Trauma und Bindung bei Flüchtlingskindern: Erfahrungsverarbeitung bosnischer Flüchtlingskinder in Deutschland 9783666451263, 9783525451267, 9783647451268


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German Pages [440] Year 2011

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Trauma und Bindung bei Flüchtlingskindern: Erfahrungsverarbeitung bosnischer Flüchtlingskinder in Deutschland
 9783666451263, 9783525451267, 9783647451268

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© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

Schriften des Sigmund-Freud-Instituts Herausgegeben von Marianne Leuzinger-Bohleber und Rolf Haubl Reihe 2 Psychoanalyse im interdisziplinären Dialog Herausgegeben von Marianne Leuzinger-Bohleber, Rolf Haubl und Stephan Hau Band 14 Ilka Lennertz Trauma und Bindung bei Flüchtlingskindern Erfahrungsverarbeitung bosnischer Flüchtlingskinder in Deutschland

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

Ilka Lennertz

Trauma und Bindung bei Flüchtlingskindern Erfahrungsverarbeitung bosnischer Flüchtlingskinder in Deutschland

Mit 16 Abbildungen und 5 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

Dissertation an der Universität Kassel vorgelegt von Ilka Natja Lennertz Fachbereich 01 Erziehungswissenschaft/Humanwissenschaft Disputation am 25. 11. 2009

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-45126-7 ISBN 978-3-647-45126-8 (E-Book)

Ó 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: process media consult GmbH Druck & Bindung: Hubert & Co, Göttingen

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Inhalt

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Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Sinn und Ziel der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Zur Struktur der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2

Flüchtlingserfahrungen in Deutschland: Das Beispiel der bosnischen Flüchtlinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Krieg und Vertreibung in Bosnien-Herzegowina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die soziale Realität der bosnischen Flüchtlinge in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die »Traumaregelung«: Trauma als Bleiberechtskriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

Trauma – eine kritische Begriffsbestimmung . . . . . . . 3.1 Forschungsgeschichte und Begriffsentwicklung. 3.2 Trauma als Leiden an Reminiszenzen: Hysterieforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Trauma als zeitlicher Prozess und in der Entwicklung: Nachträglichkeit . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Trauma als Reizüberflutung: der Erste Weltkrieg, Kriegsneurosen, Wiederholungszwang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Trauma als kumulativer Prozess: Objektbeziehungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Trauma als Extremsituation, als generationsübergreifendes Phänomen und als »kollektives Trauma«: der Holocaust . . . . . . . . . 3.7 Trauma als sequentieller psychosozialer Prozess: das Modell von Hans Keilson . . . . . . . . © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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6

Inhalt

3.8

Trauma als Stresserkrankung: das Konzept der Posttraumatic Stress Disorder (PTSD) . . . . . . . . 3.9 Neurowissenschaftliche Ansätze zu Trauma und Gedächtnis: Trauma als »traumatic memory« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.10 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen für den Flüchtlingsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4

5

6

Krieg und Flucht im Kindesalter – Forschungsstand 4.1 Die Studie von Anna Freud und Dorothy Burlingham: »War and Children« . . . . . . . . . . . . 4.2 Kriegskinder in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Überblick über aktuelle Forschung . . . . . . . . . . 4.4 Fazit und Forschungslücken . . . . . . . . . . . . . . . . Trauma bei Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Trauma und Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Entwicklungs- und altersspezifische Aspekte von Trauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Typische Merkmale von Trauma bei Kindern . . 5.4 Trauma und Gedächtnis im Kindesalter : das Problem der biographischen Rekonstruktion . . 5.5 Kindheitstrauma und Hirnentwicklung: How »states« become »traits« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6 Trauma ohne Symptom und die Frage resilienter Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7 Trauma und Familie: intergenerationale und transgenerationale Traumatisierungen . . . . . . . . 5.8 Zusammenfassung und Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . Bindungsforschung als ein Zugang zum subjektiven Umgang mit Traumatisierungen und zu intergenerationalen Prozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Bindungstheorie und Bindungsforschung . . . . . 6.2 Methoden zur Bestimmung von Bindungsmustern und zentrale empirische Ergebnisse der Bindungsforschung . . . . . . . . . . 6.3 Trauma und Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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7

Inhalt

6.4 6.5

Klinische Aspekte der Bindungsforschung . . . . Kritische Einwände und Grenzen der Bindungsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit und methodische Schlussfolgerungen . . . .

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7

Methodische Anlage der Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Interviews zu traumatischen Erlebnissen . . . . . . 7.2 Forschen im interkulturellen Raum . . . . . . . . . . 7.3 Methodisches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5 Beschreibung der angewandten Methoden . . . .

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8

Fallübergreifende Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Forschungsprozess und Beschreibung der untersuchten Gruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Zur familiären und psychosozialen Situation der Flüchtlingsfamilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Fallübergreifende Ergebnisse der Fragebögen und der Bindungsinterviews . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Zusammenfassung und tabellarische Ergebnisübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6.6

9

Exemplarische Fallanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1 Alen, 12 Jahre: »Ich bemerke es nicht, wenn sie traurig ist« – Beispiel für einen pseudo-resilienten Entwicklungsverlauf . . . . . . . 9.2 Katarina, 11 Jahre: »Du musst jetzt aber nicht traurig sein, nur weil ich traurig bin« – Beispiel für ein sicheres Bindungsmuster bei gleichzeitiger Angstsymptomatik . . . . . . . . . . . . 9.3 Nermin, 11 Jahre, »Er ist traurig von irgendwas« – Beispiel für verminderte intergenerationale Grenzbildung und unbehandelte traumabedingte Symptomatik . . . 9.4 Zusammenfassende Darstellung der Fallanalysen: Drei unterschiedliche Wege der Erfahrungsverarbeitung von Flüchtlingskindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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8

Inhalt

10 Exilbedingte sequentielle Traumatisierungen – Das Erleben der Aufenthaltssituation in Deutschland . . . . 10.1 Chronische oder wiederkehrende Belastungsfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Angst auslösende und traumatogene Situationen im Zusammenhang mit der Aufenthaltssituation in Deutschland . . . . . . . . . 10.3 Positive Erfahrungen und positive Aspekte des Lebens in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4 Zusammenfassung und tabellarische Übersicht über mögliche traumatische Sequenzen . . . . . . . 11 Intergenerationale Traumatisierungen – die Ergebnisse der Adult Attachment Interviews (AAI) . . 11.1 Bindungsforschung als Zugang zu intergenerationalen Traumatisierungen . . . . . . . 11.2 Zur Frage der kulturellen Sensitivität der AAIs: Ergebnisse der Expertinnenvalidierung . . . . . . . 11.3 Hinweise auf Traumatisierungen in den AAIs . . 11.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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12 Diskussion der Ergebnisse und Schlussfolgerungen 12.1 Flüchtlingskinder und Trauma – das Ineinandergreifen verschiedener Prozesse . . . . . 12.2 Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung vor dem Hintergrund der Traumatheorie . . . . . 12.3 Der problematische Begriff der Resilienz . . . . . . 12.4 Diskussion der verwendeten Methoden . . . . . . . 12.5 Gesellschaftliche Verleugnungsprozesse im Umgang mit Flüchtlingen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1 Einführung

1997 hielt ich mich längere Zeit in Mostar, Bosnien-Herzegowina, auf, wo ich für eine kleine Nichtregierungsorganisation Ferienfreizeiten für Kinder und Jugendliche mitorganisierte. Obwohl es Anfang der 1990er Jahre niemand in Europa für möglich gehalten hätte, wuchsen die Kinder in einem Szenarium zerstörter Häuser, Straßen, Schulen, Spielplätze, Brücken und in zwei verfeindeten Teilen einer Stadt auf. Als ich nach Deutschland zurückkehrte, hatte ich nicht nur viele Eindrücke von diesen Kindern und Jugendlichen gesammelt, sondern fragte mich auch, wie die Lebenssituation derjenigen bosnischen Kinder und Jugendlichen aussieht, die als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind und nun quasi neben meiner Haustür leben. Aus dieser Frage entwickelte sich 1999 zunächst meine Diplomarbeit, für die ich sechs- und siebenjährige bosnische Flüchtlingskinder in Berlin untersuchte, und nun, fast zehn Jahre später, die Dissertation, für die ich einige dieser Kinder nochmals interviewen konnte. Viele sehr verschiedene Kinder und Jugendliche und ihre Familien haben mir über diese Jahre Einblicke in ihren Alltag, ihre Familiengeschichte, ihre Lebenssituation als Flüchtlinge in Deutschland und nicht zuletzt in ihre Kriegserlebnisse und deren zerstörerische biographische Folgen sowie ihren Umgang mit diesen Erlebnissen gegeben. Ihre Erzählungen, oft auch die Lücken in ihren Erzählungen, sind Grundlage dieser Arbeit. Wie klein dennoch der Ausschnitt ist, den ich im Rahmen dieser Untersuchung betrachten konnte, und auf wie vielen verschiedenen Ebenen eine Annäherung an die Lebenswirklichkeit von Flüchtlingen tatsächlich nur eine Annäherung bleiben kann © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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1 Einführung

und von vielfältigen Schwierigkeiten geprägt bleibt, zeigte mir unter anderem die Reaktion eines Jungen, der schließlich nicht an der Untersuchung teilnahm: Während seine Mutter, die ich im Rahmen einer Selbsthilfegruppe für bosnische Flüchtlingsfrauen, an der ich einige Monate als Gast teilnahm, kennenlernte, sich sehr für mein Forschungsvorhaben interessierte und gerne an den Interviews teilnehmen wollte, lehnte er eine Teilnahme ab. Seine Mutter wollte gerne an der Untersuchung teilnehmen, weil sie sich selbst oft frage, wie ihr damals zweijähriger, nun dreizehnjähriger Sohn Krieg und Flucht erlebt habe. Als sie ihrem Sohn jedoch von der Studie erzählte, habe er es zu ihrer Überraschung abgelehnt, mit mir zu sprechen. Zur Begründung habe er gesagt, er wisse nicht, was das solle, er sei ein »ganz normaler, deutscher Junge«. Das vorliegende Buch handelt damit paradoxer-, aber auch bezeichnenderweise von Flüchtlingskindern und -jugendlichen, die selbst diesen Begriff für sich nicht verwenden und vielleicht sogar ablehnen würden. Die Reaktion des Jungen zeigt, dass der Begriff »Flüchtlingskind« und die damit weiterhin aufrechterhaltene soziale Kategorisierung – mit der Konsequenz eines ungeklärten, ungesicherten oder befristeten Aufenthaltsstatus – an der Lebensrealität der in Deutschland aufwachsenden und sozialisierten Kinder und Jugendlichen vorbeigeht. Viele dieser Kinder und Jugendlichen, die im Falle der bosnischen Flüchtlinge seit über zehn Jahren in Deutschland leben, fühlen sich mindestens genauso der deutschen wie der bosnischen Kultur zugehörig. Der zitierte Junge geht dabei sogar soweit, seine bosnische Identität zu leugnen, und gibt damit vielleicht einen Hinweis auf einen hohen Anpassungsdruck in Deutschland. Die Reaktion des Jungen mag verwundern, wenn man bei »Flüchtling« in erster Linie an die wohl bekannteste politischjuristische Definition der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und die damit verbundene Idee der Schutzgewährung denkt. Verfasst unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Verfolgung und Vernichtung, werden nach der GFK Menschen, die »sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung au© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

1 Einführung

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ßerhalb des Landes befinden, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen« (Art. 1 A Abs. 2 Genfer Flüchtlingskonvention), als »Flüchtlinge« bezeichnet und ihnen werden von den Unterzeichnerländern Unterstützung und bestimmte Rechte und Pflichten zugesprochen. Mit weltweit steigenden Flüchtlingszahlen, der United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR) schätzt gegenwärtig die Zahl der Flüchtlinge auf ca. zwanzig Millionen1, wurde die GFK jedoch politisch mehr und mehr zum Instrument, »Schutzsuchende« unterscheiden zu können (Hemmerling, 2001). Aktuell wird nur noch ein Bruchteil der Personen, die man alltagssprachlich als Flüchtlinge bezeichnen würde, nach der Genfer Konvention anerkannt.2 Die in den 1980er und 1990er Jahren zunehmende Zahl an Asylbewerbern, die politische Wende in den kommunistisch regierten Ländern und der Krieg3 im ehemaligen Jugoslawien lösten Unsicherheiten aus, die dazu führten, dass sich die potenziell aufnehmenden Länder offenbar in ihrer Hilfsbereitschaft zu sehr strapaziert fühlten. An die Stelle des gesellschaftlich zumeist positiv 1 Diese Zahl schließt Binnenflüchtlinge, also Personen, die innerhalb ihres eigenen Landes fliehen mussten, ein. Im Vergleich zu 1980 ist die Zahl der Flüchtlinge zwar leicht gesunken, im Vergleich zu 1970 ist sie jedoch sechsmal so groß. Die Statistik erfasst zudem nur vom UNHCR unterstützte Flüchtlinge. Nach einer Schätzung des UNHCR liegt die tatsächliche Zahl von Personen in flüchtlingsähnlichen Situationen bei etwa vierzig Millionen. 2 In der Praxis verwenden deshalb auch politische Institutionen wie der United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR) häufig eine über die GFK-Definition hinausgehende Definition und verstehen unter Flüchtlingen Personen, die in Folge von Konflikten meistens in sehr großer Zahl Ländergrenzen überschritten haben, und verzichtet damit auf die formaljuristischen Kriterien der GFK. Zur Unterscheidung werden Flüchtlinge, auf die die GFK zutrifft, auch als »Konventionsflüchtlinge« bezeichnet (Ager, 1999). 3 Inwiefern die Geschehnisse im ehemaligen Jugoslawien als »Krieg« oder »Bürgerkrieg« zu bezeichnen sind, kann und will ich hier nicht diskutieren. Ich verwende durchgehend die umfassendere Bezeichnung »Krieg«. Politisch gelten die bosnischen Flüchtlinge in Deutschland als »Bürgerkriegsflüchtlinge«, in der zitierten Literatur werden beide Begriffe verwendet.

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1 Einführung

wahrgenommenen politischen Flüchtlings trat ein entindividualisiertes Flüchtlingskollektiv. Medienbilder, wie die im Zusammenhang mit Flüchtlingen häufig verwendeten, den Sachverhalt entstellenden Vergleiche mit Naturkatastrophen (»Flüchtlingsstrom«, »Flüchtlingsflut«, »Flüchtlingsschwemme«, »eindämmen«, »einschleusen«) führten zu einer Verkehrung, die auch die Flüchtlinge zu spüren bekommen: Sie suggerieren, dass es nicht die Flüchtlinge sind, denen Schutz gewährt werden muss, sondern dass es einen Schutz vor Flüchtlingen geben müsse (Ahlheim u. Heger, 1999). Jenseits von nach wie vor Mitgefühl und oft auch Hilfsbereitschaft auslösenden Medienberichten über Einzelschicksale wurde damit ein fatales Missverständnis zwischen der aufnehmenden Kultur und den Flüchtlingen befördert, nämlich die Vorstellung, die Flüchtlinge würden in erster Linie in das Aufnahmeland fliehen, weil sie dort lieber leben möchten. Eine Flucht ist jedoch immer, und in diesem Punkt unterscheidet sich diese Form der Migration von anderen, durch Unfreiwilligkeit gekennzeichnet und bedeutet oft die einzige Möglichkeit, sich aus einer lebensbedrohlichen Situation zu retten. In den westlichen Industrieländern existiert zudem weiterhin die Vorstellung, ein Großteil der Flüchtlinge und Asylsuchenden hielte sich in eben diesen Ländern auf. Das Gegenteil ist der Fall. 70 % aller Flüchtlinge weltweit leben in sogenannten Entwicklungsländern, wie beispielsweise in Tansania, Iran und Pakistan (UNCHR, 2006a). Entgegen der öffentlichen Wahrnehmung hat sich auch die Zahl der Asylsuchenden in Europa von 2001 bis 2005 halbiert und sinkt weiter.4 In dieser Situation machten und machen viele bosnische Flüchtlinge in Deutschland eine Erfahrung, die sich gegenwärtig zu einem neuen Charakteristikum von Flüchtlingserfahrungen insgesamt zu entwickeln scheint und die Lebenswirklichkeit der interviewten Familien über Jahre, oft Jahrzehnte bestimmt. Während Flüchtlingserfahrungen in der – spärlichen – Forschungsliteratur üblicherweise in verschiedene Phasen unterteilt werden, in eine Phase vor der Flucht, die Flucht selbst, die Phase 4 2005 wurden in fünfzig Industriestaaten insgesamt 336.000 Asylanträge gestellt (UNHCR, 2006a), das entspricht durchschnittlich 6720 Anträgen pro Land. Deutschland erkannte im Jahr 2005 411 Asylanträge an.

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des Übergangs und schließlich die Phase der Niederlassung oder der Rückkehr (Ager, 1999), eröffnet sich Flüchtlingen heutzutage im Aufnahmeland häufig keine Zukunftsperspektive. Wenn zugleich keine Möglichkeit zur Rückkehr besteht, dann wird die Phase des Übergangs zum Dauerzustand. David Becker (2006) spricht von einer »Chronifizierung der Vorläufigkeit«. Die Flüchtlingserfahrung bleibt unabgeschlossen. Auf diese Weise sind die bosnischen Flüchtlinge auch über zehn Jahre nach Ende des Krieges im ehemaligen Jugoslawien noch Flüchtlinge, und zwar nicht nur in dem Sinne, dass damit auf einen gravierenden Bruch in der Biographie eines Individuums verwiesen wird, sondern auch in der Hinsicht, dass ich den zitierten Jungen aufgrund einer Zugehörigkeit anspreche, die nur einen Teil seiner Identität ausmacht und darüber hinaus eine soziale Nicht-Zugehörigkeit unterstreicht. Faktisch sind die interviewten Flüchtlinge längst marginalisierte Angehörige der deutschen Gesellschaft. Auch in einem weiteren Punkt wurde die Gruppe der bosnischen Flüchtlinge mit einem »neuen« Umgang mit Flüchtlingen konfrontiert. Während ihre biographische und soziale Situation über Jahre aufenthaltsrechtlich weitgehend unbeachtet blieb, erwirkten nicht zuletzt Beratungsstellen und Behandlungszentren für Flüchtlinge schließlich die Einführung einer »Traumaregelung«. Nach dieser erhalten Flüchtlinge, die eine kriegsbedingte Traumatisierung nachweisen können, eine wenn auch zunächst auf zwei Jahre befristete Aufenthaltsbefugnis. Der Traumabegriff blieb damit nicht in psychologisch-psychiatrischen Fachkreisen, sondern »Trauma« avancierte zum Bleiberechtskriterium. Eine Gruppe der »Traumatisierten« wurde so auf politisch-juristischer Ebene erstmalig festgeschrieben. Andere europäische Länder gehen derzeit ähnliche Wege (siehe z. B. Roche, 2006). Obwohl mit der »Traumaregelung« das Auftreten von Traumatisierungen berücksichtigt wird und insofern eine gewisse gesellschaftliche Anerkennung erfährt, erwies sich die daraus entstehende Kopplung des Bleiberechts an eine psychologisch-psychiatrische Diagnose als äußerst problematisch. Unter anderem wird die Gruppe der Flüchtlinge nun in »traumatisierte« versus »nicht-traumatisierte« unterteilt, wobei nur noch der »traumatisierte« als schutzbedürf© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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1 Einführung

tiger und damit »echter« Flüchtling gilt. Es entstand die Frage, wie ein Trauma nachgewiesen werden kann, welche Kriterien hierfür angelegt werden sollen und wer die An- oder Abwesenheit dieser Kriterien begutachten kann oder darf. Während sich in diesem Zusammenhang ein verkürzender, symptomorientierter und pathologisierender Traumagbegriff durchsetzte, führte der zeitgleiche Eingang des Traumabegriffes in die Alltags- und Mediensprache zu einer inflationären Verwendung und Verflachung seiner Bedeutung. Es entstand die Vorstellung, jeder, der von einem potenziell traumatischen Ereignis betroffen ist, sei traumatisiert. Sowohl eine solches Vorurteil als auch das Nichtanerkennen möglicher traumatischer Prozesse führt dazu, das subjektive Erleben der Betroffenen nicht wahrzunehmen. Noch bevor man sich also tatsächlich mit Flüchtlingen trifft, ist ein solches Treffen bereits von verschiedenen zentralen Themen bestimmt: Das eine sind die unterschiedlichen gesellschaftlichen (Macht-)Positionen, die sowohl der Forschende als auch die Flüchtlinge zwangsläufig einnehmen und die sich, wie geschildert, beispielsweise in einer von außen kommenden Definition als Flüchtling zeigen können. Das zweite gegenwärtig zentrale Thema bezogen auf Flüchtlinge ist die Frage nach möglichen Traumatisierungen, die aufgrund der aufenthaltsrechtlichen Lage auch von den Flüchtlingen selbst in die Begegnung mit eingebracht wird. Ein drittes prägendes Thema betrifft kulturelle Differenzen. Auch hier steht man vor der Herausforderung, einerseits zu fragen, wo unterschiedliche kulturelle Bedeutungsmuster bestehen, und diese zu reflektieren, andererseits nicht »jede Verschiedenheit als Kulturdifferenz aufzufassen, jeden Konflikt als Kulturkonflikt« (Ninck-Gbeassor, Schär Sall, Signer, Stutz u. Wertli, 1999, S. 21). Die Konstruktionen von »Flüchtlingskindern«, »Traumatisierten«, »kulturell Anderen« sind also alle geeignet, im Rahmen von Forschungsgesprächen und deren Interpretation eher zu Missverständnissen zu führen als zu nützlichen Erkenntnissen. Im Laufe des Forschungsprozesses habe ich mich oft gefragt, ob unter diesen Umständen eine Annäherung an die Lebenswelt von Flüchtlingskindern überhaupt gelingen kann. Im Gespräch mit Migrant/-innen stellte sich dabei auch immer die Frage nach © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

1.1 Sinn und Ziel der Arbeit

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meiner Legitimation: Wie kann ich aus der Außenperspektive überhaupt über Flüchtlinge schreiben? Wäre es nicht sinnvoller und erkenntnisträchtiger, die Flüchtlinge würden selbst diese Aufgabe übernehmen? Zweifelsohne ist dies wünschenswert, gleichzeitig sind nicht nur sie an ihrer Situation beteiligt, sondern auch die aufnehmende Gesellschaft. Seitdem ich mich mit der Situation von Flüchtlingskindern in Deutschland beschäftige, habe ich immer wieder erfahren, wie wenig den Personen in ihrer unmittelbaren sozialen Umwelt, seien es Erzieher/-innen, Lehrer/-innen, Nachbarn, aber auch Mitarbeiter/-innen von Beratungsstellen oder in der kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung und nicht zuletzt politischen Entscheidungsträgern über die Situation von Flüchtlingskindern bekannt ist. Dabei ist Wissen auf beiden Seiten vonnöten: Flüchtlingskinder befinden sich in einer vielfältig belasteten psychosozialen Situation und bedürfen der besonderen Aufmerksamkeit und sozialen Unterstützung. Die aufnehmende Gesellschaft dagegen bedarf eines informierten Blicks auf Flüchtlinge, um sie im positiven Sinne als potenzielle Einwanderer zu betrachten und entsprechend zu fördern und zu integrieren. Beide Seiten sind an einem Verständigungsprozess beteiligt, zu dem diese Arbeit einen Beitrag zu leisten versucht.

1.1 Sinn und Ziel der Arbeit Im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit stehen Kinder und Jugendliche, die in ihren ersten Lebensjahren von Bosnien nach Deutschland geflohen sind. Ihre Biographien sind gleichermaßen von zum Teil dramatischen Kriegserlebnissen, oft von langen Trennungen oder dem Verlust des Vaters als auch von der dauerhaften Belastung durch eine unsichere Aufenthaltssituation in Deutschland geprägt. Typisch für ihre Familiensituation ist das Aufwachsen bei Eltern, häufig nur der Mutter, die selbst sehr belastet und/oder traumatisiert sind. Interviewt wurden Kinder und Jugendliche, die sich nicht in psychotherapeutischer Behandlung befinden und über deren Umgang mit psychischen Belastungen und potenziell traumatischen Erlebnissen wenig © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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1 Einführung

bekannt ist. Oft wirken diese Kinder sowohl für ihre Eltern als auch für Erzieher/-innen, Lehrer/-innen und ältere Geschwister besonders gut angepasst und es wird angenommen, sie seien noch zu jung gewesen, als dass das Erleben von Krieg und Flucht Spuren hinterlassen hätte. In der Psychologie wird gegenwärtig häufig auf den Begriff der »Resilienz« im Sinne von psychischer Widerstandsfähigkeit verwiesen, wenn Personen trotz erheblicher belastender Lebensereignisse keine gravierenden psychischen Folgen zeigen. Dem steht die Beobachtung gegenüber, dass gerade belastende und potenziell traumatische Erlebnisse in der frühen Kindheit langfristig zu gravierenden psychischen Symptomen führen können und die Frage, ob es sich tatsächlich um eine resiliente Entwicklung handelt, ist letztlich eine Frage der Art der Diagnosestellung bzw. des Zeitpunktes. In der vorliegenden Arbeit versuche ich, mich mit einem explorativen, einzelfallorientierten Vorgehen der subjektiven Erfahrungsverarbeitung der bosnischen Flüchtlingskinder anzunähern. Die im Rahmen meiner Diplomarbeit durchgeführte Untersuchung mit damals sechs- und siebenjährigen bosnischen Flüchtlingskindern ist ein wichtiger Ausgangspunkt für die Studie. Drei Kinder und ihre Familien konnten für die vorliegende Untersuchung nochmals interviewt werden. Ein Ergebnis der damaligen Studie (Lennertz, 1998) war, dass sich Traumatisierungen bei vielen Kindern weniger in fest umrissenen Symptomen als auf der Ebene sogenannter psychischer Repräsentanzen zu äußern scheinen. Erfasst werden können diese inneren Vorstellungen vom Selbst, von anderen und von der Welt beispielsweise im Rahmen von projektiven Verfahren oder mit Methoden der Bindungsforschung. Innerpsychische Repräsentanzen werden je nach theoretischem Bezugspunkt auch als Schemata (kognitive Psychologie) oder internale Arbeitsmodelle (Bindungsforschung) bezeichnet und ihre Herausbildung wird den sogenannten impliziten Gedächtnisprozessen zugeordnet. In der klinischen Psychologie und der klinischen Entwicklungspsychologie werden implizite Gedächtnisprozesse derzeit viel beachtet, da sie als erwartungsund handlungsleitend gelten und bei der Affektregulierung eine entscheidende Rolle spielen. Obwohl sich auch die aktuelle © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

1.2 Zur Struktur der Arbeit

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Traumaforschung, beispielsweise um dissoziative Vorgänge zu erklären, auf das implizite Gedächtnissystem bezieht, haben sich in der Traumatheorie vor allem Modelle durchgesetzt, die sehr stark auf sichtbare Symptome fokussieren und sich den weniger sichtbaren Traumafolgen auf der Ebene der psychischen Repräsentanzenbildung wenig oder gar nicht widmen. An diesem Punkt setzt die vorliegende Untersuchung kritisch an. Eine weitere Ausgangsüberlegung war, dass sich in einer Gruppe von Kindern und Jugendlichen, die nicht in psychotherapeutischer Behandlung sind, auch Kinder und Jugendliche finden, die nicht oder kaum belastet sind. Hier stellt sich die Frage, ob diese Kinder und Jugendlichen weniger von potenziell traumatischen Erlebnissen betroffen waren oder ob sie besondere Unterstützung erhalten haben. Damit verknüpft ist das Anliegen dieser Arbeit, Hinweise dafür zu geben, welche Unterstützungsmöglichkeiten Flüchtlingskinder brauchen.

1.2 Zur Struktur der Arbeit Erster Teil: Problemstellung, theoretische Grundlagen und methodische Anlage Die Arbeit beginnt mit einer Beschreibung der psychosozialen Situation der in Deutschland lebenden bosnischen Flüchtlinge in Kapitel 2. Dem gesellschaftspolitischen Umgang mit ihnen wird dabei besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Er beeinflusst nicht nur erheblich das tägliche Leben der Flüchtlinge, sondern auf dieser Ebene zeichnen sich auch einige zentrale Charakteristika des gegenwärtigen gesellschaftlichen Umgangs mit »Trauma« und »Traumatisierten« ab. Dass die gesellschaftliche Reaktion auf traumatisierte Personen schon immer von starken Ambivalenzen geprägt war und besonders gesellschaftliche Aspekte der Verursachung oder Mitaufrechterhaltung von traumatischen Prozessen auf breiter Ebene verleugnet werden, zeigt das folgende 3. Kapitel zum Traumabegriff. In einer kritischen Begriffsbestimmung versuche ich, die sehr vielfältigen Dimensionen des Traumabegriffes aus© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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1 Einführung

zuloten. Ich beginne mit einer kurzen Darstellung der Anfänge der Traumaforschung, hier nehmen die Arbeiten von Sigmund Freud eine zentrale Stellung ein, und zeichne dann die weiteren wichtigen Stationen – Holocaustforschung, die Entwicklung der Posttraumatic Stress Disorder (PTSD), bis hin zur aktuellen neurowissenschaftlichen Traumaforschung – nach. Kritischer Bezugspunkt bleibt dabei die Einbettung dieser sehr unterschiedlichen Annäherungen an das Phänomen Trauma in den jeweiligen gesellschaftlichen Kontext. Das Kapitel schließt mit Überlegungen dazu, welche Traumamodelle der Situation von Flüchtlingen gerecht werden, und stellt einen für den Flüchtlingsbereich entwickelten Ansatz vor. In Kapitel 4 beschäftige ich mich mit der insgesamt sehr spärlichen Forschungsliteratur die zu Kindern, die Krieg und Flucht erlebt haben, existiert. Auch hier nimmt der Traumabegriff eine zentrale Rolle ein, wenngleich auch wichtige Arbeiten, wie beispielsweise die von Anna Freud und Dorothy Burlingham über Kinder während des Zweiten Weltkrieges, interessanterweise ohne diesen Begriff auskommen. Aus dem Anliegen, den Traumabegriff trotz diverser kritischer Punkte nicht oder zumindest nicht unbesehen aus der psychologischen Annäherung an Flüchtlingsbiographien ausklammern zu wollen, stelle ich im 5. Kapitel die besonderen Aspekte von traumatischen Erfahrungen im Kindesalter dar. Hier ergeben sich zwei Schwerpunkte, zum einen die Frage, ob es besonderer Traumamodelle für Kinder bzw. für verschiedene Entwicklungsphasen bedarf, zum anderen, ob und in welcher Form sich Traumatisierungen im Kindesalter äußern. Es wird so zugleich der Forschungsstand dargestellt als auch beschrieben, welche Aspekte, Reaktionen, Verhaltensweisen etc. für die Einschätzung von Traumatisierungsprozessen relevant sind. Die Überlegungen aus diesem Kapitel leiten über zur zentralen methodischen Wahl der Untersuchung, der Bindungsforschung. Neben »Trauma« stellt »Bindung« das zweite große Forschungsparadigma dar, an dem sich diese Arbeit orientiert und das zugleich zur Debatte gestellt werden soll. In Kapitel 6 stelle ich die theoretischen Grundlagen der Bindungsforschung, ihre wichtigsten Methoden sowie die für die vorliegende Arbeit relevanten empirischen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

1.2 Zur Struktur der Arbeit

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Untersuchungen vor. Die Bindungsforschung wird dabei sowohl als ein Zugang zur subjektiven Erfahrungsverarbeitung als auch zu intergenerationalen Prozessen betrachtet. Das Fazit aus den bislang vorliegenden Untersuchungen und die vorangegangenen theoretischen Überlegungen bilden den Ausgangspunkt für die methodische Anlage der Studie, die ich im 7. Kapitel detailliert beschreibe.

Zweiter Teil: Ergebnisse und Diskussion Die Ergebnisdarstellung beginnt mit einer Beschreibung der Stichprobe und des Forschungsprozesses sowie einem Überblick über fallübergreifende Ergebnisse in Kapitel 8. Aus dieser Übersicht begründet sich die Auswahl von drei exemplarischen Fällen, die ich in Kapitel 9 detailliert analysiere. Anhand dieser drei Fälle werden drei unterschiedliche Entwicklungswege von Flüchtlingskindern nachgezeichnet, wobei sich ein Fall als typisch für die Stichprobe bezeichnen lässt, während für die beiden anderen Fallanalysen im Vergleich zur Gesamtstichprobe jeweils ein Extremfall gewählt wurde. In den Kapiteln 10 und 11 beziehe ich mich nochmals fallübergreifend auf das Interviewmaterial und untersuche dabei speziell, welche Rolle sequentielle sowie intergenerationale Traumatisierungsprozesse in der Stichprobe spielen. In diesem Zusammenhang gehe ich in Kapitel 11 besonders auf die Ergebnisse der Bindungsinterviews ein und die damit verbundene Frage der kulturellen Sensitivität des gewählten methodischen Vorgehens. Die Arbeit endet mit einer abschließenden Diskussion der verwendeten Methoden und der Ergebnisse sowie mit aus den Ergebnissen hergeleiteten Schlussfolgerungen in Kapitel 12. Um dem Anspruch eines transparenten und nachvollziehbaren Forschungsprozesses gerecht zu werden, liegt der Arbeit ein Materialband5 bei, in dem sich in anonymisierter Form die Interviewtranskripte und Testprotokolle finden, aus denen ich zitiere.

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Dieser kann bei der Autorin angefordert werden. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

2 Flüchtlingserfahrungen in Deutschland: Das Beispiel der bosnischen Flüchtlinge

2.1 Krieg und Vertreibung in Bosnien-Herzegowina Der jugoslawische Staat entstand 1918 nach dem Ersten Weltkrieg aus den vorher unabhängigen Königreichen Serbien und Montenegro unter Einschluss der von Serbien in den Balkankriegen 1912/13 erworbenen mazedonischen Gebiete und der südslawisch besiedelten Teile Österreich-Ungarns, zu denen das ehemalige Kronland Krain mit südlichen Gebieten der Kronländer Kärnten und Steiermark, Kroatien-Slawonien, Dalmatien, Bosnien und die Vojvodina gehörten. Insgesamt wurden damit mehr als zwanzig Nationen und Nationalitäten vereinigt. Die Staatenbildung war insofern alles andere als unkompliziert, gleichzeitig lebten jedoch bereits seit dem Mittelalter Menschen verschiedener Konfessionen und Kulturen auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien zusammen und an vielen Orten hatte sich dementsprechend eine multikulturell, multikonfessionell und multiethnisch 6 geprägte regionale Identität gebildet. Dies gilt besonders für Bosnien-Herzegowina, wo sich die meisten gemischten Gemeinden und Städte befanden (Meier, 1999). Die Anfangsjahre Jugoslawiens waren dennoch begleitet von politischen, sozialen und ökonomischen Integrationsproblemen, Auseinandersetzungen über die Frage von Föderalismus versus Zentralismus sowie von einem serbisch-kroatischen Konflikt (Calic, 1996). Eine erste Zäsur erfuhr der neugebildete Staat im Zweiten Weltkrieg: Im April 1941 6 Im Zusammenhang mit dem ehemaligen Jugoslawien wird von verschiedenen Ethnien gesprochen, obwohl umstritten ist, ob dieser Begriff zutreffend ist.

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2.1 Krieg und Vertreibung in Bosnien-Herzegowina

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griff das Deutsche Reich Jugoslawien an und zwischen 1941 und 1945 zerfiel das Land in eine Reihe besetzter und annektierter Territorien, wie Serbien, bzw. scheinbar unabhängiger Staaten, wie der von Hitler und Mussolini gegründete großkroatische »Unabhängige Staat Kroatiens«, zu dem auch Bosnien-Herzegowina zählte.7 1945 wurde die Föderative VR Jugoslawien, bestehend aus den sechs Teilrepubliken Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Serbien und Makedonien8, proklamiert. Titos kommunistische Volksfront gewann 1946 die Wahlen und Jugoslawien erhielt eine nach dem Vorbild der UdSSR gestaltete Verfassung. Jugoslawien blieb jedoch geprägt von dem Konflikt zwischen Föderalisten und Zentralisten und distanzierte sich bereits 1948 zunehmend von der Sowjetunion. Seit Ende der 1960er Jahre wurde der Staat schrittweise föderalisiert. In dieser sehr weitreichenden Föderalisierung und der damit einhergehenden zunehmenden politischen und wirtschaftlichen Unabhängigkeit der Teilrepubliken wird eine Voraussetzung für das schnelle Auseinanderbrechen Jugoslawiens gesehen. Die Desintegration wurde zusätzlich durch eine schwere Wirtschaftskrise verschärft, hinzu kamen der Tod Titos 1980, der fortan als integrative Persönlichkeit fehlte, sowie die Veränderungen in Osteuropa, die das jugoslawische Modell der Blockfreiheit obsolet werden ließen (Calic, 1996). In allen Teilrepubliken zeigten sich Unabhängigkeitsbestrebungen und nationalistische Bewegungen. 1991 erklärten Slowenien und Kroatien ihre Unabhängigkeit und es kam zu ersten Kampfhandlungen zwischen örtlichen Militärkräften und der Jugoslawischen Volksarmee. Nach dem 7

Obwohl hier de facto nur 50 % Kroaten lebten, 30 % waren Serben und 20 % Muslime, kam hier mit der Ustasˇa eine radikalfaschistische Bewegung an die Macht, deren serbische Gegenspieler schließlich die serbischen ˇ etnici begangenen Gräuel an Cetnici wurden. Die von der Ustasˇa und von C der serbischen bzw. kroatischen und der muslimischen Bevölkerung hinterließen tiefe Spuren im kollektiven Gedächtnis Jugoslawiens (Calic, 1996), was sich auch darin zeigt, dass diese Begriffe und Zuordnungen im Jugoslawienkrieg wieder auflebten. 8 1974 wurden die Provinzen Vojvodina und Kosovo in einer neuen Verfassung zu autonomen Provinzen innerhalb Serbiens erklärt. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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2 Flüchtlingserfahrungen in Deutschland

10-Tage-Krieg in Slowenien verschoben sich die kriegerischen Auseinandersetzungen auf die mehrheitlich serbisch bewohnte Krajina in Kroatien. In diesem Kontext verschärften sich auch die Spannungen zwischen bosnisch-serbischen, bosnisch- kroatischen und bosnisch-muslimischen Bevölkerungsgruppen in Bosnien-Herzegowina: Während ein Teil der bosnisch-serbischen Bevölkerung einen möglichst engen Anschluss an Serbien und die jugoslawische Föderation suchte, erstrebten vor allem bosnische Kroaten aus der Herzegowina einen Anschluss an Kroatien. Bosniakische Gruppen bzw. bosnische Muslime plädierten dagegen für eine Unabhängigkeit Bosniens. Nur jeweils ein Teil von jeder dieser Gruppen hing dem Kommunismus an (Meier, 1999). Eine Einigung aller drei Gruppen auf dem Verhandlungsweg scheiterte (zu den genauen Abläufen siehe Meier, 1999). Im April 1992 begann mit einem Angriff von serbischen Freischärlern auf die halb serbische, halb muslimische Stadt Bijeljina im Nordosten Bosniens der Krieg. Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien erschütterte die internationale Staatengemeinschaft und die »westliche Welt« als Krieg in Europa und erhielt sehr viel öffentliche und politische Aufmerksamkeit. Über keinen Krieg zuvor gab es soviel journalistische Berichterstattung und damit so viele Informationen wie über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien und den gleichzeitig, im April 1994, in Rwanda stattfindenden Genozid, darunter bekanntermaßen auch falsche.9 Die europäischen 9

Erst 1996 wurde aufgeklärt, dass eines der berühmtesten 1992 veröffentlichten Bilder des Jugoslawienkrieges – es zeigt einen abgemagerten jungen Mann hinter einem Stacheldrahtzaun und ähnelt damit frappierend Abbildungen aus Konzentrationslagern der Nazis – irreführend rekontextualisiert wurde: Der junge Mann war nicht im Lager Trnopolje eingezäunt, wie das Bild suggeriert, sondern die Journalisten selbst befanden sich auf einem eingezäunten Stallgelände, von dem aus sie Aufnahmen machten. Auch war sein schlechter körperlicher Zustand offenbar eine Ausnahme. Trnopolje galt daraufhin zu unrecht als serbisches Konzentrationslager. Kriegsgründe, der tatsächliche Kriegsverlauf und auch der Hergang einzelner Kriegsverbrechen, wie etwa des Massakers von Srebrenica, sind trotz der langen und detaillierten Prozesse des internationalen Gerichtshofs in Den Haag, ICTY, nach wie vor umstritten. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

2.1 Krieg und Vertreibung in Bosnien-Herzegowina

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Nachbarländer waren einerseits gut informiert und nahmen beispielsweise durch die Anerkennung Kroatiens als eigenständigen Staat und mittels UN-Interventionen Einfluss auf die Geschehnisse, andererseits war ihre Politik durch Langsamkeit, Uneinigkeit und schlichte Ratlosigkeit geprägt.10 Besonders die Gräueltaten zwischen ehemaligen Nachbarn, manchmal sogar Freunden, waren und sind schwer nachvollziehbar, wie sich überhaupt das gesamte Kriegsgeschehen aufgrund wechselnder Frontlinien und Koalitionen in der internationalen Wahrnehmung dazu anbot, es in einem komplizierten religiösen und ethnischen Kontext zu verstehen. Dieser vermag jedoch nur einen Teil des Geschehens zu erklären und ist zudem dazu geeignet, sich auf Seiten der internationalen Gemeinschaft jeder Verantwortung zu entledigen (Zˇizˇek, 1993). Übersehen wird bei solchen stereotypen Erklärungen, dass das Zusammenleben im ehemaligen Jugoslawien zwar durchaus von einer sozialen Distanz geprägt war, die ethnische Zugehörigkeit für die Mehrheit der Jugoslawen jedoch bis in die 1980er Jahre hinein kaum eine Rolle spielte. Sie definierten sich in erster Linie über ihren Beruf, ihre Schichtzugehörigkeit oder den Bildungsstand. Hinzu kommt, dass sich Ende der 1980er Jahre insgesamt nur eine Minderheit als religiös bezeichnete: Bei den Kroaten waren es 53 %, bei den Serben 34 % und bei den bosnischen Muslimen, die sich bereits aus ihrer Geschichte heraus weitgehend säkular definieren, waren es 37 %. Die meisten Bewohner aus gemischten bosnischen Gemeinden beschrieben das multiethnische Zusammenleben noch Anfang der 1990er Jahre als konfliktarm und gut funktionierend. Dafür spricht auch, dass zu dieser Zeit in Bosnien-Herzegowina 16 % aller Kinder aus ge10 Ob die Anerkennung Kroatiens und Sloweniens durch Deutschland tatsächlich die Ereignisse beeinflusste, ist nicht unumstritten. Es würde den Rahmen dieser Arbeit jedoch sprengen, auf die Hintergründe des Krieges im ehemaligen Jugoslawien, den genauen Ablauf der Kriegsereignisse und die internationale Reaktion auf die Geschehnisse eingehen zu wollen, zumal hierzu viele widersprüchliche Informationen und Analysen vorliegen. Für detaillierte und gut recherchierte Darstellungen hierzu siehe Meier (1999), Cigar (1995) und Calic (1996).

