wie noch zu zeigen ist. Bereits im hochemotionalen „Bekenntnis“ deutet sich das an, etwa in Form von Bibelzitaten. Wer Augen hat zu sehen, der sehe! Und in unserer schönen Muttersprache hat Sehen eine Bedeutung, die nicht mit optischen Kategorien allein zu erschöpfen ist: wer Augen hat, zu sehen, für den werden die Dinge durchsichtig – und es müßte ihm möglich werden, sie zu durchschauen, und man kann versuchen, sie mittels Sprache zu durchschauen, in sie hineinzusehen.¹⁴

Böll wandelt hier den biblischen Satz „Wer Ohren hat zu hören, der höre!“ aus dem Matthäus-Evangelium (Mt. 13:42) ab. Auch eine Verbindung zum MarkusEvangelium besteht. In Mk. 8:18 warnt Jesu seine Jünger vor den Pharisäern und Herodianern, also vor der Verblendung, vor dem ‚Nicht-sehen-können‘ („Habt ihr denn keine Augen, um zu sehen und keine Ohren, um zu hören?“).

 Böll, Bekenntnis zur Trümmerliteratur. S. 61, zu Dickens vgl. S. 59. Dass die Trümmer- und Kahlschlagliteratur nach 1945 einem emphatischen Wahrheitsbegriff zugeneigt ist, zeigt sich etwa auch in Wolfgang Weyrauchs Anthologie Tausend Gramm (1949), einem Schlüsseldokument des Kahlschlags. Weyrauch geht auf den Begriff ‚Kahlschlagliteratur‘ ähnlich affirmativ ein wie Böll auf den Begriff ‚Trümmerliteratur‘ und auch das testimoniale Sehen hat einen prominenten Platz im „Nachwort“ von Tausend Gramm: „Was aber gibt sie [die deutsche Literatur, P.P.]? Sie gibt einen Kahlschlag in unserem Dickicht. In der deutschen Prosa sind mehrere Schriftsteller erschienen, die versuchen, unsre blinden Augen sehend, unsre tauben Ohren hörend und unsre schreienden Münder artikuliert zu machen. Sie heißen: Gerd Behrendt, Alfred Reinhold Böttcher, Bruno Hampel, Walter Kolbenhoff, Heinz Rein, Hans Werner Richter, Ernst Schnabel, Franzjosef Schneider, Wolfdietrich Schnurre, Helmuth Schwabe. Ich möchte keineswegs für die Geschichtenschreiber praeoccupieren, daß sie, nur sie, unsrer literarischen und essentiellen Wahrheit auf den Fersen sind. Unzweifelhaft sind das die folgenden auch: Helmut Belke, Wolfgang Grothe, Alexander Koval, Ernst Kreuder, Katherina Langen, Rolf Mayr, Hans Erich Nossack, Luise Rinser, Gustav Schenk, Rolf Schroers, Heinz Ulrich, Karl Zimmermann. Ihnen wären, wenn sie noch lebten, Friedo Lampe, glaube ich, und H.G. Rexroth zuzuzählen; sie sind durch den letzten Krieg umgekommen. Aber diese hier sind dessen nicht inne, was jene, die Verfasser des Kahlschlags, praktizieren: die Kahlschläger fangen in Sprache, Substanz und Konzeption, von vorn an.“ Und weiter: Die Schriftsteller des Kahlschlags „schreiben das, was ist. […] Sie fixieren die Wirklichkeit. Da sie es wegen der Wahrheit tun, photographieren sie nicht. Sie röntgen. Ihre Genauigkeit ist chirurgisch. Ihre Niederschrift ist eine Antisepsis.“ Wolfgang Weyrauch, Nachwort [1949]. In: Tausend Gramm. Ein deutsches Bekenntnis in dreißig Geschichten, hg. von Wolfgang Weyrauch, Reinbek bei Hamburg 1989. S. 175 – 183, hier S. 178 f. und 181. Die von Weyrauch betonte Genauigkeit, ‚Chirurgie‘ des Erzählens, geht interessanterweise mit Textverfahren wie Auslassungen und Andeutungen einher, die eben gerade das Gegenteil – Ungenauigkeiten – produzieren.

2.1 Trümmerliterarischer Schulunterricht: „Wanderer, kommst Du nach Spa…“

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Im Falle der bildlichen Enumeration in „Wanderer, kommst Du nach Spa…“ mündet das Böll’sche ‚Durchschauen‘ der Sachlage in die Konsequenz, dass die Ideologien das humanistische Erbe peu à peu pervertiert haben, dass Ästhetik und Politik eine makabre Komplizenschaft eingehen, wie die Äquivalenzbildungen des Textes zeigen.¹⁵ Unter anderem daher rührt auch, trotz der Begeisterung des Erzählers für das Preußische und der unkritischen Bestandsaufnahme eugenischer Typisierungen, der Anti-Kriegs-Aspekt der Kurzgeschichte. Auf das Verhältnis der Trümmerliteratur beziehungsweise des Kahlschlags zum literarischen Realismus geht Moritz Baßler in seiner Verfahrensgeschichte der deutschen Literatur (2015) ein.¹⁶ Er konstatiert, dass vor allem neusachliche Komponenten wie ein nüchtern-berichtender Stil und die Abwehr gegen jegliche Form von Ideologie nach 1945 Konjunktur haben. Einen realistischen Einschlag erhalten die Texte, da sie, bei aller Fixierung des neusachlichen Berichts, auf ein Surplus an Bedeutung zielen, auch wenn dieses Mehr an Bedeutung in den Texten in der Regel eine existenzielle Leerstelle bleibt (wie etwa die Feststellung, dass Gott tot ist).¹⁷ Der entscheidende Punkt: Bei trümmerliterarischen Texten á la Böll handelt es sich um literarischen Realismus nach der Moderne. Die Texte verhalten sich also weitestgehend wie realistische, verfügen aber in moderater Form über die Verfahren, die die moderne Literatur etabliert hat, also beispielsweise über diskontinuierliche Gedankenreden, den Inneren Monolog und so weiter. Ganz im Sinne realistischer Erzählungen operiert Bölls „Wanderer, kommst Du nach Spa…“ entlang eines hermeneutischen Codes, wie ihn Roland Barthes anhand von Balzacs Sarrasine (1830) beschreibt. Der hermeneutische Code zeichnet für die Struktur und Erzähldynamik eines realistischen Textes verantwortlich. Er baut ein „Rätsel“ auf, richtet den Text auf ein „Zentrum“ aus und

 Die Indienstnahme der Ästhetik durch die Politik wie sie in Bölls Text literarisiert auftaucht, erinnert an kulturphilosophische Überlegungen aus dem Bereich der Kritischen Theorie. Walter Benjamin hält im „Nachwort“ des „Kunstwerk“-Aufsatzes (zweite Fassung) fest: „Der Faschismus läuft folgerecht auf eine Ästhetisierung des politischen Lebens hinaus. Der Vergewaltigung der Massen, die er im Kult eines Führers zu Boden zwingt, entspricht die Vergewaltigung einer Apparatur, die er der Herstellung von Kultwerten dienstbar macht. Alle Bemühungen um die Ästhetisierung der Politik gipfeln in einem Punkt. Dieser eine Punkt ist der Krieg.“ Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [1936 / 1955]. S. 506. Dass Böll darauf rekurriert, ist fraglich. Benjamins Essay erschien zunächst 1936 in französischer Sprache und dann 1955 als deutschsprachiger Text in der Bundesrepublik.  Vgl. Baßler, Deutsche Erzählprosa. S. 397– 403.  Vgl. Baßler, Deutsche Erzählprosa. S. 397– 403. Zum Komplex ‚Realismus und Nachkriegsliteratur‘ vgl. auch Claudia Öhlschläger / Lucia Perrone Capano / Vittoria Borsò (Hg.), Realismus nach den europäischen Avantgarden. Ästhetik, Poetologie und Kognition in Film und Literatur der Nachkriegszeit, Bielefeld 2012.

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2 Auslassung und Andeutung. Heinrich Bölls Kriegsprosa

verfährt retardierend, bis er das Rätsel auflöst.¹⁸ Die Frage, deren Beantwortung in Bölls Text bis zum Ende hinausgezögert wird, ist die nach der Verortung des Schulgebäudes. Natürlich impliziert die Beantwortung dieser Frage mehr als die bloße räumliche Lokalisierung der Geschichte. Beim hermeneutischen Code geht es um die Konstruktion, Verzögerung und Auflösung von ‚Wahrheit‘, die sich über die Auflösung des Rätsels artikulieren soll. Auf der Grundlage der Tatsache, dass sich der Erzähler in seiner alten Schule befindet, pointiert der Text somit seine These gegen den Krieg. Die von Barthes skizzierte Verschleppungsmethode des hermeneutischen Codes zeigt sich, wenn der Erzähler zögert, das von ihm Wahrgenommene in Zweifel zieht und die Erzählung als potentiell unzuverlässig markiert („Immerhin: alles konnte auch Täuschung sein; […] was sieht man nicht alles im Fieber!“).¹⁹ Allerdings lassen die Nachzeitigkeit des Erzählten in Verbindung mit den die Antwort vorwegnehmenden Signalen („alles kam, wie es kommen mußte“)²⁰ die Unzuverlässigkeit in eine Pseudo-Verunsicherung münden. Die Antwort auf die Frage ‚Wo befindet sich der Erzähler?‘ ist früh geklärt, sie wird nur aus Gründen der realistischen Erzählökonomie retardiert, um dem Text eine clôture zu ermöglichen, die die thesenhafte Parallelisierung von Bildungswesen und Kriegswesen arretiert. Und das hat in Bölls Text durchaus eine pädagogische Note. Ganz gemäß des trümmerliterarischen Ansatzes soll der Text

 Roland Barthes, S/Z [1970]. Frankfurt a. M. 1976. S. 23 und 78 f. Barthes schreibt: „Die Inventur des hermeneutischen Codes wird darin bestehen, die verschiedenen (formalen) Terme zu unterscheiden, in deren Verlauf ein Rätsel auf sein Zentrum ausgerichtet, gesetzt, formuliert wird, seine Auflösung verzögert und es schließlich aufdeckt […].“ Zum Zusammenhang von ‚Wahrheit‘, ‚Verzögerung‘ und ‚Struktur‘ zieht Barthes eine interessante Parallele zu Jakobsons Konzept des poetischen Codes. Ähnlich wie dieser nährt der hermeneutische Code eine Erwartung: „Die Wahrheit wird gestreift, abgelenkt, sie geht verloren. Dieser Vorfall ist ein struktureller. In der Tat hat der hermeneutische Code eine Funktion, nämlich die, die (mit Jakobson) dem poetischen Code zukommt: ebenso wie (insbesondere) der Reim das Gedicht entsprechend der Erwartung und dem Verlangen nach Rückkehr strukturiert, ebenso strukturieren die hermeneutischen Terme das Rätsel entsprechend der Erwartung und dem Begehren nach Lösung. Die Dynamik des Textes ist (sobald sie eine zu dechiffrierende Wahrheit impliziert) also paradoxal: das Problem besteht darin, das Rätsel in der anfänglichen Leere seiner Antwort bestehen zu lassen; während die Sätze die ‚Abwicklung‘ der Geschichte vorantreiben und nicht umhin können, diese Geschichte zu führen und zu verlagern, handelt der hermeneutische Code entgegengesetzt: er muß in dem Fließen des Diskurses über Verzögerungen verfügen (Schikanen, Haltepunkte, Neigungen); seine Struktur ist wesentlich reaktiv, denn er stellt dem unausweichlichen Fortschreiten der Sprache ein abgestecktes Spiel von Haltepunkten entgegen: ein zwischen Frage und Antwort dilatorischer Raum, dessen Wahrzeichen das ‚Zögern‘ sein könnte, diese rhetorische Figur, die den Satz unterbricht, ihn aufhebt und ablenkt (das Quos ego… bei Virgil).“ Barthes, S/Z. S. 78 f.  Böll, Wanderer, kommst Du nach Spa… S. 548.  Böll, Wanderer, kommst Du nach Spa… S. 547.

2.1 Trümmerliterarischer Schulunterricht: „Wanderer, kommst Du nach Spa…“

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‚durchschauen‘ und dabei, so lässt sich folgern, auch den Rezipientinnen und Rezipienten beim ‚Durchschauen‘ helfen. Die Zweifel sind erst ausgeräumt, als der Erzähler auf dem Operationstisch liegt, der provisorisch hinter der Schultafel im Zeichensaal eingerichtet ist. Auf der Tafel erkennt der Verwundete seine eigene Handschrift: [A]uf der schmierigen Rückseite der Tafel sah ich etwas, was mich zum ersten Male, seitdem ich in diesem Totenhaus war, mein Herz spüren machte: irgendwo in einer tiefen Kammer meines Herzens erschrak ich tief und schrecklich, und es fing heftig an zu schlagen: da war meine Handschrift an der Tafel. Oben in der obersten Zeile. Ich kenne meine Handschrift: es ist schlimmer, als wenn man sich im Spiegel sieht, viel deutlicher, und ich hatte keine Möglichkeit, die Identität meiner Handschrift zu bezweifeln. […] Da stand er noch, der Spruch, den wir damals hatten schreiben müssen, in diesem verzweifelten Leben, das erst drei Monate zurücklag: Wanderer, kommst Du nach Spa… Oh, ich weiß, die Tafel war zu kurz gewesen, und der Zeichenlehrer hatte geschimpft, daß ich nicht richtig eingeteilt hatte, die Schrift zu groß gewählt, und er selbst hatte es kopfschüttelnd in der gleichen Größe darunter geschrieben: Wanderer, kommst Du nach Spa… Siebenmal stand es da: in meiner Schrift, in Antiqua, Fraktur, Kursiv, Römisch, Italienne und Rundschrift; siebenmal deutlich und unerbittlich: Wanderer, kommst Du nach Spa… Der Feuerwehrmann war jetzt auf einen leisen Ruf des Arztes hin beiseite getreten, so sah ich den ganzen Spruch, der nur ein bißchen verstümmelt war, weil ich die Schrift zu groß gewählt hatte, der Punkte zu viele.²¹

Signifikant sind die Übercodierung der Sentenz und vor allem der (Hand‐)Schrift. Das Schriftbild gibt dem Soldaten die Möglichkeit, sich zu entziffern, und bekommt dadurch, Bölls Text benennt das expressis verbis, identitätsstiftende Funktion. Die emotive Seite des Verwundeten wird im Zuge dieses pathetischen Akts des Selbsterkennens reaktiviert, was unmittelbare Folgen für den Duktus der Erzählung hat („mein Herz spüren machte“, „in einer geheimen Kammer meines Herzens erschrak ich tief und schrecklich, und es fing heftig an zu schlagen“).²² Hinzu treten die im Christentum bedeutungsschwangere Zahl Sieben (Tugenden, Todsünden, Schmerzen Mariens etc.) sowie der Hinweis auf die verschiedenen Schrifttypen. Dieses Einüben des genormten Schönschreibens – der Soldat befindet sich im Zeichensaal – lässt sich als ein poetologischer Rekurs des Textes lesen. Das Schönschreiben referiert auf den nach dem Zweiten Weltkrieg despektierlich verwendeten Begriff der literarischen ‚Kalligraphie‘. Gustav René Hocke brachte ihn 1946 mit dem Beitrag „Deutsche Kalligraphie“ in der Zeitschrift

 Böll, Wanderer, kommst Du nach Spa… S. 555 f.  Böll, Wanderer, kommst Du nach Spa… S. 555.

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2 Auslassung und Andeutung. Heinrich Bölls Kriegsprosa

Der Ruf in die Diskussion.²³ In der Folge entwickelte er sich zu einem Antagonismus der ‚Trümmerliteratur‘ und des ‚Kahlschlags‘. Kalligraphie, das ging an der Wahrheit vorbei, war zu manieriert und eskapistisch. Das Schönschreiben misslingt beim Schüler in Bölls Kurzgeschichte, er teilt den Platz an der Tafel falsch ein. Die Setzung der Punkte, auch das grenzt die Stelle von anderen Auslassungen ab, erfolgt im Fall des Sparta-Satzes also bereits an der Tafel, im Raum der Erzählung selbst. Mit ihnen reagiert der spätere Soldat auf das Platzproblem während der kalligraphischen Übung („der Punkte zu viele“).²⁴ Bölls Text rekurriert auf das geflügelte Wort aus Friedrich Schillers Elegie „Der Spaziergang“: „Wanderer, kommst Du nach Sparta, verkündige dorten, du habest / Uns hier liegen gesehen, wie das Gesetz es befahl“.²⁵ Schillers Distichon ist bekanntlich die Übersetzung eines Grabepigramms des griechischen Lyrikers Simonides von Keos, der mit den Versen auf die antike Schlacht bei den Thermopylen zwischen Spartanern und Persern Bezug nimmt. Im Zweiten Weltkrieg wurde dieses Ereignis prominent von den Nationalsozialisten instrumentalisiert, Hermann Göring vergleicht es in seiner Rede „Appell an die Wehrmacht“ (30. Januar 1943) mit den langwierigen und letztlich historisch verlustreichen Gefechten um Stalingrad.²⁶ In der Interpretation der Nationalsozialisten unterstreicht die Schiller-Sentenz Loyalität vor dem Gesetz und Gefolgschaftstreue bis zur Selbstaufgabe – eine Lesart, die Bölls Text aufs Schärfste angreift. Übercodiert ist die Sentenz ferner, da sie durch ihren griechischen Verfasser Simonides von Keos eine indirekte Verbindung zur Mnemotechnik herstellt. Auch wenn Bölls Erzähler bei seiner Wahrnehmung des Raums nicht im engeren Sinne mnemotechnisch verfährt, ist die Relation von Erinnerung und Räumlichkeit zumindest beachtenswert. In textanalytischer Hinsicht von Interesse ist vor allem die Aposiopese der Sentenz. So ähnelt der Körper des Erzählers aufgrund seiner Verletzungen dem Satz an der Tafel, er ist ebenfalls „verstümmelt“: „und nun sah ich es: sie hatten mich ausgewickelt, und ich hatte keine Arme mehr, auch kein rechtes Bein  Gustav René Hocke, Deutsche Kalligraphie [1946]. In: Der Ruf. Eine deutsche Nachkriegszeitschrift. Hg. von Hans Schwab-Felisch. München 1962, S. 203 – 208.  Böll, Wanderer, kommst Du nach Spa… S. 556.  Friedrich Schiller, Der Spaziergang [1795]. In: Schiller, Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. von Georg Kurscheidt, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1992, S. 34– 42, hier S. 38.  Zur Schiller-Sentenz in „Wanderer, kommst Du nach Spa…“ vgl. Manuel Baumbach, ‚Wanderer, kommst Du nach Sparta…‘ Zur Rezeption eines Simonides-Epigramms. In: Poetica, 32, 2000, S. 1– 22. Baumbach regt an, dass die Schiller-Sentenz in Bölls Text „zur ursprünglichen Funktion des Simonides-Distichons zurück[kehrt]“, nämlich als Grabepigramm. So würde der Text die Schultafel vor dem sterbenden Soldaten wie einen Grabstein behandeln. Vgl. Baumbach, ‚Wanderer, kommst Du nach Sparta…‘ S. 4.

2.1.1 Anakoluthe, Aposiopesen und ‚schwere Zeichen‘

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mehr“.²⁷ Die Identität des Erzählers, um diesen Argumentationsgang noch einmal aufzugreifen, ist durch den Krieg buchstäblich gebrochen, irreparabel verletzt.

2.1.1 Anakoluthe, Aposiopesen und ‚schwere Zeichen‘ Aposiopesen, Abbrüche eines Satzes, und Anakoluthe, grammatische Brüche in der Konstruktion eines Satzes, sowie weitere Verwendungsweisen von Auslassungspunkten stellen konstitutive Elemente der frühen Texte Bölls dar. Sie prägen die Texte in solchem Maße, dass ich sie als stilistische Spezifika im Folgenden näher betrachte und mit der Frage nach der Bedeutungskonstitution der Texte verknüpfe. Auslassungspunkte zeigen eine Lücke im Text an, sie „deuten darauf hin, daß ein Wort, Satz- oder Textelement bewußt vom Schreiber weggelassen wurde“, lautet die linguistische Definition.²⁸ Dabei haben die Punkte zugleich kürzende und andeutende Funktion. Es ist einleuchtend, die Auslassungspunkte in Bölls Texten als Teil des trümmerliterarischen Programms zu verstehen, sie als Reaktion einer Literatur zu lesen, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach adäquaten Ausdrucksmodi sucht und auf die prekäre Erzählbarkeit des Krieges eine diskontinuierliche, von Brüchen geprägte Sprache folgen lässt, wie es Ralf Schnell nahelegt.²⁹ Wie aber setzen Bölls Texte im Einzelfall die Auslassungen ein, was sind ihre Funktionen und Effekte? Auffällig am Satz „Wanderer, kommst Du nach Spa…“ ist, dass er als

 Böll, Wanderer, kommst Du nach Spa… S. 556. Zur Körperlichkeit in Bölls Text vgl. Thomas W. Kniesche, Krieg als body sculpting. Die Metamorphosen des männlichen Körpers in den frühen Texten Heinrich Bölls. In: Nachkriegskörper. Prekäre Korporealitäten in der Literatur des 20. Jahrhunderts, hg. von Sarah Mohi-von Känel und Christoph Steier, Würzburg 2013, S. 33 – 44. Kniesche zieht eine Parallele zwischen den Torsi der antiken Büsten und dem verletzten Erzähler und unterstützt damit die an Walter Benjamin geschulte Lesart, dass Bölls Text auf den Barbarismus der bürgerlichen Kultur im zwanzigsten Jahrhundert zielt. Vgl. Kniesche, Krieg als body sculpting. S. 42.  Wolf Peter Klein / Marthe Grund, Die Geschichte der Auslassungspunkte. Zu Entstehung, Form und Funktion der deutschen Interpunktion. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik, 25, 1997, S. 24– 44, hier S. 26.  „Die frühen Erzählungen Heinrich Bölls sprechen von diesem Problem [der Erzählbarkeit des Krieges, P. P.] fortwährend, auch wenn sie es nicht zu ihrem Gegenstand machen. Er hat ihm mit dem Mittel einer konsequenten Vereinfachung, ja Einfachheit in Sprache und Syntax Ausdruck gegeben. […] Der schmucklos-parataktische Bau der Sätze wie deren unprätentiöse Konstruktion, die präzisen Detailbeschreibungen, das Anakoluth, die lautmalerischen Mittel – dies sind Elemente einer ‚Trümmersprache‘, die in den Erzählungen Heinrich Bölls auf eine unmittelbare Vergegenwärtigung des Geschehens, eines Eindrucks, einer Stimmung aus dem Kriegserleben angelegt ist“. Schnell, Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945. S. 90 f.

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2 Auslassung und Andeutung. Heinrich Bölls Kriegsprosa

unvollständiges Zitat auf seine Vervollständigung oder besser auf seine Aktualisierung im neuen Kotext drängt. Dieses Phänomen kann man als „appellativ[e]“ Funktion der Auslassung bezeichnen, als „Anweisung an den Leser, selber die Lücke zu ergänzen“.³⁰ Jede Auslassung fragt potentiell nach ihrer Ergänzung, führt die Frage mit sich, was ausgelassen wurde, insbesondere, wenn es sich um ein gekürztes Zitat handelt. Bei einer lexikalischen Auslassung wie ‚Verflixt und…‘, ist die Ergänzung der Redensart durch den Rückgriff auf unser kulturelles Wissen unproblematisch, es sei denn, es handelt sich um den besonderen Fall einer idiosynkratischen Abwandlung konventionalisierter Rede. Auslassungen in Texten werden, so das strukturalistisch-kultursemiotische Verständnis, unter dem Rückgriff auf die zur Verfügung stehenden textuell-kulturellen Paradigmen ergänzt. Die Auslassungspunkte markieren, dass der Text im Syntagma etwas weglässt, was dort auch stehen könnte, dass sich also etwas auf der paradigmatischen Achse, in absentia, befindet. Dies kann man in manchen Fällen aktualisieren, allerdings sind die Grade der Aktualisierung von Fall zu Fall verschieden. Auslassungen in literarischen Texten lassen sich nur selten so umstandslos aktualisieren, wie es anhand der Redensart möglich ist. In der Literatur hat die Aktualisierung einer markierten Lücke oftmals erhebliche Konsequenzen für die Interpretation. Auslassungen sind sensible Punkte der Lektüre. Im Falle der Sparta-Sentenz zieht die Auslassung eine Revision der Aussage des Schiller-Zitats nach sich. Bölls Text überlässt nichts dem Zufall, denn im markierten Kontrast zum Sparta-Zitat – lies: die Spartaner / Wehrmachtssoldaten sind folgsam und sterben einen Heldentod – steht die histoire selbst, die die Sentenz durch die physische und psychische Verwundung des Erzählers als dysfunktional und zynisch offenlegt.³¹ Man aktualisiert also primär auf der Grundlage des vorliegenden Textes, der neuen textuellen Umgebung des Zitats. Die Schillersentenz ist nur die markanteste Auslassung. Zum Teil sind die frühen Texte Bölls geradezu durchsetzt von Aposiopesen, Anakoluthen, von Auslassungen verschiedener Art. In „Wanderer, kommst Du nach Spa…“ ist dieses Phänomen eng mit der Gedankenrede des Erzählers verbunden, so markieren die Punkte die Emotionalität der Rede, die Sprunghaftigkeit des Denkens, den in Sprache übertragenen psychischen Zustand des Erzählers im Generellen. Hierbei ist die Zunahme der Auslassungen vom Erzählungsbeginn zum Erzählungsende

 Klein / Grund, Die Geschichte der Auslassungspunkte. S. 26.  Dass die Aposiopoese auf eine Aktualisierung des Orts hinweist, ist wenig plausibel und nur mit einem Hinweis auf die Unzuverlässigkeit des Erzählers vertretbar. So sind das rheinlandpfälzische Bendorf und das belgische Spa über 200 Kilometer voneinander entfernt, während der Erzähler eine Fahrt von „fast dreißig“ Kilometern erwähnt. Vgl. Böll, Wanderer, kommst Du nach Spa… S. 550.

2.1.1 Anakoluthe, Aposiopesen und ‚schwere Zeichen‘

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auffällig, die Rede dynamisiert sich aufgrund gesteigerter Erregung beim Erkennen des Schulgebäudes und der anstehenden Operation. Anakoluthie ist ein „Bruch der regulären Satzfügung“, sie tritt auf, rhetorisch wertend formuliert, als „‚Konstruktionsentgleisung‘“, „‚Störung des syntaktischen Gefüges‘“, die in einen Neuansatz der Rede innerhalb des unterbrochenen Satzes münden kann.³² Dass die lückenhaften Andeutungen mitunter gravierende Konsequenzen für den Text haben, indem sie in seine Semantik eingreifen, zeigt folgender Passus: Die Artillerie schoß ruhig und regelmäßig, und ich dachte: gute Artillerie! Ich weiß, das ist gemein, aber ich dachte es. Mein Gott, wie beruhigend war die Artillerie, wie gemütlich: dunkel und rauh, ein sanftes, fast feines Orgeln. Irgendwie vornehm. Ich finde, die Artillerie hat etwas Vornehmes, auch wenn sie schießt. Es hört sich so anständig an, richtig nach Krieg in den Bilderbüchern… Dann dachte ich daran, wieviel Namen wohl auf dem Kriegerdenkmal stehen würden, wenn sie es wieder einweihten, mit einem noch größeren goldenen Eisernen Kreuz darauf und einem noch größeren Eisernen Lorbeerkranz, und plötzlich wusste ich es; wenn ich wirklich in meiner alten Schule war, würde mein Name auch darauf stehen, eingehauen in Stein, und im Schulkalender würde hinter meinem Namen stehen – „zog von der Schule ins Feld und fiel für…“ Aber ich wusste noch nicht, wofür, wusste noch nicht, ob ich in meiner alten Schule war. Ich wollte es jetzt unbedingt herauskriegen. Am Kriegerdenkmal war auch nichts besonderes gewesen, nichts Auffallendes, es war wie überall, es war ein Konfektionskriegerdenkmal, ja, sie bekamen sie aus irgendeiner Zentrale…³³

Dieser Textabschnitt folgt, ähnlich wie die unvollständige Sentenz „Wanderer, kommst Du nach Spa…“, einer Revisionslogik. Zunächst versucht der Erzähler, seine schwere Verwundung mit möglicher Todesfolge in das Heldennarrativ des Nationalsozialismus einzugliedern. Durch die Geräuschkulisse der Artillerie erhält die Situation für ihn eine „vornehm[e]“ Atmosphäre. Hier fällt die erste Auslassung des Absatzes auf, die den akustischen Reiz in die dominante Sphäre der Diegese, in die Bildlichkeit, überträgt: „richtig nach Krieg in den Bilderbüchern…“. In diese Auslassung lagern sich die heroisierten, „anständig[en]“ Bilder des Krieges ein, die sich in absentia befinden.³⁴ Den meisten Böll-Leserinnen und -Lesern dürfte das anvisierte Bildrepertoire durch propagandistische Kriegsbilderbücher wie Unsere Soldaten oder Deutschland siegt! (beide 1940) sowie die massenhaft zirkulierten Wehrmachtspostkarten klar gewesen sein. Die Auslas-

 Willy Sanders, s.v. Anakoluth. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Bd. 1. Tübingen 1992, Sp. 485 – 495, hier Sp. 485 und 487.  Böll, Wanderer, kommst Du nach Spa… S. 552.  Böll, Wanderer, kommst Du nach Spa… S. 552.

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2 Auslassung und Andeutung. Heinrich Bölls Kriegsprosa

sungspunkte sind also ein Paradigmatisierungssignal, sie zielen auf die jeweilige kognitive Amplifizierung des nur Erwähnten durch das kulturelle Wissen der Rezipientinnen und Rezipienten. Das kann entweder affirmativ, kritisch oder ambivalent ausfallen, wobei Bölls Text eine vereindeutigende Lektüre lanciert. Revidiert wird der Selbstheroisierungsversuch in der zweiten Auslassung, „‚zog von der Schule ins Feld und fiel für…‘“.³⁵ Hier hat man es mit einer ‚harten‘ Aposiopese zu tun, dem übersetzungsgetreuen ‚Verstummen‘ des Erzählers, einem Satzabbruch, der die Rede syntaktisch unvollständig enden lässt. Der Satz scheitert daran, dass der Erzähler ihn nicht formelhaft-militärisch beendet (z. B. ‚für das Vaterland‘). Die Angabe eines weiteren Grundes, nach dem offenbar gesucht wird, misslingt und sorgt im Rahmen der Interpunktion für eine semantische Leerstelle, die, es sei kurz daran erinnert, zahlreiche Nachkriegstexte inszenieren und umkreisen. Daraufhin mehren sich die Zweifel, es stellt sich wieder die Frage nach dem Ort und das „Kriegerdenkmal“, in dem sich der Protagonist kurz zuvor verewigt gesehen hat, ist plötzlich austauschbar. Mit der letzten Auslassung, „sie bekamen sie aus irgendeiner Zentrale…“,³⁶ wird der Argwohn gegenüber dem Konzept des Soldatischen verstärkt. Dies liegt nicht zuletzt an der Vagheit der Formulierung ‚irgendeine Zentrale‘, die Assoziationen an einen ebenso auswechselbaren Staatsapparat weckt, der die soldatischen Tode bürokratisch in Stein notiert und damit entindividualisiert. Von einem Heldentod fehlt hier jede Spur. Auch über den Status des Erzählers gibt der Passus Aufschluss. Ausgehend von der Tempuskonstruktion des Satzes „Aber ich wusste noch nicht, wofür [ich fiel]“³⁷ stellt sich die Frage, ob man es mit einem verstorbenen Erzähler zu tun hat, der nachträglich die letzten Momente seines Lebens berichtet beziehungsweise mit einem Bericht aus einer Nahtoderfahrung heraus. Ähnlich existentielle Erzählformen verwenden nach 1945 verschiedene Autorinnen und Autoren, etwa Ilse Aichinger in der „Spiegelgeschichte“ (1949), die ein Leben vom Tod an rückwärts erzählt, oder Hans-Erich Nossack im Roman Spätestens im November (1955).³⁸ Die Überlegung wird unterstützt, wenn man dem symbolischen, letzten Satz der Geschichte nachgeht, der ebenfalls mit Auslassungspunkten endet. Während der Operation erkennt der Verwundete den Hausmeister Birgeler wieder, der nun dem operierenden Arzt in seiner neuen Rolle als Sanitäter assistiert. Die

 Böll, Wanderer, kommst Du nach Spa… S. 552.  Böll, Wanderer, kommst Du nach Spa… S. 552.  Böll, Wanderer, kommst Du nach Spa… S. 552.  Vgl. Ilse Aichinger, Spiegelgeschichte [1949]. In: Der Gefesselte. Erzählungen I, hg. von Richard Reichensperger, Bd. 2, Frankfurt a. M. 62005, S. 63 – 74; sowie Hans Erich Nossack, Spätestens im November. Roman, Frankfurt a. M. 1955.

2.1.1 Anakoluthe, Aposiopesen und ‚schwere Zeichen‘

75

Reaktion des Erzählers lautet: „‚Milch‘, sagte ich leise…“.³⁹ Der Text platziert abschließend dieses bedeutungsschwangere Zeichen, dessen Ausdeutung durch die Punkte herausgefordert wird und schlussendlich semantisiert werden kann. Böll verzichtet auf Hermetismen, auch in den Auslassungen. Das Symbol „Milch“ erklärt sich im Zusammenhang mit dem „grauem, kleinen Stübchen“ des Hausmeisters, das der Erzähler zuvor beiläufig erwähnt: „Sicher trugen sie den, der neben mir gelegen hatte, unten hin, wo die Toten lagen, vielleicht lagen die Toten in Birgelers grauem, kleinen Stübchen, wo es nach warmer Milch roch, nach Staub und Birgelers schlechtem Tabak…“.⁴⁰ Vor dem Hintergrund dieser augenfälligen Kookkurrenz der Zeichen ,Milch‘ und ,Tod‘ (man denke auch an Celans „Schwarze Milch der Frühe“) sowie der Tempuskonstruktion lenkt der Text unweigerlich in die Lesart, dass man es mit einem bereits verstorbenen oder im Nahtod befindlichen autodiegetischen Erzähler zu tun hat.⁴¹ Gesteuert wird diese Lektüre maßgeblich durch die Verwendung der appellativen Auslassungszeichen. Die Kombination von Auslassungspunkten und ‚schweren Zeichen‘ verdient eine zusätzliche Betrachtung. Dafür bietet sich noch einmal der anfängliche Wandkatalog des Soldaten an: „im Treppenhaus selbst, auf der Wand, die hier mit Ölfarbe gestrichen war, da hingen sie alle der Reihe nach: vom großen Kurfürsten bis Hitler…“⁴² Was würde sich ändern, hätte der Text den Passus mit einem Punkt beendet? Anders als etwa beim Hopliten lässt der Erzähler seine Reihung unkommentiert. Man könnte annehmen, dass es lediglich eine beiläufige Nennung ist, aber das Gegenteil ist der Fall. Die Auslassungspunkte zeigen an dieser Stelle mehr an, als dass es sich um Gedankenrede handelt und der Erzähler während des Transports durch das Gebäude blickt, um dann seinen Blickfokus auf das Gemälde Friedrichs des Großen zu legen. Vielmehr fokussiert der Text das ohnehin stark semantisierte Zeichen ‚Hitler‘ durch die Interpunktion in ostentativer Weise. Ein Punkt würde der elliptischen Reihe „vom Kurfürsten bis Hitler[.]“ eine Form von Nebenrangigkeit und Finitheit verleihen, die durch die Auslassungspunkte umgangen wird. Die Punkte haben also auch hier appellativen Charakter, sie regen die Rezipientinnen und Rezipienten zur weiteren Semantisierung und Interpretation der Textstelle an, nur dass dies, wie mir scheint, nirgends hinführt außer in die Maximierung, die Betonung des ‚schweren Zeichens‘ selbst: in die

 Böll, Wanderer, kommst Du nach Spa… S. 556.  Böll, Wanderer, kommst Du nach Spa… S. 554.  Weitere Aspekte sprechen dafür, zum Beispiel die mehrfache Bezeichnung des Getragenwerdens durch die Sanitäter als ‚Schweben‘ und das umfangreiche Erzählen über den Abdruck eines christlichen Kreuzes an der Wand, nachdem von Birgelers Stube die Rede war. Vgl. Böll, Wanderer, kommst Du nach Spa… S. 554.  Böll, Wanderer, kommst Du nach Spa… S. 548.

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2 Auslassung und Andeutung. Heinrich Bölls Kriegsprosa

Andeutung von Bedeutung.⁴³ Was damit vorliegt, ist eine Relevanzmarkierung in doppelter Hinsicht. Worum es letztlich geht, ist die Vergrößerung der texteigenen Fallhöhe durch die markierte Platzierung ‚schwerer Zeichen‘. Im Diskurs über die literarische Interpunktion haben solche vagen Verwendungen den Auslassungspunkten einen heiklen Status eingebracht. Einer der schärfsten Kritiker ist Adorno, der die Punkte in seiner Textsammlung Satzzeichen (1958) mit einem ästhetischen Täuschungsmanöver vergleicht: Die drei Punkte, mit denen man in der Zeit des zur Stimmung kommerzialisierten Impressionismus Sätze bedeutungsvoll offen zu lassen liebte, suggerieren die Unendlichkeit von Gedanken und Assoziationen, die eben der Schmock nicht hat, der sich darauf verlassen muß durchs Schriftbild sie vorzuspiegeln.⁴⁴

Kommerzialisierung und Suggestion sind, wie häufig in Adornos Texten, die Leitpunkte der kulturkritischen Argumentation. Gegen die zweckgerichtete und maßvolle Verwendung von Anakoluthen und auch Aposiopesen bringt der Text nichts vor, es sind die ‚Vorspiegelung‘ von Bedeutung, Ideenreichtum und potentiell infiniter Anschlussfähigkeit, die mit einem konfektionierten, literarischen Dilettantismus in Verbindung gebracht werden. Die Verwender der Auslassungspunkte sind, jiddisch formuliert, ‚Schmocks‘, Tölpel und Täuscher, die durch Geschwätz auf sich aufmerksam machen. In ähnliche Richtung geht ein Beitrag von Ernst Osterkamp, der mit einer Polemik gegen den Literaturkritiker Joachim Kaiser beginnt. Im Zeitungsartikel „Genial und geschmacklos“ (Süddeutsche Zeitung vom 20.07. 2010) diskutiert Kaiser die ästhetische Qualität von Rilkes Sonetten an Orpheus (1923), die gewiss stark auf der Stimmungsklaviatur spielen, von Kaiser aber als vollendet eingeschätzt werden. In der Auseinandersetzung mit einer Position Adornos lässt

 Eine kühne, simplifizierende und auf clôture bedachte Lektüre würde schlussfolgern, dass der Text mit der Betonung ein Superzeichen in Position bringt. Dann ließe sich ‚Hitler‘ als pars pro toto für das NS-System lesen, gleichsam als individualisierte Wurzel des Barbarismus verstehen, den Bölls Text skizziert.  Der Passus endet mit einer Spitze gegen den George-Kreis, der von drei auf zwei Punkte umstellt: „Reduziert man aber, wie die Georgeschule, jene den unendlichen Dezimalbrüchen der Arithmetik entwendeten Punkte auf die Zahl zwei, so meint man, die fiktive Unendlichkeit ungestraft weiter beanspruchen zu können, indem man, was dem eigenen Sinn nach unexakt sein will, als exakt drapiert. Der Interpunktion des unverschämten Schmocks ist die des verschämten nicht überlegen.“ Theodor W. Adorno, Satzzeichen [1958]. In: Adorno, Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann. Bd. 11, Frankfurt a. M. 1974. S. 106 – 113, hier S. 109.

2.1.1 Anakoluthe, Aposiopesen und ‚schwere Zeichen‘

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Kaiser seinen Absatz dann ausgerechnet mit drei Punkten enden. Osterkamp attestiert dieser Auslassung „Wirkung ohne Ursache“:⁴⁵ Kaiser verwendet die Auslassungspunkte nicht in ihrer ursprünglichen Funktion, ein ausgeschlossenes Textelement graphisch zu bezeichnen oder eine Aposiopese zu markieren, sondern er setzt sie als Stilmittel ein. Die Funktion dieses Stilmittels besteht darin, den Leser darauf aufmerksam zu machen, dass der Autor noch viel zu sagen hätte, was er an dieser Stelle nicht sagen kann, in anderem Zusammenhang aber durchaus zu sagen wüsste. Die drei Punkte bezeichnen also nichts prinzipiell Unsagbares oder Unaussprechliches, sondern, im Gegenteil, die nicht begrenzbare Fülle dessen, was der Autor noch sagen könnte, aus situativen Gründen aber nicht sagt. Und weil dies so ist, ist das einzig Unaussprechliche, was diese drei Punkte tatsächlich bezeichnen, die grenzenlose Eitelkeit des Autors. Sie ist grenzenlos auch deshalb, weil sie die Substitution der Auslassungszeichen durch inhaltliche Aussagen vollständig dem Leser überlässt, von dem sie voraussetzt, dass er dem Autor jede, aber auch jede substantielle Aussage zutraut.⁴⁶

‚Warum deutet der Text an, was er prinzipiell ausdrücken könnte?‘, ist die rhetorische Frage der Auslassungskritiker Adorno und Osterkamp, deren implizierte Antwort, ‚aus Unvermögen und Eitelkeit‘, lautet. Auslassungspunkte indizieren, so die Schlussfolgerung, schlechten Stil und sind daher zu vermeiden.⁴⁷  Ernst Osterkamp, Drei Punkte. Capriccio über ein Ärgernis. In: Die Poesie der Zeichensetzung. Studien zur Stilistik der Interpunktion, hg. von Alexander Nebrig und Carlos Spoerhase, Berlin u. a. 2012, S. 238 – 258, hier S. 242.  Osterkamp, Drei Punkte. Capriccio über ein Ärgernis. S. 240 f. Der Passus von Kaiser, auf den sich Osterkamp bezieht, lautet: „Solcher Vollendung gegenüber erweist sich auch die boshafteste kritische Aggression als ohnmächtig. Adornos überhebliche Frage: ‚Was ist schon gelungen?‘ kam mir immer ein wenig frivol vor…“ (Süddeutsche Zeitung, 20.07. 2010, S. 10). Ob mit den Auslassungspunkten an dieser Stelle eine ‚substantielle Aussage‘, so Osterkamps Formulierung, suggeriert werden soll, ist fraglich. Eher haben die Punkte eine die Kritik an Adorno unterstreichende Funktion, vor allem in Verbindung mit einer Vokabel wie ‚frivol‘, die ja ‚leichtfertig‘ und ‚bedenkenlos‘ sowie ‚unsittlich‘ und ‚anrüchig‘ meint. Dass sich Kaiser damit der ‚Eitelkeit‘ preisgibt, mag sein, aber wenn, dann ist Kaisers Adorno-Kritik selbst als eitle Pose zu bezeichnen und weniger eine Suggestion von ausgesparter, argumentativer Substantialität.  Einer der wenigen Apologeten der literarischen Lücke ist der Hermeneutiker Jürgen Stenzel. Zwar räumt Stenzel ein, dass die Punkte mehr noch als der ihnen verwandte Gedankenstrich „inflationistischen Gebrauch“ in „manche[n] Trivialromane[n]“ haben. Über die Auslassungspunkte in Thomas Manns Tristan (1903) heißt es aber, dass diese den Satz „in unartikulierte, oft anspruchsvoll unartikulierte Weiten oder Tiefen öffnen“. Das machen sie, indem sie den „Sinn der Worte sinnlich wahrnehmbar noch einmal“ reproduzieren. Stenzel hat Grundlagenarbeit in der literaturwissenschaftlichen Interpunktionsforschung geleistet, im Bereich der Auslassungspunkte stellt er allerdings eine spezielle, ein wenig eigenwillige Überlegung an. Er geht von einer semiotischen beziehungsweise subsemiotisch-sinnlichen Verdopplung von Signifikaten durch die Interpunktion des Textes aus. Sinnlichkeit ist hierbei die zentrale Komponente. Stenzel schreibt von einer „Gebärde“, man „könnte die beschriebene Leistung der Gedankenpunkte

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2 Auslassung und Andeutung. Heinrich Bölls Kriegsprosa

Die Auseinandersetzungen mit dem Komplex der literarischen Auslassung und Andeutung sind von Operationen der Wertung gekennzeichnet. Allenfalls sporadisch werden literarische Texte produktiv auf ihre Verwendung der Auslassungen hin analysiert. Inwiefern lassen sich also Auslassung und Andeutung als Verfahren vor dem Hintergrund des Populären in Bölls Texten diskutieren? Wie bilden die Texte auf diesem Weg Bedeutung beziehungsweise Bedeutsamkeit im Kontrast zum Populären?

2.2 Desavouierte Ikonizität: „Grün ist die Heide“ Die Kurzgeschichte „Grün ist die Heide“ (1949) wurde erst 1983 in einem Band mit Texten aus dem Böll-Nachlass publiziert.⁴⁸ Von der germanistischen Forschung ist der Text bislang unberücksichtigt gelassen worden. Fragt man nach dem Populären in Bölls Texten, erweist sich „Grün ist die Heide“ jedoch als einschlägig. So trägt der Text die Referenz auf den populären Intertext, in diesem Fall auf ein Volkslied nach Hermann Löns, bereits im Titel. Generell haben Lieder und auch Marken, insbesondere aber das titelgebende Lied, in Bölls Nachlassveröffentlichung textkonstitutive Funktionen. Böll schickt seinem Lektor Paul Schaaf „Grün ist die Heide“ gemeinsam mit anderen Erzählungen für den Band Wanderer, kommst Du nach Spa…, schlägt ihm aber letztlich vor, auf den Text zu verzichten.⁴⁹ Die Gründe für diesen Verzicht

mimische Wortdarstellung nennen; mimisch bedeutete dabei die sinnlich-sprachlose Vergegenwärtigung“. Das ‚Gebärdenhafte‘, das sich nach Stenzel an die Punkte anschließt, ist durchaus wörtlich zu verstehen. Jürgen Stenzel, Zeichensetzung. Stiluntersuchungen an deutscher Prosadichtung [1966], Göttingen 21970, S. 107. Man kann versuchen, dieser Lesart zu folgen – oder man geht, wie es hier in strukturalistisch-kultursemiotischer Perspektive passiert, davon aus, dass Auslassungen in Texten Paradigmatisierungen anregen. Dennoch gibt Stenzels Argumentation Aufschluss über das hermeneutische, auf Werkimmanenz beruhende Literaturverständnis der frühen Bundesrepublik, welches diese Position erst ermöglicht. An den jeweiligen Autorinnen und Autoren hängt es nämlich, so Stenzel, ob mit den Punkten Kunst oder triviale Unterhaltung hervorgebracht wird. Der Text, lautet die irritierende Schlussfolgerung, sei nicht das ausschlaggebende Kriterium. „Wie es freilich bestellt ist mit diesem oft [gemeint ist die Häufigkeit des ‚Öffnens‘ von textuellen ‚Tiefen‘, ‚Weiten‘, P.P.], ob da sprachliche Münze aufgewertet oder subjektives Spielgeld ausgegeben wird, das läßt sich nicht an den Zeichen selbst ausmachen, nicht einmal an ihrer Häufigkeit, sondern nur an dem Bild, das man von ihrem Urheber gewonnen hat.“ Stenzel, Zeichensetzung. S. 107.  Heinrich Böll, Grün ist die Heide [1949]. In: Böll, Die Verwundung und andere Erzählungen. Bornheim 1983, S. 183 – 196.  Vgl. Heinrich Böll, Grün ist die Heide [Kommentar]. In: Böll, Werke. Kölner Ausgabe, hg. von Hans Joachim Bernhard, Bd. 4, Köln 2003, S. 652– 656, hier S. 652.

2.2 Desavouierte Ikonizität: „Grün ist die Heide“

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werden im Briefwechsel nicht angegeben und sind aufgrund der mangelhaften Quellenlage nicht lückenlos zu rekonstruieren. Zu bemerken ist jedoch, dass der Text, bei einigen Parallelen, signifikant von der Kurzgeschichte „Wanderer, kommst Du nach Spa…“ abweicht, etwa indem er die interpunktionellen Verfahrensaspekte überbetont. Hier lässt sich also die von den Stilkritikern gescholtene, mit trivialliterarischen Texten in Verbindung gebrachte Inflation der Auslassungspunkte diskutieren. Zudem rekurriert der Text wieder und wieder auf eine Auswahl an Schlagern und Volksliedern, allen voran das titelgebende Hermann Löns-Lied „Grün ist die Heide“. Wie verhalten sich die Auslassungen zu diesen Rekursen? In der Kurzgeschichte fährt ein ehemaliger Wehrmachtssoldat mit der Straßenbahn in eine Stadt, um einen „Auftrag auszuführen“, er soll Zigaretten kaufen.⁵⁰ Mit der Besorgung der Zigaretten geht von Beginn an etwas Anderes, Gewichtigeres einher, da sich in der Stadt die Frau eines gefallenen Kameraden befindet. Der Wehrmachtssoldat soll der Frau die Nachricht übermitteln, dass ihr Ehemann im Krieg gestorben ist. Heterodiegetisch auf den Protagonisten fokalisiert, beginnt die Kurzgeschichte: Die Bahn nahm langsam eine Kurve und hielt. Er hörte Musik aus einer Kneipe, sah im Dämmer die Gaslaternen brennen, irgendwo hinter einem Gartenzaun heraus kam das Lachen junger Mädchen, und er stieg aus. Die Vorstadt war wie alle Vorstädte: zerrissen, schmutzig, mit Gärten durchsetzt und reizvoll, sie hatte den Geruch, den Klang, die Farbe und das ganz unbeschreibliche Fluidum dessen, was uns reizt: der Verlorenheit… Der Mann hörte die Bahn davonkreischen, setzte sein Bündel ab, und obwohl er die Nummer auswendig wußte, griff er wieder in die Tasche und blätterte in seinem Notizbuch: Bülowstr. 14. Nun gab es keinen Weg mehr daran vorbei. Oh, er hatte gewußt, warum er sich geweigert hatte, gerade diesen Auftrag auszuführen und in dieser Stadt die Zigaretten zu holen. Gewiß, es gab viele Bülowstraßen, jede anständige Stadt hatte ihre Bülowstraße, aber nur in dieser Stadt gab es dieses Haus Nr. 14, in dem eine Frau mit dem Namen Gärtner wohnte, der er etwas auszurichten hatte, was vier Jahre zurück lag und was er ihr vor vier Jahren schon hätte ausrichten müssen… Die Gaslaternen beleuchteten den hohen Zaun einer Holzhandlung, der mit riesengroßen, weißen Lettern beschriftet war. Durch die Lücken hindurch sah er die weißen, fast gelben Stapel makelloser Bretter, und er entzifferte müde die Schrift auf der Umzäunung: Gebrüder Schuster, dann trat er einen Schritt zurück, weil die Buchstaben auf dem Zaun groß waren und seinen Augen davonliefen, und las sehr weit hinten, wo schon eine andere Gaslaterne leuchtete: Älteste Holzhandlung am Platze. Wo das letzte E dieser sehr soliden Inschrift zu lesen war, stand ein großes schwarzes Haus, in dem einige Fenster gelb erleuchtet waren, die Fenster waren offen, er sah Lampenschimmer, hörte Radiomusik, und irgendwo hinter ihm

 Heinrich Böll, Grün ist die Heide [1949]. In: Böll,Werke. Kölner Ausgabe, hg. von Hans Joachim Bernhard, Bd. 4, Köln 2003, S. 163 – 170, hier S. 163.

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lachten jetzt wieder die hellen Mädchenstimmen, und es wurde Gitarre gespielt, und ein paar sehr weiche Jungenstimmen sangen: „Wir lagen am Lagerfeuer, Conchita und ich…“, andere Stimmen fielen ein, noch eine Gitarre fing an zu spielen, das Mädchenlachen war verstummt, und der Mann ging langsam den Zaun entlang bis an die zweite Laterne, die genau zwischen dem P und dem L stand. Die blanken Schienen der Straßenbahn liefen weit in eine schmale, engbebaute Straße hinein, deren Front fast ganz tot war, dunkel und erschreckend, die Häuser schienen ausgebrannt zu sein. Der Dämmer war dichter geworden, und er sah jetzt hinten diese tote Front durch eine hochhängende, leise schwankende Lampe erleuchtet, und an dieser Straßenecke stand wieder eine Gruppe junger Burschen, deren Zigarettenenden er sehen konnte. Das mußte der Eingang zur Bülowstraße sein…⁵¹

In „Grün ist die Heide“ endet das Gros der Absätze mit Auslassungspunkten. Die Punkte sind im obigen Zitat in die erlebte Rede des Protagonisten eingebunden, irritierend ist dabei besonders der Satz über die Vorstadt. Dieser Satz ist ein doppeltes Oxymoron. Er macht zunächst eine Aussage über die Durchschnittlichkeit und Tristheit der Vorstadt, die jeder anderen gleiche („zerrissen“, „schmutzig“).⁵² Die Vorstadt müsste also wenig anziehend sein. Daraufhin erklärt er, dass von der Vorstadt ein Reiz ausgehe (Oxymoron 1), und zwar der Reiz der Verlorenheit (Oxymoron 2). An dieser Stelle mündet ein Unsagbarkeitstopos („unbeschreibliches Fluidum“) in die interpunktionelle Markierung von Unsagbarkeit. Die isolierte Formulierung „der Verlorenheit“,⁵³ die zwischen Doppelpunkt und Auslassungspunkten platziert ist, bildet ein kennzeichnendes Motiv der Erzählung, sie beschreibt den Zustand des Protagonisten und zitiert den Diskurs über die menschliche Geworfenheit an, wie er nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem von lebens- und existenzphilosophischer Seite geführt wird. Was genau reizvoll und anziehend an der Verlorenheit ist, kann er nicht präzisieren, er konstatiert es schlicht und lässt es durch die Punkte markiert offen. Im nächsten Absatz kommt das Unbehagen des Protagonisten intern fokalisiert zum Ausdruck („Nun gab es keinen Weg mehr daran vorbei. Oh, er hatte gewußt, warum er sich geweigert hatte“). Zum Ende des ersten Absatzes adressiert die Gedankenrede noch ein unspezifisches Wir („uns reizt“).⁵⁴ Die Stadt, in der sich der Protagonist befindet, mag zwar eine stellvertretende Funktion haben, sie ist wie alle anderen Vorstädte, doch auffällig sind erneut die deiktischen Signale, die in Form von Pronomen die Dringlichkeit des Erzählten unterstreichen („gerade diesen Auftrag auszuführen und in dieser Stadt die Zigaretten zu holen“, „aber nur

   

Böll, Grün ist die Heide. S. 163 f. Böll, Grün ist die Heide. S. 163. Böll, Grün ist die Heide. S. 163. Böll, Grün ist die Heide. S. 163.

2.2 Desavouierte Ikonizität: „Grün ist die Heide“

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in dieser Stadt gab es dieses Haus Nr. 14“).⁵⁵ Entscheidend für den Handlungsverlauf der Erzählung ist, dass der ehemalige Wehrmachtssoldat von der Verlorenheit der Vorstadt affiziert ist und mit der Überbringung der Nachricht konfrontiert wird.⁵⁶ Der Inhalt der Nachricht an die Frau ist zu diesem Zeitpunkt unklar. Der Text könnte den Inhalt mitteilen, unterlässt dies aber aus zwei Gründen. Erstens deutet sich die persönliche Tragweite an, die die Überbringung der Nachricht für die Figur hätte. Die Ausformulierung des Gedachten wird daher figurenpsychologisch vermieden, in den Auslassungspunkten verborgen. Mit der Informationszurückhaltung folgt der Text zweitens den Regeln der realistischen Erzählökonomie. „Grün ist die Heide“ initialisiert zum Ende des zweiten Absatzes sein hermeneutisches Rätsel: Was hätte er ihr schon vor vier Jahren ausrichten müssen? Wird er es tun? Im dritten Passus fokussiert die Erzählung die räumliche Verfasstheit der Diegese. Präzise erfährt man, wo sich der ehemalige Soldat befindet. Distinkte Zeichen im Raum sind bei dieser kleinteiligen Informationsübermittlung die Angelpunkte. Der Unterschied zu „Wanderer, kommst Du nach Spa…“ ist offensichtlich: In „Grün ist die Heide“ werden die Zeichen, also etwa die Lettern ‚E‘, ‚P‘ und ‚L‘ der Inschrift der Holzwarenhandlung entziffert, aber nicht weiter signifiziert, sie sind keine abbreviatorischen Chiffren und auch keine analytischparadigmatisierbaren Zeichen im Gegensatz zu den Wanddekorationen im humanistischen Gymnasium. Eine weitere an den Raum gekoppelte Komponente des Absatzes ist das Oppositionscluster ‚hell / lebendig / warm / bewohnt‘ versus ‚dunkel / leblos / kalt / verlassen‘. In die Dunkelheit der Vorstadt sind wenige Lichtquellen eingelassen, an denen sich Menschen sammeln, etwa die rauchenden „Burschen“ unter der Laterne,⁵⁷ die sich durch die Zigarettenglut bemerkbar machen oder die singende und (‚hell‘) lachende Gruppe in dem gelb erleuchteten Zimmer. Das Lied „Wir lagen am Lagerfeuer, Conchita und ich…“ fügt sich in diese Oppositionsbildung und skizziert eine warme, amourös-lebendige Situation im Modus des Fiktiven. Dass Böll den Titel fingiert hat, ist wahrscheinlich. Die Vervollständigung der Auslassung kann über die benutzte Topik geleistet werden. Wie zahlreiche Schlager konstruiert das aufgerufene Setting des Liedes Heimat durch eine exo-

 Böll, Grün ist die Heide. S. 163 [meine Hervorhebung, P.P.].  Dass es die Bülowstraße ist, die der Protagonist aufsuchen soll, fügt sich in die Codierung der Zeichen in Bölls Texten ein. So wird mit dem Namen Bülow ein Rekurs auf die Geschichte Preußens, das Wilhelminische Kaiserreich sowie auf die Weimarer Republik geleistet. Den Namen Bülow trugen diverse preußische Generäle sowie der Politiker und Reichskanzler Fürst Bernhard Heinrich Martin Karl von Bülow (1849 – 1929, Kanzler von 1900 – 1909).  Böll, Grün ist die Heide. S. 164.

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tisierte, gern diffus ins Spanische oder Mexikanische, strebende Fremde. Pikant ist der mehrdeutige Name Conchita, ein Diminutiv, das auf das Spanische concepción zurückgeht und damit auf die unbefleckte Empfängnis der Jungfrau Maria verweist. Zusätzlich werden das Substantiv concha und sein Diminutiv conchita (Muschel, Muschelchen) im Spanischen als Vulgarismen verwendet. Dann bedeuten sie ‚Vulva‘. Von der singenden Gruppe wendet sich der Protagonist rasch ab. Daraufhin verdeutlicht der Passus, dass die Vorstadtheimat eine Kehrseite besitzt. ‚Dunkelheit‘ und ‚Kriegsvergangenheit‘ werden in Bölls Text auf wenig subtile Weise enggeführt. Der Zweite Weltkrieg ragt, so konstruiert es die Kurzgeschichte, in den Nachkriegsalltag hinein. Es gibt die Überbleibsel von Gefechten in der Straße, „deren Front fast ganz tot war, dunkel und erschreckend, die Häuser schienen ausgebrannt zu sein“.⁵⁸ Auch die verschiedenen Lichtquellen der Vorstadt stellen nur punktuelle Illuminationen dar, das Haus in dem gesungen wird, ist „gro[ß]“ und „schwar[z]“, und dass die „Gebrüder Schuster“ die „Älteste Holzhandlung am Platze“ betreiben, gibt den „gelben, fast weißen Stapel[n] makelloser Bretter“⁵⁹ die Konnotation, dass es vor allem Kontinuitäten sind, die die vermeintlich ‚helle‘ Vorstadt prägen.⁶⁰ Die Kontinuitäten zur Kriegszeit und die Kritik am Heimatlichen artikulieren sich über Einspeisungen der Volks- und Schlagerlieder in den Text. Bevor er zum Haus der Frau des gefallenen Kameraden geht, macht der namenlose Protagonist Halt in einer Kneipe:

 Böll, Grün ist die Heide. S. 164.  Böll, Grün ist die Heide. S. 164.  Eine Konnotation ist nach Eco die „Summe aller kulturellen Einheiten, die das Signifikans dem Empfänger institutionell ins Gedächtnis rufen kann“. Umberto Eco, Einführung in die Semiotik [1968]. Aus dem Italienischen von Jürgen Trabant, München 81994, (UTB. Bd. 105) S. 108. Eco zielt damit auf alltagsweltliche, an die kognitiven Kapazitäten des Empfängers / der Empfängerin gebundene Konnotationen. Barthes präzisiert textualistisch in Bezug auf die Literatur, dass man „Konnotation nicht mit Ideenassoziation verwechsel[n]“ sollte. Diese „verweist auf das System eines Subjekts, jene ist eine dem Text, den Texten immanente Korrelation; oder sie ist, wenn man so will, eine Assoziation, die durch das Textsubjekt innerhalb seines eigenen Systems vollzogen wird.Von der Topik her sind die Konnotationen Sinne, die weder im Wörterbuch noch in der Grammatik der Sprache, mit der ein Text geschrieben wurde, zu finden sind“. Barthes, S/Z. S. 12 f. Demgemäß können literarische Texte mit Konnotationen operieren, die sich erst aus dem textinhärenten Gefüge der Zeichen ergeben; zum Beispiel ‚weiße, makellose Bretter‘, deren mitgeführte Bedeutungen die Fassadenhaftigkeit der Vorstadtgemeinde und die Kontinuität zur Kriegs- und Vorkriegszeit sind.

2.2 Desavouierte Ikonizität: „Grün ist die Heide“

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Er sagte: „Guten Abend“, setzte sich an den Tisch, der gleich neben der Tür stand. Der Wirt hinter der Theke, ein langer schmaler mit dunkelgelbem Teint, nickte ihm zu und fragte laut: „Bier?“ „Ja“, sagte der Mann. Rechts von ihm auf einem Tisch lagen die Krücken eines Amputierten, neben dem dicken Amputierten selbst, der den Hut in den Nacken geschoben hatte, saßen ein Mann und eine Frau mit bekümmerten Gesichtern, die hilflos und müde ihre Biergläser unten umklammert hielten. In einer Ecke spielten sie Karten, und im Radio sang jetzt eine Frau: „Mama sagt, man darf nicht küssen, Mama sagt, das darf man nicht…“ Der Wirt brachte das Bier, und der Mann sagte: „Danke.“ Er legte das Bündel neben sich auf einen Stuhl und suchte aus der Brusttasche eine zerdrückte Zigarette heraus… Das ist es also, dachte er, diese Kneipe. Hier hat er seine „Rosemarie“ gesungen und sein „Grün ist die Heide“, hier hat er geschimpft und doch stolz seine Orden gezeigt, hier hat er Zigaretten gekauft und singend an der Theke gestanden.⁶¹

In dieser lakonischen Szene spulen Bölls Figuren das nachkriegskulturelle Skript ‚Kneipenbesuch‘ in seiner sprachlich-pragmatischen Minimalform ab („Bier?“, „Ja“, „Danke.“).⁶² Auffällig ist die oppositionelle Interferenz, die sich durch die Farbbeschreibung „dunkelgelbe[r] Teint“ einstellt. Das Radio bietet mit dem temporeichen, heiter-exaltierten Charlestonstück „Mama sagt, ich darf nicht küssen“ einen Kontrast zur „bekümmerten“ Kneipenatmosphäre,⁶³ die das Lied in der Ein-Wort-Kommunikation einrahmt.⁶⁴ Die Nennung des Liedtitels gehört zur markierten Intertextualität, sie ist ein Zitat. Gérard Genette beschreibt solche basalen, intertextuellen Formen „als Beziehung der Kopräsenz zweier oder mehrerer Texte, d. h. in den meisten Fällen, eidetisch gesprochen, als effektive Präsenz eines Textes in einem anderen Text“.⁶⁵ Noch nichts ausgesagt ist mit dieser Definition über die Konsequenzen der Kopräsenz für den Text und die Lektüre. Präziser wird die Bestimmung unter Berücksichtigung des medialen Faktors. In der Terminologie der Intermediali-

 Böll, Grün ist die Heide. S. 165.  Böll, Grün ist die Heide. S. 165.  Böll, Grün ist die Heide. S. 165.  Der aus den USA stammende Gesellschaftstanz Charleston, der seit den 1920er Jahren zu Swing und Big Band getanzt wird, war auch im Nationalsozialismus bekannt. Auf der Albumkompilation Lieder der deutschen Soldaten. Vol. 1 (Power Station 2013), die Interpretinnen und Interpreten wie Zarah Leander, Marlene Dietrich, Hans Albers und Heinz Rühmann versammelt, findet sich der Titel „Wir tanzen wieder Charleston“ von Marika Rökk.  Genette, Palimpseste. S. 10.

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tätsforschung handelt es sich um einen „intermedialen Bezug“, genauer um eine literarische „Referenz“ auf das Medium ‚Musik‘.⁶⁶ Dabei konstituiert der literarische Text Bedeutung über die Bezugnahme auf das andere Medium, also über die ausgesparten Lyrics, den Bereich des Sounds, die Interpretin, das Genre sowie den Aufführungskontext außer- und innerhalb der diegetischen Situation. Diese Form bedeutungskonstitutiver (Einzel‐)Referenz ist zugleich ein Rekurs auf das mediale System, in dass das Einzelphänomen eingebunden ist.⁶⁷ Auf das Böll-Beispiel bezogen heißt das: Wenn der Text den Titel des Liedes „Mama sagt, ich darf nicht küssen“ zitiert, geht damit eine explizite oder implizite Kommentierung bezie-

 Irina Rajewsky definiert intermediale Bezüge in Rekurs auf Broich und Pfister als „Verfahren der Bedeutungskonstitution eines medialen Produkts durch Bezugnahme auf ein Produkt (= Einzelreferenz) oder das semiotische System (= Systemreferenz) eines konventionell als distinkt wahrgenommenen Mediums mit den dem kontaktnehmenden Medium eigenen Mitteln; nur letzteres ist materiell präsent“. Der intermediale Bezug unterscheidet sich insofern vom „Medienwechsel“, etwa im Falle der Literaturverfilmung, sowie von der „Medienkombination“, zum Beispiel im Falle des Comics. Irina O. Rajewsky, Intermedialität. S. 157. Zu unterteilen sind intermediale Bezüge ferner in die angesprochene Referenz sowie in „Performanz“. Frauke Berndt und Lily Tonger-Erk erläutern im Anschluss an Rajewsky, dass performative Referenzen von literarischen Texten sich an ihren jeweiligen „medialen Formatvorlagen“ orientieren und „mit sprachlichen Mitteln“ versuchen, „denselben Anschein wie ein anderes Medium zu erwecken bzw. dieselbe Wirkung zu erzielen“, also etwa durch die Verwendung von Onomatopoetika zur Imitation von Musik im Text. Berndt / Tonger-Erk, Intertextualität. S. 160.  Die strukturelle Tragweite des medialen Bezugs innerhalb des literarischen Textes kann mit einem weiteren Begriff Genettes gefasst werden. Mit dem Terminus „Metatextualität“ bezeichnet Genette „die üblicherweise als ‚Kommentar‘ apostrophierte Beziehung zwischen einem Text und einem anderen, der sich mit ihm auseinandersetzt, ohne ihn unbedingt zu zitieren (anzuführen) oder auch nur zu erwähnen“. Genette scheint mir an dieser Stelle etwas umständlich vorzugehen, auch ist die Wahl des Begriffs ‚Kommentar‘ suboptimal. Mit einem Kommentar verbindet man in der Regel die explizite Auseinandersetzung eines Textes mit einem anderen Text, eine markierte Bezugnahme im Sinne einer kritischen Stellungnahme oder Anmerkung. Genau aus diesem Grund erwähnt Genette im gleichen Passus auch die Literaturkritik sowie die „Geschichte der Gattung Literaturkritik […] (Meta-Metatext)“, also eine Abhandlung über eine Textsorte, die andere Texte in markierter Form kommentiert. Genette, Palimpseste. S. 13. Genettes Nachsatz zum potentiell impliziten Vorgehen der Metatextualität beinhaltet, dass das direkte Zitat kein Ausschlusskriterium des Metatextuellen ist, im Gegenteil, die Relationalität beider Texte wird durch die Markierung offenkundig. Nun zitiert Bölls „Grün ist die Heide“ das Lied „Mama sagt, ich darf nicht küssen“ in markierter, also expliziter Form. Der sich daraus ergebende ‚Kommentar‘ ist aber alles andere als explizit, er resultiert vielmehr aus der impliziten Einbindung des Liedes in die Diegese und die histoire des Textes. Der ‚Kommentar‘ manifestiert sich also nicht im literarischen Text, er ist in ihm angelegt und geht aus der Lektüre, der Interpretation des Textes hervor. Ähnlich verhält es sich mit dem titelgebenden Lied „Grün ist die Heide“ und dem Lied „Rosemarie“.

2.2 Desavouierte Ikonizität: „Grün ist die Heide“

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hungsweise Evaluierung des Mediensystems ‚Unterhaltungsmusik‘ und der Distributionsquelle ‚Radio‘ einher.⁶⁸ Um die Relationalität von zitierendem und zitierten Text im Böll-Beispiel näher fassen zu können, ist eine Kontextualisierung notwendig. Die Frau, die der Protagonist nicht benennt oder nicht benennen kann, ist Marika Rökk. „Mama sagt, ich darf nicht küssen“ stammt aus dem Musikfilm Fregola (1948, R: Harald Röbbeling), mit dem Rökk ihr Kinocomeback nach dem Zweiten Weltkrieg gab. Die ungarische Schauspielerin, im Nationalsozialismus ein gefeierter Star,⁶⁹ konnte aufgrund eines durch die Alliierten verhängten Berufsverbots erst ab 1948 wieder Filme drehen. Im gleichen Jahr wurde sie die erste Preisträgerin des Bambi in der Kategorie ‚beliebteste Darstellerin‘. Auffällig ist, dass Bölls Text statt dem Pronomen „ich“ zwei Mal das unspezifischere Pronomen „man“ verwendet.⁷⁰ Das ließe sich als flüchtiger Fehler in der Übertragung des Titels lesen, doch dafür korrespondiert die Veränderung zu reibungslos mit dem Text. Die verwendeten und ausgelassenen Liedverse deuten einen weiteren Konflikt der Kurzgeschichte an. Durch das Pronomen ‚man‘ adressiert der Text weniger die Bühnenpersona Marika Rökk, sondern wird nachdrücklich zu einer normativ-sittlichen Verhaltensregel, zum Hinweis, dass ‚man‘ vorsichtig mit amourösen Avancen umgehen sollte. Im Liedtext heißt es: Ich hab’ es bei den Männern schrecklich schwer, ein jeder kommt mir hinterher. […] Ich habe zwar von Haus aus Temperament, doch sag’ ich jedem Herrn gleich, der mich kennt: Mama sagt, ich darf nicht küssen, Mama sagt, das tut man nicht. Mama muss das schließlich wissen, weil sie aus Erfahrung spricht.

 Berndt und Tonger-Erk formulieren im Anschluss an Rajewsky: „Wenn ein literarischer Text freilich Bilder, Filme, Musik oder schriftliche Dokumente dergestalt zitiert, dass er sie in ihren medialen Eigenschaften thematisiert, kommentiert, reflektiert oder auch parodiert, dann handelt es sich bereits um eine Systemreferenz; in Erweiterung des Medienzitats (Einzelreferenz) und dessen Spielarten könnte man in diesem Zusammenhang von einer Medienkritik (Systemreferenz) sprechen. Bei den intermedialen Bezügen gehen Einzelreferenz und Systemreferenz meistens Hand in Hand: Kein Text-Bild-Bezug, bei dem nicht Visualität, kein Text-Film-Bezug, bei dem nicht Audiovisualität, kein Text-Musik-Bezug, beim dem nicht Musikalität, kein Text-DokumentBezug, bei dem nicht Textualität eine Rolle spielen“. Berndt / Tonger-Erk, Intertextualität. S. 160.  Rökk hat zur Zeit des Nationalsozialismus in diversen Musikfilmen gespielt. Bekannt wurde sie durch ihre Kooperationen mit Johannes Heesters, zum Beispiel in den auf Operetten basierenden Filmen Der Bettelstudent (1936, R: Georg Jacoby) und Gasparone (1937, R: Georg Jacoby).  Böll, Grün ist die Heide. S. 165.

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Mama sagt, ich darf nicht lieben, Mama sagt, das bringt Gefahr. So bin ich allein geblieben, was oft gar nicht einfach war. Kommt dann und wann ein junger Mann, tu ich so als ob – wenn er mich küssen will, sag ich lächelnd: Stop! Hey! Mama sagt, ich soll nicht küssen, weil so viel passieren kann, Mama muß das schließlich wissen, denn sie hat den dritten Mann.⁷¹

Nun ist die Frau des gefallenen Soldaten aber nicht „allein geblieben“, wie die Kurzgeschichte bereits im Kneipengespräch mit dem Wirt und dann nochmal zum Ende nahelegt.⁷² Erläutert wird dies im Rahmen einer internen Fokalisierung, die mit einem Bündel von Epitheta arbeitet, wie man sie etwa aus dem Genre des Arztromans kennt. Bölls Text kulminiert darin, dass der Protagonist vor dem Haus in der Bülowstraße 14 steht und hört, „daß sich dort im Dunkeln ein Paar umarmte: er hörte diese unbeschreiblichen Laute stummer Zärtlichkeit, dieses sanfte Stöhnen, das wie ein verhaltener Schmerz war, und er fühlte, wie ihm das Blut heiß und quälend in den Kopf stieg“.⁷³ Der Text verfährt im Modus der Annahme auf der Grundlage auditiver Wahrnehmung. Dabei wird durch den Erzähler nicht verifiziert, ob es sich tatsächlich um die Frau des gefallenen Soldaten handelt. Da der namenlose Protagonist aufgewühlt durch das Beobachtete umkehrt, bleibt die Frau in Unkenntnis über den Tod ihres Mannes oder zumindest über die genaue Todesart. Populäres bildet auch dabei den Hintergrund. Auf dem Weg zur Straßenbahn nimmt der Protagonist erneut die singende Gruppe junger Männer und Frauen wahr. Die Kurzgeschichte endet folgendermaßen:

 Marika Rökk, Mama sagt, ich darf nicht küssen [1948]. Auf: Rökk, Für eine Nacht voller Seligkeit. Riedikon: Turicaphon / Elite Special o.J. (Club Edition 38543).  In der Kneipe verlangt der Protagonist Auskunft nach dem Gefallenen. Dabei deutet der Wirt an, dass die Frau des Gefallenen mittlerweile mit einem anderen Mann zusammenlebt: „Der Wirt kam, und während er ihm das Geld vorzählte, fragte er leise: ‚Gärtner, war Gärtner früher nicht oft hier?‘ ‚Gewiß‘, sagte der Wirt gleich und glättete den Schein, den er ihm gegeben hatte. ‚Kannten Sie ihn? Willi Gärtner?‘ ‚Ja. Lebt er noch?‘ ‚Nein, ist gefallen.‘ ‚Wann?‘ ‚Oh, ich weiß nicht, ziemlich spät, glaube ich, am Ende. Woher kannten sie ihn?‘ ‚Wir haben zusammen gearbeitet.‘ ‚Bei Plattke?‘ ‚Ja, bei Plattke… und seine Frau, was macht seine Frau?‘ Der Wirt sah ihn erstaunt an. ‚Die ist doch jetzt bei Plattke … sind Sie nicht mehr dort?‘“ Böll, Grün ist die Heide. S. 167.  Böll, Grün ist die Heide. S. 170.

2.2 Desavouierte Ikonizität: „Grün ist die Heide“

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Er hatte große Angst sie zu verpassen, und grundloser Schrecken und grundloser Schmerz saßen in ihm, so daß er nur flüchtig, kurz bevor er die Haltestelle erreichte und stehenblieb, den Gesang der Gruppe hörte, die jetzt irgendwo in der Nähe wieder in den Gärten zu stehen schien. Sie sangen jetzt „Grün ist die Heide“. So ernst und schmelzend, daß in den Pausen kein Lachen mehr zu hören war… Die Bahn hielt, und er war froh, daß er jetzt einsteigen konnte. Er wischte sich den Schweiß ab, sah flüchtig noch einmal den sauber beschrifteten Zaun der Holzhandlung, und er wünschte jetzt, daß die Bahn weit, weit hätte wegfahren können, über den Rand der Welt hinaus…⁷⁴

Das Konzept ‚Heimat‘ ist dysfunktional, zumindest für den Protagonisten. Hingegen wird die Distanz zum Heimatlichen mit der Geminatio „weit, weit“ in konjunktivischer Form artikuliert („hätte […] können“).⁷⁵ Die Punkte in der phrasenhaften Formulierung „über den Rand der Welt hinaus…“ zeigen einerseits den gedanklichen Vorgang des Wünschens, das eskapistische Sinnieren des Protagonisten an.⁷⁶ Andererseits markieren die Punkte die pathetische Formulierung selbst, geben ihr Nachdruck; und stellen den Text damit in den Verdacht existentiellen Auslassungskitsches. Auffällig an der Beschreibung des Gesangs ist der Hinweis, dass der Vortrag des Liedes „ernst“ stattfindet,⁷⁷ dass also im Gegensatz zum „Conchita“-Schlager keine ironisierende Distanzierung zu den Liedversen und der Aufführungssituation seitens der singenden Gruppe passiert. Auch in den Pausen wird Hermann Löns’ „Grün ist die Heide“ in Andacht und Ergriffenheit gefeiert. Die Textstelle lässt an die Jugendmusikbewegung der Nachkriegszeit denken, der Adorno im Essay „Kritik des Musikanten“ (1956) Parallelen zu nationalsozialistischen Jugendbünden attestiert.⁷⁸ Adornos Titel rekurriert auf Fritz Jödes Liedsammlung

 Böll, Grün ist die Heide. S. 170.  Böll, Grün ist die Heide. S. 170.  Böll, Grün ist die Heide. S. 170.  Böll, Grün ist die Heide. S. 170.  Die Pflege deutscher Lieder und die pädagogische Förderung des gemeinsamen Musizierens waren Ziele der Jugendmusikbewegung der 1920er und 1930er Jahre. Eine wichtige Referenz war der Wandervogel der Jahrhundertwende. Adorno zitiert in seinem Essay verschiedene Zeitschriftenartikel seit dem Ende der 1940er Jahre, die sich für die Renaissance der Jugendmusikbewegung aussprechen. Zu der These, die „Jödesche Musikantengilde“ sei faschistoid, heißt es: „Die Singbewegung hat die Erbschaft des zugleich konservativen und scheinrevolutionären Flügels der deutschen Jugendbewegung angetreten. Erleichtert wurde ihr das, weil die bündischen Sonderinteressen jenes Flügels ihn seinerzeit, ohne daß man im Kern allzusehr differiert hätte, in Konflikt mit der Partei brachten. Daher kann man sich heute mit gutem Gewissen auch noch als Widerstandsgruppe fühlen. Unbestreitbar aber ist die Gemeinsamkeit mit dem Faschismus in entscheidenden Positionen: dem Appell an die sogenannte Jugend als eine zugleich dynamische und gesellschaftlich vage Gruppe; der Anbiederung an das Volk und dessen an-

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2 Auslassung und Andeutung. Heinrich Bölls Kriegsprosa

Der Musikant (1923), Jöde war vor und nach 1945 eine der Hauptfiguren der Bewegung. Schon im Ersten Weltkrieg legt er mit Der kleine Rosengarten Kompositionen zu Gedichten von Hermann Löns vor, darunter auch das „Abendlied“ („Rosemarie“), an das der Protagonist von Bölls Text in der Kneipe denken muss. Das gemeinsame Singen des Liedes zündet in der Vorstadt. Was passiert hier in semiotischer Hinsicht? Dean MacCannell hat den Versuch unternommen, die semiotische Dynamik von Aufführungssituationen als das ‚gemeinsame Hochhalten‘ eines ikonischen Zeichens nach Charles Sanders Peirce zu verstehen. Dabei bezeichnet er die von ihm gemeinten Phänomene, etwa das Konzert, das Footballspiel, den Gottesdienst, Bühnenauftritte verschiedener Art, als ‚Spektakel‘, als etwas von einer Gruppe Anzuschauendes, das etwas repräsentiert (lat. spectaculum = ‚Augenweide‘, ‚Schauspiel‘): A spectacle is a semion (cluster of associated signs) ultimately based on iconic representation. In spectacles, beauty is represented by spectacularly beautiful actresses, transcendence is represented by flight (sometimes made possible by an invisible wire), strength is represented by bulging muscles and the act of pulling down the Temple, etc.⁷⁹

In Peirces trichotomischer Unterscheidung von ikonischen, indexikalischen und symbolischen Zeichen ist das Ikon ein „sign which refers to the Object that it denotes merely by virtue of characters of its own“,⁸⁰ während das Symbol auf einer arbiträren Konvention (Rose = Liebe) beruht und der Index von Kontiguitätsund Kausalitätsbeziehungen abhängig ist (etwa Rauch, der auf Feuer verweist). Es handelt sich beim Ikon also um eine Ähnlichkeitsbeziehung, wie in gegenständlichen Darstellungen auf Bildern. Daher konstatiert MacCannell etwas tautologisch, dass das abstrakte Konzept ‚Schönheit‘ zum Beispiel durch eine ‚spektakulär schöne Darstellerin‘ ikonisch repräsentiert werden kann, genauso wie ‚Kraft‘ durch ‚sich spannende Muskeln‘. Diese Abstrahierungen, so MacCannells Präzisierung, die dem Ikon in ethnosemiotischer Weise Merkmale

geblich heile oder naturhafte Kräfte; dem Vorrang des Kollektivs gegenüber dem einzelnen; der Diffamierung des Intellekts nicht minder als der Sinne und jeglicher subjektiven Differenzierung; dem bewährten Verfahren, Rückbildungen als Ursprünglicheres und Echteres, ja als fortgeschrittener denn der Fortschritt auszuposaunen.“ Theodor W. Adorno, Kritik des Musikanten [1956]. In: Adorno, Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann, Bd. 14, Frankfurt a. M. 1973, S. 67– 107, hier S. 75 und 89.  MacCannell, Sights and Spectacles. S. 422.  Charles Sanders Peirce, Collected Papers. Hg. von Charles Hartshorne und Paul Weiss, Bd. 2, Cambridge, MA 21960, § 247, S. 143.

2.2 Desavouierte Ikonizität: „Grün ist die Heide“

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des Symbols zuerkennt, sind jedoch nur gültig für bestimmte kulturelle Gruppen zu bestimmten Zeiten. Ikons haben kollektive Bedingungen.⁸¹ MacCannell zufolge besitzen Performances beziehungsweise „spectacles“ keine pyramidale, sondern eine dialogische Struktur, das heißt, nicht allein der Performende übermittelt Zeichen, seine Performance gelingt vielmehr erst durch die zeichenhafte Reaktion des Publikums. Es entsteht ein „cult“, in dem zwei Parteien aufeinander angewiesen sind. Adressierender und Adressierte sind also in reziproker Form beide auch ihr Gegenteil. Durch diesen ko-partizipativen Akt erzeugen sie gemeinsam das ikonische Zeichen, das funktionstüchtig bleibt, bis eine Partei die Produktion der Ikone unterbricht, etwa durch Unmutsbekundungen oder Performancebrüche.⁸² Nun bezieht sich MacCannell mit seinem an Peirce geschultem Theorem vor allem auf Liveperformances mit jeweils distinkten Akteurinnen und Akteuren sowie mit Publikum. Das in der Gruppe gesungene Volkslied verhält sich anders, es ist kein Spektakel im engeren Sinne des Begriffs, folgt aber trotzdem dem skizzierten Zeichenprozess. Zunächst existiert die hierarchisch-pyramidale Kommunikationssituation nur eingeschränkt, Adressierende und Adressaten bzw. Adressatinnen sind in einer angelegten Gruppenperformance per se schwerer voneinander zu trennen. Auch beim Volkslied spielen zwar in der Regel einige Akteurinnen und Akteure, während andere nur singen, summen oder zuhören. Das, was aber hochgehalten wird, ist präsent, eben durch die jeweilige Interpretation in der Gruppe, und ist zugleich absent durch das Fehlen originärer, distinkter Performerinnen und Performer, könnte man schlussfolgern. Aber was wird ikonisch? Die Ikone, die im Rahmen des gemeinsam gesungenen Lieds in Bölls Text installiert wird, ist, wie mir scheint, die deutsche Volksgemeinschaft. Ein „semion“, wie MacCannell konstatiert, wird die Ikone erst durch das „cluster of associated signs“, das sich an sie anschließt. Mit dem Lied mitgeführt werden die Volksliedtradition in Stellvertretung der singenden Gruppe sowie das Abstraktum ‚Heimat‘. Die Landschaft der Lüneburger Heide bildet einen fiktiven Wunsch-

 „Icons exist in particular relationships to particular groups (e. g., a cult, a group of fanatics, or spectators at a spectacle): they are not found outside of communities which have definite limits.“ Zur Bestimmung der Repräsentation des Objekts durch das ikonische Zeichen insistiert MacCannell: „The relation does not ‚simply happen‘. It requires that some specific someone is in there with the icon saying ‚yes, this is the face of the holy mother‘, or ‚yes, this ninth inning comefrom-behind homer is an orgasmic thrill of a lifetime‘.“ MacCannell, Sights and Spectacles. S. 423.  MacCannell schreibt: „The addresser and addressee are not communicating so much as they are coparticipating in a semiotic production in which they are mutually complicitious in the exaltation of an iconic image. […] The icon unites the addresser and addressee in a cult“. MacCannell, Sights and Spectacles. S. 423 und 426.

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2 Auslassung und Andeutung. Heinrich Bölls Kriegsprosa

raum, eine Idylle, in die man sich singend zurückziehen kann, spielt aber als konkreter Ort in Bölls Text eine untergeordnete Rolle. „Grün ist die Heide“ ist insofern noch ein Sonderfall, da das Lied in Löns einen identifizierbaren Verfasser aufweist und dieser, insoweit er den jeweils Performenden ein Begriff ist (wovon man im vorliegenden Fall ausgehen muss), mit zu einem Teil der Volksliedikone wird. Auch diese Ikone kann fallengelassen werden, zum Beispiel durch Distanzierungsbemühungen von Seiten der singenden Gruppe. Nur unterbleibt das im besagten Fall, die singende Gruppe lässt nichts fallen („kein Lachen [war] mehr zu hören“).⁸³ Distanzierung findet zwar durch die Fokalisierung des Protagonisten statt, aber der nimmt den Gesang nur aus der Entfernung wahr, er gehört dem „cult“ nicht an und kann die Performance nicht stören. Trotzdem wird die Ikone letztlich desavouiert. Wie das textuell geschieht, erläutern die folgenden Überlegungen.

2.2.1 Löns als Kontext Dass die Erzählung das Lied „Grün ist die Heide“ als Ikone in Position bringt, um sie zu deinstallieren, ist nachvollziehbar, aber kontextualisierungsbedürftig. Dazu lohnt erneut ein Blick auf die erste diegetische Erwähnung des Liedes in der Kneipenszene. In der Gedankenrede des Protagonisten heißt es: „Das ist es also, dachte er, diese Kneipe. Hier hat er [der gefallene Soldat, P.P.] seine ‚Rosemarie‘ gesungen und sein ‚Grün ist die Heide‘, hier hat er geschimpft und doch stolz seine Orden gezeigt“.⁸⁴ Diese skizzenhafte, durch den Raum angeregte Charakterisierung imaginiert iterative Kneipenszenen, regelmäßig wiederkehrende Handlungen, die in der Vorstellung des Protagonisten typisch für den Kameraden waren und sich mutmaßlich in ebendieser Kneipe abgespielt haben sollen. Ableiten lässt sich daraus etwa das moderat-ambivalente Verhältnis des Gefallenen gegenüber politischen, den Krieg betreffenden Fragen. Die erwähnten Löns-Lieder besitzen figurenkonstitutive Funktion. Mit dem Possesivpronomen ‚sein‘ zeigt der Text an, dass der Gestorbene „Rosemarie“ und „Grün ist die Heide“ nicht nur regelmäßig gesungen hat. Sie sind das Merkmal, das in der Vorstellung des Protagonisten zuallererst mit ihm verbunden wird. Nahegelegt wird also eine persönliche, sentimentale Beziehung zum Lied, ganz

 Böll, Grün ist die Heide. S. 170.  Böll, Grün ist die Heide. S. 165.

2.2.1 Löns als Kontext

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ähnlich wie es die singende Gruppe kennzeichnet, die Löns „[s]o ernst und schmelzend“ vorträgt.⁸⁵ Bölls Text adressiert das Heidelied als einen Teil der ideologisch-ästhetischen ‚Grundausstattung‘ deutscher Soldaten sowie Zivilisten und Zivilistinnen vor, im und nach dem Zweiten Weltkrieg. Damit referiert er auf die umfangreiche LönsRezeption in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Hermann Löns (1866 – 1914) hatte in den nationalen Diskursen des Wilhelminischen Kaiserreichs ikonischen Status als Heimatlyriker, Romanschriftsteller, Naturschützer und Jäger. Der Dichter Löns repräsentierte Heimat, den deutschen Wald, Deutschtümelei im Generellen. Große Popularität hatten seine Gedichte in den Vertonungen von Karl Blume („Grün ist die Heide“) und dem erwähnten Fritz Jöde („Abendlied“), die beide im Ersten Weltkrieg nach seinem Tod entstanden. Durch die musikalischen Bearbeitungen erhielten die Texte eine Verbreitung, die mit Volksliedern vergleichbar war. Verschiedene Filme knüpften an dieses Phänomen an, etwa Grün ist die Heide von 1932 (R: Hans Behrendt). Das Remake von 1951 (R.: Hans Deppe) machte Grün ist die Heide dann zu einem prägenden Heimatfilm der frühen Bundesrepublik.⁸⁶ Insbesondere die Löns’sche Prosa erweist sich als aufschlussreiche Quelle der Kontextualisierung. Löns’ bekanntester, im Zweiten Weltkrieg kommerziell erfolgreicher und ideologisch vereinnahmter Roman Der Wehrwolf. Eine Bauernchronik (1910) gibt ein kraftmeierndes Porträt der Lüneburger Heide im Dreißigjährigen Krieg. Eine Auswahl aus diesem Text wurde der deutschen Wehrmacht als besonders geeignete Lektüre vom nationalsozialistischen Regime gespendet.⁸⁷ Im Zentrum von Löns’ Roman steht der wehrhafte Bauer Harm Wulf, der sogenannte ‚Wehrwolf‘, der seine Scholle verteidigt. Der Text pendelt dabei zwischen Heimat- und Abenteuerroman, zwischen Naturmotivik und herben, kriegerischen Scharmützeln. Es folgt eine Kostprobe aus dem Kapitel „Die Haidbauern“, welches die Anfänge der Heidebesiedlung erzählt und Konflikte mit Römern sowie Franken abhandelt:  Böll, Grün ist die Heide. S. 170.  In ihren Naturdarstellungen sind die Filme motivisch an das Gedicht angelehnt. Die Lüneburger Heide wird etwa in Hans Deppes Neuverfilmung von 1951 als deutsches Elysium verklärt, in dem man nach der kriegsbedingten Vertreibung eine neue Heimat finden kann.  Vgl. Hermann Löns, Der Wehrwolf. Eine Bauernchronik [1910], Jena 1941 (Dr. Goebbels-Spende für die deutsche Wehrmacht). In diesem Zusammenhang ist auch an die nationalsozialistische Freischärlerbewegung Werwolf (Wehrwolf) zu denken, die für ihre Namensgebung auf den Wolf, bekanntlich das mythisierte Tier des Nationalsozialismus zurückgreift. Das Deutsche Historische Museum bringt die Namensgebung der Freischärler mit dem Roman von Löns in Verbindung.Vgl.: https://www.dhm.de/lemo/kapitel/zweiter-weltkrieg/kriegsverlauf/werwolf (zuletzt aufgerufen am 04. Juni 2021).

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2 Auslassung und Andeutung. Heinrich Bölls Kriegsprosa

Am Anfange war es wüst und leer in der Haide. Der Adler führte über Tage das große Wort, und bei Nacht hatte es der Uhu; Bär und Wolf waren Herren im Lande und hatten Macht über jegliches Getier. Kein Mensch wehrte es ihnen, denn die paar armseligen Wilden, die dort vom Jagen und Fischen lebten, waren froh, wenn sie das Leben hatten und gingen den Untieren liebend gern aus der Kehr. Da kamen eines Abends andere Menschen zugereist, die blanke Gesichter und gelbes Haar hatten; mit Pferd und Wagen, Kind und Kegel kamen sie an, und mit Hunden und Federvieh. Es gefiel ihnen gut in der Haide, denn sie kamen daher, wo das Eis noch bis in den Mai auf den Pümpen stand und im Oktober schon wieder Schnee fiel. Ein jeder suchte sich einen Platz und baute sich darauf ein breites Haus mit spitzem Dach, das mit Reet und Plaggen gedeckt war und am Giebel ein paar bunte Pferdeköpfe aus Holz aufwies. […] Mit den Römern waren die Bauern bald fertig geworden, aber dann kam der Franke, und der war zähe wie Aalleder. Holte er sich heute auch eine Jacke voll Schläge, morgen war er wieder da. Ein Wulf war dabei gewesen, als Weking das fränkische Heer am Süntel zu rohem Mett hackte, aber zwei von den Wulfsbauern waren auch unter den Männern, die Karl an der Halsbeeke bei der großen Fähre wie Vieh abschlachten ließ. Als darauf alles, was ein Messer halten konnte, ihm an den Hals sprang, waren auch drei Wulfs dabei; sie waren nicht zurückgekommen.⁸⁸

Dass dieser Text hohe Anschlussfähigkeit im Nationalsozialismus aufwies, wird in der zitierten Exposition evident. Die Heidesiedler, unter ihnen die Wulfs, ziehen aus einem unspezifisch-mythischen, angedeutet ,arischen‘ Norden („daher, wo“)⁸⁹ in die als urtümlich-märchenhaft konnotierte Heidelandschaft und leben weitestgehend friedlich, bis fremde Volksgruppen ihnen die Scholle streitig machen wollen.⁹⁰ In diesen Fällen stellt der Text von seiner heimatlichen, an Karl May erinnernden Kitschmetaphorik („Der Adler führte über Tage das große Wort“) auf eine brachiale Metaphorik des Hauens und Stechens um („zu rohem Mett hackte“).⁹¹ Hinzu treten der archaisierende Stil („aus der Kehr“, „zähe wie Aal-

 Hermann Löns, Der Wehrwolf. Eine Bauernchronik [1910], Jena 1940, S. 5 und 7.  Löns, Der Wehrwolf. S. 5.  Vgl. dazu die Textstelle: „[E]s ging zuweilen wild genug her in der Haide; fremde Völker zogen durch, und die Haidbauern mussten mächtig aufpassen, daß sie nicht umgerannt wurden. Aber es waren ihrer von Jahrhundert zu Jahrhundert in Ödringen, wie das Dorf hieß, immer mehr geworden; sie hielten stand, schmissen die Feinde zurück oder bargen die Weibsleute, die Kinder und das Vieh in der Wallburg im Bruche und setzten den Fremden durch Überfallen und Ablauern solange zu, bis sie sich wieder dünne machten.“ Löns, Der Wehrwolf. S. 6.  Löns, Der Wehrwolf. S. 5 und 7.

2.2.1 Löns als Kontext

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leder“) sowie die dialektalen Begriffe, die dem Wehrwolf den Anstrich von Historizität und sprachlicher Volksnähe geben.⁹² Sieht so NS-Literatur aus? Zum Teil. Die dominante, systemkonforme literarische Produktion im Nationalsozialismus war weniger an der Einbindung wehrhafter Handlungen und kriegerischer Stoffe in die histoire interessiert. So tritt zum Beispiel in den Romanen Josefa Berens-Totenohls oder den Texten Paula Groggers das verklärende Heimatelement stärker hervor, das Löns in zahlreichen seiner Gedichte liefert. Verschiedene Landschaften werden literarisch idyllisiert, bei Berens-Totenohl ist es das Sauerland, bei Grogger sind es die Alpen. Mit Moritz Baßler lässt sich festhalten, dass diese völkische Form der Literatur grosso modo realistisch verfährt, so wie es auch Löns’ Wehrwolf macht. Dabei umgehen die Texte aber die Aporien des Poetischen Realismus, also die Nicht-Arretierbarkeit von Metacodes, indem sie an die Stelle der verfahrensmäßigen Aushandlung von Codes Großkonzepte wie ‚Heimat‘, ‚Volk‘ oder ein schwammig gehaltenes ‚Deutschtum‘ einsetzen. Dies geschieht, „weil die Welt ihnen qua Weltanschauung eine immer schon verstandene ist und es nur noch um die richtige ‚Haltung‘ geht“.⁹³ Damit gerät der Wehrwolf zu einer prätextuellen Blaupause der NS-Heimattexte, auch wenn sein Verfahren in Teilen von ihnen abweicht. Was der Text konstruiert und bereitstellt, ist die historische Verankerung und Legitimierung der für die spätere Heimatkunst zentralen Codes. Diese Codesicherung macht Löns, der im Ersten Weltkrieg gefallen ist, in der Zeit des Nationalsozialismus populär. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte sich der Heidedichter als Kriegsfreiwilliger gemeldet, bereits 1914 ist er bei Loivre in Frankreich gestorben. Es wundert wenig, dass Publikationen der 1930er und frühen 1940er Jahre Löns in einer Doppelfunktion als Heimatautor und Soldat heroisieren. So geht zum Beispiel Wilhelm Deimanns ‚hagiographisch‘ verfahrende Monographie Hermann Löns. Ein soldatisches Vermächtnis vor, die nach der deutschen Invasion Polens veröffentlicht wurde: „Der hier liegt und der hier ruht, / war ein treu Soldatenblut“. Diese letzten Verse des Dichters Hermann Löns sind schon im großen Weltkriege vierhunderttausendmal traurige Wirklichkeit geworden. In den Kriegstagen 1939 haben sie aufs neue begonnen, über deut-

 Löns, Der Wehrwolf. S. 5 und 7. Der Wehrwolf enthält einen Appendix, der die Begriffe erläutert. Dadurch soll der Text deutsche Leserinnen und Leser verschiedener Regionen adressieren: „Um eine vollständige Einheitlichkeit zwischen dem Stoffe und der Form zu erzielen, ist in diesem Buche sowohl für den erzählenden Teil wie für die Gespräche die heutige Ausdrucksweise der Bauern der Lüneburger Haide gewählt, die sich in der Hauptsache mit der Redeweise des Landvolkes von ganz Nordwestdeutschland deckt. Ost- und Süddeutschen [sic] Lesern sind vielleicht die folgenden Erklärungen einiger Ausdrücke angenehm.“ Löns, Der Wehrwolf. o.S.  Baßler, Deutsche Erzählprosa. S. 396 f., vgl. generell S. 374– 395.

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2 Auslassung und Andeutung. Heinrich Bölls Kriegsprosa

schen Soldatengräbern zu stehen. Der Monat September, in dem der gewaltige Feldzug in Polen Geschichte machte, brachte auch die fünfundzwanzigste Wiederkehr des Heldentodes von Hermann Löns. Und wie das ehrfürchtige Raunen großer Heldensage geht nun durch das deutsche Volk ein Erinnern an jenen Mann, der mit 48 Jahren unter die Jünglinge zu den Waffen eilte und mit ihnen fiel, der aber zuvor seinen einzigartigen, wunderbaren „Wehrwolf“ und viele Soldatenlieder geschrieben hatte, darunter das eine „Denn wir fahren gegen Engelland“, das wir heute mit noch tieferer Inbrunst singen als damals.⁹⁴

2.2.2 Aus dem Bauch heraus. Zur Desavouierung des Liedes Die Lieder „Grün ist die Heide“ und „Rosemarie“ in der Kneipenszene öffnen Bölls Kurzgeschichte für die skizzierten Kontexte, die wiederum einen Kontrast zu den Idyllisierungen der Heidegedichte markieren. So korrespondieren die in der Kurzgeschichte ausgesparten Verse von „Grün ist die Heide“ in signifizierender Weise mit der histoire der Erzählung.Wiederum ist es die Lebenssituation der Frau des Gefallenen, die die Liedtexte in einer nicht ausformulierten, von den Leserinnen und Lesern aber während der Lektüre zu rekonstruierenden, interpretationsrelevanten Form andeuten. Durch die Liedtexte, die also wie eine proleptische Lektürespur funktionieren, deutet der Text schon im ersten Drittel an, auf welche Situation die histoire zusteuert. Der Protagonist hört die ihm unbekannte Rökk im Radio und assoziiert daraufhin Löns mit seinem gefallenen Kameraden. Durch diese Kontiguisierung gehen „Rosemarie“ und „Grün ist die Heide“ ein antithetisches Verhältnis zu „Mama sagt, ich [man] darf nicht küssen“ ein. „Rosemarie“ würde dabei die Stimme des verstorbenen Ehemanns repräsentieren, der sich nach seiner Frau sehnt, wobei diese Lesart mit den Zeitangaben in Bölls Text konfligiert („Rose Marie, Rose Marie, / Sieben Jahre mein Herz nach dir schrie, / Rose Marie, Rose Marie, / Aber

 Die von Deimann zitierten Tagebuchverse verweisen wohl eher unfreiwillig auf die Umstände von Löns’ Begräbnis in der Lüneburger Heide. Dieses wurde von den Nationalsozialisten zum Politikum stilisiert und geriet durch Parteiquerelen zum Skandalon. Die vermeintlichen Gebeine von Löns wurden 1933 in Frankreich exhumiert, daraufhin fand 1934 ein inoffizielles Begräbnis durch die SA und 1935 ein weiteres Begräbnis durch die Reichswehr statt. Wilhelm Deimann, Hermann Löns. Ein soldatisches Vermächtnis. Mit einem Vorwort von Friedhelm Kaiser, einem Löns-Bildnis von Ernst von Dombrowski, der Singweise des Matrosenliedes von Herms Tiel und 8 Seiten (Faksimile) aus Löns’ Kriegstagebuch, Berlin 1939, S. 3. Vgl. dazu auch Wilhelm Deimann, Der Kämpfer und Künstler. Eine Lönsbiographie und Briefausgabe. Hannover 1935 sowie die jüngere Biographie von Thomas Dupke, Hermann Löns. Mythos und Wirklichkeit. Hildesheim 1994. S. 175 – 188.

2.2.2 Aus dem Bauch heraus. Zur Desavouierung des Liedes

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du hörtest es nie“).⁹⁵ Für meine Lektüre ist das Stelldichein-Szenario des Heidelieds relevanter. Eine weibliche, lyrische Instanz trifft beim Ausflug in der „grünen, grünen Heid“ einen „junge[n] Jäger“ in einem „grüne[n], grüne[n] Kleid“: Als ich gestern einsam ging auf der grünen, grünen Haid, kam ein junger Jäger an, trug ein grünes, grünes Kleid; Refrain: Ja, grün ist die Haide, die Haide, die ist grün, aber rot sind die Rosen, wenn sie da blühn. Wo die grünen Tannen stehn, ist so weich das grüne Moos, und da hat er mich geküßt, und ich saß auf seinem Schoß; Refrain Als ich dann nach Hause kam, hat die Mutter mich gefragt, wo ich war die ganze Zeit, und ich hab es nicht gesagt; Refrain Was die grüne Haide weiß, geht die Mutter gar nichts an, niemand weiß es außer mir und dem grünen Jägersmann; Refrain.⁹⁶

Das liest sich wie eine Antwort auf Marika Rökks Mutterfigur in „Mama sagt, ich darf nicht küssen“. Zwei Aspekte sind hieran von Interesse. Die Lieder in Bölls Text verlagern die subtextuell präsenten, ausgesparten Fragen nach Schuldigkeit,

 Hermann Löns, Abendlied [1911]. In: Aus dem kleinen Rosengarten. Ein Löns-Liederbuch. Volkslieder von Hermann Löns, vertont von Theodor Heinemann, Singnoten m. Lautenbegleitung, Warendorf in Westfalen 1921, Nr. 50, S. 80.  In den Löns-Liederbüchern trägt das Lied den für Bölls Erzählung bezeichnenden Titel „Das Geheimnis“. Vgl. Hermann Löns, Das Geheimnis [1911]. In: Aus dem kleinen Rosengarten. Ein Löns-Liederbuch. Volkslieder von Hermann Löns, vertont von Theodor Heinemann, Singnoten m. Lautenbegleitung, Warendorf in Westfalen 1921, Nr. 21, S. 45 f.

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2 Auslassung und Andeutung. Heinrich Bölls Kriegsprosa

Verfehlung und moralischer Integrität aus dem Bereich des Krieges in den Bereich des Privaten respektive vom Männlichen ins Weibliche.⁹⁷ Darüber hinaus liegt in der vierten Strophe des Heidelieds eine doppelte Bezugnahme vor. Schließlich kann man die im Lied artikulierte Informationszurückhaltung nicht nur auf die Frau, sondern ebenso auf den Protagonisten der Erzählung beziehen, der der Frau nicht mitteilt, wie der Gefallene umgekommen ist. Der Tod des Kameraden firmiert als Auslöser psychischer Kriegsspätfolgen. In der Kneipe, im Anschluss an den Passus über die Lieblingslieder des Gefallenen, werden die Umstände des Todes in erlebter Rede dargestellt. Dann sah er nur noch, wie der Mann, der Gärtner geheißen hatte, von einem Sergeanten, der Stevenson geheißen hatte, erschossen wurde. Dieser kleine, rothaarige Stevenson mit dem frechen Gesicht hatte ihn mit der Maschinenpistole direkt in den Bauch geschossen, gleich vier Schüsse quer von unten nach oben, und er hatte noch nie einen Mund, der jemals ‚Rosemarie‘ gesungen hatte, so von Schmerz verzerrt gesehen. Sie hatten ihn hinter die Hausecke geschleppt, hatten ihm die Feldbluse ausgezogen und die Hose aufgerissen, und da war nur Blut und Kot aus seinem Bauch gekommen, und der Mund, der einst ‚Rosemarie‘ gesungen hatte und ‚Grün ist die Heide‘, an dieser Theke hier, dieser Mund war vor Schmerz stumm geblieben. Sie hatten von der Knallerei nichts mehr gehört, und sie hatten ihm das Soldbuch aus der Tasche gezogen, und er hatte sich notiert: Gärtner, Bülowstr. 14. Er wollte doch der Frau Bescheid sagen, wenn er mal in diese Stadt kam. Gärtner hatte nichts mehr gesagt, diese fürchterliche Masse aus Blut und Kot floß langsam in dicken Strähnen aus seinem Bauch, und sie – der andere und er – mußten hilflos zusehen, bis plötzlich hinter ihnen jemand schrie: „Hände hoch!“ und sie erfuhren, daß dieser rothaarige, kleine Sergeant Stevenson hieß. Da standen zwölf zitternde Amerikaner um sie herum, und er hatte noch nie Menschen so zittern sehen, sie zitterten, daß sie das leise Klirren der Maschinenpistolen hörten, und einer sagte: „Stevenson, one is away…“⁹⁸

Der Todesfall wird im Passus in plastischer Form vermittelt. Bildlich und präzise wird der Protagonist vom Geschehen überrumpelt. Zur Erinnerung, der vorherige Absatz endet mit „hier hat er Zigaretten gekauft und singend an der Theke ge-

 Bölls Texte tendieren zur Viktimisierung ihrer soldatischen Protagonisten, wie James H. Reid bemerkt hat. Eine mögliche Exkulpation der Figuren formuliert Reid als Frage: Es „entsteht der Eindruck von Hilflosigkeit, Wehrlosigkeit: Bölls Protagonisten sind Opfer, keine Täter. […] Angesichts der jüngsten Kontroversen über die Rolle der Wehrmacht bei der Durchführung von Hitlers Rassenpolitik in den besetzten Gebieten Osteuropas wäre in diesem Zusammenhang zu fragen, inwieweit Bölls Prosa zu einer wie auch immer unbeabsichtigten Exkulpation beiträgt.“ James H. Reid, ‚Mein eigentliches Gebiet…‘ Heinrich Bölls Kriegsliteratur, in: Von Böll bis Buchheim: Deutsche Kriegsprosa nach 1945, hg. von Hans Wagener, Amsterdam / Atlanta, GA 1997, (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik. Bd. 42) S. 91– 109, hier S. 95 f.  Böll, Grün ist die Heide. S. 165 f.

2.2.2 Aus dem Bauch heraus. Zur Desavouierung des Liedes

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standen“.⁹⁹ Die Musik in der Kneipe sowie der anschließende Gedanke an die Löns-Lieder funktionieren als psychische Schlüsselreize, die die Erinnerung im Stil eines analeptischen Flashbacks auslösen.¹⁰⁰ Dies ist ein Konstituens der Desavouierung der Heideikone sowie der mit ihr assoziierten Zeichen. „Grün ist die Heide“ und „Rosemarie“ sind für den Protagonisten in metonymischer Weise mit dem Tod des Kameraden verknüpft, der Tod ist kontig zu ihnen, folgt auf ihre Erwähnung (ganz ähnlich wie die ‚Milch‘ in „Wanderer, kommst Du nach Spa…“). Zur Artikulation eines schockhaften Erlebnisses wird der Abschnitt durch die repetitiven Elemente sowie die vorsichtige Distanzierung zum Geschehen durch die dritte Person Plural Indikativ im Präteritum. In der großenteils monotonen Syntax ist die Wiederholung nebensächlicher (‚rote Haare‘) und drastischer Details eingebettet, die sich in der Erinnerung des Protagonisten verfestigt haben. Gerade die Plötzlichkeit und Unfreiwilligkeit der eintretenden Analepse unterstützt die Flashback-These. Der Tod ist vor der Analepse eine ausgesparte Information des Textes, deren Verbalisierung vom Protagonisten vermieden wird, in Auslassungspunkte verlagert wird.¹⁰¹

 Böll, Grün ist die Heide. S. 165.  Über den Zusammenhang von (Unterhaltungs‐)Musik und Erinnerung als anthropologisches Phänomen schreibt Rainer Moritz schlageraffirmativ: „Erfolgreiche Schlager erfüllen unterschiedliche Funktionen. Sie stiften Erinnerung, weil sie als Bojen dienen, an die sich Menschen, die sich vom Wechsel der Zeiten überfordert fühlen, klammern können. Die einfache Melodie- und Textstruktur erlaubt ein rasches Wiedererkennen, nach wenigen Tönen, nach der Andeutung des Refrains. Lieder sind, wenn auch oft unbewußt, an Lebenssituationen gekoppelt, die die Sozialisation des Einzelnen prägten. Tanzstunde, erster Kuß, Heirat, Trennung, Urlaubsreisen, Freizeit – der Schlager knüpft thematisch bevorzugt an Grundtypen des (bürgerlichen) Zusammenlebens an. Er wiederholt das Wiederkehrende, was es Menschen verschiedener Herkunft ermöglicht, einen Schlager zu ‚ihrem‘ Schlager zu machen, der unmittelbar mit ihren Bedürfnissen oder Erlebnissen zu tun zu haben scheint.“ Rainer Moritz, Der Schlager. In: Deutsche Erinnerungsorte. Hg. von Étienne François und Hagen Schulze, Bd. 3, München 2008, S. 201– 218, hier S. 205. In Bölls Kurzgeschichte wird die Unterhaltungsmusik stattdessen an eine existenzielle Grenzerfahrung geknüpft. Die Lyrics erhalten dadurch eine aktualisierte Konnotation, die auf den Tod und die Schwierigkeit diesen mitzuteilen zielt.  Dass die Erinnerung auf eine Traumatisierung, oder in psychiatrischer Terminologie auf eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) des Protagonisten zurückzuführen ist, ist nahegeliegend. Die verfahrensmäßige Einbindung des Phänomens, also die Unmöglichkeit das traumatische Ereignis zu verbalisieren, existiert in dieser Form nicht in Bölls Text. Bereits zu Beginn des Textes „hatte“ der Protagonist „gewußt, warum er sich geweigert hatte, gerade diesen Auftrag auszuführen“ (meine Hervorhebung, P.P.). Böll, Grün ist die Heide. S. 162. Die Verdrängung und Umgehung der Verbalisierung des Ereignisses liegt in Bölls Text zu Anfang vor, jedoch keine Form von Wahrnehmungslücke und Ersatzkonstruktion eines traumatischen Ereignisses, dafür ist die Beschreibung des Todes zu präzise, scheint mir. Die kulturwissenschaftliche Traumaforschung hat den Traumabegriff vor allem mit der Nicht-Erzählbarkeit von Ereignissen in Verbindung ge-

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2 Auslassung und Andeutung. Heinrich Bölls Kriegsprosa

Gärtner ist, so legt der Protagonist nahe, überraschend und als Folge der Entscheidung eines Einzelnen gestorben. Die Möglichkeit, sich zu ergeben, bietet sich erst nach den Schüssen. Durch die dreimalige Erwähnung des Namens ‚Stevenson‘ gerät das Ganze zu einer personalisierten Situation, die den Sergeant für Gärtners Tod verantwortlich macht. Diese Volte manövriert den Großteil der deutschen und amerikanischen Soldaten um den Komplex ‚Schuld‘ herum und stellt sie als vulnerabel dar. Signifikant ist der Hinweis auf das Zittern der amerikanischen Soldaten am Ende des Absatzes, der an das psychopathologische Phänomen der Kriegszitterer erinnert.¹⁰² Auf eindringliche Weise wird die Vulnerabilität des soldatischen Körpers anhand von Gärtner vorgeführt. Der auffälligste Aspekt ist die Betonung des Blutes und der Exkremente, die durch die Schusswunden im Bauch vermischt „in dicken Strähnen“ fließen.¹⁰³ Der Text beschreibt dies in Rekurs auf das Lied „Grün ist die Heide“ als eine gewaltsame Verschiebung der Körperöffnungen vom „Mund“, der Gesangsquelle, die nun „stumm“ ist, zum Bauch, dessen Wunde den soldatischen Körper derangiert und ihn in durch den wiederholten Hinweis auf den austretenden „Kot“ entwürdigt.¹⁰⁴

bracht, so etwa Aleida Assmann in ihrer Analyse deutscher Erinnerungspraxen in Rückgriff auf Cathy Caruth (Unclaimed Experience. Trauma, Narrative and History, 1996). Vgl. Aleida Assmann, 1945 – der blinde Fleck der deutschen Erinnerungsgeschichte. In: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit.Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945, hg. von Aleida Assmann und Ute Frevert, Stuttgart 1999, S. 97– 139. Vgl. dazu folgenden Passus von Assmann: „Trauma wird hier als eine körperliche Einschreibung verstanden, die der Überführung in Sprache und Reflexion unzugänglich ist und deshalb nicht den Status von Erinnerungen gewinnen kann.“ Aleida Assmann, Trauma des Krieges und Literatur. In: Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster, hg. von Elisabeth Bronfen, Birgit R. Erdle und Sigrid Weigel, Köln 1999, S. 95 – 113, hier S. 95. Im Zuge der Auseinandersetzung mit dem Begriff ‚Trauma‘ wurde wiederholt auf die von Jacques Derrida profilierte Kategorie der ‚Krypta‘ als Metapher für Traumata abgehoben, die in der Psyche eingelagert sind, ohne dass man auf sie zugreifen kann, sie verbalisieren kann. Vgl. Jacques Derrida, FORS. In: Kryptonymie. Das Verbarium des Wolfsmanns, hg. von Nicolas Abraham und Maria Torok, aus dem Französischen von Werner Hamacher, Berlin 1984, S. 9 – 59.  Kriegszitterer wurden im und nach dem Ersten Weltkrieg Soldaten genannt, die unter einer PTBS litten. Neben dem physischen Aspekt des Zitterns konnten weitere Symptome wie Nahrungsverweigerung, Panikattacken und verschiedene motorische Einschränkungen hinzutreten. Von den Alliierten wurde das Phänomen als shell shock oder bomb shell disease bezeichnet, da die Kriegsmedizin davon ausging, dass es eine Folge der Druckwellen von Explosionen sei, denen die Soldaten etwa durch Granatenbeschuss und Fliegerbomben ausgesetzt waren.Vgl. zum Dispositiv des Kriegszitterns: Anton Kaes, Shell Shock Cinema. Weimar Culture and the Wounds of War, Princeton, NJ / Oxford 2011.  Böll, Grün ist die Heide. S. 166.  Böll, Grün ist die Heide. S. 166.

2.2.2 Aus dem Bauch heraus. Zur Desavouierung des Liedes

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‚Blut‘, man denke an das Ideologem ‚Blut-und-Boden‘, sowie ‚Kot‘ sind Termini der nationalsozialistischen Rhetorik, auf die Bölls „Grün ist die Heide“ mit der skizzierten Einbettung reagiert. Klaus Theweleit hat in der kontextreichen, psychoanalytisch informierten Studie Männerphantasien (1977/78) dargelegt, wie der soldatische Körper in der nationalsozialistischen Ideologie, durch Drill und Propaganda, zum ‚neuen Menschen‘, zur „‚Stahlgestalt‘“ stilisiert wurde.¹⁰⁵ Ziel der körperlich maschinisierten und psychisch eliminierten „Stahlnaturen“ sei es, so Theweleit, „alles zu verfolgen, einzudämmen, zu unterwerfen, was sie zurückverwandeln könnte in das schrecklich desorganisierte Gewimmel aus Fleisch, Haaren, Haut, Knochen, Därmen, Gefühlen, das Mensch heißt, alter Mensch“.¹⁰⁶ Eine solche Entgleisung des Körpers und der Psyche, gegen die der Soldat gemäß der Ideologisierung angehen soll, geschieht in Bölls „Grün ist die Heide“ in existenzauslöschender, die Sprache von ihren Vereinnahmungen lösender Weise. Zur Semantisierung der Exkremente ist ein weiterer Punkt anzumerken. ‚Kot‘ wurde in der auf Sauberkeit und Reinlichkeit getrimmten NS-Rhetorik in der Regel mit einem Fluss, einem Schwall in Verbindung gebracht, der über die deutschen Soldaten als Feind hereinbricht oder aus ihnen herausbricht, insofern Gesinnungsmangel und Feigheit das Thema waren. Insofern fungierte das Zeichen ‚Kot‘ als Metapher für den nationalen Zusammenbruch sowie eine ‚unsaubere‘ Gesinnung, die den Zusammenbruch erst ermöglichte.¹⁰⁷ Bölls Text distanziert sich von dieser Metaphorisierung, wenn die Exkremente in der Gedankenrede als unmetaphorisierte Korporealitäten auftreten, die den Schock der Erfahrung unterstreichen. Hinweise auf ‚Gesinnungsschwierigkeiten‘ des Gefallenen gibt der Text nicht.

 Klaus Theweleit, Männerphantasien [1977]. Bd. 1: Frauen, Fluten, Körper, Geschichte, München 1995, S. 186. Theweleit entlehnt den Begriff „Stahlgestalt“ aus Ernst Jüngers Abhandlung Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt (1932).  Theweleit, Männerphantasien. S. 186 f.  Vgl. Theweleit, Männerphantasien. S. 505 – 507. Theweleit exemplifiziert die Semantisierung der Exkremente anhand eines Textes des NS-nahen Schriftstellers Rudolf Herzog (1869 – 1943). Über die „Sonderbündler“, die 1923 eine rheinische Republik an Frankreich anschließen wollten, schreibt Herzog: „Eine Woge von Kot wälzte sich über das entsetzenstarre Rheinland und erstickte bald das letzte Aufbegehren, den letzten Hilfeschrei. […] Und die Woge von Kot wälzte sich über die großen und ruhmreichen Städte des Rheins, und als sie brodelnd verharrte, war sie rot vermischt mit Bruderblut.“ Im Zitat zeigt sich die Semantisierung des Blutes als „rote Flut“, die die Nation als Masse ‚überschwemmt‘ und sich mit dem ‚Kot‘ vermischt. Herzog zit. nach Theweleit, Männerphantasien. S. 506 f.

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2 Auslassung und Andeutung. Heinrich Bölls Kriegsprosa

2.2.3 Markennamen und das Problem der Realien Gärtners Bauch beschäftigt den Protagonisten. Nachdem er die Kneipe verlassen hat, betrachtet er, noch unter dem Eindruck des Flashbacks und des Gesprächs mit dem Wirt, die Auslagen eines Kolonialwarenladens: Draußen war es noch heller, als es von der Kneipe aus geschienen hatte, immer noch standen die Stühle in der engen Straße, die von Summen erfüllt war. In den unbeleuchteten Fenstern sah er hier und da glühende Zigaretten, und er hörte das Wimmern von Radioapparaten. Das Haus neben der Kneipe war Nummer 28, und es war ein Kolonialwarenladen. Im trüben Dämmer sah er die Maggi- und Persilreklame und hinter dem unklaren Schaufenster im Dunklen einen Korb mit Eiern, Stapel von Nährmittelpaketen und ein großes Glas, in dem saure Gurken und Zwiebeln durcheinanderschwammen. Alles sah aus wie hinter der Scheibe eines unsauberen Aquariums. Die Gegenstände schienen sanft zu schwimmen und zu schwanken, sie waren wie molluskenhafte schleimige Wesen, die in trübem Dämmer ein lüsternes Dasein zu führen schienen. Das ist es also, dachte er. Hier hat seine Frau den Essig gekauft und die Suppenwürfel und die Zigaretten, und irgendwo wird auch hier eine Metzgerei und eine Bäckerei sein… so ein Bauch muß ja lange vorher gepflegt werden, ehe er richtig fachgemäß kaputtgeschossen werden kann, daß gleich Blut und Kot in dicken Strähnen herauskommen. Es muß ja alles seine Ordnung haben. Mindestens achtzehn Jahre muß so ein Bauch ordentlich gepflegt werden mit allem, was man für einen Wochenlohn so beim Metzger, beim Bäcker und beim Kolonialwarenhändler kaufen kann, und manchmal muß dieser Bauch auch Bier trinken und singen, und Zigaretten darf der Mund rauchen, der zu diesem Bauch gehört, es ist alles in Ordnung… Die Leute, die vor ihren Türen sitzen, haben keine Ahnung, daß da irgendwo in Amerika einer herumläuft, der ihren Willi kaputtgeschossen hat … quer durch den Bauch … glutsch flutsch flutsch flutsch … dieses Geräusch würde er niemals vergessen, die teuflische Sanftmut dieses sanften Flappens, das Gärtners Bauch durchlöchert hatte…¹⁰⁸

Nahrungsmittel, vor allen Dingen das Brot, haben in Bölls Texten eine existentielle, oft ins Christliche gehende Codierung.¹⁰⁹ Doch die obigen, mit der Empfindung von Ekel korrespondierenden Vergleiche stechen heraus, „wie molluskenhafte schleimige Wesen, die in trübem Dämmer ein lüsternes Dasein zu führen schienen“.¹¹⁰ Wieder ist die optische Wahrnehmung von Relevanz: Gurken, Zwiebeln und Eier, das kann man nachvollziehen, aber auch die Nährmittelpakete wirken ja erst wie sich leicht bewegende Weichtiere, da die Scheibe, hinter der sie

 Böll, Grün ist die Heide. S. 168.  Vgl. Michael C. Eben, Heinrich Böll: The Aesthetic of Bread, the Communion of the Meal. In: Orbis Litterarum, 3, 1982, S. 255 – 273.  Böll, Grün ist die Heide. S. 168.

2.2.3 Markennamen und das Problem der Realien

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ausgelegt sind, „unsaube[r]“ ist und es dämmert.¹¹¹ Man könnte den Einbezug der Libido in das Molluskische mit dem Konzept der ‚Stahlnatur‘ erläutern. Die Abstumpfung gegenüber weiblich-sexuellen Reizen oder ihre Funktionalisierung als „Treibstoff“ des gehärteten, männlichen Körpers ist für Theweleit einer der Hauptaspekte der soldatischen Zurichtung.¹¹² Es geht aber hier nur sekundär um den Mann, sondern zunächst um die Ehefrau und ihre Libido. Die syntagmatische Okkurrenz der Lexeme ‚lüstern‘ im ersten und ‚Frau‘ im zweiten Absatz ist ein weiterer, nicht allzu subtiler Hinweis auf die neue Beziehungssituation, hier in der Konnotation eines „lüsternes Dasein[s]“,¹¹³ das in der Kneipe angesprochen wird und sich am Ende der Erzählung für den Protagonisten bestätigt. Gärtner ist in anderer Hinsicht von Interesse. In der Passivkonstruktion der Gedankenrede des Protagonisten, die immer stärkere Züge einer Psychotextur annimmt, wird dieser metonymisch zum Bauch („so ein Bauch muss ja lange vorher gepflegt werden“), erst abschließend ist von „Willi“ die Rede.¹¹⁴ Dabei operiert der Text mit der Opposition ‚Ordnung‘ versus ‚Unordnung‘, gipfelnd in der gegen alles Vorgebrachte stehenden, ironischen Vergewisserung „es ist alles in Ordnung…“,¹¹⁵ die als Kritik an den Vorstädtern fungiert. Dass das Gegenteil der Fall ist, zeigt sich in den ahnungslosen Bewohnern der Vorstadt, die weniger wissen als der Protagonist und allein deshalb in einer Scheinordnung leben können, die beim Blick in die Auslage des Kolonialwarenladens gespiegelt wird. Im Schaufenster ‚schwimmen‘ die Dinge ‚durcheinander‘. Die spießbürgerlich-normative Losung ‚Es muss ja alles seine Ordnung haben‘ wird in gleichem Zuge zum Paradox pervertiert, indem der Text der Pflege des Bauchs eine makabre Motivation zuweist. Letztendlich führt die Pflege in das Aufbrechen von körperlicher Unversehrtheit, in die ‚ordentliche‘, „fachgemäß[e]“ Deformierung und Destruktion des Bauchs. Unterstützt wird dies durch die anakoluthischen Auslassungspunkte, den Pleonasmus „teuflische Sanftmut dieses sanften Flappens“ sowie die Onomatopoetika „glutsch flutsch flutsch flutsch“,¹¹⁶

 Böll, Grün ist die Heide. S. 168.  Es sind vor allem psychische Aspekte, die Theweleit an die Kontrolle oder Veräußerlichung des Soldateninneren knüpft: „Das eingeschlossene Innere transformiert der Panzer zum Treibstoff der Geschwindigkeit, oder aber: er schleudert es aus sich heraus. Als ihm dann Äußeres kann er es bekämpfen und es greift ständig an, als wolle es ihn zurück: als Sintflut, Invasion vom Mars, als Proletariat, jüdische Lustseuche, sinnliche Frau.“ Theweleit, Männerphantasien. S. 188.  Böll, Grün ist die Heide. S. 168.  Böll, Grün ist die Heide. S. 168.  Böll, Grün ist die Heide. S. 168.  Böll, Grün ist die Heide. S. 168.

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2 Auslassung und Andeutung. Heinrich Bölls Kriegsprosa

die zur schleimigen Unordnung der Weichtiere in Äquivalenz stehen. Gärtner gerät zur ‚Anti-Stahlgestalt‘. Und dann sind da noch die Marken „Maggi“ und „Persil“.¹¹⁷ Die Nennung von Markennamen ist eine Ausnahme in Bölls Texten. Bernd Seiler und Björn Weyand haben anhand von Bölls Romanen gezeigt, wie die Verwendung realweltlicher Marken vermieden und umgangen wird.¹¹⁸ Auch in den kürzeren Prosatexten verhält es sich meist so, nicht aber in „Grün ist die Heide“, einem Text, der es wohl auch aus diesem Grund nicht in den Erzählungsband von 1950 geschafft hat. Wenn Marken in den Texten Bölls, konstatiert Seiler in Leidige Tatsachen, „eine für die Handlung wesentliche Funktion haben, […] müssen ihre Namen […] erfunden werden, können zugleich aber ihre Erfundenheit oft so wenig verleugnen, daß sich der Eindruck des Wahrscheinlichen nur schwer einstellt“.¹¹⁹ Will sagen: Die Texte tun sich mit der Fingierung von Markennamen und dazugehörigen Werbeslogans keinen Gefallen, sie werden ungelenk und geschraubt, da man die Fingierung als solche allzu leicht wahrnimmt. Seiler zieht als Beispiel eine Werbung für die Empfängnisverhütung ‚Gummi Griss – schützt Dich vor den Folgen‘ aus dem Roman Und sagte kein einziges Wort (1953) heran. Die Protagonistin des Romans wird mit diesem Slogan konfrontiert, nachdem klar ist, dass sie ein viertes Kind erwartet, welches eine finanzielle Belastung für die Familie darstellen würde. Erstaunlich hieran ist die offensive, ins Überzeichnete reichende Bewerbung einer Kondommarke, die so in den 1950er Jahren kaum vorstellbar gewesen wäre. Zusätzlich zum Werbebanner, das mit einem Flugzeug über den Himmel gezogen wird, werden Gummistörche mit geknickten Hälsen abgeworfen. Den Versuch eines Tatsachen- oder Realitätsbezugs kann man dem Text hier nur schwerlich attestieren, die Fingierung des Markennamens und die Beschreibung der Kampagne sind vielmehr, wie mir scheint, Mittel zur Markierung von Fiktionalität. Mit anderen Worten kann der Text gar nicht darauf zielen, an der „Aura öffentlicher Geltung“ zu partizipieren, die mit der Nennung einer realexistierenden Marke einherginge.¹²⁰ Nach der Wahrscheinlichkeit zu fragen, geht zumindest für den Kondomfall in Und sagte kein einziges Wort in die falsche Richtung.¹²¹

 Böll, Grün ist die Heide. S. 168.  Vgl. Bernd W. Seiler, Die leidigen Tatsachen. S. 296 f.; sowie Björn Weyand, Jetztzeitarchivalik. Markenwaren als zeitgeschichtliche Archivalien der Nachkriegszeit: Heinrich Bölls Das Brot der frühen Jahre (1955) und Wolfgang Koeppens Tauben im Gras (1951), S. 74– 86.  Seiler, Die leidigen Tatsachen. S. 296 f.  Seiler, Die leidigen Tatsachen. S. 296 f.  „Die Massivität der Aktion – man wirft auch noch lebensgroße Störche mit geknickten Hälsen ab – soll fraglos öffentliche Repräsentanz für die Firma ‚Gummi Griss‘ und ihre Produkte suggerieren, aber es ist doch schwer vorstellbar, daß dies gelingt. Schon natürlich die Tatsache,

2.2.3 Markennamen und das Problem der Realien

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Dass Markennamen, vor allem realexistierende, in der deutschen Literatur nach 1945 tendenziell den Status ‚leidiger Tatsachen‘ haben, ist dennoch eine korrekte Beobachtung. Sonst gäbe es die Verfahren der Fingierung und Vermeidung nicht. Das macht ‚Maggi‘ und ‚Persil‘ zu einer semiotischen Ausnahme. Doch worin besteht das Problem? Warum wird fingiert? Seiler nennt, dass etwa mit der Umschreibung von Zigarettenwerbungen in Texten von Uwe Johnson „Sprech- und Wahrnehmungsgewohnheiten […] unterlaufen“ werden sollen.¹²² Ein weiterer Hinweis ist, dass „die Literatur hier mit einem anderen, kommerziellen Darstellungsinteresse in Berührung kommt“, also vermeiden will, ebendiese Darstellungen unreflektiert zu reproduzieren und weiter zu distribuieren.¹²³ Das Problematische an der Verwendung von Markennamen hat noch einen anderen, einen gewichtigeren Grund. Björn Weyand legt in Rekurs auf Eberhard Lämmerts Bauformen des Erzählens (1955) dar, dass die Marken mit dem auf Werkimmanenz beruhenden Literaturverständnis der Zeit konfligieren. In Lämmerts Studie heißt es: Es macht geradezu das Wesen des Dichterischen aus, daß alle benutzten Realien ihres transliterarischen Bezugssystems entkleidet werden und innerhalb der fiktiven Wirklichkeit der Dichtung neuen Stellenwert und eine neue, begrenzte Funktion erhalten. Deshalb kann jede Geschichte einer Erzählung, grundsätzlich aus sich selbst heraus verstanden werden.¹²⁴

Markennamen verstoßen gegen die Spielregeln des werkimmanenten, literarischen Dispositivs.Wenn man davon ausgeht, dass das „Wesen des Dichterischen“ darin besteht, auf existenzielle Fragen zielende, potentiell überzeitlich gültige, „aus sich selbst heraus“ zu verstehende Diegesen zu entwerfen,¹²⁵ stellt die

daß Verhütungsmittel nicht zu den Artikeln gehören, für die so auffällig geworben wird, wirkt dem Wahrscheinlichkeitseindruck entgegen, auch der Spruch mit dem Namen bleibt eine kontextlose Formel.“ Seilers Vermutung, dass auch die fingierten Werbesprüche „Sei schlau – mach nicht blau – nimm Doulurin“ aus Und sagte kein einziges Wort und „Heiz dir ein mit Schnier“ aus Ansichten eines Clowns an der Werbepraxis der 1950er Jahre vorbeigingen, also in ihrer Unwahrscheinlichkeit offenbar seien, scheint mir nicht ganz zuzutreffen. Seiler, Die leidigen Tatsachen. S. 297. Recherchiert man etwa in Ausgaben der Rundfunkzeitschrift Hör zu!, überwiegen Ähnlichkeiten zur sprachlichen Gestaltung der Böll-Beispiele. Einige Kostproben: „Nervös sein – ein teurer Spaß. Meistere das Leben – nimm Biocitin“, „Sparsam sprühen trockenreiben glatte Hände blanke Scheiben: Heitmann Simplifix“, „Pitalon erzieht Ihre Haut – Rasierte Haut braucht Pitalon“. Die Beispiele finden sich in: O.V., o.T. In: Hör zu! Die illustrierte Rundfunk- und Fernsehzeitung. Westdeutsche Ausgabe Köln, 43, 1955, S. 22, 30, 32.  Seiler, Die leidigen Tatsachen. S. 299.  Seiler, Die leidigen Tatsachen. S. 299.  Eberhard Lämmert, Bauformen des Erzählens. Stuttgart 1955, S. 27.  Lämmert, Bauformen des Erzählens. S. 27.

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2 Auslassung und Andeutung. Heinrich Bölls Kriegsprosa

Kontextualisierungsbedürftigkeit von Marken ein fundamentales Problem dar. Auch deshalb bemerkt Seiler, dass die fingierten Marken der Kontextualisierung nicht bedürfen,¹²⁶ Fingierung also eine Volte der Kontextualisierungsumgehung darstellt. Doch auch fingierte Markennamen und Slogans lassen sich erst adäquat erfassen, wenn man sie mit den Werbepraxen ihrer Zeit vergleicht, mit ‚echten‘ Kontexten. Noch schwieriger wird es, wenn man als Realie, also als ‚tatsächliches Ding, als Tatsache‘ etwa auch ein Volkslied betrachtet, das in einen Text eingebunden ist. Ohne Kontextualisierungen wird man den Texten in dem Fall ebenso kaum beikommen können. Diese beiden methodischen Punkte seien hier nur am Rande tangiert. Anstelle der „zeitgeschichtlichen Bedeutung“ einer Marke zieht Böll, so schlussfolgert Weyand aus den genannten, werkimmanenten Gründen, die „durch die Motivik der Erzählung hergestellte Semantisierung“ der Marke, also die „textimmanente“ Bedeutung vor.¹²⁷ Weyands Beispiel für diese These sind die Zigaretten in Das Brot der frühen Jahre (1955). Da Bölls Roman dezidiert zeitgeschichtlich konzipiert ist – genaue Zeit- und Ortsangaben sind in ihn eingebettet –, entsteht ein Spannungsverhältnis zu der auffälligen Vermeidung von Markennamen. Das Ergebnis ist eine widersprüchliche Konstruktion, ist „Zeitgeschichte ohne Jetztzeit“, also ein Text, der betont, dass das Erzählte gegenwärtig ist und es zugleich als zeitenthoben kennzeichnet.¹²⁸

 Vgl. Seiler, Die leidigen Tatsachen. S. 297.  Weyand, Jetztzeitarchivalik. S. 79 f.  Weyand, Jetztzeitarchivalik. S. 79 f. Es ist bemerkenswert, dass spätere poetologische Äußerungen Bölls die Relevanz des Alltäglichen für die Fiktion betonen. Zu denken ist vor allem an die Frankfurter Vorlesungen im Rahmen der Poetikdozentur (1964). Böll skizziert in seinen Vorlesungen eine „Ästhetik des Humanen“. Diesem Vorhaben liegt der (idealisierte) Gedanke zu Grunde, Literatur zu produzieren, die anti-elitistisch ist, breitflächig rezipiert werden kann und potentiell pädagogische Effekte zeitigt. Für Böll ist die humane Ästhetik durch sprachliche Einfachheit und Aufgeschlossenheit gegenüber alltäglichen Stoffen gekennzeichnet, die Sprache soll nicht verkünstelt, schöngeistig, sondern „bewohnbar“ sein. Man muss ergänzen, sie soll ‚bewohnbar‘, aber ‚eigentlich‘ sein und deshalb befreit von Realien bleiben, die dem Bereich des Konsumismus, des ‚Uneigentlichen‘ angehören. „Ich gehe von der Voraussetzung aus, daß Sprache, Liebe, Gebundenheit den Menschen zum Menschen machen, daß sie den Menschen zu sich selbst, zu anderen, zu Gott in Beziehung setzen – Monolog, Dialog, Gebet.“ Diese poetologischen Überlegungen richten sich gegen eine „Literatur, die das Nichtssagende in musterhafter Schönheit ausdrückt, den Menschen der Humanität, Gebundenheit, Sozialität entkleidet, ihn nichtssagend in nichtssagende Umgebung stellt“. Als „Verkünder“ dieser „Solitude des Dichters“ nennt Böll „George, Jünger, Benn“. Heinrich Böll, Frankfurter Vorlesungen. Köln 1966, (Essay. Bd. 7) S. 9, 14, 19, 42. Zum Zusammenhang von Alltag und der Ablehnung des Konsums vgl. Jochen Vogt, Große Verweigerung, kleine Genüsse. Heinrich Bölls Utopie des nicht entfremdeten Alltags.

2.2.3 Markennamen und das Problem der Realien

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Diese Verlegenheitslösung nachkriegsliterarischer Texte kommt in der Schaufensterstelle in „Grün ist die Heide“ nicht zur Anwendung. Das generische Waschmittel und der generische Brühwürfel werden in Markennamenform genannt, da die Kurzgeschichte die kulturell etablierten Semantisierungen und Konnotationen der Marken für ihre Signifikation funktionalisiert.¹²⁹ Die Realienausnahmen sind also eine verfahrensmäßige Möglichkeit, mit der der Text sich in Rückgriff auf das kulturelle Archiv signifiziert. Das ist ‚Zeitgeschichte plus Jetztzeit‘, Realie ohne Problem. Unproblematisch für Bölls Text sind ‚Persil‘ und ‚Maggi‘ vor allem deshalb, weil ihre Semantisierungen und Konnotationen eindeutig sind. Der Text läuft nicht in Gefahr banal zu werden, weil er keine Markennamen inkorporiert, denen eine klare Funktion im Textgefüge fehlen könnte. Bedeutungsoffenheit kann durch die platzierten Markennamen für die zeitgenössischen Rezipientinnen und Rezipienten weitestgehend ausgeschlossen werden. „Grün ist die Heide“ verfährt demnach im Zugriff auf das kulturelle Archiv realistisch und setzt auf konnotative Gemeinplätze, auf das zeichenhaft breitflächig Verfügbare. Beide Marken fanden im Militärischen Verwendung, sei es als Konsumgut oder als Teil des soldatischen Jargons. Während des Zweiten Weltkriegs gingen zwei Drittel der Produktion der Schweizer Firma Maggi an die Wehrmacht. Maggi, das auch im Baden-Württembergischen Singen produzierte, wurde damit ein „Nationalsozialistischer Musterbetrieb“.¹³⁰ Das Waschmittel Persil war den Soldaten vor allem durch seinen Karton bekannt, den sogenannten ‚Persilkoffer‘, den zahlreiche Rekruten bei der Einberufung mit in die Kasernen brachten, um darin ihre Zivilkleidung an die Familien zurückzuschicken.¹³¹ Aus diesem Grund firmierte der Einberufungsbescheid kolloquial als ‚Persilschein‘, ein Begriff, dessen Semantik sich nach dem Krieg änderte. Hier wurde das Kompositum im Zusammenhang mit der Entnazifizierungspolitik der Alliierten gebraucht. Der ‚Persilschein‘, bezeichnet wurde damit der Meldebogen, den man bei der alliierten Militärregierung einreichen musste, war ein Unbedenklichkeitsnachweis. Er entIn: Vogt, Erinnerung, Schuld und Neubeginn. Deutsche Literatur im Schatten von Weltkrieg und Holocaust, Oxford u. a. 2014, (German Life and Civilisation. Bd. 59) S. 283 – 303.  Seiler räumt vorsichtig ein, dass „Namen von Markenartikeln“ wieder in „gewissen Grenzen unbedenklich werden“, „wenn sie so konkurrenzlos bekannt sind, daß ein unmittelbarer Werbeeffekt nicht mehr naheliegt“. Seiler, Die leidigen Tatsachen. S. 301. Dass es den Texten primär um die Vermeidung von Schleichwerbungseffekten geht, bezweifelt Seiler selbst.  Vgl. Willy Buschak, Die Geschichte der Maggi-Arbeiterschaft. 1887– 1950, Hamburg 21989, S. 113 – 139. Zum Einsatz osteuropäischer Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter im Singener Werk vgl. S. 133 – 137.  Vgl. Henkel KGaA (Hg.): 90 Jahre Persil. Die Geschichte einer Marke. Düsseldorf 1997, (Schriften des Werksarchivs. Bd. 27) S. 67.

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2 Auslassung und Andeutung. Heinrich Bölls Kriegsprosa

lastete vor dem „Gesetz zur Befreiung von Nationalismus und Militarismus“. Durch das Dokument umgangen wurden also education-Maßnahmen und Strafverfolgung. Im narrativen Zusammenhang von „Grün ist die Heide“ erhält das Waschmittel schließlich eine gegenläufige Semantik. Kriegsschuld, fragwürdige Schuldentlastungen und Kontinuitäten zur Kriegs- und Vorkriegszeit drängen sich bei der im Schaufenster platzierten Werbeanzeige auf. Die Konnotation des Sich-Reinwaschens oder Reinwaschen-lassens, die Verbindung von Integrität und Reinheit in einem Waschmittel, ist das Ergebnis eines Signifikationsprozesses, an dem die Düsseldorfer Firma Henkel seit den 1920er Jahren mit diversen Werbekampagnen arbeitete. Zu Werbezwecken wurden neben den konventionellen Plakatanzeigen etwa Himmelsschreiber, Scheinwerfer, Spielfilme und die sogenannten ‚Persil-Schulen‘ genutzt, in denen man sich über die Produkte informieren konnte. Vor allem eine als ‚Weiße Dame‘ bekannte Werbefigur repräsentierte Reinlichkeit und Hygiene in ikonischer Form. Kurt Heiligenstaedt, ein Mitbegründer der Satirezeitschrift Simplicissimus, hatte die Figur 1922 in einer Plakatwerbung für Persil entworfen. Daraufhin wurde sie in den Werbeanzeigen von Henkel wiederholt eingesetzt. Auch 1950 lächelte sie in einem strahlend weißen Kleid, mit einer Packung Waschpulver in der Hand vor blauem Hintergrund. Weiße Handschuhe sind dabei obligatorisch, wie eine andere Persil-Werbeanzeige aus dem gleichen Jahr zeigt. Die Wiedereinführung von Persil in den Markt wird hier als „großer Augenblick“ angekündigt. Endlich geht es wieder aufwärts, so der Subtext der Anzeige.¹³² Verblüffend ist die Erwähnung der Marke Persil in „Grün ist die Heide“ insofern, als 1949, also im Jahr der Verschriftlichung des Textes, lediglich ein Persil-Ersatzprodukt mit dem ähnlich klingenden Namen Lasil erhältlich war. Seit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde die Produktion von Persil aufgrund von Rohstoffknappheit eingestellt. In aller Munde war die Marke dennoch, so zirkulierten nach Kriegsende Broschüren mit dem martialischen Titel „Tod durch Dreck“,¹³³ die sich gegen die Demontage der Henkel-Anlagen durch die Alliierten aussprachen. Die Wiedereinführung wurde dann 1950 durch eine umfangreiche Kampagne mit dem Slogan „Zum Saubermachen – Henkelsachen“ vorbereitet.¹³⁴

 Persil war ab den 1920er Jahren marktführend und wurde auch in anderen Ländern vertrieben. Die Henkel-Persil-Tonfilme hatten zum Teil beachtliche Besucherzahlen. Wäsche, Waschen, Wohlergehen (1932) mit Ida Wüst und Paul Henckels sahen laut der Firma zwischen 1932 bis 1938 circa 30 Millionen Menschen. Vgl. Henkel KGaA (Hrsg.): 90 Jahre Persil. S. 45 f., 62 f. und 66 f.  Henkel KGaA (Hg.), 90 Jahre Persil. S. 69.  Henkel KGaA (Hg.), 90 Jahre Persil. S. 69.

2.2.3 Markennamen und das Problem der Realien

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Abb. 2 und 3: Werbeanzeigen für Persil (1950).

Gärtners ‚schmutzige‘ Körperdestruktion – „Blut und Kot […] in dicken Strähnen“ –¹³⁵ steht zu diesen nahe am nationalsozialistischen Hygienediskurs operierenden Werbefantasien in ostentativem Kontrast. Mit Roland Barthes argumentiert, lassen sich die Anzeigen für das Waschmittel als „ein sekundäres semiologisches System“, als mythische Zeichenkonstruktionen begreifen.¹³⁶ Das heißt, dass das Zeichen ‚Persil‘ in der in den Anzeigen geschaffenen Zeichenumgebung sein primäres Signifikat ‚Waschmittel‘ um eine Reihe weiterer Signifikate ergänzt. Das Zeichen wird also im Prozess der Mythologisierung zum Signifikanten, zur Form der Signifikate ‚Reinheit‘, ‚Gesundheit‘, ‚Frische‘, ‚Ordnung‘, ‚Vitalität‘ sowie ‚sexuelle Attraktivität‘.¹³⁷ Auch die sekundäre Füllung des Signifikanten ‚Persil‘ mit dem Signifikat ‚gesellschaftlicher Frieden‘ ist eine auffällige, rhetorische Volte der Henkel’schen Werber. Persil „in Friedensqualität“  Böll, Grün ist die Heide. S. 166.  Roland Barthes, Mythen des Alltags. Aus dem Französischen von Horst Brühmann, Frankfurt a. M. 42015, S. 258 f.  Barthes, Mythen des Alltags. S. 258 f.

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war ein Attribut, mit dem das Waschmittel schon nach dem Ersten Weltkrieg beworben wurde.¹³⁸ Diese Zeichenprozesse geschehen, wenn man Barthes folgt, in naturalisierender Weise. Der Mythos verschleiert die Geschichte, die zeichenhafte Konstruktion selbst, „Signifikant und Signifikat stehen seiner Ansicht nach [des Mythenlesers, P.P.] in einem natürlichen Verhältnis. […] Der Mythos wird als Faktensystem gelesen, während er doch nur ein semiologisches System ist.“¹³⁹ Demnach macht das Schaufenster des Kolonialwarenladens in Bölls „Grün ist die Heide“ das Versprechen in eine Zukunft, die am kriegsgeschädigten Protagonisten vorbeizielt. Beworben wird ein Produkt, das noch nicht, aber bald wieder erhältlich ist, ein Produkt, das gesellschaftliche Standards, Hygiene auf Vorkriegsniveau offeriert und in reimender Form verspricht, dem ‚Schmutz des Krieges‘ mit dem Großreinemachen zu begegnen. Das Molluskische des Warenfensters ist ein „sanft[er]“ Hinweis darauf („schleimige Wesen“),¹⁴⁰ dass mit diesem Zukunftsversprechen etwas nicht stimmen kann.

2.3 Pathos der Auslassung: Der Zug war pünktlich Ein Kaplan verabschiedet einen Soldaten auf einem Bahnsteig. Der eintreffende Zug wird den Soldaten in den Tod bringen. Mit diesem Szenario beginnt Bölls erster längerer Prosatext, der 1949 im Verlag Friedrich Middelhauve in Opladen erscheint. Religiöse Aspekte sind in Der Zug war pünktlich, darauf gibt die Figur des Kaplans einen Vorgeschmack, noch ausgeprägter als in den zuvor diskutierten Kurzgeschichten.¹⁴¹ Vor allem die Äquivalenzen zwischen der leidvollen Front-

 Die von der Henkel KGaA herausgegebene Publikation zum neunzigjährigen Firmenjubiläum verweist zudem auf folgenden, nicht durch eine Quelle gesicherten Satz Ludwig Erhards über die 1950er Jahre: „Wir haben es erlebt, als Persil und die übrigen Henkel-Fabrikate wieder in den Verkehr gelangten, daß im Volke das Vertrauen erwuchs, daß nun wieder Friede eingekehrt sei.“ Henkel KGaA (Hg.): 90 Jahre Persil. S. 43 f. und 72.  Barthes, Roland: Mythen des Alltags. S. 280.  Böll, Grün ist die Heide. S. 168.  Eine Systematisierung des Forschungsdiskurses zur Rolle der Religion in Bölls Texten und für Bölls Autorschaft hat Christian Sieg vorgelegt. Im Fokus seiner Analyse steht das Autorbild des ‚Gewissens der Nation‘, die beanspruchte moralische Integrität in den 1950er Jahren. Eine ähnlich gut informierte Untersuchung für die späten 1940er Jahre existiert meines Wissens nicht. Sieg weist anhand der Romane und Essays darauf hin, dass Bölls Autorschaft und seine Kirchenkritik auf der Grundlage der „soziale[n] Dimension des Christentums in einer säkularen Gesellschaft“ fußen, „dass der seinen Romanen zugrundeliegende Begriff des Sozialen selbst theologisch inspiriert ist“. Eine im Kontext der Arbeit fragliche These lautet, dass für Bölls „Realismusbegriff“, wie er etwa im „Bekenntnis zur Trümmerliteratur“ entfaltet wird, „nicht ästhetische oder er-

2.3 Pathos der Auslassung: Der Zug war pünktlich

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abberufung des Protagonisten Andreas und der Passionsgeschichte stechen heraus. Dabei gestaltet sich der Umgang mit christlichen Motiven und Figuren frei, es sind partikulare Aspekte, die der Text verarbeitet, kombiniert und abwandelt. Die Erzählung folgt einem anti-institutionellen, auf dem persönlichen Glauben der Figuren basierenden Katholizismus, der kennzeichnend für Bölls Oeuvre ist. Mit den christlichen Motiven, zum Beispiel Tränen, steht ein sprachliches Pathos in Verbindung, das auf bedeutsamkeitsevozierende Effekte zielt. In diesem Zusammenhang greift der Text wiederum auf die für Böll typischen Auslassungszeichen zurück. Zugleich gehen mit der übercodierten sprachlichen Verfasstheit der Erzählung Fragen der ästhetischen Wertung einher. Diese stellen sich insbesondere, da der Text die Dichotomie von Kunst und Unterhaltung, von ästhetischer Wertigkeit, über die extensive diegetische Inkludierung von klassischer Musik und Schlagersongs aufruft. Während „Wanderer, kommst Du nach Spa…“ humanistisches Bildungsgut vor dem Hintergrund seiner Instrumentalisierung durch den Nationalsozialismus behandelt und in „Grün ist die Heide“ deutsche Populärmusik in der Kritik steht, ist es im Fall von Der Zug war pünktlich also die Verschränkung von E- und U-Kulturellem, das spannungsreiche Aushandeln dieser Bereiche im Text, welches in den Mittelpunkt gerät. Das Manuskript der Erzählung trägt den Titel Zwischen Lemberg und Czernowitz, womit der Raum angegeben ist, in dem der Soldat stirbt.¹⁴² Der Zug fährt ihn nach Polen, dort lernt er in einem Bordell die Prostituierte Olina kennen, die mit dem Widerstand in Verbindung steht. Dass der Buchtitel nicht wie das Manuskript auf Räumliches, sondern auf Zeitliches abhebt, ist schlüssig. Ein Temporaladverb klassifiziert das Erzählte von Beginn als etwas „Schicksalhafte[s]“ und deutet damit proleptisch auf das Geschehen voraus.¹⁴³ Der Tod wird eintreten, soviel steht fest. In der Exposition auf dem Bahnsteig heißt es:

kenntnistheoretische, sondern ethische Bestimmungen ausschlaggebend“ sind. Böll nutze „den Begriff vielmehr, um seine Autorschaft ethisch und religiös zu bestimmen“. Diese Forschungsperspektive verstellt den Blick auf die Verfahrenspraxis. Die These marginalisiert, dass Bölls Texte in verfahrenstheoretischer Hinsicht sehr wohl realistisch verfasst sind, wie die frühe Prosa im Zusammenwirken mit dem „Bekenntnis“ zeigt. Sieg, Die ‚engagierte Literatur‘ und die Religion. Politische Autorschaft im literarischen Feld zwischen 1945 und 1990, hier S. 104 sowie S. 142 und 144.  Vgl. Heinrich Böll, Der Zug war pünktlich [Kommentar]. In: Böll, Werke. Kölner Ausgabe. Hg. von Hans Joachim Bernhard, Bd. 4, Köln 2003, S. 700 – 744, hier S. 700 – 704 und S. 720.  Heinrich Böll, Der Zug war pünktlich [1949]. In: Böll, Werke. Kölner Ausgabe. Hg. von Hans Joachim Bernhard, Bd. 4, Köln 2003, S. 294– 402, hier S. 295.

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2 Auslassung und Andeutung. Heinrich Bölls Kriegsprosa

Er nahm das Gepäck, stieg irgendwo in eine offene Tür, drehte von innen das Fenster herunter und beugte sich noch einmal hinaus, während über ihm die sonore Stimme [des Ansagers, P.P.] wie eine Wolke aus Schleim schwebte: „Der Zug fährt ab…“ „Ich will nicht sterben“, schrie er, „ich will nicht sterben, aber das Schreckliche ist, das ich sterben werde … bald!“ Immer mehr entfernte sich die schwarze Gestalt [des Kaplans, P.P.] auf diesem grauen Bahnsteig … immer mehr, bis der Bahnhof in der Nacht verschwunden war.¹⁴⁴

Die emotionale Aufgebrachtheit des Protagonisten drückt sich über die Anakoluthie des Satzbaus aus. Auf konfrontative Weise adressiert Andreas den Kaplan als Vertreter einer Institution, die auf der Pflichterfüllung des Soldaten beharrt, „ich kann mich ja unter die Räder schmeißen wollen … ich kann ja fahnenflüchtig werden … wie? Was willst du?“¹⁴⁵ Dabei intensiviert sich die Rede des Soldaten zum Geschrei, wenn der Zug abfährt. So wird das verhängnisvolle Wort ‚bald‘ in die Nacht hinausgerufen und vom Text durch Auslassungspunkte markiert. In narratologischer Perspektive haben das Temporaladverb ‚bald‘ und der mit ihm bezeichnete Tod des Protagonisten eine rahmende, proleptische Funktion. Sie weisen auf das Ende der histoire hin. Der nullfokalisierte Erzählerkommentar, der sich an die Szene auf dem Bahnsteig anschließt, ist eine Reflexion über das Temporaladverb und seine Konsequenz für den Fortgang der Erzählung. Manches Wort, das scheinbar gleichgültig ausgesprochen wird, gewinnt plötzlich etwas Kabbalistisches. Es wird schwer und seltsam und schnell, eilt dem Sprechenden voraus, bestimmt, irgendwo im ungewissen Bezirk der Zukunft eine Kammer aufzureißen, kommt auf ihn zurück mit der erschreckenden Zielsicherheit eines Bumerangs. Aus dem leichtfertigen Geplätscher unbedachter Rede, meist jenen furchtbar schweren und matten Worten beim Abschied an Zügen, die in den Tod führen, fällt es wie eine bleierne Welle zurück auf den Sprechenden, der plötzlich die erschreckende und zugleich berauschende Gewalt alles Schicksalhaften kennenlernt. Den Liebenden und den Soldaten, den Todgeweihten und denen, die von der kosmischen Gewalt des Lebens erfüllt sind, wird manchmal unversehens diese Kraft gegeben, mit einer plötzlichen Erleuchtung werden sie beschenkt und belastet … und das Wort sinkt, sinkt tief in sie hinein. Während Andreas sich langsam zurücktastete in das Innere des Waggons, fiel das Wort bald in ihn hinein wie ein Geschoß, schmerzlos und fast unmerklich durch Fleisch, Gewebe, Zellen, Nerven dringend, bis es endlich irgendwo widerhakte, aufplatzte, eine wilde Wunde riß und Blut verströmen machte … Leben … Schmerz …¹⁴⁶

 Böll, Der Zug war pünktlich. S. 294 f.  Böll, Der Zug war pünktlich. S. 294.  Böll, Der Zug war pünktlich. S. 294 f.

2.3 Pathos der Auslassung: Der Zug war pünktlich

111

Die Erzählerreflexion beglaubigt die Ahnung des Protagonisten. Ein Indiz dieser Beglaubigung ist der Tempuswechsel ins Präsens, der das für die Figur Künftige im Rahmen des discours des Erzählers als etwas Abgeschlossenes einholt.¹⁴⁷ In jovialer Form pflegt der Erzähler spirituelles, metaphysisches, über die christliche Terminologie hinausgehendes Vokabular in seine Ausführung ein. Das Wort ‚bald‘ erhält ‚kabbalistische‘ Qualität, womit der Umstand ausgedrückt wird, dass das Wort in seiner Reichweite für Uneingeweihte unverständlich erscheint, also überlesen werden könnte. Auch rückt die materielle Kraft des Wortes im Sinne der kabbalistischen Schriftwirkung in den Blick. Andreas ist von dieser vorzeichnenden Wirkung des Wortes überrascht, das er, wie der Erzähler erklärt, im „leichtfertigen Geplätscher unbedachter Rede“ geäußert hat.¹⁴⁸ Der Text setzt in diesem Zuge auf hypertrophe Metaphorik und im Abstrakten verbleibende Kategorien, die die Handlungsmöglichkeiten des Protagonisten minimieren und seine Geschichte vom Einzelfall zum Modellfall werden lassen. Es ist die Rede von den „Liebenden“, den „Soldaten“, den „Todgeweihten“, denen eine vorausahnende „Kraft“ zukommen kann.¹⁴⁹ Das Wort ‚bald‘ sei wie eine „bleierne Welle“, mit ihm ginge die „erschreckende und zugleich berauschende Gewalt alles Schicksalhaften“, die „kosmisch[e] Gewalt des Lebens“ einher.¹⁵⁰ Von einer „plötzlichen Erleuchtung“ wird erzählt, die „zugleich“ Geschenk und Belastung darstellt.¹⁵¹ Signifikant ist die Ambivalenz des Konzepts. Es handelt sich nicht allein um eine Erkenntnis, sondern um das spirituelle Durchdringen zu einem höheren Bewusstsein, eine Erleuchtung, die nur wenigen zu Teil wird. Der Protagonist mit dem Apostelnamen Andreas – der mit einem Buchstaben, dem X als Kreuzigungszeichen, in Verbindung steht – wird als eine spirituelle Figur gekennzeichnet, deren baldiger Tod im Zentrum der Erzählung steht. Über diese Vorausdeutung stellt Der Zug war pünktlich Parallelen zur Passionsgeschichte her.

 Eberhard Lämmert hat Textkonstruktionen, in denen Figuren proleptisch auf Zukünftiges vorausdeuten, als „zukunftsungewiss[e] Vorausdeutung“ bezeichnet. Durch die Beglaubigung des Erzählers wird die Ahnung zur „zukunftsgewissen Vorausdeutung“. Lämmert geht sporadisch auf den Zusammenhang von Religion beziehungsweise Mythos und Zukunftsvoraussagungen anhand der Genera Märchen, Legende und Sage ein. Lämmert, Bauformen des Erzählens. S. 143 f., 175 und 179 f. Für die Figur Andreas bleiben keine Zweifel am bevorstehenden Tod, die ungewisse Ahnung über die eigene Zukunft verfestigt sich zur Gewissheit. Dies liegt an der ontologischen Verfasstheit der Diegese von Der Zug war pünktlich und am Glauben der Figur. Beide Aspekte relativieren die Trennlinie von Figurenungewissheit und Erzählergewissheit.  Böll, Der Zug war pünktlich. S. 295.  Böll, Der Zug war pünktlich. S. 295.  Böll, Der Zug war pünktlich. S. 295.  Böll, Der Zug war pünktlich. S. 295.

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2 Auslassung und Andeutung. Heinrich Bölls Kriegsprosa

Andreas, der vor der Fahrt zur Front sein Gewehr vergessen hat (!), ist durch das Ertragen von Leid gekennzeichnet.¹⁵² Die als Erleuchtung bezeichnete Todesgewissheit, die sich im Wort ‚bald‘ ausdrückt, ist der Ausgangspunkt für das auffällige Pathos von Bölls Text. Unter dem Begriff ‚Pathos‘ versteht man in der Rhetorik eine leidhafte Erfahrung sowie den verbalisierten, gestischen oder mimischen Ausdruck dieser Erfahrung. Pathos meint etwas, das „einer Person oder einem Ding zustößt oder widerfährt“, „(körperliche[s] oder seelische[s]) Leid“, ein „Erleidnis der Seele, die Leidenschaft oder den Affekt als vorübergehende, heftige seelische Erschütterung oder Erregung“, verbunden mit der „Äußerung und Artikulation dieser Erregung in Wort oder Gebärde als Ausdruck des inneren P. und als Mittel, gleichartiges P. im Adressaten zu erzeugen“.¹⁵³ Damit ist zugleich das Ethos als Referenzrahmen des Pathos adressiert. Das rhetorische Pathos ist eine problematische Kategorie, insbesondere in der Zeit nach 1945. Vor dem Hintergrund der politischen Instrumentalisierung der Sprache und des inflationären Gebrauchs pathetischer Rede in der Rhetorik des Nationalsozialismus grenzen sich die auf der Sachlichkeit und Nüchternheit ihrer Texte bestehenden Autorinnen und Autoren des Kahlschlags und der Trümmerliteratur, die zugleich den Kern der Gruppe 47 bilden, vom Pathos ab. Doch ihre Abgrenzung gestaltet sich komplex. Auszumachen ist eine programmatische Distanzierung vom Pathos bei gleichzeitigem Pathosgebrauch innerhalb der literarischen und poetologischen Texte. Das Resultat der spannungsreichen Konstellation ist ein nüchternes Pathos, das unter anderem Günter Eichs „Inventur“ (1947), den locus classicus des lyrischen Kahlschlags, prägt.¹⁵⁴

 Vgl. die Todesahnung Jesu in Mt. 20, 17– 19: „Als Jesus nach Jerusalem hinaufzog nahm er die zwölf Jünger beiseite und sagte unterwegs zu ihnen: ‚Siehe, wir gehen nach Jerusalem hinauf; und der Menschensohn wird den Hohepriestern und Schriftgelehrten ausgeliefert; sie werden ihn zum Tod verurteilen und den Heiden ausliefern, damit er verspottet, gegeißelt und gekreuzigt wird; und am dritten Tag wird er auferweckt werden.‘“ Vorausdeutungen sind ebenso in der Passionsgeschichte des Markusevangeliums ein rekurrentes Textelement. Vgl. Mk. 14, 1– 16.  Manfred Kraus, s.v. Pathos. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding, Bd. 6, Tübingen 2003, S. 689. Die Artikulation des Pathos greift auf diverse rhetorische Mittel zurück, etwa Amplifikation, Interjektion, Apostrophe sowie Anakoluth und Aposiopese.  Joachim Jacob hat auf diesen Zusammenhang anhand von Günter Eich, Gustav René Hocke und Heinrich Böll aufmerksam gemacht: „In ganz ähnlicher Weise situieren demnach sowohl Hocke als auch Böll die dokumentarisch ungerührte Literatur der Nachkriegszeit, die sich von einer offenkundig als unwahr empfundenen literarischen Schreibweise absetzen will, in einem hochpathetischen Produktions- und Rezeptionszusammenhang. Der nüchterne Text ist einem gleichermaßen hoch erregten Ausdrucks- wie Wirkungsbedürfnis zugeschrieben.“ Joachim Jacob, Kahlschlag Pathos. Ein verdrängtes Phänomen in der frühen deutschen Nachkriegsliteratur. In:

2.3 Pathos der Auslassung: Der Zug war pünktlich

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Für die Analyse ist entscheidend, dass der Der Zug war pünktlich nur in Teilen im nüchtern-pathetischen Duktus operiert. In dieser Hinsicht divergiert der Text von der Trümmer- und Kahlschlagliteratur, sein Duktus ist an markanten Stellen üppiger, heikler. Wie dies sprachlich realisiert und diskursiv eingebettet ist und wie sich die Verfahrensweise des Textes zur Frage nach dem adäquaten Gebrauch von Pathos verhält, wird im Verlauf des Kapitels diskutiert. Zurück zum Temporaladverb ‚bald‘: An der ‚seelischen Erschütterung‘ des Protagonisten Andreas fällt in narrativer Hinsicht auf, dass sie primär die Rede des Erzählers anregt, der nullfokalisiert auf den psychophysischen Zustand des Protagonisten eingeht. Nach einer Pause im Erzählfluss heißt es, „… und das Wort sinkt, sinkt tief in sie [die Erleuchteten, P.P.] hinein“.¹⁵⁵ Auf die Prozesshaftigkeit, die mit der metaphorischen Geminatio „sinkt, sinkt“ umrissen wird, weist der letzte Passus des Zitats hin. Bei der Figur Andreas wird der Prozess an den soldatischen Körper gebunden, er ist gewaltsamer, abrupter. Das Wort ‚bald‘ ähnelt einem „Geschoß“, das „irgendwo widerhakte, aufplatzte, eine wilde Wunde riß und Blut verströmen machte … Leben … Schmerz …“.¹⁵⁶ (Nüchternes) Pathos stellt sich hier erstens durch die Wahl der Begriffe und zweitens durch die zugleich feierlich-pausierende und Angst ausdrückende Markierung der Begriffe in Form der Auslassungspunkte ein. Dieses Pathos der Auslassung hebt ein Schlüsselkonzept, die Erfahrung von ‚Schmerz‘, im Rahmen der Interpunktion hervor. In verfahrenstheoretischer Hinsicht kann die Textstelle als Lexemexponierung in Folge eines aposiopesischen Satzabbruchs näher gefasst werden. Bei der Lexemexponierung behält das Zeichen seine Semantik, wenngleich sich die Signifikation als diffizil erweist. Bölls Text exponiert mit Hilfe der Aposiopese Zeichen, deren Signifikate anthropologische Grunderfahrungen (‚Schmerz‘) oder allgemeine Existenzweisen (‚Leben‘) bezeichnen. Diese Zeichen sind derart

Berührungen. Komparatistische Perspektiven auf die frühe deutsche Nachkriegsliteratur, hg. von Günther Butzer und Joachim Jacob, München / Paderborn 2012, S. 243 – 261, hier S. 252. Der nüchtern-pathetische Duktus basiert auf einer traditionsreichen Unterscheidung, auf der Trennung von ‚hohem‘ und ‚hohlem‘ Pathos. ‚Hohles‘ Pathos ist rhetorischer Zierrat, ‚hohes‘ Pathos impliziert dagegen Aufrichtigkeit: „Jedoch birgt der pathetische Stil, insbesondere bei nur vorgetäuschtem (affektierten P.), stets die Gefahr des Übertreibens und Abgleitens in Schwulst und falsches P., ‚hohles‘ P. (tumor, Bathos, Parenthyrsos)“. Kraus, s.v. Pathos. S. 690. Zur Forschungsdiskussion des Begriffs und seiner inhärenten Spannung zwischen ‚hohem‘ und ‚hohlem‘ Pathos vgl. Cornelia Zumbusch, Probleme mit dem Pathos. Zur Einleitung. In: Pathos. Zur Geschichte einer problematischen Kategorie, hg. von Cornelia Zumbusch, Berlin: Akademie Verlag 2010, S. 7– 24, bes. S. 12– 14.  Böll, Der Zug war pünktlich. S. 295.  Böll, Der Zug war pünktlich. S. 295.

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2 Auslassung und Andeutung. Heinrich Bölls Kriegsprosa

universalisiert, dass sie in ihrer isolierten Form als zugleich unkonkret und kulturell übercodiert, als abstrakt und semantisch besonders reichhaltig sowie gewichtig auftreten. Ein Zeichen wie ‚Leben‘ ist in ästhetischer und philosophischer sowie ideologisch-politischer Hinsicht vielfältig besetzt, man denke an den Vitalismus der Jahrhundertwende, die Lebensphilosophie oder die Verwendung der Vokabel im Nationalsozialismus. Die Crux ist, dass Zeichen wie ‚Leben‘ und ‚Schmerz‘ innerhalb von Bölls Text im Abstrakten verbleiben (müssen). Unterstützt durch ihre exponierte Position außerhalb eines syntaktisch korrekten und abgeschlossenen Satzes lassen sie sich nur eingeschränkt signifizieren, suggerieren aber semantischen Gehalt und Anschlussfähigkeit.¹⁵⁷ Das punktuelle Ausstellen solcher Existenzsignifikanten – man kann auch formulieren: zeichenhafter Bedeutsamkeitsgeneratoren – ist über die schicksalshafte, spirituelle Grenzerfahrung des Soldaten Andreas motiviert.

 In der Analyse von Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues (1929) bezeichnet Moritz Baßler den Begriff ‚Leben‘ treffend als „Dummy-Instanz“, die parat steht. Der Text setzt sie an die Stelle eines Sinncodes und umgeht dadurch „‚Bedeutungslosigkeit‘“. Baßler, Deutsche Erzählprosa. S. 304. Die Lexemexponierung ist von der „Lexemautonomie“ im Sinne der Verfahrensweise der historistischen Moderne zu unterscheiden, wie sie etwa in Joris-Karl Huysmans’ À rebours (1884) auftritt. In Huysmans’ Dekadenztext werden Lexeme aus dem syntagmatischen Zusammenhang über die Form des Katalogs isoliert. Das Ergebnis ist eine Reihe von Begriffen, die sich paradigmatisieren lassen, etwa durch die Oberbegriffe ‚exotische Pflanzen‘ oder ‚Edelsteine‘. Diese Lexeme werden ihrer signifizierenden Funktion entledigt, sie sind „Signifikant, eine Zeichen- und Klanghülse“. Es ist sekundär, welche „Bedeutungsnuance“ zum Beispiel mit dem Signifikanten ‚Chrysolith‘ gemeint ist und wie dieser Edelstein im Detail aussieht. Im Fokus stehen der Klang des Zeichens und das aus der gemmologischen Terminologie entlehnte, ‚exotisierende‘ Schriftbild des Lexems. Baßler et al. gehen in der Konzeptualisierung des Begriffs „Lexemautonomie“ weiter: „Wenn Kataloge mit der Struktur des umgebenden Textes nurmehr durch ihren Oberbegriff verbunden sind, so daß zwar dieser noch, nicht mehr aber das einzelne katalogisierte Lexem für die Semiose des Gesamttextes konstitutiv bleibt, stellt sich ein merkwürdiger Effekt ein: die einzelnen Lexeme des Kataloges werden in ihrer semantischen Valenz stark beschnitten. Im durch den Oberbegriff vorgegebenen Rahmen ist die spezielle Bedeutungsnuance des einzelnen Katalogelements […] für das Verständnis des Textes ohne Bedeutung. Hier gibt es nichts zu verstehen, insofern erübrigt sich auch ein Kommentar, wie er bei unbekannten Lexemen älterer Texte zu deren Verständnis hilfreich, ja notwendig war.“ Moritz Baßler / Christoph Brecht / Dirk Niefanger / Gotthart Wunberg, Historismus und literarische Moderne. Mit einem Beitrag von Friedrich Dethlefs, Tübingen 1996, S. 141.

2.3.1 Soldatenmusik vs. gratia lacrymarum

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2.3.1 Soldatenmusik vs. gratia lacrymarum Einen Kontrast zur existentiellen Erfahrung auf dem Bahnsteig bilden die „stumpfsinnigen“ Gesänge von Soldaten,¹⁵⁸ die ein wiederkehrendes Merkmal in Bölls Kriegs- und Heimkehrertexten darstellen. In Der Zug war pünktlich werden die Gesänge in der Gedankenrede diskreditiert, zudem verhandelt der Text über sie Aspekte der Libido, ganz ähnlich wie in „Grün ist die Heide“.¹⁵⁹ Die Zugfahrt nach Polen verbringt Andreas Karten spielend, trinkend, schlafend und betend. Mit ihm im Abteil sind die zwei Kameraden, Willi und ‚der Blonde‘. Andreas wacht auf, da der Zug auf einem Nebengleis anhält und hört, daß draußen Waggons vorbeirollen, und er hört, daß die Soldaten in den Zügen Lieder singen … ihre alten, blöden, stumpfsinnigen Lieder, die so tief in ihren Eingeweiden sitzen, daß sie dort eingegraben sind wie eine Melodie in eine Grammophonplatte, und wenn sie den Mund aufmachen, dann singen sie diese Lieder: Heidemarie und Wildbretschütz… Auch er hat sie manchmal gesungen, ohne zu wissen und zu wollen, diese Lieder, die man einfach hineingesenkt hat, eingegraben, eingedrillt, um ihre Gedanken zu töten. Diese Lieder schreien sie jetzt in die dunkle, finstere, traurige polnische Nacht hinaus, und es scheint Andreas als müsse er fern, fern irgendwo ein Echo hören, hinter dem finsteren unsichtbaren Horizont, ein spöttisches, kleines und sehr scharfes Echo … Wildbretschütz … Wildbretschütz … Heidemarie. Viele Waggons müssen das sein, dann ist nichts mehr, und alle kommen von den Fenstern auf ihre Plätze zurück. Auch Willi und der Blonde. „SS“, sagt Willi, „die werden bei Tscherkassy reingeschmissen. Da ist wieder ein Kessel oder so was. Kesselflicker!“ „Die werden es schon schmeißen“, sagt eine Stimme…¹⁶⁰

Im Rahmen der internen Fokalisierung des Protagonisten Andreas konstruiert der Text eine metaphorische Maschinisierung des soldatischen Körpers. Die singenden Soldaten ähneln Abspielgeräten, die eine Anzahl von Volks- und Marschliedern automatisiert abrufen, sobald sie „den Mund aufmachen“.¹⁶¹ Der Zweck des

 Böll, Der Zug war pünktlich. S. 344.  Zu den (Soldaten‐)Liedern in Der Zug war pünktlich hält Christine Hummel fest, dass sie „ein Milieu oder aber das Befinden der Figuren […] vermitteln“. Christine Hummel, Intertextualität im Werk Heinrich Bölls, Trier 2002, (Schriftenreihe Literaturwissenschaft. Bd. 59) S. 38 – 40. Obgleich die Beobachtung zutreffend ist, erweist sie sich als ein wenig verkürzt, wenn man – wie Hummel es über weite Strecken macht – auf eine Analyse der Liedtexte und eine hinreichende Kontextualisierung der Lieder vor dem Hintergrund ihrer aktualisierten Textumgebung verzichtet. Hummel geht in ihrer Untersuchung vielmehr diachron vor und legt den Fokus etwa auf literarische Rekurse in Bölls Oeuvre.  Böll, Der Zug war pünktlich. S. 344 f.  Böll, Der Zug war pünktlich. S. 344.

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2 Auslassung und Andeutung. Heinrich Bölls Kriegsprosa

musikalischen Drills wird unzweideutig erläutert („um ihre Gedanken zu töten“), wobei sich Andreas allein aufgrund der Reflexion, dass er die Lieder nur „manchmal“ und habituell mitgesungen hat, von den Sängern abgrenzt.¹⁶² Diese sind, so ist anzunehmen, nicht in der Lage, den maschinisierten Habitus als solchen zu erkennen. Die Texte der Lieder „Heidemarie“ (1939, Berbuer) und „Ich bin ein freier Wildbretschütz“ (1911, Löns) verbinden Heimatmotive mit amourösen Szenarien. Dominant sind bei ihnen soldatische Aspekte beziehungsweise Jagdaspekte, die im Kriegskontext in euphemisierter Form aktualisiert werden. In „Heidemarie“, gesungen etwa vom Kölner Willy Schneider, der auch nach dem Zweiten Weltkrieg populär war („Schütt’ die Sorgen in ein Gläschen Wein“, 1951), treffen Soldatenleben, Liebschaften und Weingenuss auf Marschmusik und Teile der Melodie von „Die Wacht am Rhein“. Der Refrain lautet: „Heidemarie, / wenn wir am Rhein marschieren, / Heidemarie, / wenn wir den Wein probieren, / dann wünsch’ ich mir dazu / und der Kompanie / eine die küsst wie Du, / Heidemarie“.¹⁶³ Das Lied „Ich bin ein freier Wildbretschütz“, komponiert auf das Gedicht Edelwild von Hermann Löns, steht in direkter Relation zur Metaphorik der Gedankenrede des Protagonisten. Sein Liedtext kontrastiert mit der Automatisierung der Soldaten, wie sie Andreas skizziert. Ich bin ein freier Wildbretschütz Und hab ein weit Revier. Soweit die braune Heide geht, Gehört das Jagen mir. Refrain: Horrido, horrido, horrido, horrido, horrido, horrido, hussassa, horrido, horrido, horrido, horrido, horrido, hussassa Soweit der blaue Himmel reicht, gehört mir alle Pirsch, auf Fuchs und Has’ und Haselhuhn, auf Rehbock und auf Hirsch. Refrain Doch weiß ich ein fein’s Mägdelein, auf das ich lieber pirsch,

 Böll, Der Zug war pünktlich. S. 344.  Willy Schneider, Heidemarie, wenn wir am Rhein marschieren. Marschlied, Berlin 1939 (Die Stimme seines Herrn. 11374 B).

2.3.1 Soldatenmusik vs. gratia lacrymarum

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viel lieber als auf Has’ und Huhn, auf Rehbock oder Hirsch. Refrain Und daß sie einem andern gehört, macht keine Sorge mir. Ich bin ein freier Wildbretschütz Und hab ein weites Revier. Refrain ¹⁶⁴

Die kontextuelle Transposition von Löns’ „Edelwild“ erweist sich als perfide. Kriegsgefechte werden durch die Übertragung der Jagdmotive (wie zum Beispiel das ‚Pirschen‘) in den soldatischen Kontext mit weidmännischen Abenteuern parallelisiert. Mit dieser spielerischen Konzeption des Krieges steht auch der kolloquiale Satzwechsel zwischen Willi und dem anonymen Soldaten in Verbindung. In ihm kommt noch eine Entlehnung aus der handwerklichen Terminologie hinzu. Der „Kessel“ und die „Kesselflicker“¹⁶⁵ sind Hinweise auf die ‚Kesselschlacht‘ um Stalingrad (das Geschehen der Erzählung ist auf das Jahr 1943 datiert). Dies legt die Einschätzung der anonymen Soldatenstimme in ihrer stellvertretenden Naivität offen („Die werden es schon schmeißen…“).¹⁶⁶ Das Löns-Lied legitimiert die soldatischen Handlungen. Im Liedtext werden Gebietsansprüche verhandelt, die die Jagd organisieren („Und hab ein weit Revier. / Soweit die braune Heide geht, / Gehört das Jagen mir“).¹⁶⁷ Damit dehnt sich das Heimatrevier auf fremdes Staatsterritorium aus. Ein Aspekt sorgt für Irritation: Es ist zu überlegen, ob es sich beim „freie[n]“ Wildbretschütz um einen Wilderer handelt,¹⁶⁸ der zum Zweck der Nahrungsbeschaffung auf die Jagd geht. Dies würde die wiederholte Betonung des Wildbrets, des Wildfleisches, erklären. Allerdings wäre damit die liedhafte Legitimation der Kriegshandlungen geschwächt. Der Text kulminiert im Beute-Motiv, das im aktualisierten Kontext von Bölls Erzählung die feindlichen Truppen zur animalisierten Beute macht. Darüber hinaus geht der soldatische ‚Wildbretschütz‘ auf ‚Pirsch‘ auf die ‚Beute Frau‘.

 Hermann Löns, Edelwild [1911]. In: Wie ein stolzer Adler … schwingt sich auf das Lied. Alte und neue Soldatenlieder und Gedichte für unsere Wehrmacht und für die Kameradschaften, hg. von Alfred Reichert und Franz Hübner, Berlin 1939, Nr. 65, S. 62.  Böll, Der Zug war pünktlich. S. 345.  Böll, Der Zug war pünktlich. S. 345.  Löns, Edelwild. S. 62.  Löns, Edelwild. S. 62.

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2 Auslassung und Andeutung. Heinrich Bölls Kriegsprosa

„Ich bin ein freier Wildbretschütz“, „Heidemarie“ und weitere Lieder wie „Es ist so schön, Soldat zu sein“ oder das „Deutschlandlied“ bilden den musikalischen Hintergrund der Zugfahrt. Ein zweites Mal überholt ein Transport der SS, erneut erklingen die Lieder. Im Anschluss daran betet Andreas. Seine Buß- und Beichtgebete zielen auf Verfehlungen aus der Schulzeit und der Zeit als Soldat. Die vorletzte Nacht meines Lebens will ich nicht verpennen, nicht verdösen, nicht mit Schnaps besudeln und nicht versäumen. Ich muß jetzt beten und vor allen Dingen bereuen. […] Wenn ich nur weinen könnte. Über alles kann ich nicht einmal weinen. Es ist mir schmerzlich und schwer und furchtbar, aber ich kann nicht darüber weinen. Alle können sie weinen, sogar der Blonde, nur ich kann nicht weinen. Gott, schenke mir, daß ich weinen kann…¹⁶⁹

Gegen die Betäubung des soldatischen Diensts durch Alkohol, Schlaf oder Gesang setzt Andreas angesichts seines nahenden Todes auf eine Lebensbeichte im Gebet. Die gegensätzlichen Ausdrucksformen – Introspektion und Buße des Gebets versus Gruppenbildung und Kriegslegitimation des Gesangs – sind äquivalent in ihrer sprachlichen Formelhaftigkeit und in ihrem ritualisierten Gebrauch. Signifkant ist der vorgebrachte Wunsch, weinen zu können. Mit dieser durch Auslassungspunkte Nachdruck verliehenen Bitte an Gott bringt Bölls Text die „anthropologische Pathosformel schlechthin“ in Position.¹⁷⁰ Tränen sind semiotisch betrachtet indexikalische Zeichen, die auf eine „individualisierte, zwischenmenschliche Gefühlskultur“ hindeuten, „gleichsam die Entwicklung des Menschen zu einem fühlenden, mitfühlenden Wesen“ in Form eines Indexes bezeichnen.¹⁷¹ Die von Andreas als Geschenk verstandene Erfüllung des Wunsches zu weinen, rekurriert auf einen christlichen Topos, auf die gratia lacrymarum, die Tränengabe. Gemeint ist „eine göttliche Gabe oder Gnade, für deren Erlangung die Fähigkeit exzessiven Weinens ausgebildet werden muss. Gabe ist also im doppelten Sinne zu verstehen: als Gnade und als Vermögen“.¹⁷² Sigrid

 Böll, Der Zug war pünktlich. S. 348 – 350. Zudem möchte der Protagonist Fürbitten sprechen: „Andreas will beten, will unbedingt beten, erst alle die Gebete, die er immer gebetet hat, und noch ein paar eigene dazu, und dann will er aufzählen, anfangen aufzuzählen, die, für die er bitten muß, aber er denkt, daß es Irrsinn ist, alle aufzuzählen. Man müsste alle aufzählen, die ganze Welt.“ Böll, Der Zug war pünktlich. S. 351.  Sigrid Weigel, Tränen im Gesicht. Zur Ikonographie der Tränen in einer vergleichenden Kulturgeschichte von Trauergebärden. In: Gesichter. Kulturgeschichtliche Szenen aus der Arbeit am Bildnis des Menschen, hg. von Sigrid Weigel, München 2013, S. 103 – 126, hier S. 103 f.  Weigel, Tränen im Gesicht. S. 113.  Weigel, Tränen im Gesicht. 113 f. Die Tradition der Tränengabe hat ihre Quelle in den Apophthegmata Patrum, einer Sammlung von Sprüchen der Wüstenväter, frühchristlicher Mönche

2.3.1 Soldatenmusik vs. gratia lacrymarum

119

Weigel hat darauf anhand von Beispielen aus der christlichen Bildhauerei und Malerei, etwa des altniederländischen Malers Rogier van der Weyden (1399/1400 – 1464), sowie anhand des Passionsschauspiels hingewiesen. Dabei bestimmt sie die Tränen im Gesicht in Abwandlung des Warburg’schen Begriffs als konstitutives Zeichen der Passionsikonografie, „als eine der folgenreichsten […] Passionsformeln“.¹⁷³ Eine Schlüsselfigur der Tränenikonografie der Passionsgeschichte ist Maria Magdalena, so auch in den Bildern Rogiers van der Weyden, auf denen die Jüngerin Jesu weinend zu sehen ist. Dem Neuen Testament zufolge wohnte Maria Magdalena der Kreuzigung bei, beerdigte Jesus Christus und war Zeugin seiner Auferstehung. Die Überlieferung, dass die Begleiterin Jesu eine Sünderin war, geht auf Papst Gregor I. (um 540 – 604) zurück, der sie mit der anonymen Sünderin im Lukasevangelium gleichsetzt, die Jesus die Füße wusch (Lk. 7, 36 – 50). Im Anschluss daran entwickelt sich die popularisierte Vorstellung, dass Maria aus Magdala als Prostituierte tätig war.¹⁷⁴ Bölls Der Zug war pünktlich entwirft mit der Prostituierten Olina eine Figur, die angesichts der Passionsmotive und des Konzepts der Tränengabe Parallelen zur vulgarisierten Maria Magdalena nahelegt. Ein wichtiger Hinweis auf Maria Magdalena geht von Wilhelm Müllers Gedicht „Der Glockengruß zu Breslau“ (1820) aus, das von Andreas während der Zugfahrt erwähnt wird. Der romantische Text bezieht sich auf die Kirche St. Maria Magdalena in Breslau und hat die als ‚Sünderglocke‘ bezeichnete Magdalenenglocke zum Gegenstand.¹⁷⁵ Bei der Prostituierten Olina beichtet der Soldat, bei ihr erfüllt sich seine Bitte nach den Tränen. Dafür ist jedoch eine weitere Komponente notwendig: Die Erfahrung von Kunst.

Ägyptens (4./5. Jh.). Eine weitere wichtige Quelle der christlichen Tränentradition stellt das „Weinen Jesu“ in Lk. 19, 41 und Joh. 11, 35 dar. Die Tränengabe führt „näher zu Gott bzw. zu prakt. Nächstenliebe“. Reuetränen werden „primär angesichts eigener Sünden, jedoch auch angesichts der Sünden anderer bzw. der Verderbtheit der Welt“ vergossen.Von dem Weinen aus Reue sind die Tränen aus Mitgefühl und die Tränen der Andacht zu unterscheiden. Manfred Plattig, s.v. Tränengabe. In: Lexikon für Theologie und Kirche. Hg. von Walter Kasper et al., Bd. 10, Freiburg u. a. 2001, S. 165.  Weigel, Tränen im Gesicht. S. 113 f.  Vgl. dazu Silke Petersen, s.v. Maria aus Magdala. In: Wissenschaftliches Bibellexikon. Onlinequelle: http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/51979. S. 1– 17, hier S. 15 f.  Vgl. Wilhelm Müller, Der Glockengruß zu Breslau [1820]. In: Müller, Werke, Tagebücher, Briefe. Hg. von Maria-Verena Leistner, Bd. 1, Berlin 1994, S. 110 – 113.

120

2 Auslassung und Andeutung. Heinrich Bölls Kriegsprosa

2.3.2 Tränen I: Im „siebenten Himmel der Liebe…“ Verblüffend ist der Umweg, der den Protagonisten zum erwünschten Weinen führt. Es ist ein Weg über den Schlager zur Klassik, der Bölls Text in stilistische Probleme abgleiten lässt. Das Verhältnis von Andreas und der von den Kolleginnen ‚Opernsängerin‘ genannten Olina entwickelt sich im Laufe der gemeinsamen Stunden zu einer Form von Seelenverwandtschaft. Die Erzählung stellt diverse, über das Biographische hinausgehende Ähnlichkeiten zwischen den Figuren heraus. So hat Olina Klavier studiert, während Andreas selbiges vorhatte, aber kriegsbedingt nicht konnte. Die markanteste Verbindung besteht jedoch darin, dass auch sie im Gespräch mit Andreas ihren baldigen Tod ahnt. Physisches Begehren, so stellen die Figuren fest, fehlt der christlich überhöhten Begegnung. Ein emotionaler Austausch findet im Gespräch und vermittelt durch die Musik statt: „Ach“, sagt sie plötzlich, „warum willst du nicht lieben? Warum willst du nicht mit mir tanzen?“ Sie springt zum Klavier und setzt sich hin. Und dann spielt sie: „Ich tanze mit dir in den Himmel hinein, in den siebenten Himmel der Liebe…“ Andreas lächelt. „Spiel doch die Beethovensonate … spiel ein …“ Aber sie spielt noch einmal: Ich tanze mit dir in den Himmel hinein, in den siebenten Himmel der Liebe. Sie spielt das sehr leise, so leise, wie der Dämmer jetzt durch den offenen Vorhang ins Zimmer sinkt. Sie spielt diesen sentimentalen Schlager ohne Sentimentalität, das ist seltsam. Die Töne wirken hart, fast punktiert, sehr leise, fast so, als mache sie unversehens aus diesem Bordellklavier ein Cembalo. – Cembalo, denkt Andreas, das ist das richtige Instrument für sie, sie muß Cembalo spielen… Es ist nicht mehr dieser Schlager, den sie spielt, und doch ist es nur dieser Schlager. Wie schön ist dieser Schlager, denkt Andreas. Unheimlich, was sie aus diesem Schlager macht. Vielleicht hat sie auch Komposition studiert, und sie macht aus diesem kleinen Schlager eine Sonate, die im Dämmer hängt. Manchmal, zwischendurch, punktiert sie die alte Melodie hinein, ganz rein und klar, ohne Sentimentalität: Ich tanze mit Dir in den Himmel hinein, in den siebenten Himmel der Liebe. Manchmal, zwischen den sanften, spielerischen Wellen, läßt sie das Thema wie eine steinerne Klippe aufsteigen.¹⁷⁶

Bölls Text operiert an dieser Stelle mit der Dichotomie von E- und U-Musik. Die Zweiteilung in ‚hohe‘ Kunst und ‚niedere‘ Unterhaltung ist nicht nur reziprok und komplementär, ihre Grenze ist hier als tendenziell durchlässig markiert. Die beiden Teile stehen insofern in einem Austausch, da die Schlagerkomposition die Grundlage einer kunstähnlichen Erfahrung bilden kann. Allerdings heißt dies nicht, dass die Dichotomie dadurch brüchig würde. Olinas Transposition ge Böll, Der Zug war pünktlich. S. 374 f.

2.3.2 Tränen I: Im „siebenten Himmel der Liebe…“

121

schieht durch die Virtuosität ihres Spiels, durch ihre Kunstfertigkeit, die den langsamen Walzer aus dem Bereich der Unterhaltungsmusik dem Bereich der Kunstmusik annähert. Andreas zeigt sich überrascht von der Übertragung („seltsam“, „[u]nheimlich“).¹⁷⁷ Konjunktivisch, metaphorisch und mit dem Verweis auf das kaum in der Populärmusik eingesetzte Cembalo versprachlicht er seine ästhetische Erfahrung in der Gedankenrede. Dabei leitet die räumliche Relation zwischen ‚oben‘ und ‚unten‘, die der Wertunterscheidung von ‚hoher‘ und ‚niederer‘ Kunst inhärent ist, die Metaphorisierungen des Textes („eine Sonate, die im Dämmer hängt“, „wie eine steinerne Klippe aufsteigen“).¹⁷⁸ Auffällig ist die Vorstellung der reduzierenden ‚Bereinigung‘ („ganz rein und klar“), die mit der Transposition einhergeht. Unterstützt wird dies durch die wiederholte Bemerkung, dass das Stück „leise“ vorgetragen wird. Olinas Interpretation verzichtet, so drückt Andreas es aus, auf die rührenden, die als Zierrat verstandenen Aspekte der musikalischen Vorlage („Sentimentalität“)¹⁷⁹ und löst sie von ihrer tanzmusikalischen Funktion, ein Paar in physischer Hinsicht zueinander zu bringen.¹⁸⁰ Vielmehr extrahiert Olina, so legt die Formulierung „nicht mehr dieser Schlager […] und doch ist es nur dieser Schlager“ nahe,¹⁸¹ eine Form von musikalischer Quintessenz des Stücks. Diese Quintessenz macht den Schlager in der Logik der Diegese beinahe zur Kunst, aber – so muss man betonen – eben nur beinahe. Angesichts der Anspielungen auf die christliche Passion und Auferstehung in Bölls Text erscheint die Wahl des Schlagertitels „Ich tanze mit dir in den Himmel hinein“ (T: Hans Fritz Beckmann / K: Friedrich Schröder) als überstrapazierte Äquivalenzbildung. Das Schlagerlied stammt aus dem Film Sieben Ohrfeigen

 Böll, Der Zug war pünktlich. S. 374.  Böll, Der Zug war pünktlich. S. 374 f.  Böll, Der Zug war pünktlich. S. 375.  Sentimentalität kann man mit Friedrich Theodor Vischer als Rührung im Sinne eines „absichtliche[n] Schwelgen[s] in der Empfindung“ auffassen. Die Rührung ist sowohl ein Modus der Produktion als auch der Rezeption. Friedrich Theodor Vischer, Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Zum Gebrauche für Vorlesungen [1846 – 1857], hg. von R.Vischer, München 21920, S. 612. Ferner ist die Sentimentalität von einer selbstbezüglichen Komponente gekennzeichnet, wie Andreas Dorschel herausstellt. „Die sentimentale Emotion verhält sich zur schlicht auf ihren Gegenstand bezogenen wie intentio obliqua zu intentio recta: Rührung nicht mehr bloß über diesen oder jenen Gegenstand, sondern über die eigene Rührung – und dies wäre sogar noch weiter iterierbar“. Dorschel zeichnet die Entwicklung des Begriffs von einer meliorativen zu einer pejorativen Kategorie nach. Andreas Dorschel, „Sentimentalität. Über eine Kategorie ästhetischer und moralischer Abwertung. In: Perspektiven der Philosophie. Neues Jahrbuch, XXXI, 2005, S. 11– 22, hier S. 18.  Böll, Der Zug war pünktlich. S. 374.

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2 Auslassung und Andeutung. Heinrich Bölls Kriegsprosa

(1937), einer UFA-Komödie mit Lilian Harvey und Willy Fritsch nach dem Vorbild der amerikanischen screwball comedies. In diesem Film wird das Lied allerdings nur in einer Instrumentalversion verwendet. Harvey und Fritsch, die mehrfach gemeinsam vor der Kamera standen und als Liebespaar galten, singen „Ich tanze mit dir in den Himmel hinein“ parallel zum Film in einer Textversion für eine separate Schallplattenveröffentlichung. Daraufhin zählt das Lied zum festen Bestandteil der Radiosendungen. Dass Bölls Erzählung mit dem Schlager auf Harvey referiert, ist schlüssig vor dem Hintergrund von Olinas Engagement für den polnischen Widerstand. Der Publikumsliebling Harvey galt dem Regime als nicht linientreu, wurde von der Gestapo beobachtet und unterstützte von den Nationalsozialisten Verfolgte. 1939 emigrierte Harvey nach Frankreich und schließlich nach Hollywood.¹⁸² Ein Blick in den Liedtext des Schlagers ist lohnenswert: Wenn wir uns im Tanze wiegen, Ist mir so, als könnt’ ich fliegen, Hoch zu den Sternen, zum Himmel empor! Tanzmusik und Glanz der Lichter Macht mich selig und zum Dichter, mir fällt ein Lied ein, Das sing’ ich dir vor: Refrain: Ich tanze mit dir in den Himmel hinein, In den siebenten Himmel der Liebe. Die Erde versinkt, und wir zwei sind allein, in den siebenten Himmel der Liebe. Komm laß uns träumen bei leiser Musik Unser romantisches Märchen vom Glück, und tanze mit mir in den Himmel hinein, in den siebenten Himmel der Liebe.

 Filme wie Die drei von der Tankstelle (1930), Der Kongreß tanzt (1931) und Ein blonder Traum (1932) machten Harvey zum Star. Laut ihrem Biographen half Harvey Verfolgten zur Flucht auf ihr Gut in Tetétlen in Ungarn. Der Film Sieben Ohrfeigen basiert auf dem ungarischen Unterhaltungsroman Hét pofon (1934) von Károly Aszlányi und setzt auf internationales Flair. Er erzählt vom Londoner William MacPhab (Willy Fritsch), der durch Aktienverluste in einen Streit mit dem Stahlfabrikanten Astor Terbanks gerät und mit dessen Tochter Daisy anbandelt (Lilian Harvey). MacPhab will Astor Terbanks an sieben aufeinanderfolgenden Tagen eine Ohrfeige geben. Untertitelt lief Sieben Ohrfeigen auch in den USA als Seven Slaps.Willy Fritsch, dessen Verhältnis zum Regime weniger getrübt war, spielte nach dem Zweiten Weltkrieg im Heimatfilm Grün ist die Heide (1951) die Rolle des Amtsrichters.Vgl. Uwe Klöckner-Draga, „Wirf weg, damit du nicht verlierst…“. Lilian Harvey. Biographie eines Filmstars. Mit 142 Fotos und Dokumenten, Berlin 1999, S. 234– 236 und S. 244– 247.

2.3.2 Tränen I: Im „siebenten Himmel der Liebe…“

123

Du, ich fühl mich augenblicklich, wirklich glücklicher als glücklich, weil ich verliebt bin, drum bin ich so froh. Hundert Lieder möcht’ ich singen, die in meinem Herzen klingen, und jedes Lied sagt: Ich liebe dich so! Refrain ¹⁸³

Die Liebesbekundung verwendet Paarreime sowie umarmende Reime und verbalisiert eine Perfomancesituation, die eine Verbindung zu den Figuren Olina und Andreas herstellt („mir fällt ein Lied ein, / das sing’ [beziehungsweise: spiele] ich dir vor“).¹⁸⁴ Ebenso greift, wenn man so weit gehen möchte, der Liedtext im Kontext der Böll’schen Erzählung die vollzogene Transposition von der Unterhaltung zur Kunst auf („werde ich zum Dichter“).¹⁸⁵ Im Kontext der Vorlage, also im Zusammenhang ,Harvey / Schneider‘, referiert die Bezeichnung ‚Dichter‘ kolloquial auf den Umstand, dass gereimt wird, man seiner Verliebtheit mit sprachlicher Ästhetisierung Ausdruck verleihen möchte. An die Stelle der schwärmerischen Sentimentalität des Liedtextes tritt in Der Zug war pünktlich die Gedankenrede des Protagonisten.Während der letzten Töne des Liedes sinniert Andreas über seinen baldigen Tod: Ich tanze mit dir in den Himmel hinein, in den siebenten Himmel der Liebe! Es ist gar kein Traum, der zu Ende geht mit dem letzten Ton dieser melodischen Paraphrase, es zerreißt nur ein schwaches Gespinst, das über ihn geworfen war, und jetzt erst, am offenen Fenster, in der Kühle des Dämmers spürt er, daß er geweint hat. Er hat das nicht gewußt und nicht gefühlt, aber sein Gesicht ist naß, und die sanften, sehr kleinen Hände von Olina trocknen es, die kleinen Ströme sind über sein Gesicht gelaufen und haben sich an dem geschlossenen Kragen seiner Feldbluse gesammelt und fast gestaut; sie öffnet den Haken und trocknet mit einem Tuch seinen Hals. Sie trocknet die Wangen und die Augenhöhlen, und er ist froh, daß sie nichts sagt… Eine seltsam nüchterne Heiterkeit erfüllt ihn. Das Mädchen knipst Licht an, schließt das Fenster mit abgewendetem Gesicht, und es ist möglich, daß auch sie geweint hat. Diese keusche Freude habe ich noch nie gekannt, denkt er, während sie zum Schrank geht. Immer habe ich nur begehrt, ich habe einen unbekannten Leib begehrt, und diese Seele habe ich begehrt, aber hier begehre ich nichts… Es ist seltsam, daß ich das in einem Lemberger

 Hans Fritz Beckmann / Friedrich Schröder, Ich tanze mit dir in den Himmel hinein [1937]. In: Von Kopf bis Fuß auf Kino eingestellt. Unvergängliche Melodien des deutschen Tonfilms. Mit einem Vorwort von Maurus Pucher, hg. von Wolfgang Schäfer. Hamburg u. a. 1996, S. 114 f.  Beckmann / Schröder, Ich tanze mit dir in den Himmel hinein. S. 114.  Beckmann / Schröder, Ich tanze mit dir in den Himmel hinein. S. 114.

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2 Auslassung und Andeutung. Heinrich Bölls Kriegsprosa

Bordell lernen muß, am letzten Abend meines Lebens, an der Schwelle der letzten Nacht meines irdischen Lebens, das in Stryj morgen früh beendet wird mit einem blutigen Strich…¹⁸⁶

Auffällig ist die Ergriffenheit anzeigende Exclamatio des Liedtitels, an die sich eine relativierende Korrektur der Liedbezeichnung anschließt. „Ich tanze mit dir in den Himmel hinein“ war kein „Traum“, ein „Gespinst“ endet mit dem letzten Ton, wobei der Bezug des Pronomens „es“ in Bölls Text syntaktisch unklar ist (naheliegend ist der Bezug ‚das Ende des Liedes‘).¹⁸⁷ Die Metapher des zerrissenen, „schwache[n] Gespinst[s]“ konnotiert zwei gegenläufig semantisierte Aspekte aus dem Bereich der Entomologie. Zum einen stellt sie eine Äquivalenzbeziehung zwischen der Erfahrung der quasi-künstlerischen Klavierinterpretation und einem Insektenkokon her, aus dem sich ein Falter entwindet. Die ästhetische Erfahrung der Klavierinterpretation würde folglich eine personale Entwicklung, ein Übertreten in eine andere Existenzform ermöglichen. Darüber hinaus ist das Verharren im Kokon ein Zustand der Einpuppung und Verschleierung, also eine biologische, passiv-prozessuale und im Kontext hochkultureller Schlagerreflexion ‚uneigentliche‘ Erfahrung. Zum anderen erlaubt die Gespinstmetapher eine Parallele zwischen dem Schlager und einem Spinnennetz, also einer tierischen Konstruktion zum Zweck des Beutefangs. Damit wären die die Libido anregenden, sentimentalen Aspekte des Walzers bezeichnet. Für die erste Lesart spricht, dass Olinas Klavierinterpretation den Schlager von seinen sentimentalen Aspekten ‚bereinigt‘, nicht zum Tanz und zur physischen Annäherung animiert, sondern körperlose Freude hervorbringt. Drei Komponenten verkomplizieren die Situation: Andreas bezeichnet das ‚Gespinst‘ als „schwac[h]“,¹⁸⁸ wodurch das ambivalente Moment der Metapher unterstrichen wird. Auch konnotiert die Metapher Spinnennetze als Hausschmutz, der weggewischt wird, sowie das klangähnliche Wort ‚Gespenst‘, das den Hybridzustand der Schlagerinterpretation zwischen Uund E-Musik hervorhebt. Affirmativ kann das ‚Gespinst‘ nur simplifizierend verstanden werden. Ein Restmakel bleibt. Umso bemerkenswerter sind Andreas’ Tränen, die sich an das Lied anschließen.¹⁸⁹

 Böll, Der Zug war pünktlich. S. 376 f.  Böll, Der Zug war pünktlich. S. 376.  Böll, Der Zug war pünktlich. S. 376.  Die Gespinst-Metapher erinnert an Walter Benjamins Definition der Aura. Im Aufsatz „Kleine Geschichte der Photographie“ ist die Aura eines Kunstwerks als ein „sonderbares Gespinst von Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“ definiert. Walter Benjamin, Kleine Geschichte der Photographie [1931]. In: Benjamin, Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. II.1, Frankfurt a. M. 1977, S. 368 – 385, hier S. 378. Die Überlegungen zur Aura regen zur Reflexion an, haben aber wohl keinen Quellenstatus

2.3.3 Tränen II: Bach als Epiphanie

125

Mit dem Ende des ‚Gespinsts‘, gleichsam der Entwindung des Falters aus dem Kokon, geht eine Bewusstwerdung einher. Erst nach dem letzten Ton merkt Andreas, dass „er geweint hat“, er „hat das nicht gewußt und nicht gefühlt“.¹⁹⁰ Sein unbewusstes Weinen resultiert in emotionaler Erleichterung, in dem Empfinden „seltsam nüchterne[r] Heiterkeit“ und „keusche[r] Freude“.¹⁹¹ Diese Formulierungen bringen das Konzept der christlichen Tugendkeuschheit in Position, wie die anschließenden Sätze über das nicht vorhandene Begehren und die daraus hervorgehende sexuelle Abstinenz im Bordell explizieren („hier begehre ich nichts …“).¹⁹² Zugleich schlägt die Keuschheit einen Bogen zum Gedanken des ‚reinen‘ Klavierspiels in Olinas Version von „Ich tanze mit dir in den Himmel hinein“.¹⁹³

2.3.3 Tränen II: Bach als Epiphanie Dass das unbewusste Weinen während der Schlagerinterpretation nicht die erbetene Tränengabe, sondern allenfalls eine Annäherung an sie darstellt, wird durch eine Hierarchisierung der Tränen nahelegt, die Bölls Text in Rückgriff auf die Dichotomie von E- und U-Musik vollzieht. Nach Mitternacht, es ist zu diesem Zeitpunkt Sonntag, spielt Olina weitere Lieder auf dem Klavier. Dabei erfüllt sich der Wunsch des Soldaten Andreas nach der gratia lacrymarum schlussendlich. Bei Bach erlebt er eine Epiphanie: „Was ist das“, fragt er plötzlich erschreckt. Olina ist aufgestanden, ohne daß er es gemerkt hat, sie sitzt am Klavier, und ihre Lippen zittern in dem blassen Gesicht.

für Bölls Text. Benjamins oxymoronische Konstruktion der nahen Ferne unterstreicht das Changieren zwischen Kunst und Unterhaltung, Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit, Einmaligkeit und Reproduktion, kathartischem Effekt und unbewussten Tränen.  Böll, Der Zug war pünktlich. S. 376.  Böll, Der Zug war pünktlich. S. 376.  Böll, Der Zug war pünktlich. S. 377.  Auch an dieser Stelle verwendet der Text biblische Allusionen auf die mit Maria Magdalena zusammengedachte Sünderin des Lukasevangeliums. So lassen sich die Hinweise auf Olinas mögliche Tränen und ihr Trocknen der Tränen von Andreas mit Lk. 7, 36 in Verbindung bringen: „Es bat ihn [Jesus Christus] aber ein Pharisäer, bei ihm zu essen. Er ging in das Haus des Pharisäers und setzte sich zu Tische. Da erfuhr eine Frau, die in der Stadt eine Sünderin war, dass er im Hause des Pharisäers zu Tische liege; sie brachte ein Alabastergefäß mit Salböl, trat weinend von rückwärts an seine Füße heran und begann mit ihren Tränen seine Füße zu benetzen und trocknete sie mit den Haaren ihres Hauptes, küsste seine Füße und salbte sie mit dem Salböl.“

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2 Auslassung und Andeutung. Heinrich Bölls Kriegsprosa

„Regen“, sagt sie leise, und es scheint, daß es ihr unsagbar mühsam ist, den Mund zu öffnen, sie findet kaum die Kraft, eine Geste zum Fenster hin zu machen. Ja, dieses sanfte Rauschen, das mit Gewalt plötzlichen Orgelbrausens ihn erweckte, das ist Regen … es regnet in den Bordellgarten … und auch auf die Bäume, auf denen er zum letzten Male die Sonne gesehen hat. „Nein“, schreit er, als Olina die Tasten berührt, „nein“, aber dann spürt er die Tränen, und er weiß, daß er noch nie im Leben geweint hat … diese Tränen sind das Leben, ein wilder Strom, der sich aus unzähligen Bächen gebildet hat … alles strömt da zusammen und quillt schmerzhaft aus … die grüne Farbe, die nach Ferien riecht … und Onkel Hansens schreckliche Leiche, aufgebahrt im Herrenzimmer, umwölkt von schwüler Kerzenluft … viele, viele Abende mit Paul und die schmerzlichschönen Versuche am Klavier … Schule und Krieg, Krieg … Krieg, und das unbekannte Gesicht, das er begehrt hat … und in diesem blendenden feuchten Strom schwimmt wie eine zuckende Scheibe blaß und schmerzlich das einzig Wirkliche: Olinas Gesicht. Das alles vermag eine winzige Melodie von Schubert, daß ich weine, wie ich nie im Leben geweint habe, weine, wie ich vielleicht nur geweint habe bei meiner Geburt, als dieses grelle Licht mich zerschneiden wollte … Plötzlich klingt ein Akkord an sein Ohr, der ihn erschrecken läßt, bis ins tiefste Herz, das ist Bach, sie hat doch nie Bach spielen können… Das ist wie ein Turm, der sich von innen her aus sich selbst aufstapelt in immer neuen Stockwerken. Er wächst und reißt ihn mit, als sei er aus dem tiefsten Grund der Erde emporgeschleudert von einem plötzlich aufbrechenden Quell, der mit wilder Gewalt an düsteren Zeitaltern vorbei hinauf will ins Licht, ins Licht. Ein schmerzliches Glück erfüllt ihn, wie er so gegen seinen Willen und doch wissend und bewußt hochgetragen wird von diesem reinen und gewaltsam sich aufstapelnden Turm; scheinbar spielerisch umkräuselt von einer schwerelos scheinenden schmerzlichen Heiterkeit, fühlt er sich getragen, und doch muß er alle Mühe und allen Schmerz des Kletternden spüren; das ist Geist, das ist Klarheit, nicht mehr viel menschliche Verirrung; ein unheimlich sauberes, klares Spiel von zwingender Gewalt. Das ist doch Bach, sie hat doch noch nie Bach spielen können … vielleicht spielt sie gar nicht … vielleicht spielen die Engel … die Engel der Klarheit … sie singen in immer feineren helleren Türmen … Licht, o Gott … dieses Licht … „Halt“ schreit er entsetzt, und Olinas Hände spreizen sich von den Tasten, als habe seine Stimme sie weggerissen…¹⁹⁴

Die emphatische, religiös codierte Kunsterfahrung konsolidiert die Dichotomie zwischen Kunst und Unterhaltung als diegetisches Ereignis, indem sie ein kontrastives Verhältnis zur Schlagerinterpretation eingeht. Dabei wird, wie schon beim Schlager, eine Rezeptionssituation im Text konstruiert, die die musikalische Darbietung evaluiert, also innerdiegetisch bereits vorführt, wie das Dargebotene einzuschätzen ist. Dass lediglich Schubert und Bach genannt werden, ohne dass der Passus genau angibt, um welche Stücke es sich handelt, dass die Erzählung folglich an dieser Stelle im Allgemeinen verbleibt, kann strategisch gelesen

 Böll, Der Zug war pünktlich. S. 392 f.