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2 Flüchtlingserfahrungen in Deutschland

mischten Ehen stammten und jeder zweite Bewohner Bosniens einen nahen Verwandten einer anderen ethnischen Zugehörigkeit hatte (Calic, 1996). Aufschlussreich im Zusammenhang mit der westlichen Wahrnehmung des Krieges im ehemaligen Jugoslawien ist auch die Feststellung des slowenischen Philosophen Slavoj Zˇizˇek, dass die Berichterstattung über den fast zeitgleich stattfindenden Golfkrieg ohne Hinweise auf die soziale, politische und religiöse Entwicklung und auf gesellschaftliche Gegensätze im Irak auskam, sondern der Konflikt auf einen Streit mit dem – dämonisierten – Saddam Hussein reduziert wurde. Bezogen auf den Balkan dagegen wiesen westliche Medien unablässig auf dessen »Andersartigkeit« hin, vermittelten den Eindruck, die Geschehnisse ließen sich nur vor dem Hintergrund der gesamten Geschichte des Balkans seit dem Mittelalter, »Traumen, Jahrhunderte alt, würden neu durchlitten und ausgetragen« (Zˇizˇek, 1993, S.28), verstehen und nahmen quasi die Rolle eines anthropologischen Betrachters ein. Mithilfe der Konstruktion des unzivilisierten, wenn nicht gar barbarischen Balkans, der sich jenseits der Grenzen Europas befindet, einer Konstruktion, die ihrerseits wiederum einer westlichen Tradition folgt, lassen sich eine nüchterne Betrachtung des Zerfalls Jugoslawiens und der aktiven oder passiven Unterstützung der einen oder anderen Seite durch westliche Länder hervorragend ausklammern (Zˇizˇek, 1993). Parallel dazu nutzten allerdings auch politische Führer im ehemaligen Jugoslawien das Ansprechen kollektiver Identitäten, um diese für Kriegszwecke zu instrumentalisieren: Prototypisch wäre hierfür die »Ansprache auf dem Amselfeld« des serbischen Präsidenten Milosevic 1989, in der er auf die von serbischer Seite verlorene Schlacht zwischen serbischen und albanischen Kämpfern verwies und die als Anspielung auf einen serbischen Opfermythos und unausgetragene Rachephantasien verstanden wurde. Insbesondere das Massaker in Srebrenica wurde schließlich zum Symbol für das Versagen jener Staaten, die sich nicht über das Ziel ihrer Interventionen im ehemaligen Jugoslawien einigen konnten. Die erste UN-Schutzzone der Welt wurde fast widerstandslos serbischen Verbänden preisgegeben, was zum © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

2.1 Krieg und Vertreibung in Bosnien-Herzegowina

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schlimmsten Desaster der internationalen Staatengemeinschaft seit dem Zweiten Weltkrieg führte. Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien hat ca. 4,25 Millionen Menschen innerhalb- und außerhalb der Landesgrenzen zu Flüchtlingen gemacht (Calic, 1996). Bereits vor Kriegsausbruch im Jahr 1991 in Kroatien verließen vor allem junge Männer, um der Einberufung zu entkommen, sowie serbische Bewohner Kroatien. Mit Beginn des Krieges zwischen Kroatien und Serbien folgten Flüchtlinge aus umkämpften Grenzgebieten. Im März 1992 erklärte Bosnien-Herzegowina seine Unabhängigkeit von Jugoslawien, was zu kriegerischen Auseinandersetzungen mit bosnischen Serben führte. Bereits im April 1992 befanden sich in Bosnien-Herzegowina zwei Millionen Menschen auf der Flucht. Im Juli 1995 kam es nach mehrmonatigem Waffenstillstand erneut zu Kriegshandlungen und schließlich zu dem Massaker in Srebrenica, 7000 – 8000 Menschen, zumeist bosnisch-muslimische Jungen und Männer, wurden umgebracht, die meisten gelten weiterhin offiziell als vermisst. Circa 40.000 bosnische Muslime, die in den Enklaven Srebrenica und Zepa Schutz gesucht hatten, wurden erneut oder erstmalig vertrieben (Calic, 1996). Die Hälfte der früheren bosnischen Bevölkerung, 2,2 Millionen Menschen, wurde dauerhaft vertrieben. Im Jahr 2004 lebten nach wie vor ca. 900.000 Menschen als Flüchtlinge im eigenen Land, in Kroatien und in Bosnien-Herzegowina existierten etwa 1.000 Flüchtlingscamps (Keskic, 2004). Terrorakte, wie Angriffe auf Hab und Gut, Deportationen, Internierungen, Vergewaltigungen, Folter, Verstümmelungen und Mord, die die Betroffenen nicht an ihre Herkunftsorte zurückkehren lässt, wurden systematisch und geplant als ein Mittel zur »ethnischen Säuberung« eingesetzt (Keskic, 2004; Calic, 1996).11 Ziel der Kriegsparteien war nicht die physische Vernichtung anderer ethnischer Gruppen, wohl aber deren systematische 11

Alle Bevölkerungsgruppen sind im Laufe des Krieges Opfer ethnischer Vertreibungen geworden, die mit Abstand meisten Vertreibungen betrafen jedoch die bosnischen Muslime, die von serbischen Kämpfern aus den an Serbien grenzenden, serbisch besiedelten Teilen Bosnien-Herzegowinas, der heutigen Serbischen Republik, vertrieben wurden. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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2 Flüchtlingserfahrungen in Deutschland

Vertreibung, zu der Tötungen als eine »Methode« eingesetzt wurden. Zudem sollte die ethnokulturelle Identität zerstört werden. So wurden, neben vielen Moscheen, Friedhöfen und Bibliotheken, einige der bedeutendsten und ältesten Kulturdenkmäler und Orte, die das jahrhundertlange multikonfessionelle Zusammenleben symbolisierten, zerstört. Darunter das traditionsreiche Händlerviertel von Sarajewo und die berühmte, 1566 erbaute und inzwischen wiederaufgebaute Brücke von Mostar, Stari Most. Viele Städte waren belagert und damit von der Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten abgeschnitten, oft war auch die Wasser- und Stromversorgung gekappt. Die dreijährige Belagerung von Sarajewo ist mit 1.425 Tagen die längste Belagerung in der Geschichte. Sie begann im April 1992 und endete offiziell im Februar 1996. Hunderttausende waren in der Stadt eingeschlossen und wurden nur über eine Luftbrücke, einige Bezirke später auch über einen Tunnel, versorgt. Die Männer mussten kämpfen, Frauen und Kinder versteckten sich über Jahre in den Kellern. Neben dem täglichen Beschuss durch Granaten, der auf Zivilgebäude, wie Krankenhäuser, Mediendienste, den Sitz der Vereinten Nationen etc., gerichtet war, machten vor allem Heckenschützen die Stadt unsicher. Während der Belagerung Sarajewos sind knapp 11.000 Menschen getötet (unter ihnen 1.600 Kinder) und ca. 50.000 teilweise schwer verletzt worden. Viele Flüchtlinge, die später Bosnien-Herzegowina verlassen konnten, erlebten Belagerungen an Orten, die sie ursprünglich zum Schutz aufgesucht hatten. Die meisten Personen, die zu Flüchtlingen wurden, stammen aus belagerten und umkämpften Gebieten und flohen entweder, weil sie unmittelbar Vertreibungen ausgesetzt waren, oder vor den »allgemeinen Begleiterscheinungen des Krieges« (Calic, 1996, S. 123): Kampfhandlungen, Zerstörung und Hunger.

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2.2 Die soziale Realität der bosnischen Flüchtlinge in Deutschland

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2.2 Die soziale Realität der bosnischen Flüchtlinge in Deutschland Die Bundesrepublik Deutschland spielt im Zusammenhang mit den bosnischen Flüchtlingen eine besondere Rolle, da sie einerseits besonders viele Flüchtlinge aufnahm, gleichzeitig jedoch dauerhaften Schutz, über die Dauer der tatsächlichen Kriegshandlungen hinaus, verweigerte. Die soziale Situation der bosnischen Flüchtlinge ist dadurch über Jahre hinweg gravierend durch teilweise sehr widersprüchliche rechtliche Rahmenbedingungen geprägt. Dabei erfuhren die Flüchtlinge vor allem in den ersten Kriegsjahren eine großzügige Aufnahmepraxis, was ein Grund dafür war, dass Deutschland zum Zielland vieler Flüchtlinge wurde. Weitere Gründe hierfür waren neben der günstigen geographischen Lage die vielfältigen Beziehungen, die zwischen beiden Ländern bereits über Jahrzehnte durch die Gastarbeitertradition und den Adria-Tourismus bestanden: Viele Flüchtlinge hatten familiäre Kontakte nach Deutschland oder waren selbst Gastarbeiter gewesen12, Deutsch wurde im ehemaligen Jugoslawien häufig als erste Fremdsprache in der Schule unterrichtet. Einigen Flüchtlingen war es dadurch möglich, mit Hilfe einer persönlichen Einladung nach Deutschland einzureisen, der weitaus größere Teil kam jedoch illegal. Viele Flüchtlinge zahlten Geld an Schlepper, um sich in Autos über die Grenze schmuggeln zu lassen. Wer einmal im Land war, erhielt Unterkunft und Sozialhilfe. Zu Beginn der 1990er Jahre war es in einigen Bundesländern den Flüchtlingen zudem erlaubt, einer Arbeit nachzugehen und eigene Wohnungen zu beziehen. Viele Flüchtlinge beschreiben die Aufnahme in Deutschland in den ersten Jahren als freundlich und positiv. Von politischer Seite erfolgte die Aufnahme der Flüchtlinge jedoch von Anfang an unter der Prämisse temporär zu sein und nur für die Dauer der tatsächlichen kriegerischen Auseinander12 1990, vor Beginn des Krieges, lebten 662.000 Personen aus Jugoslawien in Deutschland. Der größte Teil der Gastarbeit stammte dabei ursprünglich aus Bosnien-Herzegowina.

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setzung zu währen. Nur unter diesem Aspekt ist zu verstehen, warum, ungeachtet der Tatsache, dass Deutschland in absoluten Zahlen das größte Aufnahmeland für Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien war – 1997 hielten sich laut UNHCR in absoluten Zahlen 340.000 in Deutschland auf – keine transparenten aufenthaltsrechtlichen Regelungen für die Flüchtlinge getroffen wurden. Auch der politische Widerspruch, eine große Zahl an Flüchtlingen aufzunehmen, obwohl gleichzeitig von Regierungsseite das De-facto-Einwanderungsland Deutschland nicht als solches anerkannt wurde13, lässt sich nur so verstehen, dass von einer zeitlich begrenzten Hilfsaktion ausgegangen wurde. Weitergehende Maßnahmen hätten aus Regierungssicht auch nicht zur 1993 gerade erfolgten Einengung des Asylrechts gepasst. Zudem war die innenpolitische Situation kurz nach der Wiedervereinigung, die viele Zuwanderer aus Osteuropa mit sich brachte, gegenüber Flüchtlingen und Asylbewerbern äußerst angespannt. Zu Beginn der 1990er Jahre zündeten Rechtsextreme und Neonazis Asylbewerberheime in Hoyerswerda (1991) und Rostock-Lichtenhagen (1992) an und es kam zu rechtsextremen Brandanschlägen in Mölln (1992) und Solingen (1993), bei denen insgesamt acht Menschen starben. Auch Länderinteressen standen einer aufenthaltsrechtlichen Regelung für die Flüchtlinge entgegen: Der 1993 eigens ins Ausländergesetz eingefügte Paragraph 23a, demzufolge die bosnischen Flüchtlinge eine Aufenthaltsbefugnis hätten erhalten müssen, kam nie zur Anwendung, da sich die Länder nicht auf einen Lastenausgleich und auf Verteilungsquoten einigen konnten (Mihok, 2001a), ein Mangel, unter dem nach dem Vertrag von Dayton besonders die in Berlin lebenden Flüchtlinge zu leiden hatten. Da Berlin überproportional viele Flüchtlinge aufgenommen hatte, war die finanzielle Last entsprechend groß und die Rückkehrpolitik besonders restriktiv. Bis auf wenige Bundesländer, die dennoch – zumindest begrenzt – Aufenthaltsbefugnisse erteilten, erhielt der größte Teil der Flüchtlinge eine »Dul13 Der damalige Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU, Innenminister von 1993 – 1998): »Deutschland ist kein Einwanderungsland«, in Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. 11. 1996.

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2.2 Die soziale Realität der bosnischen Flüchtlinge in Deutschland

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dung«. Eine »Duldung« stellt keinen Aufenthaltstitel dar, sondern bedeutet laut Ausländergesetz lediglich die »Aussetzung der Abschiebung; der geduldete Ausländer bleibt weiter zur Ausreise verpflichtet. Sein Aufenthalt ist nicht rechtmäßig« (aus §§ 55 Absatz 1 und 56 Absatz 1 Ausländergesetz).14 Bereits die Aufnahme der Flüchtlinge war auf diese Weise mit einem ständigen, wenn auch zunächst latenten Abschiebedruck versehen, zumal die Duldungen immer nur für einen kurzen Zeitraum, meistens für drei Monate, ausgestellt wurden.

Politikwechsel nach Dayton: Rückkehrdruck, Abschiebungen und soziale Desintegration Nach mehr als vier Kriegsjahren einigten sich die Präsidenten Serbiens, Bosniens und Kroatiens im Dezember 1995 auf den Vertrag von Dayton. Zu den wichtigsten Vereinbarungen gehört, dass Bosnien-Herzegowina als einheitlicher Staat in seinen international anerkannten Grenzen erhalten bleibt, allerdings aus zwei Entitäten besteht: der Föderation Bosnien und Herzegowina und der Serbischen Republik.15 Gleichzeitig besteht nach Dayton ein Recht für alle Flüchtlinge, an ihren Heimatort zurückzukehren16, eine solche Rückkehr wäre auch im Sinne der Wiederherstellung einer ethnischen Koexistenz. Die Umsetzung dieser Bestimmung erwies sich allerdings von Anfang an als äußerst 14

Die hier zitierte Fassung des Ausländergesetzes ist diejenige, die für die bosnischen Flüchtlinge in den vergangenen zehn Jahren maßgeblich war. 15 Die ostbosnische Enklave Srebrenica fällt der Serbischen Republik zu. 16 In Annex 7 des Daytoner Übereinkommen heißt es: »Alle Flüchtlinge und intern Vertriebenen haben das Recht, frei an ihren früheren Wohnsitz zurückzukehren. Sie sollen das Recht auf die Rückerstattung des Eigentums haben, dessen sie im Verlauf der Feindseligkeiten seit 1991 beraubt worden sind, und für jedwedes Eigentum entschädigt werden, das ihnen nicht rückerstattet werden kann. […] Die Parteien versichern, dass sie die Rückkehr solcher Personen akzeptieren, die ihr Territorium verlassen haben, eingeschlossen derjenigen, denen zeitweiliger Schutz durch Drittländer gewährt worden ist« (zitiert nach Jäger u. Rezo, 2000, S.7). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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schwierig und kann mittlerweile vielerorts als gescheitert betrachtet werden.17 Ungeachtet der tatsächlichen Lage in Bosnien-Herzegowina, der Empfehlungen des UNHCR sowie der biographischen, sozialen und gesundheitlichen Situation der Flüchtlinge, nahm die deutsche Politik Dayton zum Anlass für einen schlagartigen Politikwechsel gegenüber den Flüchtlingen, die nun umgehend zur Rückkehr aufgefordert wurden. Begründet wurde dieses Vorgehen mit der Entlastung des Staatshaushaltes, dem geltenden Ausländerrecht und der Vorstellung, dass die Flüchtlinge dringend zum Wiederaufbau benötigt würden (Mihok, 2001a; Angenendt, 1997). Im europäischen Kontext war das Vorgehen der Bundesregierung damit singulär und lässt sich kaum mit der Zahl der aufgenommenen Flüchtlinge begründen, da andere Länder, gemessen an der Gesamtbevölkerung prozentual weit mehr Flüchtlinge aufgenommen haben. Von diesen Ländern wurden aufgrund der problematischen Lage in Bosnien-Herzegowina Bleiberechtsregelungen getroffen. Schweden gewährte den Flüchtlingen bereits Mitte der 1990er Jahre eine sich immer wieder verlängernde Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis. In Österreich, Dänemark und den Niederlanden erhielt ebenfalls ein Großteil der Flüchtlinge ein Aufenthaltsrecht (Jäger u. Rezo, 2000). Diese Gastländer folgten damit den Einschätzungen des UNHCR, der auch noch Ende der 1990er Jahre davon ausging, dass aufgrund der desolaten Situation in Bosnien-Herzegowina für Flüchtlinge, die bei einer Rückkehr zur ethnischen Minderheit gehören würden, eine dauerhafte Lösung zu suchen sei. Gemäß Artikel 3 des Daytoner Abkommens fällt dem UNHCR die Aufgabe zu, sämtliche Rückkehrvorbereitungen und die Durchführung der Rückkehr zu koordinieren (Jäger u. Rezo, 2000). Obwohl sich die deutsche Politik immer wieder auf Dayton berief, widersprach sie dieser Bestimmung und ignorierte fortge17

Bis Ende 1999 konnten nur 5 % der nach Bosnien zurückgekehrten Flüchtlinge als Angehörige einer ethnischen Minderheit an ihren Vorkriegswohnort zurückkehren (UNHCR Statistik zitiert nach Jäger u. Rezo, 2000, S. 7). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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setzt die UNHCR-Empfehlungen. Hinzu kommt, dass beispielsweise das Land Berlin die Auflage des UNHCR die ethnische und geographische Herkunft der Flüchtlinge bei Rückführungsplänen zu berücksichtigen, rein faktisch nicht hätte erfüllen können, da die dafür notwendigen Informationen von der Innenverwaltung nicht erfragt worden waren (Mihok, 2001a, S. 156). Die Rückkehrpolitik der Innenministerien der Länder und der nachgeordneten lokalen Ausländerbehörden wurde damit ohne eine gesicherte Kenntnis um die soziale Struktur und Situation der Flüchtlinge vollzogen (Jäger u. Rezo, 2000). Eine schließlich vom UNHCR und von verschiedenen Flüchtlingsorganisationen in Auftrag gegebene Studie zur sozialen Struktur der Flüchtlinge stellte fest, dass mindestens 60 % der in Deutschland lebenden Flüchtlinge bei Rückkehr an ihren Herkunftsort dort zur ethnischen Minderheit gehören würden. Bei diesen Flüchtlingen handelt es sich mehrheitlich um bosnische Muslime, die aus der Serbischen Republik stammen und laut UNHCR somit weiterhin des Schutzes bedürfen. Zu dieser Gruppe gehören auch die Frauen und Kinder aus Srebrenica. Anstelle der UNHCR-Einschätzungen wurden eigene, unrealistische Maßstäbe gesetzt. So ging die Senatsverwaltung für Inneres in Berlin bereits 1996 davon aus, dass der »Gesamtstaat Bosnien Herzegowina ein geeignetes Gebiet für die Rückkehr« sei. Entsprechend wurden immer wieder Flüchtlinge aus der Serbischen Republik dorthin abgeschoben, die dann, da sie in ihren ehemaligen Heimatorten als bosnische Muslime massiven Bedrohungen ausgesetzt wären, in die Föderation weiterwanderten und auf diese Weise zu Binnenflüchtlingen wurden. Abgesehen von der persönlich schwierigen Situation der Flüchtlinge und dem auch schon vorher bestehenden Problem der Föderation, intern vertriebene Personen aufzunehmen, förderte die deutsche Rückkehrpolitik mit solchen Aktionen nicht wie behauptet die Umsetzung des Daytoner Abkommens, sondern trug mit verfrühtem Rückkehrdruck und Abschiebungen im Gegenteil zur Schaffung ethnisch homogener Territorien bei (Mihok, 2001a). In der öffentlichen Wahrnehmung wurde, anstelle der Anerkennung der tatsächlichen Situation im ehemaligen Kriegsgebiet, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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ein Bild des nicht rückkehrwilligen Flüchtlings aufgebaut. Das ging bis hin zur Kriminalisierung der zunächst willkommenen Flüchtlinge in Abschiebegewahrsam. Da die Bundesregierung nicht zuletzt aufgrund des öffentlichen Drucks, den solche Maßnahmen auslösten, aber auch aufgrund der Weigerung einiger SPD-regierter Länder, Abschiebungen durchzuführen, den Plan einer gestaffelten Rückführung nicht so schnell wie vorgesehen realisieren konnte, waren die Flüchtlinge in den folgenden Jahren immer wieder sich ändernden aufenthaltsrechtlichen und administrativen Bestimmungen ausgesetzt. Das politische und gesellschaftliche Ringen um den Umgang mit den Flüchtlingen bewirkte letztlich eine erhebliche Verzögerung der Rückkehr, verminderte die Zahl der Abschiebungen und ermöglichte auch die Schaffung von Ausnahmeregelungen, wie beispielsweise die der »Traumaregelung« (siehe unten). Für viele Jahre bedeutete diese Situation für die Flüchtlinge jedoch, sich in einer existenziell unsicheren Situation zu befinden. Aus den ursprünglich nur für einen kurzen Zeitraum vorgesehenen Duldungen wurden »Kettenduldungen«, einer Dreimonatsfrist folgte die nächste, ohne vor Abschiebung zu schützen oder eine Zukunftsperspektive zu eröffnen. Auch gut zehn Jahre nach Beendigung des Krieges leben immer noch bosnische Flüchtlinge auf Basis einer Duldung in Deutschland.18 Abgesehen von der Angst vor einer Abschiebung bedeutet das Leben mit einer Duldung weitere gravierende Einschränkungen, dazu gehören in erster Linie die Verweigerung einer Arbeits- und Ausbildungserlaubnis, die damit verbundene Abhängigkeit von Sozialhilfe, das Verbot, reisen zu dürfen, sowie in vielen Fällen die Auflage, im Heim leben zu müssen.

18

Insgesamt leben in Deutschland ca. 200.000 Menschen auf Grundlage einer Duldung, etwa die Hälfte davon seit mehr als zehn Jahren. Der UNHCR hat zuletzt im März 2006 eine Gesetzesänderung vorgeschlagen, um Personen mit Duldung eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Die Berliner Situation Wie erwähnt kam eine besonders große Zahl von Flüchtlingen nach Berlin, das mit ca. 32.000 Flüchtlingen allein ein Zehntel der nach Deutschland geflohenen Bosnier aufnahm. Mit dieser Zahl und den damit verbundenen Kosten wurde von politischer Seite eine besonders restriktive Rückkehrpolitik begründet, obwohl diese, wie die folgenden Beispiele zeigen, keineswegs zu Kostenersparnissen führte. Eine schnelle Rückkehr der Flüchtlinge wurde mit unterschiedlichen Mitteln »befördert«. Dazu gehörten ebenso unterstützende Rückkehrprogramme, sowie Abschiebungen und andere Maßnahmen, die den Flüchtlingen den weiteren Verbleib unangenehm machen sollten. Die Berliner Politik bediente sich dabei mitunter auch rechtswidriger Mittel. So wurden die sich in Berlin aufhaltenden Flüchtlinge beispielsweise vorübergehend illegalisiert, indem sie in den Jahren 1996 und 1997 Ausreiseaufforderungen und die Mitteilung, dass die Duldung nicht mehr verlängert würde, erhielten. Statt der Duldung bekamen sie »Passeinzugsbescheinigungen«, die sie zur Ausreise innerhalb von drei Monaten verpflichteten. Sie galten damit ab diesem Zeitpunkt als »illegal sich aufhaltende Ausländer«. Das Bundesverwaltungsgericht erklärte dieses Vorgehen schließlich als unzulässig, so dass im November 1997 erneut Duldungen verteilt wurden (Mihok, 2001a). Andere »Abschreckungsmaßnahmen« betrafen die wieder eingeführte reglementierte Unterbringung sowie die generelle Verwehrung einer Arbeitserlaubnis. Beides war vor allem in den Jahren 1992 und 1993 eher liberal gehandhabt worden, nun mussten Flüchtlinge ihre Wohnungen aufgeben und wieder ins Heim ziehen. Diejenigen, die Arbeit gefunden hatten, durften sie nicht weiter ausführen und waren auf Sozialhilfe angewiesen. Die politische Absicht dabei war wiederum, eine Integration der Flüchtlinge zu verhindern, sowie sie unter Kontrolle zu haben und im Falle einer Abschiebung leichter erreichen zu können. Mit einer Entlastung des Haushaltes lässt sich diese Praxis nicht begründen, wie eine Beispielrechnung von Mihok (2001a) zeigt: Für eine Heimunterbringung erhält ein Betreiber einen Tagessatz von 23,50 DM pro Person, d. h. für eine sechsköpfige Familie, die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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mit 55 qm, einer Kochnische und einem kleinen Bad auskommen muss, 4.230 DM monatlich, während die Miete für eine ausreichend große private Wohnung zum damaligen Zeitpunkt mit etwa 600 DM zu veranschlagen wäre. Neben der Belastung, die das Leben in einer Massenunterkunft bedeutet, kam für die bosnischen Flüchtlinge hinzu, dass die Heimunterbringung im Laufe der Zeit vermehrt mit Umzügen verbunden war, da zunehmend Heime geschlossen oder zusammengelegt wurden. Für schulpflichtige Kinder bedeutete ein solcher Heimwechsel fast immer auch einen Schulwechsel. Zudem erhielt Berlin vor allem Heime privater Träger aufrecht, die der Stadt weniger Kosten verursachten und sich schnell nach Bedarf öffnen und schließen ließen. Im Gegensatz zu den mir bekannten, vom Deutschen Roten Kreuz geführten Flüchtlingsheimen, in denen Sozialarbeiter und oft auch Erzieher fest angestellt arbeiten, kümmern sich private Betreiber meistens nicht um eine angemessene Betreuung der Flüchtlinge. Viele private Flüchtlingsheime befinden sich zudem baulich in einem desolaten Zustand. Auch die Verweigerung, eine Arbeitserlaubnis zu erteilen, ist eine kostenintensive Variante der Abschreckung. In Köln waren im Jahr 2000 nach Jäger und Rezo (2000) ein Drittel der bosnischen Flüchtlinge erwerbstätig und von Sozialhilfe unabhängig. Dieses Beispiel zeigt, dass auch in Bundesländern mit hoher Arbeitslosenquote ein nicht unbeträchtlicher Teil der Flüchtlinge sich selbst unterhalten kann. Stattdessen werden die Flüchtlinge gegen ihren Willen zu Sozialhilfe- bzw. Asylbewerberleistungsgesetzempfängern gemacht. Abgesehen davon, dass viele Flüchtlinge seelisch unter der Arbeitslosigkeit leiden, entsteht so in der Öffentlichkeit zu Unrecht das Bild des arbeitsunwilligen Flüchtlings.

Rückkehrprogramme Zwischen 1997 und 2000 setzte die Berliner Politik sogenannte »Unterstützungsprogramme« ein, um mittels finanzieller Anreize die Rückkehr zu fördern. Auch diese Programme basierten weder auf Absprachen mit dem UNHCR noch orientierten sie sich – mit wenigen Ausnahmen – an der tatsächlichen Situation © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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vor Ort. Ein Programm bot »Orientierungsreisen«, die den Flüchtlingen ermöglichen sollten, die Rückkehrbedingungen in ihren Heimatorten zu erkunden sowie Vorbereitungen für die Rückkehr zu treffen. Viele Flüchtlinge nutzten diese sehr sinnvolle Möglichkeit für eine Fahrt nach Bosnien. Ergab die Reise allerdings, dass die Flüchtlinge keine Rückkehrmöglichkeit sahen oder sie weiterer Unterstützung bedurft hätten, so gab es keine Möglichkeit, diese Informationen zurückzumelden. Sie konnten damit auch keiner Instanz oder Behörde vortragen, warum sie ihre Rückkehr als erschwert oder unmöglich einschätzten. Stattdessen verblieben die Flüchtlinge in einem noch unsichereren Status als zuvor (Mihok, 2001a). Ein weiteres Programm betraf finanzielle »Starthilfe« für zurückkehrende Flüchtlinge, die aus der serbischen Republik stammen. Diese »Starthilfe« nahmen zahlreiche Flüchtlinge an, ließen sich aber in der Föderation nieder. Bis zum Sommer 2000 erwies sich keines der geplanten »koordinierten Rückkehrprojekte in die Serbische Republik« als umsetzbar (Mihok, 2001a).

Abschiebungen Abschiebungen waren ein probates Mittel, nicht nur um einzelne Flüchtlinge konkret »zurückzubefördern«, sondern vor allem auch um massiven Druck auf die gesamte Gruppe der bosnischen Flüchtlinge auszuüben. Verglichen mit anderen Bundesländern setzte Berlin Abschiebungen eher moderat ein, besonders Bayern, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen übten mit überproportional vielen Abschiebungen früh Druck auf die Flüchtlinge aus, was dazu führte, dass in diesen Ländern Ende 1999 bereits nur noch 4 – 9 % der ursprünglichen Flüchtlinge verweilten. In Berlin wurden 1997 zum ersten Mal Flüchtlinge abgeschoben, damals betrafen die Abschiebungen 84 Personen. 1998 waren es 321 Personen, im Jahr 1999 wurden 244 und im Jahr 2000 229 bosnische Flüchtlinge abgeschoben (Blaschke u. Sabanovic, 2001; Mihok, 2001a). Dass von Abschiebungen auch immer Personen betroffen waren, deren Abschiebung rechtswidrig war, zeigt die Abschiebung von 74 Personen innerhalb von zwei Tagen am 9. und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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10. Juli 1998, unter denen sich 22 Personen mit Herkunftsorten in der Serbischen Republik befanden. Unter den in diesem Zeitraum insgesamt 137 festgenommenen Personen waren auch 53 Personen, deren Traumatisierung von der Ausländerbehörde schlicht übersehen worden war oder die die Weiterwanderung in die USA beantragt hatten. Eine solche Festnahme zu erleben, bedeutet in der Regel, nachts gegen vier oder fünf Uhr von der Polizei geweckt zu werden und in eine Gefangenensammelstelle oder in Abschiebegewahrsam gebracht und fortan als Häftlinge behandelt zu werden (Mihok, 2001a). Prekär an der erwähnten Abschiebeaktion ist auch das Datum: Das Massaker von Srebrenica fand fast auf den Tag genau drei Jahre zuvor statt, viele der Überlebenden leiden an den Jahrestagen in besonderem Maße. Aktionen dieser Art stießen regelmäßig auf erhebliche öffentliche Kritik, vorrangig von Seiten der Flüchtlingsverbände, der Kirchen und der psychosozialen Behandlungszentren. Für die Flüchtlinge bedeuten sie, dass jeder – unabhängig von der Länge der ausgesprochenen Duldung – Angst vor Abschiebungen hat, denn auch nicht unmittelbar von Abschiebemaßnahmen betroffene Flüchtlinge haben Freunde, Verwandte, Nachbarn oder Mitbewohner im Heim, die festgenommen oder abgeschoben wurden. In einigen Fällen wurden Kinder auch direkt aus dem Unterricht geholt. In jüngerer Vergangenheit betraf dies den bekannt gewordenen Fall eines 14-Jährigen, in Deutschland aufgewachsenen Mädchens, dessen Klasse der Neuköllner FritzKarsen-Schule schließlich erfolgreich seine Abschiebung verhindern konnte. Wie sehr politisches Vorgehen und moralischgesellschaftliche Vorstellungen in Bezug auf den Umgang mit Flüchtlingen auseinanderklaffen, zeigt auch, dass dieser Schulklasse schließlich für ihre Aktion der von der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft Berlin und dem Türkischen Elternverein vergebenen Mete-Eksi-Preis, mit dem die Verständigung zwischen deutschen und ausländischen Jugendlichen gefördert werden soll, verliehen wurde (Berliner Zeitung, 15. 11. 2004).19 19 Die Geschichte des Mädchens wurde außerdem Grundlage für ein Theaterstück des Berliner Gripstheaters, siehe www.hier.geblieben.net.

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Rückkehrerzahlen und Weiterwanderungen Von den ursprünglich ca. 320.000 bosnischen Flüchtlingen hielten sich 1999 nur noch 39.829 in Deutschland auf (Angabe des Innenministeriums nach Jäger u. Rezo, 2000), was bedeutet, dass bis dahin 89 % »freiwillig« oder gezwungen nach Bosnien zurückgekehrt oder weitergewandert waren. 2001 sank die Zahl der verbliebenen Flüchtlinge unter 20.000, gemessen an der Gesamtbevölkerung macht die Zahl der bosnischen Flüchtlinge in Deutschland damit 0,045 % aus – zum Vergleich: In Schweden sind es 0,595 % (Blaschke u. Sabanovic, 2001). Wie einmalig die deutsche Rückkehrpolitik war, zeigt die Tatsache, dass knapp 70 % der Flüchtlinge, die bis 1999 nach Bosnien-Herzegowina zurückkehrten, aus Deutschland kamen (Jäger u. Rezo, 2000). Nach Jäger und Rezo (2000) stellte eine Weiterwanderung in ein außereuropäisches Land für viele Flüchtlinge lediglich das »kleinere Übel« dar und war in vielen Fällen nicht positiv motiviert. Von Deutschland aus sind mehr als 40.000 bosnische Flüchtlinge weitergewandert, Hauptaufnahmeland waren die USA neben Australien, Kanada, Dänemark, Finnland und Schweden. Um in die USA weiterwandern zu können, müssen die Flüchtlinge bestimmte Bedingungen erfüllen. Neben dem zu erweisenden Flüchtlingsstatus und einer UNHCR-Empfehlung werden im U.S. Refugee Program die Anträge nach Prioritäten geprüft. Zu den Kriterien gehören: 1. 2. 3. 4.

das Leben in einer ethnisch gemischten Ehe, ehemaliger Lagerhäftling, Opfer von Folter oder schwerer Gewalt, Ehepartner von Personen der beiden vorgenannten Gruppen, die verstorben oder vermisst sind.

Sehr interessant im Hinblick auf die deutsche Flüchtlingspolitik ist hierbei, dass diese Kriterien nicht an das einer psychischen Traumatisierung geknüpft wurden, auch wenn implizit naheliegt, dass sie sich auf potenziell traumatisierte Personen beziehen. Die Flüchtlinge werden jedoch nicht in die äußerst problematische Situation gebracht, ein Trauma nachweisen zu müssen. Statt© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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dessen wird hier Schutz auf der Grundlage eines Verfolgungszusammenhangs gewährt. Eine solche politische Lösung wurde in Deutschland verpasst. Die wenigen abgelehnten Weiterwanderungsanträge aus den späten 1990er Jahren zeigen, dass die in Deutschland verbliebenen Flüchtlinge zunehmend diese sozialen Kriterien erfüllen, was bedeutet, dass sie zur Gruppe der weiterhin schutzbedürftigen Flüchtlinge zählen. Obwohl die USA ihr Programm zur Aufnahme bosnischer Flüchtlinge im Jahr 2000 fortgesetzt haben, duldete die Berliner Verwaltung den weiteren Aufenthalt der im Weiterwanderungsverfahren befindlichen Flüchtlinge nicht mehr und verwehrte ihnen damit die Chance auf Weiterwanderung. Denn eine solche darf nur von einem Drittland aus realisiert werden, da ansonsten die Flüchtlingseigenschaft nicht mehr anerkannt werden kann (Jäger u. Rezo, 2000).

2.3 Die »Traumaregelung«: Trauma als Bleiberechtskriterium Der Konflikt zwischen dem Aufnahmeland Deutschland und den bosnischen Flüchtlingen hätte vermieden oder zumindest erheblich entschärft werden können, wenn zum einen die soziale und biographische Situation sowie die UNHCR-Empfehlungen berücksichtigt worden wären und wenn den Flüchtlingen nicht per se eine Rückkehrunwilligkeit unterstellt worden wäre. Dass eine Rückkehr zumindest in Einzelfällen und auf freiwilliger Basis unter Umständen auch an einen mit extrem traumatisierenden Erfahrungen verknüpften Ort wie Srebrenica erfolgt, zeigen erste Erfahrungen aus dieser Region. Die Rückkehr von bosnisch-muslimischen Flüchtlingen nach Srebrenica begann allerdings erst im Jahr 2001. Ihr vorausgegangen war die Errichtung eines Gedenkzentrums, das heißt, nicht nur Zeit, sondern auch eine sichtbare Anerkennung der Geschehnisse waren eine Voraussetzung für diese Entwicklung. Laut Angaben der Gesellschaft für bedrohte Völker handelt es sich bei den Rück© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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kehrern vor allem um ältere Frauen, sie lassen sich zumeist in der Nähe des Gedenkzentrums nieder.20 Nach Schilderung dieser Umstände, besteht die Frage, warum es des Traumabegriffes bedurfte, um schutzbedürftigen bosnischen Flüchtlingen schließlich eine Aufenthaltsbefugnis zu gewähren: »Der hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen weist daraufhin, dass die meisten Personen, die derzeit temporären Schutz genießen, vermutlich Anspruch auf die Anerkennung als Flüchtling nach dem Abkommen der Rechtsstellung von Flüchtlingen nach 1951 und dem zugehörigen Protokoll von 1967 gehabt hätten, wenn sie zum Zeitpunkt der Ankunft in ihren derzeitigen Aufnahmeländern individuelle Asylverfahren durchlaufen hätten« (Jäger u. Rezo, 2000, S. 108).

Wäre die Innenministerkonferenz diesem Hinweis gefolgt, dann hätte sich für die Mehrheit der Ende der 1990er Jahre im Land verbliebenen Flüchtlinge eine tatsächlich politische Lösung ergeben. Stattdessen wurden den bosnischen Flüchtlingen individuelle Asylverfahren oder eine angemessene Gruppenlösung verweigert. Dass die »Rückkehrpolitik« nicht noch konsequenter betrieben wurde, beruht im Wesentlichen auf dem Engagement gesellschaftlicher Kräfte und Gruppen, die um eine Lösung für die bosnischen Flüchtlinge stritten.21 Flüchtlings- und Men20 »Bis heute sind etwa 4.500 Vertriebene in die Dörfer rund um Srebrenica und etwa 200 Familien nach Srebrenica selbst zurückgekehrt. Die GfbV hat 159 Kühe, 170 Schafe, 25 Ziegen, sechs Motokultivatoren und Saatgut für sechs Dörfer verteilt. Diese Hilfe ist von außerordentlicher Bedeutung, denn sie hat diesen Menschen die Möglichkeit einer dauerhaften Rückkehr eröffnet« aus: Gesellschaft für bedrohte Völker : http:www.gfbv.ch/archiv/leseproben/vielfalt58 – 3.html, abgerufen am 8. Juni 2006. 21 Auch innerhalb der Parteien war dabei der politische Wille durchaus gespalten, wie beispielsweise eine Bundestags-Rede des CDU-Politikers Christian Schwarz-Schilling, Internationaler Streitschlichter für BosnienHerzegowina und Vorsitzender des Ausschusses für Menschenrechte, im Jahr 2000 zeigt: Die Flüchtlinge hätten »aufgrund dessen, was ihnen passiert ist, ein Recht in Frieden zu leben […]. Es gibt jetzt nicht mehr viele

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schenrechtsorganisationen sowie Behandlungszentren für Folteropfer und Flüchtlinge, Beratungsstellen und die Kirchen haben sich von Anfang an sehr engagiert für die Flüchtlinge eingesetzt und suchten nach Möglichkeiten, für die Flüchtlinge ein Bleiberecht zu erwirken. Es lag dabei nahe, auf die Traumatisierung vieler Flüchtlinge hinzuweisen: Zum einen erfuhren gerade die mit den Flüchtlingen arbeitenden Therapeut/-innen tagtäglich nicht nur von den oft sehr schweren Traumatisierungen, beispielsweise von ehemaligen Lagerhäftlingen oder Überlebenden von Srebrenica, sondern erlebten auch, wie Traumatisierungen aufgrund der fortgesetzt existenziell unsicheren Situation aufrechterhalten wurden bzw. wie viele Flüchtlinge immer wieder in neue, schwere psychische Krisen gerieten. Oft war es gar nicht möglich, Kriegs- und Fluchterlebnisse zu besprechen oder gar therapeutisch zu bearbeiten, da die existenzielle Frage des Aufenthaltes und die Angst vor Abschiebungen im Vordergrund stand. Die Therapie oder Beratung geriet zur Dauerkrisenintervention (Rössel-Cunovic, 1999). Zum anderen ging der Begriff »Trauma« im Zusammenhang mit dem Jugoslawienkrieg in die Medien- und Alltagssprache ein. Auch bei politisch Verantwortlichen und auf Verwaltungsebene existierte damit zumindest eine vage Vorstellung über psychische Traumatisierungen. In dieser Situation gelang es immer wieder, durch die Ausstellung von Gesundheitszeugnissen Abschiebungen im Einzelfall zu verhindern. Dieser Weg war bereits zu Beginn der 1990er Jahre eingeschlagen worden. Aufgrund der damaligen Einengung des Asylrechtes für Personen, die Folter und extreme Gewalt erlitten hatten, denen aber keine Wiederholung staatlicher Verfolgung im Herkunftsland drohte, bestand ein Möglichkeit der Schutzgewährung nur noch, indem man individuell und mit gesundheitlichen Folgen argumentierte (Groninger, 2006). Zur Sicherung des Flüchtlingsstatus wurden damit gesundheitliche bzw. klinisch-psychologische Kriterien herangeFlüchtlinge bei uns und wir sollten denjenigen, die jetzt noch hier sind, das Leben nicht so erschweren und sie nicht in Angst und Panik versetzen« (Rede im Bundestag, Berlin, vom 6. 7. 2000, siehe http://dip21.bundestag. de/dip21/btp/14/109/14114109.14.pdf zuletzt aufgerufen am 10. 12. 2008). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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zogen. Den rechtlichen Rahmen dafür bieten sowohl das Grundgesetz (Artikel 2, Absatz 2), das das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit festlegt, als auch das Ausländerrecht, in dem es allerdings nur als Kann-Regelung mit Bezug auf die Genfer Flüchtlingskonvention in § 53.6 (1) heißt: »Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat kann abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche, konkrete Gefahr für Leib, Leben und Freiheit besteht« (zitiert nach Groninger, 2006, S. 3).

Im Zusammenhang mit den bosnischen – und später kosovarischen – Flüchtlingen avancierte »Trauma« schließlich zum Bleiberechtskriterium. Erstmals wurde eine Gruppe der »Traumatisierten« konstruiert und schließlich, im November 2000, mit der sogenannten »Traumaregelung« ausländerrechtlich festgeschrieben. In dieser »Traumaregelung« beschloss die Innenministerkonferenz nach jahrelanger hartnäckiger politischer Arbeit von Flüchtlingsorganisationen und Behandlungszentren, traumatisierten Flüchtlingen eine Aufenthaltsbefugnis für jeweils zwei Jahre zu erteilen. Zuvor waren auch schwer traumatisierte Personen dem beschriebenen Rückkehrdruck ausgesetzt, wenn ihnen auch immer wieder in Aussicht gestellt worden war, dass ihre psychische Situation berücksichtigt werde. So wurden sie beispielsweise im sogenannten Rückführungserlass von 1996 aus der ersten Phase der »Rückführungen« nach Bosnien ausgenommen (Rössel-Cunovic, 1999). In Berlin erhielten »Traumatisierte« zumeist eine Duldung für zwölf Monate anstelle der üblichen drei Monate, aber auch dies wurde unterschiedlich gehandhabt, so dass sich die Flüchtlinge hier nicht auf eine einheitliche und für sie einschätzbare Praxis verlassen konnten. Auch wenn rückblickend viele der »traumatisierten« Flüchtlinge »immer wieder bleiben durften«, waren und sind sie demselben undurchsichtigen Vorgehen der Politik und der Verwaltung ausgesetzt wie die Gruppe der bosnischen Flüchtlinge insgesamt. In Berlin kam es wiederholt zu Fällen, in denen Flüchtlinge fälschlicherweise ihre Trau© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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matisierung nicht geltend machen konnten und die teilweise sogar abgeschoben wurden. Die Verknüpfung von Bleiberecht und dem Vorliegen einer Traumatisierung hat sich allerdings als höchst problematisch erwiesen. In Fachkreisen, wie der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer, wird bereits gefragt, ob es sich bei der »Traumaregelung« um eine »Errungenschaft« oder eine »Sackgasse« handelt (BAFF, 2006). Es besteht zwar nun ein rechtlicher Rahmen, um die psychische Befindlichkeit der Flüchtlinge bezogen auf ihren Aufenthaltsstatus zu berücksichtigen, andererseits lässt die gegenwärtige Praxis, vor allem der Umgang mit Gutachten, fragen, ob hier nicht »psychologische Fachkenntnisse für politisch nicht gefundene Lösungen missbraucht werden« (BAFF, 2006, S. 12).22 Abgesehen davon, dass diese Regelung sehr spät kam und dann in den Ländern nur sehr schleppend umgesetzt wurde, ist »Trauma« aus folgenden Gründen kein geeignetes Bleiberechtskriterium: 1. Die Frage des Bleiberechts ist nun an das glaubhafte Vorliegen einer Traumatisierung geknüpft. Damit entsteht die Frage, wie eine Traumatisierung rechtskräftig nachgewiesen und begutachtet werden kann. Von Verwaltungsseite blieb die Praxis jedoch weiterhin darauf ausgerichtet, möglichst alle Flüchtlinge zurückzuschicken. Dabei hielt sich, als es endlich – fünf Jahre nach Dayton – zu einer Regelung kam, bereits nur noch ein Bruchteil der Flüchtlinge in Deutschland auf. Dennoch verlief die Anerkennung der Flüchtlinge äußerst schleppend und wiederholt wurden Fachgutachten über Traumatisierungen nicht anerkannt. Noch heute sind Anträge offen, obwohl es sich nur um die Umsetzung einer Regelung handelt. Indem Mitarbeiter der Ausländerbehörde und zum Teil auch 22

Siehe hierzu ausführlich den genannten Band der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAFF, 2006), der sich ausführlich mit der Begutachtung traumatisierter Flüchtlinge und den damit verbundenen Schwierigkeiten beschäftigt, sowie zur Entstehung der »Traumaregelung« den Artikel von Kathrin Groninger (2006). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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2.4 Fazit

Juristen Gutachten nicht anerkennen, geht das Ringen um den Umgang mit den Flüchtlingen weiter. Im Mittelpunkt steht nun nicht mehr die Frage, wer bleiben darf, sondern wer behördlich anerkannt als traumatisiert gilt. Auf administrativer Seite hat sich dabei in problematischer Weise weitgehend eine verkürzte an dem Symptombild der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD) orientierte Vorstellung dessen, was ein Trauma ist, durchgesetzt. 2. Die »Traumaregelung« birgt ein weiteres, gravierendes Problem: Es werden nicht nur auf hochproblematische Weise politische Entscheidungen an eine psychiatrische Konvention geknüpft, sondern auch das Aufenthaltsrecht an »Krankheit«. Bessert sich der psychische Zustand des Flüchtlings, besteht kein Grund für weiteren Aufenthalt in Deutschland. Therapeutische Prozesse werden damit ad absurdum geführt, die Flüchtlinge werden nicht integriert, sondern pathologisiert. 3. Für die Frage, wie ein Flüchtling seine Erfahrung von Krieg und Flucht erlebt, wird es nun existenziell wichtig, ob dieses Erleben einem von außen vorgegebenem Bild psychischer Traumatisierung entspricht oder nicht. Dieser Umstand greift damit unmittelbar in das subjektive Erleben ein und bestimmt möglicherweise, wie dieses nach außen kommuniziert wird. Mit der »Traumaregelung« wird damit – nach vielen Jahren – weiterhin nur vordergründig anerkannt, was die Gruppe der traumatisierten Flüchtlinge erlebt hat.

2.4 Fazit Die »Traumaregelung« zeigt, welchen Stellenwert der Traumabegriff im Flüchtlingsbereich mittlerweile einnimmt. Gleichzeitig dokumentiert die Darstellung der deutschen Flüchtlingspolitik, dass die persönliche und soziale Situation bei potenziell traumatisierten Flüchtlingen über Jahre nicht berücksichtigt, sondern zusätzlicher Druck aufgebaut wurde. Es zeigt sich auch, dass die Frage des Umgangs mit Flüchtlingen bei verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen mit sehr ungleichen Vorstellungen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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verbunden ist, die kaum miteinander vereinbar zu sein scheinen. Solche Phänomene lassen sich bereits historisch im Umgang mit dem Thema »Trauma« nachzeichnen. Entsprechend bezieht sich das folgende Kapitel auf die Forschungsgeschichte zu »Trauma« und eine detaillierte Begriffsklärung. Letztere soll sowohl dazu beitragen zu erläutern, warum der Traumabegriff so ungeeignet als politisches Kriterium ist, als auch die Frage klären, welche komplexen psychischen und psychosozialen Prozesse bei Traumatisierungen zum Tragen kommen.

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3 Trauma – eine kritische Begriffsbestimmung »I shall remember not to confuse my own with the victim’s appraisal of the happening.« (A. Freud, 1967) »Trauma ist als individueller und sozialer Prozess eine Realität und gleichzeitig als wissenschaftliches Konstrukt eine Erfindung.« (Becker, 2006, S.177)

3.1 Forschungsgeschichte und Begriffsentwicklung23 Was ist Trauma und warum existieren so unterschiedliche Vorstellungen darüber? Trauma ist ein klinisch-empirischer Begriff, dessen Bestimmung von konkreten Fällen abhängt und der damit problematischerweise theoretisch unscharf bleibt. Da per Definition einem äußeren Ereignis eine ätiologische Relevanz zugeschrieben wird, sind Vorstellungen und Modelle zum Trauma eng an bestimmte Patientengruppen oder historische Ereignisse gebunden. Für die Theoriebildung war insbesondere die Auseinandersetzung mit sexuellem Missbrauch und mit dem Holocaust24 entscheidend. Hermann Oppenheim, dem die Übertragung des Traumabe23

Dieses Kapitel ist eine überarbeitete und ergänzte Version von Lennertz, I. (2006): Trauma-Modelle in Psychoanalyse und klinischer Psychologie. In: texte. psychoanalyse. ästhetik. kulturkritik, 3, S. 77 – 106. 24 Ich verwende den Begriff »Holocaust«, der sich für die Bezeichnung des Genozids an den Juden im deutschen Sprachraum durchgesetzt hat, auch wenn mir bekannt ist, dass viele Überlebende selbst diesen Begriff ablehnen, da er das im Feuer restlos aufgegangene Tieropfer bezeichnet und ihnen in diesem Sinne falsch erscheint. Martin Wangh bemerkt dazu, dass der Begriff die Schuld der Deutschen abwehrt, indem ihre Entscheidung an Gott abgegeben würde, die Verwendung des Begriffes »Shoah« (Katastrophe) als ein im deutschen Sprachraum fremder Begriff jedoch genauso der Abwehr dienen könne (siehe hierzu Carl Nedelmanns Nachwort zu Hillel Klein, 2003). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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3 Trauma – eine kritische Begriffsbestimmung

griffes aus der Chirurgie, in der Trauma eine Verletzung mit Gewebsdurchtrennung bezeichnet, auf die psychische Ebene zugeschrieben wird, beschäftigte sich beispielsweise mit den Folgen von Zugunglücken (railway spine). Seine Beobachtungen fasste er 1889 in dem Buch »Die traumatischen Neurosen« zusammen (Dreßing u. Berger, 1991; Leys, 2000, ein kurzer Überblick zu Vorläufer-Konzepten findet sich bei Young, 1995). Oppenheims weit berühmtere Zeitgenossen Sigmund Freud, Josef Breuer, Pierre Janet und Morton Prince dagegen forschten – zumindest zunächst – zur Hysterie und verwendeten den Traumabegriff in diesem Zusammenhang. Weitere Anfänge und zentrale Konzepte der Traumaforschung sind neben Hysterieforschung und Psychoanalyse in so unterschiedlichen Gebieten wie der Militärpsychiatrie, der physiologisch orientierten Stressforschung und später der Holocaustforschung zu finden. Bereits zu Beginn der Traumaforschung standen damit diverse, auf theoretischer Ebene unterschiedlich gut ausgearbeitete Vorstellungen zum Trauma nebeneinander. Bis heute nehmen relevante Konzepte oft nur partiell Bezug aufeinander und sind damit schwer miteinander zu vergleichen, zusammengenommen verweisen sie auf die höchst unterschiedlichen Dimensionen von Trauma. Aufgrund dieser verschiedenen Ansätze und der gerade in den letzten Jahren entstandenen Literaturfülle lässt sich die Traumaforschung zur Zeit kaum überblicken. Ich beschränke meinen Überblick von daher auf die Beschreibung wesentlicher Eckpunkte der Entwicklung der psychoanalytischen Traumatheorie (siehe hierzu auch Bohleber, 2000 u. 2003), anhand derer nicht nur die Komplexität traumatischer Prozesse deutlich wird, sondern die auch die Schwierigkeit einer Theoriebildung in diesem Bereich abbildet. Die erwähnten Konzepte und Begriffe sind nicht nur nach wie vor Bestandteil aktueller theoretischer und therapeutischer Ansätze, sondern machen auch deutlich, warum im Zusammenhang mit Flüchtlingsbiographien das derzeit in der psychologischen Forschung dominante Konzept der Posttraumatic Stress Disorder (PTSD), auf das ich anschließend eingehe, sehr kritisch diskutiert wird. Vielfältig rezipiert und ebenfalls sehr kontrovers eingeschätzt wird der Erkenntnisgewinn, den © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

3.1 Forschungsgeschichte und Begriffsentwicklung

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neurowissenschaftliche Untersuchungen der Traumaforschung bringen können. Diese Diskussion stelle ich am Ende des Kapitels vor. Eine Schwierigkeit für die Begriffsbestimmung besteht darin, dass sich »Trauma« sowohl auf ein erlebtes »Ereignis« als auch auf seine »Folgen« bezieht, die in einer spezifischen Relation zueinander stehen (Fischer u. Riedesser, 1998). Demzufolge kann weder ein Ereignis als traumatisch bezeichnet werden, höchstens als potenziell traumatisch oder traumatogen, noch eine subjektive Reaktion als solche. Lorenzer (1968) schlägt zur begrifflichen Differenzierung deshalb vor, nicht von traumatischen Ereignissen, sondern von traumatischen Erlebnissen zu sprechen, um so generell das »Ereignis« vom biographischen Kontext des betroffenen Subjektes aus zu erfassen. Obwohl eine Traumadefinition die Beschreibung dieser doppelten Bezogenheit auf Ereignis und Folgen leisten muss, werden in diversen Traumamodellen und den theoretischen Debatten häufig entweder das »objektive Ereignis« oder die »subjektiv erlebten Folgen« stärker gewichtet. Die Frage nach dem »Anteil« des Ereignisses bzw. des betroffenen Subjektes lässt sich aber auf einer allgemeinen Ebene nicht lösen, sondern es ist notwendig, das jeweilige Zusammenspiel innerer und äußerer Komponenten zu betrachten. Grundsätzlich kann die von außen betrachtet gleiche Situation von einer Person als traumatisch erlebt werden und von einer anderen nicht. Damit lässt sich jedoch nur anhand der psychischen Reaktionen entscheiden, ob ein Ereignis von einer Person traumatisch erlebt wurde. Bestimmte extreme Situationen, wie etwa der Holocaust oder andere sogenannten man made disaster, bei denen Prozesse der Dehumanisierung stattgefunden haben, werden dabei von vielen Autoren als Ausnahme betrachtet. Bei solchen Ereignissen wird unterstellt, dass es sich um Erlebnisse handelt, die sehr wahrscheinlich auf jeden Betroffenen traumatisch wirken.25 Einige Autoren schlagen deshalb weitere Begriffe 25 Davon ist meines Erachtens auch bei sexuellem Missbrauch auszugehen, auch wenn hier nicht unbedingt Todesnähe und Dehumanisierungsprozesse involviert sind. Ich beschränke meine Darstellung jedoch

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wie Extremsituation (Bettelheim) oder Extremtraumatisierung (Grubrich-Simitis) vor, um diese Situationen deutlich zu kennzeichnen.26 Im Gegensatz dazu spricht sich Hillel Klein (2003) generell dagegen aus, von einer Erfahrung auf ein Trauma zu schließen, da dies die Subjektivität der Betroffenen entwürdige. Die Shoah bezeichnet er als potenziell traumatisch.

Definitionen Eine der am häufigsten zitierten psychoanalytischen Traumadefinitionen findet sich bei Laplanche und Pontalis (1999), die die zentralen Gedanken Freuds, auf die ich im Anschluss eingehen werde, zusammenfassen: »Ereignis im Leben eines Subjektes, das definiert wird durch seine Intensität, die Unfähigkeit des Subjektes, adäquat darauf zu antworten, die Erschütterung und die dauerhaft pathogenen Wirkungen, die es in der psychischen Organisation hervorruft« (Laplanche u. Pontalis, 1999, S. 513).

Fischer und Riedesser (1998) kommen im Lehrbuch der Psychotraumatologie zu einer etwas moderner formulierten, aber in den Grundzügen ähnlichen Definition: hier und im Folgenden weitgehend auf Beispiele im Zusammenhang mit Krieg und Flucht. 26 An diese Überlegungen knüpft sich auch die Frage, ob es generell sinnvoller wäre, spezifische Traumamodelle für den jeweiligen Untersuchungszusammenhang zu entwickeln, oder ob allgemeine Traumamodelle entworfen werden können, die sich dann jedoch problematischerweise auf im Grunde nicht vergleichbare traumatogene Ereignisse, wie etwa Verkehrsunfälle, sexueller Missbrauch, Naturkatastrophen etc. beziehen. Ein Beispiel für ein umfassendes Traumamodell, mit dem versucht wird, den Prozess der Traumatisierung unabhängig von der Art des traumatogenen Ereignisses zu beschreiben, findet sich bei Fischer und Riedesser (1998). Da sie den Prozesscharakter traumatischen Geschehens und die Beziehung des Subjekts zur Umwelt in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellen, gelingt ihnen die Übertragung des Modells auf konkrete Einzelfälle, auch wenn diese teilweise etwas schematisch ausfällt. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

3.2 Trauma als Leiden an Reminiszenzen

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»Vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt« (Fischer u. Riedesser, 1998, S. 79).

Auch sie beschreiben damit die Verknüpfung zwischen äußerem Ereignis und individueller Reaktion. Ein weiteres gemeinsames Merkmal verschiedener Definitionen ist die Betonung der dauerhaften Folgen und des Prozesscharakters, der ein wesentliches Charakteristikum eines Traumas ist. Traumatische Reaktionen verlaufen oft in verschiedenen Phasen, Fischer und Riedesser (1998) sprechen deshalb auch von einem Verlaufsmodell der psychischen Traumatisierung: »Das Trauma ist nicht vorbei, wenn die traumatische Situation oder das traumatische Ereignis vorüber ist« (S. 44).

3.2 Trauma als Leiden an Reminiszenzen: Hysterieforschung »Es scheint zunächst wunderlich, dass längst vergangene Erlebnisse so intensiv wirken sollen.« (Freud u. Breuer, 1895)

Betrachtet man die Anfänge der Traumaforschung, dann sind für die vorliegende Arbeit vor allem zwei Aspekte interessant: Erstens wird die erwähnte enge Verknüpfung mit dem jeweiligen gesellschaftlich-historischen Kontext deutlich und zweitens behandelten Janet, Freud und Breuer, die die Grundsteine für die Traumaforschung legten, zwar erwachsene Patient/-innen, deren erlebte Traumata jedoch in der Kindheit lagen. Besonders bezogen auf die Erinnerung traumatischer Erlebnisse und den Verlaufscharakter von Traumatisierungen finden sich hier wichtige Hinweise. Zudem lässt sich an der Geschichte der Traumaforschung der gesellschaftliche Umgang mit Traumata ablesen: Einige Autoren bezeichnen diese Geschichte analog zur individuellen Traumaverarbeitung als eine Geschichte mit »periodischen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Amnesien« (Herman, 1994, S. 39): Phasen mit großem Interesse an dem Thema wechseln mit Perioden ab, in denen anscheinend das bereits vorhandene Wissen wieder »vergessen« wurde (Herman, 1994; Leys, 2000; van der Kolk, McFarlane u. Weisaeth, 1996). Gerade die lange Zeitdauer, bis bereits vorhandenes Wissen auf die Überlebenden des Holocaust angewendet wurde, spricht dafür, dass hier tatsächlich auch gesellschaftliche Reaktionen und Verleugnungsprozesse im Umgang mit Traumatisierten zum Tragen kommen und es sich nicht nur um den üblichen Wechsel von Themen und Paradigmen innerhalb einer Scientific Community handelt. Eine erste Phase intensiver Beschäftigung mit dem Thema Trauma war die Hysterieforschung am Ende des 19. Jahrhunderts, die als Anfangspunkt der modernen Traumaforschung gilt. Dem Pariser Neurologen Jean-Martin Charcot gelang es nachzuweisen, dass die Symptome der Hysterikerinnen, die bis dahin als Simulantinnen galten, psychisch bedingt sind, denn er konnte hysterische Symptome im Zustand der Hypnose ebenso hervorrufen wie beseitigen. Zwischen 1880 und 1900 gab es zahlreiche wissenschaftliche Veröffentlichungen zu diesem Thema, nicht zuletzt von den beiden bekannten Charcot-Schülern Sigmund Freud und Pierre Janet. Im Gegensatz zu Charcot widmeten sie sich allerdings weniger den Symptomen der Hysterie, sondern erforschten intensiv die innerpsychischen Vorgänge. Sowohl Freud als auch Janet kamen dabei zu dem Schluss, dass hysterische Symptome durch frühkindliche Traumatisierungen hervorgerufen werden. Der Zusammenhang zwischen traumatischen Erlebnissen in der Kindheit und späteren psychischen Problemen bzw. psychopathologischer Erkrankung ist inzwischen vielfach belegt (siehe z. B. van der Kolk et al., 1996). Aktuelle Ansätze in der Traumaforschung beziehen sich sowohl auf Freud als auch auf Janet, wenngleich sich ihre Gedanken zum Trauma zu ihrer Zeit kaum durchsetzten: Freud änderte selbst seinen Interessenschwerpunkt, indem er an seiner sogenannten Verführungstheorie zu zweifeln begann und sich intensiv der Entwicklung seines Triebmodells widmete. Janets Ansätze gerieten mit dem allgemein schwindenden Interesse an der Hysterie für lange Zeit in Vergessenheit. Dieses »Vergessen« © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

3.2 Trauma als Leiden an Reminiszenzen

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führt Judith Herman vor allem auf soziale und politische Umstände zurück, insbesondere Freuds Hinweis auf den in der Tat verbreiteten sexuellen Missbrauch verhinderte eine Durchsetzung der damaligen Traumatheorien (Herman, 1994). Freuds Überlegungen zu Trauma sind deshalb so einflussreich, weil er die wichtigsten Charakteristika des Traumas beschreibt und zentrale Begriffe prägt. Innerhalb der Psychoanalyse spielen Freuds frühe Arbeiten zu Trauma darüber hinaus eine besondere Rolle, da sie den Ausgangspunkt für die Entwicklung der Psychoanalyse als eigenständige Disziplin bilden. Freud selbst hat seine Überlegungen zur Traumatheorie immer wieder verändert und weiterentwickelt, wobei die einzelnen Konzepte kein ausgearbeitetes Theoriegebäude ergeben. Relevant für Freuds Vorstellungen über das Trauma sind vor allem die sogenannte Verführungstheorie und die Begriffe Nachträglichkeit, Reizschutz, Wiederholungszwang, Todestrieb und automatische Angst (Baranger, Baranger u. Mom, 1988; Bohleber, 2003; Leys, 2000). Freud fand in der Arbeit mit seinen Patientinnen heraus, dass ihre Symptome jeweils auf ein frühes traumatisches Erlebnis, nämlich sexuellen Missbrauch in der Kindheit, zurückgingen. Dieser Zusammenhang war den Betroffenen selbst allerdings nicht bewusst und konnte nur durch Hypnose wieder hergestellt werden (Bergmann, 1996). Damit erkennt Freud ein zentrales Kennzeichen von traumatischen Erlebnissen: die gestörte Erinnerung. Dass seine Patientinnen selbst sich nicht willkürlich an das traumatische Erlebnis erinnern können, erklärt er damit, dass diese Erinnerungen zu schmerzhaft seien, als dass sie im Bewusstsein bleiben können, sie müssen verdrängt werden.27 27 Freud schloss aus seinen Beobachtungen allerdings nicht nur, dass Hysterie traumatisch bedingt sein kann, sondern nahm an, dass jede Hysterie auf sexuellen Traumatisierungen in der Kindheit beruhe: »Ich stelle also die Behauptung auf, zugrunde jedes Falles von Hysterie befinden sich – durch die analytische Arbeit reproduzierbar, trotz des Dezennien umfassenden Zeitintervalles – ein oder mehrere Erlebnisse von vorzeitiger sexueller Erfahrung, die der frühesten Jugend angehören. Ich halte dies für eine wichtige Enthüllung, für die Auffindung eines caput Nili der Neuropatho-

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Verdrängung versus Dissoziation Während Freud von »Verdrängung« spricht, verwendet Janet den Begriff der Dissoziation, der auch heute für viele Autor/-innen zentral ist.28 Verdrängung und Dissoziation werden teilweise in der Literatur synonym verwendet und damit nicht immer voneinander abgegrenzt. Eine Unterscheidung beider Phänomene erscheint mir allerdings insofern sinnvoll, als dass beide Vorgänge auf jeweils unterschiedlichen Annahmen über Gedächtnisprozesse beruhen und es aktuell eine wichtige Frage ist, ob man die Definition des Traumabegriffes an das Vorliegen dissoziativer Prozesse knüpft oder ob Dissoziation nur eine mögliche Verarbeitung von traumatischen Erlebnissen darstellt. Bei dem Konzept der Verdrängung wird von einem kontinuierlichen Bewusstseinssystem ausgegangen, innerhalb dessen Freud die Unterscheidung in Bewusstes und Unbewusstes trifft. Verdrängung setzt zumindest eingangs einen aktiven Vorgang voraus, ein »absichtliches« Vergessen, aus dem erst im Anschluss die Spaltung in unbewusst/bewusst resultiert (Laplanche u. Pontalis, 1999). Damit verläuft der Prozess der Enkodierung (Einspeicherung) ins Gedächtnis nicht anders als bei anderen logie« (Freud, 1896, S. 439). Da er in diesem Zusammenhang davon spricht, dass das Kind vom Erwachsenen »verführt« werde, wird diese Theorie in der Literatur auch als Verführungstheorie bezeichnet. Im Grunde handelt es sich aber vielmehr um eine Hysterie-Theorie und der Begriff »Verführung« birgt die Gefahr, den tatsächlich gemeinten Gewaltzusammenhang, den man heute als sexuellen Kindesmissbrauch bezeichnen würde, zu verschleiern (Krutzenbichler, 1998). An der behaupteten Allgemeingültigkeit seiner These zweifelte Freud bald selbst. Bereits ein Jahr nach der Aufstellung seiner Theorie wendete er sich wieder von ihr ab, was oft als »Aufgabe« der Verführungstheorie bezeichnet wird. Einige Freud-Kritiker/-innen haben daraus geschlossen, dass er damit jegliche Wirkkraft realer Traumatisierungen in Frage stelle und auf diese Weise die »Hysterikerinnen« wieder in das Reich der Simulantinnen verweise. Freud betonte jedoch immer wieder, keinen Zweifel an der Tatsache des realen Missbrauchs zu haben und auch nicht die psychischen Folgen solcher und anderer traumatischer Erlebnisse in Zweifel zu ziehen (Nitzschke, 1998). 28 Breuer und Freud gingen zunächst wie Janet auch von der Dissoziation aus (siehe hierzu Eckhardt-Henn, 2002; Hantke, 1999). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Erlebnissen auch, aber es fehlt die Möglichkeit, bewusst auf die Erinnerungen zurückgreifen zu können. Bezogen auf ein traumatisches Erlebnis ist die Verdrängung damit zeitlich dem Moment des Erlebens nachgeordnet (von Hinckeldey u. Fischer, 2002). Der Vorgang der Verdrängung setzt außerdem eine zumindest teilweise intakte psychische Struktur, psychoanalytisch gesprochen Ich-Stärke, voraus, da anders die angenommenen erforderlichen Aktivitäten, wie Enkodieren und Verdrängen, nicht möglich wären. Mit Dissoziation wird dagegen im Zusammenhang mit einem Trauma ein Prozess bezeichnet, der während der traumatischen Situation abläuft, also zeitlich parallel. Unter Dissoziation versteht man einen veränderten Bewusstseinszustand, der durch die teilweise oder völlige Desintegration psychischer Funktionen, wie Identitätsbewusstsein, Wahrnehmung von Selbst und Umwelt, Erinnern, sowie von Empfindungen gekennzeichnet ist (Eckhardt-Henn, 2002).29 Hypnose beispielsweise wird auch als eine kontrollierte Form der Dissoziation beschrieben. Normalerweise integrierte und bewusst zugängliche mentale Prozesse laufen fragmentiert und automatisch ab. Im Gegensatz zur Verdrängung ist bei diesem Prozess das Ich nicht mehr intakt und kann die unterschiedlichen psychischen Funktionen nicht in einem einzigen Bewusstseinszustand integrieren. Dies führt entsprechend zu einem spezifischen Enkodierungsprozess: Dissoziierte Erinnerungen sind ebenfalls fragmentiert, in voneinander getrennten Systemen gespeichert und nicht willkürlich abrufbar (von Hinckeldey u. Fischer, 2002). Die Unfähigkeit zu erinnern, beruht bei der Dissoziation auf einer nur fragmentiert vorhandenen Repräsentation des Traumas, bei der Verdrängung dagegen auf einem Abwehrprozess. Dissoziative Phänomene sind in den vergangenen Jahren intensiv erforscht worden und gelten vielen Forschern als patho29

Dissoziative Phänomene lassen sich auf einem Kontinuum anordnen und sind keineswegs per se als pathologisch zu betrachten. Die »mildeste« Form der Dissoziation ist der Tagtraum, während ausgeprägte Formen bei einer Trance (als intendierte Dissoziation) oder bei der »Dissoziativen Identitätsstörung« (Multiple Persönlichkeit) zu beobachten sind. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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gener Kernmechanismus bei Traumatisierungen. Dabei wird davon ausgegangen, dass es sich bei der Dissoziation zunächst um einen Schutzmechanismus handelt, der vor Konfrontation mit einem nicht bewältigbaren Schmerz bewahrt. Es werden aber nicht nur Affekte abgespalten, sondern im Zweifelsfall auch das Wissen, dass das Trauma einem selbst passiert ist. Häufig berichten etwa Personen, die als Kinder missbraucht worden sind, von Derealisierungs- oder Depersonalisierungsphänomenen, wie z. B. dem Eindruck, das alles passiere jemand anderem oder sie schwebten als unbeteiligter Beobachter über der Szene. Den Betroffenen ist es dadurch auch rückblickend erschwert, zwischen Realität und Phantasie unterscheiden zu können, wenn sie sich an traumatische Erlebnisse erinnern. Janet geht in diesem Kontext von zwei verschiedenen Gedächtnissystemen aus, einem »narrativen Gedächtnis« und einem »traumatischen Gedächtnis«. Damit versucht er zu beschreiben, dass Erinnerungen an Traumata anders gespeichert werden und dieser qualitative Unterschied bewirke, dass das Trauma nicht erzählt werden könne. Auf dieser Vorstellung beruhen einige gegenwärtig populäre Traumaansätze, wie bspw. der von van der Kolk (1998a).

3.3 Trauma als zeitlicher Prozess und in der Entwicklung: Nachträglichkeit Freud stellt bereits in den Studien über Hysterie (Freud u. Breuer, 1895) fest, dass häufig nicht ein einmaliges sexuelles Verführungserlebnis bei seinen Patienten zum Trauma führte, sondern sich die traumatische Qualität erst aus der Beziehung von zwei unterschiedlichen Ereignissen zueinander ergab: Auf ein in der frühen Kindheit erlebtes Verführungserlebnis, das von dem Kind jedoch nicht unbedingt als traumatisch erlebt wurde und auch aufgrund des frühen Entwicklungsstadiums weder verstanden noch mit Bedeutung versehen werden konnte, folgt später, und zwar nach der Pubertät und der sexuellen Reifung, ein weiteres Erlebnis. Durch dieses zweite (»Verführungs«-)Erlebnis, welches ebenfalls für sich genommen nicht traumatisch sein muss, wird © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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die Erinnerung an das erste Ereignis aktiviert und dieses erhält nachträglich aufgrund der Verbindung mit dem aktuellen Erlebnis eine traumatische Qualität (Bohleber, 2003). Anschaulich nachvollziehen lässt sich das Konzept Nachträglichkeit anhand von Freuds Falldarstellung der Kellnerin Katharina in den Studien über Hysterie: Die junge Frau litt an Panikattacken, die jedoch offensichtlich nicht bei einem ersten potenziell traumatischen Erlebnis – sexuelle Annäherung und vermutlich Missbrauch durch den Vater im frühen Jugendalter – einsetzten, sondern erstmalig auftraten, als sie 16-jährig Zeugin des Missbrauchs an ihrer Cousine wurde. Die Beobachtung des Missbrauchs wurde in Verbindung damit, dass sie nun verstand, was zuvor mit ihr geschehen war, traumatisch und führte zu einer komplexen somatischen Reaktion.30 Freuds Ausführungen enthalten Ansätze einer dynamischen Gedächtnis- und Erinnerungstheorie (Kettner, 1999). Da Freud seine Gedanken dazu jedoch nicht weiter ausgearbeitet hat, ist es zu verschiedenen Lesarten von Nachträglichkeit, die jeweils auf einander ausschließenden Gedächtniskonzepten beruhen, gekommen. Kettner (1999) unterscheidet dabei zwischen einer »kausalistischen« und einer »hermeneutischen« Interpretation von Nachträglichkeit: Bei einem kausalistischen Verständnis wird Nachträglichkeit mit Nachwirkung im naturwissenschaftlichen Sinne gleichgesetzt. Eine kausal bedingte Wirkung erfolgt nach einer Latenzzeit, der ursprüngliche Gedächtnisinhalt bleibt dabei jedoch über die Zeit hinweg invariant. Die nachträglich aktivierte Erinnerung hat einen Abbildcharakter des tatsächlichen Geschehens. Bei einer hermeneutischen Lesart wird im Gegensatz dazu davon ausgegangen, dass unter Nachträglichkeit eine »aktualisierende Neuinterpretation der persönlichen Vergangenheit« (S. 309) zu verstehen sei. Gedächtnistheoretisch wird damit, wie in der aktuellen Gedächtnistheorie überhaupt, angenommen, dass es keine invarianten Gedächtnisinhalte im Sinne unveränderbarer Spuren gibt. Erinnern ist vielmehr ReInterpretation. Geht man davon aus, dass Gedächtnisinhalte per 30 Ein zweiter ausführlich von Freud beschriebener Fall von nachträglicher Symptombildung findet sich im »Wolfsmann«.

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se überarbeitet werden und insofern nur bedingt Ereignisgeschichte abbilden können, stellt sich damit wie bei den Hysterikerinnen wiederum die Frage nach dem »Wahrheitsgehalt« von wiedererinnerten traumatischen Erlebnissen. Ausführlich öffentlich diskutiert wurde dies in der sogenannten recovered oder false memories debate anhand von Fällen, in denen Erwachsene angaben, sich nach jahrelanger Amnesie an Missbrauchserlebnisse in der frühen Kindheit zu erinnern. Die in diesem Zusammenhang aufgestellte Behauptung, diese Erinnerungen würden (unverantwortliche) Psychotherapeuten mittels suggestiver therapeutischer Techniken hervorrufen, lässt sich allerdings nicht halten. In den meisten Fällen zeitweiser Amnesie wurden die traumaspezifischen Erinnerungen gar nicht im Rahmen einer Therapie, sondern im Zusammenhang mit traumaspezifischen Auslösern evoziert. Dass traumatische Erlebnisse in der Tat zum Teil nicht oder zeitweise nicht erinnert werden, zeigen Fälle, in denen Aussagen Dritter das traumatische Ereignis bestätigen (siehe z. B. von Hinckeldey u. Fischer, 2002). Offen ist dabei jedoch, ob es sich um tatsächlich nicht abrufbares Material handelt oder ob hierfür motivationale Faktoren, wie sie Freud für Verdrängungsprozesse annimmt, verantwortlich sind (von Hinckeldey u. Fischer, 2002). Weitere Aspekte von Nachträglichkeit sind in der späteren Traumaforschung wieder aufgegriffen oder weiterentwickelt worden. Dazu gehört die Vorstellung, dass ein Trauma nicht an ein einmaliges Erlebnis gebunden sein muss, sondern verschiedene Erlebnisse zusammenwirken oder sich aufsummieren und dass die psychischen Folgen eines Traumas erst nach einer Latenzzeit auftreten können.

3.4 Trauma als Reizüberflutung: der Erste Weltkrieg, Kriegsneurosen, Wiederholungszwang Nachdem das zur Wende zum 20. Jahrhundert große Interesse an der Hysterie- bzw. Traumaforschung abgenommen hatte, folgte erst im Zusammenhang mit den Ereignissen des Ersten Weltkrieges wieder eine intensivere Phase der Beschäftigung mit © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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diesem Thema. Solche Pausen oder Brüche in der Forschungsgeschichte zeigen ganz deutlich, wie eng die Traumaforschung mit historischen Ereignissen und dem jeweiligen soziopolitischen Kontext verbunden ist. Angesichts der nun zu beobachtenden »männlichen Hysterikerinnen«31 beschäftigten sich nicht nur Freud, sondern vor allem auch Psychiater, die die Soldaten betreuten, wiederum mit den psychischen Folgen von Trauma. Das Interesse der Militärpsychiater war dabei allerdings eine möglichst schnelle Wiederherstellung der Einsatzfähigkeit der Soldaten. Generell gewann die Traumaforschung im Zusammenhang mit Kriegen aufgrund dieser Machtinteressen besonderes Gewicht – ein viel größeres als im Fall der »Hysterikerinnen« – und unterlag damit starken politischen Einflüssen. Dass je nach politischen Umständen später allerdings battle shock, obwohl gut erforscht, wieder tabuisiert wurde, zeigt Dan Bar-On (1999) detailliert auf mikrostruktureller Ebene am Beispiel Israels: In Abhängigkeit von der politischen Legitimation eines Krieges wurden bei einigen Kriegen oder kriegerischen Auseinandersetzungen in den vergangenen Jahrzehnten Traumaexperten zur Betreuung der Soldaten hinzugezogen, während bei anderen das Thema möglicher Traumatisierungen der Soldaten tabuisiert wurde. Freud hatte zur Zeit des Ersten Weltkrieges seine Triebtheorie und die Theorie des psychosexuellen Ursprunges der Neurosen bereits weit vorangetrieben und wurde durch die Ereignisse des Krieges gezwungen, sich erneut mit Trauma und den Erfahrungen des shell shock auseinanderzusetzen. Allerdings unterzog sich keine Person mit einer »Kriegsneurose« jemals einer psychoanalytischen Behandlung32, so dass die Überlegungen hierzu 31 Freud hatte schon früher zwei Männer mit hysterischen Symptomen behandelt, in der öffentlichen Wahrnehmung galt Hysterie, wie der Begriff nahe legt (von griech. hystera – Gebärmutter), jedoch als »Frauenkrankheit«. 32 Freud selbst bedauerte diese Tatsache. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang allerdings Abram Kardiner, der nach kurzer Ausbildung bei Freud in den USA therapeutisch mit Veteranen des Ersten Weltkrieges arbeitete, seine Erkenntnisse dazu allerdings erst 1941 – als das Interesse an

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im Unterschied zu seinen Thesen zur Hysterie nicht auf eigenem empirischem Material beruhen. Die Kriegsneurose wurde anders konzipiert als die »normalen Neurosen«, und zwar als Konflikt innerhalb des Ich anstelle eines Konfliktes zwischen Ich und Libido. Freud blieb allerdings auch angesichts der Kriegsneurosen bei seiner Sicht, dass prädispositionierende Faktoren eine wichtige Rolle spielen und auch eine traumatische Neurose nicht allein aufgrund erlebter Traumata erklärt werden könne (Bergmann, 1996). Diese Auffassung wurde später für Psychoanalytiker Freudscher Tradition zum Problem bei der Arbeit mit Holocaust-Überlebenden, da in diesen Fällen der prätraumatischen Persönlichkeit nur eine geringfügige Bedeutung für das Trauma zukommt. In seiner Beschäftigung mit den Kriegsneurosen entwickelt Freud erste Ansätze zum Reizschutz und formuliert damit den sogenannten psychoökonomischen Aspekt des Traumas, der auch in der Definition von Laplanche und Pontalis berücksichtig wird: Die anstürmenden Erregungsmengen sind demnach zu groß, um psychisch gebunden zu werden. In »Jenseits des Lustprinzips« (1920) arbeitet Freud diesen Gedanken weiter aus. Der Reizschutz schütze vor übergroßen Reizmengen oder unangemessenen Reizarten (Hellmann-Bros¦, 2002). Wenn eine Erregung groß genug wird, diesen Reizschutz dennoch zu durchbrechen, wird dies als traumatisch bezeichnet. In der Folge kommt es zu einer Regression auf primitivere seelische Reaktionsweisen (Bohleber, 2003). Obwohl der Begriff des Reizschutzes aufgrund seiner Anschaulichkeit bekannt wurde, erwies sich die Vorstellung, es gäbe einen solchen passiven, nicht-selektiven Schutzschild, weder für die Weiterentwicklung der Behandlungsmethode (Bergmann, 1996) noch für die Theorieentwicklung als besonders fruchtbar. Aufgenommen wurde er jedoch in objektbeziehungstheoretischen Ansätzen, die sich intensiv mit dem Thema Kriegsneurosen wieder gestiegen war – in »The traumatic neurosis of war« veröffentlichte. Das erneute Interesse beruht dabei wiederum auf dem Anliegen der Militärpsychiater, aus psychischen Gründen kampfunfähige Soldaten möglichst schnell wieder einsatzfähig machen zu können (Herman, 1994). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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der frühen Mutter-Kind-Beziehung beschäftigen (siehe unten). In diesem Zusammenhang können traumatische Situationen entstehen, wenn die Mutter nicht als Reizschutz für den Säugling fungiert und dieser immer wieder übererregt wird. Der psychoökonomische Aspekt als solcher, also die Benennung übergroßer Erregungs- oder Energiemengen, findet sich dagegen – wenn auch teilweise in veränderter Form – in aktuellen Ansätzen wieder (siehe ausführlich hierzu Baranger et al., 1988 oder Bohleber, 2000). Ebenfalls in »Jenseits des Lustprinzips« (1920) postuliert Freud eine neue, dualistische Triebtheorie und spricht erstmals von Todestrieb33 und Wiederholungszwang. Letzterer führe als Ausdruck des Todestriebes zu einer ständigen Wiederholung des traumatischen Erlebnisses, und zwar nicht als Erinnerung, sondern »als Tat, er [der Patient] wiederholt es, natürlich ohne zu wissen, dass er es wiederholt […] man versteht endlich, dies ist seine Art zu erinnern« (Freud, 1914, S.129). Das Phänomen, dass traumatische Erlebnisse reinszeniert werden und durch Handeln »erinnert« werden, ist ebenfalls ein zentrales Kennzeichen von Traumatisierungsprozessen und wird in sämtlichen Traumatheorien beschrieben. Nach Freud soll die Reaktualisierung dazu führen, die übermäßige Erregung abzureagieren oder psychisch zu binden, damit schließlich das Lustprinzip wieder in Kraft treten kann (Bohleber, 2003). Wie Bohleber bemerkt, bleibt bei Freud allerdings offen, wie die einbrechende übergroße Energiemenge, die psychisch nicht gebunden werden kann, theoretisch konzeptualisiert werden könnte.