2.3.3 Tränen II: Bach als Epiphanie

127

werden. Über die Komponisten wird auf christlich codierte klassische Musik referiert, die einen festen Bestandteil des Bildungskanons darstellt – und vor allem instrumental operiert, also nur punktuell textgebunden ist, etwa im Rahmen von Chorälen bei Bach oder Vertonungen von Lyrik bei Schubert. Im Fall von Bach – dem christlich rezipierten Komponisten par excellence – kommt vor dem Hintergrund der religiösen Motivik der Erzählung wohl am ehesten ein Oratorium wie die Matthäuspassion (1727) in den Sinn.¹⁹⁵ Doch so explizit wird es in Bölls Text ja gerade nicht. Die Unbestimmtheit der klassischen Musik stellt einen entscheidenden Unterschied zum spezifisch benannten, textbasierten Schlager dar. Dessen sentimentale Lyrics werden zwar im Rahmen der ersten Musikdarbietung auch nicht gesungen, laufen aber aufgrund der Bekanntheit des Liedes unweigerlich währenddessen mit. Dies prägt die modellhafte Rezeption durch Andreas, welche den Leserinnen und Lesern in plakativer Weise angeboten wird. In großer Kunst, so der Topos, der an die literarische Romantik denken lässt, zeigt sich ein Prinzip, das das Menschlich-Physische transzendiert (im Gegensatz zur profanen Unterhaltung). Kunst ist geprägt von „Geist“, „Klarheit“, beinahe frei von „menschliche[r] Verirrung“.¹⁹⁶ In ihr ‚offenbaren‘ sich Passion und Gott, lässt sich mit Der Zug war pünktlich präzisieren. Vor dem Hintergrund der scharfen Kritik an der nationalsozialistischen Instrumentalisierung klassischer Literatur in „Wanderer, kommst Du nach Spa…“ ist das ein bemerkenswertes Vertrauen in die Möglichkeiten der Kunst sowie in Teile des Kanons. Musik, vor allem christliche Musik, stellt als hochemotive Kunstform eine Ausnahme im Frühwerk dar. Das zeigt auch Bölls erste Romanveröffentlichung Wo warst du, Adam? (1951), in der eine katholische Jüdin im Konzentrationslager die Allerheiligenlitanei (!) anstimmt. Dies irritiert, überwältigt und beängstigt den Faschisten Filskeit letztlich so sehr, dass er die Frau und mit ihr andere Gefangene erschießen lässt („hier war es: Schönheit und Größe und rassische Vollendung, verbunden mit etwas, das ihn vollkommen lähmte: Glauben“).¹⁹⁷ Wenngleich die Figuren Andreas und Filskeit konträr angelegt sind,

 Bachs Oeuvre entwickelt sich allerdings erst im Laufe der Jahrhunderte zum Gemeinplatz für christlich codierte Musik. So erregte etwa die Erstaufführung der Matthäuspassion in der Thomaskirche in Leipzig im Jahr 1727 aufgrund ihrer musikalischen Üppigkeit Anstoß. Vgl. ByungChul Han, Gute Unterhaltung. Eine Dekonstruktion der abendländischen Passionsgeschichte [2006], Berlin 2018. S. 11– 35.  Böll, Der Zug war pünktlich. S. 393.  Böll, Heinrich,Wo warst du, Adam? [1951]. In: Böll,Werke. Kölner Ausgabe, hg. von Robert C. Conard, Bd. 5, Köln 2004, S. 180 – 329, hier S. 286.

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2 Auslassung und Andeutung. Heinrich Bölls Kriegsprosa

ist die Tonalität der Texte im Rahmen der skizzierten Kunsterfahrungen bis in einzelne Formulierungen hinein verblüffend ähnlich. Dem Gedanken, Kunst als Passion, als göttliche Transzendenz zu verstehen, ist auch Byung-Chul Han im Essay Gute Unterhaltung. Eine Dekonstruktion der abendländischen Passionsgeschichte (2006) auf innovative wie provokative Weise nachgegangen.¹⁹⁸ Wie der Titel andeutet, sticht sein Ansatz heraus, indem er Passion und Unterhaltung als antagonistische sowie als sich berührende Konzepte zusammendenkt. In diesem Zuge spielen unter anderem die Fundamentalontologie Martin Heideggers und ihre religiösen Implikationen eine Rolle. In Heideggers Auseinandersetzung mit der „Alltäglichkeit“ in Sein und Zeit (1927) wird jegliche Form von Unterhaltung der uneigentlichen Sphäre des „Man“ zugeordnet.¹⁹⁹ Seine Passion ist, wie Han argumentiert, „eine Passion der Eigentlichkeit“: „Erst der Riss, der Schmerz öffnet das menschliche Denken für das ÜberMenschliche. Schmerz ist Transzendenz. Schmerz ist Gott. Unterhaltung ist Immanenz. Sie ist Gottlosigkeit“.²⁰⁰ Medial vermittelte Zerstreuung, mit der Unterhaltung gleichgesetzt wird, lenkt sensu Heidegger von einer Existenzweise ab, die sich näher am Sein befindet. Unterhaltung ist immanentes Seiendes. ByungChul Hans saloppe, auf Heideggers Modernefeindlichkeit eingehende Kritik kulminiert darin, dass dem Existenzialontologen Borniertheit gegenüber der Gesellschaft angelastet wird: „Heidegger fehlt gerade die Gelassenheit zur Welt. Seine Sprache der Passion ist in dem Sinne gewaltsam, dass sie sehr selektiv und ausschließend arbeitet. […] Zur Welt gehören ja nicht nur ‚Reiher‘ und ‚Reh‘, sondern auch Maus und Micky Maus“.²⁰¹ Heidegger wird also gerade die Gelassenheit abgesprochen, die er in der gleichnamigen Meßkircher Rede (1955) zu einem Denkprinzip seines Spätwerks gemacht hat. Mit der fehlenden Gelassen-

 Han wählt, wie auch in den Texten Müdigkeitsgesellschaft (2010) und Transparenzgesellschaft (2012), einen gegenwartsdiagnostischen Ansatz, der im Fall von Gute Unterhaltung abstrakter beschaffen ist, wie Han in seinem „Vorwort zur Neuauflage“ (2018) in poststrukturalistischer Diktion erläutert: „Die Geschichte des Westens ist eine Passionsgeschichte. Leistung heißt die neue Passionsformel. Die Passion tritt erneut als Spielverderberin auf. Eigentlich schließen Arbeit und Spiel einander aus. Heute wird aber selbst das Spiel der Produktion unterworfen. Sie wird gamifiziert. […] Der derivaten Unterhaltung, die es daneben noch gibt, haftet etwas Fratzenhaftes an. Sie verkommt zu einer geistigen Abschaltung. Wird die Zeit der Passion tatsächlich überwunden sein, wird [es] nicht nur die gute Unterhaltung, sondern auch die schöne Unterhaltung geben, nämlich die Unterhaltung durch das Schöne. Ja, es wird wieder das SPIEL geben.“ Han, Gute Unterhaltung. S. 7.  Martin Heidegger, Sein und Zeit [1927]. Tübingen 192006, § 25 – 27, S. 114.  Han, Gute Unterhaltung. S. 106 f., 113.  Han, Gute Unterhaltung. S. 122 und 128.

2.3.3 Tränen II: Bach als Epiphanie

129

heit gehen methodische und sprachliche Spezifika einher, zum Beispiel die Selektivität des Zugriffs auf Welt und das Pathos. Heidegger und Böll, deren Konvergenzen als überschaubar gelten, stehen vor diesem dekonstruktiven Hintergrund in einer äquivalenten Relation. Da gibt es die Ablehnung der Medien und Unterhaltung als Bereiche des Uneigentlichen sowie den Gedanken der menschlichen Existenz als Passion beziehungsweise die ästhetische Umsetzung dieses Gedankens. Und da ist die Verbindung von Gelassenheit und Pathos. Böll setzt sich spannungsreich mit beiden Begriffen im Essay „Die Stimme Wolfgang Borcherts“ (1955) auseinander, den er anlässlich einer Borchert-Briefausgabe verfasst.²⁰² Borcherts Texte seien vor allem durch einen Aspekt gekennzeichnet, sie können „‚nicht gelassen sein‘“, hingegen liege den Texten die Verbalisierung von „Betroffenheit“ zu Grunde.²⁰³ Daraus entwickele sich der nüchtern-betroffene Duktus. Diese ‚fehlende‘ Gelassenheit, die als Qualitätsmerkmal Borcherts verstanden werden soll, beansprucht Böll in seinem Essay implizit auch für seine eigenen Texte.²⁰⁴ Das Pathos in Der Zug war pünktlich liefert dafür ein eindrückliches Beispiel. Wie stellt sich das im Abschnitt über Andreas’ Epiphanie während der BachRezeption dar? Der signifikante Unterschied zu den Tränen der vorherigen Schlagerinterpretation ist die Betonung der unmittelbaren, bewussten Erfahrung, die Andreas beim Hören der Klassiker macht („dann spürt er“, „er weiß“, „wis-

 Die Formulierung über die Gelassenheit stammt aus Eichs Gedicht „Weg zum Bahnhof“ in Untergrundbahn (1949). Vgl. Günter Eich, Weg zum Bahnhof [1949]. In: Eich, Gesammelte Werke. Hg. von Axel Vieregg, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1991, S. 69. Das Pathos ist in Bölls Essay negativ konnotiert als „das törichte Pathos der Fahnen, das Geknalle der Salutschüsse und der fade Heroismus der Trauermärsche – das alles ist so gleichgültig für die Toten“. Um das ‚törichte Pathos‘ zu vermeiden, drücken Borcherts Texte „Betroffenheit in einer Form“ aus, „die wie Gelassenheit erscheinen mag“. Böll expliziert das am Beispiel von Borcherts Prosatext „Das Brot“. Hinter der Nüchternheit des Textes zeigt sich die konstitutive ‚Betroffenheit‘. Der Begriff drückt eine Leiderfahrung aus und kann mit der integren Form des Pathos verglichen werden, wenngleich die Kategorie ‚Pathos‘ aus Gründen des Ideologieverdachts in Bölls Essay nicht in affirmativer Form verwendet wird. Das Pathos des Böll’schen Essays steht mit der christlichen Tradition in Verbindung und ist dagegen kaum als nüchtern zu bezeichnen: „Es ist viel vom ‚Aufschrei Wolfgang Borcherts‘ geschrieben und gesagt worden, und die Bezeichnung ‚Aufschrei‘ wurde mit Gelassenheit geprägt. Gelassene Menschen ihrerseits schreien nicht – die Propheten der Müdigkeit werden nicht einmal von der Bitterkeit des Todes gerührt. Aber Kinder schreien, und es tönt in die Gelassenheit der Weltgeschichte hinein der Todesschrei Jesu Christi –“ Heinrich Böll, Die Stimme Wolfgang Borcherts [1955]. In: Böll,Werke. Kölner Ausgabe, hg. von John H. Reid, Bd. 9, Köln 2006, S. 276 – 280, hier S. 277 f. Vgl. dazu auch Jacob, Kahlschlag Pathos. S. 251 f.  Böll, Die Stimme Wolfgang Borcherts. S. 277.  Böll, Die Stimme Wolfgang Borcherts. S. 277.

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2 Auslassung und Andeutung. Heinrich Bölls Kriegsprosa

send und bewußt“).²⁰⁵ Das abermalige Weinen hat nun singuläre, inkommensurable Qualität. Um das zu verdeutlichen, rekurriert der Text erneut auf den abstrakten, universalen Begriff „Leben“; die Tränen stellen ein pars pro toto des Lebens dar („so wie er noch nie im Leben geweint hat … diese Tränen sind das Leben“).²⁰⁶ Amplifkationen, Interjektionen, Geminationen, Anakoluthe und Aposiopesen: Es sind gehäufte rhetorische Pathosmittel, die die Kunsterfahrung als ein bis zur individuellen Überforderung reichendes Erlebnis markieren. Dabei ist eine Steigerungsdynamik zu beobachten. Zum Ende des Passus brechen Anakoluthe die Syntax auf, die im Satzabbruch, im Pathos der Auslassung kulminiert („… Licht, o Gott … dieses Licht …“).²⁰⁷ Die binären Oppositionen ‚dunkel / hell‘ sowie ‚oben / unten‘ (lies: ‚hohe‘ Kunst und ‚niedere‘ Unterhaltung) strukturieren den Abschnitt, wenn Andreas seine musikalische Erfahrung in metaphorisierte Sprache übersetzt. Er beschreibt eine Bewegung des Aufsteigens vom IrdischDunklen, Archaischen („düster[e] Zeitalter“) zum Göttlich-Illuminierten. Dies ist ausgedrückt im geschraubten Bild des Turms, „der sich von innen her aus sich selbst aufstapelt“.²⁰⁸ Der emporhebenden Bewegung unterliegt Andreas als affizierter Zuhörer. Er ist einer „Gewalt“ ausgesetzt, der er sich nicht entziehen kann und nicht entziehen möchte. Mit den Tränen ist eine schlaglichtartige Lebensrekapitulation in Form von aneinandergereihten, gedanklichen Bildern verbunden. Die Kunsterfahrung wird so mit der christlichen Vorstellung des Weges vom irdischen Leben über den Tod zum Jenseits in Verbindung gebracht. Vor diesem Hintergrund und der Engführung von Tränen und Leben kann der Hinweis auf die „Geburt“ verstanden werden, der als unsicher markiert ist („vielleicht“) und im anschließenden Nebensatz auf eine Erinnerung zurückgreift, die unzugänglich sein müsste („als dieses grelle Licht mich zerschneiden wollte…“).²⁰⁹ Weitere Vokabeln und Formulierungen fallen auf, die narrative Mutmaßungen und einen Modus des Als-ob anzeigen („als sei er“, „scheinbar“, „vielleicht spielt sie gar nicht … vielleicht spielen die Engel …“).²¹⁰ Zwar ist der Großteil des Abschnitts als Bewusstseinsbericht des Protagonisten an den heterodiegetischen Erzähler gebunden – mit Ausnahme des Satzes in der ersten Person über Schubert und die Geburt –, aber der Erzähler lässt das Berichtete unkommentiert. So behält es den Status einer individuellen, weder veri- noch falsifizierten Erfahrung des

     

Böll, Der Zug war pünktlich. S. 392 f. Böll, Der Zug war pünktlich. S. 392 f. Böll, Der Zug war pünktlich. S. 393. Böll, Der Zug war pünktlich. S. 393. Böll, Der Zug war pünktlich. S. 392. Böll, Der Zug war pünktlich. S. 392 f.

2.3.4 Die Dichotomie E / U: Kitsch

131

Soldaten, von dem man weiß, dass er sich angesichts seiner Todesgewissheit in einem bedenklichen psychischen Zustand befindet.²¹¹ Auch wenn Bölls frühe Texte solche Ungewissheitsmomente einstreuen, erinnert sei an „Wanderer, kommst Du nach Spa…“, lassen sie den individuellen Glauben als Erlösungsweg ihrer Figuren in der Regel unangetastet.

2.3.4 Die Dichotomie E / U: Kitsch Bölls Erzählung konstruiert die Unterscheidung von Kunst und Unterhaltung in ostentativer Weise, ohne aber dem Populären seine affizierenden Qualitäten abzusprechen, wie die Klavierinterpretation des sentimentalen Schlagers veranschaulicht. Die Volte der Konstruktion besteht darin, dass sich die diegetisch verhandelte Unterteilung in ‚hohe‘ und ‚niedere‘ Ausdrucksformen zugleich auf die Erzählung richtet, also ein Mittel darstellt, um die Kunstfertigkeit des literarischen Textes und seinen Platz im Bereich der E-Kultur zu unterstreichen. Damit gehen Probleme einher. Wenngleich Andreas’ Epiphanie in der Logik der Diegese schlüssig sein mag, fällt die sprachliche Dramatik auf, mit der die Erfahrung ‚wahrer‘ Kunst verbalisiert wird. Das ist von Bölls Programm des literarischen Realismus der Mitte aus dem „Bekenntnis zur Trümmerliteratur“ denkbar weit entfernt.²¹² Im „Bekenntnis“ hält Böll fest, „daß es Dinge gibt, bei denen kein Anlaß für Humor“ besteht.²¹³ Gemeint ist ‚Humor‘ im Sinne der lateinischen Etymologie des Wortes, also ‚Feuchtigkeit‘, das rechte Maß zwischen ‚Nässe‘ und ‚Trockenheit‘, Verklärung und Defätismus, auf dem Bölls trümmerliterarische Poetologie basiert. Folglich existieren „Dinge“, die sich mit einem maßvollen Ausdruck nicht adäquat erfassen lassen. Dazu gehören der Glaube und verschränkt mit ihm die Kunst, vor allem die Musik, in der sich Gott offenbaren kann. Der Zug war pünktlich reizt zur ästhetischen Wertung durch eine Rhetorik, die auf einen empathischen Rezeptionseffekt, auf die Erregung einer pathosähnlichen Empfindung zielt. Auffällig ist, dass der Text sich der emotionalen Überpointiertheit seiner populärkulturellen Intertexte annähert. Im Zuge der Verarbeitung der Unterhaltungslieder und klassischen Stücke in Kombination mit der

 Vor dem Klavierspiel bittet Andreas: „‚Ich will nicht sterben‘, stammelt sein Mund, ‚ich will das alles nicht verlassen … niemand kann mich zwingen, in diesen Zug zu steigen, der nach Stryj fährt, niemand auf der Welt. Mein Gott, vielleicht wäre es barmherzig, wenn ich den Verstand verlöre. Aber lass mich ihn nicht verlieren! Nein, Nein!‘“ Böll, Der Zug war pünktlich. S. 392.  Vgl. dazu Kapitel 2.1 in dieser Arbeit.  Böll, Bekenntnis zur Trümmerliteratur. S. 62.

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2 Auslassung und Andeutung. Heinrich Bölls Kriegsprosa

christlichen Motivik verschwimmt so die Grenze zwischen Pathos und gefühligem Kitsch. Angesichts der textinhärenten Trennung von Kunst und Unterhaltung erweist sich diese Einschätzung als gravierend, attestiert sie doch Bölls Erzählung, dass sie ausgerechnet von dem Phänomen eingeholt wird, von dem sie sich mit Hilfe ihrer Verfahren abzugrenzen versucht. Demnach wird die Beschreibung diegetischer Kunsterfahrungen zum Ausweis der konzeptuellen und verfahrensmäßigen Problematik des Textes. Die Dichotomie spiegelt in ungünstiger Weise auf den Text zurück. Neben den populären Zeichen ist es die religiöse Codierung, die den Kitscheffekten des Textes den Weg ebnet. Durch seine emotiv-christliche Verfasstheit macht der Text ein Sinnangebot, das den Leiderfahrungen des Zweiten Weltkriegs gegenübersteht. Der passionsähnliche Weg der Figur Andreas führt ins Jenseits, zur göttlichen Gnade. Auch abschließend spielt das Weinen wieder eine Rolle: Während der gemeinsamen Fahrt in Richtung Stryj „fährt eine unsichtbare Riesenhand über dieses sanft kriechende Auto“, „eine wesenlose Stimme“ ertönt und Andreas liegt, schwer durch das Attentat der polnischen Partisanen verwundet, auf der Straße.²¹⁴ Olinas Blut läuft über sein Gesicht und er verwechselt es mit seinen Tränen. Erst im Anschluss, im Moment des Todes, „weiß“ er „nicht mehr, daß er selbst nun wirklich zu weinen beginnt…“.²¹⁵ Indem sie einen christlichen Metacode installiert, unterscheidet sich Bölls Erzählung vom Gros der Kahlschlagtexte, die Sinn als „Leerstelle“, „als Existenzial“ bestimmen.²¹⁶ An die Position des Kahlschlags tritt also die sinnspendende Instanz ‚Gott‘. Dies muss mit der ästhetischen Dichotomiekonstruktion zusammengedacht werden. Gerade die Einbettung des Metacodes in die Unterscheidung zwischen ‚hoher‘ Kunst und ‚niederer‘ Unterhaltung wird zur unglücklichen Pointe der Erzählung. So destabilisiert die textinhärente Pathosproblematik – das Changieren zwischen rhetorischer Ergriffenheit und Gefühlskitsch – die Sinnangebote des Textes.

 Böll, Der Zug war pünktlich. S. 402.  Beim Beschluss ihres gemeinsamen Plans, im Wagen des eintreffenden Wehrmachtsgenerals aus Lemberg wegzufahren, insistiert Olina: „Diesen Wagen des Generals schickt uns der Himmel. Hab nur Vertrauen und glaube mir: Wohin ich Dich auch führen werde, es wird das Leben sein.“ Vgl. ferner den passionsnahen, das Kriegsleid mit Sinn anreichernden Gedanken von Andreas: „Das Unglück ist das Leben, der Schmerz ist das Leben“. Böll, Der Zug war pünktlich. S. 396 und 402. Zum christlichen Sinnangebot des Textes siehe auch die affirmative Lesart in Charles S. Kraszweksi, Of Whores and Heiresses: Polish Women, German Men and Stereotypes in Heinrich Böll’s Der Zug war pünktlich and Krzysztof Zanussi’s Drogi Posród Nocy. In: Comparative Literature Studies, 40, 2003, S. 286 – 310.  Baßler, Deutsche Erzählprosa. S. 402.

2.3.4 Die Dichotomie E / U: Kitsch

133

Kitsch ist ein wenig schmeichelhaftes Attribut, das den Autor Böll treu begleitet. Vor allem unter Germanistinnen und Germanisten scheint mir das der Fall zu sein. Zwar wurde der Begriff ‚Kitsch‘ in der Böll-Forschung häufiger erwähnt, dort aber höchstens annäherungsweise systematisch diskutiert.²¹⁷ Umberto Eco hat einen an der Struktur von Texten orientierten Vorschlag zum Gebrauch des Kitschbegriffs vorgelegt. In Apokalyptiker und Integrierte (1964) hält er in Rekurs auf Walther Killys Studie Deutscher Kitsch (1961) fest, dass Kitsch erstens ein Bündel textueller Merkmale zur „Vorfertigung und Durchsetzung des Effekts“ sei, eines „Gefühlseffekt[s]“.²¹⁸ Durchgesetzt wird dieser Effekt etwa durch die amplifikatorische Verwendung von Epitheta sowie durch „Ausdrücke, die poetisches Prestige genießen oder die nachweislich Gefühlsregungen zu wecken mögen (Wind, Nacht, Meer usw.)“.²¹⁹ Von Kitsch lässt sich zweitens erst dann sprechen, wenn „Gefühlsreize“ ausgelöst werden, die „zu suggerieren versuch[en], daß der Leser im Genuß dieser Reize eine privilegierte ästhetische Erfahrung vervollkommne“, also Kunst rezipiere.²²⁰ Das ist ein gängiges Argument der Kitschdebatte: Kitsch unternimmt den Versuch, kunsthaft zu sein. Er stellt ein ästhetisches Täuschungsmanöver dar, ist das „Böse im Wertsystem der Kunst“, wie Hermann Broch bekanntlich 1933 bemerkt.²²¹ Texte, die auf diese Weise verfahren, befinden sich häufig „im Sog einer falschen Universalität“ durch die Verwendung von groß dimensionierten Abstrakta, erläutert

 Reid scheibt bezogen auf die „(christlich[e] Position)“ sowie die „Musik“ in Bölls Erzählung, dass „manchmal ein unerträglicher Kitsch“ entstehe. James H. Reid, ‚Mein eigentliches Gebiet…‘ Heinrich Bölls Kriegsliteratur. S. 97. Vogt konstatiert eine „Gefahr, vor dem ‚Unsagbaren‘ in überfrachtete oder sentimentale Rhetorik auszuweichen“. Jochen Vogt, Heinrich Böll. München 2 1987, (Beck’sche Reihe. Bd. 602) S. 37. Vgl. ferner Hans Schwab-Felisch, Der Böll der frühen Jahre. In: In Sachen Böll. Aussichten und Einsichten, hg. von Marcel Reich-Ranicki, Köln / Berlin 1968, S. 213 – 223.  Umberto Eco, Die Struktur des schlechten Geschmacks [1964]. In: Eco, Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur, aus dem Italienischen von Max Looser, Frankfurt a. M. 1987, S. 59 – 115, hier S. 60 f. Vgl. zu Ecos Kitschlesart Walther Killy, Deutscher Kitsch. Ein Versuch mit Beispielen, Göttingen 1961.  Eco, Die Struktur des schlechten Geschmacks. S. 60 f.  Eco, Die Struktur des schlechten Geschmacks. S. 68.  Mit ihrer Bestimmung des Begriffs knüpfen Eco und Killy an den deutschen Kitschdiskurs der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts an. Vor allem Brochs Sentenz wirkt lange in den Debatten um den Begriff nach. Broch verdeutlicht aber auch eine graduelle Durchlässigkeit zwischen den Bereichen. Kunst operiere selten zumindest „ohne einen Tropfen Kitsch“. Es geht in der Diskussion um den Kitsch also um das rechte Maß an Effekt und Gefühl. Hermann Broch, Das Böse im Wertsystem der Kunst [1933]. In: Broch, Kommentierte Werkausgabe. Hg. von Paul Michael Lützeler, Bd. 9.2, Frankfurt a. M. 1976, S. 119 – 157, hier S. 150.

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2 Auslassung und Andeutung. Heinrich Bölls Kriegsprosa

Eco anhand des dem Kitsch verwandten amerikanischen Begriffs „Midcult“.²²² Der Begriff, den Eco vom New Yorker Intellektuellen Dwight Macdonald entlehnt, bezeichnet ein ‚mittleres Kulturniveau‘ zwischen Massenkultur und ‚hoher‘ Kultur, die er als Avantgarde versteht. Eco erläutert das an Texten von Nobelpreisträgerinnen und Nobelpreisträgern, zum Beispiel an Romanen von Pearl S. Buck oder an späteren Publikationen von Hemingway wie The Old Man and the Sea (1952). Diese stellen lediglich eine Schwundstufe früherer Prosa dar, weil sie auf verbrauchte Metaphern zurückgreifen und einen „‚dauernden Leitartikel-Stil‘“ („‚constant editorializing‘“) pflegen,²²³ also erklären und vereindeutigen anstatt nur darzustellen und so Freiräume während der Lektüre zu lassen. Dabei sind Midcult-Texte vor allem durch die sprachlich aufwändige Anmutung einer poetischen Erfahrung gekennzeichnet.²²⁴ Dies erinnert in der Tat an Bölls Kriegsprosa, die an entscheidenden Stellen von ihrer Poetologie der maßvollen Mitte abweicht, wodurch sie in den Bereich des Midcult / des Kitsches gerät. Das Feuilleton der frühen Bundesrepublik hat diese Einschätzung nicht geteilt. An die Auffassung darüber, was zum Kitsch zählt, ist noch anderes als der Text selbst geknüpft, etwa die jeweilige Rolle eines Autors / einer Autorin im literarischen Feld, das symbolische Kapital, das man angehäuft hat, genauso die jeweilige Diskursposition der Instanz, die den Kitschbegriff an einen Text heranträgt. Zu den bekannteren Namen, die in den 1950er Jahren als kitschig erachtet wurden, zählen so unterschiedliche Autorinnen und Autoren wie Hans Carossa, Paul Keller und Hermann Hesse, zum Teil auch Rainer Maria Rilke sowie der erwähnte Hemingway, ebenso unterhaltungsliterarische Verkaufsgarantinnen wie Hedwig Courths-Mahler oder die Marlitt. Liest man die im Kommentar der Kölner Ausgabe aufgeführten Rezensionen zu Der Zug war pünktlich, es sind insgesamt neun, entsteht dagegen das Bild eines besonders gelungenen Nachkriegstextes. Man habe es mit einem hoffnungsvol-

 Eco, Die Struktur des schlechten Geschmacks. S. 70.  Eco, Die Struktur des schlechten Geschmacks. S. 70.  Eco versteht das mit Macdonald als „‚Korrumpierung der Hochkultur‘“, ein Gedanke, der der Kitschdiskussion sehr nahekommt. Seine Lektüre von Macdonalds Against the American Grain (1962) fällt insgesamt eher kritisch aus. Was ihn an am Midcult-Konzept stört, sind die „snobistische“ Haltung sowie die Aversion gegen jegliche Form von „Popularisierung“. Er selbst versucht den Mittelweg als Möglichkeit zu denken: „Das Problem einer ausbalancierten kulturellen Kommunikation besteht nicht darin, diese [massenkulturellen, P.P.] Botschaften abzuschaffen, sondern darin, sie zu dosieren – und zu vermeiden, daß sie als Kunst verkauft und rezipiert werden.“ Umgangen werden soll also das Täuschungsmanöver des Midcult / des Kitsches. Eco, Die Struktur des schlechten Geschmacks. S. 68 – 73. Vgl. auch Dwight Macdonald, Against the American Grain. Essays on the Effects of Mass Culture, New York, NY 1962.

2.3.4 Die Dichotomie E / U: Kitsch

135

len, stark an Borchert erinnernden Autor zu tun, der dennoch „einen eigenen, völlig neuen Stil entwickelt“.²²⁵ Die überbordenden, sprachlichen Preziosen im Lemberger Bordell werden von den Rezensentinnen und Rezensenten entweder als positiv hervorgehoben oder schlicht unbeachtet gelassen. Als Leistung wird erachtet, dass Der Zug war pünktlich das existenzielle Moment des Kriegs auf den Punkt bringe. Die Ausnahme bildet ein Beitrag aus der literarischen Monatsschrift Wort und Welt. Er streift Aspekte, die von mir verfahrenstheoretisch präzisiert wurden. Zwar gestalte Böll „empfindungstief, nuancenreich bildkräftig und zugleich ethisch bewegend“, doch umso mehr „fallen noch vorhandene Schwächen auf: überkompensierte erotische Ressentiments, zu billige Drastik, leise Manieriertheit der Diktion“.²²⁶ Hinsichtlich der Lemberger Bordellpassagen schließt der Rezensent rhetorisch und weitsichtig: „Ist das nicht zu viel des gekünstelten Effekts? Man darf von diesem Autor substanziell noch Besseres erwarten.“²²⁷

 o.V.: Buchbesprechung – Heinrich Böll, Der Zug war pünktlich. In: Der freie Mensch, 1, 1950, o.S. Zit. nach Böll, Der Zug war pünktlich [Kommentar]. S. 700 – 744, hier S. 724 f.  Joseph Bauer, Buchbesprechung – Heinrich Böll, Der Zug war pünktlich. In: Wort und Welt. Eine literarische Monatsschrift, 4, 1950, o.S. Zit. nach Böll, Der Zug war pünktlich [Kommentar]. S. 700 – 744, hier S. 724.  Bauer, Buchbesprechung. S. 724.

3 Parlando und Überhöhung. Gottfried Benns späte Lyrik 3.1 Kein modernes Gedicht: Über Benns Poetologie I Der Vortrag „Probleme der Lyrik“, den Gottfried Benn am 21. August 1951 an seiner Alma Mater in Marburg gehalten hat, wurde im selben Jahr im Limes Verlag in Wiesbaden publiziert.¹ „Probleme der Lyrik“ hatte einen wichtigen Anteil am Benn-Revival der Nachkriegszeit, der Text entwickelte sich rasch zu einem Klassiker moderner Lyrikreflexion. Hugo Friedrich weist in seiner einflussreichen Studie Die Struktur der modernen Lyrik (1956) wiederholt in affirmativer Weise auf den Vortragstext hin. Benn ist für Friedrich der große Nachholende, der die deutsche Lyrik auf ein internationales Niveau hebt.² Benns Vortrag bildet also einen Orientierungspunkt der bundesrepublikanischen Lyrikproduktion sowie der akademischen Lyrikrezeption.³ „Probleme der Lyrik“ fasziniert durch verschiedene Spezifika. Da sind die zum Teil widersprüchlichen und im Dunkeln verbleibenden Passagen, die apodiktischen Sätze und mythischen Allusionen genauso wie die zahlreichen Selbstzitate und die versuchsweise Verwendung von Formulierungen und Moti-

 Vgl. Gottfried Benn, Probleme der Lyrik. Wiesbaden 1951.  Für Friedrich ist die „moderne Lyrik“ seit Baudelaire „im Prozess der Entromantisierung begriffen […]. Im übrigen kommen solche Einsichten auch in anderen Ländern zu Wort. Vorklänge waren bei Novalis zu hören. T. S. Eliot spricht von der Entpersönlichung des dichterischen Subjekts, dank welcher sein Tun der Wissenschaft ähnlich wird, betont die ‚Intensität des künstlerischen Vorgangs‘ und verlangt, nicht nur in das Herz zu schauen, sondern ‚tiefer‘, nämlich ‚in die Gehirnrinde und in das Nervensystem‘. In Deutschland hat Benn das alles nachgeholt, in schlagenden Formulierungen, die reine Luft schufen. Sein Vortrag ‚Probleme der Lyrik‘ (1951) ist eine ars poetica der Jahrhundertmitte geworden. Benn hat den Begriff des Artistischen wieder zu Ehren gebracht, bezeichnet damit den Stil- und Formwillen, der seine eigene Wahrheit hat, den Wahrheiten der Gehalte überlegen“. Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte des neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts [1956], Hamburg 21967, S. 162.  Fabian Lampart weist darauf hin, dass das akademische Verständnis moderner Lyrik in der Bundesrepublik durch Benns Vortrag und seine Behandlung in Friedrichs Monografie geprägt wurde. Zum Verhältnis von Friedrich und Benn hält Lampart fest: „Wie wirkmächtig Benns monopolisierende Internationalisierung der ästhetizistischen Traditionslinie moderner Lyrik war, belegt einmal mehr Hugo Friedrichs 1956 erschienenes Buch Die Struktur der modernen Lyrik. Der von Benn betonte Anschluss an die symbolistisch-französische Tradition der internationalen Moderne wird hier akademisch sanktioniert und für eine institutionelle Verbreitung präpariert.“ Fabian Lampart, Nachkriegsmoderne. Transformationen der deutschsprachigen Lyrik 1945 – 1960, Berlin / New York, NY 2013, S. 115. https://doi.org/10.1515/9783110739947-003

3.1 Kein modernes Gedicht: Über Benns Poetologie I

137

ven, die sich später in der Lyrik wiederfinden oder aus der Lyrik in den Vortrag übernommen werden. Benn beginnt in Marburg mit Überlegungen zur Frage, was moderne Gedichte nicht auszeichnet.⁴ Dies führt mitten in den Gegenstandsbereich ‚Literatur und Populärkultur‘ hinein. Dabei nimmt Benn eine analytisch ebenso konkrete wie unterhaltsame Symptomdiagnose vor. Vier lyrische Merkmale werden vorgestellt, die den Zuhörerinnen und Zuhörern „in Zukunft“ bei der Unterscheidung helfen sollen, ob es sich um ein modernes Gedicht handelt oder nicht. Er nennt „das Andichten“, die Verwendung des Vergleichsworts „WIE“, die Häufigkeit von Farbwörtern sowie den „seraphische[n] Ton“.⁵ Diese Merkmale sind laut Benn Symptome dafür, dass ein Gedicht nicht auf der ästhetischen Höhe seiner Zeit operiert. Wie in der Einleitung erläutert, ist für meine Fragestellung der letzte Aspekt von besonderem Interesse – das Seraphische.⁶ Der Symptomkatalog basiert auf Gedichten von christlich-konservativen oder naturlyrischen Autoren wie Theobald Nöthig, Hans Carossa und Werner Bergengruen, die Benn aus der Anthologie Buch der Lyrik. Auswahl deutscher Dichtung (1946) kannte.⁷ Dass die Überlegungen Gegenstandsentsprechungen über die von Benn ausgewählten Beispiele hinaus haben, wird etwa anhand des Textes „Sylter Herbst“ deutlich, den ich der ZEIT vom 12. Oktober 1950 entnommen habe. Das Gedicht stammt von Hans Holgard, einem Pseudonym von Paul Weymar (1899 – 1971), dem Verfasser der ersten Adenauerbiografie. Unter dem Namen Weymar und dem Pseudonym Holgard veröffentlicht er Gedichte und Romane, insbesondere Fortsetzungsromane in Zeitungen.⁸ Seine Wahlheimat Sylt ist ein zentraler Ort der Texte:

 Die Zeit von 1945 bis in die 1960er Jahre kann man aufgrund der vielfältigen Anknüpfungen an Modernismen der Vorkriegsphase, so auch bei Benn, als Spätmoderne fassen. Vgl. zum Begriff ‚Moderne‘ Cornelia Klinger, s.v. Modern/Moderne/Modernismus. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. von Karlheinz Barck et al., Band 4, Stuttgart / Weimar 2002, S. 121– 167, bes. S. 141 f.  Benn, Probleme der Lyrik. S. 17– 19.  Vgl. das Kapitel 1.1 in dieser Arbeit.  Gottfried Benn, Probleme der Lyrik [Kommentar]. In: Benn, Sämtliche Werke. Hg. von Holger Hof, Bd. VI, Stuttgart 2001, S. 260 – 382, hier S. 369 f.  Vgl. Paul Weymar, Konrad Adenauer. Die autorisierte Biographie, München 1955. Weymars Prosatexte bewegen sich im Bereich von Unterhaltungsliteratur mit historischen Stoffen. Etwa: Der Mörder des Kaspar Hauser. Roman eines Schurken nach hinterlassenen Papieren aufgezeichnet (1963; zuerst in Quick 1958/59) oder Geliebte Hortense. Ein Roman über die Stieftochter Napoleons I. (1966).

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3 Parlando und Überhöhung. Gottfried Benns späte Lyrik

Sylter Herbst Des Himmels Seidenblau zerreißt der Möwe Schrei. Im Westen dampfen Wolken auf, bleifarbene Hände löschen grüngoldnes Licht im Meer, des Strandes honiggelben Schimmer… Ein kalter Wind brist auf, und Frösteln überläuft die fahl gewordene See. Der Sommer ist vorbei! Ich krieche frierend eng in mich zusammen, umschling die Beine fest mit beiden Händen und leg die Stirne auf die nackten Knie. Tief lausche ich in mich hinein, und frag das Herz voll sanfter Wehmut und von Ahnung schwer: Wie viele Sommer noch.⁹

Diese naturlyrische Herbstmelancholie ist ein Musterbeispiel für Benns Überlegungen zum ‚Andichten‘ und zur Verwendung der Farben. Farbadjektive treten in der ersten Strophe in hoher Frequenz auf, dabei erfolgt eine Bewegung von warmen, ‚belebten‘ hin zu gräulichen, ‚unbelebten‘ Farbassoziationen. Dies gipfelt im Adjektiv „fahl“ und der Exclamatio, die den heraufziehenden Herbst an die beschriebenen Wetterphänomene binden. Zur Darstellung des Wetterumschwungs tragen auch die Auslassungspunkte bei. So teilt sich der Text in eine Phase der letzten Momente des Sommers vor den Punkten und der ersten Momente des Herbsts danach. Durch die Enjambements wird ein flüssiger, naturgegebener und rascher Übergang markiert. Die im Text verwendeten Farbvokabeln zielen auf sprachliche Kunstfertigkeit, auf Poetizität, haben aber, gerade wenn sie in gehäufter Form auftreten, lediglich formelhaften Status. Auffällig sind die Metaphern, die vorsichtige Anklänge an expressionistische Lyrik nehmen (der Möwenschrei, der das Himmelsblau ‚zerreißt‘; Wolkenhände, die das Licht verdunkeln). Mit dem ‚Andichten‘ ist der Objektbezug des Gedichts gemeint. Typisch ist eine Textkonstruktion, die auf das ‚Andichten‘ der „unbelebte[n] Natur“ die „Wendung zum Autor“ folgen lässt, „der jetzt innerlich wird oder es zu werden glaubt. Also ein Gedicht mit Trennung und Gegenüberstellung von angedichtetem

 Hans Holgard, Sylter Herbst. In: Die Zeit, 41, 12. Oktober 1950. S. 5.

3.1 Kein modernes Gedicht: Über Benns Poetologie I

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Gegenstand und dichtendem Ich, von äußerer Staffage und innerem Bezug“.¹⁰ Das ist Lyrik, wie sie das neunzehnte Jahrhundert, zum Beispiel Eichendorff, hervorgebracht hat. Die Wendung zur Innerlichkeit vollzieht Holgards „Sylter Herbst“ in der zweiten Strophe und den beiden Schlussversen in ostentativer Weise. Die ‚tiefe‘, emotional-physische Selbstbespiegelung der lyrischen Instanz wird als solche benannt, „Ich krieche frierend eng in mich zusammen“, „Tief lausche ich in mich hinein“. Auch das romantische Schlüsselmotiv „Herz“ wird befragt, um schlussendlich ‚schwer‘ die Endlichkeit der eigenen Existenz zu ‚ahnen‘.¹¹ Fertig ist das Herbstgedicht. Holgard verzichtet auf den Gebrauch der verfänglichen Vokabel „WIE“. Für Benn markiert das Wort einen „Bruch in der Vision, es holt heran, es vergleicht, es ist keine primäre Setzung“, stellt einen „Einbruch des Erzählerischen, des Feuilletonistischen in die Lyrik“ dar.¹² Der vierte Aspekt, der „seraphische Ton“,¹³ tangiert ein kompositorisches Spezifikum der späten Lyrik Benns: Wenn es gleich losgeht oder schnell anlangt bei Brunnenrauschen und Harfenrauschen und schöner Nacht und Stille und Ketten ohne Anbeginn, Kugelründung, Vollbringen, siegt sich zum Stern, Neugottesgründung und ähnlichen Allgefühlen, ist das meistens eine billige Spekulation auf die Sentimentalität und die Weichlichkeit des Lesers. Dieser seraphische Ton ist keine Überwindung des Irdischen, sondern eine Flucht vor dem Irdischen. Der große Dichter aber ist ein großer Realist, sehr nahe an allen Wirklichkeiten – er belädt sich mit Wirklichkeiten, er ist sehr irdisch, eine Zikade, nach der Sage aus der Erde geboren, das athenische Insekt. Er wird das Esoterische, das Seraphische ungeheuer vorsichtig auf harte realistische Unterlagen verteilen.¹⁴

Die spöttische Prägung des Passus ist den Formulierungen („siegt sich zum Stern“) und Komposita anzumerken („Kugelründung“, „Neugottesgründung“).¹⁵ Auch die archaisierend-christliche Bezeichnung ‚seraphisch‘ für ‚engelgleich‘, ‚erhaben‘, ‚verzückt‘, trägt zunächst zu diesem Eindruck bei. Der Vortrag spricht sich gegen die allzu eilfertige Verwendung eines überhöhenden Stils aus. Mit dieser Verwendung peilen die Texte die Emotionalisierung („Sentimentalität“) der Leserinnen und Leser an – ohne dabei kunsthaft zu

     

Benn, Probleme der Lyrik. S. 17. Holgard, Sylter Herbst. S. 5. Benn, Probleme der Lyrik. S. 18. Benn, Probleme der Lyrik. S. 18. Benn, Probleme der Lyrik. S. 18 f. Benn, Probleme der Lyrik. S. 18 f.

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3 Parlando und Überhöhung. Gottfried Benns späte Lyrik

sein, sie geben dies vielmehr vor. Das Resultat ist eine „Flucht vor dem Irdischen“.¹⁶ Daraus lässt sich der entscheidende Punkt ableiten, auf den der Passus bei allem Spott für dilettierende Poesie hinweist:¹⁷ Modern wird das Gedicht durch „harte realistische Unterlagen“. Gemeint ist der Bezug auf das sprachliche Profane, auf Alltagssprache, die das „ungeheuer vorsichtig“ eingesetzte „Seraphische“ oder „Esoterische“,¹⁸ wie Benn das ausdrückt, trägt. Im Nebensatz wird das ‚Irdische‘ umgehend von einer mythologischen Referenz eingeholt, der griechischen Singzikade, die seit Anakreons (575/570 – 495 v.Chr.) Hymne „An die Zikade“ als Chiffre für Lyrik und Musik fungiert.¹⁹ An ebenjener Dualität, Alltagssprachlichkeit und Überhöhung, orientieren sich zahlreiche Gedichte Benns. Wichtig ist, dass es sich bei der von Benn angesteuerten Gegenwartsreferenz nicht um einen Bezug auf die empirischen Dinge, die außersprachlichen Sachverhalte selbst handelt. Es ist die Zeichenhaftigkeit der „Wirklichkeiten“, vor allem ihre klangliche Seite, an der man sich „sehr nahe“ befindet, mit der man sich „belädt“ und die man ästhetisch verarbeitet.²⁰ An anderer Stelle im Vortrag wird dieser Umstand folgendermaßen ausgedrückt: Da steht also ein solches Ich, sagt sich: ich heute bin so. Diese Stimmung liegt in mir vor. Diese meine Sprache, sagen wir, meine deutsche Sprache, steht mir zur Verfügung. Diese Sprache mit ihrer jahrhundertealten Tradition, ihren von lyrischen Vorgängern geprägten sinn- und stimmungsgeschwängerten, seltsam geladenen Worten. Aber auch die SlangAusdrücke, Argots, Rotwelsch, von zwei Weltkriegen in das Sprachbewußtsein hineinge-

 Benn, Probleme der Lyrik. S. 19.  Dass die Gedichtproduktion der Bundesrepublik einen Hang zum dilettierend-naturlyrischen Text hat, betont Benn schon in seinen Eröffnungssätzen: „Meine Damen und Herren, wenn Sie am Sonntagmorgen Ihre Zeitung aufschlagen, und manchmal sogar auch mitten in der Woche, finden Sie in einer Beilage meistens rechts oben oder links unten etwas, das durch gesperrten Druck und besondere Umrahmung auffällt, es ist ein Gedicht. Es ist meist kein besonders langes Gedicht, und sein Thema nimmt die Fragen der Jahreszeiten auf, im Herbst werden die Novembernebel in die Verse verwoben, im Frühling die Krokusse als Bringer des Lichts begrüßt, im Sommer die mohndurchschossene Wiese im Nacken besungen […] – kurz, bei der Regelmäßigkeit, mit der sich dieser Vorgang abspielt, jahraus, jahrein, wöchentlich erwartbar und pünktlich, muß man annehmen, daß zu jeder Zeit eine ganze Reihe Menschen in unserem Vaterlande dasitzen und Gedichte machen, die sie an die Zeitungen schicken.“ Benn, Probleme der Lyrik. S. 9.  Benn, Probleme der Lyrik. S. 19.  Vgl. die Verse 16 – 19 aus Goethes Übersetzung von Anakreons „An die Zikade“: „Weise, zarte Dichterfreundin, / Ohne Fleisch und Blut geborne / Leidenlose Erdentochter, / Fast den Göttern zu vergleichen“. Johann Wolfgang Goethe: An die Zikade [1789]. In: Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Hg. von Hartmut Reinhardt, Bd. 2.1, München / Wien 1987, S. 63 f., hier S. 64.  Benn, Probleme der Lyrik. S. 19.

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hämmert, ergänzt durch Fremdworte, Zitate, Sportjargon, antike Reminiszenzen sind in meinem Besitz. Ich von heute, der mehr von Zeitungen lernt als aus Philosophien, der dem Journalismus nähersteht als der Bibel, dem ein Schlager von Klasse mehr Jahrhundert enthält als eine Motette […].²¹

In diesem Teil des Vortrags geht Benn in eine Art Rollenprosa über, die es ihm erlaubt, eine joviale, distanziert-reflexive, oft mit naiven Formulierungen spielende Position einzunehmen. Er entwickelt ein Modell-Ich, konstruiert Situationen, die für die lyrische Produktion konstitutiv sind, und konfrontiert das Ich mit Kritik. Das moderne Ich ist durch die Heterogenität des sprachlichen Lexikons gekennzeichnet, auf das es Zugriff hat. Aus seinen Gedichten ausschließen muss es potentiell nichts. Kolloquialismen und Journalsprache sowie Mythologeme und Begriffe mit lyrischer Tradition, „seltsam geladen[e]“,²² codierte Worte, werden miteinander verwoben. Das Ergebnis sind Texte mit zum Teil erheblichen sprachlichen Kontrastverhältnissen. Die Ästhetisierung dieser Spannungen trägt der Verfasstheit des ‚Ichs von heute‘, das legen Benns Ausführungen nahe, in angemessener Weise Rechnung. Dagegen erscheint die Ausblendung eines Teilbereichs des Lexikons als Unterschlagung oder zumindest als selektive, unzureichende Behandlung der Verfasstheit des ‚Ichs‘. Nochmal: Es geht nicht darum, ‚Wirklichkeit‘ abzubilden, eine bestmögliche Repräsentation von ‚Wirklichkeit‘ im Gedicht zu liefern. So funktioniert der von Benn beiläufig verwendete Realismusbegriff nicht. Die Frage ist vielmehr, wie ein modernes lyrisches Kunstprodukt auszusehen hat, das auf die Breite des zur Verfügung stehenden Lexikons zugreifen kann. Auffällig ist die zweifache Erwähnung der Stimmungskomponente, ebenso sticht der Bezug zum Journalismus hervor. So ist zumindest das ‚Feuilletonistische‘ im Rahmen von Benns Symptomdiagnose noch auf der Seite der zu vermeidenden Merkmale des Gedichts angesiedelt, während an dieser Stelle die Zeitung zu den prägenden Medien des lyrischen Ichs zählt. Auch die Stimmungen werden zu Beginn der Marburger Überlegungen außerhalb der lyrischen Kunstproduktion verortet. Im Laufe des Vortrags ist das Stimmungshafte dann schließlich ein Teil der Lyrik („Diese Stimmung liegt in mir vor.“).²³ Nur ist diese Stimmung eine moderne, die auch, aber nicht ausschließlich auf lyrische Topoi

 Benn, Probleme der Lyrik. S. 30 f.  Benn, Probleme der Lyrik. S. 30.  Benn, Probleme der Lyrik. S. 30.

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3 Parlando und Überhöhung. Gottfried Benns späte Lyrik

(etwa: Herbststimmung) und Hochkulturell-Etabliertes rekurrieren kann. Sie öffnet die Lyrik für Alltags- und Populärkulturelles.²⁴ Mit Boris Groys’ Versuch einer Kulturökonomie, so der Untertitel seiner Monographie Über das Neue (1992), lässt sich die in Benns Poetologie skizzierte Dualität von Alltags- und Kunstsprache als Aushandlungsprozess zwischen kulturellen Archiven begreifen.²⁵ Groys formuliert die Idee, dass die „Dynamik und Innovationsfähigkeit“ der „Kultur“ einer „ökonomischen Logik par excellence“ folgt, dass Kultur, er meint damit vor allem Kunst (etwa Duchamps Pissoir), nach einer Wertlogik operiert.²⁶ Bei der Eruierung der Frage, wie das ‚Neue‘ in die Kultur kommt, wie also etwas gestaltet werden kann, um potentiell den Status des ,Innovativen‘ zu erhalten, geraten die kulturellen Archive in den Fokus. Zur Erklärung: Hier geht es nicht darum, Benns lyrisches Spätwerk als ‚neu‘, als ‚innovativ‘ zu etikettieren und dadurch zu valorisieren. So wurde es von den Zeitgenossinnen und Zeitgenossen nicht rezipiert und das ist es auch nur bedingt. Es geht darum, zu diskutieren, wie und warum Benns Poetologie und die Gedichte das Alltags- und Populärkulturelle in signifikanter Weise in den Fokus rücken. Dabei ist die Wertlogik von Interesse. Im Rahmen seiner archivtheoretischen Überlegungen unterscheidet Groys einen ‚Raum der Tradition‘ von einem „profane[n] Raum“.²⁷ Dort befinden sich Dinge, die als kulturell ‚wertlos‘ wahrgenommen werden: Der profane Raum besteht aus allem Wertlosen, Unscheinbaren, Uninteressanten, Außerkulturellen, Irrelevanten und – Vergänglichen. Doch gerade der profane Raum dient als Reservoir für potentiell neue kulturelle Werte, da er in bezug auf die valorisierten Archivalien der Kultur das Andere ist. Der Ursprung des Neuen ist deshalb der valorisierende Vergleich zwischen den kulturellen Werten und den Dingen im profanen Raum.²⁸

Die Konzeptualisierung alltags- und populärkultureller Sprache als ‚harte Unterlage‘ des Lyrischen stellt die poetologische Grundlage für die Aufwertung des Profanen in Benns Werk dar.Wenn im Zuge ‚valorisierender Vergleiche‘, die Benns Texte häufig ganz explizit unternehmen, Profanes und ‚Seraphisches‘ ins Ver-

 Zugespitzt: „Das ‚Denkerische‘ im Abendland zirkuliert in der gleichen Sphäre wie der Popsong“. Lethen, Der Sound der Väter. S. 275.  Das ‚Archiv‘ denkt Groys, ähnlich wie es Foucault in der Archäologie des Wissens (1973) tut, nicht materialiter, sondern als Metapher für diskursive Mechanismen, mit denen kulturelle Artefakte organisiert und aufbewahrt werden. Die Frage ist also: Was wird zu welcher Zeit von wem als wertig angesehen und aufbewahrt? Respektive: Was kann erinnert werden?  Boris Groys, Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie [1992], Frankfurt a. M. 32004, S. 15.  Groys, Über das Neue. S. 56.  Groys, Über das Neue. S. 56.

3.1.1 Parlando im ‚marklosen‘ Abendland: „Kleiner Kulturspiegel“

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hältnis gesetzt werden, geschieht das nicht zum Zweck der Abwertung des Profanen. Vielmehr beginnt auch das Profane durch seine Konfrontation mit dem ‚Seraphischen‘ zu schillern – und umgekehrt. Was passiert, wenn solche Volten fehlen, wenn also „schon Vorhandenes nur reproduziert“ wird, die Kontrastverhältnisse ausbleiben, zeigt ein Gedicht wie Holgards „Sylter Herbst“. Hierbei ist eine Inversionsbewegung zu beobachten. Die auf etablierte Lyrismen zurückgreifende, Vorgänger nur nachahmende Poesie, nähert sich dem Bereich des Profanen. Mit Eco könnte man präzisieren: Sie nähert sich dem eine komplexe ästhetische Erfahrung nur suggerierenden Bereich des Midcult.²⁹ Dabei wird sie „vom kulturellen Gedächtnis als überflüssig und tautologisch abgelehnt“.³⁰ Sie erhält also keinen Eintritt in die valorisierten Archive. Auf der Grundlage der diskutierten, poetologischen Überlegungen Benns entsteht ein heterogenes Textkorpus. In den Lyrikbänden Fragmente (1951), Destillationen (1953) und Aprèslude (1955) sowie in Nachlassveröffentlichungen, die die Gegenstände der folgenden Analysen bilden, verbinden sich melancholische, überhöhende, polemische und alltagssprachliche Facetten. Die Tendenz zum Kolloquialen wurde von der Forschung bekanntlich mit dem Begriff ‚Parlando‘ belegt,³¹ der Begriff ist zum Kennzeichen der späten Lyrik geworden. Bevor ich mich ein zweites Mal der Poetologie und den Hintergründen der Überhöhung zuwende, wird es um diesen Aspekt gehen. Dabei frage ich nach den Kontexten der Gedichte und ihren Relationen zum lyrischen Plauderton.

3.1.1 Parlando im ‚marklosen‘ Abendland: „Kleiner Kulturspiegel“ Im Gedicht „Kleiner Kulturspiegel“ taucht das Bonmot des ‚Schlagers von Klasse‘ zum ersten Mal auf. Benn hat es aus dem Gedicht in seinen Marburger Vortrag übernommen.³² Wie in den „Problemen der Lyrik“ wird die Überlegung zum Schlager in „Kleiner Kulturspiegel“ als spöttische Kritik an der abendländischen  Vgl. Eco, Die Struktur des schlechten Geschmacks. S. 70 – 73; sowie das Kapitel 2.3.4 dieser Arbeit.  Groys, Über das Neue. S. 55.  Vgl.Wolfgang Emmerich, Gottfried Benn. Reinbek bei Hamburg 2006, S. 119 – 126; Lethen, Der Sound der Väter. S. 259 – 279; sowie Elena Agazzi / Amelia Valtolina,Vorwort. In: Der späte Benn. Poesie und Kritik in den 50er Jahren, hg. von Elena Agazzi und Amelia Valtolina, Heidelberg 2012, S. 7– 14, hier S. 7.  Ein Entwurf von „Kleiner Kulturspiegel“ aus einem Notizheft Benns, in dem das Bonmot bereits enthalten ist, datiert wohl auf den 14. / 15. Januar 1951. Den Vortrag in Marburg hält er im August. Vgl. Gottfried Benn, Kleiner Kulturspiegel [Manuskript]. In: DLA Marbach, 91.114.98 (Arbeitsheft 16a).

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3 Parlando und Überhöhung. Gottfried Benns späte Lyrik

Kultur lanciert. Benn formuliert diese Kritik in diversen Gedichten nach dem Zweiten Weltkrieg. Solche Gedichte, zum Beispiel „‚Der Broadway singt und tanzt‘“ aus dem Band Aprèslude, verzichten in der Regel auf überhöhende Wendungen.³³ Hingegen ergreifen sie im Parlando-Ton Partei für Alltags- und Populärkulturelles. „Kleiner Kulturspiegel“ verschafft einen repräsentativen Eindruck davon: Die Zeitalter wechseln langsam, Toska (1902) ist immer noch die Leidenschaft, Bohème (1900) die Liebe, selbst aus dem Schluss der Götterdämmerung (1876) stürzen immer noch unsere Scheite. Einiges blieb schemenhaft: Iphigenie, V. Akt (bei der Premiere 1779 spielte Goethe den Orest): Thoas’s Verzicht und Humanitas hat sich politisch nicht durchgesetzt. Die Iden des März stehen in Zwielicht: wenn eine neue Regierungsform hochwill, muss die alte weichen. Über Leonidas wird heute die Mehrzahl lachen (ich persönlich allerdings nicht). Ein Frisör, der wirklich gut rasiert, (äusserst selten!) Ist bemerkenswerter als ein Hofprediger (ich verkenne das Tragische und das Schuldproblem nicht). Und sprechen Sie viel von der Lebensangst zum Frühstück etwas Midgardschlange, abends Okeanos, das Unbegrenzte, nachts die Geworfenheit – dann schläft es sich gut ein – Verteidigen will sich das Abendland nicht mehr – Angst will es haben, geworfen will es sein. Ein Schlager von Rang ist mehr 1950 als 500 Seiten Kulturkrise.

 Vgl. zu „‚Der Broadway singt und tanzt‘“ die Analyse in Baßler et al., Historismus und literarische Moderne. S. 227– 231. Baßler et al. setzen in ihrer verfahrenstheoretisch geprägten Untersuchung die Rolle des sprachlichen Materials des Textes, vor allem seine klangliche Seite, primär. Meine Analyse des Gedichts „Kleiner Kulturspiegel“ geht von der Kombination von verfahrensseitiger Materialität, Kulturkritik und Kontextualität des Textes aus. Diese Kombination der Zugänge trägt der vielschichtigen Poetologie Benns, die sich bei aller Betonung der Materialität nicht allein auf die Materialseite des Textes konzentriert, Rechnung.

3.1.1 Parlando im ‚marklosen‘ Abendland: „Kleiner Kulturspiegel“

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Im Kino, wo man Hut und Mantel mitnehmen kann, ist mehr Feuerwasser als auf dem Kothurn und ohne die lästige Pause. (Das Quartär war der nach Innen gewendete Mensch, jetzt kommt der triploide) 66 Chromosomen, Riesenwuchs –, Und nun die neue Nationalhymne! Der Text ganz ansprechend, vielleicht etwas marklos, der nächste Schritt wäre dann ein Kaninchenfell als Reichsflagge. Persönlich unfruchtbar, aber es wird schon werden.³⁴

In weitgehend reimlosen, freien Versen nimmt der Text eine quasi-prosaische Form an, die auf Restbestände lyrischer Strukturierung zurückgreift. Klangliche Äquivalenzen sind vor allem in der ersten Strophe durch die Häufung von Frikativen zu bemerken (‚Leidenschaft‘, ‚Schluss‘, ‚Scheite‘). Vereinzelt wird ein Endreim benutzt, ‚schläft es sich gut ein – geworfen will es sein‘ (Str. 4). Häufiger tritt allerdings eine Pseudoform des umarmenden Reims auf, die sich auf bis über fünf Verse streut – im Sinne des Schemas ‚abcda‘ anstelle von ‚abba‘ – etwa ‚Leidenschaft – schemenhaft‘ (Str. 1), ‚Zwielicht – nicht‘ (Str. 2) oder ‚dann – kann‘ (Str. 5 und 6). Ein weiteres Strukturelement bilden die zum Teil versetzt positionierten Anaphern zu Beginn der Strophen (‚Die‘, ‚Ein‘, ‚Und‘). Von Strophe zu Strophe wechselt das Gedicht die Gegenstände. Durch das sprunghafte Selektions- und Kombinationsverfahren entsteht ein disparat wirkendes Textgefüge. Eine disparate Anlage hat diese Textmontage aber nur mit Einschränkungen. Montagen sind für Benn, so macht er im autobiographischen Essay Doppelleben (1950) deutlich, die verfahrensseitige Antwort auf das Ende der religiösen, bürgerlichen und epistemischen Metacodes, also die groß angelegten Sinnentwürfe der Moderne. In Doppelleben stehen die parataktischen Sätze: 5. Der Stil der Zukunft wird der Roboterstil sein, Montagekunst. Der bisherige Mensch ist zu Ende, Biologie, Soziologie, Familie, Theologie, alles verfallen und ausgelaugt, alles Prothesenträger. […] Der Mensch muß neu zusammengesetzt werden aus Redensarten, Sprichwörtern, sinnlosen Bezügen, aus Spitzfindigkeiten, breit basiert –: Ein Mensch in Anführungsstrichen. Seine Darstellung wird in Schwung gehalten durch formale Tricks,

 Gottfried Benn, Kleiner Kulturspiegel [1951]. In: Benn, Sämtliche Werke. Hg. von Gerhard Schuster, Bd. 2, Stuttgart 1986, S. 150 f.

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3 Parlando und Überhöhung. Gottfried Benns späte Lyrik

Wiederholungen von Worten und Motiven – Einfälle werden eingeschlagen wie Nägel und daran Suiten aufgehängt.³⁵

Wichtig ist die anthropologische Dimension, mit der das Montageverfahren in der wie eine Proklamation durchnummerierten Ausführung verknüpft wird. Ausgehend vom „Stil der Zukunft“ liegt der Fokus auf der adäquaten,³⁶ zeichenhaften Ästhetisierung des Menschen in der Kunst. Diese Ästhetisierung weiß um die Fragmentierung des Menschen einerseits und um ihre Grenzen andererseits. Der ‚Mensch‘ steht in Anführungszeichen, da eine Montage zum sinnhaften Ganzen kein Ziel sein kann. Dagegen hält sich der „Roboterstil“ an sprachliche Gemeinplätze (‚Redensarten‘, ‚Sprichwörter‘),³⁷ also kolloquiale Schrumpfformen groß angelegter Sinnentwürfe, an semantische Inkohärenzen und an die elaborierte, formale Gestaltung des Fragmentierten. Auf ‚Redensarten‘ und ‚Sprichwörter‘ greift das Gedicht in subtiler Form zurück. So sind manche Verse in der Art fingierter Sprichwörter ohne Sinngehalt gestaltet („Ein Frisör der wirklich gut rasiert / […] ist bemerkenswerter als ein Hofprediger“, Str. 3, V. 1– 3), während andere Verse redensartliche Lektüreoperationen provozieren (vgl. etwa das ‚Kaninchen vor der Schlange‘ in den Str. 4 und 7). In „Kleiner Kulturspiegel“ wird das Ende der sinngenerierenden Metacodes nicht nur verfahrensseitig mittels der Montage, sondern auch in deklarativer Weise aufgegriffen. Die Nähe zum Journalistischen zeigt sich im Titel „Kleiner Kulturspiegel“, der Zeitungsrubriken nachempfunden zu sein scheint (vgl. etwa Spiegel-Rubriken der 1950er Jahre wie „Hohlspiegel“ oder „Rückspiegel“). Der Titel des Gedichts gibt das strukturierende, das einende Prinzip des Textes vor. Referenzgesättigt reflektiert die lyrische Instanz die kulturelle Situation um 1950. Reflexion ist dabei zweifach zu verstehen, geht es doch darum, dem kulturellen Betrieb gleichsam ‚den Spiegel vorzuhalten‘, sich souverän über das Gegebene zu erheben. Dazu verwendet der Text Propositionen – ‚x ist ‚mehr‘, ist ‚bemerkenswerter‘ als y‘ –, die die Autorität der lyrischen Instanz behaupten und auf die träge Konstanz des bildungsbürgerlichen Kanons hinweisen, ‚x ist ‚immer noch‘ y‘. Verstärkt wird dies durch den Klang der langgezogenen L-Laute in Strophe eins („langsam“, „Leidenschaft“, „Liebe“). Die Jahresangaben der Opern in den Klammern unterstreichen den zeitlichen Abstand zur Nachkriegsgegen-

 Gottfried Benn, Doppelleben [1950]. In: Benn, Sämtliche Werke. Hg. von Gerhard Schuster, Bd. 5, Stuttgart 1991, S. 83 – 176, hier S. 168 f.  Benn, Doppelleben. S. 168.  Benn, Doppelleben. S. 168.

3.1.1 Parlando im ‚marklosen‘ Abendland: „Kleiner Kulturspiegel“

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wart, absteigend bis in das achtzehnte Jahrhundert. Derjenige, der hier spricht, so der Effekt der Proposition, ist in der Lage, die Situation einzuschätzen. Durchgehend sind es profane Dinge, „Frisör“, „Schlager“, „Kino“,³⁸ die den abendländischen Institutionen Religion, Philosophie, Oper und Theater vorgezogen werden. Die „500 Seiten“ (Str. 5, V. 2) stellen, so hat Friedrich Kittler vermutet, eine Allusion auf Karl Jaspers Monografie Von der Wahrheit (1947) dar. Sie deuten an, dass die Bezugssysteme moderner Literatur im Wandel begriffen sind, dass das Referenzmaterial sich womöglich neu, zum Populären hin strukturieren wird.³⁹ Auch das Kinoprogramm, auf das es die lyrische Instanz abgesehen hat, ist mit dem Wildwest-Motiv ‚Feuerwasser‘ klar in diesem Bereich angesiedelt. Hingegen stören die förmlichen Aspekte des Theaters. Im Kothurn muss man „Hut und Mantel“ an der Garderobe abgeben, zudem wird die Darbietung durch eine „lästige Pause“ unterbrochen.⁴⁰ Genau solche jovial angebrachten Kommentare über vestimentäre und andere Präferenzen der lyrischen Instanz geben dem Gedicht seine parlandohafte Form. Wie beziehungsreich diese beiläufigen, pointensicheren, wie im Gespräch fallengelassenen Bemerkungen sind, exemplifiziert ein vermeintlich unscheinbares Zeichen wie der ‚Hut‘. Die semantischen Implikationen, die das Kino im Verhältnis zum Theater im bürgerlichen Verhaltensdiskurs der 1950er Jahre aufweist, werden auf anschauliche Weise im Buch der Etikette (1956) von Karlheinz Graudenz umrissen. Dieser tausendfach verkaufte Verhaltensratgeber macht das kulturelle Gefälle zwischen den beiden Orten in einem ironisch-vergnüglichen Duktus deutlich. Auch von Hüten im Kino ist die Rede, allerdings von Damenhüten: Wenn wir unsere Betrachtungen über künstlerische Veranstaltungen und jene Punkte, die in ihrem Zusammenhang nur allzugern vergessen werden, mit einem Hinweis auf das Kino beschließen, dann nicht etwa, weil es immer eine Stätte der Kunst ist. Leider ist das nur selten der Fall. Dennoch gilt viel von dem, was wir soeben sagten, auch für diese – nennen wir sie: Stätte der Unterhaltung. Nicht etwa in puncto Kleidung. Lichtspielhäuser werden gewissermaßen im Vorbeigehen besucht und gestatten auch sportliche Straßenkleidung. Darum also geht es nicht. Es geht vielmehr um die Tatsache, daß ein großer Teil der Kinobesucher, insbesondere der jüngeren, glaubt, mit der Eintrittskarte auch das Recht zur Mißachtung jeder Höflichkeit und Rücksichtnahme erworben zu haben.

 Benn, Kleiner Kulturspiegel. S. 150 f.  Kittler formuliert medienmaterialistisch-apodiktisch: „Moderne Literatur kündigt den klassischen Pakt mit Philosophie, einfach weil andere Zeitgenossenschaften den Vorrang erlangt haben – Filme an zweiter Stelle und Schlager von Rang, also Radioschallplatten, an erster.“ Friedrich Kittler, Benns Gedichte – ‚Schlager von Klasse‘ [1989]. In: Kittler, Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig 1993, (Reclam-Bibliothek, Bd. 1476) S. 105 – 129, hier S. 107.  Benn, Kleiner Kulturspiegel. S. 150.

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Auch im Kino könnten Zuspätkommende sich bei den bereits Sitzenden entschuldigen und sich mit der Vorder-, nicht mit der Rückfront an ihnen vorbeischlängeln, seitlich Sitzende auf mehrfache Bitten der Platzanweiserinnen zur Mitte aufrücken und so die Füllung der Reihen vereinfachen, Damen ihre Monstrehüte [sic] abnehmen […].⁴¹

Graudenz’ Etikette-Buch zeichnet das Kino als unterhaltungskulturellen Ort der fehlenden Umgangsformen und legeren Aufzüge. In diesen Ort, den man zwanglos, en passant besucht, schickt Benn seine lyrische Instanz. Die die Sicht versperrenden Hüte der Damen, Graudenz nennt sie hyperbolisch ‚Monstrehüte‘, waren offenbar ein bekanntes Problem. Auch Gertrud Oheims Ratgeber Einmaleins des guten Tons (1955) erwähnt, das sich trotz der „in den Filmtheatern auf der Leinwand“ erscheinenden „‚Bitte an die verehrten Damen‘, die Hüte abzunehmen“, „einige Unentwegte nicht entschließen“ können, „sich von ihrer Kopfbedeckung zu trennen“. Leider sei es üblich, dass „[i]mmer wieder […] nasse Mäntel, triefende Schirme oder Pakete in den Zuschauerraum mitgenommen“ werden, „während die Garderoben leer sind und die Garderobenfrauen Strümpfe stricken“.⁴² Die Bemerkung in Benns Gedicht, dass die lyrische Instanz „Hut und Mantel“ (Str. 5, V. 3) anlässt, impliziert zwei sich ergänzende Aspekte. Der Gang ins Kino samt Bekleidung konnotiert einen Lebensstil urbaner (Nach‐)Lässigkeit, das Nicht-Befolgen der Regeln der bürgerlichen Gesellschaft. Das Ablegen des Huts im Theater ist sowohl ein lästiges Ritual als auch, wenn man so weit gehen möchte, ein ungeliebter symbolischer Akt. Nur ungern ‚zieht‘ die lyrische Instanz ‚den Hut‘ vor der bildungsbürgerlichen, effeminierten Theatererfahrung. Die bürgerliche Semantik der männlichen Kopfbedeckung wird vom Gedicht ausgeblendet, der Hut ist vielmehr auf seine Funktion als Kennzeichen des Maskulinen reduziert. Auf dieses maskuline Element setzt Benns Text auch in sprachlicher Hinsicht, wie zu zeigen ist. Ein weiterer Aspekt des Parlando ist die beratschlagende Adressierung der vierten Strophe. Der Vers „Und sprechen Sie viel von der Lebensangst“ (Str. 4,V. 1) klingt, als würde die lyrische Instanz einem Gegenüber erläutern, wie man sich klischeehaft zu verhalten hat, wenn man am kulturkonservativen Diskurs um das Abendland teilhaben möchte. Um auf den Diskurs in seiner Formelhaftigkeit zu rekurrieren, werden die existenzial- beziehungsweise lebensphilosophisch geprägten Begriffe ‚(Lebens‐)Angst‘ und ‚Geworfenheit‘ schlagwortartig genannt. Wichtig sind die Erwähnungen von „Okeanos“, der Personifikation des Welten-

 Karlheinz Graudenz, Das Buch der Etikette. Unter Mitarbeit von Erica Pappritz, Marbach am Neckar 1956, S. 285 f.  Gertrud Oheim, Einmaleins des guten Tons. Gütersloh 1955, S. 295.

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stromes aus der griechischen Mythologie, und der „Midgardschlange“ (Str. 4. V. 1– 2), der Weltenschlange aus der germanischen Mythologie. Damit umreißt der Text zwei kulturkonstitutive Referenzbereiche des Abendlandes. „Okeanos, das Unbegrenzte“ ridikülisiert den Hang zum Metaphysischen, der im abendländischen Diskurs der Zeit en vogue ist. Das Midgard-Motiv einer Schlange, die einen Kreis bildet, indem sie sich in das eigene Körperende beißt, strukturiert den alimentären Ablauf der Strophe („zum Frühstück“, „abends“, „nachts“, Str. 4, V. 2– 4). Das Abendland, so legt der Text nahe, steht durch seine passive Selbstgefälligkeit (vgl. den ‚schönen Schauer‘ im dritten Vers der Strophe) und seine Bequemlichkeit („dann schläft es sich gut ein“) einem autophagen Schicksal gegenüber. Es ist überholt, verzehrt sich selbst. Der Rekurs auf das Abendland ist um 1950 in intellektuellen Kreisen verbreitet. Abendländische Werte und Großkonzepte, zum Beispiel die Humanität, werden als sinnstiftende Angebote nach den Kriegserfahrungen in Position gebracht.⁴³ Beim Solitär Benn, gerade wieder im kulturellen Betrieb angekommen und erneut um Distinktion bemüht, provoziert das eine geschichtsphilosophisch motivierte Distanzierung. „Humanitas“, erfährt man im Gedicht, „hat sich politisch / nicht durchgesetzt“ (Str. 1, V. 10 f.). Welche Rolle spielt dabei die Geschichte? Benns Geschichtsverständnis ist antimodern konzeptualisiert. Zur Erklärung: Das bezieht sich nicht auf die gleiche Modernität wie etwa die ästhetische, wenn vom ‚modernen Gedicht‘ in den „Problemen der Lyrik“ die Rede ist. Gedichte nach Benn sind vielmehr durch einen kritischen Umgang mit den historischen Modernekonzeptionen gekennzeichnet. Benns Versuch, sich vom Fortschrittsgedanken und den epistemischrationalistischen, vor allem naturwissenschaftlichen Erklärungsmodellen der Moderne abzusetzen, kann in drei Abschnitte eingeteilt werden. Auf den ersten Abschnitt der zwanziger Jahre, in denen sich Benns Texte einer archaischen Prämoderne zuwenden (in Form von Mythologemen und Südmotiven), und den zweiten Abschnitt um 1933, in dem Benn eine verhängnisvolle Politisierung seiner Poetologie vornimmt,⁴⁴ folgt mit der Abkehr vom Gedanken einer Durchdringung

 Vgl. dazu Axel Schildt, Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre, München 1999, (Ordnungssysteme. Bd. 4) S. 21– 82; sowie Kapitel 1.2.1 in dieser Arbeit.  Dass in diesem Zug die Geschichte einer allegorisierten Aufwertung unterzogen wird, stellt eine frappierende Wende in Benns Denken dar, die sich als nationalsozialistisches Ideologem allerdings reibungslos in das antimoderne Geschichtsverständnis eingliedert. Eva Geulen konstatiert: „Benns Nobilitierung des Geschichtsbegriffs gehört zu den befremdlichsten, weil auf dem Hintergrund des Gesamtwerks schlechterdings nicht nachvollziehbaren oder vorhersagbaren, Aspekten seiner Wendung zum Nationalsozialismus. Der Autor, für den Geschichte nur das Auf-

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von ‚Kunst‘ und ‚Politik‘ schließlich ein dritter Abschnitt, der prägnant als „‚Posthistoire‘“, als nachgeschichtliches Zeitalter bezeichnet werden kann. Gerhard Plumpe erläutert dazu: Ist Geschichte in dieser abgründigen Weise sinnlos, so vergleichgültigt sich die nationalsozialistische Barbarei ebenso wie der Kampf gegen sie zum indifferenten, moralisch bedeutungslosen Einerlei kontingenten Geschehens, das der Weise [lies: der Künstler, P.P.] fatalistisch hinnimmt. Für die künstlerische Produktion eröffnet dieses Posthistoire-Bewußtsein die Möglichkeit, die Trümmer der historischen Überlieferung im zeitlosen Raum der Kunst neu zu arrangieren, ihr ehedem temporales Nacheinander durch das museale Prinzip des Nebeneinander und der effektsicheren Montage zu ersetzen. Ist der Geschichte jeder Eigensinn entzogen, dann ist es die Prägnanz der poetischen Perspektive, die über das Arrangement der Monumente entscheidet.⁴⁵

Solch eine Abkehr vom Geschichtsbegriff der Moderne bildet die Prämisse für Benns poetologische Überlegungen im Marburger Vortrag.⁴⁶ Das Posthistoire erlaubt das ‚Nebeneinander‘ von Slang und Bildungssprache, von E- und U-Kultur. Der ehrfürchtige Rekurs auf die Geschichte des Abendlandes gehört im Posthistoire zu den Obszoleszenzen der historischen Moderne, die Benn argumentativ

und-Ab, der leerlaufende Prozess war, den er höhnisch verspottete, versteht sich plötzlich auf Äußerungen wie ‚Die Geschichte spricht‘ und behauptet ‚es gab niemals eine Qualität‘, die außerhalb des Historischen stand. Als unpersönliche Instanz ist die allegorisierte Geschichte unmittelbarer Ausdruck eines wirksamen Machtwillens, dessen Äußerungen von realen Subjekten nur mehr als autonome Realisation erfahren werden und hinzunehmen sind.“ Eva Geulen, Gesetze der Form: Benn 1933. In: Die Souveränität der Literatur. Zum Totalitären der Klassischen Moderne 1900 – 1933, hg. von Uwe Hebekus und Ingo Stöckmann, München 2008, S. 19 – 43, hier S. 34 f.  Gerhard Plumpe, Avantgarde in der Posthistoire. Über Gottfried Benn. In: Scrittori a Berlino nel Novecento, hg. von Giulia Cantarutti, Bologna 2000, S. 11– 25, hier S. 19 f. Plumpe rekurriert auf folgenden Passus aus dem berüchtigten „Berliner Brief“ vom 18. Juli 1948, der zwei Typen des Umgangs mit Geschichte unterscheidet: „diejenigen, die handeln und hochwollen und diejenigen, die schweigend die Verwandlung erwarten,Verbrecher und Mönche – und ich plädiere für die schwarzen Kutten“. Gottfried Benn, Berliner Brief, Juli 1948. An den Herausgeber einer Süddeutschen Monatsschrift [1948]. In: Benn, Sämtliche Werke. Hg. von Gerhard Schuster, Bd. 5, Stuttgart 1991, S. 56 – 61, S. 60.  Der erste Vers aus „Kleiner Kulturspiegel“, „Die Zeitalter wechseln langsam“, wird in „Probleme der Lyrik“ aufgegriffen. Dort heißt es kritisch in Bezug auf die kulturpessimistischen Untergangsszenarien: „Noch einige Abschiedsstrahlen des lyrischen Ich, und dann sind wir mit ihm fertig. Ein Richtstrahl geht auf Zeitwende – das Denken in Zeitwenden ist auch schon ein geisteswissenschaftliches Klischee.“ Benn, Probleme der Lyrik. S. 39. Zu den Untergangsszenarien in den Diskursen der Zeit vgl. Schildt, Moderne Zeiten. S. 324– 350.

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hinter sich gelassen hat. Das politisch-moralische Exkulpationsmanöver, das mit dieser Konzeption von Geschichte einhergeht, steht freilich auf einem anderen Blatt. Ein auffälliger Aspekt in „Kleiner Kulturspiegel“ sind die Parenthesen. In den Klammern bringt der Text Zusatzinformationen, „(bei der Premiere 1779 spielte Goethe den Orest)“, und Positionierungen der lyrischen Instanz unter, „(ich persönlich allerdings nicht)“.⁴⁷ Diese Einschübe haben die Funktionen, den Text zu unterbrechen und eine kolloquiale Distanzierung von traditionellen Gedichtformen zu unternehmen. Die Parenthese „(äusserst selten!)“ ist in die irritierende dritte Strophe eingebunden. Man könnte argumentieren, dass der Einschub das Apodiktische der Proposition, seine monolithische Stellung im Text ‚lockert‘. Nur ist der Vergleich von „Frisör“ und „Hofprediger“ (Str. 3, V. 1 und 3) derart idiosynkratisch, dass der Satz für Frame-Komplikationen bei der Lektüre sorgt.⁴⁸ Es ist nicht umstandslos möglich, die genannten Relationen der Strophe kohärent zu signifizieren; die zweite Parenthese, „(ich verkenne das Tragische und das Schuldproblem nicht)“, tut ihr Übriges. „Frisör“, das erinnert an das Motiv des Kosmetischen, an die Schönheitspflege, die Affinität für Oberflächen, wie sie in Benns Prosa etwa im Kapitel „Lotosland“ aus Der Ptolemäer (1949) auftreten. Dort monologisiert ein Kosmetiker auf intrikate Weise über die Verfasstheit des Nachgeschichtlichen.⁴⁹

 Benn, Kleiner Kulturspiegel. S. 150.  „Frames sind kulturelle Codes im Sinne von Barthes, sie können, wie gesagt, unserer Alltagserfahrung oder anderen Formen kulturellen Wissens entsprechen. Dabei macht es […] keinen Unterschied, ob diese Frames realen Gegebenheiten entsprechen oder nicht (z. B. ist die Vampirjagd ein Frame, über den in unserer Kultur die meisten Menschen verfügen. Wir wissen, dass dazu Knoblauch, Kreuze, Pfähle usw. nützlich sind, obwohl wir vielleicht gar nicht an die Existenz von Vampiren glauben).“ Baßler, Deutsche Erzählprosa. S. 20 f. Die Frage ist also, verkürzt ausgedrückt, was in einer bestimmten Kultur zu einer bestimmten Zeit semiotisch sinnvoll zusammengedacht werden kann. Alle Zeichen, die das nicht hergeben, gerade wenn sie syntagmatisch benachbart sind, stellen eine Irritation für das Framing eines Textes dar. Die epistemische Implikation dieser Dimension des Textes betont Barthes: „Die kulturellen Codes schließlich sind Zitate aus dem Schatz von Wissen und Weisheit.“ Barthes, S/Z. S. 24.  Benns späte Prosa wartet aufgrund ihres Montageverfahrens ebenso mit erheblichen Frameirritationen auf. Eine Kostprobe: „so endet das mediterrane Becken, Athene Tritogeneia, mit der schuppigen Ägis bedeckt, von der Akropolis über das Meer blickend, seine Einsamkeit, seine Leere. – In diese Richtung hatte ich auch meine berufliche Seite gelenkt. Mein Haus hieß ‚Lotos‘ – Appell an den Schönheitssinn, gleichzeitig mythologisch anklingend – Lothophagen, Lotosesser, wer von den Früchten aß brauchte kein anderes Brot, er konnte hoffen und vergessen. Aber darüber hinaus bedeutete mein Haus an sich schon eine selektive Haltung, eine ideeliche Beschränkung: Körperpflege einschließlich Krampfadern – gut, soweit ging es, das war auch noch kein Handeln, aber Gesamtschau, Totalitätsbetreuung, Lebenseinheit, Harmonie – das lehnte ich

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Mir scheint das wichtigere Zeichen jedoch der „Hofprediger“, also ein Geistlicher im Dienst der Herrschenden, zu sein. Diese Figur steht mit der siebten Strophe in Verbindung. Wieder wechselt das Gedicht in dieser Strophe mit der Konjunktion und dem Adverb „Und nun“ sprunghaft den Gegenstand. Am Beispiel der „neue[n] Nationalhymne“ (Str. 7, V. 1) richtet sich der Text auf das strittig diskutierte Selbstverständnis der jungen Bundesrepublik. Das Gedicht konkretisiert damit seine Kritik, sein Fokus verschiebt sich vom Abendland zum westdeutschen Staat. Der Vorschlag einer neuen Nationalhymne mit dem Titel „Hymne an Deutschland“ wird am 31. Dezember 1950 in der Silvesteransprache von Bundespräsident Theodor Heuss in die Öffentlichkeit gebracht. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Bundesrepublik keine Hymne. Die Melodie der „Hymne an Deutschland“ stammt von Hermann Reutter (1900 – 1985), der in Stuttgart als Lehrer für Komposition tätig war. Den Text liefert Rudolf Alexander Schröder (1878 – 1962). Schröder war auf verschiedenen Gebieten umtriebig, er verfasste Lyrik und Kirchenlieder, malte und war Architekt. Von 1946 bis 1950 leitete er die Bremer Kunsthalle. In der Korrespondenz mit seinem Bremer Vertrauten Friedrich Wilhelm Oelze tauscht sich Benn häufiger über Schröder aus.⁵⁰ Theodor Heuss hatte den Auftrag, eine neue Nationalhymne zu verfassen, persönlich an Reutter und Schröder gegeben. Auffällig ist der gegenüber Benn diametrale Rekurs auf sinnhafte Historizität, den der Bundespräsident in seine Silvesteransprache einfließen lässt: „Ich glaube, selbst bei Leuten denen meine Arbeit fremd ist, nicht im Verdacht zu stehen, den Sinn geschichtlicher Zusammenhänge zu missachten. Ich lebe selber aus ihren Werten.“⁵¹ Bevor in der Raab. Wir alle Leben etwas anderes, als wir sind. Dort wie hier Bruchstücke, Reflexe; wer Synthese sagt, ist schon gebrochen. Gelegenheiten – das war es! Im Rhythmus des vierzehntägigen Haarschnitts oder im Zyklus des vierwöchigen Kopfwaschens –: Auftauchen, nur im Akt vorhanden sein und wieder versinken –: das war der ideologische Inhalt meines Instituts.“ Gottfried Benn, Der Ptolemäer. Berliner Novelle, 1947 [1949]. In: Benn, Sämtliche Werke. Hg. von Gerhard Schuster, Bd. 5, Stuttgart 1991, S. 8 – 55, hier S. 14. Vgl. zur späten Prosa auch Max Benses Essay „Plakatwelt“, der Benns Montageverfahren in emphatischer Weise hervorhebt. Max Bense, Plakatwelt. In: Bense, Plakatwelt. Vier Essays, Stuttgart 1952, S. 9 – 22.  Das spannungsreiche Briefverhältnis zwischen Benn und Oelze, das Helmut Lethen herausgearbeitet hat, zeigt sich auch beim Thema ‚Schröder‘. Vgl. Lethen, Der Sound der Väter. S. 191– 198. Bereits im Briefwechsel wird der Text „Hymne an Deutschland“ mit der Kaninchenfellformulierung diskreditiert, die Benn im Gedicht verwendet: „Der Prolog von R. A. Schröder, den Sie mir schickten, für die Aufführung, an der sie mitwirkten, gefiel mir sehr, war sprachlich hübsch. Seine Nationalhymne weniger – der nächste Schritt wäre dann ein Kaninchenfell als Reichsflagge.“ Gottfried Benn, Briefe an F. W. Oelze. 1950 – 1956. Hg. von Harald Steinhagen und Jürgen Schröder, Bd. 2, Wiesbaden 1982, Brief Nr. 529, S. 85 – 87, hier S. 85.  Heuss fährt fort: „Aber das ungeheure Schicksal, das die staatlichen Zusammenhänge zerschlug, die [folgenden verwirrte; unver., P.P.], schuf einen Geschichtseinschnitt, der mit dem alten

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dioübertragung der Ansprache eine vom Kölner Knabenchor gesungene Version des Vorschlags erklingt, liest Heuss den Text der „Hymne an Deutschland“ mit getragener Stimme vor: Land des Glaubens, deutsches Land, Land der Väter und der Erben, Uns im Leben und im Sterben Haus und Herberg’, Trost und Pfand, Sei den Toten zum Gedächtnis, Den Lebend’gen zum Vermächtnis, Freudig vor der Welt bekannt, Land des Glaubens, deutsches Land! Land der Hoffnung, Heimatland, Ob die Wetter, ob die Wogen Über Dich hinweggezogen, Ob die Feuer Dich verbrannt, Du hast Hände, die da bauen, Du hast Herzen, die vertrauen, Lieb’ und Treue halten stand, Land der Hoffnung, Heimatland! Land der Liebe, Vaterland, Heil’ger Grund, auf den sich gründet, Was in Lieb’ und Leid verbündet Herz mit Herzen, Hand mit Hand. Frei, wie wir dir angehören Und uns dir zu eigen schwören, Schling’ um uns dein Friedensband, Land der Liebe, Vaterland!⁵²

Dem Anliegen, der Öffentlichkeit eine neue Nationalhymne zu präsentieren, geht ein kontroverser Auftritt Konrad Adenauers vom 19. April 1950 voraus. Im Titania Palast in Westberlin hatte Adenauer die anwesenden Vertreterinnen und Vertreter der Westalliierten und deutschen Politikerinnen und Politiker gebeten, gemein-

Sinn- und Wortvorrat nicht mehr erfasst werden kann. Darüber sprach ich vor einigen Monaten mit dem verehrungswürdigen Dichter Rudolf Alexander Schröder und er begriff, was mich bewegte. Ich will jetzt ganz einfach vorlesen, was das Echo dieses freundschaftlichen Männergesprächs war.“ Theodor Heuss, Neujahrsansprache [1950]. Auf: Prosit Neujahr! Silvesteransprachen und -feiern 1900 – 1998, hg. vom Deutschen Rundfunkarchiv und vom Deutschen Historischen Museum, Frankfurt a. M. 1999, Nr. 14, (Stimmen des 20. Jahrhunderts, CD 18) Timecode: 00:17– 01:09.  Hermann Reutter / Rudolf Alexander Schröder, Hymne an Deutschland für dreistimmigen gemischten Chor, hg. von Hermann Grabner, Berlin 1960, o.S.

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sam die dritte Strophe des Deutschlandliedes zu singen, was von der SPD und den Alliierten wegen der Kontinuität zum Nationalsozialismus als Affront aufgefasst wurde (die Hymne wurde nach dem Krieg von den Alliierten verboten). Theodor Heuss’ am Silvesterabend initiierter Vorschlag kam nicht an, er wurde von der Öffentlichkeit verhalten bis ablehnend aufgenommen. 1952 einigte man sich auf die dritte Strophe des Liedes von Hoffmann von Fallersleben.⁵³ In der von Heuss präferierten „Hymne an Deutschland“ sticht vor allem der religiöse Aspekt hervor. Die drei Strophen sind nach den christlichen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe gegliedert. Das „Vaterland“ ist „Heil’ger Grund“. Auffällig sind die Verweise auf die Kriegsvergangenheit und die Aufgaben des Wiederaufbaus („Den Toten zum Gedächtnis / Den Lebend’gen zum Vermächtnis“, „Ob die Feuer Dich verbrannt / Du hast Hände, die da bauen“).⁵⁴ Der „Hofprediger“ in der dritten Strophe von Benns „Kleiner Kulturspiegel“ kann mit ebendieser christlichen Verfasstheit der „Hymne an Deutschland“ verbunden werden. Öffentliche Reaktionen auf das Lied, etwa „‚schwäbisch-protestantischer Nationalchoral‘“ (Heuss war Stuttgarter),⁵⁵ fügen sich in dieses Bild. Der zweite Vers der siebten Strophe bildet mit seiner Abqualifizierung der „Hymne“ eine Kontrastfolie zum Selbstverständnis des „Kleinen Kulturspiegels“: „Der Text ganz ansprechend, vielleicht etwas marklos“.⁵⁶ ‚Markig‘ tritt die lyrische Instanz in ihren Formulierungen und Vorlieben auf. Der (hypermaskuline) König der Spartaner, ein Rekurs auf Benns Anbandeln mit der nationalsozialistischen Ideologie im Essay „Dorische Welt“ (1934),⁵⁷ bleibt vom Gelächter verschont. Das

 Vgl. zu den verhaltenen Reaktionen auf die Hymne und die Differenzen zwischen Heuss, Reutter und Schröder den Artikel o.V.: Nationalhymne. Im ollen C-Dur. In: Der Spiegel, 2, 10. Januar 1951, S. 35 f. Zur Findungsphase der deutschen Nationalhymne vgl. Clemens Escher, Deutschland, Deutschland, Du mein Alles! Die Deutschen auf der Suche nach ihrer Nationalhymne 1949 – 1952, Paderborn 2017, S. 37– 52.  Reutter / Schröder, Hymne an Deutschland. o.S.  Zit. nach Rainer Blasius, Das Lied für Deutschland. Von Ebert über Heuss bis Weizsäcker: Der lange Streit über die Nationalhymne. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 99, 29 April 2002, S. 8.  Benn, Kleiner Kulturspiegel. S. 150.  Die Rede vom Gelächter, das man dem König der Spartaner entgegenbringt („Über Leonidas würde heute die Mehrzahl lachen“, Str. 2, V. 3 – 4), knüpft an eine Stelle aus „Dorische Welt“ an. Dort sind es die Spartaner, die ihre Feinde, die Perser,verhöhnen: „Agesilaos, der große Spartaner, ließ eines Tages, um seine Mannschaft zu ermutigen, die gefangenen Perser entkleiden. Beim Anblick des blassen, schlaffen Fleisches fingen die Griechen an zu lachen und marschierten voller Verachtung für ihre Feinde vorwärts“. Gottfried Benn, Dorische Welt. Eine Untersuchung über die Beziehung von Kunst und Macht [1934]. In: Benn, Sämtliche Werke. Hg. von Gerhard Schuster, Bd. 4, Stuttgart 1989, S. 124– 153, hier S. 138. Benn hat die Textstelle über Agesialos wortlautlich aus Hippolyte Taines Philosophie der Kunst (1903) übernommen. Vgl. dazu sowie zum Sparta-Bild und den anthropologischen Entgleisungen in „Dorische Welt“: Lethen, Der Sound der Väter.

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malade Abendland wird hingegen mit Vokabeln und Bildern der Schwäche, der Unfruchtbarkeit enggeführt. Allen voran steht der Hinweis auf den „triploide[n]“ Menschen nach dem „Quartär“ (Str. 6, V. 1). Triploidie bezeichnet Lebewesen, die drei anstatt zwei Chromosomensätze in ihren Zellen aufweisen. Bei einigen Tier- und Pflanzenarten ist Triploidie in natürlicher Form anzutreffen, etwa bei der Batura-Kröte. Bei anderen Tieren, vor allem bei Fischen wie Forellen oder Karpfen, wird die Triploidie als Zuchtmerkmal eingesetzt, um die Fortpflanzung der Tiere zu vermeiden. Beim Menschen gehen mit der Triploidie schwerste Behinderungen einher, in der Regel sind triploide Föten nicht lebensfähig. „Kleiner Kulturspiegel“ rekurriert mit den Versen über Triploidie auf einen Artikel aus dem Spiegel, laut Benn eine „Revolverwochenschrift, aber unterhaltlich [sic]“.⁵⁸ Der Zeitschriftenbeitrag mit dem aufmerksamkeitsheischenden Titel „Noch keine Riesenmenschen“ (31. August 1950) berichtet über die Histologen Gösta Häggquist und Allen Bane, welche durch Veränderungen im Chromosomensatz „überdimensiona[l]“ große Kaninchen züchten konnten, die sie stolz vor der Kamera präsentierten (vgl. Abb. 4).⁵⁹ Kaninchen verfügen in der Regel über 44 Chromosomen (2 x 22 = diploid), Häggquists und Banes „Versuchskarnickel“ weisen die im Gedicht erwähnten 66 Chromosomen auf (3 x 22).⁶⁰ Auch sie sind jedoch, genau wie triploid gezüchtete Forellen, steril. Die „Meldung, den schwedischen Forschern werde es möglich sein, eine Rasse von Drei-Meter-Übermenschen zu züchten“, verweist der Spiegel beiläufig ins „Treibhaus der Sensation“.⁶¹ Benns Gedicht bettet diese Erwähnung von Riesenmenschen, die nur eine Randnotiz im Spiegel-Artikel darstellt, prominent in seine Schmähkritik des Abendlands ein. Die sechste Strophe bezieht den „Riesenwuchs“ auf den triploiden Menschen, wobei die trennende Parenthese der Verse bereits anzeigt, dass sich die Konstellation komplexer darstellt. Im Gegensatz zum Kaninchen können die im Gedicht erwähnten „66 Chromosomen“ (Str. 6, V. 3) genetisch keine Triploidie beim

S. 148 – 158. Benn stilisiert die Spartaner zu antiken Herrenmenschen, die durch Härte und Drill ihre Leiber formen. Dadurch werden sie zum Ausweis der ‚Züchtung‘, die um 1933 zu einem der Angelpunkte der Politisierung des Benn’schen Formbegriffs wird. Vgl. Geulen, Gesetze der Form: Benn 1933. S. 33 – 39.  Benn, Briefe an F. W. Oelze. 1950 – 1956, Nr. 471: Brief vom 14. März 1950, S. 19.  o.V., Noch keine Riesenmenschen. In: Der Spiegel, 35, 31. August 1950, S. 34.  o.V., Noch keine Riesenmenschen. S. 34.  o.V., Noch keine Riesenmenschen. S. 34. Der ideologischen Funktionalisierung von Nietzsches Begriff des Übermenschen in der jüngeren Vergangenheit begegnet der Artikel mit der unbefangenen Ironisierung des Wortes. „Drei-Meter-Übermenschen“, das klingt nach Science-Fiction. Die Formulierung eignet sich, um das kolportierte medizinische Szenario zu belächeln und zugleich die nationalsozialistische Vorstellung vom Übermenschen zu verballhornen.

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Abb. 4: Chromosomenlehre im Spiegel (31. August 1950).

Menschen anzeigen. Da der diploide, menschliche Chromosomensatz aus 46 Chromosomen besteht, müssten es im Falle menschlicher Triploidie 69 sein. Diese fehlerhafte Konstruktion hat zwei Funktionen. Sie fingiert erstens pseudowissenschaftlich-popularisiertes, journalistisch-parlandohaftes Reden über medizinisches Wissen der Zeit. Zweitens parallelisiert sie den riesenwüchsigen Menschen des Posthistoire sowie die impotenten Kaninchen aus dem Spiegel – und zwar bis in die Chromosomen hinein. Vor dem Hintergrund des skizzierten Kontextes ist der Vers „ein Kaninchenfell als Reichsflagge“ aus der siebten Strophe (V. 4) näher zu verstehen. Die Beuteassoziation, die das Kaninchen hervorruft, unterstreicht die Vorstellung des ‚ängstlichen‘ Okzidents. Hinzu kommt das wenig wertige Fell, das den desolaten Zustand des Abendlands in ein schräges Bild münden lässt. Auffällig ist das Präfix ‚Reichs-‘.

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Solche spöttischen Stellen, der Rekurs auf das im Werkkontext belastete Sparta, die Rede von der „Reichsflagge“, machen das Gedicht zu einem politisch heiklen Text und haben wohl Anteil daran, dass er in die Nachlassveröffentlichungen eingegangen ist, beziehungsweise dass er nicht in den von Benn autorisierten Gesammelten Gedichten von 1956 vertreten ist.⁶² Es drängt sich der Eindruck auf, dass man „Kleiner Kulturspiegel“ vor allem als privates Kraftmeiern Benns lesen sollte.

 Die Überlieferungsgeschichte des Gedichts wartet mit Unklarheiten auf und führt zugleich in den Bereich der Benn-Verehrung der Nachkriegszeit hinein. In der Klett-Cotta’schen Ausgabe ist es den Nachlassveröffentlichungen zugeordnet. Die editorischen Kommentare dieser Ausgabe sowie der von Bruno Hillebrand besorgten Gedichte in der Fassung der Erstdrucke geben an, der Text sei zum ersten Mal 1960 in Dieter Wellershoffs Gesammelten Werken in vier Bänden erschienen und wäre davor lediglich als Typoskript verfügbar gewesen. Dass das Gedicht vor 1960 der Öffentlichkeit unbekannt war, muss jedoch bezweifelt werden. Vielmehr ist anzunehmen, dass Benn den Text in einer von den Editoren übersehenen Zeitung oder Zeitschrift vorveröffentlicht oder ihn zumindest öffentlich gelesen hat. 1953 erscheint ein Gedicht des Lyrikers Albert Arnold Scholl mit dem Titel „Perspektiven“, welches offenkundig auf Benns „Kleiner Kulturspiegel“ reagiert. Scholls Text aus dem Gedichtband Die gläserne Stadt arbeitet sich an Benns „Kulturspiegel“ ab und bildet den Text stellenweise nach, um sich schlussendlich in propositionaler Hinsicht von ihm zu distanzieren. „Perspektiven“ beginnt mit einer Benn-Referenz: „Nicht länger reden / von Krisen jeglicher Art, / von Wirtschafts- und Ausdruckskrisen / (fallende Stahlpreise, das absolute Gedicht) / in der großen Welt“, und lenkt dann über zur Leitfrage: „Liegt die Hölle erst jenseits der Schwelle / oder handelt es sich da / um ein jenseitiges Stadium?“ Evident wird der Bezug zu „Kleiner Kulturspiegel“, wenn der Text nach vier Strophen ganz in den die Felder der Unterhaltung und Kultur jovial überblickenden Parlandomodus wechselt. Die formal auffälligen Parenthesen werden dabei von Scholl übernommen: „Gehen wir doch die Instanzen kurz einmal durch: // Der neueste amerikanische Streifen – / (‚Der jüngste Tag! / Das müssen Sie gesehen haben! / Weltuntergang in Technikolor [sic] – / demnächst in diesem Theater!‘) – der neueste Streifen von drüben also / läge in diesem Fall keineswegs richtig“. Sowie: „Die Philosophen haben zur Zeit / ebenfalls nichts zu bieten; sie teilen / mit vollen Händen / und auf eintausendzweihundert Seiten / ein Kapital aus, / dessen Verzugszinsen / lange schon überfällig sind.“ Bei allen Parallelen regt Scholls Text letztlich andere Schlussfolgerungen an. Während sich Benns Nachkriegstexte im Einerlei des Posthistoire auflösen, betont der Schluss von „Perspektiven“ die „Hoffnung“, die trotz jüngster Ereignisse wie „Hiroshima und Korea“ Bestand haben soll. Albert Arnold Scholl, Perspektiven. In: Scholl, Die gläserne Stadt. Düsseldorf 1953, S. 26– 28. Hans Egon Holthusen hat den Nachwuchsautor Scholl (Jg. 1926) als Benn-Epigonen eingeschätzt. Vgl. Hans Egon Holthusen, Ja und Nein. Neue kritische Versuche, München 1954, S. 144– 150. Scholls spannungsreiche Auseinandersetzung mit Benn, wie sie der Text „Perspektiven“ darlegt, ist wohl unter anderem mit einer gescheiterten Kontaktaufnahme nach Benns Vortrag in Marburg in Verbindung zu bringen. An Oelze schreibt Benn im März 1953, im Falle von Scholl handele es sich um „mittlere Klasse“. 1954 ist erneut vom jungen Lyriker die Rede. Benn berichtet: „Den Scholl kenne ich nicht persönlich; damals in Marburg a.L. versuchte er in etwas zudringlicher Weise in mein Zimmer einzudringen u. da wurde ich ein wenig deutlich (durch den Kellner u liess ihm sagen, dass ich nicht zu sprechen sei). Ob er was kann u. wird, ist schwer zu sagen.“ Benn, Briefe an F. W. Oelze. 1950 – 1956, Nr. 629 und 684: Briefe vom 04. März 1953 und 31. Juli 1954, S. 164 und 213.