33 Inwiefern die Vorstellung eines Todestriebs für das Verständnis traumatischer Prozesse hilfreich ist, ist auch unter psychoanalytischen Autoren umstritten, die meisten aktuellen Ansätze berücksichtigen ihn nicht, weshalb ich hier nicht weiter darauf eingehe. Eine Ausnahme hierzu bilden die Arbeiten von Laub (2000). Ebenso verzichte ich auf eine Darstellung von traumatheoretischen Überlegungen Freuds in »Hemmung, Symptom und Angst« (1926) und »Der Mann Moses und die monotheistische Religion« (1938).

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3.5 Trauma als kumulativer Prozess: Objektbeziehungstheorie Eine der wichtigsten Weiterentwicklungen der psychoanalytischen Traumatheorie fußt auf der Objektbeziehungstheorie. Objektbeziehungstheoretiker wie Ren¦ Spitz, Margaret S. Mahler und Donald Winnicott haben sich seit den 1950er Jahren intensiv mit der frühen Mutter-Kind-Beziehung beschäftigt und die Entwicklung von Selbst- und Objektrepräsentanzen differenziert beschrieben. In den Blickpunkt für ungünstige Entwicklungsverläufe rückten damit interaktionistische Annahmen, bei denen der Mutter-Kind-Dyade34 größere Bedeutung zukam als triebbedingten Konflikten. Indem damit die frühe Mutter-Kind-Beziehung hinsichtlich ihrer möglicherweise traumatischen Wirkung untersucht wurde, erweiterte diese Sicht die psychoanalytische Traumatheorie. Masud Khans bekannt gewordenes Modell der »kumulativen Traumatisierung« (1963) greift dafür sowohl Freuds Vorstellung, dass ein Trauma nicht auf ein einzelnes Ereignis zurückgehen muss, sondern sich mehrere, für sich genommen nicht traumatische Ereignisse aufsummieren können, als auch die Idee des Reizschutzes auf. Der Reizschutz wird jedoch in dieser Vorstellung von der Mutter, die dem abhängigen Säugling als Hilfs-Ich dient und ihn vor überflutenden Reizen schützt, übernommen und später auf der Ebene innerpsychischer Repräsentanzen integriert. Äußerlich unauffällige Einfühlungsversäumnisse der Mutter, ihr wiederholtes »Versagen« als Reizschutz für das Kind, können dabei kumulieren und über einen längeren Zeitraum traumatisch wirken, da das Kind ständig psychophysisch überfordert wird (Grubrich-Simitis, 1979). Indem auf diese Weise die Objektbeziehung selbst als potenzielles Trauma untersucht wird, haben Khans Ansatz und die Arbeiten anderer Objektbeziehungstheoretiker viel zu dem Verständnis früher traumatischer Beziehungserfahrungen, vor allem im Zusammenhang mit Missbrauch und Misshandlung, beigetragen. Umge-

34 Die Rolle des Vaters für die frühkindliche Entwicklung wird bekanntermaßen erst in jüngerer Zeit thematisiert.

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3.6 Trauma als Extremsituation und als »kollektives Trauma«

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kehrt besteht bei diesen Modellen die Gefahr, dass der Traumabegriff zu weit ausgedehnt und undifferenziert auf jedwede Art ungünstiger früher Beziehungserfahrung bezogen wird (Bohleber, 2000).

3.6 Trauma als Extremsituation, als generationsübergreifendes Phänomen und als »kollektives Trauma«: der Holocaust Der Holocaust hat den Blick auf Trauma grundlegend verändert und erforderte eine Einbeziehung überindividueller und gesamtgesellschaftlicher Prozesse. Letztere verhinderten zunächst erheblich die klinische und theoretische Auseinandersetzung mit dem Holocaust und seinen Opfern, anders lässt sich wohl nicht erklären, dass noch bis in die 1960er Jahre die psychiatrische Lehrmeinung auch angesichts von Holocaust-Überlebenden lautete, dass eventuelle psychische Beeinträchtigungen mit dem Ende einer traumatischen Situation ebenfalls aufhören würden (Peters, 1989). Psychische Langzeitfolgen wurden nicht nur theoretisch nicht antizipiert, sondern auch als »Rentenneurose«35 verdächtigt, was die Entschädigungsund Begutachtungspraxis ad absurdum führte: Für KZ-Überlebende musste nachgewiesen werden, dass das erlittene seelische Leid nicht anlagebedingt sei.36 Wie erwähnt gingen auch viele Psychoanalytiker zu diesem Zeitpunkt davon aus, dass persönlichkeitsprägende Traumata ausschließlich in der Kindheit zu verorten seien, und scheiterten entsprechend zu Beginn in ihrer Arbeit mit Überlebenden, der sich insbesondere Analytiker widmeten, die rechtzeitig aus Europa nach Amerika geflüchtet waren. 35

Verbreitetes Phänomen in den wirtschaftlich unsicheren 1920er Jahren (Peters, 1989). 36 Eine Position, die den in New York als Gutachter tätigen K. R. Eissler 1963 schließlich zu einem Aufsatz mit dem Titel »Die Ermordung von wie vielen seiner Kinder muss ein Mensch symptomfrei ertragen können, um eine normale Konstitution zu haben?« veranlasste (Eissler, 1963). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Die Erkenntnis, wie gravierend die Biographien von KZÜberlebenden gebrochen und verändert worden sind, setzte sich nur langsam durch. Neben der Tatsache, dass viele Betroffene sich zunächst überhaupt wieder eine Lebensgrundlage schaffen mussten und der erwähnten theoretischen Hindernisse, sind als weitere Ursache für diese »Latenzphase« Verdrängungs- und Verleugnungsprozesse vor allem in der deutschen Gesellschaft zu nennen: Alexander und Margarete Mitscherlich (1967) haben diese Prozesse in ihrer bekannten Studie »Die Unfähigkeit zu trauern« detailliert analysiert und beschreiben, wie die mangelnde Fähigkeit, um die »eigenen« Toten zu trauern, die Trauer um die Opfer der Nazis verhindert.37 Die inzwischen geläufige Bezeichnung »ÜberlebendenSyndrom« (survivor syndrom) führte Niederland erst 1968 ein, zum ersten Mal wurde damit ein klinischer Begriff gefunden, der eindeutig die Verfolgung als pathogen identifiziert und verschiedene Symptome zusammenfasst. Dazu zählen Angst, Erinnerungsstörungen, chronisch depressive Zustände, Aggression, Isolation und Rückzug in sich selbst, psychotische Symptome, Störungen des Identitätsgefühls, psychosomatische Symptome und »Überlebensschuld«, bei der das Überleben selbst konfliktreich und als Verrat erlebt wird (Bergmann, 1996; Bohleber, 2000). Bergmann (1996) zählt eine Reihe von Folgen und Besonderheiten traumatischer Prozesse auf, die erst in der Arbeit mit Holocaust-Überlebenden erkannt wurden: 1. Entdeckung einer Latenzzeit38 : Zwischen Befreiung aus dem KZ und Entwicklung einer »traumatischen Neurose« vergingen oft Jahre, manchmal Jahrzehnte. 37 Wie Bohleber (2000) bemerkt, könnte diese Unfähigkeit zu trauern durchaus eine Folge von Traumatisierung sein – Mitscherlichs beziehen sich allerdings nicht auf eine Traumatheorie, sondern auf Freuds Arbeiten zur Trauer. 38 Anders als bei Nachträglichkeit konstituiert sich hier das traumatische Erlebnis nicht zweiphasig, sondern es handelt sich um eine tatsächliche Latenz zwischen traumatischem Erlebnis und dem Sichtbarwerden der Folgen.

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3.6 Trauma als Extremsituation und als »kollektives Trauma«

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2. Die prätraumatische Persönlichkeit spielt keine bedeutsame Rolle, entscheidend sind vielmehr Dauer der Inhaftierung und die erlebten Gräuel. Dies gilt, wie erwähnt, für Extremtraumatisierungen wie die Erfahrung eines KZ-Aufenthaltes. Die Arbeiten von Keilson (1979, siehe unten) differenzieren die Auswirkungen erlebter Gräuel noch vor dem Hintergrund der anschließenden Erfahrung. 3. Viele Überlebende zeigten gehemmte Trauerprozesse: »Was uns besonders auffiel, war das Bedürfnis zu trauern, das die Unfähigkeit zu trauern in eine Melancholie verwandelt hatte« (Bergmann, 1996, S. 16). In der Behandlung ging es damit weniger um ein »Abreagieren« als darum, Trauerprozesse zu aktivieren. 4. Die Konzentrationslager-Erfahrung führte, entgegen der Annahmen der klassischen Psychoanalyse, nicht zu einer Regression auf eine feststellbare psychosexuelle Phase, sondern zu einer Zerstörung der psychischen Struktur. 5. Die Fähigkeit, metaphorisch zu handeln und zu sprechen, ging verloren, ähnlich wie bei Psychosepatienten zeigte sich sogenannter Konkretismus. Im Gegensatz zu letzteren besteht bei den Überlebenden der Konkretismus allerdings nur partiell. Im Alltagsleben mögen sie sich realitätsgemäß verhalten, von Zeit zu Zeit bricht jedoch die psychische Realität des Holocaust ein. Sie leben damit in einer doppelten Realität: Das Trauma hat in einigen seelischen Regionen die Fähigkeit zerstört, zwischen Realität und Phantasie unterscheiden zu können. 6. Die Weitergabe des Traumas kann über Generationengrenzen hinweg erfolgen: Auch bei Kindern von Holocaust-Überlebenden, die nach dem Holocaust geboren wurden, zeigen sich traumabezogene psychische Folgen, wie beispielsweise Schuld, Depression, Aggression, Probleme in Beziehungen und in dem Bereich Trennung/Individuation. Bergmann (1996) fügt seinem Überblick hinzu, dass der Holocaust keineswegs von allen Betroffenen verleugnet oder verdrängt wird, sondern gerade diejenigen, die sich erinnern, oft all ihre Energie aufbringen, um über den Holocaust zu schreiben und an ihn zu erinnern. Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die Arbeiten © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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von Dori Laub, in denen er unter anderem beschreibt, wie die Fähigkeit zu erzählen weniger an die Erinnerungsfähigkeit einer traumatisierten Person als an die Empathiefähigkeit potenzieller Zuhörer gebunden ist. Laub und Auerhahn (1991) greifen nicht nur den objektbeziehungstheoretischen Ansatz, sondern auch Freuds Konzept des Reizschutzes wieder auf. Der Reizschutz wird von ihnen allerdings als verinnerlichtes Primärobjekt gedacht, auf dem das Vertrauen auf die Präsenz guter Objekte und mitmenschlicher Empathie gründet. Das »gute innere Objekt« fungiert auf diese Weise als Vermittler zwischen Selbst und Umwelt (Bohleber, 2000). Extreme traumatische Erfahrungen, wie das Erleben des Holocaust, können diese schützende innerpsychische Dyade zwischen Selbstund Objektrepräsentanzen durchbrechen und der daraus folgende Verlust des »empathischen inneren Anderen« zerstört damit auch die Fähigkeit, mit der Umwelt kommunizieren und von dem Trauma erzählen zu können (Bohleber, 2000). Der Grund für die Nicht-Erzählbarkeit (und nicht Unsagbarkeit!) – und hierin unterscheidet sich Laubs Ansatz fundamental von anderen Traumatheorien – liegt damit darin, dass das Trauma in die bereits etablierte innerpsychische Repräsentanzenwelt selbst eingegriffen hat. Nach Laub können allerdings in der Gegenwart eines empathischen Zuhörers die Fragmente zu einem Narrativ zusammenwachsen und bezeugt werden.39 Hillel Klein (2003) beschreibt, wie zusammen mit der sozialen Umwelt auch die von den Familien der Überlebenden selbst mitgetragene Conspiracy of Silence eine Trauerarbeit der Überlebenden unmöglich macht. Seine Erfahrungen mit Überlebenden belegen eindrücklich, dass bei vielen der beschriebenen Symptome von Überlebenden gar nicht entschieden werden kann, ob sie psycho- oder soziogen sind. Im Gegensatz zu den bisher vorgestellten Ansätzen wird hier die Frage nach der Erinnerung an das Trauma nicht auf individuelle Prozesse beschränkt, sondern es werden soziale bzw. kollektive Prozesse beschrieben. Dies ist ebenfalls neu in der

39 Zeugenschaft ist ein zentraler Aspekt in Laubs Arbeiten, siehe hierzu bspw. Laub und Felman (1992) sowie Laub und Weine (1994).

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3.6 Trauma als Extremsituation und als »kollektives Trauma«

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Traumaforschung und wurde erst in der Arbeit mit HolocaustÜberlebenden deutlich.

Transgenerationale Traumatisierung Ende der 1960er Jahre stellten Psychotherapeuten und Psychiater fest, dass Kinder aus vielen Familien von Holocaust-Überlebenden, nicht aus allen, Symptome zeigen, die man erwarten würde, wenn sie den Holocaust selbst erlebt hätten. Die Kinder entwickeln entsprechende Ängste und in ihren Phantasien und Träumen finden sich Hinweise auf die traumatischen Erlebnisse ihrer Eltern. Die psychischen Folgen von extremen Katastrophen wie dem Holocaust werden offensichtlich unbewusst von einer Generation an die nächste weitergegeben. Faimberg (1987) hat solche Prozesse, als deren Kern sie unbewusste Identifizierungen mit der Eltern- und Großelterngeneration sieht, über drei Generationen beschrieben und dafür den Begriff der »Ineinanderrückung (t¦lescopage) der Generationen« geprägt. Bergmann, Jucovy und Kestenberg (1995) nennen folgende Arten, wie Traumata weitergeben werden: 1. 2. 3. 4.

Leben im Schatten der Verfolgung; unbewusstes Gleichsetzen mit dem Verfolger ; Zuweisung von Elternfunktionen an die Kinder ; Holocaust als privater Mythos, in den Kinder mit einbezogen werden. Oft schaffen Überlebende idiosynkratische Rituale, an denen die Kinder teilhaben, ohne dass sie über deren Inhalt und Sinn aufgeklärt werden;40 5. eigene Mythosschaffung von Kindern, deren Eltern über ihre wirklichen Erlebnisse geschwiegen haben; 6. das Trauma der Eltern kann sich organisierend auf weitere Schicksalsschläge im Leben des Kindes auswirken, indem 40

Sehr beeindruckend ist in diesem Zusammenhang die autobiographische Novelle »Warum bist du nicht vor dem Krieg gekommen?« von Lizzie Doron, in der sie Szenen aus ihrer Kindheit rekonstruiert, in denen das oft bizarr wirkende Verhalten der Mutter nur entschlüsselbar ist, wenn man um ihr Schicksal als Holocaust-Überlebende weiß. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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3 Trauma – eine kritische Begriffsbestimmung

solche Erlebnisse vor der Folie des Holocaust gedeutet werden; 7. Vergleichen der Kinder mit den ermordeten Kindern. Nach Klein (2003) und Kestenberg (1982) wachsen diese »Ersatzkinder«, die häufig bis ins Erwachsenenalter nichts über die im Holocaust verlorenen Familienangehörigen und Kinder ihrer Eltern wissen, oft mit dem Gefühl auf, nicht wirklich geliebt, wahrgenommen und anerkannt zu werden. Gleichzeitig sind die Bindungen in diesen Familien besonders eng, die Kinder fühlen sich ihren Eltern gegenüber verantwortlich und haben große Schwierigkeiten, sich aus dem Elternhaus zu lösen. Ihren überlebenden Eltern ist es oft nicht möglich gewesen, über ihre ermordeten Familien zu trauern. Die Eltern erwarteten unbewusst, dass die Kinder die Toten ersetzen, beziehungsweise sie wieder auferwecken, oder durch berufliche Leistungen zeigen, dass die Vernichtung der Juden nicht gelungen war. Haben die Kinder jedoch Erfolg, so erinnert er die Überlebenden an die vielen Chancen, die ihnen selbst durch Verfolgung und Krieg verwehrt waren. Anstatt auf ihre Kinder stolz sein zu können, erleben die Eltern Wut und Neid. Das Verhalten der Überlebenden-Eltern ist dabei nicht nur von unverarbeiteter Trauer, von Angst, emotionaler Abstumpfung und Krankheiten, sondern auch von plötzlichen aggressiven Impulsdurchbrüchen gekennzeichnet, unter denen die Kinder besonders leiden. Studien mit Familien von Holocaust-Überlebenden zeigen, dass ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Kommunikation von Holocaust-Überlebenden und den interpersonalen Beziehungsmustern ihrer Kinder besteht. Die Kinder von Holocaust- Überlebenden, die über nonverbale innerfamiliäre Kommunikation mit wenig Informationen über das Trauma der Eltern berichteten, berichteten gleichzeitig über mehr interpersonelle Probleme als diejenigen, die die verbale Kommunikation mit den Eltern als informativ beschrieben und im Sinne von Kestenberg (1982) nicht auf eigene »Mythenbildung« angewiesen waren. Die Autoren dieser Untersuchung, Wiseman et al. (2002), verstehen die Fähigkeit zur offenen und kohärenten Kommuni-

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3.7 Trauma als sequentieller psychosozialer Prozess

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kation zwischen Eltern und Kind als ein Ausdruck sicherer, internaler Arbeitsmodelle über Bindung (siehe Kapitel 6). Als charakteristisch für die second generation beschreibt Kestenberg (1982) zudem eine »Balance zwischen ungewöhnlicher Ich-Stärke und einem gewissen Maß von Pathologie«: Die Kinder zeigen damit typischerweise bestimmte Stärken.

3.7 Trauma als sequentieller psychosozialer Prozess: das Modell von Hans Keilson Eines der wenigen Traumamodelle, mit denen die Bedeutung der psychosozialen Umwelt in Traumatisierungsprozessen konsequent auf theoretischer Ebene erfasst wird, stammt von Hans Keilson (1979). Er leitet seine Überlegungen aus einer psychoanalytisch und kinderpsychiatrisch angelegten Follow-up-Untersuchung über das Schicksal von 204 jüdischen Kriegswaisen in den Niederlanden ab. Theoretische Grundlage der Studie ist das bereits vorgestellte Konzept der kumulativen Traumatisierung von Masud Khan, nach dem sich ein Trauma auch sukzessive aus einzelnen, zunächst und für sich nicht traumatisierenden Erfahrungen, die schließlich zum Zusammenbruch führen, aufbauen kann. In Anlehnung an das Modell der basic needs nach Bowlby, Anna Freud, Spitz, Erikson u. a. geht er zudem davon aus, dass sich ein solcher Zusammenbruch je nach Entwicklungsphase unterschiedlich konstituiert, da in jeder Entwicklungsphase verschiedene Bedürfnisse elementar für die weitere Entwicklung sind. Entsprechend nimmt Keilson an, dass die psychischen Folgen traumatischer Erlebnisse alterspezifisch sind, und fasst bei der empirischen Untersuchung dieser These jegliche Entwicklungsschwierigkeit und jedes psychopathologische Symptom als mögliche Traumafolge auf. Als Material dienten die von der jüdischen Kriegswaisenorganisation geführten Dossiers zu jedem Kind (jeweils bis zum 18. Lebensjahr) und eine Nachbefragung der damaligen Kinder circa 25 Jahre später über private und soziale Lebensbereiche (Ehe, Familie, Berufsleben, körperlich-seelische Verfassung, Verarbeitung des Verfolgungsgeschehens etc.). Gemeinsam ist allen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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3 Trauma – eine kritische Begriffsbestimmung

Kindern, dass sie jüdisch waren (einige sind später konvertiert), verfolgt wurden und verwaist sind. Kriegs- und Verfolgungserlebnisse waren dagegen sehr verschieden. Um die Belastungssituation so zu bestimmen, dass sie möglichst auf alle Kinder übertragbar ist, unterteilt Keilson das Verfolgungsgeschehen in drei traumatische Sequenzen mit jeweils einer Anzahl traumatogener Momente: »1. Die feindliche Besetzung der Niederlande mit dem beginnenden Terror gegen die jüdische Minderheit. Angriffe auf die soziale und psychische Integrität der jüdischen Familien. 2. Die direkte Verfolgung: Deportationen von Eltern und Kindern, resp. Trennung von Mutter und Kind; Versteck in improvisierten Pflegemilieus; Aufenthalt in Konzentrationslagern. 3. Die Nachkriegsperiode, mit der Vormundschaftszuweisung als zentrales Thema. Für die Zuweisung der Vormundschaft gab es zwei alternative Möglichkeiten: a) Kontinuierung des Aufenthaltes des Kindes im (nicht-kongenialen) Kriegspflegemilieu mit allen dieser Situation inhärenten Spannungen gruppen-dynamischer und individuell-psychologischer Art (Taufe, Verarbeitung der Waisenschaft, Loyalitäts- und Identitätskonflikte, Trauerproblematik u. a. m.) b) Rückkehr des Kindes in das kongeniale, seinerseits traumatisierte jüdische Milieu« (Keilson, 1979, S. 427).

Die Analyse der Daten erfolgt in einem zweigleisigen Verfahren, sowohl deskriptiv-klinisch als auch quantitativ-statistisch, um Beziehungen zwischen Altersstufen und Auswirkungen und den Zusammenhang zwischen dem Ausmaß der Traumatisierung und dem Schweregrad der Störung zu bestimmen. Als Einteilungskriterium für die Alterstufen wurde das Alter bei der Trennung von der Mutter (als schweres traumatogenes Ereignis mit mutmaßlich überdauernden Folgen) gewählt. Die Studie belegt zum einen den Zusammenhang zwischen dem Alter, in dem die Trennung erfolgte, und der Art der etwa dreißig Jahre später gestellten Diagnose und zum anderen die Bedeutung der einzelnen traumatischen Sequenzen: Die Entwicklung von Kindern mit einer günstigen zweiten (unmittelbares Verfolgungsgeschehen), aber ungünstigen dritten Sequenz (Periode nach der Verfolgung, Aufnahme ins Pflegemilieu) verlief deutlich © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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ungünstiger als bei Kindern mit vergleichsweise schwerwiegenderen Verfolgungserlebnissen, aber einer günstigen Aufnahme ins Pflegemilieu. Damit ist deutlich, dass die Traumatisierung weitergehen kann, auch wenn die Verfolgung bereits aufgehört hat, und es wird ebenfalls belegt, dass für die Entwicklung von Kindern weniger entscheidend ist, wie »schrecklich« ihre erlebten Kriegsereignisse im Einzelnen waren, sondern wie ihre anschließende Versorgung aussah.

Eine Weiterentwicklung des Modells der Sequentiellen Traumatisierung für den Flüchtlingsbereich David Becker und Barbara Weyermann (2006) haben Keilsons Modell der sequentiellen Traumatisierungen auf politisch Verfolgte sowie auf Flüchtlingen bezogen und weiterentwickelt. Ihr Ansatz ist unter anderem in Auseinandersetzung mit der psychosozialen Situation von Flüchtlingen in Europa entstanden und insofern für die vorliegende Arbeit besonders interessant. Sie fassen die Exilsituation als weitere traumatische Sequenz, der eine eigene traumatische Qualität innewohnen kann, auf. Bei politisch Verfolgten definieren sie bereits die Lebenssituation vor Beginn der Verfolgung oder des Konfliktes als mögliche Sequenz. Auf diese Weise integrieren sie die für den weiteren Verlauf von Traumatisierungsprozessen sehr wichtige individuelle Situation, die von persönlichen Konflikten und/oder traumatischen Erlebnissen geprägt sein kann. Bezogen auf Flüchtlinge betonen sie Phasen des Übergangs als besonders kritische Phasen und unterscheiden schließlich sechs verschiedene Sequenzen. Nimmt man die Zeit vor Beginn des traumatischen Prozesses, ebenfalls bezogen auf Flüchtlinge, hinzu, ergeben sich sieben Sequenzen: 1. Vor Beginn des traumatischen Prozesses: Hier geht es um den »normalen« Lebensprozess, bevor der Konflikt ausbricht bzw. die Verfolgung beginnt. Die individuelle Situation kann dabei ihrerseits bereits von persönlichen Konflikten, traumatischen Erlebnissen, Verlusterlebnissen, chronischen Belastungen wie Krankheiten, Armut, Arbeitslosigkeit etc. geprägt sein. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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2. Von Beginn der Verfolgung bis zur Flucht: Diese Phase ist geprägt davon, dass die Entscheidung zur Flucht immer unfreiwillig ist, zugleich aber den einzigen Ausweg bedeutet. 3. Auf der Flucht: Die Flucht dauert oft Monate und birgt neue traumatische Erlebnisse. 4. Übergang 1: Die Anfangszeit am Ankunftsort: Die Ankunft ist oft schockierend, da ein tatsächlich sicherer Ort nicht gefunden wird, zudem stellen sich weitere existenzielle Fragen: Wohnsituation, Aufenthaltsstatus, ökonomische Lebensverhältnisse. 5. Chronifizierung der Vorläufigkeit: Die Verhältnisse werden als vorläufig eingeschätzt und mit baldiger Rückkehr wird gerechnet, was zumeist auch das Aufnahmeland nahelegt. Die Integration verläuft somit erschwert, was besonders problematisch ist, wenn es nicht zur geplanten Rückkehr kommt. Oder die neue Lage wird akzeptiert, damit wird aber auch schnell mit Bindungen an das Heimatland und mit der bisherigen Identität gebrochen 6. Übergang 2: Die Rückkehr : Sowohl die freiwillige wie auch insbesondere die unfreiwillige Rückkehr beinhalten eine Krise. 7. Nach der Verfolgung: a) Aus Flüchtlingen werden Remigrant/-innen: Das Exil bleibt auch nach der Rückkehr Teil der Lebenserfahrung und prägt die Familien der Betroffenen oft über Generationen oder b) Aus Flüchtlingen werden Migrant/-innen: Die Flüchtlinge integrieren sich in der Aufnahmegesellschaft oder bilden neue Minderheiten (nach Becker u. Weyermann, BAFF, 2006) Ein solches Modell bietet einen orientierenden Rahmen für Traumatisierungsprozesse in verschiedenen sozialen und kulturellen Kontexten, indem aufgezeigt wird, welche Situationen und Erlebnisse zu Traumatisierungsprozessen führen oder diese aufrechterhalten können. Becker und Weyermann versuchen auf diese Weise, die fortwährenden Wechselwirkungen zwischen innerpsychischen und sozialen Prozessen auf Modellebene zu berücksichtigen. Um den sehr unterschiedlichen innerpsychischen Traumafolgen gerecht zu werden, verzichten sie dabei auf © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

3.8 Trauma als Stresserkrankung

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eine Formulierung konkreter Traumasymptome und reagieren damit auf die Erfahrungen mit dem auch im Kontext von man made disasters wohl dominantesten, aber umstrittenen Traumakonzept, der Posttraumatic Stress Disorder (PTSD).

3.8 Trauma als Stresserkrankung: das Konzept der Posttraumatic Stress Disorder (PTSD) Das heute mit Abstand auch in der öffentlichen Diskussion bekannteste Traumakonzept ist PTSD41. Historisch beruht die Ausarbeitung des PTSD-Konzeptes größtenteils auf der Initiative und politischen Lobby der US-amerikanischen Vietnam-Veteranen. Damit gelang es erstmals Betroffenen, öffentlichen Druck auszuüben und die Annerkennung psychischer Traumatisierungen zu fordern. Die Veteranen schlossen sich in Selbsthilfegruppen zusammen und erwirkten die Einrichtung spezieller Therapiezentren in den gesamten USA, was umfangreiche Forschung zu traumatischen Kriegsfolgen mit sich brachte. Aus diesem Kontext heraus entwickelte eine Gruppe von Psychiatern schließlich im Rahmen der stressorientierten psychiatrischen Forschung das Konzept PTSD, das 1980 in das Diagnosemanual der American Psychiatric Association (Diagnostical and Statistical Manual, DSM III) aufgenommen wurde. Auf diese Weise wurden zum ersten Mal traumabedingte psychische Folgen in Form einer »anerkannten« psychischen Störung beschrieben.42 Die Aufnahme in das für Europa verbindliche Klassifikationsmanual der Weltgesundheitsorganisation ICD 10 folgte 1992. Genau genommen handelt es sich bei PTSD eher um eine 41 Ich verwende die englischsprachige Bezeichnung, da sie erstens deutlich macht, dass es sich um ein Konzept aus der stressorientierten Forschung handelt, und zweitens in der Fachliteratur häufiger verwendet wird als die deutsche Übersetzung Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). 42 Das hat unter anderem die praktische Konsequenz, dass aufgrund einer PTSD-Diagnose die Behandlung bei den Krankenkassen abgerechnet werden kann.

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pragmatische psychiatrische Konvention, um Diagnosekriterien, auf die sich eine kleine Fachgruppe einigen konnte, als um einen traumatheoretischen Ansatz.43 Bereits die Bezeichnung PTSD ist theoretisch betrachtet problematisch, da begrifflich eher ein vorübergehender Zustand – oder eine Störung – impliziert wird als dauerhafte Veränderungen: »Post-Trauma« suggeriert dieses ebenso wie »Stressstörung«, da psychischer Stress gewöhnlich endet, wenn die äußere Belastung vorüber ist. PTSD beruht konzeptionell teilweise auf den Überlegungen von Mardi Horowitz (1976), der ein Information Processing Model entworfen hat. Horowitz selbst nennt seinen Ansatz »kognitiv-psychodynamisch«44 (Horowitz, 1999) und man könnte sagen, dass er damit Freuds »Energietrauma« zeitgemäß zum »Informationstrauma« transformiert (Fischer u. Riedesser, 1998, S. 86). Nach Horowitz verläuft die Reaktion auf ein Trauma in verschiedenen Phasen, wobei sich eine Verleugnungs- oder Vermeidungsphase (denial) und eine Phase mit Wiedererlebenssymptomen (intrusion), wie flashbacks etc., abwechseln. In dem Alternieren dieser beiden Phasen sah Horowitz einen graduellen Assimiliationsprozess: Zwischen den Intrusionen entstehen Bewältigungskapazitäten, die schrittweise eine Verarbeitung ermöglichen. Die Intensität der Gefühle sinkt und es kommt nach seiner Vorstellung schließlich zur Selbstheilung. Auch Horowitz trifft keine Aussagen darüber, wie man sich die abgespaltene Erinnerung, die sozusagen frei »herumschwebt«, aber von Zeit zu Zeit unwillkürlich ins Bewusstsein dringt, und ihren Verbleib genauer vorstellen könnte. PTSD greift die beiden beschriebenen Phasen als diagnosti43 Dazu ist anzumerken, dass das Anliegen der Diagnosemanuale keineswegs ein theoretisches ist, im Gegenteil wird explizit versucht, psychische Störungen möglichst atheoretisch und deskriptiv zu erfassen, um so keiner »Schule« den Vorrang einzuräumen. PTSD ist insofern eine Ausnahme, als aufgrund des Stressorkriteriums eine klare ätiologische Annahme formuliert wird. 44 Auch im Unterschied zu kognitiv-behavioralen Modellen, auf die ich hier nicht eingehe. Siehe hierzu bspw. die Arbeiten von Edna B. Foa et al. 2009.

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3.8 Trauma als Stresserkrankung

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sche Kriterien auf: Neben der Konfrontation mit einem traumatischen Ereignis (Kriterium A, Stressorkriterium) müssen gleichzeitig Symptome des Wiedererinnerns auftreten, z. B. in Form von sich aufdrängenden Bildern, Alpträumen, flashbacks oder psychischer und physischer Reaktionen auf Reize, die mit dem erlebten Trauma in Verbindung stehen (Kriterium B). Zudem müssen Vermeidungssymptome feststellbar sein, also die Vermeidung von Reizen, die mit dem Trauma in Verbindung stehen, wie Orte, Situationen, bestimmte Personen (Kriterium C). Als weiteres Kriterium (D) gelten Symptome anhaltender Übererregung, wie Schlafschwierigkeiten, Reizbarkeit, erhöhte Schreckhaftigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten etc.

Kritik am PTSD Konzept Fraglos werden mit diesem Kriterienkatalog eine Reihe häufig auftretender Symptome beschrieben, problematisch ist dabei jedoch, dass diese zum »Normalfall« erklärt werden. Die gleichzeitige Forderung von Anzeichen für Wiedererinnern und Vermeidung für die Diagnosestellung ist, um nur ein Beispiel zu nennen, weder theoretisch noch klinisch sinnvoll. PTSD greift in der Beschreibung der vielfältigen psychischen Folgen eines Traumas zu kurz und führt entsprechend nicht nur zu einer Anerkennung der Leiden Betroffener, sondern ebenso zu einer Ausgrenzung all jener, deren Symptome nicht den beschriebenen Kriterien entsprechen. Individuelle und trennscharfe Vorgehensweise wird auch bei der Beschreibung des auslösenden Ereignisses vermisst. Sämtliche möglichen äußeren Ereignisse werden ungenau zusammengefasst, es wird nicht unterschieden, ob es sich um eine Naturkatastrophe, einen Unfall, einen Trauerfall oder das Überleben eines Konzentrationslagers handelt (Becker, 1992, 1997). Besonders wenn es sich um sogenannte vom Menschen verursachte Katastrophen (man-made disasters) handelt, lassen sich diese kaum mit dem »Stressorkriterium«, das sich im Grunde auf einmalige Traumata bezieht, erfassen. Ebenso bleiben langfristige Traumafolgen, die wie erwähnt im Zusammenhang mit © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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3 Trauma – eine kritische Begriffsbestimmung

Therapien und Studien zu Holocaust-Überlebenden bereits beschrieben wurden, unberücksichtigt. PTSD kann zudem zu einer Pathologisierung und Individualisierung der Betroffenen führen: Auch wenn die gesellschaftliche Annerkennung psychischer Folgen von Traumata positiv zu bewerten ist, mit der Diagnosestellung PTSD werden psychische Symptome, auch wenn diese auf Verfolgung oder Krieg zurückgehen, zum individuellen Problem des je Einzelnen. Indem die mit PTSD verbundenen Forschungs- und Therapieansätze darüber hinaus vor allem psychische Folgen von Trauma fokussieren, bleiben Täterschaft und gesellschaftliche Verursachung weitgehend unsichtbar. Damit mündet die soziale Bewegung der Vietnam-Veteranen, die die gesellschaftliche Verursachung von Traumatisierungen zum Thema machte und hierfür eine Verantwortungsübernahme forderte, schließlich in der Konzeptionalisierung eines »neuen« Krankheitsbildes, das gesellschaftliche Prozesse konsequent ausblendet. Das Konzept der PTSD wird aus diesen Gründen schon länger kritisiert. Es existieren diverse Modifikationsvorschläge, wie etwa »Complex-PTSD« (Herman, 1994), mit dem versucht wird, auch komplexe Traumatisierungen durch Missbrauch oder Folter zu berücksichtigen. Durchgesetzt hat sich jedoch das gerade zitierte PTSD-Konzept, das inzwischen über psychosoziale Traumaprogramme in Krisenregionen quasi weltweit die Sicht auf psychische Traumatisierungen dominiert. Wissenschaftstheoretisch betrachtet ist dabei ebenfalls interessant, dass sich das PTSD-Konzept tatsächlich als kompatibel mit so unterschiedlichen Fachdiskursen wie der Hirnforschung (hier wird Trauma generell als PTSD konzeptualisiert) und der Literaturwissenschaft (siehe beispielsweise Cathy Caruth, 1996) erwiesen hat. Dieses Phänomen lässt sich damit erklären, dass PTSD die Kriterien dominanter Wissenschaftsdiskurse45, wie sie auch für andere Paradigmen gelten, durchaus erfüllt :

45 nach Gerd Baumann 1998, S. 296. Den Hinweis auf diese Kriterien verdanke ich Paul Mecheril.

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3.9 Neurowissenschaftliche Ansätze zu Trauma und Gedächtnis

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1. Die begriffliche Struktur ist sparsam: PTSD verweist nicht auf theoretische Begrifflichkeiten der einen oder anderen psychologischen oder psychiatrischen Richtung. 2. Es hat eine Monopolstellung innerhalb kommunikativer Strukturen, diese ist über die Aufnahme in die Diagnosemanuale gesichert. 3. Es ist flexibel in der Anwendung: Als »Symptomsammlung« lässt es sich in sehr unterschiedlichen Kontexten anwenden. Es wird sowohl auf diverse Kulturen übertragen als auch beispielsweise zur Interpretation literarischer Werke herangezogen. 4. Es dient etablierten Zwecken: PTSD ermöglicht es, die Folgen traumatischer Erlebnisse (scheinbar) zu objektivieren, und bietet damit eine Grundlage für quantitativ-statistische Forschung. Als Störungsbild, das empirisch untersucht und empirisch gesichert behandelt werden kann, entspricht es dem dominanten Krankheits- und Wissenschaftsbild und eignet sich für die Akquisition von Fördergeldern.

3.9 Neurowissenschaftliche Ansätze zu Trauma und Gedächtnis: Trauma als »traumatic memory« Die Arbeiten von Hirnforschern und neurowissenschaftlich orientierten Traumaforschern haben gegenwärtig großen Einfluss sowohl auf psychologische und psychoanalytische Fachkreise als auch auf die Auseinandersetzung mit Trauma in anderen Disziplinen.46 Das Interesse an der Hirnforschung beruht wesentlich darauf, dass man sich Antworten auf die Frage erhofft, wie traumatische Erlebnisse auf neuronaler Ebene verarbeitet werden, um anhand dieser Erkenntnisse das Verhältnis von Trauma und Gedächtnis näher bestimmen zu können. Im Mittelpunkt steht dabei die bereits mehrfach angerissene Frage, wie oder ob Traumata im Gedächtnis repräsentiert sind, ob sie tatsächlich nach jahrelanger Amnesie wiedererinnert werden kön46 Die Literaturwissenschaftlerin Cathy Caruth bezieht sich z. B. explizit auf van der Kolks Forschung, siehe hierzu ebenfalls die Kritik an Caruths Ansatz bei Leys (2000).

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nen, und wenn dies der Fall ist, wie akkurat und zutreffend solche Erinnerungen sind. Der Reiz der Hirnforschung für andere Fachdisziplinen liegt in der Vorstellung, dass sich anhand neurowissenschaftlich gestützter Erkenntnisse, also besonders anhand von Prozessen, für die sich bestimmte neuronale Korrelate ausmachen lassen, theoretische Annahmen über Gedächtnisprozesse verifizieren oder falsifizieren ließen. Studien, die mit sogenannten bildgebenden Verfahren wie der Positron-Emissions-Tomographie (PET) durchgeführt wurden, suggerieren zudem auch komplexe, psychologische Phänomene »sichtbar« machen zu können, was besonders im Zusammenhang mit dem »Unsagbaren«, »NichtErinnerbaren« faszinierend erscheint.47 Klinisch äußerst Aufsehen erregend sind zudem psychobiologische Befunde über möglicherweise traumabedingte morphologische Veränderungen bei PTSD48, wie etwa Zelltod und Schrumpfung gedächtnisrelevanter Hirnstrukturen (Hippocampus), und endokrinologische Veränderungen, wie Besonderheiten im Spiegel des »Stresshormons« Cortisol (Yehuda, 1997). Viele der in diesem Zusammenhang häufig zitierten Ergebnisse innerhalb der Neurowissenschaften können aber keineswegs als gesichert gelten. Oft werden Studien für die Argumentation verwendet, die lediglich auf kleinen Stichprobengrö47 Eines der größten Probleme scheint dabei zu sein, dass Bilder von Hirn-Scans für jedermann interpretierbar erscheinen: Verschiedenfarbig eingefärbte Hirnareale werden dabei verkürzt als Hinweis auf »aktivierte« bzw. »deaktivierte« Hirnregionen aufgefasst, ohne zu beachten, dass diese Bilder mithilfe eines komplexen statistischen Verfahrens konstruiert werden. Sichtbar gemacht werden kann dabei immer nur ein Aktivitätsunterschied zwischen einer Experimental- und einer Kontrollbedingung. Ist ein Hirnareal unter beiden Bedingungen aktiv, so wird es im PET nicht »aufleuchten«, auch wenn es für die Experimentalbedingung unter Umständen die entscheidende Rolle spielt. Siehe hierzu auch den Artikel »Alles so schön bunt hier – Gehirn-Scans sagen viel weniger aus, als in sie hineininterpretiert wird« von Ludger Tebartz van Elst, Die Zeit, Nr. 43, 10. August 2007. 48 Die Operationalisierung von Trauma in den Neurowissenschaften orientiert sich ausschließlich an PTSD.

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ßen beruhen und nicht repliziert werden konnten. Dabei verläuft die kritische Diskussion neurowissenschaftlicher Untersuchungen allerdings eher innerhalb der Neurowissenschaften als im interdisziplinären Kontext. In Psychologie, Sozialwissenschaften, Pädagogik etc. werden die Ergebnisse der Hirnforschung oft kaum hinterfragt, sie gelten vielmehr als naturwissenschaftliches Korrektiv oder als »Beweis« bisheriger Annahmen und Paradigmen der eigenen Disziplin.

Relevante Gedächtniskonzepte: die Unterscheidung von implizit-expliziten bzw. prozeduralen und deklarativen Gedächtnissystemen Eine der wichtigsten neurowissenschaftlichen Erkenntnisse zum Gedächtnis ist, dass es nicht »den« Gedächtnisort im Gehirn gibt. Vielmehr werden verschiedenen Gedächtnisleistungen jeweils bestimmte Hirnregionen zugeschrieben, die für ihr Zustandekommen eine besonders wichtige Rolle spielen, grundsätzlich sind an den Prozessen der Enkodierung und des Abrufes mehrere Hirnregionen beteiligt. Damit wird auch deutlich, dass keine Gedächtnisspuren oder Engramme im Sinne »materieller Entitäten« existieren, sondern die Informationen über verschiedene Regionen verteilt sind und erst beim »konzertanten«49 Zusammentreffen ein Konstruktionsprozess abläuft, den wir erinnern nennen. Wie radikal diese Erkenntnis mit der Alltagsvorstellung von Gedächtnis bricht, haben Leuzinger-Bohleber, Pfeifer und Röckerath (1998) ausführlich dargelegt. Sie zeigen dabei auch auf, dass viele Forschungsarbeiten nach wie vor ausgesprochen oder unausgesprochen Gedächtnis weiterhin als »gespeicherte Strukturen« konzipieren, obwohl ein solches Speichermodell bereits zu theoretischen Problemen führt, wenn versucht wird, vergleichsweise einfache Alltagsphänomene zu erklären. Mithilfe von Speichermodellen lässt sich beispielsweise nicht darstellen, auf welche 49 Wolf Singer bezeichnet das Gehirn auch als »Orchester ohne Dirigent«, z. B. Singer, 2005.

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Weise das »gespeicherte« Wissen sinnvoll auf eine neue Situation übertragen wird (Leuzinger-Bohleber, Pfeifer u. Röckerath, 1998, S. 532). Die Autoren weisen zudem auf ein grundsätzliches Problem der Gedächtnisforschung hin: Theorien über das Gedächtnis basieren immer auf der Beobachtung von Verhalten und nie auf einer wirklichen Kenntnis des postulierten inneren (Gedächtnis-) Mechanismus.50 Es ist von daher wichtig zu betonen, dass, wenn im Folgenden von verschiedenen Gedächtnissystemen die Rede sein wird, hierunter keine Speicherorte oder Module im Gehirn zu verstehen sind, auch wenn dies in der interdisziplinären Rezeption von Gedächtnistheorien nicht immer deutlich differenziert wird. Wichtig für das Verständnis aktueller Traumatheorien ist die Unterteilung in verschiedene Gedächtnissysteme. Neben der bekannten zeitabhängigen Unterscheidung in Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis werden Prozesse des Langzeitgedächtnisses in der kognitiven Neurowissenschaft anhand inhaltlich orientierter Dimensionen unterschieden (Markowitsch, 1997), die allerdings in der Forschungsliteratur nicht ganz einheitlich getroffen werden. Sowohl in der Traumaforschung (z. B. van der Kolk, 1996a und 1996b) als auch in der Entwicklungspsychologie und klinischen Psychologie (z. B. Stern, Bruschweiler-Stern, Harrison, Lyons-Ruth, Morgan, Nahum et al., 1998) und in der Literatur, die sich mit der Schnittstelle zwischen Psychoanalyse und Neurowissenschaften (z. B. Kandel, 1999; Davis, 2001) beschäftigt, wird dabei entweder auf die Unterscheidung zwischen explizitem und implizitem Gedächtnis, die auf Graf und Schacter (1985, zitiert nach Schacter, 1995) zurückgeht, oder auf die von Squire und später Tulving (1985) getroffene Einteilung in ein deklaratives Gedächtnissystem, das sich nochmals in ein episodisches und ein semantisches Gedächtnis aufteilt, und ein nichtdeklaratives oder prozedurales Gedächtnis zurückgegriffen. Die Begriffe deklarativ und explizit sowie im Gegensatz dazu nicht50

»Verhalten und innerer Mechanismus sind zwei unterschiedliche Kategorien« (Singer, 2005, S. 540). Wird aufgrund der Beschreibung von Verhalten dagegen ein innerer Mechanismus postuliert, wird ein sogenannter Kategorienfehler, der in der Kognitionswissenschaft auch unter dem Begriff »frame-of-reference-problem« bekannt ist, begangen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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deklarativ/implizit/prozedural werden in der Literatur häufig synonym verwendet, was sie strenggenommen trotz großer Ähnlichkeiten allerdings nicht sind: Die Einteilung implizit-explizit bezieht sich rein deskriptiv auf die Art des Abrufes von Gedächtnisinhalten, wie die eher technische Definition von Schacter zeigt, die keine konzeptionellen Annahmen über »Gedächtnissysteme« trifft. Explizites Gedächtnis setzt dabei einen bewussten Prozess des Erinnerns voraus und entspricht damit weitgehend dem Alltagsverständnis von Gedächtnis und Erinnerung: Explicit memory „is revealed when performance on a task requires conscious recollection of previous experiences“ (Schacter 1995, S. 815). Als implizit werden dagegen Gedächtnisprozesse verstanden, die kein bewusstes Erinnern erfordern, wie Fertigkeiten oder Gewohnheiten, klassisches und operantes Konditionieren, Habituation, Sensitivierung, Priming und motorisches Lernen: Implicit memory »is revealed when previous experience facilitate performance on a task that does not require conscious or intentional recollection« (Schacter, 1996, S. 815). Diese Form des Erinnerns kann auch als reflexiv und automatisch bezeichnet werden, sie bildet sich langsam und durch viele Wiederholungen (Kandel, Schwartz u. Jessell, 1996, S. 673 ff.). Der Abruf impliziten Wissens erfolgt durch Handeln, der von explizitem durch Denken.51 Freuds Feststellung, dass traumatische Erlebnisse durch Handeln erinnert werden, weist voraus auf die heutige Annahme, das traumatische Erlebnisse zumindest teilweise auf der Ebene des impliziten Gedächtnissystems verarbeitet werden. Anschaulich wird die Unterteilung in implizit-explizit anhand des wohl berühmtesten Patienten der Neurowissenschaften, H. M.: Die Untersuchungen mit H. M. formten die Grundlage für die Entdeckung verschiedener Gedächtnissysteme, die wesentlich 51

Dass sowohl mittels Denken als auch durch Handeln erinnert werden kann, gehört bereits zu den zentralen Entdeckungen Freuds (1914). Im Unterschied zu den gegenwärtig in der kognitiven Neurowissenschaft diskutierten Thesen ging er jedoch immer von einem einzigen Gedächtnissystem aus. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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auf den Arbeiten von Brenda Milner beruht (Kandel et al., 1996). H. M. konnte nach einer beidseitigen Entfernung des Hippocampus52 keine neuen Langzeitgedächtnisinhalte bilden, auch nicht für Personen, die er täglich sah. Gab man ihm jedoch motorische Aufgaben, wie bspw. die Umrisse eines Sterns nachzuzeichnen, während er seine Hand und den Stern dabei nur im Spiegel betrachten konnte, so stellte sich bei ihm nach einigen Tagen der gleiche Trainingseffekt ein wie bei gesunden Personen. Im Gegensatz zu letzteren war es H. M., wie seine verbalen Äußerungen deutlich zeigten, jedoch nicht bewusst, dass er den Test jemals zuvor gemacht hatte – er stritt ab, selbigen zu kennen (Kandel et al., 1996, S. 670 f.).53 Erfahrungen mit amnestischen Patienten, wie H. M., führten zu der für die Gedächtnistheorie einschneidenden Entdeckung mehrerer, voneinander differenzierbarer Gedächtnissysteme. Gleichzeitig fanden sich hierfür Evidenzen in der kognitiven Psychologie und der Neurobiologie (Schacter, 1995). Sehr wahrscheinlich sind die unterschiedlichen Gedächtnisarten auch an verschiedene Hirnstrukturen und neuronale Verbindungen gebunden: Der Fall H. M. zeigt, dass der Hippocampus eine zentrale Rolle bei der Bildung neuer, expliziter Langzeitgedächtnisinhalte, der sogenannten Konsolidierung, spielt. Mit der Unterteilung explizit/implizit lassen sich allerdings keine komplexeren Gedächtnisphänomene begrifflich fassen, da keine Aussage darüber getroffen wird, ob ein Gedächtnisinhalt prinzipiell bewusst zugänglich oder »repräsentiert« ist, jedoch nicht bewusst abgerufen werden kann. Solche Prozesse sind jedoch für die Frage nach der Erinnerung an traumatische Erlebnisse, aber auch für andere Konzepte und Gedächtnisphänomene, wie Verdrängung, psychodynamisch Unbewusstes etc., wichtig. Davis (2001) argumentiert deshalb, vor allem wenn es um die Beschreibung solcher für psychoanalytische Annahmen relevanter Gedächtnisprozesse geht, sich auf die Unterscheidung 52

Die Operation erfolgte zur Bekämpfung epileptischer Anfälle. H. M. wurde übrigens trotz seines völlig deprimierenden Zustands, er lebte pausenlos auf einer Zeitinsel von ca. einer Minute, niemals depressiv – dazu würde es wohl der Bildung von Erwartungen bedürfen, was bestimmte Gedächtnisprozesse voraussetzt. 53

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in ein deklaratives und prozedurales bzw. nicht-deklaratives Gedächtnissystem zu beziehen, da diese Einteilung auch theoretische Annahmen impliziert: Der Begriff declarative memory bezeichnet das Gedächtnissystem, das die Basis für das bewusste Erinnern von Ereignissen und Fakten formt (Squire, 1994, S. 203 zitiert nach Davis, 2001, S. 451). Als deklarativ wird Wissen bezeichnet, das deklarierbar und damit – prinzipiell – sprachlich, bildhaft oder symbolisch dargestellt werden kann (»wissen, dass«).54 Als prozedural wird dagegen das Fertigkeitenwissen bezeichnet (»wissen, wie«). Eine Orientierung an dieser Einteilung ermöglicht auch eine Beschreibung des Übergangs von bewussten zu nicht-bewussten Prozessen, das wohl am häufigsten zitierte Beispiel hierfür ist Autofahren: Schaltet man von einem Gang in den nächsten, so wird das hierfür benötigte Wissen nicht explizit abgerufen – es ist hoch automatisiert, seine Existenz äußert sich in der Handlung des Schaltvorgangs (Kandel, 1999; Dornes, 1997a). Dieses Wissen ist allerdings prinzipiell sprachlich darstellbar und wurde zunächst auch deklarativ erlernt, jede einzelne Bewegung und jeder Ablauf erfolgte zunächst bewusst, bis sich schließlich durch Übung der komplexe Bewegungsablauf so automatisiert hat, dass aus dem zunächst deklarativen Wissen prozedurales wird. Anders verhält es sich bei der frühkindlichen Entwicklung: Während prozedurales Wissen von Geburt an existiert, bildet sich das deklarative Gedächtnis erst sehr viel später, da es an die Reifung bestimmter Hirnstrukturen gebunden ist. Laufen wird im Gegensatz zu Autofahren nicht zunächst deklarativ erlernt, sondern ist von Beginn an prozedural. Prozedurales Wissen lässt 54 Squire unterschied ursprünglich deklaratives von prozeduralem Gedächtnis, später wurden weitere nicht-deklarative Gedächtnisformen, die den oben genannten impliziten Formen des Erinnerns entsprechen (Konditionieren etc.), hinzugenommen (siehe Abbildung), so dass sich teilweise auch die Unterscheidung zwischen deklarativem und nicht-deklarativem Gedächtnis durchgesetzt hat. Viele Autoren beziehen sich in diesem Zusammenhang auch auf die von Endel (Tulving, 1985) getroffene Unterscheidung in episodisch-semantisch-prozedural. Episodisch und semantisch sind dabei zwei Arten des deklarativen Gedächtnisses.

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sich, wie Dornes (1997a) bemerkt, in solches, das zunächst deklarativ/explizit/bewusst war, und in solches, das von Beginn an prozedural/implizit/unbewusst war, unterteilen.55 Diese Unterscheidung hat auch die Überlegungen zum dynamisch Unbewussten in der Psychoanalyse verändert, da sämtliche frühkindlichen Erfahrungen, wie Affektlernen und Beziehungswissen56 oder internale Arbeitsmodelle von Bindung (siehe Kapitel 6), demnach als prozedural anzusehen sind und damit als nicht im dynamischen Sinne unbewusst, da dieses Wissen nicht verdrängt wurde, sondern außerhalb des Bewusstseins operiert (Stern et al., 1998).57 Aktuelle Traumatheorien erklären mithilfe der verschiedenen Gedächtnissysteme dissoziative Vorgänge damit, dass sie implizit verarbeitet werden, oder nehmen wie van der Kolk (s. u.) ein eigenes Traumagedächtnis an.

Van der Kolks Konzept eines Traumagedächtnisses »These complicated functions of the mind/brain are accomplished by multiple layers of interconnected clusters of neurons with specialized functions. The modern tendency to attempt to reduce disruptions of these various functions to abnormalities of one parti55

Diese Differenzierung ließe sich mit dem Begriffspaar explizit-implizit nicht treffen, da keine Aussage über die Beschaffenheit des Gedächtnisinhaltes getroffen wird. 56 Daniel Stern und die Boston Study Group of Change (1998) verstehen unter implicit relational knowing (implizites Beziehungswissen) das Wissen, was benötigt wird, um in einem spezifischen Beziehungskontext jeweils zu tun, denken, fühlen, was geboten ist – und dieses Wissen wird, wie auch in der Bindungstheorie angenommen (siehe Kapitel 6), frühkindlich in ersten Beziehungserfahrungen erworben. 57 Stern und Mitarbeiter ziehen aus diesen Überlegungen und ihren Beobachtungen in Psychoanalysen die sehr interessante Schlussfolgerung, dass für den therapeutischen Prozess im Gegensatz zu der klassischen Annahme keine Umwandlung in explizites/bewusstes und damit sprachlich-symbolisches Wissen notwendig sei, sondern durch die therapeutische (Beziehungs-)Erfahrung Veränderungen auf der impliziten Ebene erfolgen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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cular neurotransmitter system, or to dysfunction in one particular anatomical location, reflects an overly simplistic understanding of the reality of human psychopathology. However, it is likely that I will commit some of these same sins of oversimplification in this chapter as well« (van der Kolk, 1996a, S. 215).

Obwohl moderne Gedächtnistheorien davon ausgehen, dass sich im Gehirn keine Eins-zu-eins-Abbilder von erlebten Episoden befinden, sondern Gedächtnisprozesse immer aktuellen Überarbeitungen unterliegen, wird für traumatische Erinnerungen von einigen sehr einflussreichen Autoren das genaue Gegenteil angenommen. Nach van der Kolks (1996) Theorie gibt es einen speziellen Weg, auf dem traumatische Erfahrungen verarbeitet werden, der zu einer grundsätzlich anderen Enkodierung dieser Erlebnisse führe. In Anlehnung an Janet geht van der Kolk von einem »narrativen« Gedächtnis, in dem normalerweise autobiographische Erinnerungen gespeichert sind, und einem speziellen »traumatischen Gedächtnis« aus. Seine Überlegungen leitet er im Wesentlichen aus der Beobachtung ab, dass traumatische Erlebnisse von Betroffenen zunächst nicht narrativ erinnert würden, sondern in Form fragmentierter sensorischer Komponenten des Ereignisses. Erinnert werden lediglich visuelle Bilder (images), Gerüche, Geräusche, kinästhetische Wahrnehmungen und intensive Affekte. Traumatisierte Personen gäben an, dass es sich bei diesen sensorischen Erinnerungen um „exakte Repräsentationen von Sinnesempfindungen (sensations) zu der Zeit des Traumas« (van der Kolk et al., 1996, S. 287, Übersetzung I. L.) handele. Van der Kolk erklärt dies in Anlehnung an eine bekannte, allerdings nicht unumstrittene Theorie über emotionale Verarbeitung von LeDoux (1996).58 Aufgrund der hohen Erregung und der damit einhergehenden Ausschüttung von Stresshormonen während einer traumatischen Situation werden nach dieser Theorie normalerweise bestehende Verbindungen zwi58 Ein Problem der Theorie LeDoux’ ist, dass sie komplexe Zusammenhänge stark vereinfacht, was unter Umständen auch die Popularität von LeDoux’ Thesen erklärt.

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schen für die Informationsverarbeitung und Gedächtniskonsolidierung verantwortlichen Hirnstrukturen unterbrochen. Entscheidend ist hierbei die Störung der Verbindung zwischen Amygdala59, verantwortlich für emotionale Bewertung, und Hippocampus, ohne dessen Beteiligung, wie dargestellt, explizite Gedächtnisvorgänge nicht möglich sind. Die emotionale Bewertung der einströmenden Informationen sei so zwar weiterhin gegeben, vor allem aufgrund der in extremen Stresssituationen nicht mehr verfügbaren Verbindungen zum Neocortex (Großhirnrinde) können sie jedoch nicht integriert und mit Bedeutung versehen werden. Traumatische Erfahrungen werden damit auf einer, hirnphysiologisch gesprochen, niedrigeren Ebene verarbeitet und gespeichert. Autobiographisches Erinnern setzt dagegen wie alle komplexen Bewusstseinsvorgänge die Involviertheit des Neocortex voraus. Mithilfe dieser Diskonnektionstheorie lässt sich erklären, warum traumatische Erlebnisse nicht oder nur partiell ins deklarative (Langzeit-)Gedächtnis integriert werden. Unterstützung erhält diese These auch von einer oft zitierten PET-Untersuchung. In einer Symptom-Provokationsstudie zeigten Rauch und Shin (1997), dass Probanden, wenn sie sich eine erlebte traumatische Situation bildlich vorstellten, bestimmte, für die Verarbeitung von Emotionen relevante Hirnstrukturen (Amygdala, limbische Strukturen) rechtshemisphärisch eine stark erhöhte Aktivität, gemessen an der regionalen Hirndurchblutung im PET, aufwiesen, während ein bestimmtes, für die Verbalisierung von Erfahrungen zuständiges Areal, das sogenannte Broca-Areal, eine deutliche Verringerung der Aktivität gegenüber einer neutralen Kontrollsituation zeigte. Diese Ergebnisse interpretieren die Autoren dahingehend, dass traumatische Erinnerungen in anderen Hirnstrukturen verarbeitet würden und deshalb nicht verbalisierbar seien. Auch bei dieser Untersuchung ist das methodische Vorgehen kritisch zu bewerten, u. a. beruhte die Studie nur auf acht Probanden. Unklar 59 Die Amygdala (Mandelkern) wird mit der Steuerung von Verhaltensund Denkprozessen, aber auch von emotionalen Vorgängen in Verbindung gebracht.

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bleibt auch, wie die Untersucher Skripts der traumatischen Situation anfertigen konnten, mit denen die Probanden dann im PET konfrontiert wurden, wenn sich diese angeblich nicht narrativ erinnern konnten. Dissoziation, allerdings nicht Verdrängung, und der damit vermutete gestörte Enkodierungsprozess wären damit auf neuronaler Ebene erklärbar, van der Kolks Theorie besticht fraglos aufgrund ihrer Anschaulichkeit. Auch lassen sich auf dieser Basis einige von Freuds metaphorischen Begriffen nun in die Sprache der Neurowissenschaften übersetzen: Das »Energietrauma« wäre dann ein sowohl durch einen äußeren Reiz als auch durch eine darauf folgende dysregulierte Stressreaktion bedingtes »neurochemisches Trauma«. Der Reizschutz läge in der normalerweise vorhandenen Verbindung zum Neocortex, wo in nicht traumatischen Situationen die bewusste Verarbeitung und Integration von Erlebtem und auch die Auswahl dessen, was erinnert wird, stattfindet.60 Leys (2000) nennt einige Kritikpunkte an van der Kolks Thesen: Zum einen würden seine Annahmen in weiten Teilen nicht auf gesicherten Ergebnissen beruhen, sondern auf teilweise fragwürdigen Untersuchungen. Sie stellt zum Beispiel fest, dass van der Kolk lediglich untersucht hat, auf welche Arten erinnert wird (olfaktorisch, visuell usw.), sich aber nicht bemühte zu erfahren, was erinnert wurde. Studien, die die Inhalte von Alpträumen von Vietnam-Veteranen analysierten, kamen zu einem konträren Ergebnis: Die Träume stellten keineswegs Repliken der traumatischen Situation dar, sondern wie bei jedem Traumgeschehen wurden erlebte Szenen verändert und überformt (zu einer ausführlichen Kritik an van der Kolks Argumentation siehe Leys, 2000). Gegen die Annahme eines besonderen traumatischen Gedächtnisses spricht außerdem die Tatsache, dass die Inhalte eines traumatischen Ereignisses in vielen Fällen sehr wohl autobiographisch erinnert werden können (Bohleber, 2003), was 60

Da bestimmte Regionen wie der Präfrontalkortex erst im Laufe der Entwicklung ausreifen, passt dann hier auch die Annahme von Khan, dass zunächst die Mutter oder eine andere Bezugsperson Aufgaben wie die Affektregulation übernimmt. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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zumindest die postulierte Allgemeingültigkeit einschränken würde.61 Berichte von traumatisierten Personen und auch Besonderheiten in Interviews sprechen dafür, dass es zu einer anderen Verarbeitung auch auf Hirnebene kommen kann, und es ist plausibel, dass in der traumatischen Situation selbst Stresshormone die kognitive Verarbeitung der Situation und die Gedächtniskonsolidierung verändern. Aber auch hier ist das individuelle Spektrum der Reaktionen sehr groß, so dass die Frage einer Traumadiagnose nicht an solche spezifischen Reaktionen geknüpft werden darf. Vor dem Hintergrund der aktuellen Gedächtnisforschung erscheint es insgesamt wenig einleuchtend, dass van der Kolk quasi wieder von »eingravierten Gedächtnisspuren« und damit einem sehr mechanischen Verständnis von Gedächtnis ausgeht. Allerdings differenziert er hier durchaus, indem er, bezogen auf das »narrative Gedächtnis«, annimmt, dass diese Erinnerungen keinen Abbildcharakter hätten. Gegen Einwände kann er seine Theorie mithilfe dieser Unterscheidung dann auch geschickt immunisieren: »The irony is that although the sensory perceptions reported in PTSD may well reflect the actual imprints of sensations that were recorded at the time of the trauma, all narratives that weave sensory imprints into socially communicable stories are subjected to condensation, embellishment, and contamination« (van der Kolk et al., 1996, S. 296).

Die angeblich im Gedächtnis vorhandenen eingravierten Repliken des Traumas entziehen sich damit – bis zu einer Weiterentwicklung der Hirnforschung? – jedem Zugang: Sobald sie in Sprache gefasst und kommuniziert werden, sind sie bereits verändert und überformt. Aus theoretischer Sicht ist zudem nicht nur zu kritisieren, dass van der Kolk nicht nur wieder auf ein Speichermodell zurückgreift, sondern auch, dass er aus seiner 61 Wie Bohleber und Leys bemerken, formuliert van der Kolk die entscheidenden Passagen seiner Theorie übrigens im Konjunktiv, was in der Rezeption jedoch kaum beachtet wird.

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Verhaltensbeobachtung auf einen inneren Mechanismus schließt, ohne beides deutlich voneinander zu unterscheiden (siehe Leuzinger-Bohleber et al., 1998). Diese Einwände bedeuten keineswegs, dass es in einer traumatischen Situation nicht durchaus zu einer Unterbrechung der normalen Wahrnehmung und Kognition kommen kann und peritraumatisch die Aufmerksamkeit stark fokalisiert wird. Ob für die beschriebenen Gedächtnisphänomene jedoch tatsächlich andere Gedächtnisprozesse verantwortlich sind, ist damit noch nicht geklärt.62 Interessant an van der Kolks Ansatz ist, dass er, verglichen mit dem beschriebenen Modell von Horowitz, das Trauma, wie Leys bemerkt, wieder vom mind (Informationstrauma) in den body zurückverlegt (Leys, 2000). Wie Trauma als »Körpertrauma« konzipiert werden kann, ohne dass auf theoretisch problematische Vorstellungen über gespeicherte Strukturen zurückgegriffen werden muss, zeigen Leuzinger-Bohleber, Henningsen und Pfeifer (2008) mithilfe der Gedächtnisforschung der embodied cognitive science. Nach diesem Ansatz entsteht Gedächtnis immer durch eine Verkopplung sensorischer und motorischer Prozesse, die sich gegenseitig beeinflussen. Dass die Annahme der Speicherung spezifischer Inhalte oder Strukturen wenig plausibel ist, leitet die embodied cognitive science dabei unter anderem aus der Simulation von Gedächtnis- bzw. Lernprozessen mithilfe von Robotern ab. Hier wird schnell augenfällig, dass Speichermodelle nicht erklären können, wie in früheren Situationen Gelerntes auf eine neue Situation übertragen werden kann. Nach einer Definition von Clancey (1993, zitiert nach Leuzinger-Bohleber et al., 2008, 62 Nach Leys (2000) These kann die Nicht-Repräsentierbarkeit genauso auf »post-hypnotischem« Vergessen beruhen und nicht auf einem speziellen »Traumagedächtnis«. Ihrer Ansicht nach oszillieren die Traumamodelle des 20. Jahrhunderts zwischen der Vorstellung, bei der traumatischen Erinnerung handele es sich um einen realitätsgetreuen »Abdruck« im Gedächtnis und dem von ihr als hypnotisch-mimetisch bezeichneten Modell, bei dem sich die Erinnerung einer nachträglichen Repräsentation entzieht (Leys, 2000; Bohleber, 2003).

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S. 158) wird bei diesem Ansatz Gedächtnis vielmehr als »Fähigkeit, neurologische Prozesse analog zu einer früheren Situation zu koordinieren und sensorische und motorische Vorgänge entsprechend zu kategorisieren« aufgefasst. Erinnern besteht damit in der Generierung einer spezifischen Koordinierungsleistung. Es hat zudem immer eine körperliche (sensorische) Seite und wird nie losgelöst davon als mentales Phänomen betrachtet. Entsprechend kann auch nicht, bezogen auf ein Trauma, von einer Reaktivierung gesprochen werden, sondern eine, einer früheren Situation analoge, sensomotorische Koordinierung geschieht – aufgrund bestimmter (körperlicher) Interaktionen mit der Umwelt – aktuell (Leuzinger-Bohleber et al., 2008).

Psychobiologische Studien zu Trauma Wie gravierend Veränderungen auf körperlicher Ebene nach traumatischen Ereignissen sein können, scheinen unter anderem Befunde zu biologischen Veränderungen aus der PTSD-Forschung zu zeigen (für einen Überblick siehe Yehuda u. McFarlane, 1997). Morphologische Veränderungen sind vor allem am Hippocampus festgestellt worden.63 Diese Studien unterstützen die im van-derKolk-Modell formulierte Vorstellung einer anderen bzw. unterbrochenen Arbeitsweise des Hippocampus. Verschiedene Studien fanden ein geringeres Hippocampus-Volumen bei PTSD-Patienten gegenüber gesunden Kontrollgruppen. Verursacht wird dies vermutlich von stressbedingt vermehrt ausgeschütteten Glukokortikoiden und exzitatorischen Aminosäuren (z. B. Glutamat). Dabei zeigten sich um bis zu 26 % reduzierte Volumina des linken und rechten Hippocampus bei Vietnam-Veteranen mit PTSD (Gurvits et al., 1996), verglichen mit Veteranen ohne PTSD und einer gesunden Kontrollgruppe. Zu einem ähnlichen, wenn auch nicht ganz so gravierenden Ergebnis kommt die Untersuchung von Stein, Hanna, Koverola, Torchia u. McClarty (1997), in der bei in der Kindheit sexuell missbrauchten Frauen mit PTSD ein um 7 % re63 Dazu gehören vermindertes Zellwachstum und neuronaler Zelltod, vor allem in der CA3 Region.

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duziertes Hippocampus-Volumen festgestellt wurde. Die Anzahl der PTSD-Symptome erwies sich in diesen Untersuchungen als proportional zur Reduzierung des Hippocampus-Volumens. Hier lässt sich wieder eine Verbindung zu van der Kolks Modell herstellen, da solche Ergebnisse die Annahme einer eingeschränkten Hippocampus-Funktion bei der Enkodierung traumatischer Erlebnisse stärken. Die Interpretation der Ergebnisse ist allerdings keineswegs einfach, da es sich sowohl um eine Stressfolge handeln könnte als auch auf den bei erwachsenen PTSD-Patienten häufig stark erhöhten und als Selbstmedikation eingesetzten Alkoholkonsum, der ebenfalls Veränderungen am Hippocampus bewirkt, zurückgehen könnte (Stein et al., 1997). Eine dritte mögliche Erklärung besteht in der Annahme, dass ein bereits vor einer Traumatisierung bestehendes geringeres Hippocampus-Volumen bei einem Trauma die Entwicklung einer PTSD befördert und somit als Risikofaktor fungiert. Solche Hypothesen können schnell in Richtung einer biologischen Prädisposition, auf potenziell traumatische Ereignisse mit einer Traumatisierung zu reagieren, missverstanden werden und bedürfen entsprechend nicht nur einer besonders sorgfältigen und noch ausstehenden Abklärung, sondern es ist nochmals zu betonen, dass diese Befunde sich lediglich auf Zusammenhänge mit PTSD-Symptomen beschränken, nicht auf diverse weitere Folgen psychischer Traumatisierungen. Wie Sachsse und Roth (2008) in einem aktuellen Überblick zur neurobiologischen Traumaforschung feststellen, steht zudem aus, die genauen Ursache-Wirkungs-Verhältnisse mithilfe von Längsschnittuntersuchungen zu klären. Wenig diskutiert wird bei der Rezeption solcher Ergebnisse auch die Plastizität des Gehirns. So ist es äußerst interessant, dass sich das Hippocampus-Volumen offenbar auch noch im Erwachsenenalter vergrößern kann. Eine Studie mit Londoner Taxifahrern zeigte, dass deren Hippocampus sich volumenmäßig vergrößert, je länger sie als Taxifahrer durch London fahren (Markowitsch u. Welzer, 2005). Der Befund weist auf die ursprüngliche (phylogenetisch alte) Rolle des Hippocampus bei der räumlichen Integration hin.

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3 Trauma – eine kritische Begriffsbestimmung

3.10 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen für den Flüchtlingsbereich Im Mittelpunkt der meisten traumatheoretischen Ansätze stehen die verschiedenen Gedächtnisphänomene, die mit Trauma einhergehen. Freud entdeckte, dass traumatische Erlebnisse verdrängt werden, weil sie zu schmerzhaft sind, und dieses NichtErinnern pathogen wirken kann. Ebenso beschrieb er die nachträgliche Wirkung von Reaktualisierungen sowie Reinszenierungen als eine Form des Erinnerns. Die biographisch zerstörerische Kraft traumatischer Erlebnisse zeigt sich in diesem Leiden an traumatischen Erinnerungen und der damit einhergehenden unbewussten Wiederholung des Traumas. Janet nahm als Kernmechanismus für traumabedingte Gedächtnisstörungen die Dissoziationen an und sprach von einem besonderen Traumagedächtnis, ein Modell, mit dem auch aktuelle neurowissenschaftliche Ansätze zu erklären versuchen, warum traumatische Erinnerungen nicht – oder zumindest oft nicht narrativ – erinnert werden können. Die Frage nach der Erinnerung an das Trauma ist deshalb so zentral, weil sich hier die traumaspezifische Verknüpfung von »innen« und »außen«, »Subjekt« und »Umwelt« spiegelt, sie sich zugleich aber in vielen Fällen des Zugriffes und damit der Zeugenschaft entzieht. Ob dies auf fehlende oder fragmentierte Repräsentation, gestörten Abruf oder gestörte interindividuelle, kommunikative Prozesse zurückgeht, ist dabei keineswegs geklärt. Die Vorstellung, traumatische Erinnerungen entsprächen exakten Repliken der unmittelbaren sensorischen Eindrücke während der traumatischen Situation, kann einige Gedächtnisphänomene erklären, ist aber aus Sicht dynamischer Gedächtnistheorien kritisch zu betrachten. Auch ist die Frage nach Erinnerungsstörungen nur ein Aspekt und nur eine mögliche psychische Folge von Trauma. Die Holocaust-Forschung und objektbeziehungstheoretische Ansätze wie der von Dori Laub zeigen, dass traumatisierte Personen durchaus über autobiographische Erinnerungen an das Geschehene verfügen können, interindividuelle und gesellschaftli© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

3.10 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

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che Bedingungen jedoch ein Erzählen und öffentliches Erinnern verhindern können. Individualpsychologische und soziale Prozesse greifen damit bei Traumatisierungen auch über die traumatische Situation hinaus ineinander, was jedoch nur in den wenigsten theoretischen Konzeptionen des Traumabegriffes beachtet wird. Eine Ausnahme bildet hier das Modell der »sequentiellen Traumatisierung« von Hans Keilson. Insbesondere die Frage nach der gesellschaftlichen Bedingtheit wird im Zusammenhang mit in der Psychologie dominierenden Ansätzen wie PTSD nicht mehr gestellt, da diese lediglich als »auslösendes Ereignis« betrachtet werden. Damit werden problematischerweise auf therapeutischer und wissenschaftlicher Ebene sowohl die gesellschaftlich-historische Dimension als auch der jeweilige biographische und familiäre Kontext weitgehend ausgeklammert. Die Untersuchung traumatischer Prozesse muss jedoch immer sowohl die individualpsychologische als auch die soziale Ebene in den Blick nehmen. Trotz einer Anerkennung der psychischen Folgen nach einer Traumatisierung durch die Entwicklung des PTSD-Konzeptes bleibt der wissenschaftliche und gesellschaftliche Umgang mit Trauma und Traumatisierten damit ambivalent. Wie die Darstellung der sozialen Realität der Flüchtlinge zeigte, ist dies bei den Folgen sogenannter man made disaster in besonderem Maße der Fall. PTSD wird deshalb in diesem Bereich bereits seit über zehn Jahren nicht nur als unzureichendes Konzept, sondern auch als eines mit gravierenden negativen Folgen kritisiert (Becker, 1992; Summerfield, 1993; Bracken u. Petty, 1998). Im Flüchtlingsbereich zeigt sich dies in besonders zugespitzter Form: Indem einerseits Traumatisierungen aufenthaltsrechtlich geltend gemacht werden können, erfolgt eine gewisse Beachtung der psychosozialen Situation der Flüchtlinge, gleichzeitig bleibt diese Anerkennung vordergründig, da Trauma vor allem von administrativer Seite weitgehend mit PTSD gleichgesetzt wird und Flüchtlinge (sowie Gutachter) auf diese Weise in ein bestimmtes Trauma- bzw. Krankheitsbild gezwungen werden, das zudem das Trauma zum privaten (gesundheitlichen) Problem der Betroffenen werden lässt.

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4 Krieg und Flucht im Kindesalter – Forschungsstand

Wie die Traumaforschung insgesamt wird auch die wenige Forschungsliteratur zu der Frage, wie Kinder Krieg und Flucht erleben, weitgehend von PTSD-orientierten Untersuchungen bestimmt. Umso bemerkenswerter ist es, dass eine der nach wie vor wegweisenden Veröffentlichungen auf diesem Gebiet, die Studie »War and Children« (1943) von Anna Freud und Dorothy Burlingham komplett ohne den Traumabegriff auskommt. Wissenschaftstheoretisch betrachtet ist ebenfalls beachtlich, dass Freud und Burlingham viele Ergebnisse aktueller Studien vorwegnehmen, auch wenn ihr Vorgehen heutigen methodischen Kriterien nicht genügen würde. Sie zeigen damit auch, welcher Methoden es unter Umständen nicht bedarf, um zu wesentlichen Erkenntnissen zu gelangen. Es wird aber auch deutlich, wo traumatheoretische Konzepte eine bereichernde Qualität zu bieten haben. Ich beginne den folgenden Überblick über die Forschungsliteratur mit einer Darstellung der Studie von Freud und Burlingham, bevor ich auf Untersuchungen zur Kriegskindergeneration in Deutschland eingehe. Dieses Thema ist für die vorliegende Untersuchung in doppelter Hinsicht interessant, da sich hieraus nicht nur Erkenntnisse zu Kriegskindheiten allgemein ableiten lassen, sondern auch wichtige Aspekte des gesellschaftlichen Umgangs mit den Folgen von Krieg und Flucht in Deutschland deutlich werden. Im letzten Teil des Kapitels stelle ich die aktuelle internationale Forschung zu den Folgen von Krieg und Flucht im Kindesalter vor, wobei ich mich schwerpunktmäßig auf Arbeiten beziehe, die für die Situation von Flüchtlingskindern in Deutsch© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

4.1 Die Studie von Anna Freud und Dorothy Burlingham

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land bzw. Europa relevant sind. Der Fokus des Überblicks liegt dabei auf der Frage, welche psychischen Folgen sich bei den Kindern zeigen und welche Hinweise auf günstige Entwicklungsverläufe sichtbar werden. Veröffentlichungen zu speziellen Interventionsprogrammen und einzelnen therapeutischen Ansätzen mit Flüchtlingskindern können dagegen hier nicht detailliert besprochen werden.

4.1 Die Studie von Anna Freud und Dorothy Burlingham: »War and Children« Bereits 1943 erschien »War and Children« von Anna Freud und Dorothy Burlingham, eine der ältesten und bekanntesten Veröffentlichungen zu diesem Thema, vor allem was das Erleben von Krieg und kriegsbedingten Trennungen im sehr frühen Kindesalter betrifft. A. Freud und Burlingham beschreiben in dem Buch ausführlich ihre Erfahrungen, die sie während des Zweiten Weltkrieges in den drei Häusern der Londoner Hampstead Nurseries, einer Unterbringungsmöglichkeit für Babys und Kleinkinder, einer Tagesstätte und einem Landhaus für evakuierte Kinder zwischen drei und sechs Jahren, gemacht haben. Eine ihrer wichtigsten Erkenntnisse ist, dass Kinder den Krieg in erster Linie vermittelt durch ihre Familie erfahren, und zwar sowohl durch kriegsbedingte Trennungen als auch aufgrund der elterlichen Reaktion.

Bedeutung kriegsbedingter Trennungen Sie stellen zum Beispiel im Zusammenhang mit dem groß angelegten britischen Evakuierungsprogramm fest, dass die Kinder letztendlich weniger unter den Bombardierungen in London litten als darunter, zum Schutz vor den Bombenangriffen aufs Land evakuiert und damit von ihren Familien getrennt zu werden: © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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4 Krieg und Flucht im Kindesalter – Forschungsstand »The war acquires comparatively little significance for children so long as it only threatens their lives, disturbes their material comfort or cuts their food rations. It becomes enormously significant in the moment it breaks up their family life and uproots the first emotional attachment of the child within the family group« (Freud u. Burlingham, 1943, S. 37).64

Wie gravierend die Folgen dieses Evakuierungprogramms waren, zeigt eine britische Untersuchung sechzig Jahre später : Ehemalig evakuierte Personen unterschieden sich, verglichen mit Gleichaltrigen, die zwar ebenfalls die Kriegs-, nicht aber die Trennungserfahrung machten, in verschiedenen Bereichen signifikant. Sie berichteten häufiger von psychischen Problemen, verfügten über weniger soziale Unterstützung und wiesen mehrheitlich ein unsicheres Bindungsmuster auf (Foster, Davies u. Steele, 2003, siehe auch Kapitel 6). Allerdings ist dazu zu bemerken, dass gerade die Trennungssituation bei den damaligen Evakuierungen in vielen Fällen äußerst ungünstig organisiert war und vermutlich dadurch eine traumatische Qualität bekam. Oft gab es auch für die sehr kleinen Kinder keine begleitete Eingewöhnungszeit in der neuen Unterkunft, viele Kinder konnten nur selten besucht werden und zudem war das Ende der Trennung für die Kinder nicht absehbar.