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Durch den spöttischen Duktus lässt sich jedoch übersehen, dass der ästhetische Reiz des Gedichts von seinem Archivierungsverfahren ausgeht. Auch wenn das Verfahren gleichermaßen E- und U-kulturelle Sachverhalte berücksichtigt, liegt der Schwerpunkt abseits des Kanonischen. Es sind Dinge des profanen Raums, wie man mit Groys formulieren kann, kulturell Marginalisiertes und Partikulares, populärkulturelle Genres, alltagskulturelle Praxen sowie Hymnenentwürfe, die sich nicht durchsetzen werden, aus denen das Gedicht sein Material bezieht. In „Kleiner Kulturspiegel“ fungiert dieses Marginalisierte und Partikulare als Ausgangspunkt der ästhetischen Poiesis. Die fünfte Strophe des Gedichts kontrastiert die „neue Nationalhymne“ aus Strophe sieben indirekt mit einem anderen musikalischen Genre: dem „Schlager“.⁶³ Davon ausgehend lässt sich ein Bogen zu den offiziösen Alternativen der bundesrepublikanischen Hymne schlagen. Bei offiziellen Anlässen wurde zur Zeit der Hymnensuche häufiger Beethovens „Ode an die Freude“ gespielt. Konrad Adenauer hatte im Rahmen einer Pressekonferenz am 14. April 1950 noch etwas anderes zu berichten. Er erzählte von „einer sportliche[n] Veranstaltung gegenüber Belgien“ im „vorigen Jahr“, gemeint ist wohl das Sechstagerennen in der Kölner Sporthalle, bei der anstelle der Hymne „das schöne Karnevalslied ‚Ich bin ein Einwohner von Trizonesien‘ angestimmt“ wurde.⁶⁴ Die „belgische[n] Soldaten“ seien, so Adenauer, „aufgestanden und haben salutiert, weil sie glaubten, das wäre die Nationalhymne“.⁶⁵ Auch wenn sich das Ereignis nicht verifizieren lässt, ist klar, dass Adenauers launige Aussage auf die Dringlichkeit einer Hymne für die Bundesrepublik hinweisen soll. Die Anekdote zum Karnevalsschlager wirkt nach. So wurde „Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien“ – Adenauer zitiert den Titel falsch – selbstironisch als inoffizielle Hymne gehandelt. Das Erfolgslied aus dem Jahr 1948 stammt vom Kölner Sänger Karl Berbuer, der mit „Heidewitzka, Herr Kapitän“ (1936) Bekanntheit erlangte. In parodistischer Form setzt sich der „Trizonesien“Song mit der NS-Zeit und der Situation der westdeutschen Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg auseinander: Mein lieber Freund, mein lieber Freund, die alten Zeiten sind vorbei,

 Benn, Kleiner Kulturspiegel. S. 150 f.  o.V., 19. April 1950. Aus der Pressekonferenz des Bundeskanzlers in Berlin. In: Dokumente zur Deutschlandpolitik. Hg. vom Bundesministerium des Inneren unter Mitwirkung des Bundesarchivs, Bd. 3, München 1997, S. 150 – 155, hier S. 151.  o.V., 19. April 1950. Aus der Pressekonferenz des Bundeskanzlers in Berlin. S. 151.Vgl. zu dieser Anekdote auch Escher, Deutschland, Deutschland, Du mein Alles! S. 28 – 31.

3.1.1 Parlando im ‚marklosen‘ Abendland: „Kleiner Kulturspiegel“

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ob man da lacht, ob man da weint, die Welt geht weiter, eins, zwei, drei. Ein kleines Häuflein Diplomaten Macht heut’ die große Politik, sie schaffen Zonen, ändern Staaten. Und was ist hier mit uns im Augenblick? Refrain: Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien, Hei-di-tschimmela-tschimmela-tschimmela-tschimmela-bumm! Wir haben Mägdelein mit feurig wildem Wesien [sic], Hei-di-tschimmela-tschimmela-tschimmela-tschimmela-bumm! Wir sind zwar keine Menschenfresser, doch wir küssen umso besser. Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien, Hei-di-tschimmela-tschimmela-tschimmela-tschimmela-bumm! Doch fremder Mann, damit du’s weißt, ein Trizonesier hat Humor, er hat Kultur, er hat auch Geist, darin macht keiner ihm was vor. Selbst Goethe stammt aus Trizonesien, Beethovens Wiege ist bekannt. Nein, sowas gibt’s nicht in Chinesien, darum sind wir auch stolz auf unser Land. Refrain ⁶⁶

Berbuers Karnevalsschlager rekurriert auf die Einteilung Westdeutschlands in drei Zonen durch die Alliierten, die sogenannte ‚Trizone‘. Klanglich nimmt der Liedtitel Anleihen an deutsche Länderbetitelungen für Gebiete und Staaten des Südpazifiks (durch die drei Silben ‚ne-si-en‘, etwa in Indonesien, Polynesien, Mikronesien). Der Liedtext schafft eine Verbindung aus Autoexotisierung, angedeuteten Fremdheitserfahrungen sowie kolonialistischen und allemanisierten Klischees („Menschenfresser“, „Mägdelein“). Dabei wählt der Song die kolloquiale Perspektive ‚von unten‘, aus der Bevölkerung („Häuflein Diplomaten“,

 Es gibt eine alternative zweite Strophe: „Kolumbus fand Amerika, / ein neuer Erdteil ward entdeckt. / Was Marco Polo alles sah, wurd’ dann von der Kultur beleckt. / Swen Hedin war am Himalaja, / er schritt durch heißen Wüstensand. / Am Nordpol stand Amundsen’s [sic] Heija, / doch uns hat keiner je zuvor gekannt“. Karl Berbuer, Trizonesien-Song. Marsch-Fox. In: Bravo Bravissimo. Karl Berbuer – Seine schönsten Lieder. Frankfurt a. M. 2010, S. 42 f.

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„Und was ist hier mit uns im Augenblick?“).⁶⁷ Die Alliierten sind in diesem Szenario keine Befreier, sondern Kolonisatoren. Musikalisch kombiniert das „Trizonesien“-Lied Aspekte des Foxtrotts mit Elementen der Marschmusik. In textueller Hinsicht wird die Hemdsärmeligkeit ebendieser Marschelemente parodierend übertrieben („1, 2, 3“, ‚Heidi-tschimmela-bumm‘). Auffällig ist die Rede vom „feurig wildem Wesien“ [sic], das die „Mägdelein“ kennzeichnet, was als Verballhornung des im Nationalsozialismus beschworenen ‚deutschen Wesens‘ gelesen werden kann. Die „Mägdelein“ spielen auf die amourösen Beziehungen und sexuellen Verhältnisse zwischen Besatzern und deutschen Frauen an. Der deutschen ‚Hochkultur‘ wird in Berbuers Karnevalsschlager genretypisch mit Klamauk begegnet. „Geist“, „Kultur“, „Goethe“ und „Beethoven“ nennt der Liedtext stichpunktartig als Ressourcen, über die Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg verfügt (auch „Humor“, dafür soll der „Trizonesien“-Song selbst das Beispiel sein).⁶⁸ Der alberne Reim ‚Chinesien – Trizonesien‘ verdeutlicht, dass die Aufzählung deutscher Distinktionsmerkmale eine markierte ist. So zitiert der Song den emphatischen Rekurs auf abendländische sowie deutsche Kulturwerte an. Dennoch scheint mir diese Markierung ambivalent. Der letzte Vers der fünften Strophe, „darum sind wir auch stolz auf unser Land“, ist trotz des verballhornenden Modus des Lieds kaum durchweg ironisch zu lesen. Ein unentschiedenes Verhältnis zur ‚deutschen Kultur‘ lässt sich mit Berbuers Stoßrichtung vereinbaren. Es ist vor allen anderen Dingen die Willkürlichkeit der ‚kolonisierenden‘ Besatzungsmächte im Umgang mit den deutschen Zonen, nicht etwa die ‚deutsche Kultur‘, gegen die sich der Song auf karnevalistische Weise wendet. Wie verhält sich dies zu Benns Gedicht? Vom Begriff ‚Kultur‘ und seiner bildungsbürgerlichen Konzeptualisierung distanziert sich „Kleiner Kulturspiegel“ nachdrücklich, ähnlich wie es um 1950 Intellektuelle unterschiedlicher politischer Couleur tun. Für sie verbindet sich mit dem Begriff die als unzeitgemäß wahrgenommene Restauration okzidentaler Werte (oder bei Adorno gar der Rückfall in den Faschismus).⁶⁹ ‚Kultur‘ ist in Benns Gedicht von vorneherein eine

 Berbuer, Trizonesien-Song. S. 42 f.  Berbuer, Trizonesien-Song. S. 42 f.  Vgl. dazu Adornos Beitrag „Auferstehung der Kultur in Deutschland?“ aus den Frankfurter Heften vom Mai 1950. Adorno zeigt sich zunächst überrascht angesichts der „intellektuelle[n] Leidenschaft“ vor allem junger Menschen, zum Beispiel an den Universitäten. Die Gründe dafür lägen in dem (noch) nicht wieder komplett herausgebildeten „verwaltete[n] Kulturbetrieb“, ein Umstand, der „zur Verinnerlichung“ dränge. Das Problem sei, dass man sich „zuweilen“ vorkäme, „als wäre man hundertfünfzig Jahre zurückversetzt in die Zeit der Frühromantik“, sprich: „Die Nachkriegszeit, in allem Rausch des Wiederentdeckens, sucht Schutz beim Herkömmlichen und

3.1.2 Parlando zwischen Popularisierung und Überhöhung: „Restaurant“

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Kategorie, die in Anführungszeichen gelesen werden muss. Darauf deutet schon das Adjektiv ‚klein‘ hin, das als fingierter Bescheidenheitstopos fungiert. ‚Klein‘, im Sinne von bescheiden, affirmativ die Tendenzen der Zeit abbildend, operiert das Gedicht überhaupt nicht. An die Stelle von Sinnangeboten – ‚Humanitas‘ – setzt der Text seine großspurige lyrische Instanz. Diese tritt als eine das Feld überblickende Autorität auf und äußert mit der Präferenz für Unterhaltungskulturelles ihre Skepsis gegenüber den Werten des Abendlands. Wie exzentrisch Benns Instanzen vorgehen, um sich gegen Sinnentwürfe verschiedener Prägung abzugrenzen, und wie eigentümlich sie dabei auf überhöhende Verfahren zurückgreifen, wird in diversen Texten des Spätwerks ersichtlich – so auch im Gedicht „Restaurant“.

3.1.2 Parlando zwischen Popularisierung und Überhöhung: „Restaurant“ Der Text „Restaurant“ aus dem Band Fragmente (1951) folgt der für zahlreiche späte Gedichte Benns spezifischen Struktur der ‚harten Unterlagen‘. Die Texte beginnen mit Alltagsbeobachtungen, um dann mit abstrakten, groß dimensionierten Kategorien und häufig im Opaken verbleibenden Versen zu enden. Das duale Zusammenspiel von Alltagssprachlichkeit und Überhöhung ist grosso modo in dieses Schema eingefasst. Das im Plauderton verfasste Gedicht über Konsumgewohnheiten liefert einen Einstieg in die Überhöhungsthematik. Was es ebenfalls für eine Analyse eignet, sind seine Kontexte: die Popularisierung von medizinischem Wissen und die Rezeption US-amerikanischer Kultur in der bundesrepublikanischen Gesellschaft um 1950. Der Herr drüben bestellt sich noch ein Bier, das ist mir angenehm, dann brauche ich mir keinen Vorwurf zu machen daß ich auch gelegentlich einen zische. Man denkt immer gleich, man ist süchtig, in einer amerikanischen Zeitschrift las ich sogar, jede Zigarette verkürze das Leben um sechsunddreißig Minuten, das glaube ich nicht, vermutlich steht die Coca-Cola-Industrie oder eine Kaugummi-Fabrik hinter dem Artikel. Ein normales Leben, ein normaler Tod das ist auch nichts. Auch ein normales Leben

Gewesenen“. Bildungsphilisterei mache sich breit und bereite, so Adornos mahnender Gestus, einem möglichen Rückfall „in die Barbarei“ das Feld. Theodor W. Adorno, Auferstehung der Kultur in Deutschland? In: Frankfurter Hefte, 5, 1950, S. 469 – 477, hier S. 469 f. und 473 f.

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führt zu einem kranken Tod. Überhaupt hat der Tod mit Gesundheit und Krankheit nichts zu tun, er bedient sich ihrer zu seinem Zwecke. Wie meinen Sie das: der Tod hat mit Krankheit nichts zu tun? Ich meine das so: viele erkranken, ohne zu sterben, also liegt hier noch etwas anderes vor, ein Fragwürdigkeitsfragment, ein Unsicherheitsfaktor, er ist nicht so klar umrissen, hat auch keine Hippe, beobachtet, sieht um die Ecke, hält sich sogar zurück und ist musikalisch in einer anderen Melodie.⁷⁰

Das aus zwei Strophen bestehende, reimlose und in freien Versen verfasste „Restaurant“ gliedert sich in drei miteinander verbundene Teile. 1) An die Beobachtung im Lokal, dem topischen Setting der späten Lyrik,⁷¹ die teils skurrilen Ausführungen zum Nikotinkonsum und zur Validität des gelesenen Zeitschriftenartikels, schließen sich 2) allgemeinere Gedanken über den Zusammenhang beziehungsweise Nicht-Zusammenhang von Genussmitteln, Krankheit und Sterblichkeit an (Str. 1, V. 9 – 13). Über diese Beobachtungen und Gedanken legitimiert die lyrische Instanz ihr Konsumverhalten. 3) Aus der Nachfrage zu den Überlegungen zum Tod geht die zweite Strophe hervor. In diesem Zuge vermischt sich der Plauderton des Gedichts in moderater Weise mit Aspekten sprachlicher Überhöhung. Die Todesmotivik in Verbindung mit der Reflexion der eigenen Sterblichkeit seitens der lyrischen Instanz ist typisch für Benns Lyrik der 1950er Jahre. Häufig treten auch melancholische Abschiedstöne hinzu.⁷²

 Gottfried Benn, Restaurant [1951]. In: Benn, Sämtliche Werke. Hg. von Gerhard Schuster, Bd. 1, Stuttgart 1986, S. 245.  Thomas Wegmann hält zu dieser Affinität für Kneipen, Bars und Speiselokale fest: „Vor allem nach 1948 liefert dann immer häufiger das Wirtshaus sowohl den Entstehungsort als auch den Stoff für Benns späte Gedichte – und mit ihm die dort ausliegenden Zeitungen und Illustrierten sowie das eingeschaltete Radio. Es ist der Ort stimmlicher Polyphonie und gleichzeitig Produktionsstimulus.“ Thomas Wegmann, Text-Akustik: Rundfunk und skripturale Oralität im Spätwerk Gottfried Benns. In: Das Hör-Buch. Praktiken audioliteralen Schreibens und Verstehens, hg. von Natalie Binczek und Cornelia Epping-Jäger, München 2014, S. 65 – 76, hier S. 72.  Vgl. beispielhaft die Gedichte „Letzter Frühling“ und „Tristesse“. Auch vor diesem Hintergrund hat man Benns Lyrik seit den Fragmenten (1951) mit dem Begriff ‚Spätstil‘ etikettiert und diskutiert. Karen Leeder räumt die Missverständnisse aus, die mit diesem Terminus einhergehen. Dabei nutzt sie eine spezifische Ausprägung des Begriffs, um die Heterogenität der Benn’schen Lyrik einzufassen: „Spätstil ist kontextverhaftet, nicht transzendent.Wie jedes andere ästhetische Phänomen ist er das komplexe Produkt der Erfahrungen eines an eine bestimmte Zeit und an einen bestimmten Ort gebundenen Künstlers und nicht ein Modus oder eine Technik, die den

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„Restaurant“ operiert mit Kolloquialismen, die an die Morgue-Gedichte (1912) erinnern („gelegentlich einen zische“) sowie mit Gemütslagen und Präferenzen der lyrischen Instanz („das ist mir angenehm“, Str. 2– 3). Signifikant ist der Kontrast zum überheblichen Duktus in „Kleiner Kulturspiegel“. In „Restaurant“ ist es ein „Vorwurf“, ein Selbstzweifel der Instanz, der empfundene Vorwurf eines genießerischen Lebens, der als Aufhänger des Gedichts fungiert. Darauf reagiert der Text mit einem entlastenden Vergleich („Der Herr drüben bestellt sich noch ein Bier“, V. 1 – dann darf ich auch) und der Skepsis gegenüber dem warnenden Artikel aus einer „amerikanischen Zeitschrift“.⁷³ In verschwörungstheoretischer Art vermutet die lyrische Instanz Marktmechanismen, die „hinter dem Artikel“ stehen. Andere Genussmittelhersteller könnten den Text aus Konkurrenzgründen lanciert haben. So geraten die schillernden, Klischees über die US-amerikanische Kultur aufrufenden, Komposita „Coca-Cola-Industrie“ und „Kaugummi-Fabrik“ (V. 7– 8) in das Gedicht.⁷⁴ Die Frage, welche Zeitschrift derartige Vermutungen der lyrischen Instanz anregt, haben die Benn-Kommentatoren und -Kommentatorinnen bislang unberücksichtigt gelassen. Doch die Stelle ist quellengebunden. Das Manuskript von „Restaurant“ datiert auf den 14. April 1950. Die Angabe, „jede Zigarette verkürze das Leben um sechsunddreißig Minuten“, hat Benn der deutschsprachigen Ausgabe des Reader’s Digest vom April 1950 entnommen.⁷⁵ „Wie gefährlich sind Zigaretten? Das neueste Tatsachen- und Zahlenmaterial aus USA für den Raucher“ heißt der Artikel, der in einer Fußnote zur Frage „Kann rauchen das Leben verkürzen?“ den Verhaltenstherapeuten Andrew Salter zitiert: „‚Der starke Raucher muß jede Zigarette mit 34,6 Lebensminuten bezahlen und jede Zwanzigstückpackung mit 11,5 Lebensstunden‘“.⁷⁶ In Benns Gedicht ist dieser

Künstler beim Älterwerden sozusagen befallen. Spätstil ist keine spontane Alters- und Gebrechlichkeitserscheinung, sondern eine Ausdrucksform, die sich ein Künstler aneignet aus dem Hang oder Drang heraus, sich der Harmonie zu verweigern und kritisch zu sein, als Teil eines Prozesses der Selbstverortung und Selbstbestätigung, der sich am ehesten vielleicht als ‚testamentary acts‘ (testamentarische Handlungen) begreifen lässt.“ Karen Leeder, ,Das Gen des Todes‘. Altern und Spätstil bei Gottfried Benn, in: Benn-Forum. Beiträge zur literarischen Moderne, hg. von Joachim Dyck, Hermann Korte und Nadine Jessica Schmidt, Bd. 3, Berlin / Boston, MA 2013, S. 185 – 203, hier S. 193.  Benn, Restaurant. S. 245.  Benn, Restaurant. S. 245.  Vgl. Roger William Riis, Wie gefährlich sind Zigaretten? Das neueste Tatsachen- und Zahlenmaterial aus USA für den Raucher. In: Das Beste aus Reader’s Digest. Artikel und Buchauszüge von bleibendem Wert, 4, 1950, S. 1– 10.  Salter leitet, wie Riis ausführt, seine Berechnung von den Arbeiten des Mediziners Raymond Pearl ab, der die „Lebensspanne und Rauchgewohnheiten bei 6813 Männern“ untersucht hat.

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Wert aus phonetischen Gründen auf „sechsunddreißig Minuten“ aufgerundet (vgl. die S-Anlaute der beiden vorherigen Verse). Den Suchtvorwurf hat „Restaurant“ ebenfalls aus der Zeitschrift übernommen („Man denkt immer gleich, man ist süchtig“, Str. 1,V. 4). Im Artikel ist von der „neue[n] Sucht“, die „alle Welt ergriffen hat“ sowie von der „Dämonie der Sucht“ die Rede.⁷⁷ Auch über solche Stellenrekurse hinaus erweist sich der Reader’s Digest als wichtige Referenz. Das Prinzip des Digest wurde in Europa kontrovers aufgenommen. Die 1922 von DeWitt und Lila Wallace in den USA gegründete Zeitschrift basiert darauf, ‚wertige‘ Artikel aus verschiedenen Bereichen, etwa auch wissenschaftliche Fachtexte, auszuwählen, zu komprimieren und nachzudrucken, sie gewissermaßen in ‚verdauter‘ Form einem breiten Publikum bereitzustellen. Diese Idee wurde ab 1933 durch eigens für die Zeitschrift geschriebene Texte ergänzt. Das Kuratieren und Popularisieren bereits gedruckter Artikel blieben jedoch die Spezifika des Digest. Die erste deutsche Ausgabe der Zeitschrift unter Leitung einer eigenen Redaktion erschien ab 1948 monatlich als Das Beste aus Reader’s Digest. Artikel und Buchauszüge von bleibendem Wert. Beim deutschen Digest handelt es sich demnach um eine Auswahl zweiter Ordnung, eine Auswahl (‚Das Beste‘) der Auswahl der US-amerikanischen Redaktion, erweitert um eigene Artikel. In der Aprilausgabe aus dem Jahr 1950 stehen etwa Artikel, die Fragen der Erziehung und Gesundheit („Muttermilch oder Flaschenmilch?“) oder des technischen Fortschritts betreffen („Düsenantrieb auf Schienen“) neben marktorientierten Ratgeberbeiträgen („So bringt man seine Ideen an den Mann“) sowie fiktionalen Texten.⁷⁸ Hinzu kommen feste Rubriken wie „Menschen wie du und ich“ oder in späteren Ausgaben „Erweitern Sie ihren Wortschatz“. Wie kritisch das absatzstarke US-amerikanische Projekt periodischer Wissenspopularisierung⁷⁹ auch über zehn Jahre nach seiner ersten Nummer in Europa aufgenommen wird, skizziert ein Reisebericht des schweizerischen Journalisten Lorenz Stucki. In „‚Reader’s Digest‘ und die Kultur“ (1961) berichtet

Riis,Wie gefährlich sind Zigaretten? Das neueste Tatsachen- und Zahlenmaterial aus USA für den Raucher. S. 8. Riis bezieht sich auf Salters einflussreiche und umstrittene Schrift über Reflextherapie, die die moderne Verhaltenstherapie mitbegründet hat. Vgl. Andrew Salter, Conditioned Reflex Therapy. The Direct Approach to the Reconstruction of Personality, New York, NY 1949.  Riis, Wie gefährlich sind Zigaretten? S. 1 und 6.  Vgl. Das Beste aus Reader’s Digest. Artikel und Buchauszüge von bleibendem Wert, 4, 1950.  Zum Konzept der Wissenspopularisierung vgl. instruktiv Carsten Kretschmann, Einleitung: Wissenspopularisierung – ein altes, neues Forschungsfeld. In: Wissenspopularisierung. Konzepte der Wissensverbreitung im Wandel, hg. von Carsten Kretschmann, Berlin 2003, (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel. Bd. 4) S. 7– 21.

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Stucki von einem Besuch der Zentrale der Zeitschrift im amerikanischen Pleasentville. Dabei reflektiert er die verschiedenen Bedingungen, auf die der Digest in den USA und in Europa stößt. Sein Text beginnt: Was dem oberen Bürgertum vor 2 oder 3 Jahrzehnten Karl Marx, das ist vielen Intellektuellen von heute der Reader’s Digest: Inbegriff der drohenden neuen Zeit des Niedergangs und des Herrschaftsanspruchs der Masse, die hemmungslos und gierig mit tausend schmutzigen Händen nach den wahren Werten der Menschheit greift, um sie zu entweihen. Der Reader’s Digest ist ihnen ein Symbol für die Vermassung der Kultur, für die Oberflächlichkeit der modernen Zeit, für die frevelhaft ehrfurchtslose Popularisierung, für das gräßliche Halbwissen, ein Symbol, kurz gesagt, für den Untergang der abendländischen Kultur im Amerikanismus.⁸⁰

Stuckis bildhafte Skizze bringt auf den Punkt, entlang welcher Opposition sich die Rezeption des Digest in Europa seit seinem Erscheinen bewegt. Die Gliederung der Gesellschaft in eine kulturferne ‚Masse‘ und eine kulturprägende ‚Elite‘ bestimmen den Diskurs. „Vermassung der Kultur“ ist das Schlagwort, mit dem eine popularisierende „Zeit des Niedergangs“ eingeläutet werde; die Grenzen zwischen den Bereichen U und E, so die Argumentation der Kulturpessimisten, drohen zu verwischen. Der journalistische Beitrag, das macht ihn so bemerkenswert, ist im Folgenden darum bemüht, eine differenziertere Einschätzung anzubieten. Er führt Unterschiede in der Sozialstruktur der USA und Europas auf, um darzulegen, warum das Projekt des Digest in Übersee auf weniger Kritik stößt. Stuckis Text, den man gemäßigt-progressiv nennen darf, schließt mit den optimistischen Gedanken: Man pflegt der hochentwickelten technischen Mittel wegen die amerikanische Kultur als Spätkultur, als Degeneration und Ende zu betrachten – vielleicht ist es in neuem Gewande eine Frühkultur, ein Anfang primitiv noch, naiv, unreif und ungegliedert, im Fluß und im Werden, aber voll von Entwicklungsmöglichkeiten? Es ist, von einem europäischen Intellektuellen geäußert, ein ketzerischer Gedanke… Sicher ist dies: in unserer Zeit kommen in Amerika ein ganz großes Volk, in Europa durch die großen sozialen Umschichtungen und den Einfluß ‚amerikanischer Ideen‘ (sie sind oft genug europäisch) über Popularisierung der Kultur ganze neue Schichten mit dem kulturellen Erbe der Menschheit in enge Auseinandersetzung. Und es wäre doch erstaunlich, wenn daraus nicht, nach der anfänglichen ‚Entweihung‘, etwas Neues entstünde. Es ist zunächst ein neuer ‚Kulturstil‘. Die Höhepunkte, das Gültige und Endgültige, pflegen später zu kommen. […]

 Lorenz Stucki, ‚Reader’s Digest‘ und die Kultur [1955]. In: Amerika erfahren – Europa entdecken. Zum Vergleich der Gesellschaften in europäischen Reiseberichten des 20. Jhd., hg. von Alexander Schmidt-Gernig, Berlin 1999, S. 167– 178, hier S. 167. Der Text wurde zuerst in Stuckis Reisebericht Im Greyhound durch Amerika (Bern 1955) veröffentlicht.

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Popularisierung der Kultur im 20. Jahrhundert ist ein Experiment. Es ist nicht bewiesen, daß es schlecht ausgehen muß. Und einen anderen Weg gibt es, im Zeitalter der Demokratie, nicht mehr.⁸¹

Benn in eine Linie mit dieser proamerikanischen, propopularisierenden Position zu stellen, würde bei aller Affinität für ‚harte Unterlagen‘ zu weit führen. Bemerkenswert ist die Aufhebung der strikten Trennung zwischen Hoch- und Massenkultur, die Aufhebung der diskursiv behaupteten und geforderten Undurchlässigkeit beider Bereiche, die aus völlig unterschiedlichen Beweggründen für den Digest und für Benns Texte konstitutiv ist. Wenngleich der in „Restaurant“ erwähnte Artikel über die Gefahren des Rauchens wohl keine Wiederveröffentlichung, sondern eine Vorveröffentlichung darstellt,⁸² überrascht es kaum, dass Benn, der sich poetologisch für eine Kunst der Montage und des Fragments stark macht, auf eine Zeitschrift rekurriert, die ihr Prinzip aus der komprimierenden Zweitverwertung bereits gedruckten Textmaterials ableitet.⁸³ Roger William Riis’ Artikel aus dem Digest, auf den sich Benn bezieht, fällt in eine Entwicklungsphase des medizinischen Präventionsdiskurses über das Rauchen in den USA. Die sogenannte Wynder and Graham Study, deren baldigen Abschluss Riis ankündigt, wird im selben Jahr veröffentlicht. Die Epidemiologen Ernest Wynder und Evarts Graham diskutieren darin die möglichen Zusammenhänge zwischen dem Nikotinkonsum und der Ausbildung von Lungenkarzinomen.⁸⁴ Riis, selbst Raucher, formuliert einen etwas unbedarft anmutenden

 Stucki, ‚Reader’s Digest‘ und die Kultur. S. 177 f.  Die Wiederveröffentlichungen sind in der Regel mit einer Notiz auf der ersten Seite des Artikels gekennzeichnet. Zur Vorveröffentlichung vgl. Riis, The Truth About Smoking.With a Special Section On How to Stop Smoking, New York, NY 1951.  „Restaurant“ als ein „Dokument des bildungsbürgerlichen Elitarismus“ zu bezeichnen, wie Christopher Ebener es tut, muss vor dem Hintergrund der Benn’schen Poetologie verwundern. Hinzu kommen die im Gedicht verwendeten Kolloquialismen und der formseitig fundierte Rekurs auf den Digest. Christopher Ebner, Das Ich und sein Ende – der totale Individualismus. Zu einem Gedicht Gottfried Benns. In: Informationen zur Deutschdidaktik. Zeitschrift für den Deutschunterricht in Wissenschaft und Schule 32, 2, 2008, S. 114– 118, hier S. 114.  Vgl. Evarts Graham / Ernest Wynder, Tobacco Smoking as a Possible Factor in Bronchiogenic Carcinoma. In: The Journal of the American Medical Association, 143, 1950, S. 329 – 336. Eine Perspektive auf die Presseerzeugnisse der deutschen Reformbewegung der 1950er Jahre liefert Florentine Fritzen, die Krebserkrankungen als „Dauerthema“ von Zeitschriften wie der ReformRundschau oder den Kneipp-Blättern bezeichnet. „Die Autoren der Reform-Zeitschriften sahen ihn [den Krebs, P.P.] als die Zivilisationskrankheit schlechthin an. Die meisten Artikel handelten von Krebsentstehung, Krebsverhütung und Krebsheilung, wobei sie allerdings mitunter recht vage blieben, vor allem, was die konkreten Methoden der Naturheiler angeht.“ Florentine Fritzen,

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Kompromissversuch. Nachdem er diverse Statistiken und Untersuchungen von Medizinern herangezogen hat,⁸⁵ führt er im Ratgebermodus aus: Ich persönlich sehe die Sache jetzt so: das Rauchen ist eine sehr angenehme, aber sehr unvernünftige Angewohnheit. […] Acht Zigaretten am Tag schaden, so scheint es, einem normalen Organismus nicht. […] Jeder sollte weniger rauchen, und sei es auch nur deshalb, weil er dann mehr davon hat.⁸⁶

Dieser Ratschlag zur Mäßigung, der Parallelen zum Duktus von Benns Gedicht aufweist (vgl. die Formulierungen „sehr angenehme“ und „das ist mir angenehm“),⁸⁷ ist die verbreitete Position des Digest. In Sachen Prävention und Aufklärung hält sich das Blatt vorsichtig an die uneinheitlich verfahrende, zum Teil mit den Tabakkonzernen zusammenarbeitende Medizin der Zeit. Auf diese Weise bildet der Digest beispielhaft den medizinisch-diskursiven Umgang mit Nikotin um 1950 ab. Ein Jahr nach Riis’ Artikel kann man im Digest-Beitrag „Wie alt können Sie werden?“ nachlesen, dass das „Rauchen auf die Langlebigkeit keinen Einfluß“ habe, wenn „nicht ungünstige Bedingungen wie Magengeschwüre oder Herzleiden vorliegen oder ein ausgesprochener Tabakmißbrauch zu Schädigungen führt“. Nach „Angabe der Zeitschrift der Amerikanischen Medizinischen Gesellschaft“, gemeint ist offenbar die Studie von Graham und Wynder, fehle „bis jetzt der eindeutige Beweis“.⁸⁸

Spinat-Milch, Krebsvorsorge, Lebensglück. Wissenspopularisierung in der Reformbewegung der 1950er Jahre. In: Wissenspopularisierung. Konzepte der Wissensverbreitung im Wandel, hg. von Carsten Kretschmann, Berlin 2003, (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel. Bd. 4) S. 361– 380, hier S. 369 f.  Riis’ Text ist nach Fragen gegliedert und arbeitet mit Anekdoten, Zahlenmaterial sowie Rekursen auf ärztliche Autoritäten, um die These, dass Zigaretten unter bestimmten Bedingungen schädlich für den Organismus sind, zu belegen. Statistiken werden dabei in Fließtexte übersetzt. Ein Beispiel für diese Ausrichtung des Textes liefert die Antwort auf die Frage „Schadet das Rauchen den Sportsleuten?“: „Wo es auf Ausdauer ankommt, leidet die sportliche Leistung darunter. Zu den Pflichtübungen der Heeresschule von Aldershot in England gehört auch ein Geländelauf von fünf Kilometern. Im Laufe von sieben Jahren hat man dort die Leistungen von nahezu zweitausend Mann ausgewertet, und zwar getrennt nach starken Rauchern, mäßigen Rauchern und Nichtrauchern. Auf die starken Raucher (8 Prozent) entfielen nur 5 Prozent der ersten zehn Plätze. Die mäßigen Raucher (74 Prozent) erzielten 63 Prozent der ersten zehn und 84 Prozent der letzten zehn Plätze“ usw. Riis, Wie gefährlich sind Zigaretten? S. 4 f.  Riis, Wie gefährlich sind Zigaretten? S. 10.  Benn, Restaurant. S. 245.  Amram Scheinfeld,Wie alt können Sie werden? Ein paar Anhaltspunkte zu einer Frage, die für Sie eine Lebensfrage ist. Aus dem Buch ‚The New Heredity‘. In: Das Beste aus Reader’s Digest.

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Im Bereich des Prä-Faktualen bewegt sich auch die lyrische Instanz in Benns „Restaurant“, wenn sie den im Digest aufgeführten Zahlen ungläubig begegnet („das glaube ich nicht“, Str. 1, V. 7). Der krittelnde Subtext dieser Verse („amerikanisch[e] Zeitschrift“ = potentiell unglaubhaft) resultiert weniger aus einer amerikakritischen als aus einer genussbasierten, den Lebensstil der lyrischen Instanz betreffenden Motivation. Im Folgenden beginnt der Text aus der Einzelbeobachtung, dem Konkreten, etwas Allgemeineres abzuleiten. Konsumgewohnheiten und Sterblichkeit, so die Überlegung, die den eigenen Lebensstil verteidigen soll, stehen in keinem kausalen Zusammenhang. Ein „normales Leben“, ein Leben des Verzichts und der Mäßigung, „das ist auch nichts. / Auch ein normales Leben führt zu einem kranken Tod“ (Str. 1, V. 9 – 11). Allein mit den medizinischen Begriffen „Gesundheit“ und „Krankheit“ lasse sich der „Tod“ nicht einfassen (V. 11– 12). Das Gedicht macht ihn hingegen zu einem unberechenbaren, sinisteren Aktanten („er bedient sich ihrer zu seinem Zwecke“, V. 13). Da gibt es noch etwas abseits der wissenschaftlichen Rationalisierung des Todes, lautet die implizierte Kritik am medizinischen Erklärungsmodell („also liegt hier noch etwas anderes vor“, Str. 2, V. 3).⁸⁹ Hans-Martin Gauger hat Benns „Restaurant“ angesichts der argumentierenden Vorgehensweise sowie der Nachfrage zu Beginn der zweiten Strophe als ein „Thesen-Gedicht“ bezeichnet: „Der Tod – dies ist die These – […] sei etwas Hinzukommendes. Er folge eigenen, nicht durchschaubaren Regeln“.⁹⁰ Gaugers Beitrag zu Benn basiert auf einer Tagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung zum Thema ‚Hoher Stil in der Literatur‘. Das kolloquiale „Restaurant“ ist für ihn zunächst ein Gegenbeispiel ‚hohen Stils‘, wandele sich aber „am Ende, wo der Ton das Alltägliche deutlich verläßt“.⁹¹ Bevor ich mich diesen Stilaspekten zuwende, gilt es zu klären, welchen Status die Frage zu Beginn der zweiten Strophe besitzt. Fragen durchziehen Benns späte Lyrik, vor allem als offene Enden der Gedichte, als Ungewissheitsmarkierungen. Häufig sind es Interpellationen eines lyrischen Du, das sich im Selbstgespräch

Artikel und Buchauszüge von bleibendem Wert, 7, 1951, S. 1– 3, hier S. 3. Eindeutiger warnt ein Digest-Artikel aus dem Jahr 1952, der sich ebenfalls auf Wynder und Graham bezieht, vor den Gefahren des Nikotinkonsums. Dieser Text ist nicht in den deutschen Ausgaben vertreten.Vgl. Roy Norr, Cancer by the Carton. Recent medical researches on the relationship of smoking and lung cancer. Condensed from Christian Herald. In: The Reader’s Digest, 12, 1952, o.S.  Benn, Restaurant. S. 245.  Hans-Martin Gauger, Hoher Stil als eskalierende Schriftlichkeit. Gottfried Benn: ‚Restaurant‘ und ‚Nur zwei Dinge‘. In: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Jahrbuch 1996, Göttingen 1997, S. 120 – 126, hier S. 121.  Gauger, Hoher Stil als eskalierende Schriftlichkeit. S. 121.

3.1.2 Parlando zwischen Popularisierung und Überhöhung: „Restaurant“

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suggestiv anredet, im Sinne von: „Ebereschen – dies Jahr und Jahre immerzu / in fahlen Tönen erst und dann in roten / gefärbt, gefüllt, gereift, zu Gott geboten – / wo aber fülltest, färbtest, reiftest du –?“⁹² In „Restaurant“ funktioniert das anders. Der Effekt ist aber ähnlich gelagert, auch hier provoziert die Frage Unsicherheiten in der Lektüre. Der Beginn der zweiten Strophe nimmt die Form einer Nachfrage an, sie ist die Aufforderung zur Explikation des Ausgeführten („Wie meinen Sie das“, Str. 2, V. 1). Der Bitte um Erläuterung, so scheint es, will die lyrische Instanz nachkommen („Ich meine das so“, V. 2).⁹³ Im Laufe der Strophe wechselt sie dann ins Ungefähre, MetaphorischAnnäherungshafte. Dabei hat man es nicht mit einem Dialog innerhalb des Lokals zu tun, sondern mit einer konstruierten Frage, einer „fingierte[n] Frage des Lesers an den im Gedicht Redenden“.⁹⁴ „Restaurant“ bildet eine alltagssprachliche Kommunikation nach, wie sie in einem Lokal stattfinden könnte, doch es gibt keinen Gesprächspartner, zumindest keinen, der in einem Lokal sitzen würde. Das Gedicht hebt die Kommunikation aus dem Alltagszusammenhang. Die fehlenden Anführungszeichen und die Tatsache, dass der Text in den Versen zuvor keine Hinweise auf eine Dialogstruktur gibt, unterstützen dies. So lässt sich der Strophenbeginn als spielerisches Selbstgespräch einer lyrischen Instanz lesen, die sich im Zuge der Nachbildung eines Restaurantdialogs den Auftrag zur Explikation ihrer Ausführungen erteilt, also gleichzeitig Adressierender und Adressat darstellt. Ebenso kann man die Frage als fingierte Frage eines impliziten Lesers an einen impliziten Autor verstehen. Nur benötigt man dafür den „‚Dichter‘“,⁹⁵ den empirischen Autor, wie Gauger ihn verwendet, nicht unbedingt als Kategorie der Analyse. Den ‚hohen Stil‘ bestimmt Gauger in Rückgriff auf die genera dicendi der klassischen Rhetorik als genus grande. Die normative Komponente, die dem Konzept der antiken ‚Gattungen des Redens‘ zugrunde liegt, ist problematisch und gerade mit modernen, literarischen Texten schwer kompatibel; aber man kann sich für diesen Fall einmal darauf einlassen. Der rhetorischen Bestimmung gemäß, operiert „Restaurant“ großenteils im genus humile, dem ‚niedrigen‘ oder ‚schlichten‘ Stil, der durch alltagssprachliche, orale Aspekte gekennzeichnet ist, etwa den parataktischen Satzbau und die kolloquialen Wendungen. Doch am „Ende hebt das Gedicht ab. […] Sprachlich abhebend ist vor allem das schöne,  Gottfried Benn, Ebereschen [1955]. In: Benn, Sämtliche Werke. Hg. von Gerhard Schuster, Bd. 1, Stuttgart 1986, S. 304.  Benn, Restaurant. S. 245.  Gauger, Hoher Stil als eskalierende Schriftlichkeit. S. 121.  Gauger, Hoher Stil als eskalierende Schriftlichkeit. S. 121.

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aber nicht leicht auflösbare ‚Fragwürdigkeitsfragment‘, […] ein schönes schwebendes Wort, das heiter ausbricht an dieser Stelle in den hohen Stil“.⁹⁶ Vor dem Hintergrund dieser rhetorischen Prämissen lässt sich die Überhöhung in Benns Gedichten als Wechsel des mündlich-alltagssprachlichen in das schriftsprachlich-literarische Register verstehen. In vergleichender Lektüre von „Restaurant“ und des ikonischen Gedichts „Nur zwei Dinge“ (1953), das dem genus grande nähersteht, konkludiert Gauger die Interdependenz von Oralität und Skripturalität in der Stillehre: „Der hohe Ton ist somit gesteigerte Schriftlichkeit, gesteigerte Distanz zur Mündlichkeit. Diese Distanz aber ist nie bloße Distanz, sie bleibt immer eine Spannung, sie ist eine Spannung zum Mündlichen“.⁹⁷ Daher rührt die Begeisterung für das (‚heiter ausbrechende‘?) neologistische Kompositum „Fragwürdigkeitsfragment“ (Str. 2, V. 4), das ambig angelegt ist und keine konventionalisierte Semantik in der Alltagskommunikation besitzt. Wie lässt sich das „Fragwürdigkeitsfragment“ reflektieren? Die lyrische Instanz verwendet das Wort, nachdem sie erwähnt, dass „hier noch etwas anderes“ vorliegen muss, da „viele erkranken, ohne zu sterben“, der Tod also „mit Krankheit nichts zu tun“ hat (Str. 2, V. 2– 3). Man könnte das „Fragwürdigkeitsfragment“ als etwas lesen, das zu Bedenken Anlass gibt, das im Zuge der Krankheit auf den Tod referiert, aber nicht notwendig zum Tod führen muss. So wäre auch die technisch anmutende Erläuterung des „Fragwürdigkeitsfragments“ als „Unsicherheitsfaktor“ (Str. 2, V. 5), als Gefahrenquelle motiviert, die an den medizinischen Terminus ‚Risikofaktor‘ erinnert. Mit den beiden aufeinander be Gauger, Hoher Stil als eskalierende Schriftlichkeit. S. 122.  Gauger, Hoher Stil als eskalierende Schriftlichkeit. S. 126. Die Verwendung der genera dicendi geht bei Gauger mit Graduationen einher, die eine begrenzt produktive Fragerichtung einschlagen: „Der Stil wird höher, aber es ist noch kaum ‚hoher Stil‘. […] Die Frage ist natürlich: wie hoch ist dieser höhere Ton des zweiten Gedichts? Ist er eigentlich hoch? Höher als der des ersten ist er auf jeden Fall“. Gauger, Hoher Stil als eskalierende Schriftlichkeit. S. 122 und 125. Zur Relation von Skripturalität und Oralität in Benns späten Texten vgl. auch Wegmann, Text-Akustik: Rundfunk und skripturale Oralität im Spätwerk Gottfried Benns, S. 65 – 76. Wegmann weist auf eine „propragiert[e] Literalität“ in der Poetologie und eine „praktiziert[e] Oralität“ in der Lyrik hin. Trotz Benns Bemerkung in Marburg, dass sich moderne Lyrik nicht für die Deklamation eigne, zeichnen sich zahlreiche seiner späten Gedichte gerade durch ihre Sprechbarkeit aus. „Benns Radioarbeiten wie seine Mündlichkeit suggerierenden Parlandogedichte sind eingebettet in ein Medienensemble, bei dem sich Oralität und Literalität scheinbar durchkreuzen, in Wahrheit aber wechselseitig ermöglichen und einander bedingen.“ Wegmann, Text-Akustik. Rundfunk und skripturale Oralität im Spätwerk Gottfried Benns, S. 75. Ein Beispiel für die Sprechbarkeit von Benns Lyrik sind etwa die Jazzvertonungen (mit Musik von Jay Jay Johnson, Kai Winding und Dave Brubeck). Vgl. Gert Westphal, Gottfried Benn. Lyrik und Jazz, Universal Music 2009 (Erstveröffentlichung als: Gert Westphal, Lyrik und Jazz – Gedichte von Gottfried Benn, Philips 1960).

3.1.2 Parlando zwischen Popularisierung und Überhöhung: „Restaurant“

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zogenen, im Abstrakten verbleibenden Kategorien changiert der Text zwischen Alltags- und Kunstsprachlichkeit. Weitere Lektüreschwierigkeiten gehen mit dem zweiten Teil des Kompositums einher. Das Fragment verweist auf etwas Unvollendetes. Ist das im Sinne des unternommenen Lektüreversuchs eine Krankheit, die nicht im Tod endet? Doch fragwürdig ist ja das Fragment selbst. Oder hat man es mit fragmentierter Fragwürdigkeit zu tun? Adäquater scheint es, die kaum luziden Verse nicht allein auf ihre logische Schlüssigkeit hin zu lesen. Die beiden Begriffe verweisen autoreferentiell auf den unsicheren Status, die Unklarheit der Erläuterung der lyrischen Instanz. Das Fragment ist zudem ein Rekurs auf den Titel des Gedichtbands, Fragmente, der mit der Unabgeschlossenheit, dem bruchstückhaften Charakter der versammelten Texte kokettiert. Ferner wartet das opake „Fragwürdigkeitsfragment“ mit klanglicher Äquivalenz auf und lässt sich mit der gestellten Frage nach dem verneinten Zusammenhang von Tod und Krankheit verbinden, der einer Nachfrage würdig ist. Interessant sind auch die etymologischen Umstände, unter denen das Wort ‚fragwürdig‘ in das deutsche Vokabular übernommen wurde. August Wilhelm Schlegel hat es in seiner Übersetzung des Hamlet vom englischen questionable abgeleitet. In der vierten Szene des ersten Aufzugs spricht Prinz Hamlet den Geist folgendermaßen an: „Du kommst in so fragwürdiger Gestalt, / Ich rede doch mit dir […] / Nein, sag: Warum dein fromm Gebein im Tode die Leinen hat gesprengt?“⁹⁸ Im literarischen Kontext der Übersetzung ist das Wort ‚fragwürdig‘ somit von Beginn an in ein Paradigma des Todes und Wiedergängertums eingefasst.⁹⁹ Das, was sich in den Schlussversen von Benns Gedicht in hypostasierter Form zeigt, ist schemenhaft, „nicht so klar umrissen“ (geisterhaft?). Dem Personalpronomen „er“ zufolge müsste es sich um den „Tod“ oder den „Unsicherheitsfaktor“ handeln (Str. 2, V. 1, 5 – 6). Die sich während der Lektüre ergebende Frage, ‚nicht so klar umrissen im Vergleich zu was?‘, und die Betonung, dass ‚er‘ „auch keine Hippe“ hat, also die Sense als Insignie des personalisierten Todes vermis-

 Hamlet spricht weiter: „Warum die Gruft, / Worin wir ruhig eingeurnt dich sahn, / Geöffnet ihre schweren Marmorkiefern, / Dich hinauszuwerfen?“ William Shakespeare, Hamlet, Prinz von Dänemark [1609]. In: Shakespeare, Sämtliche Werke. Bd. 3, übersetzt von August Wilhelm Schlegel und Ludwig Tieck, Heidelberg 1975, S. 475 – 583, hier S. 493 f.  Geistererscheinungen und das Wort ‚fragwürdig‘ werden auch im Okkultismuskapitel in Thomas Manns Zauberberg (1924) enggeführt. Es heißt: „Fragwürdigstes“.

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sen lässt, deuten auf die letzte Möglichkeit, den „Unsicherheitsfaktor“ hin.¹⁰⁰ Unklar bleibt aber auch dies. Wichtig ist dabei erneut der Reader’s Digest. Die zweite Strophe des Gedichts ist ebenfalls durch die Lektüre der Zeitschrift geprägt. In der Aprilausgabe, in der Riis’ Beitrag über das Rauchen abgedruckt ist, finden sich weitere Artikel zum Thema ‚Sterblichkeit‘. Vor allem der Text „Tod ist Frieden“ kann als Quelle für die im Gedicht getroffene Trennung von Krankheiten und Sterben gelesen werden. Der Artikel stammt von J. D. Ratcliff und wurde zuerst im US-Magazin Liberty veröffentlicht. Ratcliff,Verfasser der Digest-Rubrik „Your Body and How it Works“, zitiert in seinem Beitrag verschiedene Ärzte, die versichern, dass der Akt des Sterbens schmerzlos sei und daher von Krankheitserscheinungen unterschieden werden müsse. „‚Der Vorgang des Sterbens wird verwechselt mit den Symptomen der Krankheit, die vorausging‘“.¹⁰¹ Aufgrund dieses Missverständnisses brächten Namen und Formen, die zur Beschreibung des Todes kursieren, meist „grenzenlose Furcht zum Ausdruck: grimmiger Schnitter, dunkler Engel“.¹⁰² Doch der Moment des Todes sei ein Moment des Friedens, eine Erlösung. Von den volkstümlich-tradierten Vorstellungen vom Tod (‚Schnitter‘ etc.) distanziert sich Restaurant mit dem Hinweis auf die fehlende „Hippe“. Die christlich grundierte Erlösungsargumentation Ratcliffs¹⁰³ zieht das Gedicht ebenso in Zweifel, wenn es lakonisch heißt, dass „viele erkranken ohne zu sterben“ (Str. 2, V. 2). Auch wollen die Begriffe „Fragwürdigkeitsfragment“ und „Unsicherheitsfaktor“ nicht zu dem im Digest implizierten Heilsversprechen passen. Bis zuletzt mischen sich Kolloquialismen in die zweite Strophe, in der „beobachtet“ und „um die Ecke“ geschaut wird, ohne dass der Hypostasierte dabei aufdringlich oder erkennbar würde, er „hält sich sogar zurück“ (vgl. die Wiederholung des Adverbs „sogar“ aus der ersten Strophe, V. 5). Der, der an der Ecke steht, das, was hypostasiert wird, „ist musikalisch in einer anderen Melodie“, so die abschließende Metapher, die an bildliche Darstellungen des musizierenden

 Gauger folgt der anderen Lesart: „Abhebend ist hier aber vor allem das allgemein Formale, das darin liegt, daß der Tod, den der hier Redende eigentümlich personalisiert (‚hat auch keine Hippe‘), musikalisch gefaßt wird“. Gauger, Hoher Stil als eskalierende Schriftlichkeit. S. 122.  J. D. Ratcliff, Tod ist Frieden. In: Das Beste aus Reader’s Digest. Artikel und Buchauszüge von bleibendem Wert, 4, 1950, S. 49 – 51, hier S. 49.  Ratcliff, Tod ist Frieden. S. 49.  „Barmherzige Erlösung selbst von so grauenvoll schmerzhaften Krankheiten wie Hirnhautentzündung und Tetanus tritt ein. […] Schaue dem Tod ins Antlitz. Er ist nicht so erschreckend, wie man uns glauben gemacht hat. Gleichwie der Schlaf eine Erholung von der Mühsal des Tages ist, so ist auch der Tod eine Entspannung nach dem Drang des Lebens. Er ist zumeist freundlich und willkommen.“ Ratcliff, Tod ist Frieden. S. 51.

3.2 Artistik auf dem „Olymp des Scheins“: Über Benns Poetologie II

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Todes denken lässt.¹⁰⁴ Die „Melodie“ fungiert, wie auch die Begriffe „Unsicherheitsfaktor“ und „Fragwürdigkeitsfragment“, als ein autoreferentielles Zeichen. In einer „anderen Melodie“, einem außeralltäglichen-überhöhenden Modus, verfährt schließlich das Gedicht selbst. So bringt das Textende literarische Unklarheiten gegen den auf Exaktheit, auf Zahlen und Werten beruhenden, medizinisch-epidemiologischen Diskurs sowie den auf Erlösung zielenden christlichen Diskurs in Position. Mit dem rhetorisch-stilistischen Registerwechsel und der (selbstreferentiellen) Verunklarung von Sachverhalten im lyrischen Text sind zwei Verfahren skizziert, die überhöhende Effekte hervorbringen können. Auf welchen poetologischen Prämissen diese und andere Verfahren basieren, wird das nächste Kapitel diskutieren.

3.2 Artistik auf dem „Olymp des Scheins“: Über Benns Poetologie II Um den überhöhenden Aspekt in Benns Gedichten poetologisch zu reflektieren, liegt ein weiterer Blick in „Probleme der Lyrik“ nahe. Alltags- und populärkulturelle Sprache, auf die sich Benn in Marburg emphatisch bezieht, sind hier in die Kategorien Artistik, Form und das absolute Gedicht eingebettet. Diese Kategorien bilden den Nexus des Vortrags. Sie haben an einer Sekundarisierung inhaltlicher Aspekte der Lyrik teil und ziehen eine Verbindungslinie zur ästhetizistischen Tradition, insbesondere anglophoner und frankophoner Prägung.¹⁰⁵ Es geht im Folgenden nicht darum, Benns Gedichte mit der in Marburg formulierten Poetologie auf lückenlose Stringenz abzugleichen. Die Erkenntnisse einer solchen Lektüre würden wenig überraschend aufzeigen, dass keine konsequente Deckungsgleichheit auszumachen ist, dass zahlreiche Gedichte vorliegen, die sich nur schwer mit der Poetologie vereinbaren lassen. Eine Lektüre, die die widerspruchslose Stimmigkeit der poetologischen Argumentation einfordert,

 Vgl. etwa Arnold Böcklins Selbstbildnis mit fiedelndem Tod (1872).  Benn, Probleme der Lyrik. S. 14 f., 21 und 36. Benn kommt innerhalb des literarischen Feldes der Nachkriegszeit eine diskursive Stellvertreterfunktion zu. Er steht, nicht zuletzt durch seine allenfalls durch rudimentäre Lektüren abgesicherten Rekurse auf Autoren wie T. S. Eliot oder Ezra Pound, für die deutsche Ausprägung des lyrischen Ästhetizismus und wird so zum Referenzpunkt für jüngere Lyrikerinnen und Lyriker. Zu dieser Funktion und Benn als Figur, die Modernitätsdiskurse verhandelt und über die Modernitätsdiskurse ausgehandelt werden vgl. Lampart, Nachkriegsmoderne. S. 6 sowie 106 – 118.

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würde an der Verfasstheit von Benns Poetologie, an ihrem Status als inkongruentes, aber reichhaltiges Ideenreservoir vorbeizielen. Eine der Anekdoten, die Benn in den Marburger Vortrag einbaut, betrifft den Unterschied zwischen Gedichten und Lyrik, der auch dem Symptomkatalog nichtmoderner Gedichte zugrunde liegt. Eine „befreundete Dame, eine sehr bekannte politische Journalistin“, habe ihm geschrieben, sie „‚mache‘“ sich „‚nichts aus Gedichten, aber schon gar nichts aus Lyrik‘“.¹⁰⁶ Benn reagiert darauf mit einer Spitze: Diese Dame war, wie ich wußte, eine große Musikerin, sie spielt vor allem klassische Musik. Ich antwortete ihr, „ich verstehe sie durchaus, mir zum Beispiel sagt Tosca mehr als die Kunst der Fuge“. Das soll heißen, auf der einen Seite steht das Emotionelle, das Stimmungsmäßige, das Thematisch-Melodiöse, und auf der anderen Seite steht das Kunstprodukt. Das neue Gedicht, die Lyrik, ist ein Kunstprodukt. Damit verbindet sich die Vorstellung von Bewußtheit, kritischer Kontrolle, und, um gleich einen gefährlichen Ausdruck zu gebrauchen, auf den ich noch zurückkomme, die Vorstellung von „Artistik“.¹⁰⁷

Der Passus skizziert den Unterschied zwischen Lyrik und Gedichten anhand der Dichotomie von Kunst und Unterhaltung. Auffällig ist die persönliche Präferenz für das Unterhaltende im musikalischen Bereich, auf die Benn auch an anderen Stellen hinweist und die sich wiederholt in der späten Lyrik manifestiert. Der musikalische Pomp Giacomo Puccinis entspricht den Vorlieben eher als Bachs Fuge. Doch das sind Geschmacksfragen, die außerhalb des konsolidierten Unterschieds zwischen Kunst und Unterhaltung operieren. Der Subtext der Antwort an die „bekannte politische Journalistin“ lautet: Sie verstehen nichts von Gedichten und noch weniger von Lyrik. Zur Unterscheidung von E- und U-Erzeugnissen greift Benn auf diskursiv etablierte Aspekte zurück. Das Unterhaltende hat seinen Schwerpunkt im Stimmungsmäßigen und der emotiven Dimension – man denke an Holgards „Sylter Herbst“ –, es setzt (zumindest im musikalischen Bereich) auf die Wiederholung des melodischen Themas. Kunst zeichnet sich durch den kontrollierten Gebrauch der ästhetischen Form, durch formale Virtuosität und Komplexität aus. Der Vortrag betont diesen Punkt mehrfach, indem er auf die Gemachtheit der „neuen Gedichte“ eingeht, die ein „Kunstprodukt“ darstellen. Damit wird die popularisierte Vorstellung verab Benn, Probleme der Lyrik. S. 10. Bei der „befreundete[n] Dame“ handelt es sich um die konservative Journalistin Margret Boveri (1900 – 1975), die für das Berliner Tageblatt, die Frankfurter Zeitung und im Nationalsozialismus für Das Reich schrieb. Vgl. Benn, Probleme der Lyrik [Kommentar]. S. 363.  Benn, Probleme der Lyrik. S. 10.

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schiedet, dass Gedichte aus dem Gefühl eines Schöpfersubjekts heraus entstehen, wie das etwa, so Benn, Leserinnen und Leser der Poesierubrik in Wochenzeitungen annehmen. Beziehungsweise suggerieren zahlreiche Zeitungsgedichte, dass genau dieses stimmungsmäßige Erschaffen eines Textes der Fall war.¹⁰⁸ Der Fokus liegt dagegen – ein erfreulicher Umstand für formalistisch-strukturalistisch geschulte Analystinnen und Analysten – auf der artistischen Form, auf dem sprachlichen Material des lyrischen Textes. ‚Gefährlich‘ ist der Begriff ‚Artistik‘, den Benn von seinem intellektuellen Fixpunkt Nietzsche übernimmt, da er ein Missverständnis provoziert. Man verbinde mit ihm „die Vorstellung von Oberflächlichkeit, Gaudium, leichter Muse, auch von Spielerei und Fehlen jeder Transzendenz“.¹⁰⁹ Der „durchschnittliche Ästhet“, so kann man folgern, verknüpfe mit dem Begriff ein unterhaltendes Spiel, womöglich nur das Varietéhafte und Zirzensische, während der Begriff aber das Transzendente ausdrücklich impliziere.¹¹⁰ In Benns poetologischen Überlegungen sekundarisiert die Form den Inhalt und wird, so kann man präzisieren, zur Trägerin des Transzendenten, zur conditio sine qua non von Kunst überhaupt.¹¹¹ Durch den Verschleiß sinnspendender Metacodes im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert ist die Kunst als Artistik der letzte Ort des Metaphysischen. Der Zielhafen der artistischen Konzeption ist die Absolutheit – die absolute Prosa oder das absolute Gedicht, die losgelöst vom Weltlichen operieren. Das sind keine neuen, aber gewiss hohe Ansprüche an die Kunst.¹¹²

 Vgl. Benn, Probleme der Lyrik. S. 9 f.  Benn, Probleme der Lyrik. S. 14.  Vgl. Benn, Probleme der Lyrik. S. 14.  Der Formbegriff ist widerständig, auch weil sich Benn in „Probleme der Lyrik“ gegen seine Erörterung ausspricht. „Ich verspreche mir nichts davon, tiefsinnig und langwierig über die Form zu sprechen. Form, isoliert, ist ein schwieriger Begriff. Aber die Form ist ja das Gedicht. […] Eine isolierte Form, eine Form an sich, gibt es ja gar nicht. Sie ist das Sein, der existentielle Auftrag des Künstlers, sein Ziel. In diesem Sinne ist wohl auch der Satz Staigers aufzufassen: Form ist der höchste Inhalt“. Benn, Probleme der Lyrik. S. 21. Geulen hat gezeigt, dass Benn die Auflösung der Unterscheidung von Form (morphé) und Inhalt beziehungsweise Substanz (hylé) unter Rückgriff auf Goethes Morphologie nachvollzieht (im Essay „Goethe und die Naturwissenschaften“ von 1932). An die Stelle der Substanz tritt, so Geulen, die „Funktion“ der Form. Diese Funktion bedeutet „[s]ondern und umbilden, unterscheiden, ausscheiden, steigern, das sind die Modalitäten des Formtriebs“. Geulens Darlegung der „politischen Verstrickungen des Ästhetizismus unter der Herrschaft eines verabsolutierten Formbegriffs“ ist bestechend. Die artistischen Aspekte der „Probleme der Lyrik“ gehen dabei jedoch, wie mir scheint, nicht ganz in der Bestimmung der Form auf. Geulen, Gesetze der Form: Benn 1933. S. 21, 24, 29 f.  Bruno Hillebrand hat die Berührungspunkte zwischen Benns Poetologie und Nietzsches kunstmetaphysischen Überlegungen folgendermaßen skizziert: „Benn wie Nietzsche vertreten mit gleicher Ausschließlichkeit eine Produktionsästhetik von höchstem Rang. Darum die ständig

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Diese Eckpunkte der Poetologie bringen Schwierigkeiten hervor. Welchen Status, welche Funktion haben die routinemäßigen Rekurse auf Alltags- und Populärkulturelles in Gedichten, die durch die Losgelöstheit von weltlichen Sachverhalten gekennzeichnet sein sollen? Erwartet man nicht andere Literatur, zum Beispiel vergleichsweise referenzarme, formstrenge Lyrik wie die Statischen Gedichte (1948)?¹¹³ Auch Friedrich Kittler bereitet Benns Insistieren auf dem absoluten Gedicht Probleme: Wenn aber Zeitung und Schlager, laut Benn noch ergänzt um Fremdwörter und ‚SlangAusdrücke‘, die ‚zwei Weltkriege in das Sprachbewußtsein hineinhämmerten‘, den Vorrat an Strophen oder Daten abgeben, den die ‚schöpferische Transformation‘ namens Lyrik dann verarbeitet, sind Gedichte […] dem Absoluten denkbar fern.¹¹⁴

Kittler stößt sich am Absolutheitsanspruch in Benns Poetologie. Sein Hinweis auf die Divergenz von Lyrik und Poetologie geschieht allerdings allzu rasch. Die Äußerungen zum Komplex ‚Artistik und Absolutheit‘ werden von Benn mit einem weiteren, intrikaten Nietzsche-Rekurs versehen, den Kittler unberücksichtigt lässt. Der Rekurs ist darum bemüht, das Verhältnis von Oberfläche und Tiefe zu eruieren. Für Benn „schweben“ drei „rätselhaft[e] Worte“ über Nietzsches Oeuvre: „Olymp des Scheins“, Olymp, wo die großen Götter gewohnt hatten, Zeus zweitausend Jahre geherrscht hatte, die Moiren das Steuer der Notwendigkeit geführt und nun – des Scheins! Das ist eine Wendung. Das ist kein Ästhetizismus, wie er das neunzehnte Jahrhundert

wiederkehrende Einforderung des Metaphysischen. Der Künstler sprengt mit seinem Tun die Grenzen immanenter Erfahrung, seine Dynamik ist gekennzeichnet von Schubkräften, die Benn als transzendent apostrophiert. […] Von der Dimension her gehört solches Denken zum großen Abgesang abendländischen Weltverstehens am Ende der Moderne. Ob in der Philosophie mit Heidegger oder mit Benn in der Poesie, kulturhistorisch endete hier das Zeitalter der großen Idealismen ontologischer Herkunft mit einer Ursehnsucht nach einer einheitsstiftenden Instanz, sei es Gott oder die Natur oder der Geist.“ Bruno Hillebrand, Apotheose der Kunst. Gottfried Benn und Friedrich Nietzsche. In: Hillebrand, Was denn ist Kunst? Essays zur Dichtung im Zeitalter des Individualismus, Göttingen 2001, S. 210 – 229, hier S. 212 und 229.  Es sind diese Gedichte, verfasst zwischen 1937 und 1947 während der Publikationsverbote der Nationalsozialisten und der Alliierten, belegt mit dem problematischen Signum der ‚Inneren Emigration‘, die Benn einen Platz im literarischen Betrieb sichern. Den von ihm selbst als ‚Comeback‘ bezeichneten Wiedereinstieg in den Literaturbetrieb und seinen Aufstieg zur Gallionsfigur der Nachkriegslyrik zeichnet Lethen in der Untersuchung des Verhältnisses zwischen Benn, Ernst Jünger und Carl Schmitt nach. Lethen arbeitet heraus, dass das Verhalten zur Schuldfrage seitens der drei konservativen Autoren von Werten der wilhelminischen Satisfaktionsgesellschaft geprägt ist. Vgl. Lethen, Der Sound der Väter. S. 237– 263.  Kittler, Benns Gedichte – ‚Schlager von Klasse‘. S. 106.

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durchzuckte in Pater, Ruskin, genialer in Wilde – das war etwas anderes, dafür gibt es nur ein Wort von antikem Klang: Verhängnis. Sein inneres Wesen mit Worten zu zerreißen, der Drang sich auszudrücken, zu formulieren, zu blenden, zu funkeln auf jede Gefahr und ohne Rücksicht auf die Ergebnisse – das war eine neue Existenz.¹¹⁵

Im „Olymp des Scheins“ liegen erkenntnistheoretische Voraussetzungen für die Aufwertung der Oberfläche, der Materialseite des Textes begründet. Entscheidend daran ist, auf welche Weise die komplementäre Tiefe in das Konzept integriert wird. Im Blockzitat deutet sich das mit dem Hinweis auf die „neue Existenz“ an. „Diese Griechen waren oberflächlich – aus Tiefe …“, heißt es in Nietzsche contra Wagner (1889), dem Text, aus dem Benn die Formulierung vom Olymp entlehnt hat.¹¹⁶ Enthusiasmiert argumentiert Bruno Hillebrand: Immer ist es der Augenblick, der beschworen wird, er ist das Zentrum dieser artistischen Metaphysik, die von Nietzsche über Mallarmés poésie pure bis in die Mitte unseres Jahrhunderts reicht. Bis zum Schluß umgibt ihn die Aura des Transzendenten, jene leere Transzendenz, die Benn in die Formel faßte: „Nihilismus ist ein Glücksgefühl.“ Das Glück entspringt der Forderung des konstitutiven Nihilismus, die innere Leere zu füllen. Mit allen

 Benn, Probleme der Lyrik. S. 15.  Die Formulierung „Olymp des Scheins“ taucht zuerst in der Vorrede zur zweiten Ausgabe von Fröhliche Wissenschaft (1882) und dann im Nachlasstext Nietzsche contra Wagner. Aktenstücke eines Psychologen auf, einer Textsammlung, die Nietzsche als Replik auf die Anfeindungen nach der Veröffentlichung von Der Fall Wagner (1888) zusammengestellt hat. Darin ist die Formulierung in bekannte Konzepte eingefasst: Artistenmetaphysik, die Abkehr von konventionellen Wahrheitsbegriffen sowie die Aufhebung des Gegensatzes zwischen Wesen und Schein. Im „Epilog“ von Nietzsche contra Wagner heißt es: „Nein, wenn wir Genesenden eine Kunst noch brauchen, so ist es eine andere Kunst – eine spöttische, leichte, flüchtige, göttlich unbehelligte, göttlich künstliche Kunst […]! Vor allem: eine Kunst für Künstler, nur für Künstler! […] Nein, dieser schlechte Geschmack, dieser Wille zur Wahrheit, zur ‚Wahrheit um jeden Preis‘, dieser Jünglingswahnsinn in der Liebe zur Wahrheit – ist uns verleidet: dazu sind wir zu erfahren, zu ernst, zu lustig, zu gebrannt, zu tief… […] Man sollte die Scham besser in Ehren halten, mit der sich die Natur hinter Räthsel und bunte Ungewissheiten versteckt hat.Vielleicht ist die Wahrheit ein Weib, das Gründe hat, ihre Gründe nicht sehen zu lassen? … Vielleicht ist ihr Name, griechisch zu reden, Baubo? … Oh diese Griechen! sie verstanden sich darauf, zu leben! Dazu thut noth, tapfer bei der Oberfläche, der Falte, der Haut stehn zu bleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben! Diese Griechen waren oberflächlich – aus Tiefe… Und kommen wir nicht eben darauf zurück, wir Waghalse des Geistes, die wir die höchste und gefährlichste Spitze des gegenwärtigen Gedankens erklettert und von da aus uns umgesehen haben, die wir von da aus hinabgesehen haben? Sind wir nicht eben darin – Griechen? Anbeter der Formen, der Töne, der Worte? Eben darum – Künstler?…“ Friedrich Nietzsche, Nietzsche contra Wagner. Aktenstücke eines Psychologen [1889]. In: Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Abt. 6, Bd. 3, Berlin 1969, S. 411– 445, hier S. 436 f.

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zu Gebote stehenden Tricks, mit jener raffinierten artifiziellen Meisterschaft, die den Geheimbündlern, den Verschworenen zur Verfügung steht, diesen Magiern des Perspektivischen von Benn und Borges bis hin zu Eco oder Calvino. Alles Zauberer im Sinne von Nietzsches Artistenevangelium. Nämlich die Kunst zu begreifen als exorbitante metaphysische Tätigkeit zur Herstellung einer Glasur, die Tieferes ahnen läßt, zu begreifen als Olymp des Scheins, als Form und Oberfläche.¹¹⁷

Ausgehend von der „Glasur“, der Oberfläche, „umgibt“ die Texte eine „Aura des Transzendenten“, die „Tieferes ahnen läßt“, aber auf eine „leere Transzendenz“ zurückgeht.¹¹⁸ Damit sind die kunstmetaphysischen Eckpfeiler gesetzt. Das transzendente Moment findet allein durch die Kunst und in der Kunst selbst statt. In der Perspektivierung des Scheins, wie sie Benn von Nietzsche entlehnt, kann man, im Unterschied zum Gedanken Hegels, nicht mehr zum „‚Ding an sich‘“, zum „,wahre[n] Wesen der Dinge‘“ gelangen, indem man den Schein überwindet oder indem der Schein etwas Wesenhaftes erscheinen lässt.¹¹⁹ Das, was erfahren werden kann, ist immer schon und ausschließlich der Schein selbst, die Oberfläche. Um es zu verdeutlichen: Das impliziert nicht, dass das „WahrhaftSeiende und Ur-Eine“, wie Nietzsche das nennt, inexistent sind.¹²⁰ Nur bleibt das Sein, die metaphysische Rückbindung, notwendig hinter dem Schein verborgen,

 Bruno Hillebrand, Ästhetik des Augenblicks. Der Dichter als Überwinder der Zeit – von Goethe bis heute, Göttingen 1999, (Kleine Reihe V&R. Bd. 4011) S. 128.Vgl. dazu Benn: „Artistik ist der Versuch der Kunst, innerhalb des allgemeinen Verfalls der Inhalte […], gegen den allgemeinen Nihilismus der Werte eine neue Transzendenz zu setzen: die Transzendenz der schöpferischen Lust“. Benn, Probleme der Lyrik. S. 14.  Hillebrand, Ästhetik des Augenblicks. S. 128.  Karl-Heinz Bohrer, Ästhetik und Historismus. Nietzsches Begriff des ‚Scheins‘, in: Bohrer, Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt a. M. 1981, S. 111– 138, hier S. 117 und 123. Bohrer rekonstruiert Nietzsches Begriff des ‚Scheins‘ vor dem Hintergrund Schopenhauers: „Bei Schopenhauer bedeutet der Begriff der ‚Erscheinung‘ im Unterschied zum ‚Ding an sich‘ gerade den falschen ‚Schein‘. In dieser Platos Ideen-Lehre und Kants tranzendentalem Argument folgenden Gegenüberstellung enthüllt sich die sichtbare Realität als eine trügerische. Realität wird hier nicht in einem ästhetischen Akt, sondern durch ‚bessere Erkenntnis‘ durchschaut. Bei Nietzsche verhält es sich gerade umgekehrt: Das das ‚principium individuationis‘ aufhebende Ereignis vermittelt zwar auch einen ‚Blick in das Wesen‘, aber eben doch in das Wesen des ,Dionysischen‘. Dessen Eigenschaften sind, jedenfalls für diesen Blick, von vorneherein als ästhetische definiert, ja es gibt hier kein ‚Ding an sich‘, kein ‚wahres Wesen‘ der Dinge mehr.“  Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie. Oder: Griechentum und Pessimismus [1872]. In: Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 3.1, Berlin / New York, NY 1972, S. 3 – 152, hier S. 38.Vgl. zum ‚Schein‘ in Nietzsches Texten auch Claus Zittel, Irrtum und Schein. In: Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hrsg. von Henning Ottmann, Stuttgart / Weimar 2000, S. 257– 259.

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unzugänglich. So gestaltet sich das folgenreiche Resultat von Nietzsches Abkopplung des Scheins von Begriffen wie Wesen oder Wahrheit. Aber: Die Oberfläche kann auf unterschiedlich intensive Weise erfahren werden. Von dieser Prämisse ausgehend, kommt es zur radikalen Konzeptualisierung der ästhetischen „Vermitteltheit“ von Welt; im Sinne von Nietzsches artistischer Losung: „nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt“.¹²¹ Der programmatische Satz aus der Geburt der Tragödie (1872) bringt auf den Punkt, wie Karl-Heinz Bohrer ausführt, „daß die Welt nur als ästhetische Spiegelung angenommen und ertragen werden könne, da es kein tieferes Wesen von der Welt als eben das im dionysischen“, poetisch-rauschhaften „Akt Erfahrene gebe“.¹²² Genau aus dem Grund fokussieren zahlreiche Texte Benns Momente gesteigerter Erfahrungen. Der Ausgangspunkt der Erfahrungen ist häufig ein Phänomen des Alltags oder der Populärkultur. Diese Konstellation korrespondiert mit der Forderung nach ‚harten Unterlagen‘ aus dem Marburger Vortrag. Doch entgegen der Ausschließlichkeit, mit der die Form innerhalb der Poetologie zur Voraussetzung des Transzendenten gemacht wird, geschieht dies literarisch sowohl form- als auch darstellungsseitig. Bereits in den frühen, expressionistischen Texten ist das beschriebene Vorgehen zu beobachten. In Doppelleben bezeichnet Benn das Spätwerk als „Phase II“ – „nämlich Phase II des expressionistischen Stils“.¹²³ In der Tat verbinden diverse Parallelen die späte Lyrik mit frühen Texten, etwa die Affinität für das Kolloquiale bis hin zur Deckungsgleichheit einzelner Vokabeln. In den Texten der

 Nietzsche, Die Geburt der Tragödie. Oder: Griechentum und Pessimismus. S. 43.  Bohrer wirkt damit der Annahme entgegen, Nietzsches Losung sei als „l’art pour l’art-Metapher“ zu verstehen. Bohrer, Ästhetik und Historismus. Nietzsches Begriff des ‚Scheins‘. S. 117 und 125.  Benn, Doppelleben. S. 170. Die Gemeinsamkeiten der Lyrik der ersten und zweiten Phase liegen vor allem in der Referenzlastigkeit sowie den großstädtischen Räumen, in denen die Gedichte angesiedelt sind. Der Unterschied zum Expressionismus ist dabei, wie Dirk von Petersdorff ausführt, dass „die Stadt nicht mehr als fremd und schockierend erfahren“ wird: „Waren die expressionistischen Stadtgedichte Zeugnisse der schnellen Urbanisierung des späten 19. Jahrhunderts, die zu starken Verunsicherungen in der Weltdeutung und Selbstwahrnehmung führte, so ist die Großstadt in der Mitte des 20. Jahrhunderts zum bekannten und akzeptierten Lebensumfeld geworden. Damit einher geht eine Veränderung in der Sprechhaltung, denn das lyrische Ich definiert sich nun nicht mehr durch jene Exklusion, die für die expressionistische Generation kennzeichnend war.“ Dirk von Petersdorff, Benn in der Bundesrepublik. Zum späten Werk. In: Gottfried Benns Modernität. Hg. von Friederike Reents, Göttingen 2007, S. 24– 37, hier S. 27 f.

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zweiten Phase hat das Alltags- und vor allem das Populärkulturelle jedoch einen noch größeren Stellenwert.¹²⁴ Signifikant ist der Passus aus Doppelleben, der sich an die Proklamation der „Phase II“ anschließt. Benn geht darin auf die Begriffe „Interessant“, „‚Tiefe‘“ und ein zweites Mal auf den „Olymp des Scheins“ ein: das ist ein wichtiges Wort! Interessant – das führt nicht in diese undurchsichtige quälende familiäre „Tiefe“, nicht sofort zu den „Müttern“; diesem beliebten deutschen Aufenthalt – interessant ist keineswegs identisch mit unterhaltend – übersetzen Sie es wörtlich: interesse: zwischen dem Sein, nämlich zwischen seinem Dunkel und seinem Schimmer – Olymp des Scheins, Nietzsche. […] Nach meiner Theorie müssen sie Verblüffendes machen, bei dem Sie am Schluß selber lachen. (Das nenne ich eine schlechte Weisheit, bei der es nicht ein Gelächter gab, Nietzsche.) Sie müssen alles selber wieder aufheben: dann schwebt es. Scharlatan – das ist kein schlimmes Wort, es gibt schlimmere: historisch und grundsuppig.¹²⁵

Mit dem Gewährsmann Nietzsche grenzt sich der Passus von einer spezifischen Form der Tiefenbegeisterung ab, vom deutschen Hang zur Tiefe, der durch Selbstgefälligkeit und Volksgebundenheit gekennzeichnet ist. Diese Tiefe entsteht etwa, so die humorvolle Wendung, wenn „Mütter […] Ihre Söhne im Lehnstuhl oder im Abendfrieden vielstrophig anreimen“.¹²⁶ Benns Tiefenverständnis ist anders gelagert. Es ist brüchig, liegt im Dazwischen, es schimmert, lässt ahnen und bewegt sich nah an der Täuschung. Mit dem Rekurs auf Nietzsches Antihistorismus – „historisch und grundsuppig“ sind die ‚schlimmeren Wörter‘ – grenzt sich der Text vom hegelianisch geprägten Geschichtsverständnis der Moderne ab. Um flache Vereindeutigungen und die deutsche Form der Tiefe zu umgehen, rät Benn zur Ambivalenz („Sie müssen alles selber wieder aufheben: dann schwebt es.“). Das ist eine naheliegende Konsequenz für einen Autor, der sich

 Simon Karcher schreibt, dass man eher von einer „‚Phase II der Neuen Sachlichkeit‘“ ausgehen sollte, „weil die hier zu beobachtenden Stilmerkmale in stärkerem Maß an diese literarische Bewegung anknüpfen als an den Expressionismus“. Simon Karcher, Sachlichkeit und elegischer Ton. Die späte Lyrik von Gottfried Benn und Bertolt Brecht – ein Vergleich, Würzburg 2006, (Der neue Brecht. Bd. 2) S. 125. Zwar kann diese Beobachtung anhand einzelner Gedichte belegt werden, doch spart sie den ‚überhöhenden‘ Anteil in Benns Lyrik aus. Ein selektives Vorgehen kennzeichnet zum Teil auch Karchers Analysen der Gedichte. Im Fall von „Restaurant“ bezieht sich die Analyse auf die erste Strophe, während die Zäsur der zweiten Strophe nicht zitiert und untersucht, sondern nur beiläufig erwähnt wird. Vgl. Karcher, Sachlichkeit und elegischer Ton. Die späte Lyrik von Gottfried Benn und Bertolt Brecht – ein Vergleich, S. 172– 174.  Benn, Doppelleben. S. 170.  Benn, Doppelleben. S. 170. Vgl. zur ‚deutschen Tiefe‘ bei Nietzsche auch Hillebrand, Apotheose der Kunst. Gottfried Benn und Friedrich Nietzsche, S. 212 f.

3.2 Artistik auf dem „Olymp des Scheins“: Über Benns Poetologie II

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trotz des Endes der Metaphysik Fragen nach dem Essentiellen zuwendet und nach Antworten im ästhetischen Bereich sucht. Die ambivalente Note, das Changieren zwischen transzendenter Erfahrung und der Relativierung dieser Erfahrung, ist daher zahlreichen Texten unterschiedlicher Werkphasen inhärent. Welche Form dies annehmen kann, zeigt ein früher Prosatext wie „Der Geburtstag“ (1916). Rönne, dreißig Jahre alt geworden, ist in diesem Text mit einem „Drängen nach dem Sinn des Daseins“ konfrontiert.¹²⁷ Kognitiv, über das Assoziieren, bringt er sich in Stimmung.¹²⁸ Die Sprache wird dabei zum Erregungszusammenhang. Angelpunkt der Assoziation ist ein Werbeschild: Noch hingegeben der Befriedigung so ausgiebig zu assoziieren, stieß er auf ein Glasschild mit der Aufschrift Cigarette Maita, beleuchtet von einem Sonnenstrahl. Und nun vollzog sich über Maita – Malta – Strände – leuchtend – Fähre – Hafen – Muschelfressen – Verkommenheiten – der helle klingende Ton einer leisen Zersplitterung, und schwankte in einem Glück.¹²⁹

„Maita“, das ist ein Wort mit „‚Wallungswert‘, Rauschwert“, das eine „Zusammenhangsdurchstoßung, das heißt die Wirklichkeitszertrümmerung“, eine höhere Form der Erfahrung, ermöglichen kann.¹³⁰ Bei der Betrachtung einer Frau intensiviert sich die Erfahrung, doch sie entgleitet Rönne, um sich schließlich erneut zu manifestieren. Wieder ist es ein profanes Detail, diesmal das Spiel einer Flöte in einer Gasse, das die Erfahrung anregt. Die humorvollen Untertöne bringen den Text, um auf Benns eigene Terminologie zurückzugreifen, in einen Schwebezustand, in die Ambivalenz: Wie sollte sie heißen? Edmée, das war hinreißend. Wie weiter? Edmée Denso, das war überirdisch; das war wie der Ruf der neuen sich vorbereitenden Frau, der kommenden, der

 Gottfried Benn, Der Geburtstag [1916]. In: Benn, Sämtliche Werke. Hg. von Gerhard Schuster, Bd. 3, Stuttgart 1987, S. 50 – 61, hier S. 52  „Er trieb sich an: arabisches Za-fara, griechisches Kroké. Es stellte sich ein Korvinus, König der Ungarn, der es verstanden hatte, beim Speisen Safranflecke zu vermeiden. Mühelos nahte sich der Färbestoff, das Gewürze, die Blütenmatte und das Alpental.“ Benn, Der Geburtstag. S. 52.  Benn, Der Geburtstag. S. 52. Zum Assoziationsverfahren in Benns „Der Geburtstag“ vgl. Moritz Baßler, Die Entdeckung der Textur. Unverständlichkeit in der Kurzprosa der emphatischen Moderne 1910 – 1916, Tübingen 1994, (Studien zur deutschen Literatur. Bd. 134) S. 150 – 157.  Benn, Probleme der Lyrik. S. 25. Der ‚Wallungswert‘ geht aus den Überlegungen zur hyperämischen Dichtung hervor, wie sie etwa im Essay „Probleme des Dichterischen“ (1930) angestellt werden. Benn umreißt damit die dissoziierte Verfasstheit, den Wirklichkeitsverlust seiner Figuren. Vgl. Helmut Kiesel, Schreibweisen und Techniken. In: Benn-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Christian M. Hanna und Friederike Reents, Stuttgart 2016, S. 286 – 294, hier S. 289 f.

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ersehnten, die der Mann sich zu schaffen im Gange war: blond, und Lust und Skepsis aus ernüchterten Gehirnen. Also: nun liebte er. Er spürte in sich hinein: Das Gefühl. Den Überschwang galt es zu erschaffen gegen das Nichts. Lust und Qual zu treiben in den Mittag, in ein kaltes graues Licht. Aber nun mußte es auch flirren! Es waren starke Empfindungen, denen er gegenüberstand. Er konnte in diesem Land nicht bleiben. –: Südlichkeiten! Überhöhung! […] Wo war sein Süden hin? Der Efeufelsen? Der Eukalyptos, wo am Meer? Ponente, Küste des Niedergangs, silberblaue die Woge her! Er hetzte in eine Kaschemme; er schlug sich mit Getränken heißen, braunen. Er legte sich auf die Bank, damit der Kopf nach unten hinge wegen der Schwerkraft und des Bluts. Hilfe, schrie er! Überhöhung! […] Schon wollte er gehen, da geschah ein Ton. Eine Flöte schlug auf der grauen Gasse, zwischen den Hüten blau ein Lied. Es mußte ein Mann gehen, der sie blies. Ein Mund war tätig an dem Klang, der aufstieg und verhallte. Nun hub er wieder an. Von Ohngefähr.Wer hieß ihn blasen? Keiner dankte ihm.Wer hätte denn gefragt, wo die Flöte bliebe? Doch wie Gewölke zog er ein: wehend seinen weißen Augenblick und schon verwehend in alle Schluchten der Bläue. Rönne sah sich um: verklärt, doch nichts hatte sich verändert. Aber ihm: bis an die Lippen stand das Glück. Sturz auf Sturz, Donner um Donner; rauschend das Segel, lohend der Mast: Zwischen kleinen Becken dröhnte gestreckt das Dock: Groß glühte heran der Hafenkomplex:¹³¹

Es sind Augenblicksfigurationen, Plötzlichkeiten, die der Text mit deiktischen Mitteln hervorhebt („Schon wollte er gehen, da geschah ein Ton“). Die Berauschung an Wörtern, häufig sind es Substantive, wird am konstruierten Eigennamen der Angebeteten, „Edmée Denso“, deutlich.¹³² Wenn er zu verfliegen droht, wird dem Rausch mit Substanzen und Blutstauung im Kopf (!) nachgeholfen. Diese Selbstberauschung, sprachlich und physisch, geschieht aus dem Impuls heraus, eine individuell empfundene, über den Nihilismus reflektierte Leerstelle zu füllen („Den Überschwang galt es zu erschaffen gegen das Nichts“).¹³³ Frappierend ist die Ausdrücklichkeit, mit der die Erzählung stellenweise operiert: Die „Südlichkeiten“ bilden einen Oberbegriff der ligurischen Motivik, auf die Benns Texte häufig im Zusammenhang gesteigerter Erfahrung zurückgreifen. Das wirkt wie ein Metakommentar auf das eigene Verfahren. Ähnlich verhält es sich mit der „Überhöhung“, die als Gegenstand des Textes zwei Mal expressis

 Benn, Der Geburtstag. S. 54 f. und 58 f.  Benn, Der Geburtstag. S. 54 [Hervorhebung von mir, P.P.].  Benn, Der Geburtstag. S. 54.

3.2 Artistik auf dem „Olymp des Scheins“: Über Benns Poetologie II

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verbis benannt wird. Besonders die zweite Nennung, „Hilfe, schrie er! Überhöhung!“,¹³⁴ weist eine mit dem Ironischen liebäugelnde Markierung auf. Auch Hillebrand liest die Rönne-Geschichte „Der Geburtstag“ als eine „Augenblicks-Epiphanie“ mit „viel Humor“.¹³⁵ Doch die relativierenden Komponenten heben die „existentielle Verbindlichkeit“ des Textes keineswegs auf. Nach wie vor geht es um den Versuch, ‚Zusammenhänge zu durchstoßen‘, sich an der (Un‐)Möglichkeit von Transzendenzerfahrungen mit den Mitteln der Sprache abzuarbeiten, eine ästhetische Existenz zu führen. „Rönne ist nicht nur der große Assoziations-Clown, er ist auch der klassische Homo patiens der literarischen Moderne seit der Romantik“.¹³⁶ Diese Rückbindung an die literarische Moderne unterscheidet Benns Texte auch nach dem Zweiten Weltkrieg von späteren, postmodernen Ausprägungen der Literatur.¹³⁷ In den Gedichten der 1950er Jahre nehmen die intensivierten Augenblicke passivere Formen an. Die Problematisierung rückt noch stärker in den Fokus. Das zeigen die folgenden Analysen.

 Benn, Der Geburtstag. S. 55.  Bruno Hillebrand, Gottfried Benn. ‚Steigern Sie ihre Augenblicke!‘ – Die nihilistische Metaphysik der Leere. In: Hillebrand, Ästhetik des Augenblicks. Der Dichter als Überwinder der Zeit – von Goethe bis heute, Göttingen 1999, (Kleine Reihe V&R. Bd. 4011) S. 125 – 137, hier S. 135.  Bruno Hillebrand, Gottfried Benn. ‚Steigern Sie ihre Augenblicke!‘ – Die nihilistische Metaphysik der Leere, S. 135 – 137.  Dass verfahrensmäßige Parallelen zur postmodernen Literatur bestehen, zeigt Hillebrand anhand der späten Prosa Benns auf. Seine Bestimmung des Postmodernen operiert nicht nur mit dem Schlüsselbegriff ‚Pluralität‘, sie lässt darauf auch ein Klischee folgen, durch dass das Projekt der Moderne aufgewertet wird: die Omnipräsenz der Beliebigkeit in der Postmoderne. „Augenblicks-Prosa, frei in den Raum gestellt, durchweg heiter und fast gereinigt von abendländischer Tragik und Resignation. Hier, wie gesagt, beginnt jener Pluralismus des Perspektivischen, den wir heute postmodern nennen, allerdings bei Benn mit der genannten Notwendigkeit existentieller Selbsterlösung. Pluralismus ist für ihn weder Eklektizismus des Beliebigen noch Plagiat mit Pfiff. Die existentielle Nuance bleibt bis zum Schluss unverkennbar. Und unverwechselbar ist Benns Montagestil über Jahrzehnte hin, weil die grundierende Intentionalität einer geistig unbedingten Perspektive ihn strukturiert. Eben das fällt fort in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts.“ Hillebrand, Gottfried Benn. ‚Steigern Sie ihre Augenblicke!‘ – Die nihilistische Metaphysik der Leere. S. 137. Ähnliche Teiläquivalenzen zwischen Benns Spätwerk und der postmodernen Literatur konstatieren Peter Uwe Hohendahl, Zwischen Moderne und Postmoderne: Gottfried Benns Aktualität. In: Zeitgenossenschaft. Zur deutschsprachigen Literatur im 19. Jahrhundert, Festschrift für Egon Schwarz zum 65. Geburtstag, hg. von Paul Michael Lützeler in Verbindung mit Herbert Lehnert und Gerhild S. Williams, Frankfurt a. M. 1987, S. 211– 223, bes. S. 221; sowie Gottfried Willems, Benns Projekt der ‚Phase II‘ und die Problematik einer Postmoderne, in: Gottfried Benn. 1886 bis 1956. Referate des Essener Colloquiums, hg. von Horst Albert Glaser, Frankfurt a. M. 21991, (Akten internationaler Kongresse auf den Gebieten der Ästhetik und der Literaturwissenschaft. Bd. 7) S. 9 – 28.

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3 Parlando und Überhöhung. Gottfried Benns späte Lyrik

3.2.1 Zweisprachigkeit und Aneignung: „Bar“ Berlin in Zeiten der Besatzung. Die lyrische Instanz beobachtet eine Bühnenaufführung in einem Lokal. „Bar“ nennt Benn dieses Gedicht aus dem Band Destillationen (1953). Die Anglifizierung des Titels ist programmatisch für den Text, der teils zweisprachig operiert und auf der Aneignung eines amerikanischen Songs beruht: Flieder in langen Vasen Ampeln, gedämpftes Licht und die Amis rasen, wenn die Sängerin spricht: Because of you (ich denke) romance had it’s start (ich dein) because of you (ich lenke zu Dir und Du bist mein). Berlin in Klammern und Banden, sechs Meilen eng die town und keine Klipper landen, wenn so die Nebel braun, es spielt das Cello zu bieder, für diese lastende Welt, die Lage verlangte Lieder, wo das Quartär zerfällt, doch durch den Geiger schwellen Jokohama, Bronx und Wien, zwei Füße in Wildleder stellen das Universum hin. Abblendungen: Fächertänze, ein Schwarm, die Reiher sind blau, Kolibris, Pazifikkränze um die dunklen Stellen der Frau, und nun sich zwei erheben, wird das Gesetz vollbracht: das Harte, das Weiche, das Beben in einer dunkelnden Nacht.¹³⁸

 Gottfried Benn, Bar [1953]. In: Benn, Sämtliche Werke. Hg. von Gerhard Schuster, Bd. 1, Stuttgart 1986, S. 268 f.

3.2.1 Zweisprachigkeit und Aneignung: „Bar“

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Säulenartig präsentiert sich das Schriftbild des aus sieben Quartetten bestehenden Gedichts, das Anleihen beim Volkskulturellen nimmt. Die simple Form – vier Verse mit drei oder vier Hebungen, verfasst in Kreuzreimen – ist Volksliedstrophen nachempfunden, die sich für mündliche Überlieferungen eignen. Auf diese Weise erhält der Text einen eingängigen, mit der Naivität der Form kokettierenden, leicht mitzusprechenden Rhythmus. Eine der Ausnahmen bildet die zweite deutschenglischsprachige Strophe. Die Ausgangssituation des Gedichts stellt sich wie folgt dar: Das in enge Sektoren geteilte Berlin liegt in „Klammern und Banden“ der Alliierten (Str. 3,V. 1). Der Nationalsozialismus lastet wie ein dichter Nebel auf der ehemaligen Hauptstadt. Besatzungsgegenwart sowie Blut-und-Boden-Geschichte bilden das Signum der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Formal schlägt sich dies in der zweisprachigen Beschaffenheit des Reims ‚town / braun‘ nieder. Um rein zu klingen, eine Aufhebung der Dissonanz herzustellen, provoziert der Text die phonetische Anglifizierung oder Allemanisierung der Wörter (lies: ‚brown‘ oder ‚taun‘). Zweisprachigkeit wird so in Monolingualität rücküberführt. Dieses Reibungsverhältnis der Sprachen zeigt sich an verschiedenen Stellen des Textes. In der Exposition der ersten Strophe informiert das Gedicht auf kolloquiale Weise über die Atmosphäre des Lokals. „Flieder“ steht in „Vasen“, der Raum ist schummrig („Ampeln, gedämpftes Licht“, Str. 1, 1– 2), das in jovialem Duktus benannte, hauptsächlich soldatische Publikum tobt beim einsetzenden Gesang („die Amis rasen“,V. 3). Der Rausch ist hier zunächst der Rausch der Anderen, der jubelnden ‚Amis‘, die die lyrische Instanz ebenso wie die Bühnenperformance beobachtet. Aus den kulturell unterschiedlichen Formen der Rezeption, die der Text in der ersten Strophe skizziert, der beobachtenden Zurückhaltung der lyrischen Instanz und der Ekstase des amerikanischen Publikums, entwickelt der Text seine Überhöhungsmomente. Die zweite Strophe fokussiert das Verhältnis von Unterhaltungs- und Höhenkammkultur. „Bar“ zitiert Verse des amerikanischen Songs „Because of You“, der 1940 von Arthur Hammerstein und Dudley Wilkinson komponiert wurde. In einer Version von Tony Bennett erlangte das Lied 1951 internationale Bekanntheit. Da die erste Strophe eine „Sängerin“ (V. 4) erwähnt, liegt die Annahme nahe, dass Benn sich auf eine Coverversion von Gloria de Haven bezieht, die er über den RIAS gehört haben könnte. Diese Version stammt ebenfalls aus dem Jahr 1951. Womöglich ist die Quellenlage aber noch etwas diffiziler. In den Lobreden auf den poetischen Satz (1998) imaginiert Robert Gernhardt den Asphaltliteraten Benn kurzerhand in die Kneipenumgebung des Gedichts. „[E]r sitzt trinkend in einer warmen Bar und notiert – ein anderes Papier war wohl nicht zur Hand – auf einem Rezeptblock den Wortlaut des Ami-Schlagers, den er

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3 Parlando und Überhöhung. Gottfried Benns späte Lyrik

soeben hört“.¹³⁹ Eilig werden auf der Rückseite des Rezeptblocks Eindrücke notiert, wie das Manuskript von „Bar“ zeigt: „Flied in silber Vasen / Ampeln gedämpftes Licht / u di Amis rasen / wenn die Sängerin spricht –“.¹⁴⁰ Wenn man Gernhardts Lesart folgt und davon ausgeht, dass Benn einer Bühnenperformance des Songs „Because of You“ beigewohnt hat, kommt ein weiterer Quellentext ins Spiel. Es handelt sich um Lesley Selanders Film I Was an American Spy (1951). Das Setting sowie motivische Details des Gedichts weisen frappierende Parallelen zu Selanders Kriegsdrama auf (welches wiederum Anleihen beim Film Noir macht). In einer undatierten Werbebroschüre für Kinobetreiber heißt es auf der letzten Seite mit der Bitte um Mehrfachvermarktung über die deutsche Fassung Ich war eine amerikanische Spionin: Der Schlager ‚Because of You‘, den Ann Dvorak in diesem Film kreiert […] gehört heute zu den meistgespielten Musikstücken der Rundfunksender und dürfte daher wesentlich dazu beitragen, diesen Film populär zu machen. Versäumen Sie daher nicht eine Gemeinschaftswerbung mit Musikalienhandlungen ihrer Stadt durchzuführen. Unter dem Motto zum Film ‚Ich war eine amerikanische Spionin‘ gehört die Schallplatte ‚Because of You‘.¹⁴¹

Dieser filmische Intertext führt ein Problem mit sich: Benn hat ihn aller Voraussicht nach nicht gesehen, zumindest nicht vor der Verschriftlichung von „Bar“. Die deutsche Fassung kommt Ende 1953, am 25. Dezember, in die Lichtspielhäuser. Benn datiert das Manuskript auf den 13. Januar des gleichen Jahres und veröffentlicht das Gedicht bereits im Mai. Die Möglichkeit, den Film vor der deutschen Premiere angeschaut zu haben, ist nahezu ausgeschlossen. Der Besuch der Berliner Alliiertenkinos wie Columbia oder Outpost, die U.S.-amerikanische Produktionen vor dem deutschen Start im Originalton zeigen, bleibt Benn verwehrt. Ohne alliierte Begleitung kommt man nicht herein. Es ist zu überlegen, ob „Bar“ über Umwege auf I Was an American Spy rekurriert. Der Film wäre damit ein mittelbarer Intertext. Möglich ist eine Nachahmung von Ann Dvoraks Filmperformance durch eine Sängerin in einer Bar oder ein kontextualisierender Bericht über den Film im Radio. Nicht von I Was an American Spy selbst, sondern von einer Berliner Reminiszenz an den Film scheint das Gedicht informiert.

 Robert Gernhardt / Peter Waterhouse / Anne Duden, Lobreden auf den poetischen Satz. Göttingen 1998, S. 10.  Gottfried Benn, Bar [Manuskript]. In: DLA Marbach, D 86, 54, o.S.  I Was an American Spy (Ich war eine amerikanische Spionin). Onlinequelle: http:// www.nyu.edu/projects/wke/press/iwasanamericanspy/iwasanamericanspy8.htm (zuletzt aufgerufen am: 07. Juni 2021).

3.2.1 Zweisprachigkeit und Aneignung: „Bar“

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I Was an American Spy erzählt die Geschichte von Claire Phillips, einer amerikanischen Spionin während der japanischen Besatzung der Philippinen in den Jahren 1941 und 1942.¹⁴² Der Ort der Spionage ist Phillips’ Club Tsubaki in Manila, in dem hochrangige japanische Militärs verkehren. Unter dem Decknamen High Pockets versorgt Phillips die amerikanischen Soldaten von dort aus mit wertvollen Informationen, Medikamenten, Nahrung, Geld und Kleidung. Ann Dvorak, bekannt aus Howard Hawks’ Scarface (1932), spielt die Spionin als einen Männermagneten mit „a lot of guts“.¹⁴³ Bei ihren Auftritten vor den Japanern instrumentalisiert sie die Verführungskünste von Diven und Pin-ups. Das populärkulturelle Begehren, dass das U.S.-Militär zur Steigerung der Truppenmoral einsetzt, wird zur Waffe und richtet sich damit auf den Feind. „This beautiful soldier carries a lipstick instead of a gun!“,¹⁴⁴ lautet das Werbemotto des Films, und während der Performance des Songs im letzten Drittel zieht die Spionin dann auch alle Register der seduktiven Kriegsführung. Ihr Auftritt steht in der Tradition des torch songs, in dem eine verlorene Liebe beklagt und weniger gesungen als gesprochen wird.¹⁴⁵ Auf diese Weise ließe sich die ungewöhnliche Wahl des Verbs zur Beschreibung des Gesangs in der ersten Strophe von Benns „Bar“ erläutern. Die Frau auf der Bühne ‚singt‘ nicht, sie „spricht“ (V. 4). Ebenso kann die Erwähnung von „Jokohama, Bronx und Wien“ in der fünften Strophe einen Zusammenhang zwischen Film und Gedicht herstellen (V. 2). Jokohama und Bronx rufen den Konflikt zwischen Japan und den USA auf, wie ihn I Was an American Spy verhandelt.Wien wäre in dieser Lesart eine Chiffre Europas und würde den kulturellen Bezugsrahmen markieren, in den der Song innerhalb des lyrischen Textes überführt wird. Die markante Parallele zwischen „Bar“ und dem Kontext I Was an American Spy stellen die „Fächertänze“ aus der sechsten Strophe dar. Die Vokabel ist ein-

 Der Film bezieht sich biografisch auf die historische Claire Phillips. Nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlicht sie einen Bericht unter dem Titel Manila Espionage (1947) sowie einen Artikel in Reader’s Digest (Mai 1945). Für ihre Verdienste wird sie 1951 von General Douglas McArthur mit der Medal of Freedom ausgezeichnet.  I Was an American Spy. Regisseur: Lesley Selander. Allied Artists 1951 (Timecode: 21:35).  Vgl. I Was an American Spy [Covergestaltung der DVD-Fassung].  Phillips erklärt in Reader’s Digest: „I did torch numbers […]. My low, husky voice made torch singing natural.“ Claire Phillips / Frederick C. Painton: I Was an American Spy. In: Reader’s Digest, 5, 1945, S. 31– 35, hier S. 31. Eine tragische Komponente erhält der Song in Selanders Film durch den Tod von Phillips’ Ehemann John, ein amerikanischer Soldat, der von den Japanern umgebracht wird. Die schwelgerische Kneipenperformance von „Because of You“ ist im Film an den toten Ehemann gerichtet. Der Song erklingt zuvor bei der Hochzeit der beiden Figuren auf der Mundharmonika.

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gebunden in ein sexualisiertes Südseeparadigma, das man von Benn und – in subtextueller, allusiver Form – auch aus dem deutschen Schlager kennt: „Abblendungen: Fächertänze / ein Schwarm, die Reiher sind blau, / Kolibris, Pazifikkränze / um die dunklen Stellen der Frau“. Das Wort „Abblendungen“ lässt an den Schnitt, an filmische Terminologie denken. In „Bar“ zeigt es an, dass der Bühnenauftritt beendet ist, ein Abschluss- oder Überbrückungsprogramm mit Tanz einsetzt. Im Film I Was an American Spy ist der fandance ein zentrales Moment der Handlung. Auf Wunsch eines japanischen Generals imitiert Claire Phillips die berühmte Fächertänzerin Sally Rand und verschafft den amerikanischen Truppen so wichtige Zeit. Auch Kolibris, die Benns Gedicht erwähnt, sind in der betreffenden Sequenz hinter Claire Phillips auf einem Wandteppich zu sehen (vgl. Abb. 5).¹⁴⁶ Der Fächertanz operiert im Modus der kunstvollen Verhüllung und temporären Enthüllung der Tänzerin. Damit fungiert er als ein poetologisches Zeichen, das eine Verbindung zur Spionagethematik des Films zieht. Im Gedicht kommt dem Fächer eine ähnliche Funktion zu. Er kann, wie ich zeigen werde, als autoreflexiver Rekurs auf die de-codierende Behandlung des Songs „Because of You“ innerhalb des lyrischen Textes gelesen werden. Neben Notizen zum Liedtext findet sich im Manuskriptkonvolut von „Bar“ eine Übertragung des englischen Songs aus Ilse Benns Hand. Sie leistet trotz ihrer Eigenwilligkeit entscheidende Impulse für das spätere Gedicht: Gottfried Benns Notiz Because of you There’s a song in my heart Because of you my Romance had it’s start Die Übertragung aus Ilse Benns Hand Weil an dich (ich denke) Da ist ein Gesang in meinem Herzen, Mit dir hat mein Roman begonnen, Weil an dich (ich denke).¹⁴⁷

 Das Verhältnis zwischen Film und Gedicht analysiere ich auch in: Gottfried Benns Bar. Populärkultur in der Literatur der frühen Bundesrepublik. In: Handbuch Pop und Literatur. Hg. von Moritz Baßler und Eckhard Schumacher, Berlin 2020, (HKP. Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie. Bd. 9) S. 353 – 369.  Benn, „Bar“ [Manuskript]. o.S.

3.2.1 Zweisprachigkeit und Aneignung: „Bar“

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Abb. 5: Claire Phillips in I Was an American Spy.

Die Übertragung des Songs ins Deutsche gleicht einer Rollenimitation. „Romance“ und die Übersetzung „Roman“ wirken, als ahme man die Fähigkeiten deutscher Rezipientinnen und Rezipienten mit mangelhaften Fremdsprachenkenntnissen nach.¹⁴⁸ Denkbar ist auch ein assoziativer Zugang, der ein klanglich verwandtes Wort in den deutschen Text übernimmt. Anstelle der naheliegenden Übersetzung ‚Wegen Dir‘ wird „Because“ zu „Weil“, aus der Präposition „of“ wird das deutsche „an“, aus „you“ wird „dich“. Drei englische werden zu drei deutschen Wörtern, die auf grammatische Schlüssigkeit verzichten. Doch gerade das ästhetische Potential solcher Fremdsprachendefizite wird zum movens der zweiten Strophe in „Bar“. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Benns Texte mehrfach mangelnde Englischkenntnisse thematisieren beziehungsweise einen klanglichen Zugang zum Englischen in den Vordergrund stellen, so etwa

 Es sei denn, man würde annehmen, dass in der Übersetzung auf die Etymologie des Wortes ‚Roman‘ Bezug genommen wird. Das Wort leitet sich vom altfranzösischen ‚romanz‘ ab, womit eine in romanischer Volkssprache, nicht in Latein, verfasste Erzählung bezeichnet wurde.