Bedeutung der Reaktion der Eltern Die zweite wichtige Feststellung von A. Freud und Burlingham war, dass die Reaktionen der Kinder auf die Kriegsereignisse wesentlich von den Reaktionen der sie umgebenden Erwachsenen abhingen. So blieben die Kinder von ruhigeren Müttern 64

»Der Krieg bedeutet für die Kinder wenig, solange er nur ihre körperliche Sicherheit bedroht, ihre Lebensbedingungen verschlechtert und ihre Rationen kürzt. Er gewinnt erst einschneidende Bedeutung, wenn er den Familienverband auflöst und damit die ersten Gefühlsbindungen der Kinder an ihre Angehörigen erschüttert« (aus der deutschen Übersetzung: A. Freud u. D. Burlingham (1971): Heimatlose Kinder. Zur Anwendung psychoanalytischen Wissens auf der Kindererziehung, Frankfurt, S. 29). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

4.1 Die Studie von Anna Freud und Dorothy Burlingham

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häufig auch sehr ruhig und zeigten keine Ess- oder Schlafprobleme während der Luftangriffe. Ganz anders verhielten sich Kinder, die nicht nur mit den Angriffen, sondern auch mit einer hohen Ängstlichkeit ihrer Mütter konfrontiert waren. Auch diese Beobachtung bestätigen neue quantitative PTSD-orientierte Studien, die den Zusammenhang von mütterlichen/elterlichen Reaktionen und denen ihrer Kinder nach traumatischen Erlebnissen auf der Ebene psychopathologischer Symptome untersuchen (siehe unten). Die Luftangriffe mitzuerleben oder sogar von Trümmern verschüttet zu sein, führte bei den Kindern dagegen, solange sie nicht selbst schwer verletzt wurden, nicht zu unmittelbaren Schockreaktionen. Es blieben Vorfälle, wie andere Vorfälle auch.

Altersspezifität der Reaktionen Die dritte wesentliche Feststellung von A. Freud und Burlingham bezieht sich auf die Frage alterspezifischer Reaktionen. Wie später Keilson systematisch zeigte, beobachteten auch Freud und Burlingham, dass Kinder abhängig von ihrem Alter unterschiedliche Reaktionen zeigen. Dabei weisen Entwicklungsstufen, die die Kinder auch normalerweise durchlaufen würden, teilweise andere Qualitäten auf, da sie mit Kriegserlebnissen zusammengebracht werden. A. Freud und Burlingham haben versucht, diese Reaktionen mit Hilfe ihres entwicklungspsychologischen und psychoanalytischen Wissens so zu ordnen, dass tatsächlich alarmierende und eher harmlose Reaktionen voneinander unterschieden werden können. Als tatsächlich alarmierend bezeichnen sie deutliche Verhaltensänderungen oder -auffälligkeiten, im Gegensatz dazu können teilweise schockierend klingende Äußerungen oder Spiele, wie das Nachspielen von Luftangriffen, auch im Zusammenhang mit Entwicklungsphasen stehen. Zweijährige Kinder tendieren beispielsweise generell zu aggressiven Spielformen. Kriegsspiele sind dann nicht unbedingt eine Kriegsfolge, Begriffe und Phantasien werden lediglich den Kriegserlebnissen entliehen. Allerdings kann es durchaus problematisch werden, Kindern in diesem Alter in © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Kriegszeiten zu vermitteln, dass sie nicht ihren aggressiven Wünschen entsprechend handeln sollen, wenn sie gleichzeitig real extremer Destruktion ausgesetzt sind. Ein anderes Beispiel für alterspezifische Reaktionen sind die Ängste von vier- bis fünfjährigen Kindern: Aufgrund der Gewissensbildung entwickeln Kinder in diesem Alter eine normale Angst davor, bestraft zu werden oder die Liebe der Eltern zu verlieren, wenn sie etwas falsch gemacht haben. Sie entwickeln auf diese Weise einen Sinn für Verbotenes und Erlaubtes und werden zunehmend selbstständiger. Während des Krieges beobachteten die Autorinnen, dass für einige Kinder die Luftangriffe zu einem neuen Symbol der persönlichen Bestrafung wurden. Gängige Symbole für Gewissensängste sind Polizisten, die sie einsperren, Räuber, die sie stehlen, Löwen, Tiger usw. Die Entwicklung der Kinder wird dagegen sehr viel schwieriger, wenn sie reale Erlebnisse im Nachhinein als Bestrafung interpretieren. Ein von A. Freud und Burlingham beschriebenes Mädchen, Janet, 5 Jahre, erinnerte sich beispielsweise folgendermaßen an einen Bombenangriff in der Nähe des Landhauses, in dem die evakuierten Kinder untergebracht waren: »Do you remember the first night here when we all were so noisy that the Germans dropped a bomb on our house? But it was so very far away«. Der Angriff ereignete sich allerdings nicht, wie Janet meint, in der ersten Nacht, die sie dort verbrachte, sondern nach etwa einer Woche.

Verzögerte Reaktionen A. Freud und Burlingham beobachteten zudem verzögerte Reaktionen bei den Kindern. Vor allem die jüngeren Kinder drücken Ereignisse, die sie durchaus bewusst miterlebt haben, oft erst Monate später aus. Sie verändern sie dabei im Spielen und Erzählen oft so, dass sie erträglicher werden oder ihren Wünschen entsprechen. Zum Beispiel spielen sie, dass der bei einer Bombardierung ums Leben gekommene Vater auf dem Land sei und nach Kriegsende mit der Eisenbahn wieder zurückkäme. Traumatheoretisch ausgedrückt (siehe Kapitel 5) entwickeln sie © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

4.2 Kriegskinder in Deutschland

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ein traumakompensatorisches Schema. Unter anderem mit diesem Konzept bietet die aktuelle Traumaforschung eine bereichernde Sicht auf die Darstellungen von A. Freud und Burlingham.

4.2 Kriegskinder in Deutschland Im Gegensatz zu Großbritannien gab es in Deutschland unmittelbar nach dem Krieg kaum Veröffentlichungen zu den betroffenen Kindern. Ganz offensichtlich hat die nach wie vor schwierige Frage, wie angesichts der Verbrechen des Nationalsozialismus die Leiden der in weiten Teilen in den Nationalsozialismus verstrickten nicht jüdischen deutschen Zivilbevölkerung thematisiert werden kann, ohne dabei die Grenze zwischen Opfern und Tätern zu verwischen, dazu geführt, dass eine intensive Auseinandersetzung mit der damaligen Kriegskindergeneration erst in den letzten Jahren, fünfzig bis sechzig Jahre nach Kriegsende, begonnen hat. Dabei darf allerdings nicht vergessen werden, dass es auch vorher durchaus eine öffentliche Beschäftigung mit diesem Thema gab, nicht zuletzt die Filme über Flüchtlings- und Findelkinder in den 1950er Jahren oder die jährlich abgehaltenen Gedenkveranstaltungen zur Bombardierung Dresdens zeugen davon. Seitdem in den letzten Jahren jedoch zunehmend wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Publikationen sowie Biographien zur Kriegskindergeneration erschienen sind, ist das Interesse sehr hoch.65 Aus zwei Gründen ist diese Literatur auch für die Forschung zu Kindern, die heute von Krieg und Flucht betroffen sind, aufschlussreich: Erstens wirft sie einen Blick darauf, wie in Deutschland – gesellschaftspolitisch – mit Trauma umgegangen wurde und wird, was auch für die aktuelle Flüchtlingspolitik nicht unerheblich ist. Zum anderen werden hier aufgrund des großen zeitlichen Abstandes vor allem die langfristigen Folgen, die das Erleben von Krieg und Flucht in der Kindheit haben kann, 65 Siehe beispielsweise Hilke Lorenz (2000): Kriegskinder. Das Schicksal einer Generation.

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sichtbar. Ausschlaggebend für das Aufsuchen einer Therapie sind oft Probleme und Krisen im Zusammenhang mit Paarbeziehungen, der Beziehung zu den eigenen Kindern oder dem Erleben von Geburt oder Tod (Leuzinger-Bohleber, 2003a). Ähnlich wie in den Berichten über die ehemals evakuierten Kinder spielen damit auch hier bindungsbezogene Konflikte und Beziehungsstörungen häufig eine Rolle (Brähler et al., 2003). Wie stark dabei kriegsbedingte Trennungen auch in Deutschland die typische Familiensituation prägten, zeigt ein Blick auf die Statistik. Nach Radebold (2003b) wuchsen nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland ungefähr ein Viertel aller Kinder ohne Vater auf und mindestens ein weiteres Viertel erlebte eine zwar vorübergehende, aber oft über Jahre andauernde Trennung vom Vater. Vielen Kindern standen gleichzeitig die Mütter aufgrund von Berufstätigkeit oder Kriegsdienstverpflichtungen nicht zur Verfügung (Winkler, Rüppell u. Hau, 1967). Zwei der wenigen Studien der 1950er und 1960er Jahre zu den Jahrgängen 1930 – 1948 beschreiben die Kriegskinder dennoch als ausreichend körperlich und psychisch gesund und eher unauffällig (siehe Radebold, 2003b). Vermutlich spiegeln diese Studien gleichermaßen das vom Wiederaufbau geprägte Bild der Zeit als auch die tatsächlich hohe Anpassungsfähigkeit von Kindern, die dann unter Umständen erst im späteren Erwachsenenalter Probleme wahrnehmen oder zur Sprache bringen. Spätere Untersuchungen kommen zu anderen Erkenntnissen. Die Mannheimer Kohorten-Studie zur Epidemiologie psychogener Erkrankungen (Franz, Lieberz, Schmitz u. Schepank, 1999, zitiert nach Radebold, 2003a) findet einen statistisch bedeutsamen Zusammenhang zwischen der Abwesenheit des Vaters (länger als sechs Monate) in den ersten sechs Lebensjahren und späteren psychogenen Beeinträchtigungen. Eine andere Studie aus dem Jahr 2000 (Teegen u. Meister, 2000) findet bei Personen, die während einer durchschnittlich 13-monatigen Flucht am Ende des Zweiten Weltkrieges 15 Jahre alt waren, einen deutlichen Zusammenhang zwischen Mehrfachtraumatisierungen und (nach wie vor) bestehenden PTSD-Symptomen. 5 % der ehemaligen Flüchtlingskinder erfüllten die Kriterien einer voll aus© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

4.2 Kriegskinder in Deutschland

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geprägten PTSD, 25 % einer partiellen PTSD. Bei 70 % der Befragten ergab sich allerdings eine geringe Belastung und eine offenbar gute Bewältigung der traumatischen Kriegserfahrungen, wobei auch diese Gruppe bezüglich ihrer emotionalen Kommunikationsfähigkeit als beeinträchtigt beschrieben wird, da sie, verglichen mit einer Kontrollgruppe, dazu neigte, Gefühle stärker abzuwehren. Unter Umständen wurden aus diesem Grund emotionale Belastungen auch weniger deutlich. Nach Radebolds (2003b) eigener Untersuchung von 19 Psychoanalysen mit Personen aus diesen Jahrgängen wiesen die Betroffenen in der Mehrzahl erst nach dem fünfzigsten Lebensjahr zunehmend Symptome auf bzw. realisierten sie erst ab diesem Zeitpunkt und suchten sich Hilfe. Die Symptome betrafen funktionale und diffuse psychosomatische Störungen, eher diskrete chronisch-depressive Stimmungslagen, sowie deutlich eingeschränkte psychosexuelle und psychosoziale Identität und ausgeprägte Beziehungsstörungen. Oft wurde über ein Gebot, nicht zu trauern, berichtet. Gefühle wurden insgesamt eher unterdrückt, viele der Kinder dienten als »Container« (Bion, 1963)66 für das erlittene Leid der Eltern, es zeigte sich eine mangelhafte familiäre Kommunikation und die Kinder von NS-Tätern idealisierten diese häufig. Leuzinger-Bohleber (2003b) schildert in mehreren Einzelfallanalysen, wie ehemalige Kriegs- und Flüchtlingskinder vor allem erlittene Trennungserfahrungen unbewusst an ihre Kinder weitergeben. So ließ ein ehemaliges Kriegskind, dass im Alter von vier Wochen von den Eltern in der Zeit der Bombardierung für längere Zeit allein bei einem Kindermädchen zurückgelassen 66

Bions Containment-Konzept bezieht sich darauf, dass der Säugling intensive Erfahrungen, die er nicht verarbeiten kann, in eine andere menschliche Psyche, zumeist die der Mutter, projiziert. Eine hinreichend gute Mutter kann diese Gefühle empfinden und transformieren, so dass sie für den Säugling erträglich werden. Hier klingen Ähnlichkeiten zum Freudschen Konzept des »Hilfs-Ich«, das den Reizschutz übernimmt (siehe Kapitel 3), an (Fonagy u. Target, 2006). Radebold und andere Psychoanalytiker, die sich mit inter- und transgenerationalen Traumatisierungen beschäftigen, beobachteten dagegen, wie die Kinder zum »Container« unverarbeiteter Gefühle der Eltern werden. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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wurde, die eigenen Kinder als Säuglinge ohne zwingenden Grund ebenfalls für mehrere Wochen allein. Hier zeigt sich, wie passiv erlebte Traumatisierungen in aktiv traumatisierendes Verhalten gegenüber anderen umgewandelt werden. Die Art und Weise der transgenerationalen Weitergabe des Traumas ähneln dabei zum Teil den von Kestenberg beschriebenen Dynamiken in den Familien von Holocaust-Überlebenden (Leuzinger-Bohleber, 2003b).

4.3 Überblick über aktuelle Forschung Im Folgenden beziehe ich mich sowohl auf Literatur zu Flüchtlingskindern als auch auf Veröffentlichungen zu Kindern, die einen Krieg erlebt haben, da diese Untersuchungen oft interessante Anhaltspunkte auch für das Verständnis von Kindern, die später zusätzlich noch eine Flucht erlebten, bieten. Der Überblick beruht auf einer Literaturrecherche in den Datenbanken PSYNDEX und PycINFO (Stichtag 11. 01. 2005).67 Insgesamt ist die Forschungsliteratur, insbesondere die psychologische, in diesem Bereich spärlich, zugleich jedoch äußerst vielfältig. Die Untersuchungen beziehen sich nicht nur auf verschiedene historische und kulturelle Kontexte, sondern wählen zudem auch sehr unterschiedliche theoretische und methodische Bezugsrahmen und 67 PSYNDEX erfasst Veröffentlichungen aller für die Psychologie relevanten Zeitschriften vor allem aus dem deutschsprachigen Raum sowie Buchveröffentlichungen entsprechender Fachbuchverlage von 1970 bis heute. PsycINFO berücksichtigt knapp 2000 peer-reviewed journals, darunter auch einige nicht englischsprachige Zeitschriften, der Zeitraum beginnt bereits Ende des 19. Jahrhunderts. Bei den Buchveröffentlichungen werden ausschließlich englischsprachige Publikationen miteinbezogen. Aufgrund von Sprachraum und Auswahlkriterien wird damit vor allem psychologische »mainstream«-Forschung der westlichen Industrieländer erfasst, so dass die Ergebnisse auch nur für diesen Bereich gelten können. In PSYNDEX fanden sich zu »Kinder und Krieg« lediglich vier Veröffentlichungen, in PsycINFO zu »children and war« 312. Unter dem Schlagwort »Flüchtlingskinder« waren in PSYNDEX 15 Publikationen gelistet, für »refugee children« in PsycINFO 67, wobei sich hier ein Drittel mit der Literatur zu »children and war« überschnitt.

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4.3 Überblick über aktuelle Forschung

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Themenschwerpunkte. Eine Vergleichbarkeit herzustellen oder gar einen aktuellen Forschungsstand festzuhalten, ist damit kaum möglich. Inhaltlich lassen sich sowohl bei der Forschung zu Kriegsfolgen bei Kindern als auch zu Flüchtlingskindern zwei große Themengebiete unterscheiden. Der eine betrifft psychotherapeutische und psychosoziale Interventionen aller Art. Viele Veröffentlichungen hierzu beschränken sich darauf, die durchgeführten Interventionen, die von speziellen traumaorientierten Einzeltherapien, Gruppensettings, kurzen Notfallinterventionen bis zu groß angelegten psychosozialen Unterstützungsprogrammen reichen, darzustellen und zu beschreiben. Nur sehr wenige Studien untersuchen tatsächlich die Wirkung der eingesetzten Therapien und Programme, und wenn dies geschieht, dann wiederum auf sehr unterschiedliche Art und Weise, wobei sich nicht nur die therapeutischen Ansätze unterscheiden, sondern auch die damit einhergehenden Zielsetzungen. Das zweite große Themengebiet betrifft die Frage, zu welchen psychischen Folgen bei Kindern das Erleben von Krieg und Flucht im Sinne von Trauma, Stressor oder Risikofaktor führt. Die Bandbreite des methodischen Vorgehens reicht hierbei ebenfalls von Beobachtungen und Einzelfallstudien bis hin zu groß angelegten epidemiologisch-statistischen Untersuchungen. Ebenso differiert, was als mögliche psychische Folge angenommen wird, ob sich die Forscher beispielsweise auf PTSD beschränken oder dieses Konzept kritisieren, erweitern oder ablehnen usw. Da dieser inhaltliche Schwerpunkt für die vorliegende Untersuchung relevant ist, werde ich mich im Weiteren hauptsächlich auf Studien mit solchen entwicklungspsychopathologischen Fragestellungen beziehen. Ein weiteres, in der Flüchtlingskinderforschung zumindest manchmal berücksichtigtes Thema ist die Frage nach kulturellen Unterschieden zwischen dem Exilland und der Herkunftskultur. Einige Autoren diskutieren auch die kulturelle Sensitivität in Bezug auf Diagnose- und Therapieverfahren sowie Aspekte der kulturellen Anpassung. Hier überschneiden sich für Flüchtlinge relevante Themen mit denen der Migrationsforschung. Betrachtet man die historische Entwicklung der Flüchtlings© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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kinderforschung, so lesen sich die hierzu verfügbaren Veröffentlichungen wie eine Landkarte über die Krisengebiete der letzten sechzig Jahre – inklusive der auch in den Medien und anderen Diskursen zu beobachtenden Verzerrung, dass Konflikte in Entwicklungsländern deutlich weniger repräsentiert sind, obwohl hier zahlenmäßig ungleich mehr Menschen, und damit auch Kinder, von Krieg und Flucht betroffen waren und sind.68 Während das Schlagwort »Flüchtlingskinder« erst seit den 1980er Jahren und dann zunächst nur stark vereinzelt im Zusammenhang mit amerikanischen Studien zu vietnamesischen Flüchtlingskindern auftaucht69, existierten, wie dargestellt, in den 1940er Jahren zumindest vereinzelt Untersuchungen zu den Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges auf Kinder, vor allem in England. Es folgten einige Studien zur Situation der Kinder in Israel – und später auch in Palästina.70 Aber sowohl zu »Flüchtlingskinder« als auch zu »Kinder und Krieg« erschienen zwei Drittel der in den Datenbanken erfassten Veröffentlichungen im Zeitraum nach 1990.71 In den 1990er Jahren war auch zum ersten Mal zu beobachten, dass sich die humanitäre Hilfe internationaler Organisationen in Kriegs- und Krisengebieten, damals 68

Dodge und Raundalen (1991) schätzen bspw., dass von ca. 1,8 Millionen Toten aus Kriegen in fünf afrikanischen Ländern zwischen 1970 und 1987 92 % Zivilisten waren. Berücksichtigt man die typische Alterstruktur in diesen Ländern, dann waren vermutlich davon wiederum 50 % Kinder. 69 Eine Ausnahme bildet ein Aufsatz von Ella Zwerdlin und Grace Polansky, die bereits 1949 im »Journal of Social-Casework« über »Foster home placement of refugee children«, die in Detroit aufgenommen worden waren, schrieben. 70 Holocaustforschung wird unter den angegebenen Schlagwörtern nur am Rande erfasst, auf einschlägige Untersuchungen zu den von Nazis verfolgten Kindern bin ich bereits im 3. Kapitel eingegangen. Unberücksichtigt lasse ich im Folgenden ebenfalls friedens- und konfliktpädagogische Studien, die sich damit beschäftigen, wie Kinder Krieg verstehen. Vor allem die Frage, wie Kinder auf die nukleare Bedrohung reagieren, wurde in den 1980er Jahren intensiv erforscht und macht den Hauptanteil der Literatur zu »Kinder und Krieg« in diesem Zeitraum aus. 71 Dabei ist zu bedenken, dass zeitgleich auch die Zahl der berücksichtigten Zeitschriften und Forschungsaktivitäten insgesamt gestiegen ist. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

4.3 Überblick über aktuelle Forschung

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waren das vor allem Ruanda und das ehemalige Jugoslawien, nicht nur auf die Bereitstellung von Lebensmitteln, Unterkünften und die medizinische Versorgung bezog, sondern parallel dazu begonnen wurde, psychosoziale »Traumaprogramme« zu implementieren (Bracken u. Petty, 1998). Neben der Notwendigkeit, solche Hilfsprogramme wissenschaftlich zu begleiten, sind zwei weitere, nicht unkritisch zu betrachtende Gründe für das gestiegene Interesse an Forschung in diesem Bereich zu nennen. Zum einen sorgte die Entwicklung des Konzeptes der Posttraumatic Stress Disorder (PTSD) zu einem sprunghaften Anstieg des Interesses an psychologischer Traumaforschung generell, vor allem im Bereich der experimentell-quantitativ orientierten psychologisch/psychiatrischen mainstream Forschung. Dass PTSD die aktuelle Forschung zu den Auswirkungen von Krieg auf Kinder – etwas weniger im Flüchtlingskinderbereich – dominiert, zeigt ein Blick auf die inhaltliche Ausrichtung der nach 1990 erschienenen Veröffentlichungen: Publikationen, die sich an PTSD orientieren, machen hier die größte Gruppe aus; die Dominanz dieses Konzeptes drückt sich auch darin aus, dass in der aktuellen Forschung auch Autoren, die das Konzept der PTSD kritisieren oder ablehnen, es ebenfalls in ihrer Arbeit berücksichtigen. Ebenfalls nicht unerheblich für das gestiegene Interesse an dem Thema von Seiten der psychologischen Forschung war jedoch auch das Eindringen des Krieges in die Welt der Forscher. Mit dem Jugoslawienkrieg gab es für westliche Forscher zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg einen »Krieg vor der eigenen Haustür«, mitten in Europa. Nicht zuletzt die in die Nachbarländer kommenden Flüchtlinge erforderten es, das psychologische Wissen in diesem Bereich zu vergrößern. Sichtet man die Literatur nach dem Kriterium, auf welche Krisengebiete oder welche Regionen sich die Veröffentlichungen beziehen, so finden sich dementsprechend am meisten Untersuchungen zu Kindern in oder aus dem ehemaligen Jugoslawien.72 Die Be72 Unter den länderspezifischen Studien fanden sich 26 zu Kindern in/ aus dem ehemaligen Jugoslawien (ohne Kososvo) in der Zeit von 1990 – 2004, dagegen nur elf zu Kindern in/aus afrikanischen Ländern. Dabei ist,

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wohner des ehemaligen Jugoslawien gelten in der Traumaforschung mittlerweile als die am besten untersuchte »Traumapopulation«. In einem Versuch, die vorhandene Forschung zu Flüchtlingen allgemein – nicht nur zu Kindern – auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, stellt Alastair Ager (1994) etwas lakonisch fest, dass das einzige gemeinsame Fazit in diesem Forschungsbereich wohl die sehr generelle Feststellung sei, dass die – wie auch immer definierte – psychische Gesundheit von der schwierigen Flüchtlingserfahrung sowie den persönlichen und sozialen Ressourcen beeinflusst werde. Betrachtet man die Forschungsgeschichte zu psychischen Traumatisierungen insgesamt, so lässt sich dies durchaus als Fortschritt bewerten. Deutlich wird aber auch, aus welchem Blickwinkel Flüchtlinge in erster Linie betrachtet werden, nämlich aus einem klinischen oder psychopathologischen. Die Betonung dieses Aspektes ist zweifellos insoweit legitim und notwendig, als sie präventiven und therapeutischen Zielen dient. Zu Recht kritisieren aber Lustig et al. (2004), zehn Jahre nach Agers Schlussfolgerung, in ihrem Überblicksartikel, dass andere, weniger psychopathologische Aspekte, wie beispielsweise Stärken und Ressourcen von Flüchtlingsfamilien, tendenziell ausgeblendet werden. Flüchtlingskinderforschung nimmt zudem problematischerweise fast ausschließlich einen westlichen Blick ein: »The impact of war among young refugees manifests empirically as psychopathology defined by Western models of illness« (Lustig et al., 2004, S. 32).

wie gesagt, zu bedenken, dass in den berücksichtigten Datenbanken vor allem Literatur aus den westlichen Industrieländern erfasst wird und diese auch nur unter bestimmten Voraussetzungen, so dass bspw. Publikationen von NGOs oder weniger wissenschaftlich orientierte Berichte nicht erfasst werden. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

4.3 Überblick über aktuelle Forschung

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Beispiele aus aktuellen Studien zu Flüchtlingskindern Neben PTSD ist ein häufig gewählter Bezugsrahmen in der gegenwärtigen Literatur über Flüchtlingskinder das Risiko- und Schutzfaktorenmodell (siehe Kapitel 5). Mehrere Autoren beschreiben Risiko- und Schutzfaktoren für die einzelnen Phasen der Flucht (Ager, 1994; Athey u. Ahearn, 1991; Melzak, 1995; Cairns, 1996 etc.). Einige sprechen dabei explizit von Risiko- und Schutzfaktoren, wie z. B. Ager, andere von »Gefahren« und »vermittelnden Faktoren« oder »Stress« und »Coping«. Wenn sich auch, wie erwähnt, kaum ein tatsächlich aussagekräftiger Forschungsstand definieren lässt, so lassen sich unter diesem Aspekt jedoch die wesentlichen Aspekte von Kriegs- und Fluchterfahrungen im Kindesalter zusammenfassen. Als Risikofaktoren für Flüchtlingskinder werden genannt: 1. Trauma – entweder des Kindes selbst oder des betreuenden Erwachsenen, eventuell sogar der gesamten Gemeinschaft. Alle folgenden Faktoren können potenziell traumatisch erlebt werden. 2. Erlebte Gewalt – am eigenen Leib, an Fremden oder an Verwandten; Untersuchungen aus Bosnien und Kroatien zeigen, dass Flüchtlingskinder teilweise noch mehr Kriegserlebnisse hatten als Kinder, die nicht flüchteten (Herceg, 1996). 3. Trennung von Familienangehörigen und Erfahrungen von Verlust – Verlust der gewohnten Umgebung und Kultur, aber auch der Eltern durch emotionale Unerreichbarkeit, Verschwinden oder Tod. 4. Belastungen während der Flucht und in Flüchtlingsunterkünften: vor allem das Leben über längere Zeit auf engem Raum und unter schlechten Bedingungen (Lustig et al., 2004). 5. Armut – vor, während und nach der Flucht. Viele Menschen, die später flüchten haben einen sozial schwachen Hintergrund und kommen häufig vom Lande oder aus kleinen Städten (Herceg, 1996). 6. kulturelle Konflikte und Anpassungsschwierigkeiten, sowie intergenerationale Konflikte als häufige Probleme im Aufnahmeland. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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PTSD-orientierte Studien Die gefundenen Prävalenzraten zu PTSD variieren erheblich und hängen nicht nur mit der verwendeten Methode, sondern auch mit dem Zeitpunkt der Erhebung zusammen. Zum Teil finden Studien mehr posttraumatische Symptome nach dem Ende einer akuten Belastung als während dieser, zum Teil sind die Belastungen oft während des Aufenthaltes in einem Flüchtlingslager besonders hoch. Darüber hinaus wird zunehmend anerkannt, dass andere relevante Symptome und Probleme der Kinder, wie Trauer, Anpassungsschwierigkeiten, Angst und Depression etc., mit PTSD nicht erfasst werden (Lustig et al., 2004). Einvernehmlich wird in der PTSD-Forschung über eine Dosis-Wirkungs-Beziehung berichtet, d. h. die Wahrscheinlichkeit, eine PTSD zu entwickeln, steigt, je mehr traumatische Erlebnisse die Kinder hatten. Der bereits von A. Freud und Burlingham beschriebene Zusammenhang zwischen elterlicher Reaktion und Symptomen auf Seiten der Kinder, ließ sich dabei in einer PTSD-orientierten Studie von Smith, Perrin, Yule und Rabe-Hesketh (2001) bestätigen: Die psychische Gesundheit der Mutter erwies sich als zweiter wichtiger Vorhersagefaktor neben der erlebten Kriegsgewalt für Anzahl und Schwere der Symptome einer Gruppe von bosnischen Kindern, die in Ost-Mostar eine neunmonatige Belagerung erlebten (siehe auch Kapitel 5).

Therapieberichte und subjektive Erfahrungsverarbeitung Obwohl sich Veröffentlichungen über Therapien zumeist nicht in erster Linie auf entwicklungspsychopathologische Fragen beziehen, stellen sie häufig eine sehr detaillierte Analyse der subjektiven Erfahrungsverarbeitung dar und zeigen deutlicher als die reine Benennung von Risiko- und Schutzfaktoren, wie sich frühe Kriegs- und Fluchterfahrungen auf die kindliche Entwicklung auswirken. Sie dokumentieren oft sowohl, welche enormen Kapazitäten Kinder haben, um mit widrigen Umständen zurechtzukommen, als auch, welche Entwicklungsbereiche © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

4.3 Überblick über aktuelle Forschung

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im Gegenzug zu kurz kommen. Schwierige Lebensumstände führen dabei unter Umständen gerade zu sprunghaften Entwicklungen, die ein Kind als besonders stark oder reif erscheinen lassen. Sheila Melzak (1995) spricht deshalb ebenso von besonderen Stärken wie auch von besonderen Verletzlichkeiten bei Flüchtlingskindern. Solche spezifischen Vulnerabilitäten konnte sie dabei vor allem im Langzeitverlauf der Therapien beobachten. Die von ihr geschilderte ungleiche – oder vielleicht besser gesagt ungleichzeitige – Entwicklung beschreibt sie als charakteristisch für Flüchtlingskinder. Darüber hinaus sieht sie einige Ähnlichkeiten mit Kindern, die nicht politischer, sondern häuslicher Gewalt ausgesetzt waren, sie sieht Flüchtlingskinder ebenfalls als missbrauchte Kinder. Zentral ist dabei für beide Gruppen das Erleben von geheimen Ereignissen, die entweder nicht besprochen oder nicht als belastend anerkannt werden. Dem Kind bleibt der Umgang mit diesen Erfahrungen dann allein überlassen. Ager (1996) beschreibt als eine der Hauptfolgen von Krieg und Flucht im Kindesalter die Veränderung von subjektiven Konstrukten über die Welt und sich selbst. Kinder passen sich in unter Umständen sehr ungünstiger Form an ihre extremen Erfahrungen an, die für sie nicht die Stellung von Ausnahmen haben, sondern alltägliche Sozialisationsbedingungen darstellen: »A wide range of emotional and behavioral symptomology may result from such experiences, but the basic issue is that existing schemata regarding the world no longer fit with experience« (Ager, 1996, S. 163 f.).

In Übereinstimmung mit den Überlegungen aus der Traumatheorie sieht Ager Veränderungen der subjektiven Vorstellungen von der Welt durch den Krieg als verantwortlich für die späteren Folgen. Die Folgen zeigen sich zunächst nur darin, dass die Kinder spätere Erfahrungen auf der Grundlage ihrer im Krieg erworbenen Vorstellungen interpretieren. Extreme Erfahrungen können dabei nach Agers Beobachtungen entweder dazu führen, dass versucht wird, vorher bestehende Schemata »einzufrieren«, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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wenngleich es so nicht möglich ist, die Kriegs- und Fluchterfahrungen zu integrieren. Er nennt diesen Prozess »Untersozialisation« (S. 163 f.). Oder aber es wird versucht, alle früheren Erfahrungen abzuspalten und sämtliche inneren Konstrukte den neuen Umständen anzupassen, die Folge ist eine »Übersozialisation«. Über- und Untersozialisation sind zwei extreme Reaktionen und werden für die Kinder beschrieben, die lange in Kriegsgebieten lebten oder sogar selbst als Kindersoldaten eingesetzt wurden. Ager beschreibt damit jedoch vor allem, dass sich die inneren Schemata bei Kindern in unter Umständen weit reichender Form verändern, auf diese Art weitere biographische Erfahrung mitbestimmen und sehr langfristig die psychische Vulnerabilität erhöhen.

Ethische Aspekte der Flüchtlingskinderforschung Schönhöfer, Aßhauer und Adam (2005) haben sich mit der Frage beschäftigt, wie Flüchtlingskinder bzw. Flüchtlingsfamilien die Teilnahme an einer wissenschaftlichen Befragung erleben. Ausgehend von dem Befund, dass regelmäßig in psychiatrischen Forschungsprojekten ein gewisser Prozentsatz der Proband/innen von intensiven, unerwarteten und belastenden Emotionen durch die Teilnahme berichtet, haben sie im Zusammenhang mit einer Studie zu Flüchtlingskindern einen Fragebogen zum Erleben der Untersuchungssituation entwickelt und verwendet. Kongruent mit den Ergebnissen vergleichbarer Studien mit Teilnehmern mit potenziell traumatischen Belastungen fanden sie signifikante Zusammenhänge zwischen der Stärke der traumabezogenen Symptomatik, dem Erleben einschneidender Gewalterfahrungen und der erlebten Belastung durch die Teilnahme an der Untersuchung. Gleichzeitig wurde von diesen Flüchtlingskindern jedoch auch der Nutzen durch die Teilnahme als besonders hoch eingeschätzt. Für die Durchführung von Forschungsinterviews mit Flüchtlingskindern bedeutet dies also, dass nicht nur eine vertrauensvolle Atmosphäre herzustellen ist, sondern dass die Kinder im Anschluss unbedingt nach ihrem Erleben der Forschungssitua© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

4.4 Fazit und Forschungslücken

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tion befragt werden sollten und entsprechend darauf reagiert werden sollte – auch in dem Sinne, dass ein Forschungskontakt zur Vermittlung eines Therapieplatzes führen kann. In ihren theoretischen Ausführungen zu demselben Thema nennt Tammy Bean (2001) drei Aspekte, die essenziell im Bereich der Flüchtlingskinderforschung sind: Zum einen die Qualität der durchgeführten Untersuchung, zum anderen der Umstand, dass die Ergebnisse der Studie zur Verbesserung der Lebensumstände und/oder des sozialen und medizinisch-therapeutischen Unterstützungsangebotes für die Flüchtlingskinder führen und drittens, dass der Gewinn der Untersuchung die möglichen Risiken für die persönliche Integrität des Kindes übertrifft.

4.4 Fazit und Forschungslücken Wie zu erwarten war, ist der größte Teil aktueller Studien zu Flüchtlingskindern eng am Konzept der PTSD orientiert, wobei vor allem Publikationen von Therapeut/-innen den Blickwinkel auf die Erfahrungsverarbeitung von Flüchtlingskindern deutlich erweitern. Ihre Kenntnisse beruhen dabei auf therapeutischen Erfahrungen mit Flüchtlingskindern, bei denen sie zum Teil über Jahre Entwicklungsverläufe beobachten und begleiten konnten. Beobachtungen wie die von Sheila Melzak zeichnen dabei ein doppeltes Bild von Flüchtlingskindern, die sie gleichermaßen als sehr kompetent und vulnerabel beschreibt. Solche Befunde passen zu den erst in letzter Zeit bekannter werdenden Langzeitfolgen von Krieg und Flucht im Kindesalter, wie sie die Forschung zu den ehemaligen Kriegskindern des Zweiten Weltkrieges beschreibt. Gerade bei Kindern und Jugendlichen, die sich nicht in einer Therapie befinden, stellt sich damit die Frage, ob und wie sich Vorläufer langfristiger Auswirkungen zeigen. Über diese Gruppe sagen auch epidemiologische Untersuchungen nichts aus, da hier lediglich festgestellt wird, dass ein Teil der Kinder Symptome entwickelt, die in das Bild einer PTSD oder einer Angststörung, Depression oder von pathologischen Trauerreaktionen oder Anpassungsstörungen passen oder nicht. Über Kinder ohne akut sichtbare Symptomatik geben sie dem© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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4 Krieg und Flucht im Kindesalter – Forschungsstand

gegenüber keine Auskunft. Einige Autoren beurteilen dies als einen Beleg für die Widerstandsfähigkeit der Kinder (Lustig et al., 2004) im Sinne einer resilienten Entwicklung. Auf den Begriff der Resilienz und spezielle Modelle zu Traumatisierungen im Kindesalter gehe ich im folgenden Kapitel ein.

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5 Trauma bei Kindern »The feeling of futurelessness of the traumatized child is quite different from that of the depressed youngster. For the traumatized, the future is a landscape filled with crags, pits and monsters. For the depressed, the future is a bleak, featureless landscape stretched out into infinity« (Lenore C. Terr, 1991).

5.1 Trauma und Entwicklung Bei Kindern und Jugendlichen greifen traumatische Erlebnisse in den Entwicklungsprozess ein. Was bei Erwachsenen als Bruch oder als »shattered assumptions« (Janoff-Bulman, 1992) beschrieben wird, geschieht bei Kindern, ohne dass bereits gefestigte psychische Strukturen und Vorstellungen bestehen. Traumatisierungen im Kindesalter prägen damit das sich entwickelnde Selbst- und Weltbild, sie werden weniger als Fremdkörper erlebt, sondern als Teil der eigenen Identität. Die Reaktion auf ein traumatisches Erlebnis ist insofern weniger als ein Zusammenbruch beschreibbar, denn als ein Anpassungsversuch an die traumatische Situation. Auch aufgrund der noch nicht abgeschlossenen körperlichen Entwicklung – besonders relevant sind Gedächtnis- und Gehirnentwicklung, die beide hochgradig erfahrungsabhängig verlaufen – sind Kinder zugleich flexibler und vulnerabler. In der frühen Kindheit fehlt zudem noch die Fähigkeit zur Symbolisierung und zur Sprache. Aufgrund dieser Unterschiede zum Erwachsenenalter ist gerade für die ersten Lebensjahre strittig, inwiefern von »Trauma« gesprochen werden kann: Anna Freud hat vorgeschlagen, den Traumabegriff auf Entwicklungsphasen zu beschränken, in denen – nach der psychoanalytischen Theorie – die Strukturbildung bereits stattgefunden und die Vermittlerrolle des Ich sich stabilisiert hat. Unter Trauma im eigentlichen Sinne des Wortes und im Gegensatz zu Ereignissen, die »lebensstörend, der Ent© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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5 Trauma bei Kindern

wicklung des Betroffenen eine andere Richtung gegeben haben oder von pathogener Wirkung waren«, versteht sie »eine innere Katastrophe, einen Zusammenbruch aufgrund einer Reizüberschwemmung, die die Ich-Funktion und die Vermittlertätigkeit des Ichs außer Kraft gesetzt hat« (A. Freud, 1980, S. 1834). Vor einer Etablierung des Ich ist dies nicht möglich. Auch im Zusammenhang mit vernachlässigten Kindern, die in den ersten beiden Lebensjahren keinerlei mütterlichen Kontakt hatten, lehnte Anna Freud die Verwendung des Traumabegriffes ab. Dem steht gegenüber, dass kleine Kinder gerade aufgrund des noch nicht entwickelten Ich oder Selbst besonders verletzlich gegenüber potenziell traumatischen Erlebnissen sind. Dies gilt insbesondere, wenn traumatische Erlebnisse erste Beziehungserfahrungen betreffen. Aufgrund ihrer Angewiesenheit auf die Zuwendung und Versorgung durch nahe Bezugspersonen sind sie einem anderen Spektrum potenziell traumatischer Erlebnisse ausgesetzt. Wohnt der ersten Beziehungserfahrung selbst eine traumatische Qualität inne, wie etwa bei Missbrauch, dann sind die Folgen einer solchen Erfahrung für die betroffenen Kinder besonders verheerend. Andere Autor/-innen sprechen deshalb für die Phase der frühen Kindheit auch von »frühen Traumatisierungen«, »Entwicklungstraumata«, »frühen Beziehungstraumata« (early relational trauma, Schore, 2001a) oder »Deprivationsstörungen«, unter denen beispielsweise Steinhausen (2000) schwere Vernachlässigung und Missbrauchserfahrungen, denen er eine traumatische Qualität zuschreibt, zusammenfasst. Trotz der Gefahr, dass der Traumabegriff zu weit ausgedehnt und dann, wie Bohleber (2000) warnt, undifferenziert auf jedwede Art ungünstiger früher Beziehungserfahrung bezogen wird, erscheint mir die Verwendung des Traumabegriffes in der frühen Kindheit angemessen, insofern er alters- und entwicklungsabhängig konzipiert wird. Masud Khan hat mit seinem Modell der kumulativen Traumatisierung (siehe Kapitel 3) einer Spezifität früher Traumatisierungsprozesse einen theoretischen Rahmen gegeben. Die meisten Veröffentlichungen zu Kindern und Trauma beziehen sich weniger auf theoretische Formulierungen, sondern versuchen in erster Linie kindertypische Reaktionen und Sym© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

5.1 Trauma und Entwicklung

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ptome aufzuzeigen. Dies ist äußerst wichtig, um Traumatisierungsprozesse im Kindesalter überhaupt erkennen zu können. Die Beschreibung alterspezifischer Reaktionen steht damit auch in diesem Kapitel im Vordergrund. Des Weiteren gehe ich ausführlich auf das Modell von Fischer und Riedesser (1998) ein, das zu den wenigen Ansätzen gehört, die sich nicht auf die Frage von Beziehungstraumata beschränken, sondern auch Prozesse außerfamiliärer Traumatisierungen berücksichtigen sowie die Frage, wie Traumatisierungsprozesse in der späteren Kindheit bzw. im Jugendalter wirken. Wie das Modell von Keilson ist dieser Ansatz damit für eine empirische Untersuchung von Flüchtlingskindern besonders interessant.73

Besonderheiten bei Traumatisierungen im Kindesalter auf Seiten des Kindes Alter, Entwicklungsstand und die damit verbundenen Entwicklungsthemen bestimmen sowohl, welche Situationen als traumatisch erlebt werden können, als auch, wie der traumatische Prozess verläuft und zu welchen psychischen Folgen er führt. Traumatische Erlebnisse können dabei sowohl Entwicklungsschritte verzögern oder sogar zu einem vorübergehenden Verlust bereits gelernter Fähigkeiten führen als auch Entwicklung beschleunigen (Pynoos, Steinberg u. Goenjian, 1996). Traumatisierte Kinder zeigen damit typischerweise oft eine ungleichzeitige Entwicklung. Neben dem Kind selbst ist zudem immer seine familiäre und soziale Situation zu beachten. Bereits die Ergebnisse von Hans Keilson zeigen, dass die soziale Umgebung entscheidend beein73

Selbstverständlich existieren weitere Konzepte, die für die Auseinandersetzung mit der Situation von Flüchtlingskindern spannend sind, hier jedoch nicht detailliert behandelt werden können. Als ein Beispiel ist das ecological/transactional Model von Cicchetti zu nennen, das er im Zusammenhang mit community violence und Kindesmisshandlung entwickelt hat (Cicchetti u. Lynch, 1993). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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flusst, wie ein Kind mit einem traumatischen Erlebnis langfristig umgehen kann.

Besonderheiten bei Traumatisierungen im Kindesalter hinsichtlich des traumatischen Erlebnisses Typ-I und Typ-II-Traumata Es ist sinnvoll, zwischen frühen und sich wiederholenden Traumatisierungen einerseits und einmaligen traumatischen Erlebnissen andererseits zu unterscheiden. Leonore Terr (1991) hat hierfür die Begriffe Typ-I-Traumata, unter denen sie einmalige, abgrenzbare Erlebnisse versteht, und Typ-II-Traumata, mit denen sie durch sequentielle, sich wiederholende, lang anhaltende und chronische Ereignisse ausgelöste Traumatisierungen bezeichnet, eingeführt.74 Typ-II-Traumata, chronische innerfamiliäre Gewalt oder sexueller Missbrauch zählen hierzu, verlaufen fast immer folgenschwerer als einmalige traumatische Erlebnisse und betreffen gleichzeitig oft die Familie und die primären Beziehungen des Kindes. Inner- und außerfamiliäre Traumatisierung Einige Autor/-innen (z. B. Fischer u. Riedesser, 1998) differenzieren zwischen inner- und außerfamiliären Traumatisierungen. Wie dargestellt, werden innerfamiliäre Traumatisierungen bzw., noch genauer ausgedrückt caregiver-introduced trauma (Schore, 2001b), als besonders folgenschwer für die weitere Entwicklung eingeschätzt. Die Unterscheidung in inner- und außerfamiliär ist allerdings manchmal gar nicht so einfach zu treffen, da kleine Kinder große außerfamiliäre Katastrophen, wie Naturkatastrophen oder Kriege, die sie selbst nicht in allen Aspekten und auch nicht unbedingt in ihrer Bedrohlichkeit erfassen können, immer 74

Diese Unterscheidung wäre, wie dargestellt, natürlich auch bei Traumata im Erwachsenenalter sinnvoll, hat sich allerdings auf Kinder bezogen besser durchsetzen können. Bei den spezifischen PTSD-Kriterien für Kinder werden jedoch nur Typ-I-Traumata berücksichtigt. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

5.1 Trauma und Entwicklung

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vermittelt durch ihre Familie erleben. Studien über Familien, die von einer außerfamiliären Katastrophe betroffen waren, zeigen, dass es anschließend in vielen Familien zu einem Anstieg der innerfamiliären Gewalt kommt (Pynoos et al., 1996). Wenn sowohl Eltern als auch Kinder von einem Trauma betroffen sind, spricht man von intergenerationalen Traumatisierungen. Wird ein Trauma der Eltern, das vor der Geburt der Kinder lag, an diese weitergegeben, spricht man von der bereits erwähnten transgenerationalen Traumatisierung (Kapitel 3). Demzufolge ist bei vielen traumatischen Situationen davon auszugehen, dass sie in der einen oder anderen Form die Familienstruktur betreffen oder verändern.

Besonderheiten bei Traumatisierungen im Kindesalter hinsichtlich der möglichen psychischen Folgen im Kindesalter Wie schon im Zusammenhang mit der Untersuchung von Keilson erwähnt, zeigen sich bei Kindern und Jugendlichen alterspezifische Folgen. Wesentlich für alle Altersstufen bis zum Jugendalter ist jedoch, dass im Gegensatz zu Erwachsenen, bei denen sich die Verbindung zwischen Trauma und Persönlichkeit vor allem über die traumatische Erinnerung konstituiert, diese Verbindung bei Kindern in erster Linie auf einer Verknüpfung des Traumas mit der eigenen Identitätsentwicklung und der Ausbildung traumabezogener Schemata und Erwartungen basiert: »In general, childhood traumatic experiences contribute to a schematization of the world, especially of security, safety, risk, injury, protection, and intervention. The importance of traumatic memories lies in their role in shaping expectations of the recurrent threat, of failure of protective intervention, and/or of helplessness, which governs the child’s emotional life and behavior« (Pynoos et al., 1996, S. 350).

Traumabezogene Erwartungen zeigen sich in Gedanken, Emotionen, Verhaltensweisen und – hier spielt die Hirnentwicklung eine Rolle – in der Biologie des sich entwickelnden Kindes (Py© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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5 Trauma bei Kindern

noos et al., 1996). Erwartungen werden den sogenannten inneren Repräsentanzen und damit – nach einigen Autoren – dem impliziten bzw. prozeduralen Gedächtnissystem zugeordnet. Auf die Frage, wie traumatische Erlebnisse in der Kindheit verarbeitet und erinnert bzw. nicht erinnert werden, gehe ich im Folgenden ausführlich ein.

5.2 Entwicklungs- und altersspezifische Aspekte von Trauma Frühe Kindheit und Kindergartenkinder Die Entwicklung eines Bindungsmusters und der emotionalen Kontaktfähigkeit sind die wichtigsten psychologischen Entwicklungsthemen dieser Phase. Entwicklung lässt sich in dieser Alterstufe auch als Transformation von externaler zu internaler Regulation beschreiben: »development may be conceptualized as the transformation of external into internal regulation« (Schore, 2001b, S. 205). Die erste Bindungsbeziehung bietet den Rahmen für diese Transformation, mit Khan gesprochen übernimmt die Bindungsperson den »Reizschutz«, moderner ausgedrückt die Affektregulation. Säuglinge und Kleinkinder sind entsprechend besonders bei Trennungserlebnissen oder unzureichender Versorgung durch ihre Eltern beziehungsweise nahe Bezugspersonen gefährdet. Verläuft die Bindungsbeziehung ungünstig, wird sie gestört oder hat einen traumatischen Charakter, so kann der Säugling die internale Regulation vor allem von Köperspannungen und Affekten nicht oder nur unvollständig erlernen. Eine bindungsbezogene Traumatisierung in dieser Phase schlägt sich unspezifisch in psychophysiologischen Dysregulationen nieder. Das Trauma wird nicht psychisch repräsentiert, sondern körpernah als innere Spannung oder Unruhe erlebt (Diepold, 1998). In der schwersten Form kommt es zu Entwicklungsstörungen im Sinne von Deprivation und Hospitalismus, die so fundamental sind, dass im Sinne der Überlegungen von Anna Freud nur noch grenzwertig von Trauma gesprochen werden kann. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

5.2 Entwicklungs- und altersspezifische Aspekte von Trauma

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Gegenüber der Konfrontation mit bedrohlichen Situationen haben Kinder in diesem Alter nur wenige Möglichkeiten, selbst Bewältigungswege zu finden oder Arten, wie sie der Situation entkommen können. Dieses Überwältigtsein kann dazu führen, dass kleine Kinder still und zurückgezogen in der Situation verharren. Charakteristisch für Kinder bis zu vier Jahren sind zudem Trennungsangstsymptome: Die Kinder zeigen ängstliches Bindungsverhalten und Angst gegenüber Fremden. Teilweise klammern sie sich an Erwachsene oder Geschwister, haben Angst, schlafen zu gehen, oder bekommen Temperamentsausbrüche, wenn sie allein gelassen werden. Ebenfalls sehr häufig sind der Verlust gerade erworbener Entwicklungsfähigkeiten sowie Schlafstörungen, insbesondere Somnambulismus, Reden im Schlaf und Alpträume. Kleine Kinder haben nur eine begrenzte Toleranz für Traurigkeit und benutzen verschiedene Verdrängungsformen, um den Schmerz ertragbar zu machen. Bezogen auf das traumatische Erlebnis zeigen sie konkretistisches, personenbezogenes und magisches Denken, das heißt, dass überpersönliche Ereignisse persönlich attribuiert werden. Obwohl bindungsbezogenen Traumatisierungen damit in dieser Phase besonderes Gewicht zukommt, zeigen diverse Untersuchungen, dass auch bei so gravierenden Erlebnissen wie Trennungssituationen und Elternverlust entscheidend ist, wie die anschließende Versorgung des Kindes aussieht (siehe auch Keilson, 1979, Kapitel 3). Erna Furman (1986) beschreibt eine Reihe von Fällen von Elternverlust, in denen ganz deutlich wird, dass auch hier nicht pauschal das Alter des Kindes für den weiteren Entwicklungsverlauf bedeutend war, sondern die Frage, ob dem Kind entsprechende Ersatzbezugspersonen zur Verfügung standen. So schildert sie den Fall eines im ersten Lebensjahr verwaisten Mädchens, das anschließend bei seiner Großmutter aufwuchs. Aufgrund der guten Bindungsbeziehung zur Großmutter, die sich bei dieser Aufgabe psychotherapeutisch unterstützen ließ, verlief der Elternverlust bei diesem Mädchen sicherlich belastend, aber nicht traumatisch. Scheeringa, Zeanah, Drell und Larrieu (1995) haben überprüft, ob sich PTSD-Kriterien des DSM IV sinnvoll bei Kindern © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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5 Trauma bei Kindern

unter vier Jahren anwenden lassen. Ihren Ergebnissen zufolge zeigen auch Kinder in diesem Alter viele der aufgelisteten Symptome, ohne jedoch alle Kriterien für eine Diagnose zu erfüllen. Die Forscher haben daraufhin eine alternative Liste erstellt, die mehr auf Verhaltensausdrücken (Spiel, Verlust erworbener Fähigkeiten etc.) basiert.

Schulkinder Schulkinder haben mehr Möglichkeiten, kognitiv, emotional und behavioral mit einem Trauma umzugehen. Die Kinder bearbeiten das Trauma oft in der Phantasie, stellen sich dort eine Bewältigung vor, zum Beispiel die Eltern zu retten oder den Gegner auszutricksen. Solche Phantasien und Spiele sind oft ein Versuch, dem Gefühl der Hilflosigkeit zu begegnen. Da die Kinder in der Lage sind, sich im Nachhinein Pläne auszudenken, wie das Trauma hätte verhindert werden können (traumakompensatorische Schemata), treten damit auch Schuldgefühle auf, dass sie das Trauma nicht zu verhindern vermochten. Schulkinder geraten teilweise entweder durch besonders passives und unspontanes Verhalten oder aufgrund von mehr aggressivem und forderndem Verhalten in soziale Isolation. Kinder in diesem Alter haben besonders oft somatische Beschwerden wie Kopf- und Bauchschmerzen (Macksoud, Dyregrov u. Raundalen, 1993). Zu beobachten sind außerdem Angst, Depression und gestörte Trauerprozesse. Sichtbar werden diese psychischen Prozesse allerdings häufig erst in Form von Konzentrationsschwierigkeiten und den in der Folge auftretenden Lernproblemen.

Jugendliche In der Adoleszenz ist nach traumatischen Erlebnissen häufig eine forcierte Autonomie-Entwicklung, also ein vorschnelles Erwachsenwerden, zu beobachten. Indem Jugendliche über die kognitiven Fähigkeiten verfügen, traumatische Erlebnisse und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

5.3 Typische Merkmale von Trauma bei Kindern

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deren Konsequenzen einordnen und verstehen zu können, sind sie in gewisser Weise verletzlicher als Schulkinder (Macksoud et al., 1993). Zur kognitiven Reifung kommen eine Vielzahl von Entwicklungsveränderungen (körperliche Veränderungen, sexuelle Reifung) und Entwicklungsthemen (Ablösung, Identität) hinzu, mit denen die Jugendlichen konfrontiert und psychisch bereits sehr gefordert sind. Die Adoleszenz gilt auch als eine Phase, in der frühere Traumatisierungen wieder erinnert, reflektiert und mit Bedeutung versehen werden.75 Unter günstigen Umständen kann dies eine »zweite Chance« bedeuten, das Erlebte zu integrieren und zu bearbeiten. Bei anhaltenden oder erneuten Traumatisierungen ergibt sich dagegen ein zusätzliches Risiko. Jugendliche nutzen weniger die Phantasie oder das Spiel als Bewältigungs- oder auch Verleugnungsform, sondern zeigen eher selbstzerstörerisches oder antisoziales Verhalten. Zum acting-out in der Adoleszenz gehören unter anderem Schuleschwänzen, frühreifes sexuelles Verhalten, Drogenmissbrauch und Delinquenz (Macksoud et al., 1993; Fischer u. Riedesser, 1998).

5.3 Typische Merkmale von Trauma bei Kindern Obwohl Traumatisierungen in der Kindheit zu sehr unterschiedlichen psychischen Folgen führen können – mit frühen Traumatisierungen werden emotionale Störungen, Hyperaktvität, Angst, Depression, Selbstmordabsichten, Phobien, dissoziative Störungen, Borderline in Zusammenhang gebracht – nennt Terr (1991) vier häufig auftretende Merkmale von Kindheitstraumatisierungen. Zusammen mit den altersspezifischen Aspekten geben diese Merkmale wertvolle Hinweise für die Beantwortung der Frage, wie eine Traumatisierung im Kindesalter möglichst früh erkannt werden kann. Ihre Ausführungen entsprechen zum Teil den Kriterien, die 1987 im DSM zur PTSD 75

tel 3.

Wie von Freud bereits als Nachträglichkeit beschrieben, siehe Kapi-

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5 Trauma bei Kindern

hinzugefügt wurden. Bei den PTSD-Kriterien fand allerdings die von Terr getroffene Unterscheidung in Typ-I und Typ-II- Traumata keine Berücksichtigung. Wie PTSD insgesamt, beziehen sich auch die Kriterien für Kinder vorwiegend auf einmalige traumatische Erlebnisse, viele weitere traumareaktive Symptome werden nicht erfasst. Terr nennt als zentrale Charakteristika: visualisierte oder auf andere Art wiederkehrende Erinnerungen, wiederkehrende Verhaltensweisen (repetitive behaviors), traumaspezifische Ängste und die veränderte Wahrnehmung von anderen, des Lebens und der Zukunft (Terr, 1991). Während Wiedererleben auf unterschiedliche Art und Weise pathognomisch für PTSD ist, geht sie nicht auf Vermeidungssymptome und vegetative Übererregung ein, die Überlegungen anderer Autor/-innen hierzu habe ich entsprechend ergänzt.

Wiedererleben Wiedererleben zeigt sich in intrusiven Gedanken und Erinnerungen, die nicht abweisbar sind, Alpträumen und durch Schlüsselreize wieder ausgelösten Gefühlen. Nach Terr (1991) zeigt sich das Wiedererleben des Traumas bei Kindern häufig visuell, als Re-Visualisierung, selbst wenn das eigentliche Ereignis kaum visuelle Komponenten aufwies. Kennzeichen solcher traumatischen Visualisierungen sind ihre Lebendigkeit und ihr unwillkürliches und unerwünschtes Auftreten. Zeichnungen von Kindern, die in der präverbalen Phase ein Trauma erlebten, sprechen dafür, dass auch dieses vor allem visuell erinnert wird. Oft werden immer wieder die gleichen Bilder gemalt. Ob Kinder, besonders Kleinkinder, dabei auch flashbacks erleben, ist umstritten. Scheeringa et al. (1995) und Keppel-Benson und Ollendick (1993) gehen davon aus, dass Kinder keine oder nur sehr selten flashbacks haben. Studien zu diesem schwer zu untersuchenden Thema kommen zu völlig unvereinbaren Prävalenzraten zwischen 0 – 100 %. Da Kinder in den ersten Lebensjahren flashbacks nicht einordnen können, sind vermutlich auch ihre Äußerungen dazu nur schwer verständlich. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

5.3 Typische Merkmale von Trauma bei Kindern

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Wiederkehrende Erinnerungen und Gedanken (intrusive thoughts) kommen bei Kindern vor allem in Entspannungsphasen oder Phasen der Langeweile vor, wenn sie sich in der Schule langweilen, vor dem Einschlafen oder beim Radiohören oder Fernsehen. Die Kinder erschrecken häufig darüber und zeigen in der Folge Konzentrationsschwierigkeiten in der Schule oder Angst vor dem Zubettgehen. Zu den häufig auftretenden Schlafschwierigkeiten gehören auch Alpträume (Keppel-Benson et al. 1993), die jedoch von alterstypischen Alpträumen abgegrenzt werden müssen.

Wiederkehrende Verhaltensweisen und posttraumatisches Spiel Insbesondere bei kleinen Kindern zeigt sich Wiedererleben oder Erinnern oft im Spiel oder im Verhalten, vor allem wenn die Sprachentwicklung noch nicht abgeschlossen ist (Scheeringa et al., 1995). Posttraumatisches Spiel ist eines der auffälligsten Anzeichen einer Traumatisierung und durch unproduktive Wiederholung gekennzeichnet. Bei diesem monotonen, sich wiederholenden Spiel kommt es nicht zu einem Fortschritt in Richtung Bewältigung, sondern mit dem Wiederholen der Situation wird auch das Erleben der Angst wiederholt. Progressives, bewältigendes Spiel hingegen bedarf nicht so vieler Wiederholungen, bis eine Lösung gefunden wird (Simpson, 1993). Eben dieses Fehlen einer imaginären Transformation (imaginary transformation) ist nach Emde, Kubicek und Oppenheim (1997) charakteristisch. Die Desorganisation im traumatischen Spiel kann zudem zu einer Konfusion über Realität und Nicht-Realität führen. Ein solches Nicht-unterscheiden-können zwischen Phantasie und Realität macht es nicht nur sehr schwierig, traumatische Erlebnisse als reale Erlebnisse einordnen zu können – ein Thema, das sich wie ein roter Faden auch durch die Geschichte der Erforschung psychischer Traumata zieht –, sondern hat auch gravierende Konsequenzen für die Selbstentwicklung.

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5 Trauma bei Kindern

Vermeidungssymptome, Amnesie und Dissoziation Vermeidungssymptome oder emotionales Abstumpfen dienen dem Selbstschutz, vermieden wird, sich an Gedanken oder Gefühle zu erinnern, die mit dem Trauma einhergehen. Es kann wie bei Erwachsenen zu phobischen, dissoziativen oder depressiven Symptomen kommen. Kindertypische Formen von Dissoziation sind beispielsweise Trance oder Phantasiegefährten, die jedoch Teil jeder Entwicklung sein können. Vollständige psychogene Amnesien stellen, wie erwähnt eine Ausnahme dar, bei schweren, frühen, sich wiederholenden Traumatisierungen kommt es aber offenbar häufig zu einem Vergessen oder Dissoziieren von wichtigen Aspekten des Traumas auch über mehrere Jahrzehnte. Theoretisch lässt sich eine solche Reaktion als Schutz vor ansonsten schwer zu integrierenden Gefühlen, wie sie beispielsweise missbrauchte Kinder gegenüber ihren Eltern erleben, erklären. In den meisten Fällen scheinen sich Kinder jedoch an die Ereignisse erinnern zu können und beschreiben diese häufig sehr lebhaft (Schepker, 1997).

Vegetative Übererregung Vegetative Übererregung tritt vor allem in Momenten des Wiedererinnerns auf und zeigt sich in Schlafstörungen, Irritabilität, Wutausbrüchen, Konzentrationsstörungen, Hypervigilanz (Überwachheit), motorischer Hyperaktivität und erhöhter Schreckhaftigkeit. Das häufige Auftreten von Schlafstörungen wurde bereits angesprochen, es kann auch Folge dieser allgemeinen Übererregung sein. Irritierbarkeit und Wutausbrüche könnten mit der Furcht vor (erneutem) Kontrollverlust, Beschuldigungen anderer, für das, was passiert ist, verantwortlich zu sein, oder mit erhöhter Agitation aufgrund eigener Schuldgefühle zusammenhängen (Keppel-Benson et al., 1993).

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Traumaspezifische Ängste Viele Kinder behalten traumabezogene Ängste bis ins Erwachsenenalter und sobald die traumatische Situation bekannt ist, sind sie leicht als solche zu erkennen. Während neurotisch oder phobisch ängstliche Kinder beispielsweise Angst vor allen Hunde haben, wird ein von einem Hund gebissenes Kind nur vor dieser einen Hunderasse Angst entwickeln, oder, wie Fischer und Riedesser (1998) in einem Fallbeispiel zeigen, diese Rasse im Sinne eines traumakompensatorischen Schemas (siehe unten) einbinden und beispielsweise zum Beschützer wählen. In beiden Fällen lässt sich im Gegensatz zu nicht traumatisch bedingten Ängsten eine inhaltliche Verbindung zum ursprünglichen traumatischen Erlebnis herstellen. Darüber hinaus zeigen traumatisierte Kinder oft allgemeine Ängste vor dem Dunkel, vor Fremden, vor dem Alleinsein, vor Tieren etc. Solche Ängste gehören jedoch auch zu den normalen Entwicklungsphasen, die jedes Kind durchläuft, auffällig ist allerdings, wenn sie über Jahre bestehen bleiben.

Veränderte Einstellung zu anderen Menschen, zum Leben und zur Zukunft Traumatisierte Kinder haben oft die Vorstellung, dass weitere traumatische Erlebnisse stattfinden werden. Dies verändert ihre Einstellung sowohl zu anderen Menschen als auch zu ihrer persönlichen Zukunft. Sie haben beispielsweise das Gefühl, nur von einem Tag auf den anderen planen zu können, sind aber nicht in der Lage, sich längerfristig ihre Zukunft vorstellen zu können. Wurde das Trauma von einer anderen Person verursacht, so führt dies oft zu einem extrem misstrauischen Verhalten gegenüber anderen Menschen.

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5.4 Trauma und Gedächtnis im Kindesalter : das Problem der biographischen Rekonstruktion Sowohl um solche langfristigen und subtilen Prozesse als auch um Aussagen über traumatische Erlebnisse von Kindern verstehen und erkennen zu können, ist es wichtig zu wissen, wie traumatische Erlebnisse im Kindesalter erlebt und verarbeitet werden. Wie auch bei Erwachsenen sind hierbei Gedächtnisvorgänge entscheidend, die jedoch aufgrund der sich noch entwickelnden Gedächtnissysteme und Hirnstrukturen anders als bei Erwachsenen verlaufen. Die angesprochenen Veränderungen von inneren Repräsentationen über das Selbst, die Welt, andere und über Bindung finden dabei sehr wahrscheinlich auf der Ebene des impliziten oder prozeduralen Gedächtnisses statt, das auch das Gedächtnissystem ist, dass sich als Erstes entwickelt. Formen des implizit-prozeduralen Gedächtnissystems bilden sich bereits in den ersten Lebensmonaten und sind eng an Körpererfahrungen geknüpft, weshalb auch von »Körpererinnerungen« gesprochen wird (Markowitsch u. Welzer, 2005).76 Obwohl bereits Säuglinge zu beeindruckenden Gedächtnisleistungen fähig sind, entwickelt sich das deklarative Gedächtnissystem erst später. Frühkindliche traumatische Erlebnisse sind damit immer (auch) auf der Ebene des prozeduralen bzw. impliziten Gedächtnisses zu suchen. In diesem Gedächtnissystem werden vom Säuglingsalter an emotionale Erfahrungen, Beziehungswissen, »internale Arbeitsmodelle über Bindung« (siehe Kapitel 6) und erste Konzepte vom Selbst enkodiert, die man grob unter dem Begriff der »innerpsychischen Repräsentanzen« zusammenfassen kann.

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Die Tatsache, dass Neugeborene bereits zwischen neuen und vertrauten Stimuli unterscheiden können, beispielsweise die Stimme ihrer Mutter oder Äußerungen in der Muttersprache gegenüber nicht vertrauten Äußerungen präferieren, zeigt, dass bereits pränatal Gedächtnisprozesse stattfinden (Knopf, 2003). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Psychoanalytische und entwicklungspsychologische Konzepte von innerpsychischen Repräsentanzen Die differenziertesten Ausführungen und Diskussionen über Struktur und Aufbau intrapsychischer Vorstellungen finden sich in der Psychoanalyse, wo sie gegenwärtig vor allem im Zusammenhang mit Erkenntnissen aus der Säuglingsforschung und den Arbeiten von Daniel Stern (1985) sowie von Peter Fonagy, Gergely, Jurist und Target (2004) intensiv diskutiert werden. Inhaltlich geht es bei allen Ansätzen sowohl um die Frage, wie man sich psychische Strukturen vorstellt, als auch darum, auf welche Art und Weise sie entstehen. Historisch hat sich unter den psychoanalytischen Vorstellungen zur Repräsentanzenbildung die Unterscheidung in Selbstund Objektrepräsentanzen besonders durchgesetzt, worauf sich auch aktuelle Ansätze beziehen. Obwohl es sprachlich eindeutiger wäre, anstelle von Objektrepräsentanzen von »Repräsentanzen von anderen« zu sprechen, da sich »Objekt« in diesem Zusammenhang auf die Betreuungsperson, meistens die Mutter, bezieht, hat sich der Objektbegriff hier gehalten, die Theorieansätze sind unter der Bezeichnung Objektbeziehungstheorien bekannt.77 Grundlage der intrapsychischen Repräsentanzenbildung sind nach den Objektbeziehungstheoretikern die Internalisierung aufgegebener Objektbeziehung, Versuche der Konfliktlösung oder die Wiederherstellung eines Gleichgewichts. Eine andere Grundannahme der Objektbeziehungstheorie ist, dass sich psychische Repräsentanzen erst relativ spät bilden, etwa zeitgleich mit der Sprachentwicklung und den Anfängen symbolischen Denkens. Für die Anfangsphase gehen außerdem zum Beispiel Mahler, aber auch Kernberg davon aus, dass es zunächst eine symbiotische Erfahrung gibt, in der Selbst- und Objektrepräsentanzen noch nicht unterschieden werden. Die allmählich fortschreitende Differenzierung dieser beiden Repräsentanzen 77

Freud spricht davon, dass Triebe ein Objekt im Sinne eines Zieles haben. Im Zuge dieser Überlegung wurde die Mutter zum ersten Objekt des Säuglings. Repräsentanzen waren bei Freud hauptsächlich die Repräsentation des Triebes (Mertens, 1992). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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führt zur Individuation. Individuation wird dadurch möglich, dass die zunächst interpersonale Affektregulation mithilfe der inneren Rekonstruktion dieser Interaktion vom Kind selbst übernommen werden kann (Mertens, 1992). Die Begriffe Selbst- und Objektrepräsentanzen sind nach wie vor zentral für die Beschreibung innerpsychischer Repräsentanzen, obwohl einige Kernannahmen der Objektbeziehungstheorie mittlerweile von der Säuglingsforschung widerlegt wurden. Die Differenzierungsmöglichkeit zwischen Selbst und Objekt wird bei Säuglingen als sehr viel größer eingeschätzt, auch wenn zum Beispiel Emde (1983) bei 15 Monaten einen deutlichen Entwicklungssprung sieht. Emde, wie auch Stern, konzipiert die Entwicklung des Selbst als einen Prozess von Anfang an. Das bedeutet, dass die Fähigkeit zur Repräsentanzenbildung schon in den ersten Monaten einsetzt, wenn auch spätere sprachlichsymbolische Fähigkeiten zu einer anderen Qualität und vielfältigeren Abstraktionsmöglichkeiten führen. Konfliktlösung als Motivation wird von der Kleinkindforschung zurückgewiesen. Es sind vielmehr alltägliche Wiederholungen, die schließlich zur Bildung von Erwartungsmustern führen (siehe unten). Die meisten Autoren verstehen gegenwärtig unter psychischen Repräsentanzen das, was Sandler und Rosenblatt (1962) als »kognitive Entitäten von affektiv geladenen sensorischen Informationen« definiert haben oder Zelnick und Buchholz (1990) als »unbewusste, organisierende Strukturen von Interaktionen«, wobei sie gleich die Art des Aufbaus innerer Repräsentanzen mitimplizieren: als interaktiv und interpersonal. Im Gegensatz zu momentanen und damit temporären Wahrnehmungen (bei Sandler u. Rosenblatt: »Bild«) spricht man von Repräsentanzen in Bezug auf überdauernde psychische Strukturen, die sich im Laufe der Zeit bilden und das weitere Wahrnehmen und Handeln mitorganisieren. Diese überdauernden Strukturen bilden sich allerdings – sehr knapp gesagt – zunächst aus den einzelnen Wahrnehmungen konkreter Situationen (bei Stern, 1985: lived moments), verknüpft mit deren affektivem Gehalt. Die regelhafte Wiederholung bestimmter Interaktionsformen führt zur Abstraktion dieser konkret erlebten Situationen und damit zu »generalisierten Interaktionsrepräsentationen« © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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(representation of interaction that have been generalized, abgekürzt RIG nach Stern, 1985; siehe auch Mertens, 1992). Abstrahiert werden kann nach Stern aufgrund von invarianten Merkmalen, die die Wiederholungen gemeinsam haben. RIGs stellen so den Durchschnitt mehrerer realer Episoden dar und bilden eine prototypische Repräsentanz dieser Episoden. Kohärent werden die Strukturen erst, wenn sie narrativ gefasst und verhandelt werden können. Die Prototypen werden dann wieder aktiviert, wenn ein RIG-Attribut auftritt: Ein bestimmtes Gefühl beispielsweise wird diejenigen RIGs aufrufen, die mit diesem Gefühl im Zusammenhang stehen. Die generalisierten Interaktionsrepräsentanzen sind keine aktivierte Erinnerung, sondern eine (abstrakte) Tiefenstruktur, aus der Erinnerungsbilder wachgerufen werden können, die Stern als »evozierte Gefährten« (evoked companions) bezeichnet. Diese evozierten Gefährten entsprechen Mustern von etwas tatsächlich Erlebtem, sie übersetzen und evaluieren sozusagen zwischen spezifischer Aktivität und dem aufgrund eines Erinnerungshinweises aktivierten RIG. Sie können sowohl unbewusst bleiben als auch bewusst werden (Stern 1985).78 Stern unterscheidet neben Selbstrepräsentanzen und Objektrepräsentanzen zusätzlich Repräsentanzen über das »Selbst-mit-anderen« (self-with-other). Die verschiedenen in solche Strukturen eingegangenen Vorstellungen sind Ausgangspunkt für die Phantasie, lassen sich durch sie frei gestalten und werden kontinuierlich aufgrund neuer Erlebnisse erweitert und verändert.79 78

Es gibt einen ökonomischen Grund, prototypische Repräsentanzenbildung anzunehmen: die notwendige Ordnung der Erfahrungsvielfalt. Nach Deneke dienen Repräsentanzen daneben auch der mit der Abstraktion einhergehenden Affektabwehr (Mertens, 1992). Und sie erklären »Unbewusstes«. 79 Bei der Entwicklung des Selbst unterscheidet Stern vier Stadien, die zeigen, wie früh er diesen Prozess ansetzt: 1. »sense of the emergent self« (0 – 2 Monate); 2. »sense of core self and core relatedness« (2 – 6 Monate); 3. »sense of subjective self and the domain of intersubjective relatedness« (7 – 15 Monate); 4. »sense of verbal self« (ab 15 Monate); © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Viele von Sterns Erkenntnissen lassen sich mit neurowissenschaftlichen Annahmen (z. B. von Damasio, 2000 und Edelman, 1993) über die Selbstentwicklung in Einklang bringen (siehe Fonagy u. Target, 2006). Wie in der Traumaforschung auch liegt hier einer der wichtigsten Verknüpfungspunkte zwischen psychoanalytischen und neurowissenschaftlichen Annahmen in der Vorstellung über verschiedene Gedächtnissysteme. Innere Repräsentanzen werden als Teil des impliziten Gedächtnisses aufgefasst, denn hier sind relationale und emotionale Erfahrungen enkodiert, die bis in die ersten Lebenstage zurückreichen. Das »Wissen« (wissen, »wie«) dieses Gedächtnisses wird jedoch nur durch Performanz zugänglich, also nur, »wenn das Individuum ebenjene Aktivität ausführt, in die das Wissen eingebettet ist« (Fonagy u. Target, 2006, S. 353). Schematische Repräsentationen, wie sie den Vorstellungen von Stern, aber auch von Bindungsforschern, wenn sie von inneren Arbeitsmodellen sprechen (siehe Kapitel 6), entsprechen, lassen sich in diesem Sinne als prozedurale Erinnerungen verstehen, die dazu dienen, das soziale Verhalten spezifischen Kontexten anzupassen.

Traumabedingte Veränderungen innerpsychischer Repräsentanzen Wie sich traumatische Erlebnisse auf den Aufbau innerer Repräsentanzen auswirken können, beschreibt Diepold (1998) für schwere Beziehungs- und Deprivationstraumata folgendermaßen: Die traumatischen Erlebnisse prägen die äußere Welt des Kindes so fundamental und dauerhaft, dass das Kind anstelle von ersten Beziehungserfahrungen »Gefahr, Unberechenbarkeit, Vernichtung, Gewalt und Chaos« verinnerlicht und das Trauma so die gesamte Selbst- und Welterfahrung des Kindes einnimmt. Theoretisch lässt sich dies so erklären, dass der geschilderte Aufbau von RIGs vor allem bei frühkindlichen Typ-II-Traumata beziehungsweise bei kumulativen Traumatisierungen dazu führt, dass die sich entwickelnde Tiefenstruktur zu einem Substrat aus traumatischen Erfahrungen wird. Da das Trauma die alltägliche Umwelt und unter Umständen auch die alltägliche Beziehungs© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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welt des Kindes formt, dient die traumatische Situation als Vorlage für innerpsychische Strukturen. Die Ausnahmesituation stellt die Normalsituation dar und wird in Form impliziten Wissens gespeichert. Die Folgen sind in Form von gebahnten, also bevorzugt ablaufenden körperlichen Reaktionen bis auf die Ebene der Hirnentwicklung nachvollziehbar (siehe unten). Ebenso kann der Aufbau kohärenter Repräsentanzen partiell gestört werden, wenn ein oder mehrere traumatische Erlebnisse diesen Prozess unterbrechen. Die internalisierten Repräsentanzen können dann in bestimmten mit dem Trauma in Verbindung stehenden Bereichen nicht als Orientierung für zukünftiges Verhalten fungieren, da sie kein geschlossenes Bild ergeben. Das Kind ist stattdessen einem gewissen Chaos ausgesetzt. Sehr anschaulich zeigt sich dies bei desorganisierten/ desorientierten Bindungsmustern (siehe Kapitel 6), die zu einem Zusammenbruch der Aufmerksamkeits- und Verhaltensstrategien, allerdings nur in bestimmten bindungsrelevanten Situationen, führen. Andere Repräsentanzen und Situationen sind dann, im Gegensatz zu schweren frühen Traumatisierungen, nicht betroffen.

Verlaufsmodell psychischer Traumatisierung für Kindheitstrauma von Fischer und Riedesser (1998) Fischer und Riedesser (1998) haben ein Verlaufsmodell von psychischen Traumatisierungen entworfen, das detailliert auf traumabedingte Veränderung innerpsychischer Repräsentanzen oder kognitiver Schemata Bezug nimmt und das sie auch für das Kindesalter ausgearbeitet haben. Sie beziehen sich in erster Linie auf den kognitiven Schemabegriff von Piaget, den sie jedoch mit den psychoanalytischen Begriffen Selbst- und Objektrepräsentanzen verbinden, indem sie beispielsweise von »Beziehungsschemata« sprechen (Fischer u. Riedesser, 1998, S. 77).80 Ähnlich 80 Das Modell von Fischer und Riedesser ist weitaus komplexer, als ich es hier darstellen kann, insbesondere werde ich aus Platzgründen nicht näher auf ihre Weiterentwicklungen des Situationskreismodells von Thure von

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dem hier vorgestellten Konzept innerpsychischer Repräsentanzen verwendet Piaget die Begriffe »Schema« und »Struktur« als Abstraktion und als kategorisierende Zusammenfassung von Handlungsweisen. Das Schema einer Handlung unterscheidet sich damit von der aktuellen Realisierung. Schemata haben damit wie innere Repräsentanzen eine kategoriale Orientierungsfunktion für das praktische Verhalten. Nach Piaget erfolgt ihr Aufbau stufenweise, das früheste Stadium sind sensumotorische Schemata in den ersten beiden Lebensjahren. Komponenten dieser sensumotorischen Schemata bleiben erhalten, auch wenn sich in der kognitiven Entwicklung immer differenziertere Koordinationsstrukturen und Planungsfunktionen bilden. Erst im Jugendalter, im Stadium der »formalen Operationen«, in dem das systematische Bilden von Hypothesen möglich ist, »können psychische Abläufe repräsentiert werden und damit auch Traumata als ›seelische Verletzungen‹« (Fischer u. Riedesser, 1998, S. 76). Fischer und Riedesser (1998) unterscheiden zwischen zwei Formen von Schemata: Beziehungsschemata, die sozial-emotionale Wissensbestände regulieren, und Gegenstandsschemata, die sachbezogenes Wissen koordinieren. Mithilfe dieser Unterscheidung können sie genau differenzieren, wie bestimmte Arten von traumatischen Erlebnissen bestehende oder sich bildende Schemata betreffen: Während Naturkatastrophen oder technische Desaster vor allem sachbezogene Schemata verändern oder beeinträchtigen, wirken man made disasters auf der Ebene der Beziehungstraumata.81 Traumaverarbeitung besteht nach Fischer und Riedesser – in starker Anlehnung an das kognitive Informationsverarbeitungsmodell von Horowitz – darin, dass vorhandene Schemata so lange umgearbeitet werden, bis die traumatische Information Uexküll eingehen. Es sei nur darauf hingewiesen, dass sie auf diese Weise auch die psychosoziale Umwelt in ihr Modell mit einbeziehen. 81 Fischer und Riedesser (1998) sprechen von zwei Realitätsprinzipien, die die jeweiligen Schemata regulieren, dem »pragmatischen« (Sachebene) und dem »kommunikativen« (Beziehungsebene). Zwischen beiden wird wiederum durch ein »psychisches Realitätsprinzip« vermittelt, das ein Äquivalent zum psychoanalytischen »Ich« darstellt. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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prozessiert ist, das heißt in den vorhandenen Bestand kognitivemotionaler Schemata integriert werden kann.82 Anstelle einer solchen Integration treten diverse Reorganisationsversuche. Diese führen nach Fischer und Riedesser (1998) zu einer Veränderung vorhandener oder zur Entstehung neuer traumabezogener Schemata.

Entwicklung eines Traumaschemas

Hierunter verstehen die Autoren ein »zentrales, in der traumatischen Situation aktiviertes Wahrnehmungs-/Handlungsschema, das im Sinne von Trauma als ein unterbrochener Handlungsansatz mit Kampf- und Fluchttendenz die traumatische Erfahrung im Gedächtnis speichert« (Fischer u. Riedesser, 1998, S. 351). Sie sprechen auch von einem »undifferenzierten Erinnerungskomplex«, vergleichbar mit der Vorstellung der abgespaltenen Trauma-Erinnerungen bei van der Kolk (1996a; 1996b), der einem expliziten, durch den Hippocampus gesteuerten Gedächtnisabruf oft unzugänglich ist. Das Traumaschema bezieht sich unmittelbar auf die traumatische Situation und verleiht dieser einen orientierungs- und handlungsleitenden Status.