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3 Parlando und Überhöhung. Gottfried Benns späte Lyrik

das Gedicht „Was schlimm ist“ (1953) oder eine Stelle aus „Probleme der Lyrik“ über das Wort „nevermore“.¹⁴⁹ Formal auffällig sind die Parenthesen von „Bar“, deren Inhalt mit Goethes „Nähe des Geliebten“ (1795) in Verbindung gebracht wurde. In dieser Lesart bezieht sich Benn auf den Anfang von Goethes Gedicht. „Nähe des Geliebten“ beginnt mit den Versen: „Ich denke dein, wenn mir der Sonne Schimmer vom Meere strahlt. / Ich denke dein, wenn sich des Mondes Flimmer in Quellen malt“.¹⁵⁰ Durch die intertextuelle Konstellation liegt eine dreifache Relationierung des amerikanischen Songs mit moderner und klassischer deutscher Lyrik vor. Goethes Text ist wiederum die Bearbeitung von Friederike Bruns Gedicht „Ich denke dein“ (1792).¹⁵¹ Dieses rekursive Geflecht stellt den populären Songtext über den verbindenden Motivkomplex ‚Begehren und Liebessehnsucht‘ in einen transhistorischen Zusammenhang. Von einer Aufwertung des populären Textes kann dabei aber nur bedingt die Rede sein. Aneignung ist der treffendere Terminus. Diese geschieht, wie man mit Stephen Greenblatt argumentieren kann, indem „certain things“ in Bewegung geraten, geborgt werden, „principially ordinary language but also metaphors, ceremonies, dances, emblems, items of clothing, well-worn stories, and so forth – from one culturally demarcated zone to another“.¹⁵² Hinzu kommt, dass die Aneignung eine Machtkonstellation impliziert. Fremdes Material wird in Besitz ge-

 In den ersten drei Versen von „Was schlimm ist“ heißt es: „Wenn man kein Englisch kann, / von einem guten englischen Kriminalroman zu hören, / der nicht ins Deutsche übersetzt ist.“ Gottfried Benn, Was schlimm ist [1953]. In: Benn, Sämtliche Werke. Hg. von Gerhard Schuster, Bd. 2, Stuttgart 1986, S. 264. In „Probleme der Lyrik“ schreibt Benn: „Oder nevermore mit seinen zwei kurzen verschlossenen Anfangssilben und dann dem dunklen strömenden more, in dem für uns das Moor aufklingt und la mort, ist nicht nimmermehr – nevermore ist schöner“. Benn, Probleme der Lyrik. S. 24.  Goethes Gedicht schließt mit folgender Strophe: „Ich bin bei dir, du seist auch noch so ferne, du bist mir nah. / Die Sonne sinkt, bald leuchten nur die Sterne, O! wärst du da“. Johann Wolfgang Goethe, Nähe des Geliebten [1795]. In: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Hg. von Reiner Wild, Bd. 4.1, München 1988, S. 667. Vgl. zum Quellenhinweis: Dieter Burdorf, Destillationen. Neue Gedichte 1953. In: Benn-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Christian M. Hanna und Friederike Reents, Metzler 2016, S. 117– 120, hier S. 119.  Friederike Bruns Gedicht fällt expliziter aus als Goethes Bearbeitung. Während „Nähe des Geliebten“ den Tod der lyrischen Instanz andeutet, heißt es in der letzten Strophe von „Ich denke dein“: „Ich denke dein, bis wehende Zypressen mein Grab umziehen; / Und selbst an Lethe’s Strom soll unvergessen dein Name blühn!“ Friederike Brun, Ich denke dein [1792]. In: Brun, Gedichte. Zürich 41806, S. 54– 56, hier S. 56.  Stephen Greenblatt, „The Circulation of Social Energy“. In: Greenblatt, Shakespearian Negotiations. The Circulation of Social Energy in Renaissance England, Berkeley / Los Angeles, CA 1988, S. 1– 20, hier S. 7.

3.2.1 Zweisprachigkeit und Aneignung: „Bar“

191

nommen und in der neuen ‚Zone‘ beherrscht.¹⁵³ Schon der Titel der Sammlung, in der das Gedicht „Bar“ erscheint – Destillationen –, benennt solch einen Umwandlungsprozess. Destillationen treten in Benns Montagen als intertextuelle Transformations- und Appropriationsverfahren auf. Aus dem ersten Vers und der Klammer „(ich denke)“ (Str. 2) entsteht ein Formprinzip, das u- sowie e-kulturelles, fremd- und muttersprachliches Vokabular miteinander verschaltet. In diesem Zuge wird ein binäres Verhältnis zwischen der Sprache der Populärkultur / der Besatzer und der Sprache der Hochkultur / der Kriegsverlierer aufgebaut. Auf jeden zitierten Vers der Vorlage folgen poetisierende Satzfragmente, die teils auf Verben verzichten („ich dein“) und sich eines umständlichen Vokabulars bedienen („ich lenke / zu dir“, Str. 2,V. 2– 4). Das ist keine Übersetzung. Hingegen regen die englischsprachigen Versanteile gedankliche Reaktionen der lyrischen Instanz an, die der Strophe trotz ihres amourösen Sujets einen klinischen Ton verleihen. Die Aneignung findet vor allem in lautlicher Hinsicht statt. An die Stelle von automatisiertem Kitsch treten in Benns Gedicht die sukzessive phonetische Harmonisierung der Strophe sowie eine bedeutungsgenerierende Emphase. Die fehlenden An- und Abführungszeichen deuten ebenso auf die lyrische Aneignung des Songtextmaterials hin, wie die Tatsache, dass das lyrische Ich ausschließlich in dieser Strophe in Erscheinung tritt (jeweils im Anschluss an den englischen Versteil). Trotz der zu bemerkenden „Freude am Klanglichen der Sprache und der Sprachen“, die Leo Spitzer für zweisprachige Texte in Anschlag bringt,¹⁵⁴ endet das Gedicht mit einer monolingualen Inbesitznahme des Englischen. Das Enjambement im dritten und vierten Vers der zweiten Strophe rekurriert, abseits des Begehrens der lyrischen Instanz, auf das Verhältnis der beiden verwendeten Sprachen selbst. In den ersten drei Versen der Strophe dominiert lautliche Dissonanz zwischen den englischen und den deutschsprachigen Teilen, die englischen Wörter verwenden hauptsächlich dunkle Töne wie a und o, während die deutschsprachigen Parenthesen auf helle Töne zurückgreifen. Dies ändert sich im letzten, deutschsprachigen Vers, der dunkle Laute präferiert („und“, „zu“, „Du“) und eine phonetische Äquivalenz mit dem Wort „you“ herstellt. Das Englische und das Deutsche bewegen sich lautlich aufeinander zu und gehen eine assonante Rela-

 Vgl. Greenblatt, The Ciruclation of Social Energy. S. 9.  Fälle literarischer Mehrsprachigkeit sind für Spitzer, neben dem phonetischen Aspekt, durch die „Freude am Nachbilden der fremden Begebenheiten und überhaupt alles dessen, was auf Erden ist“ (lies: Archivierung) sowie durch die „Freude am Sich-Verstellen und Maskieren“ (lies: Rollenprosa bzw. -lyrik) geprägt. Leo Spitzer, Stilstudien. Zweiter Teil: Stilsprachen [1928]. München 1961, S. 111.

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3 Parlando und Überhöhung. Gottfried Benns späte Lyrik

tion ein. Die Aneignung harmonisiert also das heterogene, sprachliche Material in phonetischer Hinsicht und sorgt für Äquivalenz. Eine harmonisierende Lösung des bilingualen Problems resultiert daraus nicht. Dem konkludierenden Vers der Strophe, ‚Du bist mein‘, haftet vielmehr ein in Besitz nehmender Gestus an. Ab der vierten Strophe von „Bar“ wird die Überhöhung expliziert, wenn das Gedicht das Unterhaltungserlebnis im Lokal mit der Beschaffenheit der Erdgeschichte in Verbindung bringt. Für „diese lastende Welt“ und ihre Konflikte zwischen verschiedenen Gesellschaftssystemen scheint der Ami-Schlager inadäquat. Gerade vor dem Hintergrund der jüngsten Vergangenheit (vgl. den Tempuswechsel in Str. 4,V. 3) sollte, so die Argumentation, die Musik der schrittweisen Zersetzung und dem Ende des aktuellen Erdzeitalters Rechnung tragen („die Lage verlangte Lieder, / wo das Quartär zerfällt“). Erst nach dem biederen Cello-Part erhält die Aufführung im Spiel des „Geiger[s]“ repräsentativen Charakter. Wichtig sind Konjunktionen wie das „Doch“ aus dem ersten Vers der fünften Strophe. Mit Hilfe von Konjunktionen zeigen Benns Gedichte einen Bruch an. Hier kippt der Text ins Überhöhende. Das Verb „schwellen“, mit dem der Geigenklang beschrieben wird, markiert einen Ausdehnungsprozess, der das Aufquellen, das sukzessive Aufblähen von etwas meint. Diese Steigerungsdynamik folgt dem hyperbolischen Verfahren der fünften Strophe. Der ganze Kosmos, so die kühne Metapher, kulminiert auf der Bühne, im Schuhwerk des Geigers; „zwei Füße in Wildleder stellen / das Universum hin“ (Str. 5, V. 3 – 4). Plötzlich ist die passivbeobachtende lyrische Instanz affiziert. Auf diese Weise wird die Rezeption des Songs zur Grundlage der Überhöhung; im Vergleich zu den Exzessen Rönnes ist das eine verhältnismäßig moderate Ausformung der gesteigerten Erfahrung. Die beiden folgenden, letzten Strophen sind durch die Wendung ins Sexuelle gekennzeichnet, wie sie häufig in Benns Lyrik vorkommt (vgl. „die dunklen Stellen der Frau“, Str. 6,V. 4). Um diese Bewegung des Gedichts nachzuvollziehen, ist ein Blick in den Liedtext von „Because of You“ aufschlussreich.Vergleicht man die in „Bar“ zitierten Verse mit dem vollständigen Songtext, wird eine semantische Akzentverschiebung ersichtlich. Because of you there’s a song in my heart, Because of you my romance had it’s start. Because of you the sun will shine, The moon and stars will say you’re mine, Forever and never to part. I only live for your love and your kiss, It’s paradise to be near you like this.

3.2.1 Zweisprachigkeit und Aneignung: „Bar“

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Because of you my life is now worth while, And I can smile, because of you.¹⁵⁵

Die Möglichkeit der in „Because of You“ mit viel Pathos und schmaltz ausgebreiteten, in Stephen Greenblatts Worten abgegriffenen Geschichte („well-worn stor[y]“)¹⁵⁶ der einen romantischen Liebe, wird in Benns Gedicht in Zweifel gezogen und zugleich in größere Zusammenhänge gestellt. Es sind also keineswegs primär nur klangliche Aspekte, die die Einbindung des Songs in das Gedicht leiten. „Bar“ hebt vielmehr die semantischen Glättungen auf, die „Because of You“ verwendet. Der Songvers, welcher die infinite Stabilität der Paarkonstellation feiert („Forever and never apart“) fehlt im Gedicht ebenso wie das „heart“, das überstrapazierte Schlüsselsymbol romantischer Befindlichkeit. Zwar könnte Benn nur den markanten ersten Teil des Liedes verstanden und notiert haben, die Auslassung des restlichen Songs wäre dann vor allem pragmatischen (akustischen, kognitiven) Gründen geschuldet. Doch die Einbindung der englischsprachigen Teile in das Gedicht weist, wie ich argumentieren möchte, auf eine ausgeprägte Souveränität im Umgang mit dem Song hin. „Because of You“ konnotiert sexuelle Aspekte der „romance“ und ummantelt diese synekdochisch („I only live for your love and your kiss / It’s paradise to be near you like this“). Dieses Verfahren der camouflierenden, verklärenden Rede ist sowohl in der Literatur- als auch in der Populärmusikgeschichte etabliert. Tabuisierte oder sittlich anstößige Themen (wie Sexualität, politische Gesinnungen etc.) werden von einem gesellschaftskonformen Oberflächentext maskiert, sind aber durch die „gleichzeitige Signalisierung des ursprünglich Gemeinten öffentlich formulierbar“.¹⁵⁷ Hier kommt das poetologische Motiv des ‚Fächertanzes‘ ins Spiel, das einen Akt der Ver- und Enthüllung bezeichnet. Glättungen von Songs wie „Because of You“ sind markiert, nur dadurch funktioniert die Camouflage. In Benns Gedicht werden Oberflächen- und Subtext der Songvorlage voneinander getrennt, der ‚Fächer‘ wird beiseitegelegt, um mit der Bildlichkeit der Metapher zu argumentieren. Mit der Lesart der „romance“ als sexuellem Akt, als Affäre vollzieht sich in der letzten Strophe die Decodierung des Songs, die Aufschlüsselung der Camouflage. Das Erstaunliche: In gleichem Zug entprofanisiert Benns Lyrik die gemachte Alltagsbeobachtung und erklärt sie zu einem universalen, einem anthropologischen Prinzip. Im Vokabular substantivierter Urwüchsigkeit („das

 Vgl. I Was an American Spy. Timecode: 00:52:28 – 00:54:08.  Greenblatt, The Circulation of Social Energy. S. 7.  Heinrich Detering, s.v. Camouflage. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. von Klaus Weimar, Bd. 1, Berlin / New York, NY 1997, S. 292– 293, hier S. 292.

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3 Parlando und Überhöhung. Gottfried Benns späte Lyrik

Harte, das Weiche, das Beben“, Str. 7, V. 3) gerät der Akt zu einer gesetzmäßigen Notwendigkeit („wird das Gesetz vollbracht:“, Str. 7, V. 2). Gewiss zeigt sich „Bar“ mit dieser Einbindung des Songs über die Unterhaltungsindustrie erhaben. Auf die Desavouierung des populären Intertextes zielt das Gedicht jedoch nicht; anders als etwa bei Böll. Benns decodierende Behandlung des Songs ist keine kulturkritische Operation. Die Decodierung liefert vielmehr die Voraussetzung der universalisierenden und archaisierenden Überhöhung des Textes.

3.2.2 Ahnung statt Gesetz: „Konfetti“ In Benns später Lyrik sticht ein Gedicht mit dem Titel „Konfetti“ aus dem Band Fragmente (1951) hervor. Dieser Text gewinnt seine Überhöhung aus dem Umstand heraus, dass er in eine Ahnung der lyrischen Instanz mündet. Das Gedicht ist durch Vagheit gekennzeichnet, die dem Begriff der Ahnung inhärent ist. Als Vorgefühl eines Subjekts stellt die Ahnung ein „futurische[s] Sensorium“ ¹⁵⁸ dar. Von „zentraler Bedeutung“ ist „der Aspekt des Fühlens und Spürens, eines ,dunklen‘ Erkennens, das sich unterhalb der Gewissheits-, möglicherweise auch der Bewusstheitsschwelle vollzieht“.¹⁵⁹ Damit gehören die Orientierung auf Künftiges, die emotionale Komponente sowie die unvollständige Artikulierbarkeit von etwas zu den signifikanten Merkmalen des Begriffs. Ein Residuum der Alltagsreferenz besteht auch in „Konfetti“. Es sind die Papierschnipsel, auf die Benns Text seine Reflexionen über das Vorgefühl bettet: Mehr ist sie nicht, mehr bist du nicht – verweile: auch dieser Stunde – selbst sie mit Besuch, Geplärr, Angeberei und Formverwaistem – gibt sich die Welt, hier scheitelt sie sich ein, mehr hat sie nicht, mehr hast du nicht – verweile! Natürlich kannst du durch das Fenster auf das Konfetti sehn, das in den Sträuchern noch von Sylvester hängt und flockig jetzt

 Stefan Willer, Ahnen und Ahnden. Zur historischen Semantik des Vorgefühls um 1800. In: Forum interdisziplinäre Begriffsgeschichte, 1, 2017, S. 31– 40, hier S. 31. Stefan Willer legt anhand von Texten Herders und Kants dar, wie die Begriffe ‚ahnen‘ und ‚ahnden‘ um 1800 in Relation gesetzt wurden. Es war vor allem „die komplexe Zeitlichkeit des Konzepts [Ahndung, P.P.] zwischen Gedenken und Zukunftsempfindung“, die dazu geführt hat, dass sowohl Herder und Kant ‚ahnden‘ zum Teil synonym zu ‚ahnen‘ verwendet haben. Vgl. Willer, Ahnen und Ahnden. S. 40.  Willer, Ahnen und Ahnden. S. 31.

3.2.2 Ahnung statt Gesetz: „Konfetti“

195

zartfarbig pendelt in des Februars blaustreifig unterkühltem Ahnungslicht, und dich erweichen lassen von dem Blick auf Schwärmendes, das in den Frühling geht vielleichtiger nachfolgender Vergänge durch Einsamkeit und Gärten schwerster Frucht, durch Glück besonderer Art, nur dir bestimmt, Gebrochenheiten, wo Rubine spielen, doch nimm nicht als Gesetz, was Ahnung ist, auch dieser Stunde – selbst sie mit Besuch – gib Antwort, Rede wie den Kühen Heu, das dann im Euter sich als Weißes bringt im weiten Kreislauf, wo sich Dies und Das mit großem Unterschied wohl kaum noch fühlt – auch ahnst du tiefer, wenn es schnell vergeht.¹⁶⁰

„Konfetti“ kreist um Überhöhungen seitens einer kontemplativen lyrischen Instanz, die durch das Personalpronomen ‚Du‘ adressiert wird. Das lyrische Du ist eine eigentümliche Konstruktion, in der sowohl Distanz als auch Nähe eine Rolle spielen. Benns Betonung des „monologische[n] Charakter[s] der Lyrik“ aus dem Marburger Vortrag¹⁶¹ hat die Beobachtung angeregt, dass es sich beim Du in den Gedichten um eine Eigenadressierung der lyrischen Instanz handelt. In den Texten, so eine These der Benn-Forschung, sei die „einsame Unerbittlichkeit“ eines „Selbstgesprächs“ zu beobachten. „Immer wieder vergegenwärtigt sich der Sprecher in der Konfrontation mit sich selbst die großen Sinnfragen und die Unmöglichkeit ihrer Beantwortung.“¹⁶² Durch die zweite Person Singular ist die Konfrontation mittelbarer, anders als würde die lyrische Instanz das Ich verwenden. Doch in der Du-Konstruktion liegt eine Doppeladressierung vor. Liest man Benns Satz zum Monologischen des Gedichts weniger gläubig, evoziert die

 Gottfried Benn, Konfetti [1951]. In: Benn, Sämtliche Werke. Hg. von Gerhard Schuster, Bd. 1, Stuttgart 1986, S. 242.  „Vor allem aber hat es mir die Frage: an wen ist das Gedicht gerichtet, angetan – es ist tatsächlich ein Krisenpunkt, und es ist eine bemerkenswerte Antwort, die ein gewisser Richard Wilbur darauf gibt: ein Gedicht, sagt er, ist an die Muse gerichtet, und diese ist unter anderem dazu da, die Tatsache zu verschleiern, daß Gedichte an niemanden gerichtet sind. Man sieht daraus, dass auch drüben der monologische Charakter der Lyrik empfunden wird, sie ist in der Tat eine anachoretische Kunst.“ Benn, Probleme der Lyrik. S. 16.  Brigitta Coenen-Mennemeier, Das lyrische Du. Funktionen und Variationen einer poetischen Sprechsituation, Frankfurt a. M. u. a. 2004, S. 89 f.

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3 Parlando und Überhöhung. Gottfried Benns späte Lyrik

Selbstanrede der Texte die gleichzeitige Adressierung der Lesenden.¹⁶³ So legt das Du als Apostrophe nahe, dass man in die ‚Sinnfragen‘ und die ‚Unmöglichkeit ihrer Beantwortung‘ involviert sei. Das in freien Versen gehaltene und reimlose, opak daherkommende „Konfetti“ kennzeichnet eine zwischen Konkretion und Abstraktion changierende Gedankenführung. In Strophe eins fallen die Gedankenstriche auf, die die syntaktische Struktur verkomplizieren. Es liegen insgesamt drei Einschübe vor. Zwei Mal ist es das Wort „verweile“, das am Strophenanfang mit Doppelpunkten und am Strophenende mit exklamatorischem Nachdruck platziert wird. Hier geht es um etwas. Nur um was? Signifikant ist die Zeitlichkeit, die mit der Allusion auf das ikonische Goethe-Wort „Verweile doch! du bist so schön!“ (V. 1700) in den Text gerät.¹⁶⁴ Die lyrische Instanz zielt darauf, eine Zeitspanne, eine „Stunde“ festzuhalten, auch wenn diese „Stunde“ von einem unliebsamen „Besuch“ begleitet wird, wie man aus dem weiteren Einschub erfährt. „Geplärr, Angeberei und Formverwaiste[s]“ (Str. 1, V. 3), also Alltagssprachliches sowie intellektuelles Aufschneidertum überlagern den Moment. Doch „auch“ in dieser lästigen Stunde kulminiert etwas. Hier „scheitelt sie sich ein“, die „Welt“, hier zeigt sich etwas Grundsätzliches. Deshalb betont „Konfetti“ imperativisch „verweile!“ (Str. 1, V. 4– 5).

 Coenen-Mennemeier erläutert, dass das Du in manchen Gedichten Benns „geistiger Natur“ ist, dass also abstrakte Konzepte wie der ‚Geist‘ oder die ‚Seele‘ adressiert werden. Für diese Fälle räumt sie vorsichtig ein: „es mag dabei zusätzlich den Menschen im allgemeinen oder den Leser im besonderen [bedeuten]“. Coenen-Mennemeier, Das lyrische Du. S. 90. Dass sich Benns Texte „den Anschein geben“, als seien sie „an jemanden gerichtet“ bemerkt auch Lethen anhand des Gedichts „Verzweiflung“. Lethen, Der Sound der Väter. S. 278.  Johann Wolfgang Goethe, Faust. Eine Tragödie [1808]. In: Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Hg. von Karl Richter et al., Bd. 6.1, München 1986, S. 535 – 673, hier S. 581. Klaus Bonn denkt das ‚Verweile‘ in Benns „Konfetti“ mit einem anderen Text Goethes zusammen. In einem Spruch, der auf den West-östlichen Divan zurückgeht, heißt es: „Verweile nicht und sei dir selbst ein Traum / Und wie du reisest, danke jedem Raum, / Bequeme dich dem Heißen wie dem Kalten; / Dir wird die Welt, du wirst ihr nie veralten.“ Johann Wolfgang Goethe, Verweile nicht und sei dir selbst ein Traum. In: Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Hg. von Christoph Siegrist et al., Bd. 9, München 1987, S. 144. Vgl. dazu Klaus Bonn, Zettel – Zu einem Vers von Johann Wolfgang Goethe und einem Gedicht von Gottfried Benn. In: Textualität und Rhetorizität. Hg. von Kálmán Kovács, Frankfurt a. M. u. a. 2003, (Debrecener Studien zur Literatur. Bd. 10) S. 155 – 160, hier S. 156 f. Im West-östlichen Divan heißt es abweichend: „Verweilst Du in der Welt, sie flieht als Traum, / Du reisest, ein Geschick bestimmt den Raum, / Nicht Hitze, Kälte nicht vermagst Du fest zu halten, / Und was dir blüht, sogleich wird es veralten.“ Johann Wolfgang Goethe, West-östlicher Divan. In: Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Hg. von Karl Richter, Bd. 11.1.2, München 1998, S. 7– 127, hier S. 46.

3.2.2 Ahnung statt Gesetz: „Konfetti“

197

Die zweite Strophe verdeutlicht, dass es sich beim Gegenstand des Gedichts um den Vorgang des Ahnens selbst handelt. Auffällig ist das Adverb „Natürlich“, mit dem die zweite Strophe beginnt. Im Kontext der Ahnung drückt es aus, dass etwas, in dem Fall der Blick aus dem Fenster und das auf ihn Folgende, so geschieht, wie man es erwartet, wie man es geahnt hat; im Sinne von: ‚Natürlich musste es so kommen‘. Der Konjunktion der dritten Strophe („doch“) ist zu entnehmen, dass das Adverb „Natürlich“ zudem die Einschränkung einer Aussage enthält, die die zweite Strophe macht. Darauf ist noch zurückzukommen. An den titelgebenden Papierresten entzündet sich das Vorgefühl der lyrischen Instanz. Wolfram Hogrebe hat die Verwendung des Begriffs ‚Ahnung‘ in Texten von Goethe, Schiller, Novalis und anderen Autoren untersucht. Er begreift die Ahnung als „For[m] gesteigerter Gegenwart“, also intensiven Erlebens, das weltbestimmende Zusammenhänge klar(er) werden lässt.¹⁶⁵ Eine der möglichen Grundlagen, auf denen diese ‚gesteigerte Form der Gegenwart‘ fußen kann, ist ein Zustand „verträumte[r] Absenz“.¹⁶⁶ Dieser Zustand ist von den aktiven, exaltierten Rauscherfahrungen, wie sie in Benns expressionistischer Phase vorkommen, zu unterscheiden. Genau solch eine träumerische Abwesenheit – die Absenz der lyrischen Instanz beim lästigen Besuch durch den Blick aus dem Fenster – ist in Benns „Konfetti“ der Fall: In absichtslosen, abwesenden Blicken auf beliebige Gegenstände sind wir bisweilen träumerisch befangen derart, daß in der Konstellation dieser Gegenstände, in ihrer Gestaltung ein voller Akkord des Zusammenspiels fühlbar wird, der ebenso natürlich wie wunderbar unsere Erinnerung und Ahnung in ein transitorisches Zusammenspiel bringt.¹⁶⁷

Die Beliebigkeit des ahnungsauslösenden Gegenstands könnte scheinbar kaum größer sein. Insofern es nicht eigens hergestellt wird, handelt es sich beim Konfetti um ein Abfallprodukt, das bei der Durchlochung von Papier entsteht. Produktiv wird der Begriff in poetologischen Zusammenhängen. Konfetti geht auf das lateinische confectum (= Machwerk) beziehungsweise auf das Verb conficere zurück, was man mit ‚fertig machen‘ oder ‚verfertigen‘ übersetzen kann. So weist das Zeichen auf die Gemachtheit eines Textes hin, der durch die Thematik des ‚Ahnens‘ für primär gefühlslastig gehalten werden könnte. Zudem fungiert das

 Wolfram Hogrebe, Ahnung und Erinnerung. Bemerkungen zur Funktion der Ahnung bei einigen Dichtern von Goethe bis Musil. In: Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur. Kolloquium Reisensburg, 4.–7. Januar 1996, in Verbindung mit Wolfgang Frühwald hg. von Dietmar Peil, Michael Schilling und Peter Strohschneider, Tübingen 1998, S. 517– 526, hier S. 523.  Hogrebe, Ahnung und Erinnerung. S. 523.  Hogrebe, Ahnung und Erinnerung. S. 523.

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3 Parlando und Überhöhung. Gottfried Benns späte Lyrik

Konfetti als Verweis auf den Titel des Gedichtbands – Fragmente. Ein ‚Ganzes‘ ist in diesem Gedicht nur noch in seiner fragmentierten, zerrissenen Restform gewissermaßen ‚erahnbar‘.¹⁶⁸ Auf diese Weise tritt der Wunsch der ersten Strophe („verweile!“) ins Verhältnis zu den papiernen Überresten im Baum und zum Gedicht selbst, das eine Buchstabenreihenfolge darstellt, die auf das Papier eines Buches gedruckt wird, um etwas festzuhalten. Es konkretisiert sich ein Problem: Die herkömmliche Funktion des Konfettis ist das Erzeugen kurzweiliger Freude; der Moment, der entsteht, wenn es in die Luft geworfen wird. In Benns Gedicht wird nun gerade dieses ephemere Material zum Ausgangspunkt der versuchten Prolongierung einer intensiven Momenterfahrung. Die für die Ahnung konstitutive Relation von Vergangenem und Gegenwart wird in „Konfetti“ durch die Temporaladverbien in den Versen zwei bis fünf der zweiten Strophe kenntlich gemacht. Diese sind, wie der Großteil der Strophe, über Enjambements miteinander verbunden, wodurch die zeitlichen Zusammenhänge formal aufgegriffen werden. Als Überbleibsel „noch von Sylvester“ – im „Februar“ macht dies ein wenig stutzig – „pendelt“ das Papier „jetzt / zartfarbig“ und „flockig“ in den „Sträuchern“ (Str. 2, V. 2– 3). Die zarte Farbe, ein Resultat der zeitbedingten Ausbleichung des Papiers, fungiert als weiterer Temporalmarker. Mit der Erwähnung von „Sylvester“ werden eine temporale Einheit, der Beginn des neuen Jahres, und ein gesellschaftliches Fest benannt. Das Fest, im Text nur impliziert, steht der kontemplativen Anlage der lyrischen Instanz entgegen. Es ist einem Paradigma zugeordnet, das man als ‚Kollektivität und Kommunikativität‘ bezeichnen kann. Darin finden sich auch die Begriffe ‚Besuch‘ und ‚Geplärr‘. Das ‚transitorische Zusammenspiel‘ von ‚Erinnerung und Ahnung‘, das als Spezifikum der Erfahrung ‚gesteigerter Gegenwart‘ benannt wurde, geht aus der Beobachtung des Konfettis hervor. In „blaustreifig unterkühltem Ahnungslicht“ (Str. 2, V. 5) wird kurzzeitig, „der ‚Zusammenhang einer sichtbaren und unsichtbaren Welt‘ gewissermaßen über ‚leise Spuren‘ wahrnehmbar“.¹⁶⁹ Benns Gedicht problematisiert die Ausformung, den Status dieser Ahnung. Genau das unterscheidet „Konfetti“ von Texten wie Holgards „Sylter Herbst“.¹⁷⁰ Auch hier ist vom Gefühl des Ahnens die Rede, „Tief lausche ich in mich hinein / und frag das Herz / voll sanfter Ahnung und von Wehmut schwer“.¹⁷¹ Im Unter-

 Vgl. auch Bonn, Zettel – Zu einem Vers von Johann Wolfgang Goethe und einem Gedicht von Gottfried Benn. S. 157.  Hogrebe, Ahnung und Erinnerung. S. 517. Hogrebe bezieht sich mit diesem Satz auf einen Brief Goethes an Windischmann. Vgl. Johann Wolfgang Goethe, Briefe. Hamburger Ausgabe in 4 Bänden. Hg. von Bodo Morawe, Bd. 3, Hamburg 1965, Nr. 973: Brief vom 28.12.1812, S. 219 – 220.  Vgl. Kapitel 3.1 in dieser Arbeit.  Holgard, Sylter Herbst. S. 5.

3.2.2 Ahnung statt Gesetz: „Konfetti“

199

schied zu „Konfetti“ macht „Sylter Herbst“ in suggestiver, zugleich ostentativer Weise deutlich, was der Gegenstand dieses Ahnens ist und dass das Geahnte eintreten wird: „Wie viele Sommer noch“?¹⁷² Wohl nicht mehr viele. In „Konfetti“ läuft die lyrische Instanz in Gefahr sich „erweichen“ zu „lassen von dem Blick auf Schwärmendes, das in den Frühling geht“ (Str. 2, V. 6 – 7). Die ambiguisierte Formulierung kann sowohl Vogelschwärme, die die lyrische Instanz beobachtet, als auch das schwärmerische Vorgehen im Zuge der Ahnung meinen. Im nächsten Vers fallen absurde Neologismen auf. „[V]ielleichtiger“ gleicht sich morphologisch und phonetisch an das Wort „nachfolgender“ an. In superlativischer Form relativiert der Neologismus die Gewissheit des Ausgedrückten. Aber wird überhaupt irgendetwas ausgedrückt? Oder ist das Gedicht an dieser Stelle klanglichen Aspekten,Wortneubildungen und pastiches überantwortet? Der Klang des zweiten Neologismus „Vergänge“ sowie die an Stefan Georges Lyrik gemahnenden Formulierungen können zu der Einschätzung führen. Mit Versen wie „Gärten schwerster Frucht“ inkorporiert das Gedicht diffus bedeutungstragende, ‚schwere‘ Zeichen, die der Semantik des ahnungsinitiierenden Konfettis entgegenstehen. Die Bedeutungsschwere des Textes wird von den Papierschnipseln gleichermaßen angeregt und durch sie in einen Bereich des Leichten und Flüchtigen eingefasst. In den letzten Versen der zweiten Strophe wird die überhöhende Erfahrung als etwas Exzeptionelles, Kostbares („Rubine“) ausgeflaggt: „durch Glück besonderer Art, nur dir bestimmt“ (Str. 2, V. 10). Ein Glücksmoment steht der ernüchternden Feststellung vom Anfang des Gedichts entgegen („mehr bist du nicht“), aber abschließend treten die Unbestimmtheit der Ahnung und die Fragilität der Erfahrung noch einmal hervor. Nach Andeutungen in diese Richtung („vielleichtiger“, „Gebrochenheiten“) wird dies durch den apodiktischen Beginn der dritten Strophe verdeutlicht – „doch nimm nicht als Gesetz, was Ahnung ist“. Das Adverb „doch“ konfrontiert den träumerischen Blick aus dem Fenster mit dem ‚Sich-Erweichen-Lassen‘ durch das „Ahnungslicht“, das die zweite Strophe prägt (V. 5 – 6). Es ist signifikant, dass auf einem ‚Gesetz‘ beharrt wird, mit dem übergeordnete, fixierbare Prinzipien einhergehen. Die Rede vom ‚Gesetz‘ hat in Benns Oeuvre eine belastete Geschichte. Im politisch bedenklichen Essay „Nach dem Nihilismus“ (1932) heißt es in Rekurs auf Nietzsches Artistik, dass das „Gesetz der Form“ zu einer „antimetaphysische[n] Weltanschauung [lies: artistischen, P.P.]“ verhelfen könne, ja dass

 Holgard, Sylter Herbst. S. 5. Es ist bezeichnend, dass Holgard einen Punkt anstatt eines Fragezeichens setzt.

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3 Parlando und Überhöhung. Gottfried Benns späte Lyrik

das Formgesetz „den Deutschen“, so der generalisierende Ausdruck, von seinen „wüsten Rätseln“ befreien könne.¹⁷³ In „Konfetti“ ist die lyrische Instanz wieder in ‚wüste Rätsel‘ verwickelt – zum Glück. Eva Geulen hat gezeigt, dass der Begriff ‚Gesetz‘ in Benns Essayistik der nationalsozialistischen Phase in anthropologische Zusammenhänge eingefasst wird, quasi als Naturgesetz.¹⁷⁴ Das ist zum Beispiel auch noch im Gedicht „Bar“ der Fall, wenn der sich anbahnende Beischlaf mit der Formulierung korreliert, dass „das Gesetz vollbracht“ wird.¹⁷⁵ Dies ist die eine Seite. Die heikle Volte besteht darin, dass für Benn ästhetische Gesetze ebenfalls als „‚arthafte‘ aufgefaßt werden müssen“, dass neben dem Naturgesetz also ein „Denkgesetz“ wirkt, wie Geulen schreibt: „Der hier waltende Geist“ sieht sich „dem Leben ‚konstruktiv überlegen, als formendes und formales Prinzip‘“.¹⁷⁶ Von solch einer geistigen ‚Beherrschung‘ der Welt im Medium der Kunst scheint sich Benn mit Texten wie „Konfetti“ entfernt zu haben. Die Rückkehr ins Ungewisse wird dabei weniger als Defizit begriffen, sondern gleichmütig und endgültig konstatiert. Ähnlich operieren Gedichte wie „Menschen getroffen“ (1955), das mit folgenden Versen schließt: „Ich habe mich oft gefragt und keine Antwort gefunden, / woher das Sanfte und das Gute kommt, / weiß es auch heute nicht und muß nun gehen.“¹⁷⁷ In „Konfetti“ soll nicht für gesetzmäßig gehalten werden, was nur im Zustand des Ahnens erfahren wurde. Herausfordernd liest sich die archaisierende Metapher „auch dieser Stunde – selbst sie mit Besuch – / gib Antwort, Rede wie den Kühen Heu / das dann im Euter sich als Weißes bringt“ (Str. 3, V. 2 – 4). Doch die lyrische Instanz fordert sich damit zu etwas auf, das, so der entscheidende Punkt,

 Gottfried Benn, Nach dem Nihilismus [1932]. In: Benn, Sämtliche Werke. Hg. von Gerhard Schuster, Bd. 3, Stuttgart 1987, S. 394– 403, hier 403.  Vgl. Geulen, Gesetze der Form: Benn 1933. S. 22.  Benn, Bar. S. 269.  Die ideologischen Verwerfungen, die damit Hand in Hand gehen, sind schwerwiegend. Geulen führt aus: Benns „Formulierungen bezeugen eine anthropologisch verankerte Unabweisbarkeit dessen, was Benn Oelze gegenüber auch als ‚Formtrieb‘ apostrophiert. Die Wirkungen dieses Formtriebs sind variabel und aufeinander nicht reduzibel. Ausdruck kann sich der Trieb in Form von Kunst, Staat, Ritual oder auch als ‚der neue deutsche Mensch‘ verschaffen, aber seine unterschiedlichen Manifestationen verdanken sich demselben Impuls und sind auf dasselbe Gesetz der Form zurückzuführen. Gerade in der Vielfalt möglicher Ausprägungen bekundet sich eine ‚Absolutheit des Formalen‘, die für Benn ‚zur Substanz der menschlichen Rasse gehört‘“. Geulen, Gesetze der Form: Benn 1933. S. 22.  Gottfried Benn, Menschen getroffen [1955]. In: Benn, Sämtliche Werke. Hg. von Gerhard Schuster, Bd. 1, Stuttgart 1987, S. 301.

3.2.3 Distinktion und Zweifel: „Hör zu:“

201

nicht geleistet werden kann.¹⁷⁸ Aus der besonderen Erfahrung sind keine Gesetzmäßigkeiten abzuleiten, sie bleibt – das ist die conclusio des Textes – ohne Explikation, ohne „Antwort“ und „Rede“. Vielmehr steht die Ephemeralität der Erfahrung im Fokus. Im „weiten Kreislauf“, so die organische Metapher, wird sich „Dies und Das / mit großem Unterschied wohl kaum noch fühl[en]“ (Str. 3, V. 5 – 6), werden die Zeichen indistinkt, unterschiedslos. Folglich erhält das initiale Anliegen, einen Moment festzuhalten („verweile!“, Str. 1, V. 5), zum Ende des Textes eine Absage. Es ist die Flüchtigkeit der Ahnung, die die Grundlage der intensiven Erfahrung bildet: „auch ahnst du tiefer, wenn es schnell vergeht“. Das Einzige, was das Gedicht schlussendlich festhalten kann, ist der ungewisse Moment des Ahnens und sein Entgleiten.

3.2.3 Distinktion und Zweifel: „Hör zu:“ Ein anderes Setting, ein ähnlicher Fokus: Das Gedicht „Hör zu:“ hat bereits in der Einleitung dieser Arbeit eine Rolle gespielt, nun wird die kursorische Lektüre vertieft.¹⁷⁹ „Hör zu:“ erscheint im Mai 1960 im Merkur. Edgar Lohner, der gemeinsam mit Ilse Benn den Nachlass gesichtet hat, datiert das Manuskript auf das Jahr 1954 oder 1955. Für Lohner ist es ein „sehr persönliche[s]“ Gedicht, das „an die Atmosphäre des Weinhaus Wolf“ erinnere.¹⁸⁰ Diese ins Biografistische tendierende Lesart hat ihre textuellen Anhaltspunkte im beschriebenen Raum, einer Kneipe, sowie in der auffälligen Selbstbespiegelung. Persönlich ist das Gedicht vor allem bezogen auf die lyrische Instanz. Ihre Distinktionsbemühungen und Zweifel wechseln sich im Text ab. Die überhöhenden Momente sind in ebenjene Spannung eingefasst: Hör zu, so wird der letzte Abend sein, wo du noch ausgehen kannst: du rauchst die „Juno“,

 Klaus Bonn schlussfolgert anders. Es ist das Füttern der Kühe, so Bonn, das „zurück[lenkt] auf die Ausgangssituation des banal Alltäglichen“. Der sprachlich-archaische Modus, in dem das Füttern vorgebracht wird, reibt sich mit dieser Lesart, wie mir scheint. ‚Banal‘ und ‚alltäglich‘ ist der Duktus des Textes an dieser Stelle gerade nicht. Bonn argumentiert: „Gibt sich dort [zu dieser Stunde, P.P.] die Welt, so korreliert damit die Aufforderung, dieser Gegebenheit, wenn nicht dieser Gabe Antwort zu geben. Antwort, ein Wort gegen Geplärr, Formverwaistes und Angeberei gibt das Gedicht. Wenn das Futter im Euter der Kühe sich als Weißes bringt, dann mag der Ertrag der Rede sich als Gedicht bringen.“ Bonn, Zettel – Zu einem Vers von Johann Wolfgang Goethe und einem Gedicht von Gottfried Benn. S. 159 f.  Vgl. Kapitel 1.1 dieser Arbeit.  Edgar Lohner, Gottfried Benn. Gedichte aus dem Nachlass. In: Merkur, 5, 1960, S. 401.

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3 Parlando und Überhöhung. Gottfried Benns späte Lyrik

„Würzburger Hofbräu“ drei, und liest die Uno, wie sie der „Spiegel“ sieht, du sitzt allein an einem kleinen Tisch, an abgeschlossenem Rund dicht an der Heizung, denn du liebst das Warme. Um Dich das Menschentum und sein Gebarme, das Ehepaar und der verhasste Hund. Mehr bist du nicht, kein Haus, kein Hügel dein, zu träumen in ein sonniges Gelände, dich schlossen immer ziemlich enge Wände von der Geburt bis diesen Abend ein. Mehr warst du nicht, doch Zeus und alle Macht, das All, die grossen Geister, alle Sonnen sind auch für dich geschehen, durch dich geronnen, mehr warst du nicht, beendet wie begonnen – der letzte Abend – gute Nacht.¹⁸¹

„Hör zu:“ setzt auf konventionelle lyrische Formmerkmale. Der Text gliedert sich in zwei Teile. Die Kneipenbeschreibung der ersten beiden Strophen ist durch ein Enjambement verbunden. Ab der dritten Strophe wechselt die lyrische Instanz vom beschreibenden in einen kontemplativen Modus. Die drei Quartette sowie das Quintett verwenden umarmende Reime (abba), die in der Schlüsselstrophe vier zum Schema abbba ausgebaut werden. Die formale Abweichung der schwelgerischen Reimwörter „Sonnen“, „geronnen“, „begonnen“ lenkt die Aufmerksamkeit auf diese Strophe, die auch von der Gedankenführung her einen Wendepunkt markiert. Der Titel „Hör zu:“ ist der Zeitschrift mit gleichem Namen entliehen, die 1946 als erstes Programmheft nach dem Krieg auf den Markt kam. Ihr Erfolg gründet in der Doppelfunktion als Programmzeitschrift und Familienillustrierte mit Rätseln und Fortsetzungsromanen, Ratgeberrubriken und Berichten über Personen der Öffentlichkeit. Wie beim Spiegel handelt es sich bei der Hör zu!, die zeitweise die höchste Auflage unter den Illustrierten hatte, um ein „nationale[s] Mediensymbo[l]“,¹⁸² eine Chiffre für die Presselandschaft der frühen Bundesrepublik. Neben dem Medienrekurs besteht die Funktion des Gedichttitels in der imperativischen Adressierung des lyrischen Du. Die Doppelpunkte, Signale der folgenden Rede, verstärken diesen Effekt.  Benn, Hör zu: S. 171.  Urs Meyer, Poetik der Werbung. Berlin 2010, (Allgemeine Literaturwissenschaft. Bd. 13) S. 196. Zur Geschichte der Programmzeitschrift Hör zu! vgl. Lu Seegers, Hör zu! Eduard Rhein und die Geschichte der Rundfunkprogrammzeitschriften (1931– 1965), Potsdam (= Veröffentlichungen des deutschen Rundfunkarchivs, Bd. 34).

3.2.3 Distinktion und Zweifel: „Hör zu:“

203

Das erste Verb des Gedichts – „sein“ in Strophe eins – gibt den Status der Kneipensituation an. Es handelt sich um die Vorausdeutung auf einen nahenden Zeitpunkt, auf den „letzte[n] Abend“ der lyrischen Instanz in der Öffentlichkeit des Lokals. Bis zur dritten Strophe ist der Text im Präsens verfasst. Ab dem dritten Vers dieser Strophe wechselt er ins Präteritum, um eine skizzenhafte, biografische Rekapitulation bis zum Lebensende der lyrischen Instanz zu vollziehen („dich schlossen immer ziemlich enge Wände / von der Geburt bis diesen Abend ein“). Diese zunächst proleptische und danach resümierende Vorgehensweise wird von der distanzierenden Funktion des Du unterstrichen. Die lyrische Instanz geht auf reflexive Distanz zu sich selbst und kommt zum betrüblichen Fazit: „Mehr bist du nicht“ – „Mehr warst du nicht“ (Str. 3, V. 1; Str. 4, V. 1). Damit wird die schon in „Konfetti“ verwendete Formulierung in einen abgeschlossenen Zustand eingegliedert. Der Eindruck des Defizitären, des ‚Einfachen‘ ist rückgebunden an die ersten beiden Strophen, an die Alltagsatmosphäre der Kneipe. „Hör zu:“ entwirft in diesen Strophen einen engen, einen bedrückenden Raum. Der „Tisch“ ist „klei[n]“ und „abgeschlosse[n]“, die lyrische Instanz sitzt „dicht“ an der „Heizung“ (Str. 2, V. 1– 3). Sie ist umgeben vom Lamento der Kneipengäste, vom „Ehepaar“ mit dem „Hund“, den man nicht mag. Man scheint sich, so die bestimmten Artikel, (vom Sehen?) zu kennen. Auffällig sind die despektierlich-geschraubten Begriffe der zweiten Strophe. Das Nominalsuffix ‚-tum‘ aus „Menschentum“ gibt eine Beschaffenheit, ein Verhalten, die Gesamtheit dessen, was mit dem Nomen in Verbindung steht, an. So werden die Menschen der Kneipe durch das Suffix zu Vertreterinnen und Vertretern der leidigen Aspekte des ‚Menschseins‘. „Gebarme“ (Str. 2, V. 3; norddt.: Jammerei), man denke an das „Geplärr“ aus „Konfetti“, kennzeichnet sie. Die Beobachterposition und das Kommentieren der Situation sind als Abgrenzungsversuche zu verstehen, die umgehend von Zweifeln eingeholt werden („Mehr bist du nicht“). Hier steht die Distinktionsfähigkeit der lyrischen Instanz auf dem Spiel. Ein Hinweis auf den sozialen Hintergrund des lyrischen Du geht von den durch Anführungszeichen hervorgehobenen Markennamen der ersten Strophe aus. Die Marken werden, wie auch andere Sachverhalte, zum Beispiel die Beobachtungen in der Kneipe, in Form einer Accumulatio in den Text integriert. Die Zigarettenmarke des lyrischen Du ist von besonderem Interesse, wie bereits in der Einleitung dieser Arbeit erwähnt. „‚Juno‘“ wurde 1896 von der Berliner Firma Josetti als Marke eingetragen und ab 1928 von Reemtsma produziert. Eng mit der Marke verbunden, ist der Werbespruch „Aus gutem Grund ist Juno rund“. Im Zuge

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3 Parlando und Überhöhung. Gottfried Benns späte Lyrik

der Wiedereinführung von Juno 1951 verzichtete Reemtsma auf den zweiten Teil, setzte ihn als bekannt voraus und variierte den Slogan.¹⁸³ Als signifikant für die Analyse von Benns Gedicht stellt sich der runde Querschnitt der Zigarette heraus. Er hat eine politische sowie eine milieuhafte Facette. Die rundliche Form unterschied sich erstens von der ‚Ost-Juno‘, dem DDRPendant der Zigarette, das in den ehemaligen Josetti-Werken in Ost-Berlin in flachovaler Form als Konkurrenzprodukt zur Westzigarette produziert wurde. Zweitens lässt sich die flach-ovale Herstellungsweise mit sogenannten ‚Orientzigaretten‘ in Verbindung bringen, etwa der Marke NIL, die als Distinktionsmittel in Künstlerkreisen vor allem in den 1920er Jahren beliebt waren. Die von Reemtsma vertriebene runde Juno zielte auf das Erreichen einer möglichst breiten Käuferschaft. Unterschiedliche an Comiczeichnungen orientierte Raucherillustrationen auf Werbeanzeigen und Plakaten der 1950er Jahre, mal mit schmaler Fliege, mal mit Prinz-Heinrich-Mütze, exemplifizieren das (vgl. Abb. 6 und 7). Unterstützt wird die Beobachtung durch den Slogan: „Wer es auch ist / Wann es auch ist / Wo es auch ist / Immer sagt man… Aus gutem Grund Juno bitte“.¹⁸⁴ Über die „‚Juno‘“ lässt der Text die ‚harten Unterlagen‘ mit den überhöhenden Anteilen des Gedichts in Verbindung treten. Der Markenname fungiert als ein allusives Mythologem, welches ein Netz an Bezügen erstellt. So rekontextualisiert das Gedicht Charakteristika der römischen Familiengöttin wie ‚Ehe‘ und ‚Geburt‘ (vgl. Str. 2, V. 4, Str. 3, V. 4). Die zentrale Funktion der Marke Juno ist die Relationierung der ersten und vierten Strophe. Ausgehend vom Markennamen stellt

 Eine Statistik legt nahe, dass der Wiedererkennungswert des Slogans von Reemtsma überschätzt wurde. Bei einer Erhebung des Instituts für Demoskopie Allensbach war „nur ein Drittel der befragten Konsumenten […] in der Lage, den alten Juno-Slogan […] zu vervollständigen“. Tino Jacobs, Rauch und Macht. Das Unternehmen Reemtsma 1920 bis 1961, Göttingen 2008, (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte. Bd. 44) S. 203.  Zur Wiedereinführung der Juno nahm Bully Buhlan mit dem Orchester Erich Börschel den Song „Aus gutem Grund…“ auf. Die Platte wurde als Werbemaßnahme an Zigarettenhändler mitgeliefert. Hier ein Auszug aus dem Text des Schlagers (K. und T.: Just Scheu): „Ein netter junger Mann, / sprach einmal ein Mädchen an: / ‚Kann ich sie mal treffen, / mein Fräulein Vivien?‘ / Ich muss sie wiedersehen, / denn sie sind so rund und schön. / Ich denk unwillkürlich, an diesen kleinen Vers. // Refrain: Es geht ein Spruch von Mund zu Mund / der tut es allen Rauchern kund: / ‚Aus gutem Grund, ist Juno rund.‘ // Der Vater sagt es zu dem Sohn, jedoch der Sohn der wusst’ es schon: / ‚Aus gutem Grund ist Juno rund.‘ / Was schon die Spatzen, von den Dächern pfeifen, / man kann jetzt wieder zu der Juno greifen. / Der echte Raucher wird’s wie früher halten, / mit der runden, der guten alten, / Refrain“. Bully Buhlan, Aus gutem Grund ist Juno rund [1950 / 1951]. Auf: Nur für Raucher. Songs für Unverbesserliche, Berlin 2012.

3.2.3 Distinktion und Zweifel: „Hör zu:“

205

Abb. 6 und 7: Werbeanzeigen für Juno (1953).

„Hör zu:“ Äquivalenzbildungen zwischen alltags- und hochkulturellen Zeichen an. Ein weiterer Intertext geht vom Spiegel aus. Im Gedicht „Hör zu:“ liest die lyrische Instanz dort einen Artikel über die „Uno“. Laut Lohners Nachlasssichtung hat Benn „Hör zu:“ „am 31. März abgeschlossen“.¹⁸⁵ Nimmt man den Spiegel vom 24. März 1954 zur Hand, stößt man auf einen Beitrag mit dem Titel „Uno-Beobachter. Tomaten und Eier“. Darin wird die nationalsozialistische Vergangenheit des Diplomaten Peter Pfeiffer thematisiert, der vom Auswärtigen Amt als Beobachter in der Uno tätig werden soll. Erste Unmutsbekundungen aus den USA, etwa von jüdischen Journalisten, sind da bereits zu vernehmen. Ein amerikanischer Korrespondent in Bonn wird mit den Worten zitiert, Peter Pfeiffer „sollte sich einen Regenschirm mitnehmen, um bei der Landung gegen Tomaten- und Eierregen sicher zu sein“.¹⁸⁶ Noch auffälliger als dieser Beitrag ist eine Fotostrecke aus der gleichen Ausgabe des Spiegel. Auf das Titelblatt folgen mit Kommentaren versehene Fo-

 Lohner, Gottfried Benn. Gedichte aus dem Nachlass. S. 401.  o.V., Uno-Beobachter. Tomaten und Eier. In: Der Spiegel, 13, 24. März 1954, S. 5 – 7, hier S. 7.

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3 Parlando und Überhöhung. Gottfried Benns späte Lyrik

tografien eines Besuchs Konrad Adenauers in Griechenland (vgl. Abb. 8 und 9).¹⁸⁷ Die Bilderstrecke kann Aufschluss über die dritte und vierte Strophe des Gedichts geben. In dieser Lesart haben die gedanklichen Rekurse auf mediterrane Landschaften sowie auf die Antike ebenfalls ihren intertextuellen Ausgangspunkt in der Zeitschrift. Die großformatige Fotografie zeigt zwei griechische Soldaten in folkloristischer Tracht an einer „klassischen Stätt[e] der griechischen Kultur“.¹⁸⁸ Von Relevanz ist die Bildunterschrift, die aus einem Zitat Konrad Adenauers besteht: „Ein Besuch in Griechenland ist die Erfüllung aller unserer inneren Träume“. Zusammen mit den aus der Untersicht fotografierten, schräg in den Himmel ragenden Säulen ließe sich der Beitrag als topische Abendlandhuldigung missverstehen, wäre da nicht die „wunderlich[e] Montur“ der Soldaten,¹⁸⁹ die vom Kommentator der Fotografien auf der nächsten Seite mit xenophob-effeminierendem Spott versehen wird. Die „langen Strümpfe“ werden „an Gürteln“ gehalten, „wie sie die peinlichste Frauenmode nie undelikater kannte“.¹⁹⁰ Auch erfährt man, dass Adenauer die Kulturstätte auf dem Rücken eines Esels erreicht hat.¹⁹¹ Wenn das die Lektüre der lyrischen Instanz sein sollte, gerät hier etwas ins Wanken. Das Gedicht würde eine komisch-ironische Komponente erhalten. Verfolgt man diese Spur weiter, sind es in Benns Gedicht die individuellen Grenzen der ‚inneren Griechenlandträume‘, auf die die von Selbstzweifeln getragene dritte Strophe eingeht. Die räumlichen Voraussetzungen, so der ungewöhnliche Gedanke („kein Haus, kein Hügel dein“), sind nicht gegeben, um „zu träumen in ein sonniges Gelände“ (Str. 3, V. 1– 2). Umso abrupter ist der Bruch der vierten Strophe. Eingeleitet durch die Konjunktion „doch“ wendet sich das Gedicht „Zeus“, „Macht“, „grosse[n] Geister[n]“, dem „All“ und „alle[n] Sonnen“ zu (V. 1– 2). Diese Großkonzepte öffnen den Text topographisch. Sie kontrastieren den ‚engen‘ Ort der ersten drei Strophen mit maximaler räumlicher Ausdehnung. Besondere Aufmerksamkeit verdient das Zeichen „Zeus“. Es fällt aus dem Paradigma heraus, da es den höchsten Grad an Konkretion aufweist. Selbst ein Himmelskörper wie die Sonne wird im Text pluralisiert, von der Erde abgekoppelt und ins unbestimmte Plural gesetzt.

 Die Fotografien stammen aus dem Album des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung in Bonn, das von Adenauers Pressesprecher Felix von Eckardt geleitet wurde. Adenauer besuchte Griechenland vom 09. bis 17. März 1954, um die deutsch-griechischen Beziehungen zu stärken. Vgl. https://www.konrad-adenauer.de/stichworte/aussenpolitik/griechenland-und-tuerkei-1954 (zuletzt aufgerufen am 07. Juni 2021).  o.V., o.T. In: Der Spiegel, 13, 24. März 1954, S. 3 – 4, hier S. 3 f. [Bildbeschreibung].  o.V., o.T. S. 3 f.  o.V.: o.T. S. 3 f.  o.V.: o.T. S. 3 f.

3.2.3 Distinktion und Zweifel: „Hör zu:“

207

Abb. 8 und 9: Adenauers Griechenlandbesuch im Spiegel (24. März 1954).

Benns Begeisterung für Nietzsches ‚Olymp des Scheins‘ wird mit dem Rekurs auf den griechischen Göttervater auf ostentative, geradezu überbetonte Weise vor Augen geführt. Man muss sich fragen, ob man diese Rekurse gläubig lesen darf. Durch ebensolche Konstruktionen gelingt dem Text das, was nach Benn den ‚Olymp des Scheins‘ kennzeichnet: Tritt die Überhöhung in „Hör zu:“ auf den Plan, wird sie im gleichen Zug durch Zeichen relativiert, die unter Ironieverdacht stehen. Der Text beginnt im Ambivalenten zu ‚schweben‘. Auch schlägt die letzte Strophe einen Bogen zurück zur titelgebenden Programmzeitschrift Hör zu!, die in den ersten Jahren ihres Erscheinens zum Teil selbst ‚überhöhende‘ Tendenzen aufwies. Die Einbindung von Vokabeln wie ‚All‘ oder ‚Kosmos‘ in die Programmankündigung für eine Sendung über Haustiere im NWDR war dabei wohl der Höhepunkt bürgerlicher Beflissenheit.¹⁹²

 Diese Phase endet allerdings um 1950. Der erwähnte Text heißt „Freundschaft mit Tieren“ (02. März 1949). Die abschließenden Zeilen der Programmankündigung muten wie existentialontologische beziehungsweise lebensphilosophische Exkurse an: „Der Mensch setzt sich durch seinen schöpferisch denkenden Geist vielfach in Widerspruch zu Welt und All. Er muß es auch, weil er allein aus diesem Gegensatz seine stärksten Persönlichkeitswerte hervorzuläutern vermag. Das Tier hingegen steht fest und unbewußt sicher im Kosmos; widerspruchslos ruht es als Kreatur im Sein. Es ist in sich geschlossen, ganz für sich. Ohne Rückbiegung (Reflexion) auf sich selber

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3 Parlando und Überhöhung. Gottfried Benns späte Lyrik

In Strophe vier korrigiert das lyrische Du seine betrübliche Erkenntnis des ‚Mehr-bist-du-nicht‘ durch die Gewissheit, dass es in die weltleitenden Großkonzepte eingebunden war und durch sie geprägt wurde. Ausgedrückt wird das in der archaisierenden Formulierung „durch dich geronnen“ (Str. 4, V. 3). In diesem Zuge heißt es, dass alles „auch für dich geschehen“ sei, also nicht hauptsächlich oder gar ausschließlich.¹⁹³ Das schicksalshafte, nicht individuell beeinflussbare Verständnis von Geschichtlichkeit, welches mit der vierten Strophe einhergeht, lässt sich in Benns Idee des Posthistoire integrieren. Weniger reibungslos ist der Aspekt der nachgeschichtlichen Nebenordnung. Der Wendepunkt des Gedichts fungiert als temporäre Eigenversicherung der Distinktion seitens der lyrischen Instanz. In der Logik des Posthistoire wären ohnehin alle Gäste der Kneipe in die Weltläufe eingebunden. Doch die lyrische Instanz hebt sich von dieser Nebenordnung durch den Umstand ab, dass ihr die Einbindung in ‚das große Ganze‘ plötzlich aufscheint, dass es ihr im Modus des Poetischen bewusst wird. Ein Kollektiv von Gleichrangigen, das man in Benns Spätwerk hineingelesen hat, kann vor diesem Hintergrund keine Rolle spielen. Davon auszugehen, dass sich in Benns Texten „die Akzeptanz der differenzierten [modernen, P.P.] Gesellschaft“ niederschlägt,¹⁹⁴ verwundert angesichts des überhöhenden, transzendierenden Anteils der Texte. Sicherlich zielen manche Gedichte wie „Menschen getroffen“ oder „Das sind doch Menschen“ (beide 1955) in größerem Maße auf einen Ausgleich als man es von Benns früher Lyrik gewohnt ist. Bei aller „Gelassenheit“,¹⁹⁵ die man stellenweise bemerken kann, sollte man jedoch die

passt es sich in seine Umwelt ein“. Helga Prollius, Freundschaft mit Tieren. In: Hör zu!, 10, 1949, S. 5. Die Irritation wird verstärkt, wenn man berücksichtigt, dass die Sendung im Rahmen der Reihe „Du und Deine Kinder“ ausgestrahlt wurde, in der pädagogische Themen auf dem Programm standen. Den Artikel diskutiere ich in: 1949: Haustiere und Heidegger. Über ein Stück Erziehung aus der Hör zu! In: http://www.pop-zeitschrift.de/2016/08/06/pop-archiv-augustvonphilipp-pabst-6 – 8 – 2016/ (zuletzt aufgerufen am 06. Juni 2021).  In der von Urs Meyer herausgearbeiteten „Pointe“ wird der Vers anders wiedergegeben: „nicht einmal auf die mythologischen Letztgründe ist Verlass. Auch sie sind allein ‚für Dich geschehen, durch dich geronnen‘ (V. 15) und somit Blendwerk menschlicher Vorstellungskraft“ Meyer, Poetik der Werbung. S. 195 [Hervorhebung in beiden Fällen von mir, P.P.].  von Petersdorff, Benn in der Bundesrepublik. S. 33. Auch Heinrich Detering schreibt, dass die späte Lyrik den Weg zu einer Benn „angenehmen, offenen Gesellschaft“ markiert. Allerdings konkretisiert er dies als „Gesellschaft seiner [Benns, P.P.] vielen eigenen Ichs“, die zwischen dem Berliner Brief und den späten Gedichten auszumachen sind. Heinrich Detering, Phänotyp und ‚Viertes Reich‘: Gottfried Benn um 1949. In: Der schwierige Neubeginn – Vier deutsche Dichter 1949. Beiträge von Heinrich Detering, Dirk von Petersdorff, Hans Dieter Schäfer und Albert Schirnding. Anlässlich des 60jährigen Bestehens der Klasse der Literatur, hg. von Petra Plättner, Mainz / Stuttgart 2009, (Abhandlungen der Klasse der Literatur. Bd. 4) S. 5 – 14, hier S. 14.  Lethen, Der Sound der Väter. S. 267– 271.

3.2.3 Distinktion und Zweifel: „Hör zu:“

209

heterogene Verfasstheit des Spätwerks berücksichtigen. Zahlreiche Texte problematisieren nach wie vor den Versuch, Momente der Überhöhung mit den Mitteln der Sprache zu realisieren.¹⁹⁶ Benns Texte sind keine Gedichte des kleinen Mannes und erproben auch kaum den Schulterschluss mit ihm. Dabei ist die Brüchigkeit der Abgrenzungsversuche in „Hör zu:“ von Belang. Dass die Distinktionsbemühungen von Restzweifeln begleitet werden, zeigt sich anhand des Kontrastverhältnisses zwischen den aufgerufenen Großkategorien und dem wehleidig-melancholischen, im Vokabular des Textes könnte man sagen ‚barmenden‘ Ton der lyrischen Instanz. Dieser Ton hält die Distanz zwischen den Konzepten und dem lyrischen Du aufrecht.¹⁹⁷ Die abschließende Wendung ins Alltagsregister stellt somit keine Überraschung dar. „Hör zu:“ endet mit den letzten Worten der lyrischen Instanz: „mehr warst du nicht, beendet wie begonnen – / der letzte Abend – gute Nacht“ (Str. 4,V. 4– 5). Das überhöhende Moment wird durch das naive ‚gute Nacht‘, eine letzte Brechung, an die ‚harten Unterlagen‘ rückgebunden. Auf diesem Weg markieren die Schlussverse eine Zirkularität, die sich sowohl auf die Lebensspanne der lyrischen Instanz als auch auf den Text selbst richtet, der im gleichen Register endet, in dem er begonnen hat.

 Dass in diesem Zuge eine „Verstärkung des Umweltbezugs“ vorliegt, ist korrekt, eine „Rücknahme“ der „Autonomie-Ästhetik“ liegt aber nur bedingt vor; von Petersdorff, Benn in der Bundesrepublik. S. 27. Ähnlich konkludiert Anton Reininger: „So sehr er [Benn, P.P.] sich also ganz bewusst einer Sprache anvertraut, die vom Gebrauch gezeichnet ist, hat die dichterische Wirklichkeit, die daraus hervorgeht, keinen affirmativen Charakter. Das lyrische Ich zeigt sich letztlich immer jenseits der von ihm berufenen Welt angesiedelt, wenngleich es ihre Spuren an sich hat, denn die Gedichte erschöpfen sich nicht in der mimetischen Wiedergabe der Alltagswelt. Sie treiben in ihrem Inneren eine semantische Opposition hervor, die weit über die Ausgangslage hinausführt, sie geradezu negiert. Benns Gedichte aus der Großstadt und der Alltagswelt unterscheiden sich deutlich von jenen der zeitgenössischen Lyriker dank der fast stereotypen Wiederholung der Polarisierung zwischen einer Welt der Banalität und einer der sublimen ethischen oder ästhetischen Gefühle, die sich jedoch nur aus der Entgegensetzung zur anderen gewinnen lässt.“ Anton Reininger, Die Aufhebung der Alltäglichkeit. Gottfried Benn: Das sind doch Menschen, in: Reininger, Schriften zur deutschen Literatur II. 20. Jahrhundert, Udine 2017, S. 215 – 220, hier S. 217.  Dass „der Trübsinn“ „verfliegt“, wenn „Melancholie und Sprachreflexion in Benns geniale Rhythmus- und Reimmaschine“ geraten, mag auf die erste Strophe von „Hör zu:“ zutreffen, die Lethen zitiert. Im Falle der weiteren Strophen sind Trübsinn und Melancholie Bestandteile des lyrischen Duktus. Lethen, Der Sound der Väter. S. 278.

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3 Parlando und Überhöhung. Gottfried Benns späte Lyrik

3.3 Zwischenresümee: Bedeutsamkeit – ontosemiologisch und verfahrenstheoretisch Wie lässt sich die anhand der Gedichte dargestellte Konstellation – Dualität von Alltags- und Kunstsprache, ins Ungewisse tendiere Überhöhung, Thematisierung von Endlichkeit – weiter reflektieren? Will man Benns späte Lyrik vor dem Hintergrund der analysierten Spezifika systematisieren, gerät der Begriff Bedeutsamkeit in den Fokus. Dieser Begriff richtet die Perspektive in semio- und in ontologischer Weise auf Konstellationen des Ungewissen in literarischen Texten. Im Folgenden wird diskutiert, inwieweit der Terminus operabel ist. Der Exkurs hat dabei zugleich die Funktion eines Zwischenresümees, das in aller Kürze auf Böll zurückkommt. Umgangssprachlich bezeichnet Bedeutsamkeit die ‚Wichtigkeit‘ oder ‚Tragweite‘ von etwas, beziehungsweise ‚etwas gewichtig Wirkendes‘, wie der Duden angibt. Philosophische Verwendung findet der Begriff in der Phänomenologie Diltheys und Husserls sowie in Heideggers Fundamentalontologie.¹⁹⁸ Es ist Jochen Hörischs (unkonventionelle) Heidegger-Lesart, von der ein Impuls für die Bestimmung des Begriffs im Kontext meiner Untersuchung ausgeht.¹⁹⁹ Bevor dieser Zusammenhang im Fokus steht, gilt es zu erläutern, was Bedeutsamkeit nicht ist – Bedeutung und Sinn. Unter Bedeutung ist in semiotischer

 Das Historische Wörterbuch der Philosophie bezeichnet ‚Bedeutsamkeit‘ in den Texten Diltheys als „eine Sekundärform von ‚Bedeutung‘“. Dieter Sinn, s.v. Bedeutsamkeit. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter, Bd. 1, Darmstadt 1971, S. 757. Was ist damit gemeint? In Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910) beschreibt Dilthey die „Bedeutsamkeit“ als die „Bestimmtheit der Bedeutung eines Teiles für ein Ganzes.“ Daher ist ‚Bedeutsamkeit‘ bei Dilthey ‚sekundär‘. Allerdings tendiert dies ins Tautologische. Im Sinne von: Bedeutsamkeit ist die festgelegte Bedeutung eines Teils für ein Ganzes. Die erwähnte Teil-Ganzes-Relation bezieht Dilthey auf „das Verhältnis von Teilen des Lebens zum Ganzen, das im Wesen des Lebens gegründet ist“. Seine lebensphilosophische Argumentation zieht Parallelen zu zeichentheoretischen Überlegungen: „die einzelnen Ereignisse, welche ihn [den Lebensverlauf, P.P.] bilden, wie sie in der Sinnenwelt auftreten, haben wie die Worte eines Satzes ein Verhältnis zu etwas, das sie bedeuten. Durch dieses ist jedes einzelne Ereignis von einem Ganzen aus bedeutungsvoll zusammengenommen. Und wie die Worte im Satz zu dessen Verständnis verbunden sind, so ergibt der Zusammenhang dieser Erlebnisse die Bedeutung des Lebenslaufes. Ebenso verhält es sich mit der Geschichte“. Solch ein den distinkten Sinn von Leben und Geschichte annehmender Gedanke ist mit Benns Vorstellung eines Posthistoire schwer zu vereinbaren. Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften [1910]. In: Dilthey, Gesammelte Schriften. Hg. von Bernhard Groethuysen, Bd. 7, Stuttgart / Göttingen 61973, S. 1– 347, hier S. 238 f. und 233.  Vgl. Jochen Hörisch, Bedeutsamkeit. Über den Zusammenhang von Zeit, Sinn und Medien. München 2009.

3.3 Zwischenresümee: Bedeutsamkeit

211

Hinsicht die Bedeutung von Zeichen zu verstehen, die sich nach Saussure durch Differenzverhältnisse herstellt.²⁰⁰ Aus der Kontextualität von Zeichenbedeutungen geht hervor, dass Bedeutungen, so sagt es das Wort selbst, in Deutungszusammenhänge eingebunden sind. Sei es innerhalb der Alltagskommunikation oder im Rahmen einer wissenschaftlichen Textanalyse. Sinn kommt zum Tragen, wenn man – vergröbernd ausgedrückt – auf die potentielle Pluralität der Be-Deutungen mit einer Vereinheitlichung reagiert, wenn man sich kommunikativ auf etwas einigen möchte. Das beginnt bei einem Satz, der aufgrund seiner grammatischen Verfasstheit ‚Sinn ergibt‘ und kann erweitert werden bis zu sinnspendenden Konzepten wie ‚Gott‘, die als Metacodes Zeichenbedeutungen strukturieren (erinnert sei an Bölls Der Zug war pünktlich). Wie die Beispiele zeigen, ist der dehnbare Begriff Sinn nicht verbindlich. Sinn wird der jeweiligen diskursiven Konstellation gemäß ausgehandelt, im Falle der Grammatik ist das verhältnismäßig einfach, bei der Frage nach Gott komplexer. Das heuristische Potential sowie die analytische Grenze der Bedeutsamkeit liegen darin begründet, dass Heidegger den Begriff nicht nur Formen des Sinns, sondern auch den Bedeutungen der Zeichen vorlagert. Hörisch hat sich diesem Komplex gewidmet. Bedeutsam ist für ihn „das, wovon wir nicht recht wissen, was es genau bedeutet, von dem wir aber annehmen, daß es nun eben nicht einen konkreten Sinn habe, sondern überhaupt bedeutsam sei, also nicht einfach nur da ist“.²⁰¹ Dabei zieht er ein monumentales Beispiel zur Veranschaulichung der Definition heran: die Steinformation im südenglischen Stonehenge. Die Steine in Stonehenge haben kulturelle ‚Tragweite‘ und ‚Wichtigkeit‘ aufgrund ihrer monumentalen Gemachtheit, ihres Status als kulturelles Artefakt und ihres Alters. Sie sind, so der Konsens, ‚etwas gewichtig Wirkendes‘. Bedeutsames muss nicht notwendig konsensuell und gesellschaftlich breit basiert sein, wie man etwa anhand des Rauschens und interpretationsbedürftigen Zwielichts, des Sich-Mitteilens der Natur in Gedichten Eichendorffs und Heines sieht.²⁰² Hier sind es die lyrischen Instanzen der Texte, einzelne Subjekte, die Naturphänomene als bedeutsam erfahren. Ebenso kann ein unscheinbares Phänomen wie das Konfetti in Benns Gedicht als Ausgangspunkt einer Figuration von Bedeutsamkeit fungieren. Es hat keinen konkreten Sinn. Der Text kreist genau darum, dass das lyrische Du dem Modus des Ahnens überantwortet ist, dass es nicht weiß, ‚was es [das Konfetti, P.P.] genau bedeutet‘. In der Erfahrung deutet

 Vgl. Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. S. 132– 159.  Hörisch, Bedeutsamkeit. Über den Zusammenhang von Zeit, Sinn und Medien, S. 16.  Vgl. Hörisch, Bedeutsamkeit. Über den Zusammenhang von Zeit, Sinn und Medien, S. 17 und 174– 185.

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3 Parlando und Überhöhung. Gottfried Benns späte Lyrik

sich zwar an, dass das Konfetti weit über seine referentielle Funktion hinausreicht (Konfetti = Papierschnipsel). Nur bleibt unklar, wohin. Hörischs Ansatz ist dadurch gekennzeichnet, dass er das umgangssprachliche Verständnis von Bedeutsamkeit (‚Tragweite‘ etc.) mit der Prägung des Begriffs in Heideggers Philosophie kombiniert. Seine nonchalante Lektüre des siebzehnten und achtzehnten Paragrafen aus Sein und Zeit (1927) ist hilfreich, will man die fundamentalontologische Argumentation mit der Diskussion literarischer Texte verschalten. „Im Zentrum von Heideggers exzentrischem Denken“ steht, so Hörisch, „eine diffuse prä- bzw. subsemantische Bedeutsamkeit“. Angebunden ist diese Feststellung an den siebzehnten Paragrafen mit dem Titel „Verweisung und Zeichen“. Hier heißt es, dass die „Verweisung selbst“, „soll sie ontologisch das Fundament für Zeichen sein, nicht selbst als Zeichen begriffen werden“ kann. Als ein „ontologische[s] Fundament“ stellt die Verweisung hingegen das „Konstituens von Weltlichkeit überhaupt“ dar.²⁰³ Das irritiert aus semiologischer Perspektive insofern, da man im Falle der ‚Verweisung‘ eine Funktion erwarten würde, die genuin zeichenhaft ist. Die Funktion eines Zeichens ist das Verweisen, könnte man mit Saussure argumentieren. In Sein und Zeit ist das anders gelagert. Hörisch expliziert: Daß Zeichen innerweltlich fungieren und Sachverhalte erschließen, daß etwas als etwas erfahrbar wird, ja daß noch die Weltlichkeit der Welt überhaupt zugänglich wird, gründet in einer ‚Verweisung‘, die nicht als Leistung von ‚Zeichen‘, sondern als ein Geschehen verstanden werden muß, das Heidegger ausdrücklich als ,ontologische‘ Voraussetzung ‚zuhandener‘ Semiologie begreift.²⁰⁴

Vertieft wird der Gedanke der ontologischen Rückbindung von Zeichen und Welt im achtzehnten Paragrafen mit dem Titel „Bewandtnis und Bedeutsamkeit; die Weltlichkeit der Welt“. Dort heißt es zunächst über das Bedeuten: „Den Bezugscharakter dieser Bezüge des Verweisens fassen wir als be-deuten“.²⁰⁵ Signifikant ist der anschließende Passus über die Organisation der Bezüge des Bedeutens. Kondensiert ausgedrückt: Die „Bezüge sind unter sich selbst als ursprüngliche Ganzheit verklammert, […] darin das Dasein ihm selbst vorgängig“

 Heidegger, Sein und Zeit. § 17, S. 83.  Hörisch, Bedeutsamkeit. Über den Zusammenhang von Zeit, Sinn und Medien, S. 151. ‚Zuhandenheit‘ bezieht sich in Heideggers Terminologie auf das „Zeug“, das uns umgibt, also etwa Werkzeug, Schreibzeug, Dinge des Gebrauchs generell. Das Zeug ist „in seiner Dienlichkeit nicht bloß da, sondern jeweils ‚zur Hand‘, zum Gebrauch verwendbar“. Thomas Rentsch, ‚Sein und Zeit‘. Fundamentalontologie als Hermeneutik der Endlichkeit, in: Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Dieter Thomä, Stuttgart / Weimar 22013, S. 48 – 73, hier S. 56.  Heidegger, Sein und Zeit. § 18, S. 87.

3.3 Zwischenresümee: Bedeutsamkeit

213

ist. Ebenjene ,ursprüngliche Ganzheit‘ bezeichnet Heidegger als Bedeutsamkeit. „Das Bezugsganze dieses Bedeutens nennen wir die Bedeutsamkeit. Sie ist das, was die Struktur der Welt, dessen, worin das Dasein als solches je schon ist, ausmacht.“²⁰⁶ Heidegger führt die zeichenhafte Verfasstheit von Welt und Dasein auf die Vorstellung eines Seins zurück, das der Welt und dem Dasein gleichermaßen unzugänglich ist. Bedeutsamkeit ist demnach die präkommunikative Möglichkeitsbedingung von Bedeutung und Sinn, etwas (ein Ganzes), dass das Dasein und die Welt, wie man sie zeichenhaft erfährt, vorprägt, erst möglich macht. Aus diesen terminologischen Schleifen des Heidegger’schen Denkens geht eine Frage hervor, die sich sowohl auf das Sein als auch auf den Sinn richtet. Hörisch nennt sie fundamentalsemiologisch beziehungsweise ontosemiologisch. Sie lautet, „‚[w]arum gibt es überhaupt Bedeutsamkeit und nicht vielmehr nicht?‘“.²⁰⁷ Genauer: Warum erfahren „da-seiende, also an diesem endlichen raumzeitlichen Punkt lebende Menschen, die nicht dort wesen, wo unendliche Räume und Zeiten walten mögen und wo sich ultimativer Letztsinn offenbart, ihr weltliches Dasein als bedeutsames“?²⁰⁸ Der Antwortversuch auf die Frage ist anschlussfähig, da er mit der Verfasstheit der späten Gedichte Benns auf frappierende Weise korreliert. „Bedeutsam-

 Heidegger, Sein und Zeit. § 18, S. 87. Vgl. zu den Begriffen ‚Verweisung‘ und ‚Bewandtnisganzheit‘ den Kommentar von Thomas Rentsch, der im Sinne Heideggers mit einem alltagsbezogenen Beispiel arbeitet: „Dasein ist immer schon in einer Welt, und der tätige Umgang geht stets theoretischen, betrachtenden Weltverhältnissen voraus. Ich sitze am Schreibtisch, um zu schreiben. Die ‚Welt‘, meine ‚Welt‘, gliedert sich so zunächst räumlich und zeitlich in sinnvolle Verweisungszusammenhänge. Dort sind Arbeitsmaterialien, da sind Notizzettel, da ist die Tür. Das Arbeitszimmer bildet eine in sich gegliederte Bewandtnisganzheit“. Thomas Rentsch, ‚Sein und Zeit‘. Fundamentalontologie als Hermeneutik der Endlichkeit. S. 57.  Hörisch, Bedeutsamkeit. Über den Zusammenhang von Zeit, Sinn und Medien, S. 41.  Hörisch, Bedeutsamkeit. Über den Zusammenhang von Zeit, Sinn und Medien, S. 153. Diese Lesart des Begriffs ‚Bedeutsamkeit‘ veranschaulicht Hörischs mitunter unkonventionelle Behandlung von Sein und Zeit. Bedeutsamkeit wird in der Heidegger-Forschung teilweise unter anderen Vorzeichen behandelt.Wie mir scheint, ist das Moment einer unverständlichen Tragweite in der Weise, in der es Hörisch und mich interessiert, in den Kommentaren zu Sein und Zeit nicht vorhanden. Dagegen handelt es sich bei der Bedeutsamket im engeren, Heidegger’schen Sinne um eine Kategorie des Verstehens, des Erfassens der ‚Weltlichkeit der Welt‘. Hubert L. Dreyfus macht das in seinem Beitrag zu den Paragrafen 19 bis 24 deutlich, wenn er schreibt, „daß alles, was sich uns als verständlich zeigt, sich auf einem Hintergrund von ‚Bedeutsamkeit‘ zeigt, sei es als Bedrohung oder sei es als etwas, das als etwas gebraucht werden kann [lies: Zeug]“. Hubert L. Dreyfus, In-der-Welt-sein und Weltlichkeit: Heideggers Kritik des Cartesianismus (§§ 19 – 24) In: Martin Heidegger: Sein und Zeit, hg. von Thomas Rentsch, Berlin / München / Boston, MA 32015, (Klassiker auslegen. Bd. 25) S. 65 – 82, hier S. 71.

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keit“, konkludiert Hörisch aus seiner Lektüre von Sein und Zeit, „ist ein Effekt der Zeitlichkeit und Endlichkeit, die Menschen grenzwertig erfahren. Grenzwertig muß diese Erfahrung genannt werden, weil sie an der Grenze des analytisch (nicht aber poetisch!) Beschreibbaren ihren Ort hat“.²⁰⁹ Literarische Texte eignen sich als Medien dieser Grenzerfahrungen; man denke an „Restaurant“. Es liegt nahe, dass Hörisch in diesem Zusammenhang nicht nur sein exemplum primum, Heines „Lore-Ley“ („Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“), sondern auch den Umkreisungskünstler Benn zitiert,²¹⁰ dessen Texte Fragen stellen, ohne zu antworten; sich Dingen zuwenden, die im Ungefähren bleiben.²¹¹

 Hörisch reformuliert diesen Gedanken mehrfach: „Bedeutsamkeit ist ein Grund- bzw. Abgrundphänomen, das sich der zeitlichen Verfassung des Seins und der Dasein auszeichnenden Endlichkeitserfahrung verdankt. Das Zusammenspiel beider Prozesse setzt Bezüge und Verweisungen und damit das fundamentalsemiologische, ‚Weltlichkeit‘ erschließende Phänomen der Bedeutsamkeit erst frei“. Hörisch, Bedeutsamkeit. Über den Zusammenhang von Zeit, Sinn und Medien, S. 34 und 153.  Hörisch, Bedeutsamkeit. Über den Zusammenhang von Zeit, Sinn und Medien. S. 34 f., vgl. dazu auch 153 f. Hörisch zitiert Benns Gedicht „Aus Fernen, aus Reichen“ (1927): „Was dann nach jeder Stunde / sein wird, wenn dies geschah, / weiß niemand, keine Kunde, / kam je von da“. Gottfried Benn, Aus Fernen, aus Reichen [1927]. In: Benn, Sämtliche Werke. Hg. von Gerhard Schuster, Bd. 1, Stuttgart 1986, S. 106 f.  Diesen Punkt teilt Benn mit Heidegger. Den Auftakt in Benns letztem Lyrikband Aprèslude (1955) macht ein Text, der programmatisch als „Gedicht“ betitelt ist. Zur Illustration zitiere ich die erste und letzte Strophe: „Und was bedeuten diese Zwänge, / halb Bild, halb Wort und halb Kalkül, / was ist in dir, woher die Dränge / aus stillem trauerndem Gefühl? // So Tag und Nacht bist du am Zuge, / auch sonntags meißelst du dich ein und klopfst das Silber in die Fuge, dann läßt du es – es ist: das Sein.“ Gottfried Benn, Gedicht [1955]. In: Benn, Sämtliche Werke. Hg. von Gerhard Schuster, Bd. 1, Stuttgart 1986, S. 281. Benns Verhältnis zu Heidegger ist ansatzweise erforscht. Zu einem Treffen oder Briefwechsel kam es nach Lage der verfügbaren Quellen nicht. In der Korrespondenz mit Oelze ist jedoch häufiger vom Freiburger Philosophen die Rede. Die Einschätzungen schwanken, wie häufig in Benns Briefen, zwischen Anerkennung und Ablehnung. So schreibt er am 06. Januar 1950 geschmeichelt: „Von [Egon, P.P.] Vietta hatte ich einen Brief mit einer Notiz aus dem Munde Heideggers über den Gedichtband, den sie ihm zu geben die Liebenswürdigkeit hatten. Überraschend schöne und mich bewegende Worte. Nun Herr V. wird ihnen darüber berichtet haben. Also das vergangene Jahr brachte mir eine spontane Ovation von Curtius, von Jünger, und nun auch noch von H. – mehr kann ein Sterblicher nicht erwarten.“ Am 21. April 1951 heißt es abgekühlt: „Ich persönlich nehme ja alles nicht mehr wichtig. Heidegger typischer Wissenschaftler: sowie sie mal einen Schritt ins Artistische, Feuilletonistische wagen, gleich hinterher haben sie Angst um Ruf und Renommé. Kann mir nicht imponieren.“ Benn, Briefe an F. W. Oelze. 1950 – 1956, Nr. 461 und 540, S. 5 und 97. Zu den Verbindungen zwischen Benn und Heidegger vgl. Hans-Jürgen Blenskens, Gottfried Benn und Martin Heidegger. Respekt und kritischer Bezug, in: Benn-Forum. Beiträge zur literarischen Moderne, 4, 2014/2015, S. 195 – 210.

3.3 Zwischenresümee: Bedeutsamkeit

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Solch ein ,ontosemiologischer‘ Ansatz mag reizvoll sein. Das Potential und zugleich das Problem des Ansatzes besteht darin, dass er durch die Verfasstheit seines Gegenstands und die Art seiner Frage, ebenfalls einem Modus des Umkreisens überantwortet ist. Das räumt Hörisch ein, wenn er eine ‚Grenze des analytisch Beschreibbaren‘ konstatiert. Um den Begriff ‚Bedeutsamkeit‘ textanalytisch näher zu fassen, bietet sich eine verfahrensbasierte Reflexion an. Verfahrenstheoretisch lässt sich Bedeutsamkeit, so meine These, als ein Effekt des Textes begreifen. Dieser Impuls ändert die Frage: Anstelle von, ‚Warum gibt es Bedeutsamkeit und nicht vielmehr nicht?‘, lautet sie, ‚Wie bringt der Text Bedeutsamkeit hervor und wie verhält er sich dazu?‘²¹² Versucht man Bedeutsamkeit in einem Modell des literarischen Textes zu lokalisieren, sind einige verfahrenstheoretische Aspekte zu berücksichtigen. Moritz Baßler hat seiner Geschichte literarischer Verfahren (2015) ein Drei-EbenenModell zu Grunde gelegt. Die Idee ist, dass die Verfahrensseitigkeit des literarischen Textes reflektiert werden kann, indem man den Text in Ebenen einteilt, die auf der jeweils tieferliegenden Ebene aufbauen. Wie jedes wissenschaftliche Modell ist das Drei-Ebenen-Modell ein heuristisches Werkzeug, dem Schematisierungen inhärent sind. Seinen Nutzen hat es als Hilfsmittel der Analyse, insofern man die Verknappungen der Modellierung mitreflektiert.

Abb. 10: Drei-Ebenen-Modell des literarischen Textes.

Das Drei-Ebenen-Modell funktioniert folgendermaßen: Auf der Textebene (T) befinden sich die syntagmatischen Zeichen. Die Textebene erfasst den Text in seiner materialen Gestalt, in seinen „grafischen, klanglichen, rhythmisch-metri-

 Das ist eine Modifizierung der für die Verfahrenstheorie grundlegenden Frage, „wie sich der Text zu seiner Bedeutung verhält“. Baßler, Deutsche Erzählprosa. Eine Geschichte literarischer Verfahren. 1850 – 1950, S. 15.

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schen, grammatischen und semantischen Beziehungen“.²¹³ Das sind also all die Formaspekte, in Benns „Konfetti“ zum Beispiel die Enjambements, die lautliche Seite des Textes oder die denotative Semantik seiner einzelnen Lexeme (etwa Konfetti = Papierschnipsel). Die nächsthöhere Ebene, die Darstellungsebene (D), repräsentiert auf der Grundlage der Textebene den Textinhalt. Dort werden die Zeichen mithilfe paradigmatischen „Vergleichswissen[s]“ verstanden und in einen Zusammenhang gebracht. Dieser Zusammenhang bildet die raumzeitliche Situation des Textes sowie seine Instanzen, Figuren und die in ihm dargestellten Handlungen (in Erzähltexten lägen hier die Bestandteile der histoire).²¹⁴ Die kohärente Verknüpfung der Zeichen auf dieser Ebene erlaubt es also, nachzuvollziehen, dass das Gedicht skizziert, wie jemand Besuch empfängt, aus dem Fenster schaut und gedanklich abschweift. In faktualen Texten, in Texten ohne Diegese, kann die Darstellungsebene Verschiedenes repräsentieren, von einer politischen Rede, über ein Vertragswerk bis zu einem Kochrezept. Für das Verständnis dieser Texte und ihrer Bedeutungen genügen in der Regel Text- und Darstellungsebene. Doch im Falle der Literatur, lässt sich mit Jurij M. Lotmans Struktur literarischer Texte (1972) argumentieren, ist die Darstellungsebene nur die erste Ebene der Bedeutung. Die Literatur „spricht in einer besonderen Sprache, die als sekundäres System auf und über der natürlichen Sprache errichtet wird“.²¹⁵ Folglich bedeuten die Zeichen der Textebene die Darstellungsebene mit einer Diegese und Figuren, einer Handlung. Die Darstellungsebene bedeutet aber wiederum etwas Zusätzliches, denn der Text ist ein ganzheitliches Zeichen, und alle einzelnen Zeichen der ihn bildenden natürlichen Sprache sind hier auf das Niveau von Elementen dieses Zeichens reduziert. Insofern wird jeder künstlerische Text geschaffen als einmaliges, ad hoc konstruiertes Zeichen mit besonderem Inhalt.²¹⁶

Dieses Surplus an Bedeutung („Zeichen mit besonderem Inhalt“) ist kennzeichnend für literarische Texte, die daher noch auf einer dritten Ebene operieren: der Bedeutungsebene (B). „Wenn wir“, lautet Baßlers Überlegung, „in einer Fabel die Darstellungsebene, die Interaktion zwischen Fuchs und Raben etwa, verstanden

 Baßler, Deutsche Erzählprosa. Eine Geschichte literarischer Verfahren. 1850 – 1950, S. 17.  Mit dem Begriff des (kulturellen) „Vergleichswissen[s]“ argumentiert Baßler bezogen auf das syntagmatisch-paradigmatische Zwei-Achsen-Modell. Baßler, Deutsche Erzählprosa. Eine Geschichte literarischer Verfahren. 1850 – 1950, S. 17 f.  Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte [1972]. München 41993, S. 39 f.  Lotman, Die Struktur literarischer Texte. S. 39 f.

3.3 Zwischenresümee: Bedeutsamkeit

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haben, dann sind wir noch nicht zur eigentlichen Bedeutung der Fabel vorgedrungen“.²¹⁷ Soweit die Erläuterung des strukturalistisch-semiotischen Drei-Ebenen-Modells. Mit poststrukturalistischen Theorieansätzen und postmodernen Ausprägungen der Literatur lässt sich diese Schematisierung schwerlich kombinieren.²¹⁸ Auch stellt sich Baßlers, der Erläuterung des Modells geschuldetes, simplifizierendes Beispiel als allzu dienlich heraus. Die Annahme einer „eigentlichen Bedeutung“ mag auf Genera wie die Fabel zutreffen, auf zahlreiche Gattungen lässt sie sich nicht in der Form übertragen. Wie verhalten sich Texte zum Modell, die auf Bedeutsamkeit zielen? Gemäß der Definition, man habe es mit einer prä- bzw. subsemantischen Sphäre zu tun, die Bedeutung und Sinn in ontologischer Hinsicht erst ermöglicht, müsste man davon ausgehen, dass Bedeutsamkeit auf keiner der drei Ebenen zu verorten ist. Hingegen könnte man annehmen, dass eine vierte Ebene unterhalb der Textebene notwendig sei.

Abb. 11: Drei-Ebenen-Modell des literarischen Textes (Bedeutsamkeit ontosemiologisch).

So funktioniert Heideggers Ontologie, nicht aber der literarische Text. Der Text kann sich sprachlich mit Dingen auseinandersetzen, die der Sprache vorgelagert sind. Doch der direkte Zugriff auf diese Dinge ist ihm verwehrt, er bleibt sprachlich. Im Modell wäre solch eine Ebene ohne Funktion. Etwas der Textebene

 Baßler, Deutsche Erzählprosa. Eine Geschichte literarischer Verfahren. 1850 – 1950, S. 18.  Lotmans Annahme eines literarischen Textes als ‚ganzheitliches Zeichen‘, an dem sich die anderen Zeichen orientieren, widerspricht etwa der Derrida’schen Vorstellung eines zentrumlosen Textes.Vgl. Jacques Derrida, Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaft vom Menschen [1967]. In: Derrida, Die Schrift und die Differenz. Aus dem Französischen von Rodolphe Gasché und Ulrich Köppen, Frankfurt a. M. 1976, S. 422– 442, hier S. 422– 424 und 441.

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Vorgelagertes würde nahelegen, dass der literarische Text essentialistisch verfasst sei. Die strukturalistischen Prämissen der Modellbildung wären damit aufgegeben. Verfahrenstheoretisch betrachtet, handelt es sich bei der Bedeutsamkeit um eine spezifische Figuration der Bedeutungsebene (B) des Textes. Im Falle einer Bedeutsamkeitsfiguration hat man es, genau wie in anderen Texten, die die Bedeutungsebene aktivieren, mit dem Ergebnis einer referentiellen Operation zu tun. Literarische Texte können mit den Mitteln, die ihnen die Text- und Darstellungsebene zur Verfügung stellen, explizit oder implizit auf Zeichen verweisen, die sich als leitend für den gesamten Text herausstellen. Gelingt das, baut der Text eine Bedeutungsebene auf, wie es die von Baßler erwähnten Fabeln tun. Das Spezifikum literarischer Figurationen von Bedeutsamkeit liegt darin, dass die Texte, wie Hörisch konstatiert, „etwas spezifisch Unscharfes“ an die Stelle klar konturierter Sinnangebote setzen.²¹⁹ Die Bedeutungsebene wird also gefüllt mit Konzepten wie zum Beispiel „Sein, Zeit, Welt, Kosmos“ oder „Leben“.²²⁰ Bedeutsamkeitsfigurationen haben zur Folge, dass die Bedeutungsebene des literarischen Textes eine instabile beziehungsweise eine instabilere Form annimmt. Es handelt sich um übercodierte, aber unterdeterminierte Konzepte, die derart groß dimensioniert sind, dass ihre Inhaltsseite im Unscharfen, im Abstrakten verbleiben muss. Ein Modell des literarischen Textes, der Bedeutsamkeit auf der Bedeutungsebene figuriert, sieht folgendermaßen aus (vgl. Abb. 12). Mit der beschriebenen Konstellation geht ein verblüffendes Paradoxon einher. Gerade weil die Bedeutung des Signifikats des Textes ungesichert ist – dargestellt ist das mit der durchbrochenen Bedeutungsebene – und diese Unsicherheit markiert wird, konstruiert der Text Bedeutsamkeit. Was signifiziert das Konfetti? Welches ‚Sinnangebot‘ geht von ihm aus? Es gibt keine verlässlichen Antworten auf diese Fragen, nur die vom Text figurierte (und hinterfragte) Überlegung, dass Bedeutung vorliegt. Semiotisch ausgedrückt: Die Leerstelle, die Unsicherheit des Signifikats produziert die Bedeutsamkeit. Das unterscheidet Texte, die Bedeutsamkeit figurieren, von Texten, die stabile Bedeutungsebenen aufbauen. Die Form literarischer Bedeutsamkeit, auf die Benns Texte zielen, ist also, mit Hörisch gedacht, nicht allein umgangssprachlich als ‚Tragweite‘ und ‚Wichtigkeit‘ zu fassen.Werden ‚Tragweite‘ und ‚Wichtigkeit‘ beansprucht, ist das eine Seite der bedeutsamkeitsfigurierenden Operation. Die andere Seite besteht in der Markierung eines Ungewissheitsmoments.

 Hörisch, Bedeutsamkeit. Über den Zusammenhang von Zeit, Sinn und Medien, S. 194.  Hörisch, Bedeutsamkeit. Über den Zusammenhang von Zeit, Sinn und Medien, S. 194.

3.3 Zwischenresümee: Bedeutsamkeit

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Abb. 12: Drei-Ebenen-Modell des literarischen Textes (Bedeutsamkeit verfahrenstheoretisch).

Im Benns Lyrik wird Bedeutsamkeit in deklarativer und in äquivalenzbildender Weise hergestellt. Zwar greifen die lyrischen Instanzen auf Konzepte wie das ‚Universum‘ zurück, das kulturell als gewichtig und ungreifbar vorcodiert ist. Entscheidend ist jedoch, dass Dinge für bedeutsam erklärt werden, die man nicht als solche identifizieren würde, etwa Papierschnipsel oder „zwei Füße in Wildleder“, die das „Universum“ im Gedicht „Bar“ erst ‚hinstellen‘.²²¹ Im Rahmen von diesen für die späte Lyrik charakteristischen Äquivalenzbildungen erhalten die aufgerufenen Realien den Status von Medien, von Vermittlern des Bedeutsamen. Dadurch gerät die im kulturellen Vergleichswissen als oppositionell begriffene Relation zwischen ‚unscharfen‘ Großkonzepten und distinkten Realien in Bewegung. Aus Unähnlichkeiten machen die Gedichte potentielle Similaritäten. Eingebettet ist dies alles in Benns Idee einer Artistenmetaphysik, der Kunst als letztem Ort transzendenter Erfahrungen. Artistisch ist es, mit den abendländischen Metacodes zu brechen und die Kunsthaftigkeit des literarischen Textes an ihre Stelle treten zu lassen. Dass dies, verfahrenstheoretisch ausgedrückt, in einer instabilen Bedeutungsebene – einer Bedeutsamkeitsebene – resultiert, die Texte also Augenblicke transzendierender Unklarheit fokussieren, ist vor dem Hintergrund von Benns Poetologie nur plausibel. Unter den Bedingungen der Spätmoderne, so kann man mit Benn konkludieren, sind feste Sinnangebote allenfalls Indizien obsoleter Kunstauffassungen. Sie gehören nicht mehr zum state of the art, zumindest Benns state of the art. In anderen Bereichen der Literatur versucht man dagegen, wieder ‚alte‘ Metacodes zu installieren. Bedeutsamkeit und Bedeutung müssen nicht grundsätzlich getrennt voneinander auftreten. Bölls Prosa strebt zum Beispiel eine Verquickung der Möglichkeiten an. Die Erzählung Der Zug war pünktlich veranschaulicht, wie ein Text  Benn, Bar. S. 269.

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3 Parlando und Überhöhung. Gottfried Benns späte Lyrik

über das Zeichen ‚Gott‘ eine schlussendlich stabile Bedeutungsebene aufbaut.²²² Von der Bedeutungsebene geht ein distinktes Sinnangebot – ein christliches Heilsversprechen – für die Figuren der Diegese (sowie die Leserinnen und Leser) aus. Das heißt jedoch nicht, dass der Text auf bedeutsamkeitsgenerierende Verfahren verzichtet. Die Betonung von Konzepten wie ‚Leben‘ ist auch in Der Zug war pünktlich prägend (vgl. die Lexemexponierung in Kap. 2.3). Nur verwendet der Text diese Zeichen zum Zweck der Stabilisierung von Sinn. Die bedeutsamkeitsgenerierenden Leerstellen stehen hier also im Dienst der sinnspendenden Bedeutungsebene. Noch einmal anders verhält es sich in den Kurzgeschichten „Wanderer, kommst Du nach Spa…“ und „Grün ist die Heide“. Die inflationär gebrauchten Anakoluthe und Aposiopesen produzieren per definitionem Leerstellen im Text, in die sich Bedeutsamkeit gleichsam ‚einlagern‘ kann. Im Fall zahlreicher solcher Auslassungsstellen wird Bedeutung, wie ich gezeigt habe, lediglich angedeutet. Im Unterschied zu den Gedichten und poetologischen Überlegungen Benns reflektieren und problematisieren Bölls Texte die von ihnen platzierten Leerstellen in deutlich geringerem Maße. Diese Verfasstheit macht die Texte zum Teil plump. Bölls Prosa setzt sich weniger mit der konstitutiven Ungewissheit von bedeutsamen Phänomenen auseinander, als das sie auf den Effekt zielt, den bedeutsamkeitsgenerierende Verfahren hervorbringen. Das Ergebnis solch einer Verfahrensoperation nenne ich Effektbedeutsamkeit.²²³

 Zwar referieren auch zahlreiche Gedichte Benns auf ‚Gott‘, doch freilich sind diese Rekurse völlig anders beschaffen. Von ‚Gott‘ kann in Benns Texten, auch das ein Ergebnis der NietzscheRezeption, kein Sinnangebot ausgehen. Albrecht Schöne hat in seinen Studien zur Säkularisation (1958) gezeigt, dass Benn die religiöse „Kraft des Wortes“ übernimmt, dabei aber ihren offenbarungshaften Charakter verabschiedet: „Die ungeheure Prägekraft religiöser Sprachformen erlahmt nicht, wenn ihr Inhalt seine Gültigkeit als Offenbarung und Bekenntnis verliert. […] [H]ier geht es nicht um ‚Wahrheit‘, sondern um den ‚Stil‘, nicht um Faktizität, sondern um Faszination.“ Albrecht Schöne, Säkularisation als sprachbildende Kraft. Studien zur Dichtung deutscher Pfarrersöhne, Göttingen 21968, (Palaestra. Untersuchungen aus der deutschen und englischen Philologie und Literaturgeschichte. Bd. 226) S. 232, 242 und 252. Gott firmiert in Benns Lyrik häufiger als ‚der Dunkle‘. Vgl. etwa den Zyklus „Der Dunkle I–IV“ im Band Fragmente (1951).  Das heißt nicht, dass Benns Texte jegliche Effektorientiertheit suspendieren. Ihre Orientierung auf den Effekt ist aber verfahrenstechnisch raffinierter, kunstvoller. Vgl. zu Benns Äußerung „Kunst ist auch Kitsch, will ja auch wirken, verzaubern, hinreißen“ aus einem Brief vom 08. Juni 1932 an Paul und Gertrud Hindemith die These Thomas Wegmanns: „Seine Ästhetik ist in der Tat eine Ästhetik der Ansteckung, die den Rezipienten infizieren und emotional affizieren will und weniger auf rationale Analyse und distanzierte Verarbeitung setzt.“ Thomas Wegmann, Die Moderne tiefer legen. Gottfried Benns Ästhetik der parasitären Störung. In: Gottfried Benns Modernität. Hg. von Friederike Reents, Göttingen 2007, S. 55 – 74, hier S. 73. Die zitierte Stelle aus dem

3.3 Zwischenresümee: Bedeutsamkeit

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Mit den textuellen Figurationen von Bedeutsamkeit geht ein weiterer signifikanter Aspekt einher, der sich an die Frage anschließt, in welchem Maße Literatur ihre eigenen Verfahren bespiegelt. Dabei wird der Text in seiner Rolle als kulturelles Artefakt angesprochen, das in Rezeptionsprozesse eingebunden ist. Die Nobilitierung von im Diffusen verbleibenden Zeichen (‚Konfetti‘, ‚Leben‘ etc.), das Ausstellen von Bedeutsamkeit, so meine These, wirkt auf die literarischen Texte zurück. Auf diese Weise sind Bedeutsamkeitsfigurationen als Mittel zu verstehen, mit dem sich Texte strategisch im Feld positionieren. Dabei ist die Grenze zwischen Selbstnobilitierung und Selbstdesavouierung in hohem Maße durchlässig. Bedeutsamkeitsgenerierende Verfahren eröffnen Spielräume für Kritik. Die Markierung von wie auch immer gearteter, substanzhaltiger ‚Tragweite‘ wird je nach Diskursposition als substanzloses ‚Raunen des Textes‘ gescholten oder als tiefgründige Textqualität gefeiert. Sowohl die kritische Rezeption der Prosatexte Bölls innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses als auch die gemischten Rezensionen der späten Gedichte Benns belegen dies.²²⁴ Die ‚harten Unterlagen‘ der Marburger Poetologie gehen implizit auf diese Kritik ein, greifen sie vorweg. Damit bilden Benns Realien gleichermaßen den sprachlichen Gegenpol sowie die Möglichkeitsbedingung der Überhöhungen innerhalb seiner späten Lyrik.

Brief befindet sich in: Gottfried Benn, Briefwechsel mit Paul Hindemith. Hg. von Ann Clark Fehn, Wiesbaden und München 1978, S. 59 – 61, hier S. 60.  Karl Krolow ist ein solcher Kritiker der Lyrik Benns. Anlässlich der Destillationen hebt er „einige kleinere Gedichte“ des Bandes begeistert hervor. „[H]errliche Stücke“, darunter das Oberflächen verhandelnde „Bar“, würden für die „Attrappenschönheit“, die „Plattheiten“ anderer Gedichte „entschädig[en]“. „Aus dem Destillat der lyrischen Rede wird“ ein „prekäres Gebräu“. „Ein gewisses literarisches Make-up“ ist „im Wege, das es versteht, sich schwarze Schatten unter die Augen zu schminken“. Karl Krolow, Subtilität und Plattitüde. Gottfried Benn: ‚Destillationen‘ [1953]. In: Über Gottfried Benn. Kritische Stimmen. 1912– 1956, hg. von Bruno Hillebrand, Frankfurt a. M. 1987, Nr. 74, S. 244– 246, hier S. 246 (zuerst in: Die Neue Zeitung, 9, 150, 27./28.06. 1953, S. 19).

4 De- und Re-Mythisierung. Alfred Andersch: Der Tod des James Dean 4.1 Ein diskursives Relais Im Unterschied zu zahlreichen Autorinnen und Autoren der frühen Bundesrepublik führte der Weg von Alfred Andersch nicht aus der Literatur ins Radio, sondern umgekehrt aus dem Radio und der Presse in die Literatur. Zeitweise war ihm die redaktionelle Leitung von Kulturprogrammen des NWDR und des HR gleichzeitig überantwortet.¹ Gewiss sorgte der autobiografische Bericht Die Kirschen der Freiheit (1952), in dem die Desertion an der italienischen Front als ein Akt der freien Entscheidung zur Demokratie heroisiert wird, für literarische Aufmerksamkeit. Mit der Desertion aus der Wehrmacht schnitt der Text ein heikles Thema an. Eine Debatte war Andersch, der so etwas gut zu nutzen wusste, gesichert.² Vor und nach dem Romandebüt dominieren jedoch Rundfunk- und Pressearbeit.

 Vgl. Stephan Reinhardt, Alfred Andersch. Eine Biographie, Zürich 1996, S. 194– 199. Auf die enge Bindung von Literatur und Hörfunk in der frühen Bundesrepublik wurde an verschiedenen Stellen hingewiesen. Das Radio verschafft den Autorinnen und Autoren Gehör im Rahmen diverser Kultursendungen und bietet mit der Gattung Hörspiel eine wichtige, zusätzliche Einnahmequelle. Vgl. zum Hörspiel der 1950er Jahre instruktiv: Thomas Koebner, Parabelernst und Konversationskomik. Das Hörspiel der fünfziger Jahre. In: Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. Hg. von Wilfried Barner et al., München 22006, S. 244– 259; sowie HansJürgen Krug, Kleine Geschichte des Hörspiels. Konstanz 22008, S. 51– 80.  Bekanntlich wird diese Stilisierung der Freiheit auch Jahrzehnte später zu einem Zankapfel, als der in Großbritannien lebende Schriftsteller W. G. Sebald in einer harschen Polemik auf Anderschs opportunistische Rolle im Dritten Reich hinweist. „Literatur“ sei hier, so Sebald, hauptsächlich ein „Mittel zur Begradigung des Lebenslaufs“ und kaum als Kunstform zu bezeichnen.W. G. Sebald, Der Schriftsteller Alfred Andersch. In: Sebald, Luftkrieg und Literatur. Mit einem Essay zu Alfred Andersch, Frankfurt a. M. 72001, S. 111– 148, hier S. 144. Eine Debatte entzündet sich, in der dem Autor Andersch freilich nur eine „Stellvertreterfunktion“ zukommt. Vielmehr wird generell nach dem Zusammenhang von Biografien, Drittem Reich und narrativer Aufarbeitung nach 1945 gefragt. Norman Ächtler, Einleitung: Alfred Andersch – Engagierte Autorschaft im Literatursystem der Bundesrepublik. In: Alfred Andersch. Engagierte Autorschaft im Literatursystem der Bundesrepublik, hrsg. von Norman Ächtler, Stuttgart 2016, S. 1– 42, hier S. 14. Zur grundlegenden Aufbereitung dieser Debatte vgl. den Sammelband von Jörg Döring / Markus Joch (Hg.), Alfred Andersch ‚revisited‘. Werkbiographische Studien im Zeichen der Sebald-Debatte, Berlin / Boston 2011. https://doi.org/10.1515/9783110739947-004

4.1 Ein diskursives Relais

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Andersch war als Redakteur und Netzwerker gefragt.³ Seine eigenen Versuche im Bereich des Hörspiels, etwa Biologie und Tennis (1950), dessen Titel auf einen Vers aus Benns Gedicht „Die Dänin“ (1925) referiert, Piazza San Gaetano oder Fahrerflucht (beide 1957), erhielten dagegen mäßige bis gemischte Kritiken. Dies ändert sich 1959 mit dem Umzug nach Berzona ins schweizerische Tessin, wo er sich von der Arbeit als Redakteur zurückzieht. Andersch lebt fortan als freier Autor. In Berzona beendet er die Radioarbeit Der Tod des James Dean (1959), eine „Funkmontage“, so die paratextuelle Bezeichnung.⁴ Das Manuskript geht an Hubert Berchtoldsheim, den Hörspielleiter des SWF, der von der Arbeit angetan ist. Der Regisseur Friedhelm Ortmann realisiert das Stück mit etablierten Sprechern wie Ludwig Cremer oder Heinz Schimmelpfennig, die den Zeitgenossinnen und Zeitgenossen etwa aus der Hörspielfassung des Romans Am grünen Strand der Spree (1956) bekannt sind. Am 01. September 1959 wird Der Tod des James Dean abends um 20 Uhr im SWR ausgestrahlt, noch im nächsten halben Jahr folgen zwei Wiederholungen.⁵ Der Tod des James Dean drängt sich als Gegenstand auf, wenn man nach den Relationen von Hoch- und Populärkultur in der Literatur der frühen Bundesrepublik fragt. Die Radioarbeit übersetzt englischsprachige Texte unterschiedlicher Provenienz und Gattung und montiert sie zu einer Reflexion über jugendkulturelles Revoltieren in der spätkapitalistischen Gesellschaft. Anderschs Hörspiel, dem die Forschung bislang kaum Beachtung geschenkt hat, fungiert als ein diskursives Relais, über das sich das Verhältnis zwischen US So arbeitete Andersch etwa für Rundfunkanstalten in Frankfurt am Main, Hamburg und Stuttgart. Im HR brachte Andersch mehrfach Theodor W. Adorno und Max Horkheimer vor die Mikrofone. Seinen Kollegen Günter Eich, Arno Schmidt und Wolfgang Koeppen verschaffte er lohnenswerte Aufträge für den Hörfunk. Auf diese Weise entstanden diverse Hörspiele sowie die idiosynkratischen Radio-Essays (1955 – 1961) von Schmidt, der mit oberlehrerhaftem Gestus den deutschen Kanon reorganisierte. Beim Süddeutschen Rundfunk stellte sich Andersch ein Team zusammen, das sich wie ein (weiteres) Potpourri der deutschen Nachkriegsliteratur liest. HansMagnus Enzensberger, Martin Walser und Helmut Heißenbüttel zählten in Stuttgart zu den Mitarbeitern des Radiomachers.Vgl. Reinhardt, Alfred Andersch. Eine Biographie, S. 178 f., 253 f., 264, 267.  Alfred Andersch, Der Tod des James Dean. Eine Funkmontage [1959]. In: Andersch, Gesammelte Werke in zehn Bänden. Kommentierte Ausgabe, hg. von Dieter Lamping, Bd. 7, Zürich 2004, S. 203 – 235.  Daraufhin wird es erst 1985 und 2013 wieder gesendet. 1997 legt der Bayerische Rundfunk ein Remake mit den Schauspielern Ben Becker und Christian Berkel in Sprechrollen vor. Zu dieser Aktualisierung der Regisseurin Barbara Schäfer vgl. Martin Maurach, Pop und Neues Hörspiel. Überlegungen zum Höreindruck einiger exemplarischer Stücke. In: Pop-Literatur. Hg. von Heinz Ludwig Arnold, München 2003, (text + kritik. sonderband) S. 104– 115, hier S. 106 f.

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4 De- und Re-Mythisierung. Alfred Andersch: Der Tod des James Dean

amerikanischer und bundesrepublikanischer Literatur und Populärkultur der späten 1950er Jahre eruieren lässt. Dabei ist die Kategorie ‚Übersetzung‘ in doppelter Hinsicht signifikant, sie hat gleichermaßen textuelle sowie kulturelle Implikationen.⁶ Welche interpretativen Schlüsse lassen sich aus der Wahl einzelner Übersetzungsbegriffe ziehen? Welche kulturellen Rekontextualisierungen vollzieht Anderschs Translation? Wie lassen sich amerikanische Texte in bundesrepublikanische Paradigmen übersetzen? Es sind vor allem die Texte der Beat Generation, die Texte ihrer Vorgängerinnen und Vorgänger sowie der Starkult um den verstorbenen Schauspieler Dean, die über das Hörspiel in den Blick geraten. Des Weiteren stellt Anderschs Montage eine der wenigen literarischen Auseinandersetzungen mit der Kultur der Halbstarken der Nachkriegszeit dar, jener losen ‚amerikanisierten‘ Jugendbewegung aus Rock’n’Roll und Renitenz, Haartollen und Mopeds, die als „erste[s] transnationale[s] Identitätskonzept im Namen des Pop“ gehandelt wird.⁷ Den amerikanischen beziehungsweise ‚amerikanisierten‘ Kulturphänomenen begegnet Der Tod des James Dean sowohl mit Aversion als auch mit Affinität, mit Distinktionsbemühungen und Aneignungsversuchen. Diese spannungsreiche Relation ist seit jeher kennzeichnend für die Rezeption der USA in Europa. So fungiert Amerika – das ist im Hörspiel nicht anders – als „phantasmatische Hilfskonstruktion“, als Projektionsfläche, die es erlaubt, europäische Sachverhalte zu reflektieren, Selbst- und Fremdverortung zu betreiben.⁸

4.1.1 Die „finstere Jugend“ im Radio Die eigenwillige paratextuelle Bezeichnung von Der Tod des James Dean, ‚Funkmontage‘, erinnert an Features, mit denen Andersch zuvor im Radio reüssiert (er ist ab 1952 Mitglied der Feature-Redaktion des NWDR). Features sind Mischformen aus Spielszenen, Interviews, Reportagen und literarischen Textformen, die häufig

 Zur Entwicklung der Übersetzung von einer philologischen zu einer kulturwissenschaftlichen Kategorie vgl. Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 62018, (rowohlts enzyklopädie) S. 239 – 284.  Bodo Mrozek, Halbstark! Aus der Urgeschichte der Popkultur. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 7, 2008, S. 630 – 635.  Vgl. Angelika Linke / Jacob Tanner, Einleitung. Amerika als ‚gigantischer Bildschirm Europas‘. In: Attraktion und Abwehr. Die Amerikanisierung der Alltagskultur in Europa, hg. von Angelika Linke und Jacob Tanner, Köln / Weimar / Wien 2006, (alltag & kultur. Bd. 11) S. 1– 33, hier S. 3.

4.1 Ein diskursives Relais

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einen kritischen Kommentar zu gesellschaftlich aktuellen Problemen liefern.⁹ So macht es Andersch etwa in Position 1951. Menschen im Niemandsland der Zeit, in dem vor atomaren Gefahren gewarnt wird.¹⁰ Der Tod des James Dean knüpft in Teilen an diese Form an. Im Zentrum der Radioarbeit stehen ein Bericht von John Dos Passos über Deans tödlichen Autounfall (1955) sowie eine Reportage von Robert Lowry über den Schwergewichtsboxkampf zwischen Jake „The Raging Bull“ LaMotta und „Sugar“ Ray Robinson (1951) – zwei ikonische Ereignisse, die die Presse der Zeit mehrere Jahre beschäftigen. Der Boxkampf zwischen LaMotta und Robinson wird in Anderschs Text zu einem Generationenkonflikt, einem Zweikampf zwischen David und Goliath stilisiert. Daneben verwendet das Hörspiel amerikanische Lyrik, etwa von E. E. Cummings oder Allen Ginsberg. Auszüge aus diesen Texten wechseln sich ab und werden von einem Sprecher mit Kommentaren ergänzt. Hinzu kommt die Jazzmusik von Miles Davis aus dem französischen Film Fahrstuhl zum Schafott (Ascenseur pour l’échafaud, 1958) von Louis Malle. Das Ergebnis dieses kontextreichen Konglomerats ist ein Schwellentext. Der Stoff weist vorsichtig in Richtung Pop-Phase der 1960er Jahre, trägt jedoch den bedeutungsschwangeren Ton der Hörspiele des vorherigen Jahrzehnts. Bevor Der Tod des James Dean in den Fokus der Analyse rückt, geht es in kursorischer Form um die Hintergründe und Merkmale dieses signifikanten Tons, der zahlreiche Hörspiele der frühen Bundesrepublik prägt. Es sind vor allem Günter Eichs Träume (1951), die mit ihrem bedeutungsgesättigten Sound einen Orientierungspunkt für folgende Hörspiele setzen. „Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!“,¹¹ lautet die imperativisch vorgebrachte, mit der für Konstellationen des Bedeutsamen einschlägigen Weltvokabel operierende Schlussmetapher des Hörspiels, das zunächst fünf, in einer späteren Fassung von 1954 sechs alptraumhafte Szenen liefert. Direkt der

 Nach Felix Kribus ist das Feature „eine Rundfunksendung, die akustische Teile (Sprache, Geräusch und Musik) zu verschiedenen inhaltlichen und zeitlichen Zusammenhängen, zu einem Thema (Person oder Sache) ästhetisierend verarbeitet, d. h. synthetisiert, und dabei eigenproduktiv eine neue Realität für den Hörer erschafft“. Genrebildend ist dabei der Bezug auf Realexistierendes. Felix Kribus, Das deutsche Hörfunk-Feature. Geschichte, Inhalt und Sprache einer radiogenen Ausdrucksform, Stuttgart 1995, S. 13. Vgl. zum Feature als Gattung der 1950er Jahre auch die Überlegungen von: Christian Gerlinger, Die Zeithörspiele von Ernst Schnabel und Alfred Andersch (1947– 1952). Von der Aufhellung der Aktualität zu ihrer dichterischen Durchdringung, Münster 2012, (Schriftenreihe der Stipendiatinnen und Stipendiaten der Friedrich-Ebert-Stiftung. Bd. 39) S. 26 – 32.  Vgl. dazu Reinhardt, Alfred Andersch. Eine Biographie, S. 195.  Günter Eich, Träume. In: Eich, Gesammelte Werke. Hg. von Heinz Schwitzke, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1973, S. 288 – 322, hier S. 322.

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erste Traum, in dem eine Familie im zugesperrten Eisenbahnwaggon eine surreale Landschaft an sich vorüberziehen sieht, ruft für die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen gegenwärtige Traumata wie Deportation, Vertreibung und Flucht auf (ohne diese jedoch expressis verbis zu benennen oder mit einem historischen Index zu versehen). Im zweiten Traum wird ein chinesisches Kind verkauft und geopfert, sein Blut soll die Gebrechen eines älteren Herren kurieren. Stets sind es solche verstörenden, Ängste hervorrufenden, teils drastischen Konstellationen, die Eichs Träume im für das Hörspiel der 1950er Jahre typischen reduzierten Tonfall, mit möglichst wenig Geräuschkulisse skizzieren. In der Forschung hat man die Träume als einen allegorischen Kommentar zur „existenzielle[n] Ausgesetztheit und Unbehaustheit“ des Menschen nach 1945 gelesen.¹² Genauso zur Hörspielgeschichte wie Eichs Träume selbst gehören die legendären Hörerinnen- und Hörerreaktionen, die die Ausstrahlung des Hörspiels nach sich zog. Zahlreiche Unmutsbekundungen gingen beim NWDR ein, die wiederum verdeutlichen, welche Reichweite und Brisanz die Gattung ‚Hörspiel‘ zu dieser Zeit entfalten konnte. Zum Teil noch während der Ausstrahlung erreichten den Sender entrüstete Anrufe und Forderungen nach leichterer Kost für den gemeinsamen Abend vor dem Radio. Anlass des Unmuts war vor allem der zweite Traum. An Kritikerlob für Eichs Träume mangelte es dagegen nicht. Gerhard Prager bezeichnete die Radioarbeit, so seine häufig zitierte, emphatische Formulierung, als die „Geburtsstunde des deutschen Hörspiels“.¹³ Für Heinz Schwitzke, den langjährigen Leiter der Hörspielabteilung des NWDR (1951– 1971), bildeten die Träume gar ein „Eich-Maß“ aus, an dem sich spätere Radioarbeiten messen lassen mussten.¹⁴ Schwitzke ist es auch, der 1963 eine gleichermaßen umfangreiche wie einflussreiche Abhandlung zum deutschsprachigen Hörspiel vorlegt. Seine Monografie Das Hörspiel. Dramaturgie und Geschichte, die Eich gleich mehrere Kapitel widmet, entfaltet eine normative Poetik ästhetischer Radioarbeiten nach 1945. Nach Schwitzkes Einschätzung gehen Hörspiele über bloß realistische Darstellungen hinaus. Dabei sind sie dem Lyrischen näher als dem Theater oder dem Film, wenngleich sie mit diesen Kunstformen den dramatischen Aufbau sowie die Technik des Schnitts beziehungsweise die Technik der ‚Blende‘ teilen.¹⁵ Um sei-

 Koebner, Parabelernst und Konversationskomik. S. 96.  Gerhard Prager zit. nach Heinz Schwitzke, Das Hörspiel. Dramaturgie und Geschichte, Köln / Berlin 1963, S. 282.  Schwitzke, Das Hörspiel. S. 332.  Zum Hörspiel und seinen Berührungspunkten mit den Gattungen Theater, Film und Lyrik vgl. auch Koebner, Parabelernst und Konversationskomik. S. 245 f.

4.1 Ein diskursives Relais

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nen Punkt zu verdeutlichen, setzt Schwitzke eine innere und eine äußere „Schicht“ des Hörspiels in Relation: Es ist im Hörspiel undenkbar, eine äußere, Bild und Handlung vermittelnde Schicht und eine innere, in der die Ideen wohnen, zu trennen. Durch Stimme und Wort wird zwar Äußeres, „Schauplatz“ und Szene, wenn es so etwas gibt, und das Hin und Her der Gestalten wiedergegeben, so daß sie anschaubar werden. Gleichzeitig aber – und zwar wirklich gleichzeitig: im selben Wort – wird über das Anschaulich-Bildliche hinweg oder aus ihm heraus noch das andere übermittelt. Und zwar geschieht das nicht nur innerhalb des Werks in Dialog und Auseinandersetzung zwischen den Figuren, sondern mehr noch direkt zwischen Werk und Hörer ohne ausdrückliche Darlegung und Auseinandersetzung, dadurch, daß die Vorgänge und Bilder spürbar mehr meinen als äußere Realität.¹⁶

Hörspiele, wie Schwitzke sie versteht und schätzt, überformen die Verkettung dargestellter Szenen und Bilder – die Rede ist von einem „schnelle[n] Zerfließen der Bilder“ –¹⁷ mit sekundärer Bedeutung, etwa durch Metaphern, Symbole, durch Allegorien, Parabeln etc. Eben durch diese Annäherung an den lyrischen Ausdruck, durch seine gesteigerte Poetizität oder besser: Lyrizität, entferne sich das Hörspiel von einem „naiven Realismus“.¹⁸ Dem Akt des Hörens, der „Imagination“ der Hörerinnen und Hörer, kommt dabei eine zentrale Rolle zu: „Indem der Vorstellungskraft der Hörer immer neue Anstöße gegeben werden müssen, weckt die Nachdrücklichkeit des bildschöpferischen Vorgangs stets auch die Vermutung, daß die Bilder hintersinnig und bedeutend seien, und diese Vermutung darf nicht enttäuscht werden.“¹⁹ Lyrizität statt Realismus, Hintersinn und Bedeutendes / Bedeutsames statt denotativer Figuration – so lassen sich signifikante Parameter der Hörspielpoetik im Sinne Schwitzkes zusammenfassen. Dieser Einschätzung weitestgehend folgend, hat die jüngere Forschung den hohen Anteil „parabelhafter Überhöhung“ sowie die Dominanz des Todesmotivs im Hörspiel der 1950er Jahre hervorgehoben.²⁰ Die Arbeiten der Hörspielautorinnen und -autoren kreisen wiederholt um Fragen nach der menschlichen Existenz, die das von Schwitzke skizzierte Programm des Hintersinns, des Bedeutenden / Bedeutsamen besonders gut zu bedienen wissen. Sucht man einen Kulminationspunkt so unterschiedlicher, für die Nachkriegszeit zum Teil prä-

 Schwitzke, Das Hörspiel. S. 194.  Schwitzke, Das Hörspiel. S. 195.  Dazu heißt es ferner: „Die dichterische Sprache aber, insonderheit die Sprache der Lyrik und die Sprache des Hörspiels, sind gekennzeichnet durch die unablässige Bemühung, das Bild und das Bedeuten zu einer Einheit zusammenzuzwingen.“ Schwitzke, Das Hörspiel. S. 195.  Schwitzke, Das Hörspiel. S. 194 und 195.  Koebner, Parabelernst und Konversationskomik. S. 253.

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gender Radioarbeiten wie Eichs Träume, Fred von Hoerschelmanns Das Schiff Esperanza, Ilse Aichingers Knöpfe (beide 1953), Ingeborg Bachmanns Der gute Gott von Manhattan (1958) und selbst Friedrich Dürrenmatts Abendstunde im Spätherbst (1957) oder Wolfgang Hildesheimers Herrn Walsers Raben (1960), die punktuell mit heiteren, humoristischen Tönen operieren, ist es „die Auffassung“, „daß die Existenz des Menschen gefährdet, verstört, beängstigend ist“, wie Thomas Koebner konstatiert.²¹ Anderschs Der Tod des James Dean korrespondiert mit der dargelegten Verfasstheit des Hörspiels. Hinsichtlich des lyrischen Ausdrucks ist das schon wegen der Montage der amerikanischen Gedichte der Fall. Auch mit der Existenzialisierung seines Gegenstands, mit Todesmotivik und der mit ihnen verbundenen Installierung des Bedeutsamen wartet Andersch auf. Aufgrund seines dem Feature nahestehenden Montageverfahrens unterscheidet sich Der Tod des James Dean jedoch vom ‚klassischen‘ Hörspiel. Vielmehr bewegt sich Anderschs Arbeit zwischen den beiden Formen. Auch hat sein Textkonglomerat, also Reportage, Bericht, Lyrik, Sprecherkommentar und Jazz, eine konkrete gesellschaftliche Dimension, die den Hörspielen der 1950er Jahre in dieser Weise eher fremd ist. So sind in den ästhetisch ambitionierten Hörspielen der Zeit – ganz ähnlich wie in den Großgattungen Prosa, Lyrik und Drama – Bezugnahmen auf Populäres, etwa auf Figuren der Öffentlichkeit wie James Dean oder jugendkulturelle Musikstile wie den Rock’n’Roll, eher eine Seltenheit. In der expositorischen Vorrede des „Sprecher[s]“ heißt es erklärend zur Auswahl der Texte und zur Stoßrichtung von Der Tod des James Dean: Gegenübergestellt werden in dieser Sendung zwei Gruppen von Texten. Da ist einmal der Bericht des amerikanischen Schriftstellers John Dos Passos über Leben und Tod des Schauspielers James Dean. In den Ausschnitten aus dem großen Gedicht des jungen Allen Ginsberg, das den Titel Geheul trägt, weitet sich die einfache Reportage Dos Passos’ aus zum Bericht vom Seelenzustand derer, die man ‚die finstere Jugend Amerikas‘ nennt, oder auch ‚die geschlagene Generation‘. Allen Ginsberg wurde mit diesem Gedicht ihr Sprecher. Da ist zum anderen der Bericht des Journalisten Robert Lowry über den Weltmeisterschaftskampf im Mittelgewicht zwischen Ray Robinson und Jake La Motta. Zu ihm gehören die Stimmen einiger älterer, aber noch nicht sehr alter Dichter Amerikas, wie E. E. Cummings, Kenneth Patchen, Kenneth Rexroth, Robinson Jeffers und Delmore Schwartz. Zwischen dem Boxkampf in Chicago und dem Tod von James Dean liegt ein Zeitraum von etwa fünf Jahren. In diesen fünf Jahren hat sich entwickelt, was in einer Gestalt wie James Dean und in einem Gedicht wie dem von Allen Ginsberg Gestalt gewann. In den Texten der Älteren, in der Figur des Boxers Ray Robinson, wie Lowry sie zeichnet, ist die Stimmung fünf Jahre später vorgeformt. Die Dichter wissen mehr.

 Koebner, Parabelernst und Konversationskomik. S. 259.

4.1 Ein diskursives Relais

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Deshalb wurden diese Dokumente ineinander montiert. Und weil die finstere Jugend da ist, unter uns. In Amerika, in Russland, überall. In Amerika hat sie bereits zur Sprache gefunden. Darum ist es möglich, von ihr zu sprechen.²²

Ludwig Cremer, Jahrgang 1909, hat der Figur des ‚Sprechers‘ seine Stimme geliehen.²³ Er intoniert ihn sachlich, prononciert und gibt der Einführung in das Thema einen reifen, adult wirkenden Einschlag. Typisch für das Radio der Zeit ist die harte, allemanisierte Aussprache englischer Vokabeln, die auch bei Cremer hervortritt, etwa bei den Namen der Lyriker „Ginsberg“, „Rexroth“ und „Schwartz“. Durch solche phonetischen Aspekte, den Klang der Stimme und die Aussprache, verdeutlicht der Text die Distanz, die zwischen ihm und seinem Gegenstand besteht. Der Tod des James Dean pflegt einen externen Zugriff auf das von ihm Behandelte. Dieser Blick von außen zeigt sich im Falle der amerikanischen Lyrik ebenso wie im Falle der ‚jungen Generation‘. In der Exposition fällt die Aufweichung der Opposition zwischen Journalismus und Kunst auf. Der Text baut die Opposition zunächst auf, indem er Ginsbergs ‚großes Gedicht‘ der ‚einfachen Reportage‘ von John Dos Passos gegenüberstellt. Dos Passos, das ist das Irritierende an diesem Vergleich, hat keine simple Form für seine Reportage gewählt, vielmehr bildet sein Text die Vorlage für Anderschs Montageverfahren. Den Beitrag mit dem Titel „The Death of James Dean“ veröffentlicht Dos Passos im Herrenmagazin Esquire (Oktober 1958); eventuell ist diese Publikationsumgebung ein Grund für das etwas despektierliche Adjektiv.²⁴ James Dean ist zu diesem Zeitpunkt ein Star. Auch Jahre nach seinem Tod interessieren sich sowohl die Boulevardpresse als auch Intellektuelle für Dean und die Umstände seines Autounfalls. Die BRAVO schickt noch 1958 einen Journalisten zur kalifornischen Unglücksstelle, spekuliert über Suizid und lässt den Reporter Informationen von Einheimischen einholen.²⁵ Im Versandhandel, informiert die Jugendzeitschrift, kann man „James Dean Jacken“ für „63,90“ kaufen. Das Filmduo Dietmar Schönherr und Maria Perschy bewirbt die Kombination aus Wildleder und Merinowolle im schmalen „TV-Schnitt“ vor pinkfarbenem Hinter-

 Andersch, Der Tod des James Dean. S. 205 f.  Ein Jahr vor Der Tod des James Dean spricht Cremer die Hauptrolle in Ernst Schnabels Hörspieladaption von Boris Pasternaks Roman Doktor Schiwago (1957).  Die Zeitschrift Esquire. Magazine for Men (seit 1933) war, ähnlich wie später der Playboy, ein etabliertes Publikationsorgan für US-amerikanische Autorinnen und Autoren. Zu den Beiträgern der 1930er Jahre zählten unter anderem Ernest Hemingway und F. Scott Fitzgerald.  Vgl. o.V.: War das Selbstmord? Nach anderthalb Jahren kommt endlich die Wahrheit ans Licht. In: BRAVO, 10, 1958, S. 10 – 13; sowie die Fortsetzung des Artikels: o.V.: Hier lauerte der Tod!, in: BRAVO, 11, 1958, S. 10 – 12.

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grund – und sieht darin dem amerikanischen Schauspieler nicht einmal entfernt ähnlich (vgl. Abb. 13).²⁶ Zurück zum Hörspiel: Erst das gerühmte „Geheul“, so die Argumentation des Sprechers, reichert den Text an, weg von den prosaischen Beschreibungen, vom ‚naiven Realismus‘ kann man mit Schwitzke formulieren, hin zum ‚Seelenzustand‘ der ‚finsteren Jugend Amerikas‘ beziehungsweise ‚der geschlagenen Generation‘.²⁷ Mit Allen Ginsberg und der ‚geschlagenen Generation‘ ruft die Exposition Schlagbegriffe auf, die im literarischen Diskurs der Zeit verbreitet sind. Ginsbergs Howl and other Poems (1955) erscheint 1959 unter dem Titel Das Geheul und andere Gedichte im Limes Verlag in Wiesbaden. Auch in der Bundesrepublik umweht den Band das Odeur eines Kultbuchs. So ist die rotschwarze Umschlaggestaltung der Erstveröffentlichung des Hörspieltextes von Anderschs Der Tod des James Dean, die 1960 vom Schweizer Journalisten Hans Rudolf Hilty besorgt wird, sichtlich der deutschen Ausgabe von Howl nachempfunden (vgl. Abb. 14 und 15).²⁸ Walter Höllerer, als Schriftsteller, Kritiker und Germanist sowie Mitglied der Gruppe 47 im literarischen Feld der Nachkriegszeit umtriebig, hat das Nachwort zur deutschen Ausgabe von Howl verfasst. Höllerer fungiert als zentraler Vermittler der Beat Generation in der Bundesrepublik.²⁹ Im Beitrag „Junge ameri Vgl. o.V.: Für die BRAVO Leser! In: BRAVO, 46, 1958, S. 31. Die Österreicher Schönherr und Perschy stehen 1958 gemeinsam im Skifilm Der schwarze Blitz vor der Kamera (R.: Hans Grimm). Die braven Jacken, die von ihnen in der Anzeige beworben werden, würden sich gut in einer Bergkulisse machen. Sie sind wohl vage einem Wildlederoutfit nachempfunden, das Dean in Giant trägt (R.: George Stevens, 1956).  Dass das Hörspiel aber selbst zwischen prosaischer Verfasstheit und ästhetischer Überformung changiert, deutet sich durch ein in diesem Zusammenhang auffälliges Nomen an. Auch das „Geheul“ wird letztlich als „Bericht“ etikettiert. Lyrik und Journalismus – anders ausgedrückt: Hörspiel und Feature – vermischen sich im Zuge der Montage.  Vgl. Alfred Andersch, Der Tod des James Dean. Eine Funkmontage von Alfred Andersch. Mit neun Fotos, St. Gallen 1960. Im Band von Hilty befinden sich Schwarzweißfotografien von James Dean, Miles Davis sowie Ray Robinson und Jake LaMotta. Mit ihnen wird die bildliche Komponente des Starkults nach 1945 hervorgehoben.  Die Rezeption der Beat Generation in der Bundesrepublik wurde jüngst von Charis Goer untersucht. Neben der erfreulichen Tendenz, die frühe Pop-Kultur in kulturwissenschaftlicher Hinsicht intensiver als bislang geschehen in den Blick zu nehmen, wäre es zielführend, die Differenzen zwischen den verschiedenen Entwicklungen zu berücksichtigen, die Entwicklungen also relational zu betrachten, um ein differenzierteres Bild der Pop-Vorläufer zu erhalten. Wie es von Mrozek im Falle der ‚Halbstarken‘ konstatiert wurde, ist die Beat Generation für Goer „wegweisend für spätere Jugendkulturen weltweit. Die Beatniks sind geradezu prototypisch für das sich formierende Konzept ‚Pop‘“. Goer erläutert dies mit Diederichsen, der auf den progressiven Umgang der Popkultur mit kulturellen Codes, vor allem die Kategorien race, class und gender betreffend, hinweist. Charis Goer, Die neuen Barbaren. Frühe Rezeption der Beat Generation in Westdeutschland. In: Die amerikanischen Götter. Transatlantische Prozesse in der deutschspra-

4.1 Ein diskursives Relais

Abb. 13: James Dean-Jacken in der BRAVO, 46, 1958. Abb. 14 und 15: Buchgestaltung in Rot und Schwarz.

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kanische Literatur“ in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Akzente (Juni 1959) bespricht Höllerer Gedichte von Ginsberg und Gregory Corso.³⁰ Sein Artikel beginnt mit der Feststellung, dass die „‚zornigen jungen Männer‘“ zu „einer Redensart geworden“ sind.³¹ Die von Höllerer erwähnte Formulierung ist der britischen Literatur entlehnt. Autoren wie John Osborne (Look Back in Anger, 1956) oder Kingsley Amis (Lucky Jim, 1954) installieren in ihren Dramen und Prosatexten Antihelden, kritisieren Entfremdungserfahrungen in der Klassengesellschaft und werden daraufhin von der Presse als ‚Angry Young Men‘ bezeichnet.³² Rasch verselbstständigt sich das Etikett, mit dem ausgehend von der Literatur gesellschaftliche Ungleichheiten in den Fokus rücken. Eine Ausprägung dieses „Protest[s]“ findet sich, so Höllerers Artikel, in der amerikanischen „‚beat generation‘“.³³ Der Begriff ‚Beat Generation‘ regt unterschiedliche Übersetzungsversuche an. „Zunächst heißt ‚beat‘ ‚todmüde‘, ‚widerstandslos‘, ausgelaugt durch ein Aufgebot von Propaganda-Argumenten und widersprüchlichen Erziehungsmethoden.“ Eine eigenwillige Differenzierung dieser Translation leitet über zum Schauspieler James Dean. Mit ‚beat‘ verbinde sich weniger „das deutsche ‚geschlagen‘, als vielmehr ‚auf sich konzentriert‘, ‚nach inwärts gerichtet‘, und auf solche Weise impulsiv.“³⁴ Damit kommt aber eine Ambivalenz in das Wort, die schon eher den Texten dieser Autoren entspricht: harte Passivität und neu gerichtete, gespannte Aktivität. Nicht von ungefähr wurde

chigen Literatur und Popkultur seit 1945, hg. von Stefan Höppner und Jörg Kreienbrock, Berlin / München / Boston 2015, (FRIAS. linguae & litterae. Bd. 46) S. 47– 64, hier S. 60.  Zur frühen Vermittlung US-amerikanischer Lyrik in der Bundesrepublik, etwa in der Zeitschrift fragmente des Freiburger Autors Rainer Maria Gerhardt vgl. Agnes C. Müller, Lyrik „made in USA“. Vermittlung und Rezeption in der Bundesrepublik, Amsterdam / Atlanta, GA 1999, (Internationale Forschungen zur allgemeinen und vergleichenden Literaturwissenschaft. Bd. 36) S. 49 – 66.  Der Text bildet den Auftakt der Rubrik „Akzente stellen vor“, die „Dokumente und Kommentare zu modernen Dichtungen“ liefert, „die dem Leser noch wenig bekannt sind; und zwar zu deutschen und ausländischen, soweit die fremdsprachigen Dokumente für die deutsche Literatur förderlich sind“. Walter Höllerer, Junge amerikanische Literatur. In: Akzente. Zeitschrift für Dichtung, 6, 1959, S. 29 – 43, hier S. 29.  Vgl. Ingrid Kreuzer, Entfremdung und Anpassung. Die Literatur der Angry Young Men im England der fünfziger Jahre, München: Winkler 1972, (Reihe Schnittpunkt) S. 8 – 10. Vgl. auch Colin Wilsons in die Debatte um die Angry Young Men aufgenommene Studie über Künstlerbiografien als Außenseiterbiografien Colin Wilson, Der Outsider. Eine Diagnose des Menschen unserer Zeit [1956], Stuttgart 1957.  Höllerer, Junge amerikanische Literatur. S. 29.  Höllerer, Junge amerikanische Literatur. S. 29.

4.1 Ein diskursives Relais

233

James Dean zum Mythos: nämlich durch die wache Skepsis und den Zynismus gegenüber dem laut Propagierten, aber auch durch das Leiden daran; durch die beharrliche, lauernde und verständnisvolle Suche nach Verschüttetem und Bedrängtem, durch eindrucksvolle Gestik der Langeweile und des Aufbruchs, der Apathie und der Dynamik.³⁵

Die Parallelisierung der Beat Generation und James Deans ist keine Idee Walter Höllerers. John Clellon Holmes, einer der ersten Programmdenker der Beatniks und ein enger Freund Jack Kerouacs, rekurriert auf Dean als Idol.³⁶ Auch in der New Yorker Evergreen Review, einem der Publikationsorgane der Bewegung, erscheint 1958 ein Text des französischen Filmkritikers Edgar Morin, der den Schauspieler als „mythisch[en] Held[en]“ figuriert.³⁷ Die Mythisierung James Deans als zeichenhafte zu verstehen, ist ein Zugang der folgenden Analyse. Wenn vom Mythos die Rede ist, meint dies ein kollektiv bedeutsames, konnotierendes Zeichen. In der populären Mythisierung Deans verschmelzen, so lässt sich mit Barthes und Eco festhalten,³⁸ das Zeichen und die von ihm bezeichnete Sache: der Zorn der jungen Generation, vor allem junger Männer, nach 1945.³⁹ Zwei Punkte sind spezifisch für Dean. Erstens ist es die

 Höllerer, Junge amerikanische Literatur. S. 29.  Vgl. John Clellon Holmes, The Philosophy of the Beat Generation [1958]. In: Holmes, Passionate Opinions: The Cultural Essays, Fayetteville, AR 1988, (Selected Essays by John Clellon Holmes. Bd. 3) S. 65 – 77, hier S. 69 – 72.  Edgar Morin, Der Fall James Dean. In: Beat. Eine Anthologie, hg. von Karl O. Paetel, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1962, S. 39 – 45, hier S. 40 (zuerst unter dem Titel: The Case of James Dean. In: Evergreen Review, 5, 1958). Höllerer kannte diesen Text vermutlich. In seinem Beitrag in den Akzenten erwähnt er den Austausch mit Gregory Corso und Don Allen, dem Herausgeber der Evergreen Review. Vgl. Höllerer, Junge amerikanische Literatur. S. 43.  Vgl. Barthes, Mythen des Alltags. S. 278. Eco bezeichnet die „‚Mythisierung‘“, in der Nähe zu Barthes’, „als unbewußte Symbolisierung, als Identifikation des Objekts mit einer Gesamtheit von nicht immer bewußten Zielen, als bildliche Projektion von Neigungen, Hoffnungen und Ängsten“. Umberto Eco, Der Mythos von Superman. In: Eco, Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur. Aus dem Italienischen von Max Looser, Frankfurt a. M. 1987, S. 187– 222, hier S. 187. Zur Mythentheorie vgl. überblicksartig Wilfried Barner / Anke Detken / Jörg Wesche (Hg.), Texte zur modernen Mythentheorie, Stuttgart 2003 (Reclams Universal-Bibliothek. 17642). Zur Begriffsgeschichte des Mythos außerhalb des populärkulturellen Gegenstandsbereichs vgl. kursorisch: Ute Heidmann Fischer, s.v. Mythologie / Mythos. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Harald Fricke, Bd. 2, Berlin / New York, NY 2007, S. 660 – 668.  Zorn ist eine genuin gesellschaftlich fundierte Emotion: „Zuallererst – auch theoriegeschichtlich – geht es in den Diskursen des Zorns um die soziale Dimension, um die Beziehung des Ich oder der eigenen Gruppe zu den anderen, um gesellschaftliche Regeln, ihre Verletzung und die Versuche ihrer Wiederherstellung.“ – „Zornig wird, wer Mangel leidet und dessen Mangel man Geringschätzung entgegenbringt.“ Johannes F. Lehmann, Im Abgrund der Wut. Zur Literatur- und

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Annahme, dass die Gründe seines jugendlichen Aufbegehrens undurchsichtig, womöglich unbegründet sind. Dean wird, so der topisch gewordene Filmtitel, zum Rebel Without a Cause (1955). Zweitens ist es der frühe Unfalltod. Dieses Ende der biografischen Person befördert den Mythos und wird ein Teil von ihm. Es stellt sich die Frage, wie sich Anderschs Funkmontage verfahrensseitig zur omnipräsenten Mythisierung des Schauspielers verhält. Dabei richtet sich das Augenmerk auch auf die von Höllerer beschriebene Ambivalenz von Aktivität und Passivität, welche sich im Hörspiel in struktureller sowie allegorischer Weise bemerkbar macht. Im Anschluss an seine Bemerkung über Dean geht Höllerer näher auf die ästhetische Kontur der Beat Literature ein. Er unternimmt einen Brückenschlag zwischen der Lyrik der jungen Amerikanerinnen und Amerikaner sowie der modernistischen Tradition, um klarzustellen, dass man es mit ernstzunehmender „‚poetry‘“, mit „moderne[m] Text“ zu tun habe. Gottfried Benn wird auf deutscher Seite genannt, für die anglo-amerikanische Tradition fallen die Namen Gertrude Stein, Ezra Pound, E. E. Cummings und William Carlos Williams. Die Literatur der Beat Generation, so das Resümee, sei vielversprechend, da sie an die Moderne anknüpfe und diese weiterentwickele.⁴⁰ Wie verhält sich Anderschs Hörspiel zu dieser Einschätzung? Zur anderen Textgruppe, die montiert wird, gehören neben Lowrys Bericht über den Boxkampf Gedichte von Autoren, die zum Teil als Vorläufer der Beat Generation betrachtet werden, erfährt man in der Vorrede des Sprechers. Darunter befinden sich der erwähnte Cummings sowie Kenneth Rexroth, der als Mentor der jüngeren Auto-

Kulturgeschichte des Zorns, Freiburg i. Br. / Berlin / Wien 2012, (Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae. Bd. 107) S. 20 und 25.  Höllerer wird diese protegierende Vermittlungstätigkeit in seiner mit Gregory Corso herausgegebenen Lyrikanthologie weiterverfolgen. Vgl. Gregory Corso / Walter Höllerer (Hg.), Junge amerikanische Lyrik. München 1961. Dass die bundesrepublikanischen Einschätzungen der literarischen Tendenzen in den USA gemischt ausfallen, zeigen Beiträge des Journalisten Walter Hasenclever aus den Jahren 1958 und 1959. Sein primärer Kritikpunkt ist die Unreife der Texte. Die „Beat Generation“ ergebe sich „sozusagen einer konsolidierten Pubertät, einer Pubertät als Selbstzweck“. Ihre Lyrik sei „zumeist primitiv und polemisch“. „Ob die Beat Generation eine literarische Zukunft hat, ist noch reichlich ungewiss“. Walter Hasenclever, Amerikas junge Schriftstellergeneration. In: Junge amerikanische Literatur. Hg. von Walter Hasenclever, Frankfurt a. M. 1959, S. 7– 14, hier S. 12 und 14. Vgl. auch Walter Hasenclever, Zornig, aber nicht jung. In: Der Monat, 10, 1958, S. 74– 78. Hasenclevers Kritiken orientierten sich an den Polemiken des konservativen US-amerikanischen Journalisten Norman Podhoretz. Vgl. Norman Podhoretz, Die Boheme der Nichtwisser. In: Junge amerikanische Literatur. Hg. von Walter Hasenclever, Frankfurt a. M. 1959, S. 78 – 81.

4.1 Ein diskursives Relais

235

rinnen und Autoren auftritt.⁴¹ Diese Texte sind fünf oder mehr Jahre älter als Ginsbergs „Howl“ und James Deans Unfall, wie ihn Dos Passos beschreibt. Auffällig ist die Relationierung der beiden Textgruppen in der Vorrede des Hörspiels, also Ginsberg und Dos Passos sowie Lowry und die weiteren Gedichte. „In den Texten der Älteren“, heißt es, „ist die Stimmung fünf Jahre später vorgeformt“. Nach einer dramaturgischen Pause folgt ein Satz, der aus der erläuternden Prosa des Sprechers heraussticht: „Die Dichter wissen mehr“.⁴² Mit dieser Setzung lanciert das Hörspiel den Autor als poeta vates, als ‚sehenden Dichter‘, der im Medium der Literatur quasi prophetisch auf Zukünftiges hinweist. Dadurch werden, gemäß der impliziten Schere zwischen ‚jung‘ und ‚alt‘, die Texte „der älteren, aber noch nicht sehr alten Dichter“ valorisiert,⁴³ zu denen in diesem Zuge auch der Bericht über den Boxkampf zählt. Die Relationierung stellt die erste Begründung der Textauswahl dar. In der Formulierung „Deshalb wurden diese Dokumente ineinander montiert“, scheint die gesellschaftsdiagnostische Anlage der Radioarbeit auf.⁴⁴ Man hat es mit Texten zu tun, die einen Zustand dokumentieren sollen. Die Autorfigur Andersch geriert sich dabei als umsichtiger, souveräner Kurator, als Instanz, die sieht, dass in den älteren Texten aktuelle Probleme „vorgeformt“ sind;⁴⁵ dies soll die Selektions- und Kombinationsentscheidungen geleitet haben. In der zweiten Begründung der Auswahl setzt der Sprecher erneut auf kurze, effektvolle Pausen nach den Satzzeichen der Parataxe: „Und weil die finstere Jugend da ist, unter uns. In Amerika, in Russland, überall.“⁴⁶ Durch das Insistieren, die Hyperbel, erhält die nüchterne Exposition einen dringlichen, mahnenden Abschluss. ‚Unter uns‘, ‚überall‘, das mutet, gerade vor dem Hintergrund des Kalten Krieges, wie eine Konspiration an. Literatur, journalistische Texte und im weiteren Sinne auch Musik, Film und Starkult fungieren im Hörspiel, so legt es der Sprecher nahe, als Vehikel eines kritischen Kommentars zur Situation der Jugend. Mangels valider deutscher Beiträge zur Thematik, impliziert die Vorrede, wurde dieser Kommentar auf der Grundlage US-amerikanischer Texte für die

 Andersch hat die Gedichte mit Ausnahme von Cummings aus folgendem Band übernommen: Gedichte aus der neuen Welt. Amerikanische Lyrik seit 1910, eingeleitet und übertragen von Kurt Heinrich Hansen, München 1956.  Andersch, Der Tod des James Dean. S. 205 f.  Andersch, Der Tod des James Dean. S. 206.  Andersch, Der Tod des James Dean. S. 206.  Andersch, Der Tod des James Dean. S. 206.  Andersch, Der Tod des James Dean. S. 206.

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4 De- und Re-Mythisierung. Alfred Andersch: Der Tod des James Dean

deutschen Radiohörerinnen und -hörer aufbereitet („In Amerika hat sie bereits zur Sprache gefunden. Darum ist es möglich, von ihr zu sprechen.“).⁴⁷

4.1.2 Ein Blick zurück: Generationen Warum das Hörspiel mit Nachdruck auf Begriffe wie ‚Jugend‘, ‚jung‘ und ‚Generation‘ eingeht, wird ersichtlich, wenn man Anderschs frühe Pressearbeit berücksichtigt. Das Hörspiel knüpft an einen Diskurs der ersten Nachkriegsjahre an. Prominent tauchen die Begriffe im Untertitel der von Andersch und Hans Werner Richter, dem Gründer der Gruppe 47, in München herausgegebenen Zeitschrift Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungen Generation auf.⁴⁸ Der zu den einschlägigen Dokumenten nachkriegskultureller Programme zählende Leitartikel der ersten Nummer vom August 1946 trägt den Titel „Das junge Europa formt sein Gesicht“.⁴⁹ Darin erläutert Andersch das Vorhaben der Zeitschrift, die sich, inspiriert von Begriffen des Existentialismus Jean-Paul Sartres,⁵⁰ einem „sozialistische[n] Humanismus“ verpflichtet sieht.⁵¹ Anderschs Artikel skizziert eine

 Andersch, Der Tod des James Dean. S. 206.  Der Vorläufer des Blatts trägt den Titel Der Ruf. Zeitschrift der deutschen Kriegsgefangenen in USA und wurde von Fort Kearney in Rhode Island aus in verschiedenen Lagern zirkuliert. Andersch und Richter, die in Fort Kearney interniert waren, arbeiteten an der Zeitschrift mit. Vgl. Aaron D. Horton, German POW’s, Der Ruf and the Genesis of Group 47. The Political Journey of Alfred Andersch and Hans Werner Richter, Teaneck / Madison, NJ 2014, S. 55 – 86; sowie Volker Christian Wehdeking, Der Nullpunkt. Über die Konstituierung der deutschen Nachkriegsliteratur (1945 – 1948) in den amerikanischen Kriegsgefangenenlagern, Stuttgart 1971, S. 17– 20.  Alfred Andersch, Das junge Europa formt sein Gesicht. In: Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungen Generation, 1, 1946, S. 1 f.  Jörg Döring hat darauf hingewiesen, dass Andersch zu diesem Zeitpunkt aufgrund seiner mangelnden Französischkenntnisse kaum Veröffentlichungen von Sartre gekannt haben kann. 1946 liegen zwei Texte in deutscher Übersetzung vor, das Vorwort der Zeitschrift Les Temps Modernes (unter dem Titel „Der Schriftsteller und seine Zeit“ in Die Umschau veröffentlicht) und ein Teil der Novelle Die Mauer (in der Europäischen Rundschau erschienen). Anzunehmen ist eine Rezeption aus zweiter Hand, also durch Artikel über Sartres Philosophie, etwa in der Neuen Zeitung, für die Andersch arbeitete. Vgl. dazu Jörg Döring, Westdeutscher Nachkriegsexistentialismus im Frühwerk von Alfred Andersch. In: Zwischen Kahlschlag und Rive gauche. Deutschfranzösische Kulturbeziehungen 1945 – 1960, hg. von Stephan Braese und Ruth Vogel-Klein, Würzburg 2015, S. 125 – 152, hier S. 129 f. Zum Status des französischen Existentialismus erläutert Döring anhand des ZEIT-Artikels „Die Mode der Existentialisten“ (07. April 1949) von Rolf Italiaander, dass „der westdeutsche Nachkriegsdiskurs über den Existentialismus kurz vor Gründung der Bundesrepublik bei Lebensstilfragen angekommen war. Was trägt der Existentialist? Woran erkennt man ihn im Café und anderenorts? Was sind die dresscodes einer durch Sartre und Camus popularisierten Weltanschauung?“ Döring, Westdeutscher Nachkriegsexistentialismus im

4.1.2 Ein Blick zurück: Generationen

237

Bewegung, in der sich, wenn noch zögernd und unklar, so doch schon in großer Tiefe und Breite, die europäische Jugend manifestiert. Das Gesetz, unter dem sie antritt, ist die Forderung nach europäischer Einheit. Das Werkzeug, welches sie zu diesem Zweck anzusetzen gewillt ist, ist ein neuer, von aller Tradition abweichender Humanismus, ein vom Menschen fordernder und an den Menschen glaubender Glaube, ein sozialistischer Humanismus. Sozialistisch – das meint in diesem Fall, daß Europas Jugend ‚links‘ steht, wenn es sich um die soziale Forderung handelt. […] Humanistisch aber ist Europas Jugend in ihrem unerschöpflichen Hunger nach Freiheit. Humanismus bedeutet ihr Anerkennung und Freiheit und Würde des Menschen – nicht mehr und nicht weniger.⁵²

Der idealisierende, nach der Beendigung des Weltkriegs auf Gemeinschaftsbildung zielende Ton der Programmausführungen ist unüberhörbar. Anderschs Linkshumanismus, der sich zum Mittel der Reintegration Deutschlands in die europäische Staatengemeinschaft aufschwingt und sich von Humanismen alter Prägung distanziert, ist noch durch einen weiteren Aspekt gekennzeichnet: „religio“.⁵³ „Eine starke Wurzel“ des „doppelten Suchens nach Freiheit und sozialer Gerechtigkeit liegt in dem religiösen Erlebnis, das die junge Generation aus dem Kriege mitbringt“.⁵⁴ Gemeint ist das existenzielle Moment des Krieges, das die Soldaten eine „freie Entscheidung für oder gegen Gott treffen“ lässt.⁵⁵ Diese Wendung ins Religiöse unterscheidet Anderschs Auffassung des Existenzialismus von Sartre. Sie ist der ‚Andersch-Faktor‘ innerhalb der Begeisterung für existenzialistische Vokabeln wie ‚Freiheit‘ oder ‚Entscheidung‘.⁵⁶

Frühwerk von Alfred Andersch. S. 126. Zur Sartre-Rezeption von Andersch vgl. auch Mechthild Rahner, „Tout est neuf ici, tout est à recommencer…“ Die Rezeption des französischen Existentialismus im kulturellen Feld Westdeutschlands (1945 – 1949), Würzburg 1993 (Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften, Reihe Philosophie. Bd. 142); sowie Anja Koberstein, „Gott oder das Nichts“. Sartre-Rezeption im frühen Nachkriegswerk von Alfred Andersch im Kontext der zeitgenössischen Existentialismusdiskussion, Frankfurt a. M. u. a. 1996 (Beiträge zur Literatur und Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts. Bd. 15).  Andersch, Das junge Europa formt sein Gesicht. S. 1.  Andersch, Das junge Europa formt sein Gesicht. S. 1.  Andersch, Das junge Europa formt sein Gesicht. S. 1.  Andersch, Das junge Europa formt sein Gesicht. S. 1.  Andersch, Das junge Europa formt sein Gesicht. S. 1.  Andersch verdeutlicht sein Verständnis des Verhältnisses von Existenzialismus und Religion im Essay „Literatur in der Entscheidung“ (1948). Darin heißt es kritisch über die Institution Kirche: „Die Bedeutung des Existenzialismus zeigt sich auch darin, daß er durch alle Lager hindurch wirkt, es gibt einen glaubenslosen und einen christlichen Existenzialismus, genau so, wie sich ein marxistischer denken ließe. Die Entscheidung zur Freiheit läßt zunächst noch keinen Rückschluß auf die Art des Inhalts der Freiheit zu“. Dem „Christentum“ sei „der Gedanke der existenziellen

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4 De- und Re-Mythisierung. Alfred Andersch: Der Tod des James Dean

Generationenbegriffe haben im publizistischen und literarischen Diskurs nach 1945 Konjunktur. Formulierungen wie ‚europäische Jugend‘ oder „junge deutsche Generation“ zielen darauf, die Nachkriegserfahrungen auf einen begrifflichen Nenner zu bringen, also Selbst- und Fremdverortung, letztlich Identitätspolitik zu betreiben.⁵⁷ Mit den Generationenbezeichnungen gehen jeweils unterschiedliche diskursive Funktionen und Narrative einher.⁵⁸ Das wird deutlich, wenn man die zum Teil stark voneinander abweichenden Begriffe miteinander vergleicht. Kriegstraumata werden etwa von Wolfgang Borcherts Konzept der „Generation ohne Abschied“ in den Fokus gerückt.⁵⁹ Reich an Metaphern entfaltet Borchert in seinem Text das Bild einer Generation, die keine Jugend durchlebt hat, einer „Generation ohne Gott, denn wir sind die Generation ohne Bindung, ohne

Freiheit“ zwar „immanent“, „[l]eider aber vergißt es in seiner geschichtlichen Praxis sehr oft“ den „Urgrund des Wagnisses und strebt nach Gesichertheit in Anlehnung an die Macht, statt jener echten Sicherung, die ihm in der ständigen Verteidigung der personalen Würde und Freiheit des Menschen gegen die Macht zuteil wird.“ Alfred Andersch, Deutsche Literatur in der Entscheidung. Ein Beitrag zur Analyse der literarischen Situation [1948]. In: Andersch, Gesammelte Werke. Hg. von Dieter Lamping, Bd. 8, Zürich 2004, S. 187– 218, hier S. 216 f.Volker Wehdeking liest in diesem Passus eine Ableitung der polytheistischen Stellen aus Sartres Fliegen. Vgl. Wehdeking, Der Nullpunkt. S. 100. Einen christlichen Existentialismus bieten die Texte des Atheisten Sartre kaum an. Zwar existieren nach 1945 christlich geprägte Existentialismusentwürfe französischer Herkunft, vertreten zum Beispiel durch Gabriel Marcel (Être et avoir, 1935; dt. 1968), doch ist davon auszugehen, dass Andersch zu diesem Zeitpunkt solche Texte nicht kennt, sie höchstens aus zweiter Hand rezipiert hat. Wahrscheinlicher sind dagegen Veröffentlichungen in deutscher Sprache, etwa die Texte des katholischen Existenzialisten Theodor Haecker (1879 – 1945).  DR, Das junge Europa formt sein Gesicht. S. 2. Zum Generationenbegriff vgl. Karl Mannheim, Das Problem der Generationen. In: Mannheim, Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, hg. von Kurt H. Wolff, Neuwied 1964, S. 509 – 565.  Vgl. zur narrativen Anlage der Generationenbegriffe Andreas Kraft / Mark Weißhaupt, Erfahrung – Erzählung – Identität und die ‚Grenzen des Verstehens‘. Überlegungen zum Generationenbegrif. In: Generationen: Erfahrung – Erzählung – Identität, hg. von Andreas Kraft und Mark Weißhaupt, Konstanz 2009, (Historische Kulturwissenschaft. Bd. 14) S. 17– 47, hier S. 24– 44. Matthias Schöning verweist auf die Dominanz der Nachkriegsgeneration um die Gruppe 47 im literarischen System der Bundesrepublik bis in die Gegenwart. Seine These, dass „[a]lle weiteren Generationen bis heute“ sich „ihrem Programm weitgehend anschließen“ und „damit eine intergenerationell gültige Kultur aus[bilden]“, „in der die dominanten ethischen und ästhetischen Grundhaltungen sich vom Lebensalter abkoppeln“, ist reizvoll, doch derart groß angelegt, dass sie Phänomene übersieht. Entwicklungen wie die Pop-Phase der Literatur um 1968 und ähnliche pop-affine Folgephänomene, die sich in generationeller und ästhetischer Hinsicht gegen Nachkriegsautorinnen und -autoren wenden, bleiben unerwähnt. Matthias Schöning, Nach der Generationendynamik. Die Kultur des Neuanfangs (1945 ff.) und ein Autor mit Geschichte (Ernst Jünger). In: Benn-Forum. Beiträge zur literarischen Moderne, 5, 2016/2017, S. 53 – 78, hier S. 63.  Wolfgang Borchert, Generation ohne Abschied [1947]. In: Borchert, Das Gesamtwerk. Mit einem biographischen Nachwort von Bernhard Meyer-Marwitz, Gütersloh 1959, S. 58 – 60.

4.1.2 Ein Blick zurück: Generationen

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Vergangenheit, ohne Anerkennung.“⁶⁰ Auch Borcherts Überlegungen enden mit der Aussicht auf Hoffnung, aber diese gestaltet sich diffuser, ungesicherter und ist weniger an ein gesellschaftliches Programm gebunden: „Aber wir sind die Generation der Ankunft.Vielleicht sind wir eine Generation voller Ankunft auf einem neuen Stern, in einem neuen Leben. Voller Ankunft unter einer neuen Sonne, zu neuen Herzen.“⁶¹ Wenn Andersch im Ruf über die ‚Jugend‘ schreibt, adressiert er eine generalisierte ‚europäische Jugend‘ in ihrer gesellschaftspolitischen Verfasstheit. ‚Jugend‘ und ‚jung‘ sind Kategorien, die sich großzügig und allenfalls sekundär am Lebensalter orientieren, gemeint sind „Männer und Frauen zwischen 18 und 35 Jahren“,⁶² zu denen auch der 1914 geborene Andersch zählt. Die Begriffe fungieren als Chiffren für die Proklamation eines Neuanfangs und die Abgrenzung von der älteren Generation der Väter und Mütter, der man eine nachhaltigere ideologische Verstrickung in den Zweiten Weltkrieg attestiert. Dass das ein Phantasma darstellt, die vermeintlich ‚junge Generation‘ en gros intensiver in den Krieg eingebunden war, als es der Artikel eingesteht, ist evident.⁶³ Das Frappierende an Anderschs Leitartikel ist der Versuch, eine Brücke von „Sartre und“ den „jungen Kämpfer[n] aus der ‚résistance‘“ zu „einer anderen Gruppe junger Europäer“ zu schlagen, „die sich in den letzten Jahren ebenfalls unter rücksichtsloser Hingabe ihrer ganzen Person eingesetzt hat.Wir meinen das junge Deutschland.“⁶⁴ Irritation macht sich breit. Es stand für eine falsche Sache (und sie war nicht nur falsch, weil sie jetzt verloren ist). Aber es stand. In durchaus jenem existentiellen Sinne, den Sartre und seine französischen Kameraden meinen. Das dünne Seil, das die feindlichen Lager verknüpft, heißt also Haltung. Gemeinsamkeit der Haltung und des Erlebens, unabhängig von Ideologie und Ethos. Eines

 Borchert, Generation ohne Abschied. S. 58.  Borchert, Generation ohne Abschied. S. 59 f. Vgl. zu Borcherts Formulierung auch Alfred Bourk, Zur Dichtung Wolfgang Borcherts. Generation ohne Abschied, in: Akzente. Zeitschrift für Dichtung 2, 1955, S. 121– 127.  Andersch, Das junge Europa formt sein Gesicht. S. 2.  Sigrid Weigel hält dazu fest: „Insofern ist die Junge Generation der Deckname für eine entlang der Demarkationslinie von Schuld geteilte Erinnerung, mit der ein heroisches soldatisches Kollektiv sich aus der historischen Verantwortung des Nazismus herauszulösen anschickt.“ Sigrid Weigel, Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften, München 2006, S. 100. Die Rede von der ‚jungen Generation‘ greifen mehrere Zeitschriften nach 1945 wie Ende und Anfang, Die Kommenden oder Horizont auf. Vgl. zur Unterscheidung der ‚jungen‘ und der ‚älteren Generation‘ sowie zu ihren Publikationsorganen auch Rahner, „Tout est neuf ici, tout est à recommencer…“ Die Rezeption des französischen Existentialismus im kulturellen Feld Westdeutschlands (1945 – 1949), S. 121– 129.  Andersch, Das junge Europa formt sein Gesicht. S. 1 f.

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4 De- und Re-Mythisierung. Alfred Andersch: Der Tod des James Dean

Tages werden einige waghalsige Seiltänzer versuchen, über den Abgrund zu kommen, neue Taue zu knüpfen, vielleicht eine stabile Brücke zu errichten, auf der die jungen Deutschen in das gemeinsame europäische Lager kommen können.⁶⁵

Aus der rudimentären Sartre-Rezeption eine existenzielle Haltungsgemeinschaft bilden zu wollen, ist in der Tat ein waghalsiges Unterfangen. Die Hoffnung auf ‚mutige Seiltänzer‘, die einer ‚sauberen Wehrmacht‘ entstammen, wird sich, so weiß man, in dieser Form nicht einlösen. Doch es geht noch um etwas anderes. Die pathetische Vorstellung einer „junge[n] deutsche[n] Generation“⁶⁶ ist durch einen Optimismus gekennzeichnet, der sich als dienlich erweist. Dienlich ist er, da durch ihn zumindest auf dem Papier ein Schulterschluss mit der Résistance erfolgt, man also nachträglich die Grenze zwischen deutschen Soldaten und französischem Widerstand diffundiert.⁶⁷ In diesem Zuge erfolgt auch die Zurückweisung des „üblen Klischee[s], das man mit dem Wort der ‚verlorenen Generation‘ schuf“.⁶⁸ Die Generationen nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg sind kaum vergleichbar, daher sei der Begriff ‚verloren‘ inadäquat. Man habe es im Falle der ‚jungen Generation‘ also keineswegs mit einer lost generation, einer génération perdue zu tun, wie der literarische Kreis um Gertrude Stein in Paris⁶⁹ und im allgemeineren Sinne die Kriegsheimkehrer nach dem Ersten Weltkrieg genannt wurden.⁷⁰ Den USA, die den Ruf in Nachkriegsdeutschland installieren, begegnet der Leitartikel überwiegend aufgeschlossen: „mit seiner zweihundertjährigen republikanischen Tradition und seiner Fähigkeit, den Geist der Freiheit zu pflegen und zu behüten, ist Amerika im Begriffe, zur mütterlichen Brutstätte einer europäischen Erneuerung zu werden“,⁷¹ heißt es feierlich. Man darf solche Sätze nicht missverstehen. Im gleichen Artikel deutet sich Anderschs gespanntes Verhältnis  Andersch, Das junge Europa formt sein Gesicht. S. 2.  Andersch, Das junge Europa formt sein Gesicht. S. 2.  Vgl. dazu auch Döring, Westdeutscher Nachkriegsexistentialismus im Frühwerk von Alfred Andersch, S. 127 und 131– 133.  Andersch, Das junge Europa formt sein Gesicht. S. 2.  Nach Ernest Hemingways The Sun Also Rises (1926) geht die Bezeichnung auf Gertrude Stein zurück, die eine Gruppe US-amerikanischer Autorinnen und Autoren, darunter Hemingway und F. Scott Fitzgerald, in Paris nach dem Ersten Weltkrieg so benannt haben soll.  Die ein wenig unvermittelte Bemerkung zum Ende des Artikels ist die Allusion auf eine Projektidee, die im Umfeld des Ruf entsteht. Nicolaus Sombart, der Sohn des Soziologen und Volkswirts Werner Sombart, plant eine Zeitschrift, die nicht über ihre Nullnummer hinauskommen wird. Der Titel: Die verlorene Generation. Kritische Blätter für junge Menschen. Von Andersch wird Sombart schließlich in das Herausgebergremium des Ruf aufgenommen. ‚Verlorene Generation‘ – diese Bezeichnung passt nicht zu Anderschs strategischem Optimismus.  Andersch, Das junge Europa formt sein Gesicht. S. 2.

4.1.2 Ein Blick zurück: Generationen

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zu den USA an. „Die Erzieher müssen überholt werden“, konkludiert der Artikel forsch in Anspielung auf das re-education-Programm der Alliierten.⁷² Europa soll sich durch den amerikanischen Impuls erneuern, sich letztlich aber von der mütterlichen Fürsorge der USA emanzipieren. 1959, zehn Jahre nach dem Verbot des Ruf aufgrund zunehmend amerikakritischer Beiträge,⁷³ haben sich die Vorzeichen geändert. Andersch konstruiert zwar auch in Der Tod des James Dean eine gesamteuropäische, nun sogar interkontinentale Jugend. Doch die hat anderes im Sinn, ist eher amerikanisch als europäisch geprägt. Auch altersbedingt kann das nicht mehr die gleiche Jugend sein, die der Ruf im Blick hatte. Die ‚Hingabe der ganzen Person‘, die ‚Haltung‘, von der Andersch geschwärmt hatte, fehlt jetzt. Der Idealismus der ersten Nachkriegsjahre ist abgekühlt. „Die Träger“ des „europäischen Wiedererwachens“, lautet eine hoffnungsvolle Formulierung aus dem Ruf, kommen „unmittelbar aus dem Kampf um Europa, aus der Aktion. Ihr Geist ist der Geist der Aktion.“⁷⁴ Nach dem ‚Geist der Aktion‘ sucht man, da sind sich die deutschen Kommentatorinnen und Kommentatoren sicher, in der ‚finsteren Jugend‘, bei den Beatniks, vergeblich. Der Nationalbolschewist Karl Otto Paetel, während des Krieges nach New York emigriert, bringt 1962 eine Anthologie mit dem Titel Beat heraus. In der Einleitung schreibt er: Der Sammelbegriff [Beat, P.P.] beinhaltet kein gemeinsames Wollen – schon deshalb nicht, weil nicht kollektives Handeln, sondern disengagement das Ziel ist. Aktion und Macht sind Begriffe, die dem echten Beat fremd sind. Die ‚eigene Welt‘, in der man zu leben versucht, ist keine der gemeinsamen Prinzipien, sondern ein Ort, an dem jeder er selber sein will und kann.⁷⁵

 Zur re-education schreibt Andersch bereits davor: „Kein schönes Wort. Jedenfalls nicht viel schöner als das nationalsozialistische Wort von der ‚Umschulung‘. Hat man sich wirklich einmal vorgestellt, wen man rückerziehen will? Können junge Menschen, die sechs Jahre lang fast ununterbrochen dem Tod gegenüberstanden, noch einmal zu Objekten eines Erziehungsprozesses gemacht werden? Soll Erziehung, Bildung, Belehrung hier konkurrieren mit einer Erlebnissphäre, in der in jeder Stunde die ganze menschliche Existenz aufs Spiel gesetzt wurde?“ Andersch, Das junge Europa formt sein Gesicht. S. 2.  Die Zeitschrift wurde nach längeren Differenzen mit der amerikanischen Militärregierung 1949 verboten. Andersch und Richter mussten die Redaktion im Zuge der Androhung eines Verbots bereits 1947 verlassen. Vgl. Horton, German POW’s, Der Ruf and the Genesis of Group 47. The Political Journey of Alfred Andersch and Hans Werner Richter, S. 132– 141; sowie Wehdeking, Der Nullpunkt. S. 17– 20, bes. S. 19.  Andersch, Das junge Europa formt sein Gesicht. S. 1.  Karl O. Paetel, Einleitung. In: Beat. Eine Anthologie, hrsg. von Karl O. Paetel, deutsch von Willi Anders, Reinbek bei Hamburg 1962, S. 8 – 21, hier S. 10.

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4 De- und Re-Mythisierung. Alfred Andersch: Der Tod des James Dean

Individualismus prägt die Bewegung. Den Begriff disengagement hat Paetel von Kenneth Rexroth übernommen. Für Rexroth, rund 20 Jahre älter als die Beatniks, ist die Bewegung durch eine „Absonderung des schöpferischen Menschen“ von der Gesellschaft gekennzeichnet.⁷⁶ In dieser ‚Absonderung‘ liegt nach Rexroth die Revolte der Beat Generation begründet. Das disengagement hat die politische Aktion abgelöst. Man denkt in diesem Zuge an Höllerers Rede von der „Passivität“ sowie an das Konzept der engagierten Literatur, das in der Forschung eng mit Anderschs Autorschaft verknüpft wird.⁷⁷ Disengagement, genereller verstanden als ablehnende Haltung gegenüber der Gesellschaft, erscheint wie ein Gegenentwurf zur engagierten Literatur, die sich als Teil der Gesellschaft begreift und aus ihr heraus agiert. Mit der littérature engagée wie sie Sartre in Position gebracht hat, wird „eine konkrete Befreiung [der Lesenden, P.P.] von einer besonderen Entfremdung“ angepeilt.⁷⁸ Solch eine Form der Einbindung einer breiten Leserschaft ist kein Teil des disengagement. Auch im übertragenen Sinne, gefasst als gesellschaftspoliti-

 Kenneth Rexroth, Disengagement. Die Kunst der „Beat Generation“ [1957]. In: Junge amerikanische Literatur, hg. von Walter Hasenclever, Frankfurt a. M. 1959, S. 58 – 59, hier S. 58.  Vgl. bespielhaft Ächtler, Einleitung: Alfred Andersch – Engagierte Autorschaft im Literatursystem der Bundesrepublik. S. 1– 42; sowie Stephan Reinhardt, Ästhetik als Widerstand – Andersch als Bürger und engagierter Schriftsteller. In: Alfred Andersch. Perspektiven zu Leben und Werk. Kolloquium zum achtzigsten Geburtstag des Autors in der Werner-Reimers-Stiftung, Bad Homburg v.d.H., hg. von Irene Heidelberger-Leonhard und Volker Christian Wehdeking, Opladen 1994, S. 32– 41; Ursula Reinhold, Alfred Andersch. Politisches Engagement und literarische Wirksamkeit, Berlin: Akademie-Verlag 1988 (Literatur und Gesellschaft). Andersch verwendet den Begriff ‚engagierte Literatur‘ erst ab den 1960er Jahren für seine Texte. Vgl. dazu Ächtler, Einleitung: Alfred Andersch – Engagierte Autorschaft im Literatursystem der Bundesrepublik. S. 14 f. In einem Werkstattgespräch mit Horst Bienek antwortet Andersch vorsichtig auf Bieneks Frage nach der „Einheit von Literatur und Engagement“ in Die Rote: „Einigen Kritikern und Lesern scheint es im Jahre 1961 unvorstellbar zu sein, ein Mensch könne Wandlungen durchmachen, die zu irgendwelchen praktischen Konsequenzen in seinem Leben führen. Ich mache diesen Leuten keinen Vorwurf – eine bestimmte historische Entwicklung hat dazu geführt, daß wir in einem zynischen und desillusionierten geistigen Klima leben. Allerdings mache ich den Versuch, mit meinem Werk dieses Klima zu durchstoßen. Wenn es das ist, was sie ‚Soziales Engagement‘ nennen, so bejahe ich ihre Frage, Herr Bienek“. Andersch bezieht sich mit seiner Antwort auf das von der Kritik „spöttisch kommentiert[e]“ Ende des Romans, das darin besteht, dass die Protagonistin Franziska „‚das einfache Leben‘ schließlich in einer Seifenfabrik findet“. Alfred Andersch, Werkstattgespräch mit Horst Bienek [1961]. In: Andersch, Gesammelte Werke in zehn Bänden. Kommentierte Ausgabe, hrsg. von Dieter Lamping, Bd. 7, Zürich 2004, S. 482– 492, hier S. 491.  Jean-Paul Sartre,Was ist Literatur? Ein Essay [1947], Hamburg 1950, S. 58.Vgl. auch Karl-Heinz Hucke / Olaf Kutzmutz, s.v. Engagierte Literatur. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Klaus Weimar, Bd. 1, Berlin / New York, NY 2007, S. 446 f.

4.1.2 Ein Blick zurück: Generationen

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sche Wirksamkeit des literarischen Textes, als seine Involvierung in soziale Zusammenhänge, will das Konzept der ‚engagierten Literatur‘ nicht zur gegenkulturellen Anlage der Beat Generation passen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Damit ist nicht gemeint, dass die Texte der Beat Generation keine gesellschaftlich bedingten Entfremdungen kennen würden. Sie basieren sogar darauf, gehen aus ihnen hervor. Doch die Stoßrichtung ist eine andere. Der Vektor liegt nicht auf der existentialistischen, überambitionierten ‚Befreiung‘ einer im Allgemeinen gehaltenen Leserschaft im Zuge der Lektüre, sondern auf der Konstituierung einer gegenkulturellen Gemeinschaft durch das Kenntlichmachen von verbindenden Entfremdungserfahrungen. Nur anfangs operiert die Beat Generation tatsächlich von den Rändern der Gesellschaft und des Literaturbetriebs aus. Dafür drängt sie mit ihrer zur Schau gestellten Ablehnung zu öffentlichkeitswirksam ins Licht. Rasch beginnen die Presse, der Markt und arrivierte Intellektuelle in und außerhalb der USA sich für sie zu interessieren. Der Tod des James Dean knüpft dort an. Rexroths Passus zum disengagement, 1959 in der Anthologie Junge amerikanische Literatur in deutscher Übersetzung erschienen, weist markante Parallelen zur Exposition des Hörspiels auf: Die jüngste Generation befindet sich in einem so radikalen Zustand der Revolte, daß die älteren ihn nicht einmal erkennen können. Die Absonderung, die Entfremdung und Ablehnung der Jungen hat, soweit die Älteren in Frage kommen, die Sphäre des Sichtbaren völlig verlassen. Unsichtbar dem kritischen Auge, kann die moderne Revolte, wie Röntgenstrahlen oder Radioaktivität, nur in ihren Auswirkungen auf materialistischer und gesellschaftlicher Ebene erkannt werden, wo man sie schlicht als Verbrechertum bezeichnet.⁷⁹

Die Entwicklung der ‚jüngsten Generation‘ wird von konservativer Seite nicht als generationeller Widerstand, sondern als Delinquenz aufgefasst. Doch unsichtbar, „Röntgenstrahlen oder Radioaktivität“ vergleichbar, breite sich, so Rexroths

 Rexroth, Disengagement. Die Kunst der „Beat Generation“, S. 58. Rexroth hebt autodestruktive Züge der Bewegung anhand von zwei Leitfiguren hervor. Die Selbstzerstörung habe ihren Ausgangspunkt im Verhältnis der ‚älteren‘ und der ‚jungen‘ Generation: „Wie die Säulen des Herakles, wie die zerspellten Titanen, die den Eingang zu einem von Dantes Höllenkreisen hüten, stehen zwei große, tote, jugendliche Verbrecher – die Helden der Nachkriegsgeneration: der große Saxophonbläser Charlie Parker und Dylan Thomas. Wenn das Wort ‚wissentlich‘ überhaupt etwas bedeutet, dann haben sich diese beiden wissentlich selbst zerstört. […] [I]n den nächsten Jahren werden wir es mit einer Jugend zu tun haben, die wir, eben meine Generation, aufgerieben und durch den Fleischwolf gedreht haben. Gesellschaftliche Absonderung, künstlerische Integrität, freiwillige Armut – das sind wichtige Tugenden, die ihr vielleicht die Existenz retten werden, aber es sind nicht die Tugenden, die wir ihnen zu vermitteln suchten – sie sind vielmehr ihr genaues Gegenteil.“ Rexroth: Disengagement. Die Kunst der „Beat Generation“, S. 58 f.

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4 De- und Re-Mythisierung. Alfred Andersch: Der Tod des James Dean

Metapher, eine „moderne Revolte“ aus. Die ‚finstere Jugend‘ ist „unter uns“, „überall“,⁸⁰ konstatiert der Sprecher vergleichbar bedeutungsvoll in der Vorrede des Hörspiels. Andersch, der zu dem Zeitpunkt längst das Etikett der ‚jungen Generation‘ abgestreift hat, geht in seiner Montage der seltsamen Verfasstheit dieser ‚neuen‘ Jugend und ihrer Form des Protests nach.

4.1.3 Montage: Text, Musik, Übersetzung Welche Texte wurden fragmentiert? Welche Teile wurden ausgewählt, welche ausgelassen? Wie wurden die Texte kombiniert? Um die Verfahrensseite des Hörspiels zu erfassen, ist eine Untersuchung des Montageprinzips obligatorisch. Dafür bietet sich exemplarisch der Beginn der Montage an.⁸¹ Der Fokus liegt auf dem Zusammenspiel der Texte, dem Verhältnis von Text und Musik sowie den verwendeten Übersetzungen. Anderschs Montage setzt mit einem Auszug aus einem unbetitelten Gedicht des Modernisten E. E. Cummings ein:

 Andersch, Der Tod des James Dean. S. 206.  Den Begriff ‚Montage‘ übernehme ich der Einfachheit halber von Andersch zur Bezeichnung der Radioarbeit. Natürlich sind auch andere Gattungsbezeichnungen denkbar. Antje Vowinckel ordnet Anderschs Hörspiel etwa den Collagen zu. Vgl. Antje Vowinckel, Collagen im Hörspiel. Entwicklung einer radiophonen Kunst, Würzburg 1995, (Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften, Reihe Literaturwissenschaft. Bd. 146) S. 101– 103. Die mitunter synonym gebrauchten Begriffe ‚Montage‘ und ‚Collage‘ werden in der Hörspielforschung folgendermaßen unterschieden: Während die Montage „(wie beim Film) den technisch-formalen Vorgang des Zusammenfügens bezeichnet“, zielt die Collage darauf, „Sprünge, Brüche, Widersprüche hörbar zu machen, Ordnungen in Frage zu stellen“. Reinhard Döhl, Das neue Hörspiel. Darmstadt 1988, (Geschichte und Typologie des Hörspiels. Bd. 5) S. 134. Eine Geschichte des Montageverfahrens in der Literatur der frühen Bundesrepublik wäre ein spannendes Untersuchungsfeld. Montagen gehören zum festen Stilrepertoire spätmoderner Kunst. Die Schockwirkung, die die historischen Avantgarden dem Verfahren zugeschrieben haben, wird dabei weitestgehend eingebüßt. Bei den Montagen des Nachkriegs handelt es sich um etablierte Mittel der Textkonstruktion, weniger also um ästhetische Überraschungsmomente als um Modernitätsmarker diverser nachkriegsliterarischer Texte unterschiedlicher Provenienz – etwa in den Neoavantgarden, in der Lyrik Benns und Enzensbergers sowie schließlich bei Andersch, der den Begriff wohl nicht nur in technisch-formaler Hinsicht für sein Hörspiel verwendet. Vgl. zum Begriff der Montage kursorisch Georg Jäger, s.v. Montage. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Harald Fricke, Bd. 2, Berlin / Boston, MA 2007, S. 631– 633. Zur Montage in den Avantgarden und danach vgl. ausführlich Peter Bürger, Theorie der Avantgarde. Frankfurt a. M. 1972, S. 98 – 116; sowie Volker Klotz, Zitat und Montage in neuerer Literatur und Kunst. In: Sprache im technischen Zeitalter, 50, 1976, S. 259 – 277.

4.1.3 Montage: Text, Musik, Übersetzung

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by gory by jingo by gee by gosh by gum verstummen muß das Gequatsche von der Schönheit, was könnte schöner sein als unsre tapferen seligen Toten, die wie die Löwen zum Gemetzel rannten munter, nicht stoppten, um zu denken, lieber starben sie, soll nun der Freiheit Stimme nicht mehr tönen? […] sprachs. Und kippte ein Glas Wasser runter.⁸²

Andersch lag das Gedicht in der zweisprachigen, bis heute einschlägigen Ausgabe von Eva Hesse vor (1958).⁸³ Offenbar aus Stilgründen erfolgt die Entscheidung, die englischsprachige Vorlage mit der Translation zu mischen. Die Verse „by gorry / by jingo / by gee / by gosh / by gum“ werden von Heinz Schimmelpfennig lakonisch und grimmig gesprochen. Andersch borgt hier von der sprachlichen Lässigkeit des Originals. Ein Stück ‚Amerikanizität‘ der ‚finsteren Jugend‘ hält Einzug in die bundesrepublikanischen Wohnstuben. Der deutsche Akzent ist an dieser Stelle kaum zu bemerken. Wie hätte das wohl mit Hesses etwas gezwungenem Übersetzungsversuch „himmelarschundzwirn“ geklungen?⁸⁴ Cummings Text stammt aus dem Band is 5 von 1926. Das Gedicht ist als Rede über das Verhältnis zwischen Amerika und Europa angelegt. Wohl eine europäische Sprecherinstanz ist es, die zynisch über den Patriotismus der USA und die heroisierende Verklärung des Kriegs monologisiert. Ein Hinweis darauf geht vom ausgelassenen ersten Teil des Gedichts aus, der von Amerika handelt.⁸⁵ In die gleiche Richtung weisen die verwendeten Exklamationen. Bei ihnen handelt es sich um minced oaths, euphemisierende Verballhornungen, die bei Flüchen an die Stelle von derben (etwa fudge für fuck) oder sensiblen Begriffen treten (‚gorry‘, ‚gee‘, ‚gosh‘ und ‚jingo‘ als Stellvertreter für ‚God‘ und ‚Jesus‘). Im Fall von ‚jingo‘

 Andersch, Der Tod des James Dean. Eine Funkmontage. S. 206.  E. E. Cummings, next to of course god america i [1926]. In: Cummings, Poems / Gedichte. Auswahl, Übersetzung und Nachwort von Eva Hesse, München 32016, (Reihe textura / zuerst: Ebenhausen bei München 1958) S. 52 f.  Cummings, next to of course god america i. S. 53.  Der erste Teil des Gedichts lautet: „nach gott natürlich liebe ich dich / amerika du land der pilgerväter undsoweiter oh / sag kannst du nicht sehn wie morgendlich / in meinem land jahrhunderte nur so / kommen-und-gehen na was scheren wir uns drum / in jeder sprache auch in der taubstummen / verkünden deine söhne laut dein heldentum“. Cummings, next to of course god america i. S. 53.

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4 De- und Re-Mythisierung. Alfred Andersch: Der Tod des James Dean

klingt seit dem neunzehnten Jahrhundert zudem der sogenannte jingoism an, ein chauvinistischer, euphorischer Patriotismus britischer Prägung, der in den USA unter dem Namen spread-eagleism Karriere macht. Cummings, im Ersten Weltkrieg freiwillig in Frankreich im Einsatz und dann im Paris der génération perdue unterwegs, war mit der skizzierten Situation vertraut. Seine von Elitarismus und Artistik geprägten Texte sind durchzogen von solchen Seitenhieben gegen den Amerikanismus und die Kultur der Masse, deren Sprache er kontinuierlich in Lyrik transformiert.⁸⁶ Anderschs Rekontextualisierung des Gedichts verallgemeinert den USA-kritischen Text zu einer interkontinentalen Unmutsbekundung. Die USA sind, so impliziert die Zweisprachigkeit der Montage, der Auslöser eines breitflächigen Problems sowie der Bewegung, die sich gegen das Problem formiert. In diesem Zuge diskreditiert der Passus ein als scheinheilig wahrgenommenes Diskursklima, das an den realgesellschaftlichen Verhältnissen vorbeizielt („verstummen / muß das Gequatsche von der Schönheit“). Solche Verse unterstreichen, dass es im Hörspiel um viel, um sehr viel gehen soll. Die existentialistische Vokabel ‚Freiheit‘ fällt und von Kriegstoten ist die Rede; von den Toten des Zweiten Weltkriegs, wie man während des Hörens der Montage ohne Hinweis auf die Entstehungsbedingungen des Gedichts und seinen Verfasser annehmen muss. Ein auffälliger Aspekt ist die inquit-Formel am Ende des Abschnitts. Durch sie geht der Text auf vorsichtige Distanz zum Gesprochenen, auch die Deklamation wechselt ins Sachliche. Die Formel markiert, dass sich jemand in Rage geredet hat, während eine zweite Instanz den Monolog mit dem nüchternen Hinweis auf das „Glas Wasser“ und unter Verwendung der idiosynkratischen Formulierung „sprachs“ (für „sprach es“) abmoderiert. Ob die gehörte Rede von der kommentierenden Instanz nur erinnert oder in actu erlebt wird, wie also die zeitliche Beschaffenheit des Szenenfragments aussieht, bleibt unklar. Dass der Musik von Miles Davis eine konstitutive Rolle im Hörspiel zukommt, veranschaulicht Anderschs Regieanweisung im Anschluss an die expositorische Sprecherrede noch vor dem montierten Gedicht von Cummings. In Anweisungen wie der folgenden wird das Ineinandergreifen von Jazz und Text präzise festgelegt: „Die Sendung beginnt mit dem Baß-Solo ‚Evasion‘ (Pierre Michelot aus dem Miles-Davis-Quintett) [.] Der Sprecher legt den Beginn des Cummings-Textes rhythmisch genau unter die Baß-Schläge“.⁸⁷

 Vgl. dazu Eva Hesse, Nachwort: E. E. Cummings, ein ‚Klassiker der Moderne‘. In: Cummings, Poems / Gedichte. Auswahl, Übersetzung und Nachwort von Eva Hesse, München 32016, (Reihe Textura) S. 105 – 121.  Andersch, Der Tod des James Dean. Eine Funkmontage. S. 206.

4.1.3 Montage: Text, Musik, Übersetzung

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Dem Titel Evasion (von lat. evasio = das Entrinnen) kommt angesichts des Haderns mit der Gesellschaft, das im Passus von Cummings ausgedrückt wird, sprechende Qualität zu. Durch die Bassunterstützung erhält die Deklamation der Verse eine entschlossene, zwingende Form. Andersch ist, im deutlichen Unterschied zu Adorno,⁸⁸ von der erzeugten Stimmung und vom Rhythmus des Jazz angetan.⁸⁹ „Es lassen sich“, notiert Andersch im Manuskript des Hörspiels, „andere Vorschläge diskutieren“, allerdings nur, „falls dem Autor eine Musik nachgewiesen wird, die die obengenannten Aufnahmen an makabrer Trostlosigkeit und musikalischer Qualität übertrifft“.⁹⁰ Die Wahl des Soundtracks aus dem Film Fahrstuhl zum Schafott ist in mehrfacher Hinsicht plausibel. Neben der erwähnten Stimmungskomponente greift Andersch durch seine Musikauswahl die konstitutive Relation von Jazz und Beat Literature auf.⁹¹ Auch innerhalb des kulturellen Feldes der frühen Bundesrepublik werden Gedichtlesungen von Jazz begleitet, etwa in der Radioreihe Jazz und

 Vgl. Theodor W. Adorno, Über Jazz [1936]. In: Adorno, Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann, Bd. 17, Frankfurt a. M. 1982, S. 74– 108. Adornos Generalschelte gegen den Jazz als warenförmige Populärmusik kann Genres wie Bebop oder Cool, also Bereiche des Jazz, die hier im weiteren Sinne von Interesse sind, noch nicht kennen. Diedrich Diederichsen, der ausgehend vom Jazz eine Vorgeschichte von Pop erzählt, hält zu Adornos Überlegungen fest: „Die externe Perspektive Adornos ist zwar, wie viele Autoren gezeigt haben, unterinformiert. Dennoch wittert er ganz richtig, dass es im Jazz um performative Erfolge geht, die jenseits der musikalischen oder symbolischen Welt liegen. Und er hat richtig gesehen, dass die Achillesferse und Möglichkeitsbedingung dieses Erfolges in der konstitutiven Zweiteiligkeit des Jazz liegen. Der brauchbare Kern seines Aufsatzes besteht darin, gezeigt zu haben, dass der Jazz-Musiker auf ganz unterschiedlichen Ebenen von Bedeutungsproduktion agiert“. So wie es auch in der Pop-Musik der Fall ist. Diederichsen, Über Pop-Musik. S. 209.  Musikalische Stimmungserzeugung wird innerhalb der Hörspielforschung der frühen Bundesrepublik kritisch betrachtet. Schwitzke notiert 1962 zufrieden, dass sich die Hörspielmusik „von aller Stimmungsmalerei […] wegentwickelt“ hat. Schwitzke, Das Hörspiel. Dramaturgie und Geschichte, S. 222. Der Satz zielt auf eine differenzierte Funktionalisierung des Musikalischen für den deklamierten Text und seine Handlung. In anderen Beiträgen erfolgt eine Abgrenzung von der nur ornamentalen Funktion der „Schauspielmusik“. Werner Haentjes, Aufgaben und Möglichkeiten der Hörspielmusik. In: Rufer und Hörer. Monatshefte für den Rundfunk, 8, 1953 / 1954, S. 303 f., hier S. 303. Vgl. zur Hörspielmusik auch Klaus Jungk, Musik im Hörspiel. In: Rufer und Hörer. Monatshefte für den Rundfunk, 7, 1952 / 1953, S. 32– 35, hier S. 33.  Alfred Andersch, Der Tod des James Dean [Manuskript]. S. 1. Für die Bereitstellung des Manuskripts danke ich Britta Herrmann und der Forschungsstelle Phonopoetik am Germanistischen Institut der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.  Vgl. Sascha Feinstein, Jazz Poetry. From the 1920s to the Present, Westport, CT / London 1997, (Contributions to the Study of Music and Dance. Bd. 44) S. 61– 114.

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4 De- und Re-Mythisierung. Alfred Andersch: Der Tod des James Dean

Lyrik, die Andersch von seiner Arbeit beim Südwestfunk gekannt haben muss.⁹² Zudem sind die Aufnahmen von Miles Davis das Ergebnis einer Koproduktion, die den geographischen Bezugsrahmen des Hörspiels absteckt und mit Anderschs eigenem Verständnis des Jazz korrespondiert. Anderschs Jazzerfahrung wird in der Kriegsgefangenschaft in den USA vorbereitet. In Fort Kearney (Massachusetts) wird er jeden „Morgen […] mit Duke Ellingtons Version von ‚Oh Lady be good‘ aus dem Lautsprecher der Küchenbaracke geweckt“.⁹³ Zentral für das Jazzverständnis ist aber die geistige Nähe zu Frankreich. Im Essay „Jugend am Schmelzpott einer Kultur“ (1952) erteilt Andersch den „deutschen Jungen und Mädchen“ einen väterlichen Rat: Sie könnten angesichts der kulturellen Amerikanisierung von der „französischen Jugend lernen“.⁹⁴ Diese habe sich „aus Stegbeständen, englischen Marinemänteln, Bärten und einer Tradition geistvollen Protestierens einen durchaus eigenen und europäischen Stil geschneidert“.⁹⁵ Der „Jazz“ werde in Frankreich „nicht mit schlechtem Gewissen betrieben“, Auftritte von „Duke Ellington oder Sidney Bechet“ arten nicht in „Orgien provinziellen Geschmacks im Beifall“ aus. Jazz, die „Musik der Aktion“, fordere „als genuine Kunstform […] schärfste kritische Anteilnahme; sonst enden er und seine Jünger in dem Prozeß, den die Amerikaner selbst verächtlich die jitter-bugization Europas nennen“.⁹⁶ Mit dem ‚französischen Modus‘ der Rezeption geht die Intellektualisierung des Jazz einher, die sich durch seine Nicht-Tanzbarkeit sowie die Erhebung zur Kunstmusik äußert und im Laufe der 1950er Jahre durch Pioniere wie Joachim-Ernst Berendt in der Bundesrepublik verbreitet wird.⁹⁷ Jazz von einem US-amerikanischen Trompetenvirtuosen, gespielt mit französischen Kollegen für einen Vorgängerfilm der nouvelle vague ⁹⁸ – das ist nach

 Die Sendung entsteht unter der Leitung von Joachim-Ernst Berendt und wird ab 1960 als Schallplattenreihe fortgesetzt. Des Weiteren wird das Zusammenspiel von Jazz und Literatur in der Bundesrepublik sowie in der DDR in Form von Kneipenlesungen praktiziert. Peter Rühmkorf nimmt in Hamburg etwa ab 1952 an solchen Jazzlesungen teil.  Reinhardt, Alfred Andersch. Eine Biographie, S. 118.  Alfred Andersch, Jugend am Schmelzpott einer Kultur [1952]. In: Andersch, Gesammelte Werke. Kommentierte Ausgabe, hg. von Dieter Lamping, Bd. 8, Zürich 2004, S. 279 – 292, hier S. 283.  Andersch, Jugend am Schmelzpott einer Kultur. S. 283.  Andersch, Jugend am Schmelzpott einer Kultur. S. 283.  Vgl. Joachim-Ernst Berendt, Der Jazz. Eine zeitkritische Studie, Stuttgart 1950.  Die „Kunst des Achselzuckens“, der „resigniert[e] Aufruh[r]“ der nouvelle vague beschäftigt Andersch 1961: „Was die französische nouvelle vague, was die amerikanischen ‚beatniks‘, die russischen stiljagi und die ‚zornigen jungen Männer‘ Englands anzeigen, ist eine Haltung des Desinteressements, nach der man sich offenbar verhalten will. Man hat den Eindruck, daß die

4.1.3 Montage: Text, Musik, Übersetzung

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Anderschs Geschmack und fügt sich in die Arbeit über revoltierende Tendenzen der Jugend in Europa und den USA.⁹⁹ Die Aufnahmen zu Fahrstuhl zum Schafott spielt Miles Davis mit Michelot am Bass, René Utreger (Piano), Barney Willen (Tenor Saxophon) und Kenny Clarke (Schlagzeug) in Paris in der Nacht vom 04. auf den 05. Dezember 1957 im Stil eines Impromptus ein.¹⁰⁰ Die Jazzmusiker haben keine ausnotierte Partitur, sie improvisieren zu den im Studio parallel auf einer aufgebauten Leinwand laufenden Filmszenen. Grob im Vorfeld abgesprochen werden lediglich die Einsätze, Tempi und die Stimmung der Musik, auf deren Grundlage Davis Harmoniefelder und Themenideen skizziert. Louis Malle verändert danach die Position der Filmmusik in manchen Fällen, montiert sie neu, lässt sie ein- und ausblenden oder abrisshaft aussetzen.¹⁰¹ Das Ergebnis des Soundtracks sind „zehn motivisch[e] Fragmente“,¹⁰² die von „introvertierte[n], auf melodischen Skizzen beruhende[n] Improvisationen“ bis „treibenden, rhythmisch-verdichteten Hard Bop-Passagen“

Generation, die jetzt die Bühne betreten hat, mit dem Zustand der Nachkriegswelt total unzufrieden ist und sich gleichzeitig außerstande sieht, ihn grundlegend zu verändern. Daher das Achselzucken“. Alfred Andersch, Hypothese über die Nouvelle Vague [1961]. In: Andersch, Gesammelte Werke in zehn Bänden. Kommentierte Ausgabe, hg. von Dieter Lamping, Bd. 9, Zürich 2004, S. 297– 302, hier 297 f.  Auch die histoire von Fahrstuhl zum Schafott konvergiert mit Anderschs Radioprojekt. So stiehlt Malles jugendliche Figur Louis (Georges Poujouly) aus Langeweile, Perspektivlosigkeit und Imponiergehabe ein Auto. Mit Veronique (Yori Bertin) bricht er zu einer Spritztour auf, ein Mensch wird dabei erschossen. Das deckt sich mit dem Klischee der blousons noir, der französischen Halbstarken, die in der Presse der Zeit geradezu dämonisiert werden. Bekannt wurde Fahrstuhl zum Schafott neben dem Soundtrack vor allem durch das Schauspiel Jeanne Moreaus in der Haupthandlung. Als Florence – im Gegensatz zu den Figuren Louis und Veronique eine erwachsene Frau – lässt sie ihren Ehemann von einem Geliebten umbringen. Geplagt von Schuldgefühlen und Angst irrt Florence durch das nächtliche Paris; der Geliebte ist derweil im Fahrstuhl eingeschlossen und droht von der Polizei entdeckt zu werden. Die Bilder von Moreau auf den Champs-Élysées sind an die ikonischen Aufnahmen James Deans angelehnt, die Dennis Stock auf dem Times Square fotografiert hat. In den Aufnahmen Moreaus und Deans kulminiert eine den Existentialismus popularisierende Geworfenheit urbaner Subjekte, die, so muss man konkludieren, endgültig zum Style geronnen ist. Der Soundtrack unterstützt dies in suggestiver Weise.  Vgl. Peter Wießmüller, Miles Davis. Sein Leben, seine Musik, seine Schallplatten, GautingBuchendorf 1984, S. 27.  Vgl. Peter Wegele, Jazz im Film. In: Kieler Beiträge zur Filmmusikforschung, 9, 2013, S. 150 – 183, hier S. 158 – 162.  Wießmüller, Miles Davis. Sein Leben, seine Musik, seine Schallplatten, S. 116.

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reichen.¹⁰³ Zwischen diesen beiden Polen operiert Malles Film, dessen Struktur vom Jazz mitgetragen wird. Ähnlich verhält es sich in Anderschs Hörspiel, wie Pressebeiträge der Zeit bemerken. Ein Artikel von Hans Rudolf Hilty aus der Jugendzeitschrift twen (1962) ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich. Anlass des Textes ist die Eingliederung von „Alfred Andersch’ berühmter Hörmontage“ in die Reihe der Philipstwen-Platten. ¹⁰⁴ In dieser Reihe werden den intellektuellen, frankophilen Twens Jazz, Klassik, Chansons, Lyrik-Jazz-Kombinationen sowie Brecht-Vertonungen von Kurt Weill offeriert. Hilty betont die „stützend[e], interpretierende“ Funktion des Jazz im Hörspiel, die „das Ganze“ erst zu einer „faszinierenden Einheit“ mache.¹⁰⁵ In verfahrenstechnische Begriffe übersetzt, heißt das: Der Tod des James Dean wählt Teile der Jazzfragmente des Soundtracks aus, zergliedert sie weiter und stellt mit ihnen die Übergänge, Blenden,¹⁰⁶ zwischen den montierten Texten her. Die Vereinzelung der jungen Generation wird in klanglicher Weise unterstrichen und durch die sekundäre Fragmentierung des Verfahrens auch in formaler Hinsicht konturiert. Zugleich ist es gerade dieses Verfahren, das Kohärenz in die Montage bringt. So wird die Jazzmusik leitmotivisch jeweils zu den Lyrikteilen eingesetzt. Durch den wechselnden Einsatz dynamischer und ruhigerer Stücke pendelt der Rhythmus des Hörspiels dadurch zwischen der von Höllerer konstatierten Aktivität und Passivität der ‚geschlagenen Generation‘. Übertragen auf das Gedicht von Cummings endet das reduzierte Bassspiel aus Evasion mit der Anweisung „Baß blitzschnell trocken wegnehmen“ vor dem letzten Vers des Textes.¹⁰⁷ Der Vers „[s]prachs. Und kippte ein Glas Wasser runter“ wird ohne Jazzbegleitung gesprochen,¹⁰⁸ genau wie der nächste Abschnitt der

 Konstantin Jahn, s.v. Jazz. In: Lexikon der Filmmusik. Personen – Sachbegriffe zu Theorie und Praxis – Genres, hg. von Manuel Gervink und Matthias Bückle, Laaber 2012, S. 113 – 114, hier S. 113.  Hans Rudolf Hilty, Der Tod des James Dean. Eine Funkmontage. In: twen, 11, 1962, S. 78 – 82, hier S. 78.  Für diesen Anlass wurde das Hörspiel neu aufgenommen. Die Neuaufnahme ist, so bewirbt Hilty das twen-Produkt, „noch um einiges härter und eindringlicher“ als „die seinerzeitige Funkinszenierung“. Meine Analyse basiert auf der ersten Radiofassung. Hilty, Der Tod des James Dean. Eine Funkmontage, 80 f.  Schwitzke bezeichnet Musik im Hörspiel als „klingende[s] Interpunktionszeichen“, also als Mittel, um Blenden zu markieren. Schwitzke, Das Hörspiel. Dramaturgie und Geschichte, S. 227 f.; zur Blende vgl. S. 189 – 193 sowie 245 – 253. Im Unterschied zu Schwitzkes pragmatischer Bestimmung der Hörspielmusik hat das Musikalische in Anderschs Der Tod des James Dean Eigenqualität. Die Musik ist hier nicht Beiwerk, sondern konstitutiver Bestandteil des Textuellen.  Andersch, Der Tod des James Dean. Eine Funkmontage. S. 206.  Andersch, Der Tod des James Dean. Eine Funkmontage. S. 206.

4.1.3 Montage: Text, Musik, Übersetzung

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Montage, ein Teil aus Robert Lowrys Boxreportage „Bluthochzeit in Chicago“. Dieser Text stammt aus der von der Ford-Foundation finanzierten Zeitschrift Perspektiven (1952– 1957), die in verschiedenen europäischen Ländern einen Dialog zwischen den Kontinenten fördern sollte beziehungsweise das Amerikabild in Europa mitgestaltet hat.¹⁰⁹ Lowry fokalisiert das Sportereignis über eine Gruppe von Fans, die sich Tage vor dem Kampf in den Boxhallen des jüngeren Herausforderers Robinson und des gealterten Champions LaMotta umschauen, um Prognosen über den Ausgang abzugeben. Andersch konzentriert sich auf den Sportabend selbst. Auch aus diegetischen Gründen verzichtet die Montage an dieser Stelle auf Musik. Es handelt sich um den angespannten, beinahe stillen Moment vor dem Boxkampf. In medias res heißt es: Der Ring war jetzt leer, und in seiner Leere bot er denselben mageren Anblick aufgeblasener Wichtigkeit, den ein Schlachtfeld bietet, wenn eine Schlacht geschlagen ist und die nächste noch nicht begonnen hat. Auf dem Boden nahe der Ringmitte war ein matter, frischer Fleck von Bang Bangs Blut. Auf allen Seiten des Stadions gingen die Lichter aus. Die Orgel verstummte. Nur der kleine, verlassene Ring dort unten leuchtete noch. Fünfzehntausend Menschen können nicht völlig still sein, aber wenn sie es versuchen, dann ist es ein eindrucksvolles Unterfangen. Jetzt versuchten sie es, als zwei lange Lichtstangen von Scheinwerfen irgendwo nahe der Decke plötzlich nach unten sprangen, sich zögernd einige Male über die Zuschauermenge hin- und hertasteten, dann wie ein riesiges, ungewolltes Symbol des bevorstehenden Leidens ein Kreuz formten und sich auf die Türen an den entgegengesetzten Seiten des Stadions hefteten.¹¹⁰

Auf dem Ringboden liegt das Blut des Boxers „Bang Ban[g]“. Das Hauptereignis steht bevor. Vokabeln wie „Schlacht“ und „Schlachtfeld“ greifen das Gedicht von Cummings auf („wie die Löwen zum Gemetzel rannten“) und rücken die Boxreportage in allegorische Zusammenhänge. Lowrys Text weist bereits selbst in diese Richtung und wird dann in Anderschs Montage im Sinne des Generationenkonflikts rekontextualisiert. Der Passus aus Lowrys Text, sachlich gesprochen von Rolf Boysen, hat die Funktion, den bevorstehenden Konflikt als stellvertretenden

 In der Zeitschrift wurden unter anderem Gedichte von Cummings und Kenneth Patchen veröffentlicht. Zur Geschichte der Perspektiven als Vermittlerin amerikanischer Lyrik vgl. Mueller, Lyrik „made in USA“. Vermittlung und Rezeption in der Bundesrepublik, S. 74– 78.  Robert Lowry, Bluthochzeit in Chicago. Das Treffen zwischen Ray Robinson und Jake LaMotta. In: Perspektiven, 15, 1956, S. 127– 141. Robert Lowry (1919 – 1994) lieferte mit seiner Prosa (z. B. Casualty, 1946) sowie als Herausgeber des Magazins Little Man wichtige Quellen für die Beatniks.

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4 De- und Re-Mythisierung. Alfred Andersch: Der Tod des James Dean

Zweikampf anzukündigen. Robinson ist der junge, überlegt boxende Herausforderer, der den älteren Champion durch strategische Passivität ermüdet, erst danach in die Offensive übergeht und gewinnt. Auffällig an der Szene vor dem Kampf ist die ins Religiöse strebende Codierung („wie ein riesiges, ungewolltes Symbol des bevorstehenden Leidens ein Kreuz“). Das sportliche Ereignis als quasireligiöse Erfahrung zu beschreiben, die Masse als Kultgemeinschaft zu figurieren, das sind Topoi des Sportdiskurses, insbesondere in der Moderne. Andersch nimmt dies zum Anlass, um zur Beat Generation und ihren spirituellen Implikationen überzuleiten. Begleitet von Miles Davis’ Trompete ertönt der „GEGENKULTUR-Urschrei“,¹¹¹ wie Ginsbergs „Howl“ vom Pop-Autor Benjamin von Stuckrad-Barre in spöttelnder Weise betitelt wurde: Anfang von ‚Au Bar du petit Bac‘, unter den ersten Takten der Solo-Trompete (Miles Davis) noch kein Text, dann Sprecher mit unterlegter, etwas zurückgenommener Musik Dieses Schema gilt für alle weiteren Einsätze des Sprechers der Ginsberg-Texte Ich sah die besten Köpfe meiner Generation vom Wahn zerstört hungrig hysterisch nackt Musik hochziehen die arm, zerfetzt, hohläugig und blau im übernatürlichen Dunkel der Armeleutewohnungen rauchend saßen, schwimmend über dem Häusermeer in Jazz-Ekstase Musik die unter der S-Bahn ihr Hirn dem Himmel zeigten und wahrnahmen schwankende mohammedanische Engel auf Mietskasernendächern Musik die durch die Universitäten gingen mit strahlend kühlen Augen Arkansas-Traumbilder und höllisch erhellte Tragödien bei den Schülern des Krieges erweckend Musik hoch, dann unter dem Text wegnehmen, so daß von „und lauschend“ an der Sprecher seinen Text ohne Musik zu Ende spricht die in Unterhosen auf dreckigen Buden hockten, ihr Geld im Papierkorb verbrennend und lauschend auf die Angst von nebenan¹¹²

In die Montage gehen Verse aus dem ersten Teil des Langgedichts ein. Dieser Abschnitt skizziert in Form einer Amplifikation die generationelle Erfahrung der Beatniks zwischen Bohème und Zusammenbruch („Ich sah die besten Köpfe meiner Generation“). Charakteristisch für Ginsbergs Lyrik ist der anaphorische  Benjamin von Stuckrad-Barre, Panikherz. Köln 2016, S. 307.  Andersch, Der Tod des James Dean. Eine Funkmontage, S. 207 f.

4.1.3 Montage: Text, Musik, Übersetzung

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Beginn der Verse („die“), durch den der Text, einem Solo in einer Jazzimprovisation vergleichbar,¹¹³ zwischen Repetition und Variation wechselt. Zudem unterstreichen adjektivische Akkumulationen wie „hungrig, hysterisch, nackt“ oder „arm, zerfetzt, hohläugig“ das Selbstverständnis der Beatniks, die sich nahe am existenziellen Ausnahmezustand begreifen (und das biografisch zum Teil auch waren). Andersch zitiert das Gedicht aus der zweisprachigen Fassung von Wolfgang Fleischmann (1959). Diese erste Übersetzung des Textes ist durch Glättungen der Vorlage gekennzeichnet.¹¹⁴ Die Hörspielmontage hebt die Glättungen nicht auf, doch lassen sich einige andere Abweichung von der Translation und vom Originaltext bemerken. Anderschs Eingriffe orientieren sich zum Beispiel an der englischen Syntax und sparen Teile der Verse aus. So heißt es bei Fleischmann im Unterschied zum Hörspieltext: „die unter der S-Bahn ihr Hirn dem Himmel entblößten und mohammedanische Engel auf Mietskasernendächern erleuchtet taumeln sahn“.¹¹⁵ Ginsbergs Vers lautet: „who bared their brains to Heaven under the El and saw Mohammedan angels staggering on tenement roofs illuminated“.¹¹⁶ Anderschs Version setzt das Verb „wahrnahmen“ genau an die Stelle des englischen „saw“ und verzichtet auf das Partizipialattribut „illuminated“, das Fleischmann mit „erleuchtet“ übersetzt. Durch diese im Deutschen ungebräuchliche Verbstellung weicht der Text vom Alltagssprachlichen ab und steigert die Kunstsprachlichkeit des Hörspiels. Warum aber sind die mohammedanischen Engel in Anderschs Montage nicht „erleuchtet“? Der Eingriff in den Übersetzungstext lässt sich unterschiedlich begründen. So ist es wahrscheinlich, dass das Verb die umgestellte Syntax der Verse unnötig sperrig gemacht hätte (‚wahrnahmen, schwankende, erleuchtete‘). Die

 Diederichsen schreibt über die selbstbezügliche Expressivität der Autoren Ginsberg, Kerouac und Burroughs: „Bei all diesen Autoren fehlt das Gegenüber einer anderen strukturellen Dimension auf der Ebene des Textes: Das Solo ist alles. Es ist getränkt mit Welt und literarischen Referenzen, aber es gibt keine Gegenstruktur. Es ist Jazz ohne Thema, ohne Haken und ohne Fallhöhe.“ Diederichsen, Über Pop-Musik. S. 212.  Vgl. Allen Ginsberg, Howl / Das Geheul. In: Ginsberg, Das Geheul und andere Gedichte. Einführung von William Carlos Williams, Nachwort von Walter Höllerer,Wiesbaden 1959, S. 8 – 37. Die spätere Übersetzung von Carl Weissner (1979), der mit Jürgen Ploog zusammengearbeitet hat und etwa auch Andy Warhols A ins Deutsche übertragen hat, translationiert aus zeitgeschichtlichen Gründen näher am Originaltext. Zur Übersetzungsgeschichte von Howl und zu den Glättungen der Fleischmann-Ausgabe vgl. Rolf Schwendter, Ein deutsches Geheul. Zur Übersetzungsund Rezeptionsgeschichte von Allen Ginsbergs Howl. In: Ginsberg, Howl / Geheul. Faksimile und Abschrift der ersten Fassung, hg. von Barry Miles, Hamburg 2004, S. 199 – 206.  Ginsberg, Howl / Das Geheul. S. 9.  Ginsberg, Howl / Das Geheul. S. 8.

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4 De- und Re-Mythisierung. Alfred Andersch: Der Tod des James Dean

kühnere Lesart würde annehmen, dass mohammedanischen Engeln im Montagekontext des christlich-existenzialistischen Andersch das Illuminiertsein abhandenkommt. Eine Affinität für verschiedene Formen der Spiritualität wird früh als Charakteristikum der Beat Generation wahrgenommen. Häufig werden ZenBuddhismus oder Kabbala bemüht, prinzipiell hat der Hang zum Religiösen jedoch kaum konfessionelle Grenzen. Karl O. Paetel führt Jack Kerouac an, der vollmundig erklärt: „Beat ist Hip plus Religion!“,¹¹⁷ also ‚hip‘ im Sinne des hipsters,¹¹⁸ der sich von der bürgerlichen Gesellschaft der squares, der Masse abwendet, um seine „Existenz als Person wiederzufinden“, und wie Paetel konstatiert, „vielleicht – auch wieder Gott zu erfahren“.¹¹⁹ All die Grenzerfahrungen der Beatniks, Jazz, Sex, Drogen, motorisierte Geschwindigkeit, seien „Formen der stets gleichen Ekstase, die zu Gott führt“.¹²⁰ Diese für die Bewegung konstitutive Suche nach spirituellen Erfahrungen unterscheidet die Beat Generation von verschiedenen postmodernen Ausprägungen der Gegenkultur,¹²¹ etwa vom Punk der 1970er Jahre oder der Pop-Phase in der deutschen Literatur um 1968. Die Beatniks sind ein genuin spätmodernes Kulturphänomen, das nicht allein aus gesellschaftspolitischen Gründen, sondern zugleich wegen des religiösen Einschlags das Interesse von Andersch geweckt hat.

 Jack Kerouac zit. nach Paetel, Einführung. S. 18.  Zur Genese des Begriffs ‚hipster‘ vgl. Mark Greif / Kathleen Ross / Dayna Tortorici (Hg.),What Was the Hipster? A Sociological Investigation, New York, NY 2010 (n+1 Research Branch Small Book Series. Bd. 3).  Paetel, Einführung. S. 9. f.  Paetel, Einführung. S. 9 f. Paetel bezieht sich mit dieser Argumentation auf den Beatautor Philipp Lamantia. John Clellon Holmes führt Kerouacs Religionsverständnis als repräsentativ für die Beat Generation an: „What differentiated the characters in On the Road from the slum-bred petty criminals and icon-smashing Bohemians which have been something of a staple in much modern American fiction – what made them beat – was something which seemed to irritate critics most of all. It was Kerouacs insistence that actually they were on a quest, and that the specific object of their quest was spiritual. Though they rushed back and forth across the country on the slightest pretext, gathering kicks along the way, their real journey was inward; and if they seemed to trespass most boundaries, legal and moral, it was only the hope of finding a belief on the other side. ‚The Beat Generation‘, he said, ‚is basically a religious generation‘.“ Holmes, The Philosophy of the Beat Generation. S. 66 f.  Dass es nur einige gegenkulturelle Strömungen sind, die sich so von der Beat Generation abgrenzen, macht etwa die dem New Age und der Neomystik verbundene Hippiebewegung der 1960er Jahre deutlich. Die gesellschaftspolitischen Unterschiede zwischen Hippies und Beatniks sind trotz Ginsbergs Berührungspunkten mit der Bewegung evident.

4.2 „Einfach rauh“. James Dean: Teenageridol

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4.2 „Einfach rauh“. James Dean: Teenageridol Ursprünglich hatte Andersch geplant, allein John Dos Passos’ Zeitungstext „The Death of James Dean“ für die Hörfunkarbeit einzurichten. Da die Stuttgarter Zeitung den Artikel von Dos Passos jedoch vorher publizierte, musste das Projekt um weitere Texte ergänzt werden.¹²² Das Manuskript des Hörspiels deutet auf diese Entstehungsumstände hin. Auch zeigt sich dort eine Hierarchisierung der Texte sowie ihrer Verfasser. Die Langfassung des Manuskripttitels lautet: „Der Tod des James Dean. Ein Bericht von John dos [sic] Passos[.] Begleitet von Texten amerikanischer Dichter und der Trompete von Miles Davis. Eine Montage von Alfred Andersch“.¹²³ Im Hörspiel setzt der Artikel von Dos Passos nach Ginsbergs „Howl“ mit einem Abschnitt über den Nachruhm James Deans ein. James Dean ist tot seit drei Jahren, aber immer noch geistert er, jung und finster, durch die Schlagzeilen. James Dean ist tot, seit drei Jahren, aber wenn sie aus dem dumpfen Dunkel, aus der Stickluft der Vorstadtkinos drängeln, wo ein alter Dean-Film läuft, die Boys in den Lederjacken, in den hohen Stiefeln, die Boys in den hautengen Blue Jeans, die Boys mit den handbreiten Motorradkoppeln um den Leib, so stehen sie heute noch da, einer neben dem andern, vor den Spiegeln in der Herrentoilette, und sie blicken ihr Spiegelbild an und sehen James Dean; die meuternde Frisur, die tiefsitzenden schwimmenden Augen des Ausgestoßenen, den bitteren Ausdruck des Geschlagenen im Gesicht, die Lippen höhnisch verzogen. Sie ziehen die Taschenkämme, sie wühlen in ihrem Haar und klatschen es hin, einer wie der andere, auf den Millimeter genau, hingerissen tauchen ihre Augen in die Augen im Spiegel, sie verzerren den Mund zu einer Grimasse der Verachtung, jeder Fan ein gottverlassener Narziß, verliebt in sein eigenes Bild, jeder ein kleiner James Dean.¹²⁴

Der Theaterschauspieler Hermann Schomberg (Jg. 1907) spricht die Dos PassosTeile dynamisch, mit gepresster Stimme und generationeller Distanz zum Gegenstand. Wiederholungen wie „tot seit drei Jahren“ weisen in Kombination mit der Konjunktion „aber“ auf das Nachleben James Deans bei seinen jugendlichen,  Vgl. Reinhardt, Alfred Andersch. Eine Biographie, S. 681. Zur Rezeption und Adaption von John Dos Passos’ Texten in der Literatur der frühen Bundesrepublik vgl. Jochen Vogt, Kein taxus canadensis, kein Dos Passos, kein „Malteser Falke“. Zur Rezeption US-amerikanische [sic] Literatur in der frühen Bundesrepublik. In: Unbegrenzt. Literatur und interkulturelle Erfahrung, hg. von Michael Hoffmann, Frankfurt a. M. 2013, (Historisch-Kritische Arbeiten zur deutschen Literatur. Bd. 51) S. 164– 173, hier S. 167– 170. Im Zuge des McCarthyismus wurden die Publikationen von Dos Passos aus den Amerikahäusern entfernt, Grund war die sozialistische Gesinnung des Autors. Hans Werner Richter kannte die Romane von Dos Passos, wie vermutlich auch Andersch, aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft.  Andersch, Der Tod des James Dean [Manuskript]. S. 1.  Andersch, Der Tod des James Dean. Eine Funkmontage. S. 208 f.

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4 De- und Re-Mythisierung. Alfred Andersch: Der Tod des James Dean

männlichen Fans hin. Hans Magnus Enzensbergers Translation, die für die Montage angefertigt wurde, kreolisiert durch die englisch belassenen Bezeichnungen „Blue Jeans“ und „Boys“, die von Schomberg deklamatorisch hervorgehoben werden. Gemeinsam mit den „Lederjacken“ und „Motorradkoppeln“ bedienen sich diese Begriffe an der Ikonografie jugendlicher Renitenz der 1950er Jahre. Augenfällig ist die mediale Konstruktion der Figur James Dean, die im Text mit Formulierungen und Begriffen wie „geistert er durch die Schlagzeilen“, „Vorstadtkinos“ und den „Spiegeln in der Herrentoilette“ in den Fokus gerückt wird. James Dean, so legt es der Text nahe, ist im engeren Sinne des Wortes ein Idol, ein Bild beziehungsweise Abbild, das die Jugend schwärmerisch bis kultisch bewundert, dem sie nacheifert.¹²⁵ Daher ist der Hinweis auf die Spiegel so wichtig, die auch in den Filmen Deans von Relevanz sind.¹²⁶ In ihnen begegnen sich die Filmfiguren und die Kunstfigur Dean. Hier wird das eidolon kreiert, dessen Semantik das Trugbild mitschwingen lässt. In den reflektierenden Oberflächen ‚deanifizieren‘ sich schließlich die Fans durch Style und Mimik. Auch nach dem Tod des Schauspielers reproduziert sich auf diesem Weg das Zeichen ‚Dean‘ außerhalb der Leinwand. Der Textabschnitt endet mit einer ins Sarkastische tendierenden Abweichung von der englischen Vorlage („jeder ein kleiner James Dean“). In Dos Passos’ Zeitungstext heißt es sachlich „just like James Dean“.¹²⁷ Dos Passos, ein Altmeister der modernen Montage, hat seinen Zeitungsartikel über die „sinister adolescents, class of ’58“ im „newsreel style“ angefertigt.¹²⁸ Seit der international beachteten U.S.A.-Triologie (1930 – 1936) gilt dieser Stil als sein Markenzeichen. Gemeint ist ein Textverfahren, dass Nachrichtenschlagzeilen in Prosatexte montiert, die auf der Grundlage verschiedener Handlungsstränge ein gesellschaftliches Panorama hervorbringen sollen.¹²⁹

 Zum ‚Idol‘ und zum verwandten Begriff ‚Ikone‘ vgl.Walter Uka, s.v. Idol/Ikone. In: Handbuch Populäre Kultur. Hg. von Hans-Otto Hügel, Stuttgart / Weimar 2003, S. 255 – 259.  Vgl. dazu Stefan L. Brandt, Performanz und Selbstermächtigung: Zur Ästhetik des Körperlichen bei James Dean. In: James Dean lebt! Jugendkultur und Starkult in Film und Musik 1950 – 2000. Analysen und Unterrichtsmaterialien, hg. von Werner Kremp unter Mitarbeit von Charlotte Gerken und Peter Sommerlad, Trier 2006, (Atlantische Texte. Bd. 26) S. 11– 52, hier S. 15 – 19.  John Dos Passos, The Death of James Dean. In: Esquire, 10, 1958, S. 63 – 64, hier S. 63.  Dos Passos, The Death of James Dean. S. 63.  Die newsreels wurden in der Forschung zu Dos Passos als „Noise of History“ bezeichnet. Sie sind im durchaus Bachtin’schen Sinne ein Mittel, durch das der Text Polyphonie erzeugt. Zur U.S.A.-Trilogie konstatiert Charles Marz: „Its power and meanings come ultimately from vertical, atemporal, simultaneous events, and not from horizontal, biographical, successive actions. They are not generated by the historical exactness but by the random collisions of voices“. Derart

4.2 „Einfach rauh“. James Dean: Teenageridol

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Im Beitrag für den Esquire bindet Dos Passos in Majuskeln gesetzte Zeitungsmeldungen ein, die das Thema ‚Teenagerkriminalität‘ aufgreifen.¹³⁰ Zwar wird auch Kaiserin Soraya erwähnt und man erfährt von der optimistischen Prognose „U.S. Can Hit Moon in ’58“, aber die Hälfte der Nachrichten sieht folgendermaßen aus: „Bronx Youth 16 Seized In Teen-Age Gang Killing“, „TeenAgers Terrorize California Town“, „7 Teen Killers In Jury’s Hands After Ninety-Five Days“.¹³¹ Die US-amerikanische Presse ist gefüllt mit Meldungen über jugendliche Straftäter und Straftäterinnen.¹³² In der Bundesrepublik verhält es sich ähnlich. Ab Mitte der 1950er Jahre häufen sich sensationalisierende Berichte über Jugendbanden, die Wirtschaftssenatoren ausrauben, über Tumulte während Rock’n’Roll-Konzerten und Tanzwettbewerben sowie über Jugendliche, die nach Kinobesuchen randalierend durch deutsche Innenstädte ziehen.¹³³ Die Bremer Polizei spricht nach einem Vergewaltigungsvorfall von einer „,Diktatur der Halbstarken‘“ und ruft die Bürgerinnen und Bürger der Hansestadt sogar zur Mithilfe auf: „,Geht dazwischen, jagt die sich zusammenrottenden Halbstarken auseinander, verhindert solche Taten, anstatt müßig dabeizustehen!‘“¹³⁴ Als visuelle Stimulantien der Ausschreitungen dienen die Filme Rock Around the Clock (R: Fred F. Sears, 1956) mit Bill Haley, The Wild One (R: László Benedek, 1953) mit Marlon Brando sowie Deans Rebel Without a Cause. Das west- und ostdeutsche Kino dreht Pendants wie Die Halbstarken (R: Georg Tressler, 1956) mit dem Mädchenschwarm Horst Buchholz und Berlin, Ecke Schönhauser (R: Gerhard Klein, 1957) mit dem Brecht-Schauspieler Ekkehard Schall. Anfangs verstehen die westdeutschen Printmedien die Halbstarken als politisches Phänomen. So wird die Wiederbewaffnung der Bundeswehr ebenso als Grund der Vorfälle diskutiert wie das Verbot der KPD, manche Autorinnen und Autoren vermuten gar eine kommunistische Konspiration hinter den Aufstän-

‚random‘ wie Marz angibt, sind die gewählten newsreels allerdings nicht. Charles Marz, Dos Passos’s Newsreels: The Noise of History. In: Studies in the Novel, 2, 1979, S. 194– 200, hier S. 194.  Das Layout der Zeitungsseite greift dieses Verfahren auf, indem Versatzstücke der Nachrichten über dem Text miteinander kollidieren. Vgl. Dos Passos, The Death of James Dean. S. 63.  Dos Passos, The Death of James Dean. S. 63.  Es sind nicht nur Jugendbanden, die Schlagzeilen machen. Dos Passos bezieht sich unter anderem auf den Fall von Cheryl Crane, der Tochter der Schauspielerin Lana Turner, die als Vierzehnjährige den Partner ihrer Mutter erstochen hat, um diese vor häuslicher Gewalt zu schützen. Die Funktionen und Rollen von Straftäterinnen in den gesellschaftlichen Diskursen über die Halbstarken sowie vor allem in den entsprechenden Fiktionalisierungen dieser Diskurse haben eigene Untersuchungen verdient.  Vgl. Mrozek, Halbstark! Aus der Urgeschichte der Popkultur, S. 630 – 632.  n.t.: Diktatur der Halbstarken? In: Die Zeit, 21, 24. Mai 1956, S. 9.

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4 De- und Re-Mythisierung. Alfred Andersch: Der Tod des James Dean

den.¹³⁵ Ab 1957 tritt sukzessive eine Entpolitisierung und Deeskalation der Problematik ein. Untersuchungen aus der Soziologie und Psychologie, etwa Curt Bondys Jugendliche stören die Ordnung und Helmut Schelskys Die skeptische Generation (beide 1957), verlagern das Phänomen in den familiär-privaten Bereich.¹³⁶ Die Halbstarken – dieses Argument wird die 68er-Generation aufgreifen – seien unpolitisch. Vor allem die sich wandelnden Werte der Bundesrepublik sowie eine schwache Vätergeneration werden als Auslöser für das Aufbegehren genannt. Gleichzeitig führt die beginnende Liberalisierung der Politik zu einer Neubewertung amerikanischer Kulturprodukte. Durch Ludwig Erhards in Aussicht gestellten Wohlstand für Alle (1957) und den Imperativ der Konsumfreiheit wird die gesellschaftliche Brisanz amerikanischer Populärkultur reduziert. Diese integrative Bewegung macht Positionen virulent, die die Rezeption amerikanischer Kulturerzeugnisse nicht mehr als Gefahr, sondern als Mittel zum Spannungsabbau für Jugendliche begreifen.¹³⁷ Die beschriebene Entwicklung geht Hand in Hand mit der Allemanisierung des Rock’n’Roll durch Figuren wie Conny Froboess und Peter Kraus („Sugar Baby“; „Teenager Melodie“, beide 1958) als brave, salonfähige Antwort auf die vorherigen Jahre. Mit Filmen wie Wenn die Conny mit dem Peter (R: Fritz Umgelter, 1958) oder Conny und Peter machen Musik (R: Werner Jacobs, 1960) liefern die BRAVO-Lieblinge eine heiter-harmlose Wirtschaftswundervariante zu den straffälligen Jugendlichen, wie auf diesem nachkolorierten Titelblatt zum Jahreswechsel 1958 / 1959, das Kraus und Froboess adrett mit einigen Luftschlangen und etwas Sekt zeigt (vgl. Abb. 16).¹³⁸ In Zeiten von Teenagern wie Conny und Peter  Vgl. Uta Poiger, Jazz, Rock and Rebels. Cold War Politics and American Culture in a Divided Germany, Berkeley, CA / Los Angeles, CA / London 2000, S. 95.  Vgl. Helmut Schelsky, Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend, Düsseldorf / Köln 1957, S. 84– 97 und 488 – 497; sowie Curt Bondy et al., Jugendliche stören die Ordnung. Bericht und Stellungnahme zu den Halbstarkenkrawallen, München 1957. Bondy et al. halten abschließend unter den „Leitsätzen vom Marburger Jugendgerichtstag“ von 1956 fest: „Die Halbstarken-Krawalle sind nicht symptomatisch für die gesamte heutige Jugend, sie stellen auch keine neue Form der Jugendkriminalität dar. So schrumpft das ganze Problem erheblich zusammen – ‚alles scheint nur halb so wild zu sein‘“. Bondy, Jugendliche stören die Ordnung. Bericht und Stellungnahme zu den Halbstarken-Krawallen, S. 121.  Vgl. Poiger, Jazz, Rock and Rebels. Cold War Politics and American Culture in a Divided Germany, S. 116 f. Vgl. Ludwig Erhard, Wohlstand für Alle. Düsseldorf 1957.  Vgl. hierzu Michael Fischer, Musik, Stars, Medien. Peter Kraus als Beispiel einer domestizierten Amerikanisierung der deutschen Musikkultur. In: Amerika-Euphorie – Amerika-Hysterie. Populäre Musik made in USA in der Wahrnehmung der Deutschen 1914– 2014. Zum 100-jährigen Bestehen des Deutschen Volksliedarchivs und zur Gründung des Zentrums für Populäre Kultur und Musik, hg. von Michael Fischer und Christofer Jost, Münster / New York, NY 2017, (Populäre Kultur und Musik. Bd. 20) S. 211– 224.

4.2 „Einfach rauh“. James Dean: Teenageridol

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muss die ‚geschlagene Generation‘ auf den Intellektuellen Andersch umso mehr wie etwas gewirkt haben, mit dem man sich beschäftigen sollte.

Abb. 16: „Prosit Neujahr!“ (BRAVO, 52, 1958 / 1959).

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4 De- und Re-Mythisierung. Alfred Andersch: Der Tod des James Dean

Teenager entwickeln sich in den 1950er Jahren zu einer relevanten Konsumentengruppe.¹³⁹ Anhand der Konstellation ‚Dean – Kraus / Froboess‘ lässt sich ein Muster beobachten, das den Markt sowie damit einhergehende generationelle Konflikte nach dem Zweiten Weltkrieg prägt. Das Zeichen ‚James Dean‘ fungiert als renitentes Idol der Jugend und wird so zum Schreckbild der älteren Generation. Die Reaktion des Marktes ist gewohnt opportun. Einerseits wird die intensive Weitervermarktung des Ausgangsphänomens betrieben, andererseits werden amerikanisierte, aber gesellschaftskompatiblere Alternativen ausgebildet. Diese Ausdifferenzierung ist der erste Schritt zur Normalisierung. Eine der beachtlichsten Stimmen im Diskurs über die Teenagerkultur der Nachkriegsjahre ist der österreichische Schriftsteller Jean Améry. Lange vor seiner Abhandlung über den Freitod, Hand an sich legen (1976), erscheint der Band Teenager-Stars. Idole unserer Zeit (1960). Souverän und humorvoll reflektiert Améry die Spezifika von Stars wie Brigitte Bardot, Elvis Presley, Romy Schneider und James Dean sowie Conny Froboess und Peter Kraus. Seine Vergangenheit als von den Nationalsozialisten verfolgter und in Konzentrationslagern internierter Jude spielt im Rahmen dieser Reflexion ebenfalls eine Rolle. Im Kapitel „Connyformismus“ schreibt Améry über Froboess, die bereits als Kinderstar Erfolge feiern konnte („Pack’ die Badehose ein“, 1951), „Conny ist Backfisch, deutsche Version 1960. Sie ist das ‚reine‘ Mädchen, das Steptanzen [sic] und Hot-Singen gelernt hat, die holde Unschuld, die sich auf’s Schnalzen mit den Fingern versteht. […] Bei Conny ist die Jugend so gut aufgehoben wie in einer Klosterschule“.¹⁴⁰ Beschwichtigend fallen die daran anschließenden Überlegungen zum „Teenager-Rummel im allgemeinen“ aus.¹⁴¹ Zwar greife durch Vorbilder wie Froboess eine konformistische Haltung um sich, doch sei die deutsche Teenagerkultur damit weit harmloser als etwa die „Wandervogel-Bewegung“ der Jahrhundertwende. „Freilich, man wandert nicht mehr, […] man philosophiert und politisiert nicht mehr, findet sich vielmehr in Star-Clubs zu einer vielleicht geistig bescheideneren, politisch aber entschieden ungefährlicheren Gemeinsamkeit zusammen.“¹⁴² Das Vorwort von Teenager-Stars, betitelt als „Brief an ei-

 Vgl. zum Teenager in der Bundesrepublik Kaspar Maase, BRAVO Amerika. Erkundungen zur Jugendkultur der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren, Hamburg 1992, S. 113 – 175. Vgl. zur Genese des Teenagers Jon Savage, Teenage. Die Erfindung der Jugend (1875 – 1945), Frankfurt a. M. / New York, NY 2008.  Jean Améry, Connyformismus. In: Amery, Teenager-Stars. Idole unserer Zeit. Mit 20 Porträts und Kunstdrucktafeln, Rüschlikon-Zürich / Stuttgart / Wien 1960, S. 97– 102, hier S. 97.  Améry, Connyformismus. S. 100.  Améry, Connyformismus. S. 100.

4.2 „Einfach rauh“. James Dean: Teenageridol

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nen jungen Freund“, wird noch deutlicher: „Wenn Deine Altersgenossen auch gelegentlich einer singenden Niete aufsitzen, so ist es doch noch tausendmal besser, als sie folgten einem politischen Demagogen!“¹⁴³ In diesem Zusammenhang heißt es, der Starkult habe „seelenhygienisch gesund[e] Auswirkungen“ auf die Jugend.¹⁴⁴ Das sind, geäußert von einem Intellektuellen, erstaunlich moderate, leichte Töne zu den jugendkulturellen Tendenzen der Nachkriegszeit. Amérys Gedanken bestechen durch ihre Differenziertheit, ihre geschichtliche Sensibilität. Die Kehrseiten von Konformismus und Entpolitisierung werden in seinen Texten mitgedacht. So hinterlässt der ‚Connyformismus‘ einen ambivalenten Eindruck. Zum Abschluss des Kapitels über Froboess schreibt Améry mahnend mit Blick auf die nationalsozialistische Vergangenheit: „Wir sagen zur Bravheit nicht nein, bewahre. Wir sagen aber auch nicht bedingungslos ja, denn wir wissen nur allzugut, wie schnell das Pendel in entgegengesetzter Richtung ausschwingen kann…“¹⁴⁵ Amérys Argument zu James Dean, der Gallionsfigur jugendlicher Renitenz, ist gleichermaßen überzeugend. Dean, so Améry, fülle erst nach seinem Tod eine Doppelfunktion als Idol und Reizfigur aus. Erst auf diese Weise, post mortem, werde er zum Mythos. Im Dean-Kapitel aus Teenager-Stars heißt es über das „Geschäft mit dem Tode“: Wesentlicher aber war dies: daß mehr noch als im Falle Marlon Brandos hier durch einen Schauspieler ein Stil der Jugend entstand. Die Ebenbilder Jimmy Deans (manche ließen sich, um ihm zu gleichen, das Haar blond färben) lümmelten an den Café-Tischen und vor den Juke-Boxes in London und Paris nicht anders als in Zürich und Iserlohn. Der „Rebell ohne Ziel“ wurde zur Lebensformel junger Männer und zur Sehnsucht der Mädchen. Jimmys und seiner Gegner wildes Kampfspiel mit dem Schnappmesser löste in der Vorstellungswelt der Halbwüchsigen die Mensur von einst ab. Der Slang der amerikanischen College-Jugend, den Jimmy im „Rebel“ sprach, ging auf Umwegen und Übersetzungen ins Deutsche ein. Die Revolte gegen nichtverstehende Eltern (wobei die Frage, was die armen ‚Alten‘ nicht verstehen, und was es da eigentlich zu begreifen gibt, nicht weiter erörtert wurde) ergab für die jungen Menschen das seelische Gerüst ihres Verhältnisses zu den Vollerwachsenen.¹⁴⁶

Diese Leerstelle – im Sinne der Artikulation eines Unbehagens, einer zornigen Antihaltung ohne lückenlose Konkretion der Hintergründe – entfaltet Andersch

 Jean Améry, Brief an einen jungen Freund. In: Améry, Teenager-Stars. Idole unserer Zeit. Mit 20 Porträts und Kunstdrucktafeln, Rüschlikon-Zürich / Stuttgart / Wien 1960, S. 7– 12, S. 12.  Améry, Brief an einen jungen Freund. S. 12.  Améry, Connyformismus. S. 102.  Jean Améry, Botschaft von drüben. James Dean. In: Améry, Teenager-Stars. Idole unserer Zeit. Mit 20 Porträts und Kunstdrucktafeln, Rüschlikon-Zürich / Stuttgart / Wien 1960, S. 31– 36, hier 32 f.

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bedeutungsgesättigt in seinem Hörspiel. Das verbindende Merkmal zwischen der geschlagenen Generation und James Dean lautet Ziellosigkeit. Wie zu zeigen ist, wird dies am Ende der Radioarbeit zum Ausgangspunkt eines jovialen Resümees, mit dem Der Tod des James Dean auf Distanz zur Jugend geht. Bevor dies näher betrachtet wird, richtet sich das Augenmerk auf den von Améry erwähnten Slang der Teenager, der punktuell, aber dafür in markanter Weise in Anderschs Hörspiel integriert ist. „Er hat recht. Alles, was er gesagt hat, war rauh. Einfach rauh“.¹⁴⁷ Das konstatiert mehrfach eine als „Junge“ typisierte Figur über den Schauspieler. Es bleibt ihr einziger Sprechanteil. Das erste Mal äußert sich der „Junge“, den Andersch aus Dos Passos’ Artikel ableitet, nach einem O-Ton von Dean, „Ich jedenfalls könnte die Gesellschaft eines Menschen, wie ich es bin, einfach nicht ertragen.“ Der darauffolgende Satz des ‚Jungen‘ wird mit „Die Teenager aber sagen“ eingeleitet. Andersch ist die Stelle wichtig, „Nah am Mikrofon, intensiv“, soll sie gesprochen werden.¹⁴⁸ Das Ergebnis klingt dann auch so und lässt die Aufnahmesituation im Studio in den Vordergrund treten. Was hat es mit dem ungelenken Wort ‚rauh‘ auf sich, das Andersch zur Charakterisierung Deans und seines Nachruhms bei den Fans heranzieht? Der Begriff hat Eindruck hinterlassen und wird in Zeitungsbesprechungen zitiert.¹⁴⁹ Da das Wort auf die Proposition folgt, die angibt, dass der Schauspieler ‚recht hat‘, in allem was er sagt (und tut), fungiert es als ein Ausweis von Deans ruhmbedingter Gültigkeit. Das Adjektiv meint ferner etwas, so die aktuelle DudenDefinition, das nicht gefällig, sondern unangepasst ist, ‚sich nicht glatt anfühlt‘, ‚nicht lieblich anmutet‘. Das ‚Wesen‘ eines Menschen kann man als ‚rau‘ bezeichnen, wenn ‚im Umgang mit anderen auf Feingefühl‘ verzichtet wird, genauso die menschliche ‚Stimme‘, wenn sie ‚nicht volltönend‘ ist, stattdessen ‚heiser‘ und ‚kratzig‘ daherkommt. Auffällig ist die Stimme des jungen Sprechers Horst Bergmann, der ehrfürchtig intoniert. Nach einer kurzen Pause wiederholt Bergmann den Begriff in Kombination mit dem Partikel „Einfach“. Dies macht die Absolutheit des ‚Rauhen‘ deutlich und rückt den Begriff ins Tautologische. ‚Rauh‘ ist ‚einfach rauh‘. Hier gerät die Semantik an ihr Ende. So erklärt sich der Begriff aus sich selbst heraus – aber nur wenn man zur Peergroup gehört, wenn man den Code spricht, den Lifestyle praktiziert. Dennoch: Was ist das für ein Wort? Im Manuskript und in den Textausgaben des Hörspiels ist ‚rauh‘ mit einem Asterisk versehen. Die dazugehörige End- beziehungsweise Fußnote – es ist die

 Andersch, Der Tod des James Dean. Eine Funkmontage, S. 215.  Andersch, Der Tod des James Dean. Eine Funkmontage, S. 215.  Vgl. dree: Erzwungen – doch echt. In: Die Zeit, 36, 02.09.1960, S. 16.

4.2 „Einfach rauh“. James Dean: Teenageridol

263

einzige im gesamten Text – erläutert: „‚rauh‘, ein beliebter Ausdruck der deutschen Halbstarken, wurde gewählt als Entsprechung für das im amerikanischen Slang-Gebrauch unübersetzbare ‚cool‘“.¹⁵⁰ „The teen-agers approve: ‚Everything he said was cool‘“, heißt es in Dos Passos’ Artikel im Esquire. ¹⁵¹ Die US-amerikanische Geschichte der Coolness schlägt erst sekundär eine Brücke zu den Rock’n’Roll-begeisterten Halbstarken und Teenagern, wie es der Hörspieltext und Dos Passos’ Artikel nahelegen. Das Konzept verweist zunächst auf den Jazz und auf Miles Davis im Speziellen. Als itutu aus der Kultur afro-amerikanischer Sklaven kommend, die mit einer kontrollierten cool mask einen Abwehrmechanismus gegen soziale Unterdrückung in Anschlag bringen, wandert black cool in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in den Jazz und Blues. Gegen Ende der 1940er Jahre erfährt es durch Davis die Erhebung zum musikalischen Stil, Alben wie Birth of the Cool (1949 / 1957) denken den Bebop der vorherigen Zeit weiter.¹⁵² In den 1950er Jahren wird die Coolness schließlich von „disillusioned white people“ appropriiert, besonders Beatniks und Bohemians setzen sich mit ihrem die gesellschaftlichen Normen herausfordernden white cool von der „decade’s regimented conformity“ ab.¹⁵³ Demgemäß kann man Coolness als eine „habitualisierte Technik des Sich-Entziehens“ in der Moderne begreifen.¹⁵⁴ James Dean wird „cool’s first martyr and

 Andersch, Der Tod des James Dean. Eine Funkmontage, S. 225. Andersch baut den Typus des Halbstarken auch in Die Rote ein. Die Protagonistin Franziska trifft auf eine „Rock and Roll-gang“, auch von Elvis Presley ist die Rede („ein Opfer für Presley“). Alfred Andersch, Die Rote. Roman [1960]. In: Andersch, Gesammelte Werke. Kommentierte Ausgabe, hg. von Dieter Lamping, Bd. 1, Zürich 2004, S. 185 – 438, hier S. 354 f.  Dos Passos, The Death of James Dean. S. 63.  Vgl. Claudia Springer, James Dean Transfigured. The Many Faces of Rebel Iconography, Austin, TX 2007, S. 24 f.  Springer, James Dean Transfigured. The Many Faces of Rebel Iconography, S. 23. Diederichsens These, dass Popkultur und Popmusik Attitüden und Mechanismen des Jazz imitieren, trotz aller Unterschiede zum Jazz gewissermaßen erst aus diesen Aneignungen hervorgehen, erhält durch die Genese der Coolness Schubkraft. Vgl. Diederichsen, Über Pop-Musik. S. 181– 259, bes. S. 237– 242. Diederichsen erläutert eine andere Seite des Begriffs: „‚Cool‘“ sei „näher an ‚sauber‘ als an ‚kühl‘“. „Cool sein heißt außer Gefahr sein, sicher“ sein und bezeichnete, so Diederichsen, vor allem „eine Situation oder ein[en] Prozess, nicht oder selten eine Person“. Diederichsen, Über Pop-Musik. S. 200 f.  Andreas Urs Sommer, Coolness. Zur Geschichte der Distanz. In: Zeitschrift für Ideengeschichte, 1, 2007, S. 30 – 44, S. 31. Sommer dehnt den Begriff aus, indem er kursorisch Distanz als Denk- und Verhaltensweise von der Antike bis ins einundzwanzigste Jahrhundert reflektiert. Eine europäische Form kalten Verhaltens in den 1920er und 1930er Jahren hat Helmut Lethen mit Graciáns Konzept der ‚kalten Persona‘ verknüpft. Vgl. Helmut Lethen, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a. M. 1994 (edition suhrkamp. Bd. 1884).

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4 De- und Re-Mythisierung. Alfred Andersch: Der Tod des James Dean

saint“ (vorrangig der white people).¹⁵⁵ In Folge dieser Entwicklung findet der Begriff in der Sprache halbstarker Teenager Verwendung und verwässert in den nächsten Dekaden zum universellen Ausruf von Wohlgefallen, der sich vom ideengeschichtlichen Konzept der Coolness trennt. Für Anderschs Hörspiel sind die wortlautlichen oder naheliegenden Translationen von ‚cool‘ genauso unbrauchbar wie der englische Begriff selbst, der offenbar erst ab den späten 1960er Jahren im Deutschen verwendet wird.¹⁵⁶ Übersetzungen wie ‚kühl‘,¹⁵⁷ ‚abgeklärt‘ oder ‚lässig‘¹⁵⁸ decken sich nicht mit dem Sprachgebrauch der Halbstarken, wie ihn Andersch und sein Übersetzer Enzensberger wahrnehmen. ‚Rauh‘ – das deutsche ‚cool‘, das ‚rough‘ ähnelt – tauscht die Konnotation des Glatten und Lässigen gegen das Harte und Unwirsche ein. Das kann man als Volte des Hörspiels bezeichnen. Die materielle Textur, die mit dem gewählten Begriff aufgerufen wird, etwa im Sinne einer rauen Oberfläche, klingt mehr nach Widerstand, nach Dringlichkeit, nach Gefahr und Unbehagen, als es die englische Vorlage zu konnotieren vermag. In Jugendliche stören die Ordnung wenden sich Curt Bondy und seine Mitarbeiter in einem Kapitel dem Habitus der Halbstarken zu. Dabei erfolgt eine ethnographisch anmutende Beschreibung jugendlicher Körperhaltung, die die Verfasser mit den Begriffen ‚Coolness‘ / ‚Lässigkeit‘ hätten auf den Punkt bringen können: „Die gesellschaftlichen Formen des Umgangs fallen auf durch eine

 Dick Pountain / David Robins, Cool Rules. Anatomy of an Attitude, London 2000, S. 64.  Vgl. Ernst Günther Welter, Die Sprache der Teenager und Twens. Frankfurt a. M. 31968, (Schriftenreihe zur Jugendnot. Bd. 5) S. 53. Die dritte Auflage von Welters Wörterbuch kennt den Ausdruck ‚cool‘ als Bestandteil der deutschen Jugendsprache und ordnet ihn anderen Begriffen zu (camp, hip), die allgemein mit „jugendlich modern“ übersetzt werden. Vgl. dagegen die erste Auflage: Ernst Günther Welter, Die Sprache der Teenager und Twens. Frankfurt am Main 1961 (Schriftenreihe zur Jugendnot. Bd. 5). Hier fehlt der Begriff. Zur Begriffsgeschichte vgl. auch einen Beitrag von Gabriele Mentges, die die Coolness allerdings erst in deutschen Wörterbüchern ab den 1980er Jahren findet: Gabriele Mentges, Coolness – Zur Karriere eines Begriffs. Versuch einer historischen und analytischen Annäherung. In: Coolness. Zur Ästhetik einer kulturellen Strategie und Attitüde, hg. von Annette Geiger, Gerald Schröder und Änne Söll, Bielefeld 2010, (Kultur- und Medientheorie) S. 17– 35, hier S. 23.  So wird das Wort in der deutschen Fassung der Beat-Monographie The Holy Barbarians übersetzt. Weitere Übersetzungsangebote lauten: „‚kalt‘“ sowie „dem Sinn nach ‚unsentimental‘, ‚nüchtern‘“. Lawrence Lipton, Die heiligen Barbaren [1959]. Übersetzt von Helmut Degner, Düsseldorf 1960, S. 305.  Vgl. hierzu Kapsar Maase, Die amerikanische Gebärde – Lässigkeit in Nachkriegsdeutschland. In: Building America. Migration der Bilder, hg. von Anke Köth, Kai Krauskopf und Andreas Schwarting, Bd. 2, Dresden 2007, S. 193 – 214. Das Adjektiv ‚lässig‘ wird in Maases Artikel nicht mit dem Amerikanischen ‚cool‘ in Verbindung gebracht, hat sich aber sukzessive zu einem Attribut der Coolness entwickelt.

4.2 „Einfach rauh“. James Dean: Teenageridol

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Vermeidung aller ruckhaft-eckigen und steifen und eine Betonung elastischer Bewegung des ganzen Körpers“.¹⁵⁹ Mit dem Wort ‚rauh‘ wird nun eine andere Facette jugendlichen Verhaltens in den Vordergrund gekehrt. Der Begriff impliziert einen Habitus der leichten Reizbarkeit. Die für die Coolness spezifische Lockerheit, die Elastizität des Körperlichen, so muss man folgern, ist in der Lage, ad hoc einer aggressiven Gespanntheit zu weichen.¹⁶⁰ Es fällt auf, dass das Wort ‚rauh‘ James Deans Image nur in Teilen erfasst, es passt besser zur Erscheinung Marlon Brandos in The Wild One. Brandos ikonische Rolle zeigt ihn als Kopf des Black Rebels Motorcycle Club, als einen ‚Alphamann‘ in Lederkombination, dessen Clubmitglieder in Konflikte mit anderen Motorradgangs geraten und dadurch für Unruhe in einer kalifornischen Kleinstadt sorgen. James Deans Filmrollen sind dagegen vor allem durch die Vulnerabilität, die Gebrochenheit der Figuren gekennzeichnet, wenngleich diese punktuell auch schon bei Brando, dem großen Vorbild, aufscheint. So sind Deans Figuren lässige, zornige Außenseiter, grüblerische Einzelgänger, die an ihren Eltern sowie an den gesellschaftlichen Verhältnissen verzweifeln. Stills aus East of Eden in Technicolor sowie Fotografien vom Set von Rebel Without a Cause (beide 1955) in schwarz und weiß machen das anschaulich.¹⁶¹ Meines Wissens hat keine Enzyklopädie, kein Wörterbuch der Zeit das Wort ‚rauh‘ in der skizzierten, jugendkulturellen Verwendung mit einem Lemma ver-

 Bondy, Jugendliche stören die Ordnung. Bericht und Stellungnahme zu den Halbstarkenkrawallen, S. 25. Der Hinweis auf die Steifheit und das Ruckartige der Bewegungen ist als Restbestand eines durch das Militär geprägten Habitus zu verstehen, der in den 1950er Jahren sukzessive aus der Öffentlichkeit weicht. „Nicht-soldatische Männlichkeit“ wird zur Verhaltensoption für die Jugend. Kaspar Maase, BRAVO Amerika. Erkundungen zur Jugendkultur der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren, S. 113 – 131, bes. S. 113.  In der Presse kursieren verschiedene Synonyme für Halbstarke, die klangliche Ähnlichkeiten aufweisen und auf ‚rauhe‘ Umgangsformen schließen lassen. So werden Halbstarke als ‚Radaubrüder‘, ‚Rock’n’Roll-Kommandos‘ und ‚Rowdies‘ bezeichnet. Vgl. o.V.: Schluß mit Rock’n’RollKommandos. In: BRAVO, 47, 1958, S. 3 f. sowie n.t.: Diktatur der Halbstarken? In: Die Zeit, 21, 24. Mai 1956, S. 9.  Dabei zeichnet es Dean aus, dass er die ‚Härte‘ des tradierten Männlichkeitsbildes – vermittelt etwa durch Figuren wie John Wayne – in Bewegung bringt. Wie sich konservative Männlichkeitskonzepte in den 1950er Jahren verändern, skizziert James Gilbert, Men in the Middle. Searching for Masculinity in the 1950s, Chicago, IL / London 2005. Eine feministische Kritik der Angry Young Men unternimmt Lynne Segal: „Life is dull, these rebels roar; life is unheroic – there are no great causes left for men to fight in the ‚Brave-New-nothing-very-much-thank-you‘ fifties world. A stifling domesticity has killed the spirit and ripped out the guts of men, and who is there to blame but women?“ Frauen werden von den Angry Young Men, so Segal, als „part of the system“ begriffen, „trying to trap, tame and emasculate men“. Lynne Segal, Slow Motion. Changing Masculinities, Changing Men, New Brunswick, NJ 21995, S. 13 und 15.

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4 De- und Re-Mythisierung. Alfred Andersch: Der Tod des James Dean

Abb. 17 und 18: James Dean in East of Eden und am Set von Rebel Without a Cause.

sehen. Das Wörterbuch der deutschen Umgangssprache (1955) von Heinz Küpper kennt das „Rauhbein“ („roher streitlüsterner Mann“) sowie das dazugehörige Adjektiv „rauhbeinig“.¹⁶² Teils amüsante Züge nimmt die Untersuchung von Jugendsprachen in der Linguistik des Nachkriegs an. Man erforscht das sogenannte „‚Halbstarkenchinesisch‘“, ein Pressebegriff, den man mit kritischer Distanz aufgreift.¹⁶³ Auch in den Wortlisten der sprachwissenschaftlichen Beiträge fehlt der Begriff ‚rauh‘.¹⁶⁴ Wurde er übersehen, ist er auf diesem Weg nicht ins Archiv gelangt? War Andersch der Begriff von seinen heranwachsenden Kindern be-

 Heinz Küpper, Wörterbuch der deutschen Umgangssprache. Bd. 1, Hamburg 1955, S. 263. Der zweite Band des Wörterbuchs führt das Adjektiv „rauh“ auf, zielt damit jedoch auf die Formulierung „in rauhen Massen (Mengen)“. Vor dem Hintergrund der Massediskurse der Bundesrepublik ist es durchaus denkbar, dass diese Bedeutungskomponente eine Rolle bei der Wahl des Übersetzungswortes gespielt hat.Vgl. Heinz Küpper,Wörterbuch der deutschen Umgangssprache. Bd. 2: 10000 neue Ausdrücke von A–Z, Hamburg 1963, S. 297.  Heinz Küpper, Zur Sprache der Jugend. In: Der Sprachwart. Monatsblätter für Sprache und Rechtschreibung, 10, 1961, S. 185 – 188, hier S. 185.  Vgl. etwa Reimut Jochimsen, Gammeln, Hotten, Stenzen. Aus dem Wörterbuch der Jugend von heute. In: Muttersprache. Zeitschrift zur Pflege und Erforschung der deutschen Sprache, 1, 1953, S. 296 – 299; Hans Herbert Ohms,Wenn ich rede, hast Du Sendepause… Zur ‚Geheimsprache‘ unserer Jugend. In: Westermanns Pädagogische Beiträge. Eine Zeitschrift für die Volksschule, 3, 1957, S. 134– 139; sowie Hans Marcus, Zum Twen-Deutsch. In: Zeitschrift für deutsche Wortforschung, 3, 1962, S. 151– 159.

4.2 „Einfach rauh“. James Dean: Teenageridol

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kannt? Oder hat Enzensberger frei, ohne Rückbindung an die Sprache der Teenager übersetzt?¹⁶⁵ Der Sprachpfleger Enzensberger ist mit Kolloquialismen vertraut. In die Lyrik seiner Gedichtbände Verteidigung der Wölfe (1957) und Landessprache (1960) fließen Alltagsausdrücke in hoher Frequenz ein. Als Kommentator von Medienerzeugnissen schreibt Enzensberger an der Kritischen Theorie orientierte Essays über Publikationsorgane wie den Spiegel sowie Kino- und Fernsehformate wie die Wochenschauen.¹⁶⁶ 1963 rezensiert er – ausgerechnet im Spiegel – den zweiten Band von Küppers Umgangssprachenlexikon. „Enzensbergers April-Lektüre“, so der Titel der Rubrik, resümiert krittelnd, dass das Wörterbuch hilfreich und relevant, aber „höchst unvollständig“ sei (was gegenstandsbedingt ist).¹⁶⁷ Ob diese Evaluierung das Wort ‚rauh‘ mit einschließt oder ob es sich um einen Begriff handelt, dessen Virulenz in der Radioarbeit befördert beziehungsweise gar erst dort konstruiert wird, bleibt offen. Ein Faible für das ‚Rauhe‘, für den suggestiven, rau(h)nenden Klang des Wortes, kann man Enzensberger jedenfalls zusprechen. Allerleirauh heißt seine Anthologie der 777 schönen Kinderreime, die 1961 erscheint und sich rasch zu einem Klassiker entwickelt.¹⁶⁸

 Diese ist, wie kulturkritische Stimmen der Zeit bemerken wollen, eng mit den Sprachen der Werbung und der populären Musik verknüpft, etwa mit Schlagersongs. In Teenager und Manager (1960), einem entfernt an der Kritischen Theorie orientierten Beitrag über die konsumgelenkte Beeinflussung der Jugend, erläutert der Radioredakteur und Lyriker Helmut Lamprecht, die Sprache der Teenager sei ein „synthetische[r] Jargon“, „das zeitgenössische Teenager-Idiom ist nicht ‚geworden‘, sondern man hat es synthetisch ‚gemacht‘“: „Wer jemals in entsprechenden Teenager-Kreisen etliche Stunden zugebracht hat – beispielsweise in einem großstädtischen Keller-Klub –, dürfte seinen Ohren kaum getraut haben. Da ist von ‚Wuchtbrummen‘ die Rede, von ‚steilen Zähnen‘, von ‚Mackern‘, ‚Babys‘, ‚Schlägerpfannen‘, ‚Jazzbombern‘ und ‚Jubelrohren‘“. Lamprecht komplettiert seine Beobachtung mit dem wichtigen Zusatz, dass allerdings einige „[b] rutale Prägungen, wie ‚fertigmachen‘, ‚moralisch umhauen‘, ‚am Boden zerstören‘, jemandem eine ‚strahlen‘, ‚Jazzbomber‘, ‚Schlägerpfanne‘ und so weiter […] noch aus der Hitlerzeit“ stammen. Helmut Lamprecht, Teenager und Manager. München 21965, S. 79 – 81, hier S. 83. Über eine unglückliche Nähe des Adjektivs ‚rauh‘ zum Jargon des Nationalsozialismus ist zumindest nachzudenken (erinnert sei an die berüchtigten Adjektive ‚flink, zäh, hart‘).  Vgl. Hans Magnus Enzensberger, Die Sprache des Spiegel [1957]. In: Enzensberger, Einzelheiten I. Frankfurt a. M. 1962, S. 62– 87 sowie Hans Magnus Enzensberger, Scherbenwelt. Die Anatomie einer Wochenschau [1957]. In: Enzensberger, Einzelheiten I. Frankfurt a. M. 1962, S. 88 – 109.  Hans Magnus Enzensberger, Heinz Küpper: Wörterbuch der deutschen Umgangssprache II. In: Der Spiegel, 14, 17. April 1963, S. 84 f., hier S. 85.  Enzensberger entlehnt den Titel aus dem Märchen „Allerleirauh“, in dem ein Mädchen in Fellbekleidung im Mittelpunkt steht (Rauh- bzw. Rauchwaren bezeichnen nicht zu Pelz verarbeitete Felle). Vgl. Hans Magnus Enzensberger (Hg.), Allerleirauh. Viele schöne Kinderreime, Frankfurt a. M. 1961.

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4 De- und Re-Mythisierung. Alfred Andersch: Der Tod des James Dean

4.2.1 Exkurs – ‚Rauh‘ 2.0: Hans-Christian Kirschs Mit Haut und Haar Im literarischen Bereich wird man fündig, hier taucht der Begriff erneut auf. 1961 erscheint im List Verlag in München der Roman Mit Haut und Haar von HansChristian Kirsch,¹⁶⁹ eine Adaption von Jack Kerouacs On the Road (1957). Kirsch erzählt in seinem Debüt von Trampern, die Dean Moriarty und Sal Paradise nachempfunden sind und gemeinsam durch Europa reisen, lange bevor das Trampen salonfähig wird.¹⁷⁰ Die Reisen von Kirschs Figuren Harry und Chase sind, wie auch bei Kerouac, als eine kontinuierliche Sinnsuche angelegt. Nur flüchtig erreichen die Protagonisten Erfüllungsmomente, befördert durch Jazz, durch das Trampen selbst und durch amouröse Kontakte zu Frauen, um daraufhin weiterzuziehen und die nächste Momenterfahrung zu suchen. Ausgehend von diesem Muster ist Kirschs 400 Seiten umfassender Roman als Itinerar der Jahre 1953 bis 1958 angelegt. Die Reise führt Harry und Chase unter anderem von Wiesbaden nach Schweden, in die Bretagne, nach London, Paris, Madrid, Frankfurt am Main, München, Florenz und in die Camargue. Kirschs Text ist aufgrund seiner internen Perspektivierung jugendlicher Subkultur als Vergleich von Interesse. Der autofiktionale Roman basiert auf Erlebnissen, die der zum Zeitpunkt der Publikation 26 Jahre alte Kirsch während des Trampens durch Europa selbst gemacht hat. Demgemäß stellt der Text eine literarische Ausnahme dar, in der ein Teil der Nachkriegsjugend im Unterschied zu Anderschs Hörspiel nicht von einer externen Beobachterposition aus wahrgenommen, sondern von ‚innen heraus‘ entfaltet und konstruiert wird.¹⁷¹ Bei den Protagonisten des Romans handelt es sich zwar um ‚zornige, junge Männer‘, aber keineswegs um Halbstarke oder Angehörige der working class. Die Tramper, wie Kirsch sie zeichnet, pflegen einen intellektuellen, oft der Bohème

 Hans-Christian Kirsch, Mit Haut und Haar. Roman [1961], München 1990.  Judith Adler zeichnet nach, wie das Trampen, ursprünglich die einzige Form des Reisens innerhalb der „working class“, in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts als Reiseerfahrung von der „middle class“ entdeckt wurde. Vgl. Judith Adler, Youth On the Road. Reflections on the History of Tramping. In: Annals of Tourism Research, 12, 1985, S. 335 – 354. In Deutschland war der Ausdruck ‚trampen‘ seit den 1920er Jahren bekannt, etwa in der Bündischen Jugend.  Ein anderes Beispiel ist Ulrich Schamonis (1939 – 1998) Text Dein Sohn lässt grüßen (1962), der von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften indiziert wurde und sich dann zu einem Justizfall entwickelt hat. Zwar werden hier delinquente Jugendliche porträtiert, jedoch sind die Parallelen zur Beatliteratur und Gegenkultur kaum vorhanden. Vgl. Volker Jakob, Wider die fromme Wohlanständigkeit. Ulrich Schamoni: Dein Sohn lässt grüßen. Roman (1962). In: Vom Heimatroman zum Agitprop. Die Literatur Westfalens 1945 – 1975. 118 Essays, hg. von Moritz Baßler, Walter Gödden, Sylvia Kokot, Arnold Maxwill, Bielefeld 2016, (Veröffentlichungen der Literaturkommission für Westfalen. Bd. 68) S. 190 – 195.

4.2.1 Exkurs – ‚Rauh‘ 2.0: Hans-Christian Kirschs Mit Haut und Haar

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verwandten Habitus, und stehen mit ihren Idealen eher der Wandervogelbewegung und späteren Hippiekultur nahe. Von den Halbstarken distanzieren sich die Figuren mehrfach. Sie können weder etwas mit deren Musik, dem Rock’n’Roll, noch mit den vestimentären Insignien oder kriminellen Verhaltensweisen etwas anfangen. Die nach 1945 verlaufende Ausdifferenzierung der Jugendkulturen ist in Kirschs Roman konstitutiv, identitätsbildend. Dagegen tendieren ältere Autorinnen und Autoren wie Andersch dazu, verallgemeinernd mit den verschiedenen und zum Teil ineinander übergehenden Jugendkulturen umzugehen. Genau deshalb widmet sich das Hörspiel nicht den feinen und weniger feinen Unterschieden zwischen amerikanischen Beatniks, deutschen Teenagern, ‚Exis‘ und Halbstarken. Im Fokus stehen die prägenden Züge einer Gesamtjugend – wie übrigens auch in den Rezensionen zu Mit Haut und Haar. Die verwendete Slangsprache und die dargestellte Geschlagenheit der Jugend haben Pressebeiträge dazu veranlasst, in Kirschs Text den „Roman seiner Generation“ zu sehen. Horst Bienek schreibt in der FAZ: „Diese Generation wird sich in jedem seiner Sätze wiedererkennen, sie wird hier ihre Gedanken und Sehnsüchte, ihre Riten und Spielregeln wiederfinden“.¹⁷² Kirschs Lesungen waren gefragt, in München las er im Zuge der Prosaveröffentlichung an vier Abenden in Folge.¹⁷³ Als ernstzunehmende Literatur hat die Presse Mit Haut und Haar jedoch nicht verstehen wollen. Gerade aufgrund des Slangs, aufgrund der mitunter naiv-romantisierenden, jugendlichen Aufbruchsstimmung, die den Roman durchweht, bleibt ihm das Label anspruchsvoller Fiktion versagt. Selbst der dem Text wohlgesonnene Bienek räumt ein: „Im eigentlichen Sinne weniger ein Roman, ist das Buch mehr eine furiose Zeitreportage zu nennen.“¹⁷⁴ Es ist das Jahr 1955. Eine der zahlreichen Slangunterhaltungen in Mit Haut und Haar findet im „Riverside“ in Paris statt, einem Kellerlokal, in dem „damals der beste Jazz und Bop“ gespielt wurde.¹⁷⁵ Dort treffen Harry, der zur Musik manisch an einem Roman arbeitet, und Chase, der rückblickend die Geschichte der  Horst Bienek, Eine furiose Zeitreportage. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Beilage: Bilder und Zeiten, 09. Dezember 1961, S. 5 – 6, hier S. 6.  Vgl. dazu Lasse Ole Hempel, Mit Haut und Haar. Statt eines Nachrufs auf Hans-Christian Kirsch. In: Kultur & Gespenster, 2, 2006, S. 32– 41, hier S. 33.  Bienek, Eine furiose Zeitreportage. S. 5. Für Kirsch ebnen solche Einschätzungen den Weg in die Jugendbuchliteratur und ins biografische Fach, im ‚Höhenkamm‘ wird er nach seinem Erstling kaum rezipiert. Unter dem Pseudonym Frederik Hetman veröffentlicht Kirsch Fantasyromane und Biografien. Zu den Porträtierten zählen unterschiedliche Personen wie Kerouac, Ginsberg und Burroughs, Walter Benjamin, Karl May und Che Guevara. 1962 arbeitet Kirsch, wie Andersch vor ihm, für den Südwestfunk.  Kirsch, Mit Haut und Haar. Roman, S. 138.

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Tramper erzählt, auf das Pariser Paar Julien und Geney, welches die Deutschen in das Nachtleben einführt. Chase beschreibt einen Dialog zwischen Harry und Geney, die sich für den abwesenden Schreiber interessiert: Oh, sie tat mir was. Es gab in ihrem Gesicht bei der Beleuchtung dort unten nur vier helle Stellen. Die Unterlippe, die Wangenknochen und die Gasse zwischen dem zerfransten brauen Haar, das in die Stirn hing. Sonst bestand dieses Gesicht nur aus Schatten. Sie war Juliens Freundin, aber das bedeutete nicht viel. Hier unten schlief jeder mit jedem, sobald es ihm Spaß machte. Es gab keine Rücksichten. Eine einfache Formel, zusammengesetzt aus widersinnigen, albernen Redensarten, reichte aus, um sich zu verständigen. „Sag, ob ich dich schaffe?“ „Och, ich könnte nicht sagen, daß du mich schaffst.“ „Ist auch nicht nötig, wer schafft heute schon noch wen?“ „Wenn du glaubst, ich steh’ auf dir, bist du schiefgewickelt.“ „Wer sagt denn was von stehen … liegen, Junge, liegen ist immer das Letzte.“ „Meinst du etwa, du könntest es besser als irgendwer?“ „Versuch mich, ’s könnte immerhin ’n Spaß sein mit mir.“ „Spaß für uns beide oder Spaß für dich?“ „Spaß für uns beide.“ „Gib zu, du stehst doch drauf!!“ „Ehe ich mal auf was stehe, müßte erstmal was ganz anderes erfunden werden, und du.“ „Wenn es so weitergeht, nehm’ ich noch Geld dafür.“ „Scheiß Geld. Herrje, du und Geld, das würde mich umbringen!“ „Kaum schade drum!“ „Ach was, Geld, nun komm’ schon, wir wollen…!“ Weg waren sie. Eine rauhe Bande. Alles, was sie sagten, war ganz rauh. Geney zog mit Julien los. Er gab sich alle Mühe, sie in Fahrt zu bringen (sie war funkelnagelneu und natürlich noch ein wenig steif), aber man konnte sehen, sie war so der Typ, der stinksauer wurde, wenn sie sich jemanden in den Kopf gesetzt hatte. „Du vergibst eine Chance“, sagte ich zu Harry. „So“, sagte er und sah kurz auf, „mach du sie. Das ist eine, die da nicht so wählerisch ist.“ „Ich weiß nicht.“¹⁷⁶

Zur Verteidigung des Romans: Der Text weist immerhin auf die pennälerhafte, ‚alberne‘ Note dieser Unterhaltung zwischen den Geschlechtern hin. Die herausfordernde Frage, ob irgendjemand jemanden ‚schafft‘, macht den Dialog ebenso schwer erträglich wie die anschließende Beurteilung des Dialogs durch die jungen Männer. In der Linguistik der Zeit erhält das jugendsprachliche Verb ‚schaffen‘ eigenartigerweise die Bedeutung ‚ärgern‘.¹⁷⁷ Im Kontext des Romans ist die naheliegende Bedeutung ‚können‘, ‚mit dir fertig werden‘ plausibler, bezogen auf den Tanz sowie übertragen auf Sexuelles. Das Wort ‚rauh‘ wird von Chase genutzt, um den Umgangston des konfliktgeleiteten Gesprächs zu beschreiben. Geney und Harry führen keine Unterhaltung, sie spielen ein Pingpong der lockeren Sprüche, testen und überbieten sich in

 Kirsch, Mit Haut und Haar. Roman, S. 139 f.  Marcus, Zum Twen-Deutsch. S. 154.

4.2.1 Exkurs – ‚Rauh‘ 2.0: Hans-Christian Kirschs Mit Haut und Haar

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verbaler Schlagfertigkeit. Eine junge, weibliche Figur, die einen Flirt derart selbstbewusst und offensiv angeht, operiert in der Literatur um 1960 abseits des Üblichen. Das sollte man allerdings nicht zu einem emanzipativen Akt machen. Geney ist eine klischeehafte, französisierte Männerphantasie, in die sich der Erzähler Chase verliebt. ‚Rauh‘ konnotiert im Passus das Abweichende, etwas, das mit dem Illegalen liebäugelt. So werden Geney und der Philosophiestudent Julien, der mit amerikanischen Zigaretten handelt, von Chase als „Bande“ bezeichnet (obwohl sie nur zu zweit sind?). Nachdem die beiden vom Tanz an den Tisch zurückkehren, erklärt der Szeneauskenner Julien den Deutschen, dass die Musiker in der Pause „die Nadel sausen“ lassen, „und dann kannst du etwas erleben“. Großspurig zu Geney: „Du weißt genau, daß die es mit Benzedrin allein nicht mehr schaffen.“¹⁷⁸ Trotz seines gegenkulturellen Flairs macht das Buch an anderer Stelle in didaktisierender Weise deutlich, dass die deutschen Protagonisten Betäubungsmittelmissbrauch generell ablehnen. Das unterscheidet den Text – unter anderem – von seinem amerikanischen Vorgänger. Als Chase Jahre nach dem Abend im Riverside in einer Jazzband spielt, weist er einen Bandkollegen, der „Kraut“ raucht, darauf hin, dass die Musik und das Bandgefüge darunter leiden. Mit der Einsicht des Kollegen stellt sich das Problem umgehend als gelöst heraus.¹⁷⁹ Kirschs Verwendung des Begriffs ‚rauh‘ im Anschluss an den Riverside-Dialog fällt vor allem deshalb auf, weil sich der Wortlaut des Satzes mit dem Satz des Jungen in Anderschs Hörspiel nahezu deckt. „Alles, was er sagte, war rauh.“ – „Alles, was sie sagten, war ganz rauh.“¹⁸⁰ Ob sich hier ein fingierter Kunstbegriff literarisch fortsetzt oder ein gängiger Slangbegriff in eine vorhandene Form eingefasst wird, bleibt eine diffizile Frage. Dass Kirschs Text vom Hörspiel informiert ist, darf man jedenfalls annehmen. Mit Haut und Haar orientiert sich an der klassischen Moderne. Dies wird durch die zahlreichen Lyrikreferenzen deutlich, die Chase und die jungen Intellektuellen in ihre Unterhaltungen einbauen, zum Beispiel „Benn, Rimbaud, Dylan Thomas und Pound“.¹⁸¹ Vor allem der in der frühen Bundesrepublik omnipräsente Benn wird als Fixpunkt genannt und mehrfach deklamiert. Eine Beziehung zur Beat Literature, also zu den amerikanischen Vorbildern, stellt der Text durch Mottos aus Lawrence Ferlinghettis Gedicht „A Coney Island of Mind“ (1958) her, die Kirsch übersetzt und manchen Kapiteln voranstellt. Mindestens ebenso rele Kirsch, Mit Haut und Haar. Roman, S. 140.  Kirsch, Mit Haut und Haar. Roman, S. 332.  Andersch, Der Tod des James Dean. Eine Funkmontage, S. 215; sowie Kirsch, Mit Haut und Haar. Roman, S. 140.  Kirsch, Mit Haut und Haar. Roman, S. 333.

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4 De- und Re-Mythisierung. Alfred Andersch: Der Tod des James Dean

vant, wenn nicht einschlägiger für die Ausgestaltung der Figuren, für die Darlegung ihrer ästhetischen Präferenzen und die so erfolgende Konstituierung einer Geschmacksgemeinschaft, ist die häufige Erwähnung von Jazzmusikern wie Charlie Parker und französischen Existentialisten wie Albert Camus. Zudem sind musikalische Intertexte in Form von US-amerikanischen Songlyrics ein wiederkehrendes Merkmal des Romans. Die Spanne der zitierten Texte reicht von Folksongs, Soldatenliedern, über Blues- bis zu Musicaltexten. Auch der Großteil der Songs hat in Übersetzungen Eingang in den Textverlauf erhalten, vermutlich der allgemeineren Verständlichkeit halber. Im Vergleich mit den Vorlagen wird ersichtlich, dass die Translationen die rhythmische Dynamik und die Vulgarismen des Englischen eindämmen. In dieser Art verhält sich das Motto des ersten Kapitels, das dem amerikanischen Folksong „On the Erie Canal“ entnommen ist: Die Mädchen stehn im Fahndungsblatt, der Käpt’n sitzt im Loch. Bis mich der Teufel holen kommt, erzähle ich euch noch. Oh, the Girls are in the Police Gazette, The Crew are all in jail; And I’m the only son of a bitch That’s left to tell the tale.¹⁸²

Mit Haut und Haar speist sich aus der Begeisterung der Figuren (und des Autors) für US-amerikanische Populärkultur. Nur sind es eben Folklieder und Jazzstücke, keine Songs von Elvis oder Little Richard, keine frühen Pop-Erzeugnisse also, die hier im Fokus stehen. ‚Fahndungsblatt‘ statt ‚Police Gazette‘, ‚Teufel holen kommt‘ statt ‚son of a bitch‘, die ausgelassene Interjektion – Mit Haut und Haar wirkt gerade an den Stellen bieder, die Texte in Übersetzung liefern, die das Amerikanische ins Deutsche übertragen. Trotzdem feiert ein Pop-Autor wie Hadayat-Ullah Hübsch den Roman. Gemäß der Losung: Das Buch war wichtig für Kommendes. Es stellt nach Hübsch einen Impuls für die sich formierende literarische Subkultur der Bundesrepublik dar und sei, so sein Seitenhieb gegen Fichtes Palette, der „einzige deutsche Beat-Roman“.¹⁸³ Verfahrensseitig bewegt sich Mit Haut und Haar zwischen chronikalischsummarischen, szenischen und modernistisch-metaphorischen Passagen. Wäh Die Ausgabe von 1990 führt die englischen Quellen in einem Addendum auf. Kirsch, Mit Haut und Haar. Roman, S. 9 und 399.  Hübsch zit. nach Hempel, Mit Haut und Haar. Statt eines Nachrufs auf Hans-Christian Kirsch, S. 40.

4.2.1 Exkurs – ‚Rauh‘ 2.0: Hans-Christian Kirschs Mit Haut und Haar

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rend die ersten beiden Modi den Reiseweg der Protagonisten nachzeichnen, die Narration tragen und die Gepflogenheiten der Tramper ausbreiten (Stichwort: Zeitreportage), sind die metaphorischen Stellen als punktuell eingesetzte Markierungen der Kunstfertigkeit des Textes und verfahrenstechnischer Rekurs auf die klassische Moderne zu verstehen. Dies gelingt dem Roman nicht durchweg, seine Metaphern tragen zum Teil sentimentale bis kitschige Züge. Das Kapitel „Station im Schatten“ liefert ein Beispiel dafür. Hier geht die metaphorisierte Beschreibung der Motivation der Tramper über in einen summarischen Abschnitt: Wir, die wir nie eine rechte Heimat gekannt hatten, suchten jedes Land zu unserer Heimat zu machen, durch Liebe, durch Freundschaft, durch Solidarität, durch Rebellion, durch Experimente. Wir suchten nach heftigen Bildern, die die Wände sein sollten für das Haus unserer Phantasie. 1953 fuhren wir vom Camp in den Hunsrück und lebten zwei Wochen in einem alten Burgturm im Baybachtal… […] 1954 feierte Harry Winter mit den Dänen sommerlichen Karneval in der Mühle von Mjöllbakken. Ein Schneider spielte Trompete, ein Schuster saß an den Trommeln, ein Fischer behämmerte das verstimmte Klavier. Tanztoll waren die Mädchen von den hellen Nächten, scharf die Fische aus den kleinen, weißen Eichenholzfässern, und der Aquavit schmeckte nach Torf und braunem, sonnenverbranntem Korn… […] … fuhren Piero Wolf und Chase Görmer nach bestandenem Abitur in die Bretagne und nach London, und die Bretagne war die Abendsonne über den Buchen am Ufer vor Schloß Pennerose, war der Nebel, der sich um das schwarze Geäst des toten Waldes spann, wo Tristrams Liebe starb, waren die Frauen in den hohen weiten Spitzhüten.¹⁸⁴

In substantivischer Form konstituiert der Roman hier eine Art Wertekatalog der Tramper („Liebe“, „Freundschaft“, „Solidarität“, „Experimente“, „Rebellion“ respektive Nonkonformismus). Der Heimatlosigkeit kommt insofern eine Sonderstellung zu, da die Figuren erstens eine nachhaltige Entfremdung von der bundesrepublikanischen Gesellschaft empfinden und zweitens, da die Biographie des  Kirsch, Mit Haut und Haar. Roman, S. 76. Andere Stellen wissen mehr zu überzeugen, etwa ein Passus über das Bahnhofsviertel in Frankfurt am Main: „Immer hieß es: ‚Los, weiter, mehr‘. So jagten wir durch die Stadt. Sie war schön und häßlich zugleich im hektischen Wachstum dieser Jahre. Ein schönes Stück Widerstand. Gegen Abend blinkte und dampfte die Kaiserstraße, grellbunt, wie eine Tiefseeflora. Langgliedrige Busse waren schöne Haie. Die Häuser des Bahnhofsvorplatzes mit ihren verschnörkelten Ornamenten ragten wie die Rümpfe gesunkener Schiffe rostzerfressen, muschelbewachsen aus dem Dampf und dem von zehntausend Menschen aufgewirbelten Staub“. Kirsch, Mit Haut und Haar. Roman, S. 92 f.

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4 De- und Re-Mythisierung. Alfred Andersch: Der Tod des James Dean

Erzählers Chase durch die Flucht aus der DDR geprägt ist. Das zweite Kapitel handelt von dieser traumatischen Erfahrung, bei der ein Freund zu Tode kommt. Die Figuren suchen „nach heftigen Bildern“ in ganz Europa, nach bedeutsamen Erfahrungen, die, so muss man folgern, an den Platz des nationalen Konstrukts ‚Heimat‘ treten. Um die Erlebnisse zu archivieren, greift der Text auf Sinneseindrücke zurück, auf einzelne sensuelle Aspekte wie den Geschmack des Aquavits, die das summarisch-additive Verfahren um Spezifika anreichern. Im dritten Passus verwendet der Text eine Synekdoche, ein pars pro toto, eingesetzt als totum pro parte, wenn davon die Rede ist, dass die „Bretagne“ die „Abendsonne“, der „Nebel“, das „Geäst des toten Waldes“ (samt Rekurs auf Swinburnes Tristram), die „Frauen“ ist – beziehungsweise im Umkehrschluss, dass all diese Teile die Bretagne bilden. Das Suchen nach ‚heftigen Bildern‘, nach einprägsamen Momenten, ist eine signifikante Parallele zwischen Kirschs Roman und On the Road. Kerouacs Text, der 1959 in deutscher Übersetzung erscheint, findet einen bezeichnenden Terminus dafür, was die Suche stets von Neuem befördert, was die Beatniks rastlos seien lässt. Es ist etwas, das sich nur annäherungsweise auf einen Begriff bringen lässt. Dean Moriarty und Sal Paradise wollen „IT“ begegnen,¹⁸⁵ dem je-ne-saisquoi, in dem alles plötzlich zusammenstrebt, sich als stimmig erweist, um ebenso rasch wieder zu verschwinden (man denke an Benn). Im Gespräch mit Sal schneidet Moriarty dieses Gefühl an. Es geht um das Spiel eines Jazzmusikers: ‚Now, man, that alto man last night had IT – he held it once he found it; I’ve never seen a guy who could hold so long.‘ I wanted to know what ‚IT‘ meant. ‚Ah well‘ – Dean laughed – ‚now you’re asking me impon-de-rables – ahem! Here’s a guy and everybody’s there, right? Up to him to put down what’s on everybody’s mind. He starts the first chorus, then lines up his ideas, people, yeah, yeah, but get it, and then he rises to his fate and has to blow equal to it. All of a sudden somewhere in the middle of the chorus he gets it – everybody looks up and knows; they listen; he picks it up and carries. Time stops. He’s filling empty space with the substance of our lives, confessions of his bellybottom strain, remembrance of ideas, rehashes of old blowing. He has to blow across bridges and come back and do it with such infinite feeling soul-explanatory for the tune of the moment that everybody knows it’s not the tune that counts but IT –‘ Dean could go no further; he was sweating telling about it.¹⁸⁶

‚IT‘, das undefinierbare, allenfalls zu umschreibende ‚ES‘, figuriert Bedeutsamkeitsmomente, Augenblicke, in denen eine „substance of our lives“, so das vitalistische Vokabular des Textes, temporär die Leerstelle füllt, die die Protagonisten

 Jack Kerouac, On the Road [1957]. London 2000, S. 187.  Kerouac, On the Road. S. 187 f.

4.2.1 Exkurs – ‚Rauh‘ 2.0: Hans-Christian Kirschs Mit Haut und Haar

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empfinden.¹⁸⁷ Ganz ähnlich suchen Chase, Harry und die anderen Tramper, so die Parallele von Wolfgang Weyrauch, ein „Etwas, das sie nicht kennen“.¹⁸⁸ Verglichen mit der amerikanischen Vorlage gestaltet sich Kirschs Roman schwelgerischer (und verfahrenstechnisch konventioneller). Der Erfahrungsbericht präsentiert sich teils wie ein euphorischer Reiseratgeber für die Trampergemeinde. Bereits im Passus über die Bretagne schreibt der Erzähler Chase distanzierend über „Chase Görmer“ in der dritten Person. Im Anschluss adressiert er sich selbst – und impliziert damit zugleich die Leserinnen und Leser: London aber: Du vergißt nie den Blick von Waterloo Bridge, wenn um sieben abends der Dunst aus der Themse über dem Embankment hängt, die kleine Kneipe in der Shaftesbury Avenue, wo die Tänzerinnen aus dem Windmill Theater zwischen zwei Vorstellungen schnell mal ’reinschauten auf eine Tasse Kaffee, die „rush hour“ auf Holborn Station am Freitag um sechs, wenn das Weekend beginnt. […] Du vergißt nicht das Einhorn und den Löwen aus weißem Stein im Barockgarten von Hampton Court. Rudere den Fluß hinauf von Kingston Bridge. Der Geruch von Gerberlohe schwappt aus den Hinterhöfen der Stadt, am Bushy Park vorbei, wo die zahmen Rehe grasen. Gehe über die Wiesen am Fluß Mackintosh. Verirr dich mit einer jungen Amerikanerin („o gosh, what a greenery!“) im Irrgarten, bis abends um sieben die Wächter Leitern anstellen und den Küssen ein Ende machen. Du vergißt nicht die schöngemalten Wirtshausschilder des „Duke of Buckingham“, „Fox & Hen“, „Knickerbocker’s Holiday“, „The Archers“ und wie sie alle heißen […]. Du vergißt nicht, nein, du wirst es nicht vergessen, denn dies ist deine wahre Erbschaft.¹⁸⁹

Die Imperative zielen auf ein möglichst plastisches (Nach‐)Erleben. Im Rahmen der Doppeladressierung regt der Text an, die von Chase gemachten Erfahrungen auf eigenen Reisen nachzuvollziehen. „Gehe über die Wiesen“, „Verirr dich mit einer jungen Amerikanerin“, sei ein Tramper.

 Die von Dean Moriarty beschriebene musikalische Performancesituation ist keine notwendige Bedingung ‚IT‘-artiger Erfahrungen. Diese können sich auch während des Beobachtens einer Familie einstellen, auf deren Farm Sal Paradise für einige Zeit unterkommt (zu diesem Zeitpunkt ist Paradise mit Moriartys ‚IT‘-Begriff noch nicht vertraut): „I lit a woodfire on the cement floor of the barn to make light. We made love on the crates. Terry got up and cut right back to the shack. Her father was yelling at her; I could hear him from the barn. She’d left me a cape to keep warm; I threw it over my shoulder and skulked to the moonlit vineyard to see what was going on. I crept to the end of a row and knelt in the warm dirt. Her five brothers were singing melodious songs in Spanish. The stars bent over the little roof; smoke poked from the stovepipe chimney. I smelled mashed beans and chili. The old man growled. The brothers kept right on yodeling. The mother was silent. Johnny and the kids were giggling in the bedroom. A California home; I hid in the grapevines, digging it all. I felt like a million dollars; I was adventuring in the crazy American night.“ Kerouac, On the Road. S. 90 f.  Wolfgang Weyrauch zit. nach Kirsch, Mit Haut und Haar. Roman, o.S. (Buchrückseite).  Kirsch, Mit Haut und Haar. Roman, S. 77 und 79, vgl. auch S. 261– 263.

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4 De- und Re-Mythisierung. Alfred Andersch: Der Tod des James Dean

Kirschs Roman zelebriert fremdsprachliche Begriffe. „Embankment“, „‚rush hour‘“, „Weekend“, die Ortsbezeichnungen, die Straßen- und Kneipennamen sind als phonetisch-semantische Souvenirs zu verstehen. Sie werden von den Reisen mitgebracht, geben dem Text ein internationales Flair, sollen die Erinnerung verifizieren. Diese Erinnerungen sind, so die pathetische Formulierung, „deine wahre Erbschaft“, das, was Chase in textueller Form hinterlassen wird. Pathos steht auch am Ende des Romans. Dort wird der Freiheitsgedanke der Tramper mit einem Symbol konkretisiert, es erscheint Chase nach seinem Besuch der Camargue im Traum: das weiße Pferd. Die weißen Wildpferde der Camargue stehen für ein noch teils unberührtes Europa, das sukzessive von der massentouristischen Kommodifizierung verdrängt wird.¹⁹⁰ Das white horse ist aus On the Road bekannt. Seine Existenz wird auch von Kerouac zwischen Traum und Reiseerlebnis verortet, doch im Unterschied zu Kirschs Text stellt es sich als ein schwer lesbares Zeichen heraus, es ist ein „myth“, „ghost“, ein „spirit“, wie Sal Paradise sagt.¹⁹¹ Mit Haut und Haar schließt dagegen mit folgender Exegese des Pferdes: Was ist dieses weiße Pferd? Hier, am Ende meiner Jugend, steht es wie ein Siegel unter meinem Leben. Das weiße Pferd ist das Zeichen zur Rebellion, die Mahnung, sich auch in Zukunft nicht einsperren zu lassen. Auszubrechen, wo immer man mich festlegt. Es ist die Aufforderung, den Rocksaum des Neuen nie aus den Fingern zu lassen, wie hart man dabei auch manchmal am Boden geschleift wird. Plötzlich kam nicht gerade Mut über mich, aber Begeisterung. Es gab noch etwas sehr Zweifelhaftes und sehr Verlockendes. Das größte Abenteuer jedes Menschen. Geney waits for me. Vielleicht, dachte ich.¹⁹²

 Vgl. Kirsch, Mit Haut und Haar. S. 392. Zum Mythos der Camargue-Pferde in der Wahrnehmung frankophiler Autorinnen und Autoren der 1960er Jahre vgl. den Text „Paradiesisches Pferd“ aus der twen: „In dem traumversunkenen Salzland Camargue […] stehen sie neben deiner staubigen Straße: Pferdewesen, an deren Fell zweitausend Jahre Historie einfach nur so abgelaufen sind wie Regenwasser. […] Diese Rosse sind dem Meere entstiegen. Die Sarazenen, ihre früheren Herren, haben sie vergessen, als sie mit reicher Beute von dieser flachen Küste abzogen. Ihre raschen Räuberboote mit den scharfen Schnauzen und den roten Dreieckssegeln waren auf dem hohen Meer verschwunden. Ungerührt äugten die vergessenen Rosse hinter ihnen her. Dann schüttelten sie die Mähnen und trabten in die große Freiheit der Camargue.“ Jürgen von Hollander, Paradiesisches Pferd. In: twen, 9, 1962, S. 57– 62, hier S. 57.  Kerouac, On the Road. S. 269.  Interessant ist das Gedicht, das Kirsch direkt vor diesen Passus montiert hat. Es wurde von einem unbekannten deutschen Soldaten in russischer Gefangenschaft verfasst und vom sozialistischen Theologen Hans Gollwitzer im Band …und führen wohin du nicht willst. Bericht einer Gefangenschaft (1954) mitgeteilt. In diesem Gedicht werden abschließend die Momente des Suchens und des beinahe erreichten Zieles illustriert, die als Konstituenten des Tramperlebens fungieren: „Seitdem ich ihn, den weißen [Hengst, P.P.], sah, / lockt mich kein Mustang mehr. /

4.2.1 Exkurs – ‚Rauh‘ 2.0: Hans-Christian Kirschs Mit Haut und Haar

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Zwar wird die Bedeutung des Schimmels ostentativ erläutert, doch heißt das nicht, dass damit alles geklärt wäre. Das offene Ende des Romans zielt nicht auf die Möglichkeit, dass Tramperleben auf Dauer zu stellen, es fragt vielmehr danach, ob sich eine sesshafte Existenz mit dem Nonkonformismus der Tramper verbinden lässt.Was geschieht mit dem Zorn auf die bürgerliche Konventionalität, dem Freiheitsgedanken der Jugendlichen, wenn man sukzessive der Jugend entwächst? In einer Nacht mit Geney erscheint dem Erzähler zum ersten Mal das weiße Pferd im Traum. Seitdem führt er eine Art lose Fernbeziehung mit der Pariserin. „Geney waits for me“ ist der Satz, der die zuvor mehrfach thematisierten Bindungspläne des Protagonisten noch einmal auf den Plan ruft. Zumindest als Option steht abschließend die Heirat im Raum („Vielleicht, dachte ich.“).¹⁹³ Das könnte verwundern, zeigt jedoch, wie stark die Residuen bürgerlicher Werte in alternativen Lebensentwürfen der Bundesrepublik um 1960 zum Teil wohl noch sind. Mit Haut und Haar weist sich somit als rite de passage, als das liminale Dokument einer Jugend aus, die ihren Idealismus ins Erwachsenenalter zu transferieren beabsichtigt. Dass dies nicht allen Figuren gelingt, spielt der Text im vorletzten Kapitel „Der Ruin eines jungen Hundes“ durch. Harry, der zentrale Bezugspunkt des Erzählers, verdient sein Geld als Autor für Illustrierte. Mit einem Theaterstück und einer Novelle über Halbstarke gelangt er zu Bekanntheit. Doch im Kulturbetrieb angekommen, so die Kritik des Romans, verschlechtert sich Harrys Lage zusehends. Das ambitionierte Romanprojekt aus der Zeit des Jazzkellers kann der alkoholabhängige Schriftsteller nicht abschließen (anders als Chase). Harry stirbt nach einer Verlagsfeier, hinter dem Steuer seines Ford Thunderbird –¹⁹⁴ ein wenig wie James Dean, den man nach seinem Unfalltod zum Mythos macht.

Zweimal war er zum Greifen nah, / und dann – doch das ist lange her.“ Kirsch, Mit Haut und Haar. Roman, S. 397 f.  Das Vokabular des Passus deutet in diese Richtung („Zweifelhaftes“, „Verlockung“). Zuvor ist von der „Versuchung, sie zu fragen, ob sie mit mir nach Deutschland fahren und mich heiraten wolle“ die Rede. Beim folgenden Heiratsantrag, der vorerst von Geney abgelehnt wird, stellt Chase zweifelnd über den Tramperlifestyle fest: „Ich bin dieses Vagabundenleben leid. Es führt zu nichts mehr.“ Kirsch, Mit Haut und Haar. Roman, S. 328 und 343 [Hervorhebung von mir, P.P.].  Vgl. Kirsch, Mit Haut und Haar. Roman, S. 363 – 385.

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4 De- und Re-Mythisierung. Alfred Andersch: Der Tod des James Dean

4.3 Mythenleser und Mythologen Der moderne Mythos, erklärt Barthes im zweiten Teil der Mythologies (1957), ist ein „sekundäres, semiologisches System“, ein Konnotationssystem, das „Geschichte in Natur“ transformiert.¹⁹⁵ Dadurch werden Bedeutungen von Zeichen nicht als konstruierte, sondern als natürliche wahrgenommen. Kapitel 2.2.3 hat solch eine Konstellation anhand der Marke Persil gestreift. Das folgende Kapitel verknüpft den Mythos James Dean mit Barthes’ Überlegungen. Es vertieft dabei die Lektüre und unterzieht die Mythologies einer Aktualisierung. Nach Barthes stellt der dunkelhäutige Soldat auf dem Cover von Paris Match ein topisches Beispiel der Naturalisierung dar. Dieses Zeichen ergänzt seine primäre Bedeutung, ein Soldat, der der französischen Nationalflagge stolz den Gruß erweist, um eine sekundäre Bedeutung, im Sinne von: schaut her, der Kolonialismus Frankreichs ist ein Erfolg. Das Zeichen des ersten Systems wird im zweiten System erneut zum Signifikanten, zur Form, die sich mit zusätzlicher Bedeutung füllen lässt. Der entscheidende Punkt des antiessentialistischen Ansatzes der Mythologies besteht darin, dass man dem Mythos aufsitzt, wenn man davon ausgeht, dass Frankreichs Kolonialismus ‚gelungen‘ ist, wenn man den Mythos als solchen nicht zu erkennen im Stande ist, man also eben nicht lesen kann (oder will), dass das Bild in Szene gesetzt wurde, um in der beschriebenen Art zu konnotieren, sondern im Gegenteil die Konnotation als Denotation begreift. Um dies zu erreichen, präsentiert sich der Mythos als „amtliche Mitteilung und als Feststellung“, als Evidenz beanspruchende Setzung („Das französische Imperium? Aber das ist doch ganz einfach eine Tatsache: dieser brave Neger, der wie einer von unseren grüßt.“). ¹⁹⁶ Solche Überlegungen schließen umgangssprachliche Vorstellungen des Begriffs ‚Mythos‘ ein und übertragen sie in semiologische Zusammenhänge. Da ist erstens der Mythos als etwas, als eine Person, Sache oder Begebenheit, die kollektiv glorifiziert wird und zweitens der Mythos als etwas, dem eine Täuschung zu eigen ist (wie es in der Redewendung von den ‚Mythen der Medizin‘ klar wird). Barthes’ mythosemiologische Analysen waren Andersch bekannt. In der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Texte und Zeichen (1955 – 1957) erscheinen die Essays über Ehemythen sowie über Einsteins Gehirn. Anderschs Mitarbeiter

 Barthes, Mythen des Alltags. S. 278.  Barthes, Mythen des Alltags. S. 271.

4.3 Mythenleser und Mythologen

279

Walter Mannzen hat diese Texte, die Barthes zuerst in Les Temps Modernes publiziert, ins Deutsche übertragen.¹⁹⁷ Das Hörspiel Der Tod des James Dean behandelt den Mythos auf zwei gegensätzliche Weisen. So folgt auf die De-Mythisierung die Re-Produktion des mythischen Zeichens. De-Mythisierung meint die Entzifferung des Mythos, das Offenlegen der zeichenhaften Konstruktion. Diese ist laut Barthes dem „Mythologen“ vorbehalten, der sich vom „Mythenleser“, genauso wie von den „Mythenproduzenten“ durch ebenjenen kritischen Umgang mit dem Mythos unterscheidet.¹⁹⁸ Wenngleich Barthes die kritische Anlage seiner Mythologies an unterschiedlichen Stellen betont – das Kapitel „Le mythe aujourd’hui“ beschäftigt sich zu großen Teilen damit –, sind die untersuchten alltagskulturellen Mythen dadurch gekennzeichnet, dass sie den Mythologen neben aller Kritik an der semantischen „Deformation“ zu argumentativen und rhetorischen Glanzleistungen anregen. Der Mythos hinterlässt Spuren beim Mythologen. Barthes’ Texte lesen sich stellenweise wie Hommagen an ihre Gegenstände. Die Analyse des Citröen DS ist ein schlagendes Beispiel.¹⁹⁹ Eine ähnliche Konstellation lässt sich in Anderschs Der Tod des James Dean beobachten. Das Hörspiel greift eine Struktur aus Dos Passos’ Text auf. Dem Zeitschriftenartikel aus dem Esquire ist das beschriebene double bind aus Entzifferung und Mythisierung bereits inhärent: Seine Presseagenten haben uns alles erzählt: wie James Dean ohne elterliche Liebe aufgewachsen sei, eine Waise, ein Farmerjunge, der in der Schule nicht mitkam, ein armes Kind, das nie eine Chance hatte, ein Sohn der schwarzen Erde Indianas. Nie hat er den näselnden Tonfall des Mittelwestens ganz abgelegt – damals im Mittelwesten – Geister der Vergangenheit – Träumereien von der guten alten Zeit der Zwiebackfässer in den Gemischtwarenläden – das Leben auf dem Mississippi – die langen Träume der Jugend – der Reisende aus Arkansas – Huck Finn, der Hundertjährige, immer noch mit Jim, dem entlaufenen Sklaven auf dem unsterblichen Floß stromab treibend. Es gab eine Zeit, da konnte man über sie lächeln, über die Jugend Amerikas. Sie ist vorbei.²⁰⁰

 Vgl. Roland Barthes, Hochzeitsmythen von heute. In: Texte und Zeichen. Eine literarische Zeitschrift, 4, 1955, S. 545 – 548; sowie Roland Barthes, Das Gehirn Einsteins. In: Texte und Zeichen. Eine literarische Zeitschrift, 6, 1956, S. 625 – 627.  Barthes, Mythen des Alltags. S. 276. Der Mythenproduzent ist im Beispiel aus Paris Match der „Zeitschriftenredakteu[r], der von einem Begriff ausgeht und nach einer Form für ihn sucht“. Für ihn ist der salutierende Soldat ein „Symbol“. Barthes, Mythen des Alltags. S. 276.  Zur Faszination des Körperlichen in diesem Essay vgl. Björn Weyand, Roland Barthes (1915 – 1980), Mythologies (1957). In: Kulturpoetik. Journal for Cultural Poetics, 1, 2012, S. 258 – 271, hier S. 263.  Andersch, Der Tod des James Dean. Eine Funkmontage, S. 212.

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4 De- und Re-Mythisierung. Alfred Andersch: Der Tod des James Dean

Mythenkonstruktion geschieht hier über biografische Informationen, also erstaunlicherweise über die Historizität der Person. Doch die Biografie wird selbst ein Teil des Mythos. Durch Topoi, „ein armes Kind, das nie eine Chance hatte“, baut der Text ein Underdog-Narrativ auf, das den Mythos konsolidiert, anstatt für seine Suggestionen zu sensibilisieren. Die in erlebter Rede wiedergegebenen Aussagen über Deans Vergangenheit ordnet der Text „Presseagenten“ zu. Man könnte annehmen, dass er sich mit solchen Markierungen der Rede von den Mythenbildungen abgrenzt, implizit aufzeigt, wie und von wem der Mythos um James Dean konstruiert wird. Der nächste Passus zeigt jedoch, dass sich die Erzählerrede des Textes vom mythischen Modus anstecken lässt. Im Anschluss an die patriotische Formulierung „ein Sohn der schwarzen Erde Indianas“, die aufgrund des Stilwechsels als Wiedereinsetzen der Erzählerrede gelesen werden kann, beginnt der Text eine durch Nostalgie geprägte Assoziationskette zum Mittleren Westen der USA. Ein weiteres Mal stellt sich die Geschichte als überformt heraus. Diesmal ist es der Mythos eines einfachen, von Freundschaft und Abenteuerlust geprägten Lebens im Damals, der von einer literarischen Referenz getragen wird. Mit Mark Twains Huckleberry Finn und Jim ruft der Text zwei klassische Figuren des Midwest auf. Die geschichtlichen Hintergründe des neunzehnten Jahrhunderts, etwa der Rassismus, der Twains Buch durchzieht, scheinen dabei nur beiläufig auf (vom „entlaufenen Sklaven“ ist die Rede). Im mythischen Gestern ist das Happy End, die Mississippifahrt der Freunde, arretiert. Es wird die Geschichte einer Jugend erzählt, die es so nicht gegeben hat. Diese Geschichte fungiert als Kontrastfolie zu Dean. Ein Mythos löst den anderen ab. Über die Abenteurer Huck und Jim lässt sich lächeln, über die Persona ‚Jimmy‘ Dean, den neuen Prototyp der Jugend, dagegen nicht. Andersch und Enzensberger haben den Passus am Schluss zugespitzt, indem sie den hart deklamierten, apodiktischen Satz „Sie ist vorbei“ als Übersetzung für „Not often any more“ verwenden.²⁰¹ Unterstrichen wird dies durch die Trompete von Miles Davis. Das schwermütige Stück „Générique“ setzt nach dem letzten Satz ein und lässt die Worte des Sprechers stimmungsvoll nachwirken.²⁰²

 Dos Passos, The Death of James Dean. S. 63.  Andersch und Enzensberger haben zudem einige in Deutschland weniger bekannte ästhetische Referenzen der Vorlage gestrichen oder anders übersetzt. So heißt es bei Dos Passos „Hossier ghosts of forgotten Penrods“. Dos Passos, The Death of James Dean. S. 63. ‚Hossier‘ bezeichnet die Bewohnerinnen und Bewohner Indianas, die Penrods waren Comics, die die Kindheit eines Jungen im Mittleren Westens kurz vor dem Ersten Weltkrieg zum Gegenstand haben. Dos Passos bindet James Dean damit in einen konkreten Medienzusammenhang ein, während das Hörspiel abstrakter operiert und groß dimensionierte „Geister der Vergangenheit“ beschwört.

4.3 Mythenleser und Mythologen

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Auf das Funktionieren des Zeichens James Dean geht ein Passus ein, der sich mit den Selbstporträts des Schauspielers auseinandersetzt. In diesem Teil des Hörspiels wird der Mythos expressis verbis thematisiert: ‚Absolut dämonisch‘ – aber wer konnte ihm widerstehen? Die finstere Jugend Amerikas ist ein Mythos, der Kasse macht. Agenten, Manager, Artikelschreiber und Fotografen belagern James Dean, längst ehe sein erster Film in den Kinos anläuft. Selbstverwirklichung, Ausdruck der eigenen Persönlichkeit: um jeden Preis und auf jede Gefahr hin. ‚Die Schauspielkunst ist die einzige richtige Art und Weise seine Neurosen abzureagieren.‘ Er steckt die ersten Gagen ein und schafft sich sofort eine erstklassige Kamera an, um Aufnahmen von sich selbst zu machen. Selbstporträts in schwarz: geladen mit Melancholie und Ressentiment, ein trauriges Gesicht, das den Tod auf sich zukommen sieht, wer könnte ihm widerstehen? Die Fotos: hart ausgeleuchtet, Licht und Schatten, den Kopf in der Schlinge, statt des tödlichen Dolches ein Küchenmesser – Er beginnt von der Bildhauerei zu schwärmen: Bildhauer müßte man sein. Rennwagen sind seine große Leidenschaft. Geschwindigkeit ist der beste Tod.²⁰³

Es würde naheliegen, Andersch und Dos Passos in der Terminologie Barthes’ als Mythologen zu etikettieren, da sie den „Mythos, der Kasse macht“ als solchen benennen. Doch derart simpel verhält es sich nicht. Die rhetorische Frage, „aber wer konnte ihm widerstehen?“, lässt sich auf das Hörspielprojekt rückbeziehen. Die deutsche Übersetzung potenziert Deans ‚dämonische‘ Anziehungskraft.²⁰⁴ Im Text von Dos Passos gibt es keine Frage, hier heißt es, „Demonic, but loveable under it all“, wodurch ein Kontrast hergestellt wird, der im Deutschen trotz des Partikels „aber“ in dieser Form nicht existiert. Dean wirkt anziehend, gerade weil er ‚dämonisch‘, also launisch, finster und destruktiv agiert – weil er diese Eigenschaften und Gemütszustände ausdrückt. ²⁰⁵ Dieser Impuls überträgt sich auf den Habitus, auf die Gestik, die Mimik, den Stil der Fans. Bei Dean kanalisiert sich das Expressive in kreativen Tätigkeiten, im dilettierenden Interesse für bildende Kunst sowie in der Fotografie. Dass der Mythos James Dean mit fotografischen (Selbst‐)Porträts verknüpft wird, ist mit dem Starkult Hollywoods in Verbindung zu bringen. Die Zeichenhaftigkeit des Kinogesichts fungiert als ein Spielfeld des populären Mythos, wie Barthes in „Das

 Andersch, Der Tod des James Dean. Eine Funkmontage, S. 226.  Das ‚Dämonische‘ bezieht sich auf die Rolle des Cal aus André Gides Der Immoralist (1902), die Dean am Broadway spielt. An dieser Stelle des Hörspiels besteht eine weitere Parallele zu Hans-Christian Krischs Roman. Stanislawsky, der Dean das method acting lehrt, rät dem Schauspieler: „‚Geh mit Haut und Haaren in deine Rolle ein‘“. Andersch, Der Tod des James Dean. Eine Funkmontage, S. 223.  Dos Passos, The Death of James Dean. S. 64.

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Gesicht der Garbo“ darlegt. Im maskenhaften, gealterten Antlitz der Garbo (Jg. 1905) zeigt sich „essentielle Schönheit“, die in eine „existentielle Schönheit“ übergeht, ein „Archetyp“ (Garbos Beiname lautet „die Göttliche“), der „in die Faszination vergänglicher Gesichter umzuschlagen beginnt“.²⁰⁶ Die Semantik von Deans Gesicht bewegt sich auf den ikonischen Fotografien – etwa den Bildern, die Dennis Stock auf dem Times Square von ihm gemacht hat – zwischen kühler Abweisung, Abwesenheit und ‚tiefem‘ Ernst, ergänzt durch einen manchmal wissenden, schelmischen Ausdruck. Deans Gesicht ist „geladen“ mit diesen Bedeutungskomponenten. Spezifisch wird es jedoch erst durch die ihm innewohnende Morbidität, durch das Kokettieren mit einem frühen Tod, das von der Presse dankbar aufgegriffen wurde.

Abb. 19 und 20: James Dean am Set von Giant und am Rande eines Autorennens.

Abseits der Dreharbeiten zu Giant posiert Dean als sorgenvoller Cowboy hinter einem Strick in schwarz-weiß. Die Zigarette fügt sich ins Westernsetting, ist bei den Bildern des Schauspielers jedoch nahezu obligatorisch. Am Rande eines Autorennens in Kalifornien läuft es semiotisch etwas subtiler ab, allerdings hat man die Zeichen auch hier wieder effektsicher komponiert. Mit einer requisitenhaften Rennfahrermütze präsentiert sich Dean vor verstreutem Gepäck, angelehnt  Roland Barthes, Das Gesicht der Garbo. In: Mythen des Alltags. Vollständige Ausgabe. Aus dem Französischen von Horst Brühmann, Frankfurt a. M. 42015, S. 89 – 91, hier S. 90.

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an seinen Porsche, welcher den für Teile der Nachkriegsjugend so reizvollen, motorisierten Lebensstil in einer kompetitiven Extremform verbildlicht. Deans Pose vor dem Rennwagen, seine Mimik und Gestik bringen intensives Erleben und Erschöpfung, Lässigkeit und Desillusion, Geschwindigkeit und Risikobereitschaft metonymisch zusammen. Expressive Fotografien wie diese befördern den Mythos des tragischen, jung verstorbenen Hollywood-Idols, der in der Presse entsteht, um von dort aus in unterschiedlichen Kontexten reproduziert zu werden. Zu solchen Kontexten – um das Verhältnis von Text und Kontext analytisch einmal umzudrehen – zählen Dos Passos’ Zeitschriftenartikel und Anderschs Hörspiel. Gewiss sind sich diese Texte über den Mythos und seine Distributionsmechanismen im Klaren, doch dieser Umstand entbindet sie keineswegs von der Reproduktion des Mythos. Die statische Typologie von „Mythenproduzenten“, „Mythenlesern“ und „Mythologen“ muss differenziert werden. So ist James Dean sowohl Objekt des Mythos als auch sein Koproduzent, genau wie Dos Passos und Andersch gleichermaßen als Mythologen und als Reproduzenten des Mythos agieren. Zudem ist der Verblendungszusammenhang zu befragen, der den Mythenleserinnen und -lesern von Barthes pauschalisierend zugesprochen wird. Für Rezipientinnen und Rezipienten, die Mythen als ästhetische Angebote betrachten, als Spiel, dessen Konnotationen man als solche erkennt oder zumindest erahnt, auf das man sich dennoch oder gerade deshalb einlässt, ist kein Platz in der Typologie vorgesehen. Die für Barthes’ Konzept konstitutive, naturalisierende Verschleierung wäre dadurch aufgehoben. Auf diese Weise kann der Mythos umgewertet werden, kann er semiotische Potentiale entfalten, die mit der ideologiekritischen Anlage der Arbeit des französischen Strukturalisten kaum zu vereinbaren sind. Mit solch einer Konzeptualisierung des Mythos setzt sich Leslie Fiedler rund zehn Jahre nach Barthes im Playboy auseinander. Wie Fiedler erläutert, verdrängt die Moderne durch die Dominanz des logos den mythos aus der Literatur. Er denkt, ich habe das in der Einleitung erwähnt, vor allem an die europäische Trias „Proust-Mann-Joyce“.²⁰⁷ Man könnte diesen Modernebegriff auf seine Repräsentativität hin befragen (was ist mit den anti-logozentrischen Tendenzen der esoterischen Moderne?). Interessant ist jedoch, mit welcher Motivation Fiedler den Mythos in die Literatur rückintegriert. Out of the world of jazz and rock, of newspaper headlines and political cartoons, of old movies immortalized on TV and idiot talk shows carried on car radios, new anti-gods and anti-heroes arrive. In the heads of our new writers they live a secondary life, begin to realize their immortality – not Jean Harlow and Marilyn Monroe and Humphrey Bogart, Charlie

 Fiedler, cross the Border, close the gap. S. 230. Vgl. Kapitel 1.2 in dieser Arbeit.

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Parker and Lenny Bruce, Geronimo and Billy the Kid, the Lone Ranger and Fu Manchu and the Bride of Frankenstein but Hitler and Stalin, John F. Kennedy and Lee Oswald and Jack Ruby, as well. For the press mythologizes certain public figures, the actors of pop history, even before they are dead, making a doomed president one with Superman in the supermarket of pop culture […].²⁰⁸

Der Schlüssel sind die „new writers“, „the young“, wie es mehrmals heißt. Fiedler denkt an Autoren wie Ken Kesey oder John Barth, deren Texte ohne „mockery“ und „condescension“ einen literarischen Paradigmenwechsel von der Moderne zur Postmoderne einleiten.²⁰⁹ Durch ihren Umgang mit dem Populären sorgen sie für eine Nebenordnung der Referenzmöglichkeiten innerhalb der Literatur. Joyce ist dann genauso literaturfähig wie Captain America. So können Hitler, Stalin und JFK neben Fu Manchu, Humphrey Bogart und Geronimo treten. Verschleierung und Naturalisierung à la Barthes sind dabei kein Thema. Ohnehin zielt Fiedlers Essay nicht darauf, den Mythos terminologisch zu systematisieren. Vielmehr geht es dem programmartigen Entwurf darum, populäre Mythen als nutzbar für die Literatur auszuweisen, gerade weil sie auf Kollektivsymboliken beruhen, ein gemeinsames, zeitgenössisches Zeichenrepertoire darstellen. Von der affirmativen, aber zugleich kritischen Hinwendung zu den Mythen der Massenkultur („mass-produced and mass-distrubuted“²¹⁰) erhofft sich Fiedler die titelgebende Überschreitung und Schließung von Generationen- und Klassengrenzen in der Literatur sowie in der Popmusik.²¹¹ Es fällt auf, dass die von Fiedler skizzierte Literatur primär nicht mit einer Überwindung des Mythos in Verbindung gebracht wird, wie es Barthes anstrebt. Der Fokus liegt darauf, mit Hilfe populärer Mythen die ‚alte‘ Literatur hinter sich zu lassen. Barthes’ Idee einer souveränen Literatur besteht hingegen darin, den Mythos wiederum selbst zum Mythos zu machen. Nun ist die beste Waffe gegen den Mythos vielleicht die, ihn selbst zu mythifizieren, das heißt, einen künstlichen Mythos zu schaffen; und dieser neu geschaffene Mythos wäre in der Tat eine Mythologie. Da der Mythos Sprache stiehlt, warum nicht den Mythos stehlen? Dafür

 Fiedler, cross the border, close the gap. S. 257.  Fiedler, cross the border, close the gap. S. 257.  Fiedler, cross the border, close the gap. S. 257.  „There is no doubt in the minds of most other writers whom the young especially prize at the moment that their essential task is to destroy just such distinctions and discriminations once and for all – by parody or exaggeration or grotesque emulation of the classical past, as well as by the adaptation of pop forms. But to turn high art into vaudeville and burlesque at the same moment that mass art is being irreverently introduced into museums and libraries is to perform an act that has political as well as aesthetic implications, an act that closes a class, as well as a generation gap.“ Fiedler, cross the border, close the gap. S. 256.

4.3 Mythenleser und Mythologen

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würde es genügen, ihn selbst zum Ausgangspunkt einer dritten semiologischen Kette zu machen, seine Bedeutung als den ersten Term eines zweiten Mythos zu setzen.²¹²

Einige Texte hätten dies bravourös umgesetzt, zum Beispiel Flauberts Kopisten Bouvard et Pécuchet (1881). Die Rhetorik der Bourgeoisie, die hier den Mythos erster Ordnung darstellt, wird bei Flaubert zum Mythos zweiter Ordnung, zur „betrachtete[n] Naivität“,²¹³ die den Mythos erster Ordnung im Rahmen der Literatur gefügig macht. Die Behandlung des Mythos James Dean fällt anders aus. Dass Andersch an seiner Fortschreibung partizipiert, die zweite semiologische Kette weiterführt, zeigt vor allem die Konklusion, die das Hörspiel aus dem Tod des Schauspielers zieht. Nach einer skurrilen Anekdote über Deans Kontakt zu Maila Nurmi, genannt Vampira, die eine Gruselshow im amerikanischen Fernsehen moderiert,²¹⁴ widmet sich die Montage dem Autounfall: In Salinas sollte ein Rennen ausgetragen werden. Die meisten Fahrer ließen ihre Wagen auf den Lafetten-Lastern zum Start bringen. Hier setzt sehr leise unter dem Text ‚Sur l’autoroute‘ ein, und zwar so getimt, daß eine Sekunde nach „mit dem Leben davon“ der letzte Baß-Schlag ertönt Dean fuhr selbst. Er fuhr einen weißen Porsche-Spyder, der die Startnummer 130 trug. Sein Automechaniker, ein Deutscher, fuhr mit ihm. Ein Pressefotograf folgte den beiden in einem Stationswagen. Dean wollte seine Kiste ausfahren. Er wollte spüren, was in dem Wagen steckte. Schon in Bakersfield stoppte ihn die Verkehrspolizei. Strafbefehl, weil er mit 100 Sachen durch eine 40-Kilometer-Zone gefahren war. Die Sonne war am Untergehen. Es fing an zu dämmern. Die Nadel kletterte immer weiter. Er holte das letzte aus dem Wagen heraus. Mit 180 Stundenkilometern Geschwindigkeit stieß er

 Barthes, Mythen des Alltags. S. 285 f.  Barthes, Mythen des Alltags. S. 286. Die von Fiedler umrissene Auseinandersetzung mit dem Mythos innerhalb der postmodernen Literatur impliziert ebenfalls, dass die Mechanismen des Mythos bekannt sind. Jedoch ist davon die Rede, durch den Mythos eine Naivität zurückzuerlangen, die in der Moderne abhandengekommen ist („yearning for the naïve“). Die neuen Autoren „are able to recapture a certain rude magic in its authentic context, by seizing on myths not as stored in encyclopedias or preserved in certain beloved ancient works but as apprehended at their moment of making – at a moment when they are not yet labeled myths.“ Fiedler, cross the border, close the gap. S. 257 f.  „Wenige Tage vor seinem Tod schreibt sie ihm eine Postkarte. Das Bild zeigt sie im VampirKostüm neben einem offenen Grab. Der Text: ‚Komm mit!‘“. In der Presse wird Dean ein Verhältnis zu Nurmi nachgesagt. Vgl. Andersch, Der Tod des James Dean. Eine Funkmontage, S. 229. Zu der im Hörspiel erwähnten Postkarte, die von einem Boulevardmagazin fingiert wurde, vgl. auch Brandt, Performanz und Selbstermächtigung: Zur Ästhetik des Körperlichen bei James Dean, S. 23.

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bei Paso Robles auf freier Strecke mit einem Wagen zusammen, der von rechts auf die Hauptverkehrsstraße einbog, es war ein Ford, und der junge Mann am Steuer hieß Donald Turnupseed. James Dean war sofort tot. Die Lenkradsäule durchbohrte ihn. Turnupseed und der Mechaniker kamen mit dem Leben davon. Der letzte Baß-Schlag von ‚Sur l’autoroute‘ Pause Anfang von ‚My Funny Valentine‘, zuerst Klavier (John Lewis) bis zum Baß-Takt nach den beiden ersten Trumpet-Bars von Miles Davis. ²¹⁵

Über die Null-Fokalisierung liefert der Bericht eine boulevardhafte Rekonstruktion des Unfalls. Wie in allen Dos Passos-Auszügen ahmt das Hörspiel diesen Stil nach. So wird die klischeehafte Motivation des Rasers Dean („Er wollte spüren, was in dem Wagen steckte“) mit syntaktisch groben Stimmungsskizzen kombiniert („Die Sonne war am Untergehen. Es fing an zu dämmern“). Auffällig ist der Detailreichtum, der sich in der Nennung von Zahlen und Namen niederschlägt. Die klangliche Ähnlichkeit zwischen „Turnupseed“ und ‚turn up speed‘ fügt sich in das Szenario. Über die Erwähnung des steigenden Tachos, man denkt hierbei an filmische Darstellungen, wird der Moment vor dem Aufprall dramatisiert („Die Nadel kletterte immer weiter.“). Eine signifikante Rolle hat wiederum die Musik. Das Stück mit dem sprechenden Titel „Sur l’autoroute“ gibt dem deklamierten Text einen hektisch-treibenden Rhythmus. In Malles Film Fahrstuhl zum Schafott wird es eingesetzt, wenn ein jugendliches Paar in einem gestohlenen Mercedes Benz das nächtliche Paris verlässt. Mit dem letzten Ton von „Sur l’autoroute“ endet im Hörspiel das Leben von James Dean. Was nach der „Pause“ geschieht, ist ungewöhnlich. Andersch montiert „My Funny Valentine“. Dieses Klavierstück, eigentlich eine Ballade aus dem Musical Babes in Arms (1937), ist die einzige heitere Passage der Radiomontage und das einzige Jazzstück, das nicht zum Filmsoundtrack gehört. Davis spielt es auf dem Album Cookin’ with the Miles Davis Quintet (1956) ein. Dem plötzlichen, martialischen Tod im Porsche Spyder („Die Lenkradsäule durchbohrte ihn.“), so evoziert das leichte „My Funny Valentine“, mag ein entlastendes, womöglich erlösendes Moment innewohnen. Deans früher Tod arretiert die jugendliche Renitenz, er stellt die Konnotation des mythischen Zeichens auf Dauer. Dass der Autounfall das Ende seiner biografischen Person und den Anfang seines mythischen Nachlebens markiert,  Andersch, Der Tod des James Dean. Eine Funkmontage, S. 231 f.

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schlägt sich im Hörspiel in struktureller Hinsicht nieder. Anderschs Funkmontage ist zirkulär aufgebaut und von repetitiven Schleifen gekennzeichnet. Mit Hilfe der Text- und Musikkompilation wird zum einen das Nachleben James Deans in Szene gesetzt. Zum anderen formuliert der Sprecher des Hörspiels einen abschließenden Kommentar zur Nachkriegsjugend. Der Kommentar des Sprechers ist in die Wiederholung eines Auszugs aus Robert Lowrys Boxreportage eingebunden und erfolgt in Form einer Negation sowie rhetorischer Fragen. Der Lowry-Auszug wird bereits zu Beginn der Montage verwendet. Am Ende heißt es: Lowry Der klassische Zweikampf, sei es in der Mythologie, in der Geschichte, in der Stierkampfarena oder im Boxring, bleibt sich immer gleich: ein schmächtiger behender Mann von einnehmenden Äußeren kämpft gegen ein häßliches Ungetüm, das größer und stärker ist als er, und besiegt es. Sprecher Aber James Dean hat sein Ungetüm nicht besiegt. Lowry Der echte Boxer gebraucht seinen Kopf und gestaltet sich Runde um Runde den Kampf nach seinem eigenen Tempo. Sprecher Wo hatte James Dean seinen Kopf? Lowry Es war Ray Robinsons Plan, den Stier bis in die Zehenspitzen zu ermatten, bevor er ihn zum Opfer darbrachte. Sprecher Hatte James Dean einen Plan? Kennt die finstere Jugend Amerikas überhaupt ihren Stier?²¹⁶

Zur Erinnerung: Es fehlen eine politische Aktion oder zumindest die politische Sensibilität, die dem jugendlichen Unmut eine produktive (z. B. humanistischsozialistische) Stoßrichtung geben könnten. Das Generationenargument, das Fiedler in den 1960er Jahren emphatisch für die Jugend und ihren Umgang mit modernen Mythen wendet, ist in Anderschs Der Tod des James Dean umgedreht. Hier weist die ältere Generation auf die Unreife der ihr nachfolgenden Generation hin.

 Andersch, Der Tod des James Dean. Eine Funkmontage, S. 233.

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Es wäre vorschnell, diese gesellschaftsbezogene Komponente des Hörspiels absolut zu setzen. Der belehrende Aspekt ist eine Seite. Anders als man annehmen könnte, wird der Mythos durch die rhetorischen Sprecherfragen nicht destabilisiert. Die zornige Planlosigkeit und das tragische Ende – das Nichtwissen, ‚wer der Stier ist‘ –, gehören ja gerade zu den Konstituenten des mythischen Zeichens James Dean, auf das man sich hier abschließend beruft. So zelebriert das Ende der Funkmontage mit der dreimaligen Wiederholung des zur Beschwörung geratenen Satzes „Einfach rauh“, der Cummings-Verse „by gorry, by jingo, by gee, by gosh, by gum“ und einem Auszug aus „Howl“ die Wiederauferstehung James Deans im Radio. Dieses Wiederauferstehungsmoment schließt an diverse Narrative an, die nach Deans Tod in der Presse kursieren.²¹⁷ Im Hörspiel werden der journalistische Berichtsstil sowie der joviale Sprecherkommentar dabei von lyrischem Sprachpomp abgelöst. Unterlegt mit Miles Davis’ „Générique“ schließt die Montage mit folgenden Versen aus Ginsbergs „Howl“: und ist auferstanden im Geistergewand des Jazz im Schatten der goldenen Blasorchester, die bliesen des nackten Geistes von Amerika Lechzen nach Liebe in einem eli eli lama lama sabacthani Saxophonschrei, der die Städte bis aufs letzte Radio erzittern ließ Von ‚und das Urherz‘ ab keine unterlegte Musik mehr und das Urherz des Lebensgedichts ward ihnen aus dem eigenen Leibe geschnitten, um eßbar zu bleiben tausendjahrelang. Schluß von Générique ²¹⁸

Der Passus lässt an ghost bands wie das Glenn Miller Orchestra denken, das nach dem Tod des Orchesterleiters weiterhin als Big Band unter seinem Namen auftritt. Im Schatten dieser bürgerlich-unterhaltenden Blasorchester lebt James Dean in seinen jugendlichen Stilepigonen fort. Der schrille, leidend klingende

 Deans Unfall und Ableben werden zum Spekulationsmaterial, mit zum Teil obskuren oder tragischen Folgen. So zirkulieren Gerüchte, dass Dean nicht gestorben sei, sich in einer Klinik von seinen schweren Verletzungen erhole und sich Schönheitsoperationen unterziehe. Für die Auffindung des Schauspielers stellt eine Boulevardzeitschrift die Belohnung von 50000 Dollar aus. Des Weiteren kommt es zu Suiziden mehrerer Fans sowie zur Gründung von Clubs, die sich der Verehrung des Leichnams verschreiben und Kulten, die Dean als Wiedergeborenen oder Gott verehren. In der Populärkultur begründet dies, wie Stefan Brandt reflektiert, „eine neue Form der Ästhetik, die oft autopoietische, d. h. selbsterschaffende, Züge annahm. Die Ikone James Dean fungierte hier lediglich als Instrument bei der Schaffung einer kulturellen Ökonomie, die der Befriedigung und Reproduktion kultureller Bedürfnisse gewidmet war“. Brandt, Performanz und Selbstermächtigung: Zur Ästhetik des Körperlichen bei James Dean, S. 23 – 25.  Andersch, Der Tod des James Dean. Eine Funkmnontage, S. 234.

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„Saxonphonschrei“ kommt in Verbindung mit dem hebräischen „eli eli lama lama sabacthani“ den sieben letzten Worten beziehungsweise Sätzen Jesu Christi am Kreuz gleich. Mit den Bibelworten „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ (Mk. 15, 34) rekurriert das Hörspiel auf die christlichen Implikationen der James Dean-Filme, etwa den deutschen Titel von Rebel Without a Cause (Denn sie wissen nicht, was sie tun…) oder den berühmten publicity still aus Giant, der Dean als ‚Gekreuzigten‘ neben Liz Taylor in der Rolle der Maria Magdalena zeigt.

Abb. 21: Publicity Still aus Giant.

Signifikant ist die Erwähnung der Radios. Ob auch die deutschen Hörerinnen und Hörer sprachlich in Wallung gebracht werden konnten („erzittern“)? Die Partizipation am Mythos ist jedenfalls ein naheliegendes Mittel dieses Unterfangens. Vor dem Hintergrund der mythischen Reproduktion wirkt es stimmig, dass die letzten Verse auf groß dimensionierte, bedeutsame Vokabeln setzen. Sogar der Jazz wird unterbrochen, um die Stelle zu exponieren. Das „Urherz des Lebensgedichts ward ihnen aus dem eigenen Leibe geschnitten“, raunt das Hörspiel eine Opferthematik herbei. In der Forschung zu „Howl“ wurde das drastische, religiös

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überformte Bild produktionsästhetisch gelesen. Die Beatniks bringen ihre Gedichte wie Selbstopfer hervor. Ihre Texte konservieren die schmerzvolle Erfahrung einer Generation und machen sie für Folgegenerationen nachvollziehbar („eßbar“).²¹⁹ Dies schlägt Parallelen zum Märtyrer Jesu, zur Eucharistie und – im Kontext des Hörspiels – zum untoten Star James Dean. Sein Sterben, so die effektheischende Pointe des Hörspiels, wird auf diese Weise wie ein Märtyrertod in Szene gesetzt, sein Leben als stellvertretend für eine Generation begriffen. ‚Leben‘, die Prosa Heinrich Bölls hat es gezeigt, ist eine literarische „DummyInstanz“²²⁰ zur Konstruktion von Bedeutung oder wie ich vorschlage: zur Konstruktion von Bedeutsamkeit, also eines Abstraktums, dessen Semantik schwammig bleibt, das aber zugleich maximierte Tragweite impliziert. Dass das Hörspiel auf diese Tragweite zielt, wird umso deutlicher, wenn man einen Eingriff in die Übersetzung Wolfgang Fleischmanns berücksichtigt. Fleischmann übersetzt das „absolute heart of the poem of life“ als „das unumschränkte Herz des Lebensgedichts“.²²¹ In der Hörspielübersetzung wird der Vers essentialisiert, hier ist vom „Urherz“, von den im Deutschen so besetzten Urgründen die Rede. Um es zu resümieren: Anderschs Der Tod des James Dean erhebt sich aus einer jovialen, ‚elterlichen‘ Position heraus über die jugendliche Unreife. Dabei wird die Anziehung der Jugend und ihrer Mythen keineswegs destruiert, sondern reproduziert und im Medium des Radios bedeutsam aufgeladen. Welche Form hingegen die Destruktion des Mythos James Dean annehmen kann, wird ausgerechnet im Pop-Zusammenhang klar. Dean ist eine Erfindung der Nachkriegszeit. Der Schauspieler mag für die Beatniks relevant gewesen sein, Andy Warhol mag Siebdrucke von ihm angefertigt haben, doch Autoren wie Fiedler, Brinkmann oder später Diederichsen haben andere Bezugspunkte. Dean taugt für sie allerhöchstens zum Antityp. 1985 veröffentlicht der Spiegel einen Text zu Deans dreißigstem Todestag. „Das erste sexy Knuddeltier?“, fragt sich Diederichsen flapsig im Titel.²²² Diederichsens Artikel ist eine mit Klischees operierende Schmährede gegen Dean

 Frank J. Kearful, ‚Good to Eat‘. Selected Modern American Poems. In: The Pleasures and Horrors of Eating. The Cultural History of Eating in Anglophone Literature, hg. von Marion Gymnich und Norbert Lennartz, Göttingen 2010, S. 339 – 359, hier S. 342.  Baßler, Deutsche Erzählprosa 1850 – 1950. Eine Geschichte literarischer Verfahren, S. 304.  Ginsberg, Das Geheul und andere Gedichte. S. 24 f. Es ist bemerkenswert, dass sowohl Fleischmann als auch Andersch „butchered out of their own bodies“ mit „ward ihnen aus dem Leib gerissen“ übersetzen, was das (Selbst‐)Opfer der Beatniks passiviert. In der Übersetzung von Carl Weissner heißt es dagegen: „das sie sich aus dem Leib rissen“. Ginsberg, Howl / Geheul. S. 24.  Diedrich Diederichsen, Das erste sexy Knuddeltier? In: Der Spiegel, 40, 30. September 1985, S. 303 und 306, hier S. 303.

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und das Kino der 1950er Jahre. Mit Pop im progressiven Sinne habe die Dekade nichts zu tun, lautet der Subtext (Elvis und Marilyn Monroe einmal ausgenommen).²²³ Dean sei „ein Monument an Verklemmungen und Verdrängungen“, die schwer zu ertragende Folge von „Zweite[m] Weltkrieg“, „McCarthyismus“ und „Restauration“.²²⁴ So waren die 50er Jahre: ihre Filme, Dramen, ihre grimassierenden Schauspieler aus der Method-Actors-Schule, ihre Katzen auf heißen Blechdächern, ihre toten Handlungsreisenden, ihre ewig gleichen, verpfuschten bürgerlichen Leben, ja sogar ihre Komödien kreisten immer nur um ein kleines, schmerzhaft winziges Mißverständnis, das Doris Day und Rock Hudson nicht vom Tisch schafften. All diese Problemchen, immer wieder mit dem gleichen heiligen Ernst serviert von den bei Lee Strasberg ausgebildeten Mimen mit all ihrem Rotz und Schweiß und ihren Schreiereien. James Dean führte das Mißverständnis in die Kinogeschichte ein, daß sich inneres Leid auf der Leinwand am besten durch Sprachlosigkeit, gesenkten Kopf, mißtrauischen Blick und durch das Gebaren waidwunden Wilds oder eines vom Torero schon durchbohrten Stiers abbilden lasse. Er verwechselte das Schweigen des großen alten Westerner mit dem Schmollen des Jungen, dem man sein Spielzeug weggenommen hat. James Dean tut immerzu, als verberge er etwas, als sei etwas in seinem Schweigen eingeschlossen, irgendeine große Enttäuschung, die dieses Schweigen begründe oder rechtfertige. Aber da ist nichts, nur die eine flache Dimension.²²⁵

„[D]a ist nichts“, nur die Suggestion von Persönlichkeit, von schwerem Schicksal durch beharrliches „Schweigen“. Das Kino der 1950er Jahre stattet die Oberfläche James Dean mit (vermeintlicher) ‚Tiefe‘ aus, gibt ihr eine zeitspezifische Kombination aus Ernsthaftigkeit, Tragik und bürgerlicher Spießigkeit. Das ist wohl der Grund, warum die Pop-Connaisseurs Dean unerwähnt lassen oder als Persona non grata figurieren. Signifikant ist die semiotische Differenz, die sich aus Diederichsens Passus ableiten lässt. Sie liegt in der zeichenhaften Klandestinität des Nachkriegs, den

 Ein ganz anderes Phänomen ist das Revival der 1950er Jahre in der Pop-Kultur der 1970er Jahre, etwa in Filmen wie American Graffiti (1973, R: George Lucas) oder Grease (1978, R: Randal Kaiser). Diese Filme zehren von einer „,1950s-ness‘“, um ein Konzept Fredric Jamesons aufzugreifen. Dabei geht es nicht darum, die 1950er Jahre in ihrer Historizität zu erfassen, etwas Valides über diese Dekade ‚auszusagen‘, sondern das Jahrzehnt durch den ostentativen Einsatz von zu Gemeinplätzen geronnenen Merkmalen zu einem artifiziellen Unterhaltungszusammenhang werden zu lassen. Solch eine Rezeption erfolgt in der Regel mit dem zeitlichen Abstand von einer Generation. Vgl. Fredric Jameson, Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism, Durham, NC 1991, S. 19 f.  Diederichsen, Das erste sexy Knuddeltier? S. 303.  Diederichsen, Das erste sexy Knuddeltier? S. 303 f.

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Andeutungen von bedeutsamen Essenzen, Gründen, Motivationen („irgendeine große Enttäuschung“).Vom Pop-Standpunkt aus betrachtet, sind sie nichts weiter als effektorientierte Attrappen, Fossilien einer untergehenden oder bereits vergangenen Zeit, kurz: Mythen der Moderne.

5 Rückblick und Ausblick: Pop-Literatur um 1968 Die Postmoderne erreicht die Literatur der Bundesrepublik in Gestalt von Pop. Das betrifft eine kurze, aber intensive und folgenreiche Phase von circa 1968 bis 1970.¹ Rolf Dieter Brinkmann ist einer der produktivsten Autoren dieser Phase, sowohl im Bereich fiktionaler als auch poetologischer Texte. Dabei verwendet er den Begriff „‚POP‘“ eher selten, der Terminus dient ihm als Übergangsbezeichnung.² Laut einer literaturwissenschaftlichen Einführung in die Thematik umfasst Brinkmanns Pop-Phase sogar nur wenige Monate, „von Ende 1967 bis Anfang 1968“.³ Es handelt sich also um eine weitestgehend nachträgliche Systematisierung, wenn hier von Pop die Rede ist. Trotz dieser begrifflichen und biografischen Einschränkungen sticht ein Umstand in verblüffender Weise hervor. Brinkmann ist vermutlich der erste, der darauf hinweist, dass sich die Texte der Pop-Moderne von der Literatur des „Monopol[s]“,⁴ also von Autoren wie Böll, Andersch und mit Abstrichen auch von Benn, vor allem durch eines unterscheiden: Durch ihre gegenteiligen Figurationen von zeichenhafter Bedeutung. Während Böll und Andersch bereits in Brinkmanns frühem Gedicht „Kulturgüter“ (1962) zu den miefigen Signaturen der Bundesrepublik gezählt werden,⁵

 Zu weiteren Ausprägungen postmoderner deutscher Literatur seit den 1970er Jahren vgl. etwa Uwe Wittstock, Nachwort. Schreiben in den Zeiten des Zweifels. In: Roman oder Leben. Postmoderne in der deutschen Literatur, hrsg. von Uwe Wittstock, Leipzig 1994, S. 315 – 340; sowie Michaela Kopp-Marx, Zwischen Petrarca und Madonna. Der Roman der Postmoderne, München 2005.  Brinkmann schreibt von einem „Angriff auf das abendländische Kulturmonopol … was gar nicht verwunderlich ist, bedenkt man, daß seit Anfang der sechziger Jahre New York sich zum beherrschenden Kulturzentrum gewandelt hat, […] eine Metropole, in der sich die verschiedensten Tendenzen und Impulse, die unterschiedlichsten Kunstbereiche überlagern, vermischen und so etwas wie einen allgemeinen Stil ausprägen, für den die Bezeichnung ‚POP‘ nur vorläufig gilt, und zwar ist unter Pop hier nicht die seinerzeitig aufgekommene Arbeitsrichtung der Malerei eines Wesselmann, Warhol etc. zu verstehen, vielmehr jene Sensibilität, die den schöpferischen Produkten jeder Kunstart – Schreiben, Malen, Film, Musikmachen – die billigen gedanklichen Alternativen verweigert: hier Natur – da Kunst und hier Natur –, da Gesellschaft, woraus bisher alle Problematik genommen wurde.“ Brinkmann, Angriff aufs Monopol. Ich hasse alte Dichter. S. 71.  Thomas Hecken / Marcus S. Kleiner / André Menke, Popliteratur. Eine Einführung, Stuttgart / Weimar 2015, S. 68.  Brinkmann, Angriff aufs Monopol. Ich hasse alte Dichter. S. 65 – 77.  Die Katalogartigkeit des Gedichts erinnert an Benns „Kleiner Kulturspiegel“. Brinkmann schleust Marilyn Monroe mitten in das Paradigma ‚deutsches Kulturmonopol‘ ein: „Eine Sonate von Stockhausen / drei Preise für Böll / das Dementi von Andersch / zwei Schmierzettel von Faßbender [sic] / Marilyn Monroe ist tot / ihre roten Morgenröcke / das Vermächtnis von Borchert / https://doi.org/10.1515/9783110739947-005

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ist das Verhältnis zu Benn komplexer. Es sind vor allem Benns „Orangenstil“ in der späten Prosa (Der Ptolemäer, 1949) sowie seine Essays, die das Interesse wecken. Benns Prosatechnik wird dabei fast auf eine Stufe mit William S. Burroughs’ gefeierter Cut-up-Technik gehoben – wäre da nicht der Hang zum Überhöhenden, zum Transzendierenden beim deutschen Altmeister. Brinkmann hat einen eigenen Terminus dafür. Er nennt es „‚das Unendliche‘“.⁶ In „Der Film in Worten“ (1969) erklärt Brinkmann die Betonung von textueller Bedeutung zu einem Kernproblem der deutschen Literatur seit 1945: „[W]enn die Literatur (wie überhaupt jede schöpferische Produktivität) in einer Situation der Ausweglosigkeit stirbt, so stirbt sie an der Bedeutung“.⁷ Das ist einer der letzten Sätze des Essays. Brinkmann wandelt die etwas erratische Formulierung aus einem Beitrag des Psychiaters und Paläoanthropologen Rudolf Bilz ab, der sich mit dem „Vagus-Tod“ (1967), dem Totstellreflex bei Menschen und Tieren befasst.⁸ In von Bense die Theorie / ein Jahr die Frankfurter / Ohrenschmalz von Enzensberger / die Lyrik Heissenbüttels [sic] / ein Fötus in Spiritus“. „Faßbender“ meint wohl den Düsseldorfer Maler und Kunstprofessor Joseph Fassbender (1903 – 1974). Rolf Dieter Brinkmann, Kulturgüter [1962]. In: Brinkmann, Standphotos. Gedichte 1962– 1970, Reinbek bei Hamburg 22012, S. 13.  In „Angriff aufs Monopol“ heißt es: „Benn grassierte wie eine Krankheit in der deutschen Lyrik, niemand sah die Aktualität seiner Prosa, die in ihrer Bedeutung gleichgeschalteten Einzelteile dieser Prosa. Der Bennsche Orangenstil ist kaum von der Cut-up-Methode W.S. Burroughs’ unterschieden.“ Brinkmann, Angriff aufs Monopol. Ich hasse alte Dichter. S. 75. In „Der Film in Worten“ notiert Brinkmann: „[B]ei Burroughs wird ein Essay oder programmatischer Text zur erzählerischen Ausführung (bei G. Benn ist früh ähnliches festzustellen – doch vermochte Benn das immer wieder aufzufangen und umzuinterpretieren mit dem, was er als das ‚Unendliche‘, das ‚Komische‘ etc. entschuldigend vor dem Leser definiert)“. Brinkmann, Der Film in Worten. S. 397. Zu Brinkmanns Benn-Rezeption vgl. ferner Johannes G. Pankau, Berührungen – Rolf Dieter Brinkmann und Gottfried Benn. In: Benn-Forum. Beiträge zur literarischen Moderne, 1, 2008 / 2009, S. 93 – 110.  Brinkmann, Der Film in Worten. S. 399.  Bilz schreibt, „wenn das Subjekt in einer Situation der Ausweglosigkeit stirbt, so stirbt es an der Bedeutung“. Bedeutung meint bei Bilz nicht Zeichenbedeutung, sondern eine subjektive Erlebnisform. Er übernimmt den Begriff von Jakob von Uexküll: „Seit Jakob von Uexküll wissen wir, welche Bedeutung dem Bedeutungserleben zukommt. Was ist überhaupt eine ‚Bedeutung‘? […] Das Erlebnis, das mit einer subjektiven Bedeutung verbunden ist, nämlich mit der Bedeutung, entscheidet, welcher motorische Ausdruck in dieser Situation in Erscheinung tritt. Und so kann auch der Tod, nämlich der Vagus-Tod, aufgrund eines Bedeutungs-Erlebens ‚in die Erscheinung treten‘“. Bilz führt dies unter anderem anhand von Beobachtungen aus, die er als „Nervenarzt in Berliner Luftschutzkellern während des Krieges“ gemacht hat. Rudolf Bilz, Der Vagus-Tod. Eine anthropologische Erörterung über die Situation der Ausweglosigkeit. In: Bilz, Die unbewältigte Vergangenheit des Menschengeschlechts. Beiträge zu einer Paläoanthropologie, Frankfurt a. M. 1967, S. 242– 275, hier S. 244. Vgl. auch Jakob von Uexküll, Bedeutungslehre. Leipzig 1940 (Bios. Abhandlungen zur theoretischen Biologie und zu ihrer Geschichte sowie zur Philosophie der organischen Naturwissenschaften. Bd. 10).

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seinen Polemiken gegen den Literaturbetrieb schreibt Brinkmann häufiger davon, dass das literarische Establishment ‚tot‘ sei und keinen Blick für die Gegenwart habe („Die Toten bewundern die Toten“).⁹ Daher rührt wohl das Interesse für den Vagus-Tod. Um den zitierten Satz über die Bedeutung auf den literarischen Zusammenhang zu übertragen: Ausweglos gestalte sich die Situation, da der Paradigmenwechsel irreversibel sei, da populäre, vor allem populäre amerikanische Phänomene die abendländische Geistesgeschichte als Hauptreferenzpunkt der Literatur ablösen (Kittler beobachtet in seinem Benn-Aufsatz ähnliches).¹⁰ Ignorant hielte sich das Gros der Autorinnen und Autoren an die gewohnte, abendländische Bedeutungshuberei, an die ‚schweren‘ Zeichen des Nachkriegs. „Bedeutsamkeit“, so Brinkmann, sei eine „leere Forderung“, die für das „langsam[e] Eingehen“ der deutschen Literatur verantwortlich zeichne.¹¹ Bemerkenswerte Worte! Der von Brinkmann erwähnten Bedeutsamkeitsforderung, so kann man in Rückblick auf die Analysen der Texte Bölls, Benns und Anderschs festhalten, kommt die deutsche Literatur der 1950er Jahre durch bestimmte Verfahren (Kunstgriffe) nach. Bedeutsamkeit meint die Tragweite, die von ‚hoher‘ Literatur beansprucht wird, um sich als kunstförmiges Artefakt auszuweisen. In diesem Zusammenhang ist eine Überlegung aufschlussreich, die Moritz Baßler zur Unterscheidung von Pop-Literatur und „hochliterarischer Erzählprosa“ angestellt hat.¹² Er unterscheidet zwischen einem spezifischen und einem allgemeinen Ausdruck. Das meint vor allem die Spezifikation hinsichtlich populärer Zeichen, Realien aus der Sphäre des Konsums. Der spezifische Ausdruck ist folglich der Pop-Literatur vorbehalten, welche – so die einschlägige These – nicht nur durch die intensive Nennung von Realien (realexistierenden Marken, Songs, Filmen etc.) gekennzeichnet ist, sondern sich auch in formaler Hinsicht über diese Gegenstände konstituiert, zum Beispiel über den Katalog, die Liste.¹³ Im literaturwissenschaftlichen Diskurs wurde dies vor allem als textuelle Fokussierung von Oberflächen reflektiert.¹⁴ Pop, so die verbreitete Forschungsposition, ist eine Literatur der Oberfläche, die sich gegen ‚tiefe‘ Bedeutung sperrt. Oder strukturalistisch formuliert: Literarischer Pop ist paradigmatisch, da er den Text „in einer für den Erzählzusammenhang überflüssigen Weise aufs kulturelle Paradigma hin

 Brinkmann, Angriff aufs Monopol. Ich hasse alte Dichter. S. 77.  Vgl. Kittler, Benns Gedichte – ‚Schlager von Klasse‘. S. 107.  Brinkmann, Der Film in Worten. S. 399.  Baßler, Definitely Maybe. Das Pop-Paradigma in der Literatur. S. 104.  Vgl. Baßler, Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten, S. 186.  Vgl. dazu beispielhaft den Sammelband von Olaf Grabienski / Till Huber / Jan-Noël Thon (Hg.), Poetik der Oberfläche. Die deutschsprachige Popliteratur der 1990er Jahre, Berlin 2011.

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öffnet“.¹⁵ Das ist der Effekt der Realieninflation, der pop-literarischen Spezifikation. In hochliterarischer Erzählprosa aber wirkt der spezifischere Ausdruck irgendwie deplatziert, als bekäme man im Drei-Sterne-Restaurant eine Flasche Heinz Ketchup auf den Tisch gestellt. Wenn es überhaupt zu solchen Detailinformationen kommt, dann haftet ihnen oft eine leichte Vorbehaltlichkeit an, als hätte man sie in imaginäre Anführungszeichen gesetzt. […] Denn in der Spezifikation wird ein erwarteter Grad an Allgemeinheit unterschritten, der für eine bestimmte Art von Literatur offenbar topisch ist, insbesondere für eine Literatur, die sich als ernsthaft kunstförmig versteht.¹⁶

Die Überlegung zum allgemeinen Ausdruck ‚hoher‘ Literatur ist insofern anschlussfähig, da sie sich mit den Bedeutsamkeitsverfahren der 1950er Jahre zusammendenken lässt. Realien haben in der Literatur dieser Zeit tendenziell den Status von semiotischen Fremdkörpern – paradoxerweise selbst dann, wenn die literarischen Texte die Realien produktiv in ihre Poiesis einbinden, wie es Böll, Benn und Andersch tun. Das heißt aber auch, dass Realien in vielen Texten der 1950er Jahre mehr als bloße „Detailinformationen“, effets de réel, darstellen.¹⁷ Dafür ist das Verhältnis zwischen der Sphäre der Kunst und der Sphäre des Konsums viel zu angespannt. Es zeigt sich vielmehr, dass die Texte dazu tendieren, an das Konkretum gewichtiges Allgemeines anzuschließen oder aus dem Konkretum selbst Allgemeines abzuleiten. Die Texte re-installieren den allgemeinen Ausdruck, um nicht in Gefahr zu laufen, von der Konkretion der Realien banalisiert zu werden. In diesem Zuge setzen sie auf nachdrückliche Weise Bedeutsamkeit ins Werk, die man als „etwas spezifisch Unscharfes“ definieren kann.¹⁸ Deshalb stehen übercodierte, aber unterdeterminierte Konzepte wie „Sein, Zeit, Welt, Kosmos“ oder „Leben“¹⁹ und Schmerz nach 1945 so hoch im Kurs. Die existenziellen und ontologischen Begriffe transportieren Gewichtung, Tragweite – und sie sind derart groß dimensioniert, dass sie notwendig im Abstrakten, im Allgemeinen verbleiben. Verfahrenstechnisch wird dies in den Texten auf unterschiedlichen Wegen umgesetzt. Darunter befinden sich etwa Registerwechsel von der Alltags- in die literarische Kunstsprache, Auslassungen und Andeutungen (‚Leben… Schmerz…‘), transzendierende Überhöhungen, Ahnungen (‚nimm nicht als Gesetz, was Ahnung ist‘), metaphorische Fragen (‚Kennt die Jugend ihren Stier?‘),     

Baßler, Definitely Maybe. Das Pop-Paradigma in der Literatur, S. 104. Baßler, Definitely Maybe. Das Pop-Paradigma in der Literatur, S. 104. Vgl. dagegen Baßler, Definitely Maybe. Das Pop-Paradigma in der Literatur, S. 107. Hörisch, Bedeutsamkeit. Über den Zusammenhang von Zeit, Sinn und Medien, S. 194. Hörisch, Bedeutsamkeit. Über den Zusammenhang von Zeit, Sinn und Medien, S. 194.

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pathetische Adressierungen der Leserinnen und Leser sowie sekundäre Füllungen von Zeichen, zum Beispiel im Falle des (naturalisierenden) Mythos (vgl. James Dean). Diese Kunstmittel haben einen erheblichen Anteil am existenziellen ‚Raunen‘, an der ‚Schwere‘ und ‚Tiefe‘, die man mit einem großen Teil der Literatur der 1950er Jahre verbindet. Die meist schematische Gegenüberstellung von ‚Tiefe in der Nachkriegsliteratur‘ und ‚Oberfläche in der Pop-Literatur‘ lässt sich im Rückblick auf die Analysen der Texte Benns, Bölls und Anderschs differenzieren und präzisieren. Oberflächen sind in der Nachkriegsliteratur sehr wohl von Relevanz, zum Teil sind sie sogar konstitutiv. Man muss nur den Blickwinkel in Richtung der Bedeutungsseite der Texte verändern, um das zu erfassen. Fragt man nach der Bedeutungskonstitution der Texte, zeigt sich, dass in ihnen die Oberflächen der Populärkultur sehr unterschiedlich funktionalisiert werden. 1) Benns Gedichte induzieren intensive, bedeutsame Erlebnisse der lyrischen Instanzen durch das Populäre. Alltägliche Realien werden zu Medien des Bedeutsamen. So strebt in einem Detail wie dem Konfetti plötzlich die ganze Welt zusammen. Ferner tendiert Benns Lyrik dazu, den Status der figurierten Tragweite zu hinterfragen, Ambivalenzen in die Texte einzubauen, die das Bedeutsame in Momente der Unsicherheit übergehen lassen. 2) Bölls frühe Prosa funktioniert konventioneller. Die Texte bemühen bedeutsame Vokabeln gegen das Populäre. Mit ihrem hypertrophen Pathos nähern sie sich jedoch dem Kitsch ihrer profanen Intertexte an. 3) Anderschs Hörspiel greift wiederum auf populäres Referenzmaterial zurück, welches von sich aus bereits auf der Klaviatur der Bedeutsamkeit spielt. Der waidwunde Schauspieler James Dean ist selbst so ein ‚schweres‘ Zeichen, ein Produkt der Nachkriegskultur. So konstruiert die Funkmontage Bedeutsames mit den populären Intertexten, um sich zugleich jovial in den Sprecherkommentaren über das Populäre zu erheben. Der auf Spezifikation, auf die kulturellen Paradigmen zielenden Pop-Literatur steht folglich eine Literatur des Allgemeinen und der indistinkten Syntagmen gegenüber. Pop präferiert den Vergleich, das Distinkte, die Binnendifferenzierung im Paradigma. Warum Pepsi und nicht Coca-Cola? Warum The Doors und nicht The Kinks? Und für Pop der 1990er Jahre: Warum eine grüne Barbour Jacke und keine blaue? Warum Deutsche Bank und nicht Citi-Bank? Solche Fragen sind für die Literatur der 1950er Jahre viel zu klein angelegt, im Unterschied zu Pop geht es hier gleichsam ums Ganze. Die Literatur dieser Zeit peilt Kategorien an, die kaum noch Vergleiche zulassen (nochmal: Leben, Schmerz, Sein, Kosmos). Damit reagiert sie auf das Verschleißen von Sinnangeboten und Welterklärungsmustern in der Moderne. Um es in der Terminologie des strukturalistischen Drei-EbenenModells (Kap. 3.3) zu formulieren: Die Bedeutungsebene (B) lässt sich in der literarischen Spätmoderne der 1950er Jahre nur stabilisieren, wenn man das

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Verschleißen traditioneller Metacodes (Geschichte, Religion, Familie etc.) seit dem neunzehnten Jahrhundert ignoriert beziehungsweise wenn man Anstrengungen unternimmt, verbrauchte Codes zu re-installieren (der Glaube ist hier häufig das Mittel der Wahl). Will man das nicht tun, aber trotzdem ein ‚wertiges‘, kunstförmiges Stück Literatur produzieren, füllt man die problematisch gewordene Bedeutungsebene mit etwas anderem: mit Bedeutsamkeit. Selbst wenn es nur Leerstellen sind, auf die der Text verweist – im Sinne von: ‚Gott ist tot‘ oder ‚Wir sind Geworfene‘ – kann er immerhin über die genannten Verfahren eine gewisse Tragweite markieren. Das macht die Literatur der 1950er Jahre wahrlich zu „Anti-Pop“.²⁰ Dagegen arbeiten die Pop-Autorinnen und -Autoren um 1968 daran, die abendländischen Sinnangebote und nachkriegsliterarischen Bedeutungsfigurationen zu verabschieden. Sie legen den Grundstein für eine Literatur, die durch ihre paradigmatische Behandlung von Realien der Konsumsphäre einen Gegenentwurf zur deutschen Hochliteratur bildet. So eine Literatur gab es zuvor nur in Ansätzen.²¹ Im weiteren Verlauf sind die literarischen Aktualisierungen von Pop dann sehr vielfältig. Die realistische Pop-Prosa der 1990er Jahre (Kracht, Stuckrad-Barre, Berg, Hennig von Lange et al.) funktioniert bekanntlich weitestgehend anders als Pop um 1968,²² welcher hier den Referenzpunkt darstellt. Wie aber lassen sich diese systematischen Überlegungen abschließend an pop-literarische Gegenstände zurückbinden? Was macht die Pop-Literatur um 1968 konkret anders? In Fragen nach der Bedeutung von Texten ist Rolf Dieter Brinkmann mehr als nur ein bloßer Stichwortgeber, seine Gedanken aus „Der Film in Worten“ liefern Ansätze zur textanalytischen Reflexion des hier diskutierten Komplexes. Brinkmanns Bedeutungsbegriff lässt sich zeichenhaft lesen, wie eine weitere Stelle seines Essays veranschaulicht. Zugleich wird damit eine pop-literarische Antwort auf das Bedeutungsproblem gegeben. Über zwei Prosatexte seiner Anthologie ACID schreibt Brinkmann: Die Frage nach der Bedeutung erübrigt sich – die Erzählung ist einfach „da“ […]. Durch die Hereinnahme populären Materials, das von vornherein zwar „ausgezehrt“ ist, jedoch noch

 Maren Lickhardt ist mit ihrer Erläuterung dieser Bezeichnung einem ganz ähnlichen Punkt auf der Spur: „Pop-Kulturelle Distinktionen verhüllen nicht ihre eigene Kontingenz, sondern stellen sie zur Schau und bearbeiten sie diskursiv, indem jene als Kategorie des Geschmacks und nicht als essentielle oder substantielle Tatsache ausgewiesen werden.“ Lickhardt, Pop in den 20er Jahren. Leben, Schreiben, Lesen zwischen Fakt und Fiktion. S. 237.  Maren Lickhardt verortet eine erste Ausprägung von Pop in den 1920er und frühen 1930er Jahren. Vgl. Lickhardt, Pop in den 20er Jahren. Leben, Schreiben, Lesen zwischen Fakt und Fiktion. Vgl. zu Lickhardts Ansatz Kapitel 1.2.2 in dieser Arbeit.  Vgl. dazu Baßler, Definitely Maybe. Das Pop-Paradigma in der Literatur. S. 120 – 123.

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nicht mit einer hohen „kulturellen“ Bedeutung aufgefüllt, wird gefragt, was Prosa heute noch zu leisten imstande ist, witzig, aber ohne jene billig zu habende Ironie, diesem „wissenden“ Grinsen des Bauern, der glaubt, die dicksten Kartoffeln geerntet zu haben […].²³

Man muss solche Sätze als programmatische Werbung für die eigene Anthologie verstehen. Zur Erinnerung: Unter Pop laufen in der deutschen Literatur um 1968 häufig Texte, die mit avantgardistischen Verfahren operieren und auf Framebrüche, auf Tmesis setzen. Zudem stehen populäre Genres hoch im Kurs. Im Falle von „Stern-Schlinge“, einem der von Brinkmann erwähnten Texte der Anthologie, ist das die Science-Fiction, die von Leslie Fiedler neben dem Western und der Pornographie zum Betätigungsfeld postmoderner Literatur erklärt wird.²⁴ Das ‚populäre Material‘ ist in „Stern-Schlinge“ insofern „‚ausgezehrt‘“, da es sich aus den „Klischees“²⁵ der populären Genrezusammenhänge zusammensetzt. Das Material besteht aus Topoi, aus Schemata, massenhaft reproduzierten Formulierungen, Bildern und Skripten wie sie für Genres konstitutiv sind. Worauf die literarischen Texte der Anthologie weitestgehend verzichten, sind pejorative Urteile und Abwertungen, insofern es sich um britisches und US-amerikanisches Zeichenmaterial handelt (ein kulturkritischer Klassiker wäre: ‚Die Schemata sind banaler, narkotisierender Unterhaltungsschund‘). In den Texten der Anthologie verweisen die entleerten ‚Klischees‘ auf die jeweiligen Genremuster und eben nicht auf irgendetwas außertextuelles ‚Substantielles‘. Jede Form von Bedeutsamkeit, von Tragweite, verbleibt zunächst einmal im populären Genre – wo man durchaus rege von ihr Gebrauch macht. Insbesondere in der Science-Fiction geht es ja häufig um alles (das Ende der Welt, außerirdische Lebensformen, grundlegende Identitätsfragen). Um es auf den Punkt zu bringen: Die Texte werden nicht mit einer „hohen ‚kulturellen‘ Bedeutung aufgefüllt“, sondern „bewußt verarbeite[t]“, also gezielt als „Obsessionen gegen ‚Literatur‘“ lanciert (lies: ‚alte‘ Literatur).²⁶ Zahlreiche Beiträge der Anthologie lassen sich in diesem Zug reibungslos unter Camp-Vorzeichen lesen. Ganz im Sinne von Susan Sontags Diktum „es ist gut, weil es schrecklich ist“.²⁷ „Stern-Schlinge“ von Ron Padgett und Tom Veitch²⁸ entwickelt sich ausgehend vom ersten Vers des Beatles-Songs „Lucy in the Sky With Diamonds“ (1967)

 Brinkmann, Der Film in Worten. S. 391.  Vgl. Fiedler, cross the border, close the gap. S. 253.  Brinkmann, Der Film in Worten. S. 391.  Brinkmann, Der Film in Worten. S. 391.  Sontag, Anmerkungen zu ‚Camp‘ (Notes on ‚Camp‘). S. 341.  Padgett rechnet man der New York School of Poetry zu, Veitch ist neben seinen Arbeiten als Prosa- und Lyrikautor vor allem in der Comicindustrie tätig.

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zu einem apokalyptischen Bad Trip in Literaturform, zur Kontrafaktur des Songs („Picture yourself in a boat on a river“). Brinkmann liest das „nicht ohne Witz“.²⁹ Der Prosatext beginnt: Stell dir vor, du sitzt in dem Boot auf dem Fluß mit den Tangerinbäumen… Aufblickend siehst Du drei riesige Sonnen vom Himmel niederwirbeln, sie speien Ströme von flammendem Blut über die Erde, die deine Welt in Kohle verwandeln […]. Und überall die graue Asche verbrannten Fleisches, die in Wolken über die verwüstete Landschaft zieht… Entsetzt siehst Du, wie der Fluß um dich herum zu sieden beginnt, und während du anfängst zu schreien, wirst du schon geröstet in deinem Boot…³⁰

In einem Text der 1950er Jahre sind ähnliche Passagen erstens generell schwer vorstellbar und sie wären zweitens, wenn überhaupt, wohl nur mit einer Referenz auf abendländische, religiöse Vorstellungen der Apokalypse zu denken, die man dann irgendwie mit dem Song zusammenlesen müsste (Arno Schmidt und seine postapokalyptischen Diegesen wie in „Schwarze Spiegel“ einmal ausgenommen).³¹ Auf die zitierte heterodiegetische Exposition aus „Stern-Schlinge“ folgt eine homodiegetisch verfasste Erzählung, die von einem weltentscheidenden Krieg in ferner Zukunft berichtet. Telepathische Kommunikation spielt dabei eine große Rolle. Ein repräsentatives Beispiel: „Krieg, Monag, knurrte ich in sein Gehirn. Krieg und Tod. Töte die Feinde des Guran und der ganzen Menschheit.“³² Bei Sätzen wie diesen bleibt weitestgehend unklar, was sich hinter exotisierenden Namen im Stil von ‚Monag‘ und ‚Guran‘ verbirgt. Der fremde Klang ist hier als Genremarkierung entscheidend. Brinkmann ist begeistert, „Flickerbilder à la Burroughs werden eingeschnitten“,³³ heißt es weiter über den Text, der seine grammatische Struktur aufbricht und diskontinuierlich Sätze montiert: „kleine Mädchen steigen aus dem Bus ins Kanalloch… Baum beugt sich nieder, mit Bär zu reden, und schlägt mit Kopf auf Felsen… Vogel prallt gegen sich selbst… Überall die physische Realität ausgerenkt, auf die Seite gekippt“.³⁴ Das ist eine harte Absage an die Bedeutsamkeitsfigurationen der deutschen Literatur über den Weg des populären Genres und der avantgardistischen Verfahren.

 Brinkmann, Der Film in Worten. S. 391.  Ron Padgett / Tom Veitch, Stern-Schlinge. In: ACID. Neue amerikanische Szene, hg. von Rolf Dieter Brinkmann und Ralf Rainer Rygulla, Darmstadt 1969, S. 182– 189, hier S. 182. Die deutsche Übersetzung des Textes hat Herbert Graf besorgt.  Vgl. dazu Kapitel 1.3.2 in dieser Arbeit.  Padgett / Veitch, Stern-Schlinge. S. 187.  Brinkmann, Der Film in Worten. S. 391.  Padgett / Veitch, Stern-Schlinge. S. 187

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Eine anders gelagerte Antwort auf das Bedeutungsproblem gibt Brinkmann in seiner Lyrik. Die lyrische Instanz des Gedichts „Eine übergroße Photographie von Liz Taylor“ (1968) stellt sich die Frage nach der Bedeutung der titelgebenden Photographie. Dabei kippt der Text, wie es bei Brinkmann häufiger passiert, ins Libidinöse, ins Sexuelle: Ich trinke meinen Kaffee wie jeder Kaffee trinkt aber die Bilder sind anders. Der eine denkt an irgendetwas und ich denke an irgendetwas, Liz Taylor lächelt immerzu. Wenn es etwas gibt, das sich noch lohnt, dann ist es das. Die Krümmung einer Haarlocke und die natürliche Kräuselung des Schamhaars wie Schamhaar sich in meinen Träumen kräuselt, es ist schon spät. Und noch immer lächelt Liz Taylor mich an. Was ist das? Nehmen wir an, es ist nichts was sich lohnt, dann bleibt dieses von allem übrig nachdem ich meinen Kaffee ausgetrunken habe.³⁵

Das prosaisch verfasste, fünf Strophen umfassende und durch Enjambements verbundene Gedicht entfaltet eine Alltagssituation. Die lyrische Instanz sitzt kaffeetrinkend vor einer „Photographie von Liz Taylor“ und schweift in diesem Zuge gedanklich ab. Bei dem Bild könnte es sich um eine der zahlreichen Aufnahmen von Liz Taylor handeln, die in den 1960er Jahren in der Boulevardpresse die Runde machen. Doch es ist ja die Rede von einer „übergroße[n] Photographie“, zum Beispiel von einem Poster. Eine Spur führt zu Andy Warhol. In „Angriff aufs Monopol“ erwähnt Brinkmann einen der kolorierten Siebdrucke, die Warhol auf der Grundlage von Fotografien Liz Taylors angefertigt hat. Wie auch im Gedicht wird hier dem Bild, das in Brinkmanns Wohnung hängen soll, eine sexuelle Komponente zugesprochen. Beziehungsweise regt das Bild in „Angriff aufs Mo-

 Rolf Dieter Brinkmann, Eine übergroße Photographie von Liz Taylor [1968]. In: Brinkmann, Standphotos. Gedichte 1962– 1970, Reinbek bei Hamburg 22012, S. 217.

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nopol“ ein vulgäres Zitat des Taylor-Ehegatten Richard Burton an.³⁶ Liz Taylor ist zu dieser Zeit mit Filmen wie Cleopatra (1963, R.: Joseph L. Mankiewicz) die bestbezahlte Schauspielerin Hollywoods, ein weltweit bekanntes Sexsymbol, das durch seine Affären und durch mehrere Ehen eine Konstante der Yellow Press bildet. Auf den Siebdrucken Warhols sieht man ihr Gesicht in grellen Farben, besonders der comicartige Mund, den Warhol mit einem satten Rotton über die natürliche Lippenform hinaus koloriert hat, tritt aus dem Bild hervor. Ebenfalls markant sind die übermalten, grünen Augenlider. Das ist color blocking, wie man es von der Pop Art kennt. Brinkmanns Gedicht baut im ersten Vers eine Situation allgemeiner Vergleichbarkeit auf („Ich trinke meinen Kaffee wie jeder Kaffee trinkt“), um diese Situation direkt im zweiten Vers zu relativieren. Die ästhetischen Artefakte, mit denen sich die lyrische Instanz umgibt, unterlaufen den angestellten Vergleich mit dem deutschen Ottonormal-Kaffeetrinker („aber die Bilder sind anders.“). Auf das Lächeln Liz Taylors im Bild, das die lyrische Ut pictura poesis-Tradition aufruft, folgen die Verse sechs und sieben, die im Zusammenhang mit der Bedeutungsfrage von Relevanz sind: „Wenn es etwas gibt, das sich noch lohnt, dann ist es das.“ Nun fragt man sich, was es denn genau ist, ist es das Lächeln, ist es die „Krümmung einer Haarlocke“ (V. 8) oder ist es doch eher das „Schamhaar“? Vieles spricht für Letzteres. Die lyrische Erwähnung von Intimbehaarung lässt sich mit Recht als ein poetologisches Anliegen Brinkmanns bezeichnen.³⁷ Es geht ihm nicht allein um die dadurch entstehende Provokation (das vor allem), sondern generell um die Erweiterung des lyrischen Wortschatzes sowie um eine „erweiterte Sinnlichkeit“ in der Literatur, die er an verschiedenen Stellen betont.³⁸ Dass das Wort ‚Schamhaar‘ in der deutschen Lyrik des Jahres 1968 Aufsehen erregt und sogar eine Zensur hervorruft, zeigt eine schöne Anekdote, die Jan

 „An der Wand: Andy Warhol, March 15th through April 3rd, 1965, Morris International, 130 Bloor Street, Toronto“. Eine kolorierte Porträtaufnahme vom Star Liz Taylor (Ehemann Richard Burton: ‚Wenn sie geht, sieht sie von hinten aus wie eine französische Nutte‘). Materialien eines ereignislosen, wäßrigen Novembernachmittags.“ Brinkmann, Angriff aufs Monopol. Ich hasse alte Dichter, S. 70 f.  „Während bereits im Film oder auf Reklamebildern zaghaft Schamhaar gezeigt wird, von Brustwarzen ganz zu schweigen, wagt es der Lyriker offensichtlich nicht, sein zartes, kunstvollapartes Gedankengebilde durch das Wort Schamhaar zu bereichern, schon gar nicht durch solche Wörter wie Schwanz, Fotze, auslecken, abkauen, blasen – Wörter, die zumindest ‚das Gedicht‘ trivialisieren würden, den Modell-Charakter zerstören, eine falsche Idylle entlarven.“ Rolf Dieter Brinkmann, Über Lyrik und Sexualität. In: Streit-Zeitschrift, 7, 1, 1969, S. 65 – 70, hier S. 66 f. Schambehaarung ist ein wiederkehrendes Motiv in Brinkmanns Lyrik, so zum Beispiel in „Godzilla telefoniert so gern“ (1968).  Vgl. beispielhaft Brinkmann, Der Film in Worten. S. 384.

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Abb. 22: Liz (1965).

Röhnert skizziert hat. Anlässlich einer Gedichtlesung im WDR wurde Brinkmann darum gebeten, das „Schamhaar“ aus „Eine übergroße Photographie von Liz Taylor“ durch das Kunstwort „Schaumhaar“ zu ersetzen, welches an Aphrodite, die Schaumgeborene, denken lässt. Dieser hat den Neologismus während seiner Lesung dann derart betont, dass das Wort „die sittliche Zensur lächerlich machte“.³⁹ Dafür hätte es die Überbetonung vermutlich nicht einmal gebraucht. Hinsichtlich der Bedeutungsthematik erweisen sich die Frage „Was ist das?“ und die darauffolgende Antwort als entscheidend (V. 15 f.). Ausgelöst werden Frage und Antwort von der Beobachtung, dass Liz Taylor „noch immer“ lächelt, wenn die lyrische Instanz wieder aus ihrer Digression zurückkehrt (V. 12– 15). Man

 Jan Röhnert, Springende Gedanken und flackernde Bilder. Lyrik im Zeitalter der Kinematographie. Blaise Cendrars, John Ashbery, Rolf Dieter Brinkmann, Göttingen 2007, S. 333.

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kennt ähnliche Situationen aus Benns Lyrik, etwa aus dem Gedicht „Konfetti“. Auch dort beobachtet die lyrische Instanz ein Alltagsphänomen – und ahnt ausgehend von den titelgebenden Papierschnipseln einen größeren, jedoch im Indistinkten verbleibenden (Welt‐)Zusammenhang. Anders bei Brinkmann, hier wird nicht geahnt. Stattdessen formuliert die lyrische Instanz umständlich sich selbst relativierend, „Nehmen wir an, es // ist nichts / was sich lohnt, dann bleibt dieses von allem übrig / nachdem ich meinen Kaffee ausgetrunken habe“ (V. 15 – 18). Es müsste also ‚etwas übrigbleiben, dass sich nicht lohnt‘. Dies ist eine Verneinung der vorherigen Feststellung, „Wenn es noch etwas gibt, das sich lohnt, dann // ist es das.“ (V. 6 – 7). Was man aus der vertrackten Konstellation ableiten kann, ist Folgendes: Da befindet sich nichts ‚hinter‘ dem Bild, es gibt keine Verweisung auf etwas außerhalb des populären Frames. Am Ende des Textes stehen die Sinnlichkeit, die sexuelle Affizierung, die das Porträt auslöst – und die leere Kaffeetasse.⁴⁰ Diese beiden Dinge genügen für ein Gedicht. Dass das so ist, liegt nicht nur an der lyrischen Instanz, sondern zugleich an der Verfasstheit des betrachteten Bildes sowie an den Kunstparametern, in denen es sich befindet.Wenn man davon ausgeht, dass es sich bei der „Photographie“ in Brinkmanns Gedicht um das Warhol-Poster handelt, ergibt sich eine Parallele zu einem klassischen Gedanken über postmoderne Oberflächen. Fredric Jameson hat ihn anhand von Warhol in die Diskussion gebracht. In Postmodernism (1991) vergleicht Jameson das späte Warhol-Bild Diamond Dust Shoes (1980) mit van Goghs Gemälde Ein paar Schuhe (1886) beziehungsweise zieht er die van GoghLektüre aus Martin Heideggers Der Ursprung des Kunstwerks (1935/1936) für seinen Vergleich heran. Heideggers hermeneutische Lesart der Bauernschuhe entdeckt, so Jameson, im Bild einen „clue“ oder ein „symptom for some vaster reality“, die Schuhe bürgen in Heideggers Lektüre für „ultimate truth“.⁴¹ Davon unterscheiden

 Vgl. dazu die Argumentation Elisabeth Paefgens: „So wie das Kaffeetrinken ‚da‘ ist, ist auch die Fotografie einfach ‚da‘, sind die erotischen Phantasien ‚da‘; und dass ‚Liz Taylor immerzu lächelt‘, mag dem Bild geschuldet sein, ist aber immerhin kein ganz trostloser An- und Ausblick.“ Auf die in frühen Forschungsbeiträgen zirkulierende Frage, „ob Brinkmann dem ‚Mythos Taylor‘ erliegt“, konstatiert Paefgen zutreffend: „Es ist doch eher so, dass etwas Banales mit diesem modernen Mythos ‚gemacht‘ wird, was weder das Idol noch die bildlichen Darstellungspraktiken in Misskredit bringt.“ Elisabeth K. Paefgen, Eine übergroße Photographie von Liz Taylor. In: Rolf Dieter Brinkmann. Seine Gedichte in Einzelinterpretationen, hg. von Jan Röhnert und Gunter Geduldig, Bd. 1, Berlin / Boston, MA 2012, S. 237– 246, hier S. 245 f.  Fredric Jameson, Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism. Durham, NC 1991, S. 8. In Heideggers Der Ursprung des Kunstwerks heißt es: „In dem Schuhzeug schwingt der verschwiegene Zuruf der Erde, ihr stilles Verschenken des reifen Korns und ihr unerklärliches Sicherversagen in der öden Brache des winterlichen Feldes. […] Zur Erde gehört dieses Zeug und in der Welt der Bäuerin ist es behütet. […] Van Goghs Gemälde ist die Eröffnung dessen, was das

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sich Warhols Diamond Dust Shoes, führt Jameson aus, durch die „emergence of a new kind of flatness or depthlessness, a new kind of superficiality in the most literal sense, perhaps the supreme formal feature“ in der Postmoderne.⁴² Diese Oberflächigkeit betont Brinkmanns „Eine übergroße Photographie von Liz Taylor“ in programmatischer Weise. Der Unterschied zwischen Jameson und Brinkmann ist freilich, dass bei Brinkmann, zumindest im Falle des diskutierten Gedichts, die Kritik an der Warenförmigkeit des Bildes ausbleibt. Auf diese hat es Jameson als guter Marxist abgesehen.⁴³ Brinkmanns Gedicht zielt auf anderes, auf die ästhetische Positionierung pro Oberfläche, contra ‚Tiefe‘ und Wahrheit, contra Bedeutsamkeit. Aufschlussreich ist eine „Notiz“, die Brinkmann dem Lyrikband Die Piloten voranstellt, aus dem sein Gedicht „Eine übergroße Photographie von Liz Taylor“ stammt. Hier heißt es über die aus der Fotografie auf die Lyrik übertragene Technik des „snap-shot“:⁴⁴ Ich denke, daß das Gedicht die geeignetste Form ist, spontan erfaßte Vorgänge und Bewegungen, eine nur in einem Augenblick sich deutlich zeigende Empfindlichkeit konkret als snap-shot festzuhalten. Jeder kennt das, wenn zwischen Tür und Angel, wie man so sagt, das, was man in dem Augenblick zufällig vor sich hat, zu einem sehr präzisen, festen, zugleich aber auch sehr durchsichtigen Bild wird, hinter dem nichts steht scheinbar isolierte Schnittpunkte [sic]. Da geht es nicht mehr um die Quadratur des Kreises, da geht es um das genaue Hinsehen, die richtige Einstellung zum Kaffeerest in der Tasse […].⁴⁵

Ein „Bild […] hinter dem nichts steht“ und schlussendlich „die richtige Einstellung zum Kaffeerest in der Tasse“ – ohne Kaffeesatzleserei zu betreiben –, das ist Brinkmanns Antwort auf den „feinziselierten Hokuspokus“ bedeutsamer Litera-

Zeug, das Paar Bauernschuhe in Wahrheit ist. Dieses Seiende tritt in die Unverborgenheit seines Seins heraus.“ Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks [1935/1936]. In: Heidegger, Holzwege. Frankfurt a. M. 41963. S. 7– 68, hier S. 23 und 25.  Jameson, Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism. S. 9.  Jameson schreibt: „Andy Warhol’s work in fact turns centrally around commodification, and the great billboard images of the Coca-Cola bottle or the Campbell’s soup can, which explicitly foreground the commodity fetishism of a transition to late capital, ought to be powerful and critical political statements. If they are not that, then one would surely want to know why, and one would want to begin to wonder a little more seriously about the possibilities of political or critical art in the postmodern period of late capital.“ Jameson, Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism. S. 9.  Rolf Dieter Brinkmann, Notiz [1968]. In: Brinkmann, Standphotos. Gedichte 1962– 1970, Reinbek bei Hamburg 22002, S. 185 – 187, hier S. 185.  Brinkmann, Notiz. S. 185.

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tur. Oder in zwei prägnanten Sätzen: „Man muß vergessen, daß es so etwas wie Kunst gibt! Und einfach anfangen.“⁴⁶

 Brinkmann, Notiz. S. 186.

6 Abbildungsverzeichnis Abb. 1, S. 55: Titelseite der Gondel. © Gondel Verlag. Abb. 2 und 3, S. 108: Werbeanzeigen für Persil (1950). Entnommen aus Wolfgang Feiter, 80 Jahre Persil. Produkt- und Werbegeschichte. Düsseldorf 1987, (Schriften des Werksarchivs der Henkel KGaA Düsseldorf) S. 56 und 58. © Henkel KGaA. Abb. 4, S. 157: o.V.: Noch keine Riesenmenschen. In: Der Spiegel, 35, 31. August 1950, S. 34. © Spiegel-Verlag. Abb. 5, S. 190: I Was an American Spy (R: Lesley Selander, 1951, Timecode: 1:12:34). © Allied Artists Pictures. Abb. 6 und 7, S. 206: Werbeanzeigen für Juno (1953). © Museum der Arbeit, Werbemittelarchiv, Signaturen: 40/31 und 40/29. Abb. 8 und 9, S. 208: o.V., „An den klassischen Stätten“. In: Der Spiegel, 13, 24. März 1954, S. 3 und 4. © Spiegel-Verlag. Abb. 10, S. 216: Drei-Ebenen-Modell des literarischen Textes. Skizze des Verfassers nach dem Modell in Moritz Baßler, Deutsche Erzählprosa 1850 – 1950. Eine Geschichte literarischer Verfahren, Berlin 2015, S. 19. Abb. 11, S. 218: Drei-Ebenen-Modell des literarischen Textes (Bedeutsamkeit ontosemiologisch). Skizze des Verfassers. Abb. 12, S. 220: Drei-Ebenen-Modell des literarischen Textes (Bedeutsamkeit verfahrenstheoretisch). Skizze des Verfassers. Abb. 13, S. 232: BRAVO, 46, 1958, S. 31. © Bauer Media. Abb. 14 und 15, S. 232: Buchdeckel von Allen Ginsberg, Das Geheul und andere Gedichte. Wiesbaden 1959. © Limes Verlag; Alfred Andersch, Der Tod des James Dean. Eine Funkmontage von Alfred Andersch, St. Gallen 1960. © Verlag Tschudy. Abb. 16, S. 260: Titelseite der BRAVO, 52, 1958 / 1959. © Bauer Media. Abb. 17 und 18, S. 267: James Dean in East of Eden und am Set von Rebel Without a Cause. Quelle: Yann-Brice Dherbier (Hg.), James Dean. Bilder eines Lebens, mit einem biografischen Essay von Candice Bal, aus dem Französischen von Nadine Püschel, Berlin / Leipzig 2009, S. 88 f und 125. © Rue des Archives BCA und RDA. Abb. 19 und 20, S. 283: James Dean am Set von Giant und am Rande eines Autorennens in Kalifornien. Fotografien entnommen aus Yann-Brice Dherbier (Hg.), James Dean. Bilder eines Lebens, mit einem biografischen Essay von Candice Bal, aus dem Französischen von Nadine Püschel, Berlin / Leipzig 2009, S. 143 und 155. © Rue des Archives BCA und MPTV / Warner / Sanford Roth. Abb. 21, S. 290: Publicity Still aus Giant. Entnommen aus John Howlett, James Dean. A Biography [1975], London 2005, S. 124. © Warner. Abb. 22, S. 304: Liz (1965). © Artists Rights Society / Andy Warhol Foundation.

https://doi.org/10.1515/9783110739947-006

7 Literaturverzeichnis Das Literaturverzeichnis führt unter a) Primärtexte literarische und populärkulturelle Quellen auf, etwa Bölls Prosa, Schlagerlieder sowie Artikel aus der Hör zu! oder der BRAVO. Hinzu kommen kulturphilosophische, soziologische und weitere publizistische Beiträge des untersuchten Zeitraums, die in dieser Arbeit ebenfalls Quellenstatus besitzen. Die diskutierten Forschungstexte und theoretisch-systematischen Beiträge finden sich unter b) Sekundärtexte.

a) Primärtexte Adorno, Theodor W., Auferstehung der Kultur in Deutschland? In: Frankfurter Hefte, 5, 1950, S. 469 – 477. Adorno, Theodor W., Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie [1964]. In: Adorno, Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann, Bd. 6, Frankfurt a. M. 31984, S. 413 – 526. Adorno, Theodor W., Kritik des Musikanten [1956]. In: Adorno, Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann, Bd. 14, Frankfurt a. M. 1973, S. 67 – 107. Adorno, Theodor W., Kulturkritik und Gesellschaft [1951]. In: Adorno, Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann, Bd. 10.1, Frankfurt a. M. 1977, S. 11 – 30. Adorno, Theodor W., Résumé über Kulturindustrie [1963]. In: Adorno, Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann, Bd. 10.1, Frankfurt a. M. 2003, S. 337 – 345. Adorno, Theodor W., Über Jazz [1936]. In: Adorno, Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann, Bd. 17, Frankfurt a. M. 1982, S. 74 – 108. Adorno, Theodor W. / Horkheimer, Max, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente [1947], Frankfurt a. M. 212013, S. 128 – 176. Aichinger, Ilse, Das Plakat [1953]. In: Aichinger, Der Gefesselte. Erzählungen I, hg. von Richard Reichensperger, Bd. 2, Frankfurt a. M. 62005, S. 39 – 47. Aichinger, Ilse, Spiegelgeschichte [1949]. In: Der Gefesselte. Erzählungen I, hg. von Richard Reichensperger, Bd. 2, Frankfurt a. M. 62005, S. 63 – 74. Améry, Jean, Botschaft von drüben. James Dean. In: Améry, Teenager-Stars. Idole unserer Zeit. Mit 20 Porträts und Kunstdrucktafeln, Rüschlikon-Zürich / Stuttgart / Wien 1960, S. 31 – 36. Améry, Jean, Brief an einen jungen Freund. In: Améry, Teenager-Stars. Idole unserer Zeit. Mit 20 Porträts und Kunstdrucktafeln, Rüschlikon-Zürich / Stuttgart / Wien 1960, S. 7 – 12. Améry, Jean, Connyformismus. In: Améry, Teenager-Stars. Idole unserer Zeit. Mit 20 Porträts und Kunstdrucktafeln, Rüschlikon-Zürich / Stuttgart / Wien 1960, S. 97 – 102. Anders, Günther, Die Antiquiertheit des Menschen. Erster Band: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution [1956], München 51980. Andersch, Alfred, Das junge Europa formt sein Gesicht. In: Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungen Generation, 1, 1946, S. 1 f. Andersch, Alfred, Der Tod des James Dean. Eine Funkmontage [1959]. In: Andersch, Gesammelte Werke in zehn Bänden. Kommentierte Ausgabe, hg. von Dieter Lamping, Bd. 7, Zürich 2004, S. 203 – 235. Andersch, Alfred, Der Tod des James Dean [Manuskript]. Forschungsstelle Phonopoetik am Germanistischen Institut der Westfälischen-Wilhelms Universität Münster.

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a) Primärtexte

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d) Vorarbeiten

335

d) Vorarbeiten Diese Texte sind in Teilen und in überarbeiteter Form in die Arbeit eingegangen: Pabst, Philipp, Die Pop-Ikone im „Geistergewand des Jazz“. Jugendkultur in Alfred Anderschs Der Tod des James Dean (1959). In: Amerika-Euphorie – Amerika-Hysterie. Populäre Musik made in USA in der Wahrnehmung der Deutschen 1914 – 2014. Zum 100-jährigen Bestehen des Deutschen Volksliedarchivs und zur Gründung des Zentrums für Populäre Kultur und Musik, hg. von Michael Fischer und Christofer Jost, Münster / New York, NY 2017, (Populäre Kultur und Musik. Bd. 20) S. 165 – 184. Pabst, Philipp, Gottfried Benns Bar. Populärkultur in der Literatur der frühen Bundesrepublik. In: Handbuch Literatur & Pop. Hg. von Moritz Baßler und Eckhard Schumacher, Berlin 2019, (Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie. Bd. 9) S. 353 – 369. Pabst, Philipp, 1949: Haustiere und Heidegger. Über ein Stück Erziehung aus der Hör zu! In: http://www.pop-zeitschrift.de/2016/08/06/pop-archiv-augustvon-philipp-pabst6 – 8 – 2016/ (zuletzt aufgerufen am 14. 06. 2021).

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Personen- und Werkregister

Adenauer, Konrad 137, 153, 158, 206 f. Adorno, Theodor W. 4, 7, 19 f., 23, 25, 47 f., 55, 76 f., 87 f., 160 f., 223, 247 Agesialos II. 154 Aichinger, Ilse 41, 43, 74, 228 – Das Plakat 41 – Knöpfe 228 – Spiegelgeschichte 74 Alexander, Peter 31 Allen, Don 155, 233 Alloway, Lawrence 32 Améry, Jean 260 – 262 – Hand an sich legen 260 – Teenager-Stars 260 f. Amis, Kingsley 232 – Lucky Jim 232 Anakreon 140 – An die Zikade 140 Anders, Günther 21, 49 Andersch, Alfred 5 – 7, 9, 29, 36 – 38, 40 f., 43, 222 – 225, 228 – 230, 234 – 242, 244 – 255, 259, 261 – 264, 266, 268 f., 271, 278 – 281, 283, 285 – 288, 290, 293, 295 – 297 – Biologie und Tennis 223 – Das junge Europa formt sein Gesicht 236 – 241 – Der Tod des James Dean 6, 40 f., 222 – 268, 278 – 292 – Deutsche Literatur in der Entscheidung 238 – Die Kirschen der Freiheit 222 – Die Rote 242, 263 – Fahrerflucht 223 – Jugend am Schmelzpott einer Kultur 248 – Piazza San Gaetano 223 – Position 1951 225 – Werkstattgespräch mit Horst Bienek 242 Arnold, Heinz Ludwig 46 Artmann, H. C. 29, 31 – Allerleirausch 30 f. – Das suchen nach dem gestrigen tag 29 Assmann, Aleida 98 https://doi.org/10.1515/9783110739947-008

Bach, Johann Sebastian 38, 125 – 127, 129, 174 Bachmann, Ingeborg 9, 41 – 43, 46 – 48, 60, 224, 228 – Der gute Gott von Manhattan 228 – Reklame 46 – 48, 60 Balzac, Honoré de 67 – Sarrasine 67 Bane, Allen 155 Bardot, Brigitte 260 Barth, John 28, 284 – The Sot-Weed Factor 28 Barthes, Roland 6, 67 f., 82, 107 f., 151, 233, 278 f., 281 – 285 Baßler, Moritz 67, 93, 114, 144, 215 f., 218, 295 Baum, Vicki 36, 198, 300 Beach, Mary 28 f. – The Electric Banana 28 Becker, Ben 223 Becker, Jürgen 28 Beethoven, Ludwig van 120, 158 f. Behrendt, Gerd 66 Behrendt, Hans 91 Benedek, László 257 Benjamin, Walter 20, 67, 71, 124 f., 269 Benn, Gottfried 5, 7, 9 – 11, 14 – 17, 25, 36 f., 39 – 43, 56, 104, 136 – 152, 154 f., 157 f., 160 – 163, 166 – 171, 173 – 202, 204 – 211, 213 f., 216, 218 – 221, 223, 234, 238, 244, 271, 274, 293 – 297, 304 – Aprèslude 143 f., 214 – Aus Fernen, aus Reichen 214 – Bar 184 – 194, 200, 219, 221 – Berliner Brief 150, 208 – Der Broadway singt und tanzt 144 – Der Geburtstag 181 – 183 – Der Ptolemäer 151 f., 294 – Die Dänin 223 – Doppelleben 145 f., 179 f. – Dorische Welt 154 – Ebereschen 169 – Gedicht 214

8 Personen- und Werkregister

– Goethe und die Naturwissenschaften 175 – Hör zu: 5, 10 f., 16 f., 40, 201 – 209 – Impromptu 249 – Kleiner Kulturspiegel 143 – 161, 163, 293 – Konfetti 194 – 201, 203, 211 f., 216, 304 – Letzter Frühling 162 – Menschen getroffen 200, 208 – Nach dem Nihilismus 199 f. – Nur zwei Dinge 168, 170 – Probleme der Lyrik 14 f., 136 f., 139 – 141, 143, 149 f., 173 – 175, 177 f., 181, 190, 195 – Restaurant 161 – 173, 180, 214 – Statische Gedichte 176 – Tristesse 162 – Verzweiflung 196 – Was schlimm ist 190 Bense, Max 152, 294 Berbuer, Karl 116, 158 – 160 Berendt, Joachim-Ernst 248 Berens-Totenohl, Josefa 93 Berg, Sibylle 36 Bergengruen, Werner 137 Bergmann, Horst 262 Bergsträsser, Arnold 25 – 27 Berkel, Christian 223 Berndt, Frauke 48, 84 f. Bienek, Horst 242, 269 Billy the Kid 284 Bilz, Rudolf 294 Black, Roy 31, 265 Blume, Karl 91 Böcklin, Arnold 173 Bogart, Humphrey 283 f. Bohrer, Karl-Heinz 178 f. Böll, Heinrich 4 – 7, 9, 36 – 41, 43 – 45, 61 – 76, 78 – 91, 94 – 105, 107 – 127, 129 – 135, 194, 210 f., 219 – 221, 290, 293, 295 – 297, 308 – Bekenntnis zur Trümmerliteratur 64 – 66, 108, 131 – Billard um halb zehn 4, 38 – Das Brot der frühen Jahre 37, 102, 104 – Der Zug war pünktlich 38 f., 61, 108 – 135, 211, 219 f. – Die schwarzen Schafe 43 – Die Stimme Wolfgang Borcherts 129 – Frankfurter Vorlesungen 104

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– Grün ist die Heide 5, 38 f., 61, 78 – 109, 115, 122, 220 – Haus ohne Hüter 38 – Und sagte kein einziges Wort 38, 102 f. – Wanderer, kommst du nach Spa… 38, 61 – 79, 81, 97, 109, 127, 131, 220 – Wo warst du, Adam? 127 Bollnow, Otto Friedrich 23 Bondy, Curt 258, 264 f. Bonn, Klaus 196, 201 Borchert, Wolfgang 129, 135, 238 f., 293 – Das Brot 129 – Generation ohne Abschied 238 f. Börschel, Erich 204 Böttcher, Alfred Reinhold 66 Bourdieu, Pierre 44, 49 f. Boysen, Rolf 251 Brando, Marlon 2, 257, 261, 265 Brandt, Stefan L. 288 Brecht, Bertolt 114, 180, 250, 257 Brinkmann, Rolf Dieter 5, 7, 28 – 32, 36, 41, 56, 290, 293 – 295, 298 – 306 – ACID 28 f., 56 – Angriff aufs Monopol 28, 293 – 295, 301 f. – Der Film in Worten 28 f., 31 f., 56, 294 f., 298 – 300, 302 – Die Piloten 305 – Eine übergroße Photographie von Liz Taylor 301, 303 – 305 – Flickermaschine 30 – Godzilla 30 – Godzilla telefoniert so gern 302 – Keiner weiß mehr 30 f. – Kulturgüter 293 f. – Notiz 305 f. – Über Lyrik und Sexualität 302 Broch, Hermann 25, 133 Broich, Ulrich 6, 84 Brubeck, Dave 170 Bruce, Lenny 284 Brun, Friederike 190 – Ich denke dein 190 Buchholz, Horst 257 Buck, Pearl S. 134 Buhlan, Bully 204 Bukowski, Charles 29

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8 Personen- und Werkregister

Bülow, Fürst Bernhard Heinrich Martin Karl von 81 Bürger, Gottfried August 18 Burmeister, Roland 58 Burroughs, William S. 29, 31 f., 253, 269, 294, 300 Campe, Rüdiger 12 f. Camus, Albert 236, 272 Canetti, Elias 21 Carossa, Hans 134, 137 Caruth, Cathy 98 Celan, Paul 4, 75 – Sprachgitter 4 – Todesfuge 75 Charell, Erik 122 Chotjewitz, Peter O. 30 f. – Die Insel 30 Clarke, Kenny 249 Coenen-Mennemeier, Brigitta 195 f. Cooper, James Fenimore 51, 60 – The Leatherstocking Tales 51 Corso, Gregory 232 – 234 – Junge amerikanische Lyrik 234 Courths-Mahler, Hedwig 134 Cramer, Heinz von 41 f. – Swing-Sonette 42 Cremer, Ludwig 223, 229 Cummings, E. E. 225, 228, 234 f., 244 – 251, 288 – next to of course god america i 245 – 251 Curtius, Ernst Robert 214 Dante Alighieri 243 Davis, Bette 59 Davis, Miles 225, 230, 246, 248 f., 252, 255, 263, 280, 286, 288 De Man, Hendrik 21, 79 Dean, James 2, 6, 29, 34, 40 f., 224 f., 228 – 235, 249, 255 – 257, 260 – 263, 265 f., 268, 274 f., 277 – 283, 285 – 291, 297, 307 Deimann, Wilhelm 93 f. Deppe, Hans 91 Derrida, Jacques 6, 98, 217 Deschner, Karlheinz 25 Detering, Heinrich 208

DeWitt, Lila 164 DeWitt, Wallace 164 Dickens, Charles 65 f. Diederichsen, Diedrich 7, 34 f., 230, 247, 253, 263, 290 f. Dietrich, Marlene 52, 54, 83 Dilthey, Wilhelm 16, 210 Döring, Jörg 236 Dorschel, Andreas 121 Dos Passos, John 40, 225, 228 f., 235, 255 – 257, 262 f., 279 – 281, 283, 286 – The Death of James Dean 229, 255 – 257, 263, 280 f. – U.S.A.-Trilogie 256 Dreyfus, Hubert L. 213 Duchamp, Marcel 142 Dürrenmatt, Friedrich 228 – Abendstunde im Spätherbst 228 Dvorak, Ann 186 f. Eco, Umberto 48 – 50, 57, 59, 82, 133 f., 143, 178, 233 Edschmid, Kasimir 44 Eich, Günter 43, 112, 129, 223, 225 f., 228 – Inventur 112 – Träume 225 f. – Untergrundbahn 129 – Weg zum Bahnhof 129 Eichenbaum, Boris 13 Eichendorff, Joseph von 139, 211 Ekberg, Anita 59 Eliot, T.S. 136, 173 Ellington, Duke 57 f., 248 Enzensberger, Hans Magnus 31, 40 – 43, 56, 223, 244, 256, 264, 267, 280, 294 – Allerleirauh 31, 267 – Die Aporien der Avantgarde 56 – Die Sprache des Spiegel 267 – Landessprache 267 – Scherbenwelt 267 – Verteidigung der Wölfe 42, 267 Erdbeer, Robert Matthias 13 f. Erhard, Ludwig 108, 258 Fassbender, Joseph Fauser, Jörg 30 f. – Tophane 30

294

8 Personen- und Werkregister

Felsch, Philipp 20 Ferlinghetti, Lawrence 31, 271 – A Coney Island of Mind 271 Feuerbach, Anselm 62 Fichte, Hubert 29 – 31, 272 – Die Palette 30 Fiedler, Leslie 27 – 29, 32, 51, 283 – 285, 287, 290, 299 – cross the border, close the gap 27 f., 51, 283 – 285, 299 Fiske, John 19 Fitzgerald, F. Scott 36, 229, 240 Flaubert, Gustave 285 – Bouvard et Pécuchet 285 Fleischmann, Wolfgang 253, 290 Foucault, Michel 10, 142 Freud, Sigmund 52 Freyer, Hans 55 Friedrich, Hugo 136 Friedrich II. 62 Fritsch, Willy 31, 122 Fritzen, Florentine 166 Froboess, Conny 258, 260 f. Gaiser, Gerd 41 – 44 – Die sterbende Jagd 44 – Schlußball 42, 44 Garbo, Greta 282 Gauger, Hans-Martin 168 – 170, 172 Gehlen, Arnold 21, 55 Genette, Gérard 6, 83 f. George, Stefan 76, 104, 199, 249 Geppert, Hans Vilmar 8 Gerhardt, Rainer Maria 3, 232 Gernhardt, Robert 185 f. Geronimo 284 Geulen, Eva 149 f., 175, 200 Gide, André 281 – Der Immoralist 281 Gilbert, James 265 Ginsberg, Allen 40, 225, 228 – 230, 232, 235, 252 – 255, 269, 288, 290, 307 – Das Geheul und andere Gedichte 230, 253, 290, 307 – Howl and Other Poems 230, 235, 252, 255, 288 f. Goer, Charis 230

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Goethe, Johann Wolfgang 24 – 26, 140, 144, 151, 159 f., 175, 190, 196 – 198 – An die Zikade 140 – Faust. Eine Tragödie 196 – Nähe des Geliebten 190 – Verweile nicht und sei dir selbst ein Traum 196 – West-östlicher Divan 196 Gogh, Vincent van 304 Gollwitzer, Hans 276 – …und führen wohin du nicht willst 276 Gomringer, Eugen 48 – schweigen 48 Göring, Hermann 70 Graham, Evarts 166 – 168 Grass, Günter 4, 6, 41, 43 – Die Blechtrommel 4, 41 Graudenz, Karlheinz 147 f. Greenblatt, Stephen 11, 190 f., 193 Grimm, Hans 230 Grogger, Paula 93 Grossberg, Lawrence 19 Grothe, Wolfgang 66 Groys, Boris 142 f., 158 Guevara, Ernesto ‚Che‘ 269 Gumbrecht, Hans Ulrich 5 Habe, Hans 45 f. Haecker, Theodor 238 Häggquist, Gösta 155 Haley, Bill 29, 34, 257 Hamburger, Käte 63 Hamilton, Richard 32 Hammerstein, Arthur 185 Hampel, Bruno 66 Han, Byung-Chul 127 f. Handke, Peter 30 f. – Die japanische Hitparade vom 25. Mai 1968 30 Harlow, Jean 283 Harvey, Lilian 122 f. Hasenclever, Walter 234, 242 Hawks, Howard 187 Hecken, Thomas 7, 17, 19, 24, 30, 32 f., 35, 293 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 178

340

8 Personen- und Werkregister

Heidegger, Martin 16, 24 f., 128 f., 176, 208, 210 – 214, 217, 304 f. Heine, Heinrich 3, 211, 214 – Lore-Ley 214 Heintje 31 Heißenbüttel, Helmut 32, 223 Hemingway, Ernest 50 f., 134, 229, 240 – The Old Man and The Sea 134 – The Sun Also Rises 240 Henckels, Paul 106 Hennig von Lange, Alexa 298 Herzog, Rudolf 99 Hesse, Eva 245 f. Hesse, Hermann 25, 134, 245 Heuss, Theodor 152 – 154 Hickethier, Knut 24 Hildesheimer, Wolfgang 228 – Herrn Walsers Raben 228 Hillebrand, Bruno 157, 175 – 178, 180, 183, 221 Hilty, Hans Rudolf 230, 250 Hitler, Adolf 52, 62, 75 f., 96, 267, 284 Hocke, Gustav René 69 f., 112 Hoerschelmann, Fred von 228 – Das Schiff Esperanza 228 Hogrebe, Wolfram 197 f. Holgard, Hans (d.i. Paul Weymar) 137 – 139, 143, 174, 198 f. – Der Mörder des Kaspar Hauser 137 – Geliebte Hortense 137 – Sylter Herbst 137 – 139, 143, 174, 198 f. Höllerer, Walter 230, 232 – 234, 242, 250, 253 – Junge amerikanische Literatur 232 – 234, 242 f. – Junge amerikanische Lyrik 234 Holly, Buddy 29 Holmes, John Clellon 233, 254 Holthusen, Hans Egon 24, 28, 65, 157 Hörisch, Jochen 16, 210 – 215, 218, 296 Horkheimer, Max 20, 47 f., 55, 223 Hübsch, Hadayat-Ullah PG 30 f., 272 – ausgeflippt 30 Hummel, Christine 115 Husserl, Edmund 16, 210 Huysmans, Joris-Karl 114 – À rebours 114

Italiaander, Rolf

236

Jacob, Joachim 112 f. Jacobs, Werner 204, 258 Jacoby, Georg 85 Jakobson, Roman 11, 13, 68 Jameson, Fredric 291, 304 f. Jannidis, Fotis 15 Jaspers, Karl 147 Jean Paul 50, 60 Jeffers, Robinson 228 Jelinek, Elfriede 30 f. – wir sind lockvögel, baby 30 Jens, Walter 43 Jöde, Fritz 87 f., 91 Johnson, J. J. 103, 170 Johnson, Uwe 4, 103 – Mutmaßungen über Jakob 4 Joyce, James 27, 283 f. Julius Caesar 62, 64 Jünger, Ernst 99, 104, 176, 214 – Der Arbeiter 99 Jürgens, Udo 31, 35 Kaes, Anton 11, 98, 337 Kaiser, Joachim 43, 76 f. Kaléko, Mascha 36 Kammer, Stephan 48, 69, 110 Kant, Immanuel 49, 178, 194 Karcher, Simon 180 Kästner, Erich 3 Keller, Gottfried 25 Keller, Paul 134 Kennedy, John F. 284 Kerouac, Jack 56, 233, 253 f., 268 f., 274 – 276 – On the Road 254, 268, 274 – 276 Kesey, Ken 284 Keun, Irmgard 36, 44 Killy, Walther 133 Kirsch, Hans-Christian (d.i. Frederik Hetmann) 268 – 277 – Mit Haut und Haar 268 – 277 Kittler, Friedrich 147, 176, 295 Klein, Gerhard 257 Kniesche, Thomas W. 71 Koebner, Thomas 228

8 Personen- und Werkregister

Koeppen, Wolfgang 6, 37, 41 f., 102, 223 – Tauben im Gras 6, 37, 42, 102 Kolbenhoff, Walter 66 Korn, Karl 55 f., 304 Koval, Alexander 66 Kracauer, Siegfried 20 Kracht, Christian 35 f., 298 Kraus, Peter 112 f., 258, 260 Kreuder, Ernst 66 Kribus, Felix 225 Krolow, Karl 221 Küpper, Heinz 266 f. Kyora, Sabine 50 f. La Motta, Jake 228 Lämmert, Eberhard 103, 111 Lampart, Fabian 136, 173 Lampe, Friedo 59, 66, 80 Lamprecht, Helmut 267 Landshoff-Yorck, Ruth 36 Langen, Katherina 66 Lauer, Gerhard 15 Leeder, Karen 162 f. Leibniz, Gottfried Wilhelm 60 Lethen, Helmut 152, 176, 196, 209, 263 Lettau, Reinhard 46 Lewis, John 286 Lichtenstein, Roy 32 Lickhardt, Maren 35 f. Liessem, Thomas 31 Little Richard 29, 272 Lohner, Edgar 201, 205 Löns, Hermann 5, 39, 78 f., 87 f., 90 – 95, 97, 116 f. – Rosemarie (Abendlied) 88, 91, 94, 95 – Grün ist die Heide (Das Geheimnis) 5, 39, 78 f., 87, 90 f., 94, 95 – Der Wehrwolf 91 – 93 – Ich bin ein freier Wildbretschütz (Edelwild) 116 – 118 Lotman, Jurij M. 13, 216 f. Löwenthal, Leo 19 Lowry, Robert 225, 228, 234 f., 251, 287 – Bluthochzeit in Chicago 251 MacCannell, Dean 34, 88 f. Macdonald, Dwight 134

341

Malle, Louis 225, 249 f., 286 Mankiewicz, Joseph L. 302 Mann, Erika 36 Mann, Klaus 36 Mann, Thomas 25, 77, 171 – Tristan 77 – Der Zauberberg 171 Mannheim, Karl 238 Mannzen, Walter 279 Marc Aurel 62, 64 Marcel, Gabriel 238 Marcus Tullius Cicero 62, 64 Marcuse, Herbert 21 Marlitt, Eugenie 134 Martínez, Matías 15, 63 Marz, Charles 256 f. Maurer, Friedrich 137 May, Karl 60, 92, 269 Mayr, Rolf 66 McLuhan, Marshall 29 Mentges, Gabriele 264 Meyer, Urs 202, 208, 238 Michelot, Pierre 246, 249 Monroe, Marilyn 283, 291, 293 Moreau, Jeanne 249 Morin, Edgar 233 Moritz, Rainer 97 Mozart, Wolfgang Amadeus 57 – 59 Mrozek, Bodo 35, 230 Muhlen, Norbert 1 – 3 Müller, Wilhelm 119 – Der Glockengruß zu Breslau 119 Nick, Dagmar 65 – Märtyrer 65 Nietzsche, Friedrich 155, 175 – 180, 199, 207, 220 Nohl, Herman 23 Nossack, Hans Erich 66, 74 – Spätestens im November 74 Nöthig, Theobald 137 Novalis 136, 197 Oelze, Friedrich Wilhelm 214 O’Hara, Frank 31 Oheim, Gertrud 148

152, 155, 157, 200,

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8 Personen- und Werkregister

Öhlschläger, Claudia 67 Ortega y Gasset, José 20, 25 Osborne, John 232 – Look Back in Anger 232 Osterkamp, Ernst 76 f. Ostwald, Hans 58 Oswald, Lee Harvey 284 Packard, Vance 45 Padgett, Ron 299 f. – Stern-Schlinge 299 f. Paetel, Karl Otto 233, 241 f., 254 Parker, Charlie 243, 272, 284 Pasternak, Boris 229 – Doktor Schiwago 229 Patchen, Kenneth 228, 251 Peirce, Charles Sanders 88 f. Perschy, Maria 229 f. Petersdorff, Dirk von 179 Pfister, Manfred 6, 84 Ploog, Jürgen 30 f., 253 – Cola-Hinterland 30 – Die Fickmaschine 30 Plumpe, Gerhard 150 Podhoretz, Norman 234 Pound, Ezra 173, 234, 271 Prager, Gerhard 226 Presley, Elvis 2, 29, 260, 263 Puccini, Giacomo 174 Rajewsky, Irina 6, 84 f. Ratcliff, J. D. 172 Rauschenberg, Robert 32 Reich-Ranicki, Marcel 42 – 44, 133 Reid, James H. 96, 129, 133 Rein, Heinz 66, 190 Reininger, Anton 209 Remarque, Erich Maria 114 – Im Westen nichts Neues 114 Reutter, Hermann 152 – 154 Rexroth, H. G. 66 Rexroth, Kenneth 228, 234, 242 f. Richter, Hans Werner 43, 46, 66, 236, 241, 255 Riesman, David 20 Riis, Roger William 163 f., 166 f., 172

Rilke, Rainer Maria 76, 134 – Sonette an Orpheus 76 Rimbaud, Arthur 271 Rinser, Luise 66 Röbbeling, Harald 85 Robinson, Sugar Ray 225, 228, 230, 251 f., 287 Röhnert, Jan 303 f. Rökk, Marika 83, 85 f., 94 f. Ruby, Jack 284 Rühmkorf, Peter 41 f., 248 – Irdisches Vergnügen in g 42 Rygulla, Ralf-Rainer 28 f., 56, 300 – ACID 28 f., 56 Sartre, Jean-Paul 236 – 240, 242 – Die Fliegen 238 – Die Mauer 236 Saussure, Ferdinand de 10 f., 211 f. Schaaf, Paul 78 Schäfer, Hans Dieter 3, 208 Schall, Ekkehard 257 Schamoni, Ulrich 268 – Dein Sohn lässt grüßen 268 Schelsky, Helmut 20, 258 Schenk, Gustav 66 Schildt, Axel 3, 5, 24, 44, 149 f. Schiller, Friedrich 18, 70, 72, 197 – Über Bürgers Gedichte 18 – Der Spaziergang 70 Schimmelpfennig, Heinz 223, 245 Schlegel, August Wilhelm 171 Schmidt, Arno 9, 41, 48 – 60,165, 223, 300 – Berechnungen 51 f. – Brand’s Haide 50 f. – Die Gelehrtenrepublik 51 – Die Schule der Atheisten 51 – Leviathan oder Die beste der Welten 52 – Schwarze Spiegel 53 f., 56 – 60, 300 – Seelandschaft mit Pocahontas 53 – Zettel’s Traum 51 Schnabel, Ernst 66, 225, 229 Schneider, Franzjosef 66 Schneider, Romy 31, 260 Schneider, Willy 116 Schnell, Ralf 71 Schnurre, Wolfdietrich 66

343

8 Personen- und Werkregister

Scholl, Albert Arnold 157 – Die gläserne Stadt 157 – Perspektiven 157 Scholz, Hans 41 f. – Am grünen Strand der Spree 42, 223 Schomberg, Hermann 255 f. Schöne, Albrecht 220 Schönherr, Dietmar 229 f. Schöning, Matthias 238 Schopenhauer, Arthur 49 f., 178 Schröder, Eduard 21 f. Schröder, Rudolf Alexander 152 – 154 – Hymne an Deutschland 152 – 154 Schroers, Rolf 66 Schubert, Franz 126 f., 130 Schumacher, Eckhard 29 f., 188 Schuricke, Rudi 1 Schütz, Erhard 2 – 4, 37 Schwabe, Helmuth 66 Schwartz, Delmore 228 f. Schweitzer, Albert 25 Swinburne, Algernon Charles 274 – Tristram 274 Schwitzke, Heinz 225 – 227, 230, 247, 250 Sears, Fred F. 257 Sebald, W. G. 222 Segal, Lynne 265 Seiler, Bernd 6, 102 Seiler, Sascha 5 Selander, Lesley 186 f. Shakespeare, William 171 – Hamlet, Prinz von Dänemark 171 Sieburg, Friedrich 24 Sieg, Christian 108 Simonides von Keos 70 Šklovskij, Viktor 12 f. Smithson, Peter 32 Sombart, Nikolaus 240 Sombart, Werner 240 Sontag, Susan 33, 59 f., 299 Sousa, John Philip 57 f. Spitzer, Leo 191 Stalin, Josef 284 Stanislawsky, Konstantin Sergejewitsch 281 Stein, Gertrude 234, 240 Stenzel, Jürgen 77 f. Stevens, George 230

Stewart, George R. 53, 57, 60 – Earth Abides 53, 57 Stockhausen, Karlheinz 293 Stucki, Lorenz 164 – 166 Stuckrad-Barre, Benjamin von 252, 298 – Panikherz 252 Sue, Eugène 49 Taine, Hippolyte Adolphe 154 The Beatles 31, 299 The Doors 31, 297 The Rolling Stones 31 Theweleit, Klaus 99, 101 Thomas, Dylan 243, 271 Tonger-Erk, Lily 84 f. Tressler, Georg 257 Turner, Lana 257 Twain, Mark 280 – Adventures of Huckleberry Finn Uexküll, Jakob Johann von Ulrich, Heinz 66 Umgelter, Fritz 258 Utreger, René 249 Veitch, Tom 299 f. – Stern-Schlinge 299 f. Vietta, Egon 214 Virgil 68 Vischer, Friedrich Theodor Vonnegut, Kurt 28 – The Sirens of Titan 28 Vowinckel, Antje 244

279 f.

294

121

Walser, Martin 6, 28, 41 – 43, 223 – Halbzeit 42 Warhol, Andy 29, 32, 253, 290, 293, 301 f., 304 f., 307 – A 253 Wayne, John 265 Wegmann, Thomas 6, 44 – 48, 162, 170, 220 Wehdeking, Volker 236, 238, 241 f. Weigel, Sigrid 118 f., 239 Weissner, Carl 253, 290 Wellershoff, Dieter 30, 157 Welter, Ernst Günther 264

344

8 Personen- und Werkregister

Weyand, Björn 6, 36 f., 42, 102 – 104, 279 Weyden, Rogier van der 119 Weyrauch, Wolfgang 66, 275 – Tausend Gramm 66 Wieland, Christoph Martin 50, 53, 60 Wilder, Thornton 25, 117 Wilkinson, Dudley 185 Willen, Barney 126, 249 Willer, Stefan 194 Williams, William Carlos 183, 234, 253 Wilson, Colin 232

Winding, Kai 170 Winko, Simone 15 Wittstock, Uwe 28 Witzel, Frank 4 Wöll, Alexander 13 Wüst, Ida 106 Wynder, Ernest 166 – 168 Zappa, Frank 29 Zimmermann, Karl

66

9 Dank Die vorliegende Studie wurde im August 2019 vom Fachbereich 09 Philologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertation angenommen. Danken möchte ich allen, die diesen Weg begleitet haben. Insbesondere Moritz Baßler, dessen Beschäftigung mit Pop meine Idee angeregt hat, den historischen Horizont zu verbreitern. Seine Ratschläge zum Forschungsdesign, die Integration des Projekts in seinen Lehrstuhlkreis und sein Enthusiasmus in der Betreuung können nicht hoch genug eingeschätzt werden. Dank gilt auch meiner Zweitbetreuerin Martina Wagner-Egelhaaf, deren akribische Lektüren und Nachfragen das Projekt entscheidend bereichert haben, vor allem in der Schlussphase. Bei diesem Betreuungsteam waren die Arbeit und ihr Verfasser ausgesprochen gut aufgehoben. Daneben haben verschiedene Menschen und Institutionen eine Rolle gespielt. Tony Kaes und Russell Berman danke ich für ihre transatlantische Perspektivierung in Kalifornien, Britta Herrmann für zahlreiche Hinweise zum Hörspiel der frühen Bundesrepublik in Münster. Wichtig war ferner meine Kooptierung im DFG-Graduiertenkolleg 1886/1 ›Literarische Form‹. Von den Diskussionen mit den Kollegiatinnen und Kollegiaten sowie mit den Verantwortlichen des Kollegs hat die Arbeit sehr profitiert. Besonders hervorzuheben ist Robert Matthias Erdbeers Begeisterung für literaturwissenschaftliche Modellbildung. Großer Dank gilt ebenso der FAZIT-Stiftung für die finanzielle Unterstützung im Rahmen des Promotionsabschlussstipendiums sowie für die Druckkostenbeihilfe, welche dieses Buch möglich gemacht hat. Ebenso möchte ich mich bei Marcus Böhm und Julie Miess vom de Gruyter-Verlag für ihre lektorierende Beratung bedanken. Von großem Wert waren zahlreiche Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen und Freunde, die den Fortgang der Arbeit begleitet haben, Korrektur gelesen haben oder für notwendige Zerstreuungen zuständig waren, allen voran David Ginnuttis, Antje Heide, Chris Lukman, Philipp Ohnesorge, Marius Rätz, Felix Schallenberg, Kerstin Wilhelms, Hannah Zipfel – und nicht zuletzt Léa. Die Endkorrektur sowie die Verzeichnisse haben Katharina Dzelzkalns, Holger Grevenbrock, Fabian Rüther und Stella Thiede übernommen. Abschließend möchte ich Margarete und Heinfried Pabst danken. Diesen beiden Kindern der 1950er Jahre ist das Buch gewidmet.

https://doi.org/10.1515/9783110739947-009