Entwicklung eines traumakompensatorischen Schemas

Ein dem Trauma zeitlich nachgeordneter Reorganisationsversuch besteht in der Entwicklung eines traumakompensatorischen Schemas. Dieses bildet sich erst im Anschluss an die traumatische Situation und stellt eine Form des Selbstschutzes und der Bewältigung dar. Es umfasst diverse subjektive Theorien, mithilfe derer versucht wird, die traumatische Situation »zu 82 Die Frage, ob Traumata integriert werden können oder ob sie auch bei intensiver psychischer Bearbeitung immer zumindest partiell ein »Fremdkörper« bleiben, ist kritisch zu diskutieren. Meines Erachtens zeigen gerade Längsschnittuntersuchungen und Erfahrungen mit Extremtraumatisierungen, dass die Vorstellung einer »Integration« bestimmten Ereignissen zuwiderläuft. Siehe hierzu jedoch auch die in Kapitel 3 dargestellte Diskussion zu »objektiv« traumatisierenden Ereignissen und die Überlegungen von Hillel Klein (2003).

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verstehen« oder ihr einen Sinn zuzuschreiben. Dazu können eine ätiologische Theorie gehören, die erklärt, wodurch das Trauma entstanden ist, eine Heilungstheorie, die besagt, wie das Trauma geheilt werden kann und eine präventive Theorie, aus der sich ableiten lässt, was geschehen muss, um ein erneutes Trauma zu vermeiden. Hierzu kann beispielsweise eine Verkehrung von Subjekt- und Objektqualitäten gehören: Das Subjekt identifiziert sich mit dem Objekt und hat so Teil an dessen Stärke und Macht, während die (u. U. verachteten) Qualitäten des eigenen Erlebens, wie Unterlegenheit und Schwäche, vom Selbst abgespalten werden. Anna Freuds Überlegungen zur Umkehrung von Passivität in Aktivität und zur Identifikation mit dem Aggressor können so als Teil einer kompensatorischen Schematisierung des Traumaerlebnisses beschrieben werden. Mit dem Konzept des traumakompensatorischen Schemas wird beschrieben, wie aus einem traumatischen Erlebnis ein orientierendes, abstraktes Schema gebildet wird und welche Qualität dieses hat. Traumakompensatorische Maßnahmen können, von außen betrachtet, irrational wirken. Sie stellen, aber gemessen am subjektiven Informationsstand – und den Betroffenen sind meistens nicht alle Aspekte des Traumas bewusst zugänglich – sinnvolle Handlungen bzw. Bewältigungsversuche dar. Bei Kindern sind Traumaschema und traumakompensatorisches Schema durch das jeweilige kognitive Entwicklungsniveau geprägt und begrenzt. Generell gilt, je früher sie in der Entwicklung gebildet werden, desto deutlicher sind sie sensumotorisch, egozentrisch und von extremen Gegensätzen geprägt, z. B. im Sinne einer Schuldzuschreibung an die eigene Person. Ist das Denken insgesamt noch konkretistisch und personenbezogen ausgerichtet, werden auch überpersönliche Ereignisse, etwa Naturkatastrophen oder Krieg, persönlich attribuiert. Es entsteht beispielsweise die Vorstellung, das traumatische Ereignis sei geschehen, weil das Kind ungehorsam war. Oft entwickeln Kinder im Rahmen der Traumakompensation auch Interventionsstrategien, die von einer »vor-operationalen« oder magischen Denkweise geprägt sind. Das Kind füllt so seine Lücken im Verständnis komplexer Abläufe, die es noch nicht überblicken kann, gleichzeitig verändern sich damit jedoch auch seine allgemeinen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Vorstellungen über sich selbst und die Welt und die daraus entstehenden Erwartungen. Die Selbstrepräsentation des Kindes ändert sich auf diese Weise unter Umständen nachhaltig und beeinflusst die Identitätsentwicklung über verschiedene Entwicklungsstufen hinweg. Traumatische Erfahrungen können zudem den Übergang zu höheren Stufen der kognitiv-emotionalen Entwicklung gefährden, da sie schwer in die vorhandenen Schemata integriert werden können. Auch die Repräsentanzen von Eltern bzw. Objektrepräsentanzen werden erheblich beeinflusst, wenn beispielsweise die Eltern nur eingeschränkt emotional verfügbar oder sogar selbst Teil der traumatischen Situation sind. Wichtig bei diesen Veränderungen ist, dass das Kind die erlebte Situation oder das erlebte Elternverhalten gerade bei Typ-II-Traumatisierungen oder sequentiellen Traumatisierungen nicht als einmalig oder Ausnahmesituation erfassen kann, sondern daraus, wie geschildert, generalisierte Repräsentanzen bildet, die handlungs- und erwartungsleitend wirken. Diese Überlegungen zeigen auch, dass Hinweise auf Traumatisierungen oft nur über die Analyse von traumakompensatorischen Aktivitäten erschlossen werden können. Nur im Zusammenhang mit einer Rekonstruktion des Erlebten erscheinen diese dann nicht länger als Absonderheiten oder verrückt, sondern als oft in sich verständliche und kreative Antworten auf eine traumatische Situation.

Explizites und verbales Erinnern frühkindlicher Traumatisierungen Gerade im Zusammenhang mit der biographischen Rekonstruktion stellt sich eine weitere wichtige Frage: Wie und ab welchem Alter können Kinder traumatische Erlebnisse explizit erinnern? Und wie zutreffend sind Erinnerungen an Ereignisse in der frühen Kindheit, also in der präverbalen Phase? Diese Fragen sind nicht nur aufgrund der sich noch entwickelnden Gedächtnisstrukturen und des fehlenden oder erst beginnenden Sprachvermögens noch diffiziler zu beantworten als im © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Erwachsenenalter, sondern auch, weil Traumanarrative von Kindern typischerweise ko-konstruiert sind, das heißt im Dialog mit Erwachsenen entstehen (Pynoos et al., 1996, S. 349). Solche KoKonstruktionen durch Erwachsene können dem Kind helfen, das Erlebte zu verstehen und einzuordnen, andererseits besteht die Gefahr, dass Bezugspersonen, gerade wenn sie selbst verwickelt sind, unbewusst oder bewusst Verbote oder missverständliche Erklärungen geben oder ein Schweigen über das Geschehene bewirken.

Die Entwicklung des episodisch-autobiographischen Gedächtnisses

Für die Behandlung der Frage der traumatischen Erinnerungen, aber auch für die Bindungsforschung (siehe Kapitel 6) ist hier eine weitere bekannte Unterteilung innerhalb des deklarativen/ expliziten Gedächtnissystems relevant: Nach Tulving (1985) wird je nach Art des Gedächtnisinhaltes zwischen »episodischem« bzw. »autobiographisch-episodischem«83 und »semantischem« Gedächtnis differenziert. Unter episodischem Erinnern wird die Fähigkeit zum Einspeichern und Abrufen von autobiographischen Gedächtnisinhalten mit Zeit-, Ich- und Emotionsbezug verstanden. Ein Beispiel für episodisches Erinnern ist die Erinnerung an die letzte Geburtstagsfeier, die man sich gleichsam wie bei einer mentalen Zeitreise wieder vor Augen führen kann. Aufgrund dieser Fähigkeit zur mentalen Zeitreise umfasst die episodische Gedächtnisfähigkeit auch die Möglichkeit der Antizipation der persönlichen Zukunft (Wheeler, Stuss u. Tulving, 1997). 83 Da Inhalte des semantischen Gedächtnisses ebenfalls autobiographisch sein können, ist diese Zusammenfügung nicht ganz präzise, wird aber von vielen Wissenschaftlern so verwendet und dient der besseren Anschaulichkeit. Ich grenze damit die hier relevante Definition von »episodischem Erinnern« zudem von einer weiteren in der kognitiven Neurowissenschaft gebräuchlichen Definition ab, nach der sich episodisches Erinnern vor allem auf eine bestimmte Art von Gedächtnistest bezieht, bei dem es darum geht, gelernte Fakten (z. B. Wortlisten) wieder dem Kontext zuzuordnen, in dem sie gelernt wurden (Wheeler et al., 1997).

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Semantisches Erinnern bezieht sich dagegen auf reines Faktenwissen, also auf Tatsachen, die man kontextfrei, ohne Erinnern des räumlich-zeitlichen Kontextes, in dem man sie gelernt hat, wiedergeben kann (Markowitsch u. Welzer, 2005, S. 83) und die verbal enkodierte Informationen auf einem allgemeinen und abstrakten Niveau darstellen (Ziegenhain, 2001, S. 157). Zu diesem Faktenwissen gehört beispielsweise, dass Paris die Hauptstadt von Frankreich ist etc.84 Die Fähigkeit zum episodischen Erinnern beginnt erst etwa ab dem dritten Lebensjahr – auch dann zeigen sich noch einige Unterschiede zum Erwachsenen (etwa in der Hemisphärendominanz) – und wird sehr wahrscheinlich erst im Jugendalter abgeschlossen (Markowitsch u. Welzer, 2005). Die ersten Voraussetzungen für das episodische Gedächtnissystem bilden sich jedoch sehr viel früher, viele Forscher sehen die Sprachentwicklung als einen Ausgangspunkt. Sieht man dagegen »verzögerte Nachahmung« (deferred imitation) als einen Indikator expliziten Lernens, dann geht die Entwicklung nicht-deklarativer, impliziter Gedächtnisleistungen zwar den deklarativen, expliziten Gedächtnisleistungen voraus, letztere können in dieser Form aber bereits bei Kindern im Alter von sechs bis neun Monaten beobachtet werden. Unter »verzögerter Imitation« wird verstanden, dass dem Säugling mehrere einfache Handlungen an einem Objekt, etwa einem Mobile, vorgeführt werden, ohne dass der Säugling selbst diese Handlungen ausführt oder das Objekt berührt. Nach einem längeren Zeitraum bekommt der Säugling das Objekt. Ab dem Alter von sechs Monaten, sind die Kinder in der Lage etwa 24 Stunden später die vorgeführten Handlungen auszuführen, mit zwanzig Monaten können sie Handlungssequenzen zwei bis sechs Wochen lang speichern. Verzögerte 84

Sehr anschaulich wird die Unterscheidung dieser beiden Gedächtnisarten in einer Beschreibung verschiedener Erinnerungsarten, die von William James stammt, in dem folgenden Zitat kann man »remembrance« mit episodischen Erinnern gleichsetzen: »Remembrance is like a direct feeling; its object is sufffused with a warmth and intimacy to which no object of mere conception ever attains« (William James, 1890, Principles of psychology, New York: Holt, S. 239 zitiert nach Wheeler et al, 1997). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Imitation gilt als explizite Gedächtnisleistung, weil die zu erinnernde Handlung nur einmal oder nur wenige Male vorgeführt wurde, verschiedene Sinnesmodalitäten angesprochen werden (und damit Primingvorgänge ausgeschlossen werden können). Amnestiker mit Defiziten im deklarativen Gedächtnis sind zu diesen Leistungen nicht fähig (Knopf, 2003). Diesem Erinnern fehlt jedoch noch weitgehend eine Fähigkeit, die gerade für eine Integration oder Bewältigung eines Traumas als zentral angesehen wird, nämlich 1. der persönlichen Existenz ein Raum-Zeit-Kontinuum zu geben, 2. auf eine Vergangenheit zurückzublicken (für die Trauma-Integration bedeutet dies, das traumatische Erlebnis sicher in der Vergangenheit verorten zu können), 3. diese für die Gestaltung und Planung von Zukünftigem nutzen zu können (Markowitsch u. Welzer, 2005, S. 11). Kleinen Kindern ist ein solches nach Tulving »autonoetisches« Erinnern, das die Fähigkeit zur mentalen Zeitreise umfasst, nicht möglich, denn sehr wahrscheinlich ist es an den präfrontalen Kortex gebunden, die Hirnstruktur, die sich als Letztes bildet. Dennoch können auch sie oft erstaunlich präzise über traumatische Erlebnisse, selbst wenn diese in der präverbalen Periode lagen, später sprachlich Auskunft geben. Das spricht dafür, dass traumatische Erlebnisse in nahezu jedem Alter möglich sind. Erinnerungen über sehr bedeutende Ereignisse bestehen offenbar bereits ab den ersten Monaten, wenn sich auch nur schwer feststellen lässt, welche Qualität diese Erinnerungen haben. Gaensbauer (1995) berichtet von einem Kind, das zum Zeitpunkt der Traumatisierung neun Monate alt war und im Alter von zwei Jahren den erlittenen Autounfall mit Spielsachen nachstellen konnte. Das Mädchen befand sich mit ihrer Mutter und Großmutter im Auto, als dieses mit einem Lastwagen zusammenstieß und mehrere Meter weit geschleudert wurde; alle drei Insassen wurden im Gesicht und am Körper verletzt. Das Mädchen entwickelte große Angst im Zusammenhang mit Autos, weigerte sich, sich hineinzusetzen und schrie nachdem sie das Wort »Truck« gelernte hatte, »truck, mommy, truck!«, sobald sie © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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einen Lastwagen sah. Sie stellte 13 Monate später den Unfall mit Spielsachen nach, ohne dass zuvor jemand mit ihr explizit darüber gesprochen hätte.85 Sie erkannte außerdem die Unfallstelle, als sie ein Jahr später daran vorbeifuhr. Ab wann die Möglichkeit besteht, Erinnerungen zu verbalisieren, wird unterschiedlich eingeschätzt. Terr (1991) nimmt als frühestes Alter für verbale Erinnerungen 28 bis 36 Monate an, andere sprechen bereits von einem Alter von 16 Monaten. Die Fähigkeit zum expliziten Erinnern, also sich bewusst Ereignisse aus der Vergangenheit ins Gedächtnis rufen zu können und diese mit anderen zu kommunizieren, scheint sich nicht vor einem Alter von fünf Jahren zu bilden (Scheeringa et al., 1995). Davor spricht man von der sogenannten »infantilen Amnnesie«. Wie das Beispiel des neun Monate alten Kindes zeigt, bedeutet das Schweigen von sehr kleinen Kindern nicht, dass das Ereignis vergessen ist. Häufig geben die Kinder sehr viel später äußerst detaillierte Beschreibungen gegenüber vertrauten Personen (Macksoud et al., 1993; Beispiele auch bei A. Freud u. Burlingham, 1943).

Erinnern auf der Ebene des impliziten Gedächtnisses

Im Spiel und auch in Verhaltensweisen tauchen, im Gegensatz zum Erzählen, Elemente des Traumas dagegen oft schon früher auf. Auch wenn Kinder die Situation auf dieser Ebene erstaunlich präzise wiedergeben können, bedeutet dies nicht, dass sie sie vollständig erfasst haben. So berichten Joy Osofsky et al. (1995) im Rahmen einer Fallbeschreibung von Zwillingen, die als Zweijährige gesehen haben, wie der Vater die Mutter erschossen hat, dass für die Kinder »erschossen werden« zunächst das Gleiche war wie »ins Gefängnis kommen« (wo ihr Vater war) oder »für immer einschlafen«. Am Ende einer intensiven Therapie, in der sich das Spiel der beiden Kinder um die traumatische Situation immer wieder veränderte und die Kinder bei der Strukturierung des Erlebten unterstützt wurden, und im Zusammen85 Nach Aussage der Mutter, siehe Gaensbauer (1995). Natürlich ist es äußerst schwer zu wissen, was das Mädchen evt. unbemerkt darüber gehört hat.

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hang mit entsprechenden kognitiven Entwicklungsschritten begannen die Kinder, diese Ereignisse differenzieren zu können. Dies zeigt – jenseits der Schwierigkeiten, die es für jeden bedeuten würden, ein solches Erlebnis zu bearbeiten – dass bei sehr kleinen Kindern die kognitiven Voraussetzungen, um Erlebtes zu begreifen, insgesamt noch in der Entwicklung begriffen sind und welch eine hohe Aufmerksamkeit dies von Bezugspersonen und Therapeut/-innen erfordert, um zu verstehen, was das Kind versteht und welche Schlüsse es daraus zieht beziehungsweise welche inneren Schemata es daraus bildet. Nach einer bemerkenswerten Theorie von Jacobs und Nadel (1985) können implizite Gedächtnisinhalte gerade unter Stress wieder aktiviert werden. Sie beziehen sich auf den gleichen Mechanismus, den Bessel van der Kolk für die nicht über den Hippocampus stattfindende Einspeicherung traumatischer Erinnerungen verantwortlich macht, auf die unter Stress erhöhte Ausschüttung von Glucocorticoiden die zu einer zeitweisen Hemmung des Hippocampus führt. Während van der Kolk aus diesem Grund den Prozess der Einspeicherung verändert sieht, sehen Jacobs und Nadel hierin die Möglichkeit zu einem Abruf ansonsten nicht zugänglicher frühkindlicher Erinnerungen. Nichthippocampale Gedächtnissysteme werden aktiviert und »vergessene« Ängste tauchen unvermittelt auf. (siehe hierzu auch Dornes, 1999, S. 542 ff.). Die Auslösebedingung ist dabei unspezifischer Stress. Jacobs und Nadel erklären mit diesem Modell das Auftauchen von Phobien, also irrationalen Ängsten vor bestimmten Situationen und Objekten. Phobien verstehen sie im Sinne ihres Modells als Reaktivierung infantiler Ängste, die latent waren und unter Belastung erneut an die Oberfläche gelangen. Unklar bleibt dabei allerdings, wie spezifisch diese Ängste sind, ob sie beispielsweise tatsächlich mit einer früh erlebten traumatischen Situation zusammenhängen oder nicht. Abgesehen von dieser Frage, ist jedoch auch hinsichtlich der Wirkung traumatisch veränderter Repräsentanzen oder Schemata äußerst interessant, dass sie auf neuropsychologischer Ebene beschreiben, auf welche Weise in Stresssituationen in der frühen Kindheit erworbene Ängste und/oder Verhaltensstrate© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

5.5 Kindheitstrauma und Hirnentwicklung

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gien, die nicht bewusst zugänglich sind, wieder zum Tragen kommen. Aus diesen Überlegungen lässt sich auch ableiten, dass früh erworbene Ängste in stabilen, nicht Stress auslösenden Umwelten weniger zum Tragen kommen. Dies betont einmal mehr die Bedeutung des gesamten psychosozialen Kontextes.

5.5 Kindheitstrauma und Hirnentwicklung: How »states« become »traits« Neurowissenschaftliche Theorien unterstützen die erwähnten Überlegungen zu Veränderungen auf der Ebene des impliziten, prozeduralen Gedächtnisses, indem sie auf neuronaler Ebene modellieren, wie sich bestimmte traumabedingte Verhaltensund Reaktionsmuster verfestigen und so aus einmaligen Zuständen schließlich überdauernde Eigenschaften werden können. Dies gilt besonders für frühe und sich wiederholende Traumatisierungen. Ein Problem bei diesen Modellen ist jedoch – wie bei Modellen für das Erwachsenenalter auch – dass sie oft noch nicht genügend empirisch gestützt sind, das heißt auf geringen Fallzahlen beruhen und zudem stark vereinfachen. Perry, Pollard, Blakley, Baker und Vigilante (1995) haben auf der Grundlage einer ausführlichen Beobachtungsstudie eine Modell entworfen, nach dem frühkindliche Traumatisierungen zu zwei divergierenden Reaktionsmustern führen, für die sich jeweils ein neurobiologisches Korrelat bestimmen lässt: Hyperarousal (Übererregtheit) und Dissoziation. Die Gehirnentwicklung verläuft hochplastisch, in Abhängigkeit von Erfahrung (use-dependent) und je nach Region unterschiedlich schnell: von weniger komplexen Regionen, wie dem Hirnstamm, hin zum hochkomplexen Neocortex (van der Kolk et al., 1997; Perry et al., 1995). Während diese hohe Plastizität die höchstmögliche individuelle Anpassung ermöglicht, bedeutet sie gleichzeitig eine zumindest während kritischer Entwicklungsphasen sehr hohe Vulnerabilität. Unterbrechungen in diesen wichtigen Phasen der Entwicklung können zu pathogenen Veränderungen oder Defiziten in der neuronalen Entwicklung füh© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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ren.86 Auf neuronaler Ebene entscheidend ist hierbei der Prozess der Synaptogenese, also der Neubildung von Synapsen, sowie deren Umkehrung, das Pruning, das ebenso wichtig für die Hirnentwicklung ist. Beides verläuft »benutzungsabhängig«. Die Neubildung von Synapsen ist bis ins Erwachsenenalter möglich, wenn auch da in sehr viel geringerem Maße. Eine Unterbrechung der gesunden Gehirnentwicklung kann sowohl durch zu wenig Anregung als auch durch die Überflutung mit Informationen entstehen. Nach Perry et al. (1995) nehmen traumatische Erlebnisse Einfluss auf die Organisation der neuronalen Entwicklung, indem in bestimmten sensitiven Phasen eine Übererregung und Sensitivierung sich entwickelnder Hirnregionen stattfindet. Um auf die wahrgenommene Gefahr zu reagieren, stehen Säuglingen und Kleinkindern vor allem zwei Arten des Anpassungsversuches zur Verfügung: Hyperarousal und Dissoziation. Die Hyperarousal-Reaktion verläuft entlang ähnlicher Stadien wie die bei Erwachsenen bekannte fight-flight Reaktion, bei der eine Aktivierung des sympathischen Nervensystems in der akuten Phase zu einer Abfolge der Reaktionen Vigilanz – Freeze – Flucht – Kampf führt. Während die physiologische Aktivierung bei der Hyperarousal-Reaktion bei Kindern dieser fight-flight-Reaktion entspricht, ist das Kind jedoch nicht in der Lage, Kampf oder Flucht tatsächlich erfolgreich auszuführen. Es wird erregt, widerständig und aggressiv. Die physiologische Aktivierung erfolgt vor allem über die vom locus coerulus87 gesteuerte erhöhte Noradrenalin-Ausschüttung. Die involvierten Hirnregionen sind entscheidend an der Regulation von Erregung, Vigilanz, Affekt, Schreckreaktion, Lokomotion, Aufmerksamkeit, Stressreaktionen und Schlaf beteiligt. Eine durch Trauma hervorgerufene Sensitivierung dieser Regionen führt langfristig zu einer Dysregulation dieser Funktionen. Mit der Zeit können so motorische Hyperaktivität, Angst, Impulsivität, Schlafprobleme und verschiedene neuroendokrinologische Veränderungen auftreten. 86 Dies ist bei Deprivation, wie bspw. das Kaspar-Hauser-Syndrom zeigt, schon lange bekannt. 87 Kerngebiet des Hirnstammes.

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5.5 Kindheitstrauma und Hirnentwicklung

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Der Begriff »Dissoziation« bezeichnet die Abwendung der Aufmerksamkeit von externalen zu internalen Stimuli.88 Schwächere Formen von Dissoziation sind Tagträume und Phantasie. Zu den stärkeren Formen gehören Depersonalisierungen, Derealisierungen bis hin zur Fugue, sogenannten Mini-Psychosen und Koma. Neurobiologisch unterscheidet sich die dissoziative Reaktion deutlich von der Hyperarousal-Reaktion. Dissoziationen werden ebenfalls weitgehend von Hirnstammregionen aus gesteuert, der vagale Tonus nimmt jedoch ab und Herzschlagund Blutdruckrate sinken dramatisch trotz eines Anstiegs von Adrenalin. Im Gegensatz zur Hyperarousal-Reaktion werden körpereigene Opioide ausgeschüttet, die eine Veränderung in der Schmerzwahrnehmung, aber auch in der Wahrnehmung von Zeit, Ort und Realität hervorrufen. Die Schwere dissoziativer Symptome steht in proportionalem Zusammenhang mit der Schwere von PTSD-Symptomen (Putnam, 1997).89 Eine häufige Wiederholung eines dieser beiden Muster während kritischer Phasen führt schließlich dazu, dass dieser Reaktionsweg besonders schnell aktivierbar ist. Nach Perry et al. (1995) können Reaktivierungen dabei lediglich durch das Denken an das Trauma oder an Gefahr oder durch entsprechende Träume hervorgerufen werden. Die Reaktion verselbstständigt sich und wird schwer steuerbar. Stressinduzierte neurobiologische Veränderungen können so die behavioralen und physiologischen Reaktionen bei weiteren Erfahrungen verändern. Perrys Modell erklärt sehr anschaulich, auf welche Weise wiederholte frühkindliche Traumatisierungen bleibende Veränderungen auf der Ebene des prozeduralen Gedächtnisses bewirken können. Das Kind lernt gewissermaßen bestimmte Reaktionen, die zunächst adaptiv auf das traumatische Erlebnis bezogen sind, dann aber zu hoch automatisierten Reaktionsweisen werden, die auf die Dauer pathogen wirken und nur schwer reversibel sind. 88

Siehe zum Dissoziationsbegriff auch Kapitel 3. Nicht geklärt ist bislang, wieso Hyperarousal vermehrt bei Jungen auftritt, während Mädchen offenbar häufiger mit Dissoziation reagieren. 89

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Neuroendokrinologische, funktionelle und morphologische Veränderungen bei Trauma Es gibt einige Studien, die die Annahmen von Perry et al. zumindest teilweise stützen. Nach bisherigem Wissensstand finden sich traumabedingte Veränderungen vor allem in Hirnregionen und bei Systemen, die mit Stressreaktionen zusammenhängen und zugleich besonders vulnerabel gegenüber äußerer Erfahrung sind (Putnam, 1997). Zu diesen Systemen gehören die Dysregulation der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse, erhöhte Catecholamnine, verändertes Wachstum und körperliche Entwicklung, Dysfunktionen des Immunsystems und reduziertes Hippocampusvolumen (Putnam, 1997). Neben dem Hippocampus sind vor allem die Amygdala, der präfrontale Cortex und das Corpus Callosum Hirnregionen, die sowohl besonders vulnerabel gegenüber Stress als auch gegenüber früher Erfahrung sind (Teicher u. a., 1997). Veränderungen zeigen sich dabei, wie von Perry postuliert, an der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse (HHA), die eine zentrale Rolle bei der körperlichen Stressreaktion (fightflight) spielt (Yehuda, 1997). Im Gegensatz zu einer Erhöhung der adrenocorticalen Aktivität und einer daraus resultierenden Funktionsstörung bei Stress und anderen psychiatrischen Störungen zeigen erwachsene Traumatisierte mit PTSD eine Verringerung der basalen Cortisol-Werte. Diese niedrigeren CortisolWerte bei PTSD werden in der neurobiologischen Traumaforschung jedoch nicht als Anzeichen einer globalen Hypoaktivität der HHA-Achse aufgefasst, also als verminderte Stressreaktion, sondern als Folge einer erhöhten Sensitivierung verstanden. Nach Yehuda (1997) finden sich nämlich gleichzeitig erhöhte und sensitivere Glukokortikoid-Rezeptoren, die letztlich zu einer Verstärkung der durch Cortisol ausgelösten negative Rückkopplung führen. Diese neuroendokrinologischen Veränderungen führen so dazu, dass besonders gegenüber Umweltveränderungen sehr schnell und sensitiv reagiert wird (für eine ausführliche Diskussion dieses Modells siehe Yehuda, 1997). Während in Untersuchungen bei Erwachsenen verringerte Cortisol-Werte gefunden werden, zeigen sich bei Kindern und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

5.6 Trauma ohne Symptom und die Frage resilienter Entwicklung

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Jugendlichen zunächst erhöhte Cortisol-Werte. Eine Abnahme von Cortisol tritt offenbar erst im Laufe der Entwicklung auf und könnte anzeigen, zu welchem Grad sich physiologische Stressfolgen bereits manifestiert haben. Entsprechend dieser Befunde wurden in der prospektiven Längsschnittstudie von Putnam et al. (1997) bei missbrauchten Mädchen mit einem Durchschnittsalter von elf Jahren Funktionsbeeinträchtigungen der HHA-Achse gefunden: Die missbrauchten Mädchen zeigten vormittags höhere Werte im Plasma-Cortisol und nachmittags niedrigere. Auch stieg der Cortisol Wert in Reaktion auf einen milden Stressor (Anbringung des intravenösen Katheters) stärker an. Ebenso wurden Anzeichen einer Hypersekretion von CRH festgestellt. Das Symptombild ging in Richtung Dissoziation: Die Mädchen hatten signifikant höhere Skalenwerte für Dissoziation, gemessen mit der Child Dissociative Checklist über drei Jahre hinweg. Die hohen Werte für Dissoziation korrelierten darüber hinaus mit klinisch bedeutsamen Werten auf der Child Behavior Checklist mit schlechteren Schulleistungen und geringerer sozialer Performanz. Sieben Jahre später hatten die missbrauchten Mädchen niedrigere Cortisol-Werte als die Kontrollgruppe. Zumindest die höhere Wahrscheinlichkeit für dissoziative Prozesse, wie sie Perry annimmt, ließe sich so anhand einer neuroendokrinologischen Veränderung nachvollziehen. Hierzu ist jedoch kritisch zu bemerken, dass ähnliche Studien an der Universität Trier diese Ergebnisse nicht replizieren konnten.90

5.6 Trauma ohne Symptom und die Frage resilienter Entwicklung Zu erkennen, ob ein Kind traumatisiert ist oder nicht, ist verhältnismäßig einfach, wenn 1. das potenziell traumatische Erlebnis bekannt ist, 2. das Kind mit offensichtlichen und unmittelbaren Symptomen reagiert und 90

Dr. Wagner, Universität Trier, persönliche Mitteilung. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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3. seine Bezugspersonen bzw. andere relevante Personen in der näheren Umgebung entsprechend sensibel auf das Kind achten. Zu wissen, was passiert ist, ist jedoch in vielen Fällen von Kindern noch schwerer zu erfahren als von Erwachsenen. Die meisten der von Terr als typisch beschriebenen Merkmale von Kindheitstraumata lassen sich alles andere als leicht erkennen. Dazu gehören nicht nur Vermeidungs- und Rückzugsverhalten, sondern auch viele weitere Verhaltensweisen, die nur als Traumareaktion verstanden werden können, wenn sich eine inhaltliche Verbindung herstellen lässt – etwa bei posttraumatischem Spiel oder traumaspezifischen Ängsten. Hinzu kommt, dass viele Kinder nicht mit unmittelbaren und abgrenzbaren Symptomen auf Traumatisierungen reagieren. Gerade die beschriebenen Veränderungen innerer Repräsentanzen können über lange Zeit sehr subtil sein und unbemerkt bleiben, bis in einer späteren Entwicklungsphase eine Lebenssituation entsteht, die an das ursprüngliche Trauma erinnert und dann unter Umständen zu einer akuten und auf Grund der aktuellen Situation nur schwer nachvollziehbaren Krise führt. Die Folgen einer frühen Traumatisierung zeigen sich auf diese Weise unter Umständen erst nach vielen Jahren. Gleichzeitig werden immer wieder Fälle beschrieben, in denen trotz widriger Umstände und traumatogener Erlebnisse eine positive Entwicklung gelang. In der Entwicklungspsychopathologie wird in diesem Zusammenhang von »Resilienz« gesprochen. Geprägt hat diesen Begriff Emmy Werner (z. B. Werner u. Smith, 1982), die in einer über dreißig Jahre andauernden Langzeitstudie auf der hawaiianischen Insel Kauai die Entwicklungswege von über 600 Kindern von der Schwangerschaft an beobachtete. Dabei stellte sie fest, dass ein Teil der Kinder trotz vieler potenziellen Risikofaktoren, wie z. B. Armut oder die psychotische Erkrankung eines Elternteils etc., nicht die erwarteten Entwicklungsschwierigkeiten zeigte. Mit Resilienz (auf englisch resilience) als Gegensatz zur Vulnerabilität bezeichnet sie eine besondere Toleranz und Flexibilität Risikofaktoren ge-

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5.6 Trauma ohne Symptom und die Frage resilienter Entwicklung

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genüber. Resilience bedeutet ins Deutsche übersetzt etwa »Elastizität« oder »Spannkraft«.91 Zur Erklärung resilienter Entwicklungsverläufe haben Werner und Mitarbeiter (Werner, 1990; Werner u. Smith, 1992) ein Balance-Modell von Risiko- und Schutzfaktoren entworfen und nehmen damit nicht nur – wie üblich – die Umstände, die eine Entwicklung besonders gefährden, sondern auch solche, die kompensatorisch oder protektiv wirken können, auf. Mittlerweile gibt es mehrere solcher Längsschnittuntersuchungen, in denen wurden folgende Schutzfaktoren ermittelt: 1.

eine dauerhafte, gute Beziehung zu mindestens einer primären Bezugsperson, 2. Aufwachsen in einer Großfamilie mit kompensatorischen Beziehungen zu den Großeltern, (oder anderen Erwachsenen) und Entlastungen der Mutter, 3. ein gutes Ersatzmilieu nach frühem Mutterverlust, 4. mindestens durchschnittliche Intelligenz, 5. ein robustes, aktives und kontaktfreudiges Temperament, 6. soziale Förderung (z. B. Jugendgruppen, Schule, Kirche), 7. verlässliche, unterstützende Bezugspersonen im Erwachsenenalter, vor allem Ehe- oder sonstige konstante Beziehungspartner, 8. lebenszeitlich späteres Eingehen »schwer lösbarer Bindungen«, 9. eine geringe Risikogesamtbelastung, 10. Geschlecht, 11. internale Kontrollüberzeugung, 12. hoher sozioökonomischer Status (Hoffmann u. Egle, 1996; Egle et al. 1997, zitiert nach Dornes, 1997b, S. 121). Nach dem Balance-Modell gleichen sich Risiko- und Schutzfaktoren aus. Damit wird allerdings nichts über die genaue Wirk91

Die englische Erläuterung in Webster’s New Collegiate Dictionary macht deutlicher, was gemeint ist: »1. The capability of a strained body to recover its size and shape after deformation caused especially by compressive stress; 2. an ability to recover from or adjust easily to misfortune or change«. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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weise gesagt, ebenso fehlt eine Spezifizierung der einzelnen Faktoren. So haben soziale Netzwerke als solche beispielsweise keine protektive Funktion, wenn das Kind sie aufgrund von Rückzugsverhalten nicht nutzen kann oder wenn es sich um ungünstige soziale Kontakte handelt, wenn sich bereits durch andere Risikofaktoren gefährdete Jugendliche etwa einer dissozialen Clique anschließen (Zimmermann, 2002). Rutter hat das Zusammenspiel von Risiko- und Schutzfaktoren genauer untersucht, und beschreibt folgende Wirkmechanismen: 1. die Reduzierung der Auswirkung von Risikofaktoren, z. B. durch individuell erlernte Kompetenzen, Kompetenzüberzeugungen oder Copingstrategien 2. die Unterbrechung negativer Kettenreaktionen, die von einem Risikofaktor zum nächsten führen 3. Wendepunkte, die neue Lebenswege eröffnen (Rutter, 1997, zitiert nach Zimmermann 2002). Darüber hinaus scheint es besonders wichtige Schutzfaktoren zu geben. In seinem Überblick über mehrere umfassende retrospektive und prospektive Studien hebt Dornes (1997b) als einheitliches Ergebnis besonders hervor, dass das »Vorhandensein von mindestens einer zugewandten Bezugsperson in der (frühen) Kindheit die Wahrscheinlichkeit ganz erheblich vermindert, später an seelisch (mit)bedingten Störungen zu erkranken« (S. 119). Das Fehlen einer solchen Person erhöht dieses Risiko, nur ca. 10 – 30 % von Erwachsenen gelingt es, eine problematische Kindheit relativ unbeschadet zu bewältigen. Dies lässt sich auch damit erklären, dass solche familiären Schutzfaktoren unmittelbar mit individuellen Schutzfaktoren zusammenhängen. Verfügt ein Kind über eine günstige Beziehungserfahrung, so wird es auch auf individueller Ebene eher günstige Kompetenzen aufbauen können, beispielsweise ein sicheres Bindungsmuster entwickeln (siehe Kapitel 6), und so zusätzlich zur sozialen Unterstützung auch individuell über günstige Bewältigungskapazitäten verfügen. Während es nicht überrascht, dass das Vorhandensein einer unterstützenden Bezugsperson besonders protektiv wirkt, ist es © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

5.6 Trauma ohne Symptom und die Frage resilienter Entwicklung

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interessant zu sehen, dass auch andere Faktoren durchaus gewichtig werden können. So stellten Rutter und Kollegen in einer Längsschnittuntersuchung über Mädchen, die in einem Heim aufgewachsen waren, fest, dass für ihren weiteren Lebensweg und insbesondere für die Frage, ob sie einen unterstützenden oder nicht unterstützenden Partner wählten, die Qualität der besuchten Schule entscheidend war. Die Mädchen waren zufällig unterschiedlichen Schulen zugewiesen worden. Galt eine Schule als besonders fördernd und hatte einen guten Ruf, dann fanden die Mädchen überzufällig häufig auch einen unterstützenden Lebenspartner und ihre weitere Entwicklung nahm insgesamt einen positiven Verlauf (Rutter, 1991, zitiert nach Dornes, 1999). Die bereits zitierten Studien von Erna Furman und Hans Keilson zeigen ebenfalls, dass nicht die Schwere eines erlebten Risikos ausschlaggebend für den weiteren Entwicklungsweg ist, sondern die anschließende psychosoziale Situation von kritischer Bedeutung ist. Diese Ergebnisse zeigen, dass kein linearer Zusammenhang zwischen erlebten Entwicklungsrisiken oder Traumatisierungen und dem weiteren Verlauf der Entwicklung besteht. Kontrovers diskutiert wird die Frage, inwiefern es sich bei den Ergebnissen der Studien zur Resilienz um tatsächlich resiliente Entwicklungsverläufe handelt oder der Anschein von Resilienz aufgrund der angelegten diagnostischen Kriterien entsteht (Dornes, 1997b). Die Positionen reichen von der Auffassung, dass aufgrund einer zu starken Fokussierung auf die Kontinuität von psychopathologischer Entwicklung von Seiten der klinisch-psychologischen Forschung resiliente Entwicklungsverläufe tendenziell übersehen werden (siehe z. B. Roeper, von Hagen u. Noam, 2001), bis zu der entgegengesetzten Aussage des Neurobiologen Perry (1995, S. 124), der Resilienz als sinnvolles Konstrukt anzweifelt: »Children are not resilient, children are malleable«. Zur Kontroverse zwischen tatsächlich resilienter Entwicklung und dem Anschein von Resilienz aufgrund schlechter Diagnostik bemerkt Dornes (1997b), dass sich beide Positionen begründen lassen: Es gibt eine Anzahl resilienter Kinder, für die aufgrund besonders günstiger Umstände Reversibilität gelingt, es gibt © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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zweitens die große Mehrzahl der Kinder, für die dies nicht gilt, und drittens gibt es die behaltenen Narben, die auch die resiliente Gruppe kennzeichnen (Dornes, 1997b).

5.7 Trauma und Familie: intergenerationale und transgenerationale Traumatisierungen Die Ergebnisse aus den Längsschnittuntersuchungen zeigen, welche entscheidende Rolle die familiäre Situation für die Bewältigung von Trauma im Kindesalter spielt. Viele traumatische Situationen erleben Kinder allerdings erst vermittelt durch die Familie. Gerade wenn, wie bei Krieg und Flucht, aber auch bei Naturkatastrophen, sowohl Kinder als auch Eltern betroffen sind, ist die Reaktion der Eltern für die Kinder entscheidend. Bei solchen intergenerationalen Traumatisierungen zeigen sich teilweise ähnliche Familiendynamiken wie bei den bereits in Kapitel 3 beschriebenen transgenerationalen Traumatisierungen. Ein Trauma der Eltern scheint sich auf zwei Arten auf die Kinder auszuwirken. Zum einen sind die Eltern häufig aufgrund der eigenen Traumatisierung emotional weniger ansprechbar, können ihre Kinder nicht so gut unterstützen und sind nicht immer in der Lage, ihre Elternfunktionen auszufüllen. GrubrichSimitis (1979) bezieht sich wie Keilson (1979) auf Khans Begriff des kumulativen Traumas und beschreibt die kleinen Unterlassungen, die schrittweise zu einer chronischen Überforderung des Kindes führen. Als besonders problematisch sieht sie dabei Entwicklungsphasen des Kindes, in denen es um Abgrenzung und Rivalität geht. Die traumatisierten Eltern fanden häufig keinen angemessenen Weg, mit den entwicklungsgemäßen Aggressionen und Trennungsimpulsen ihrer Kinder umzugehen. Die andere Folge von Eltern-Trauma für die Kinder scheint, wie bei den transgenerationalen Traumatisierungen, zu sein, dass besondere »Aufträge« oder »Erwartungen« an die Kinder weitergegeben werden. Thematisch kreisen sie darum, Geschehenes ungeschehen zu machen. Dies bedeutet oft, dass die Kinder in die Rolle des Tröstenden geraten, dass zumindest unbewusst von ihnen verlangt wird, die Eltern nie zu verlassen etc. Solche Dy© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

5.8 Zusammenfassung und Fazit

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namiken stehen nicht nur notwendigen Entwicklungsschritten im Wege, sondern können auch zu einer Parentifizierung der selbst durch ein Trauma belasteten Kinder führen. Während in der second generation Forschung immer – zumindest implizit – beide Generationen einbezogen werden, ist dies bei vielen Untersuchungen über Trauma bei Kindern nicht der Fall. Dabei zeigen epidemiologisch und PTSD-orientierte Studien deutlich, dass auch auf der Ebene psychopathologischer Symptome ein hochsignifikanter Zusammenhang zwischen traumabezogenen Symptomen der Eltern und traumabezogenen Symptomen der Kinder besteht, der sich in der Mehrzahl der Studien unabhängig von der Art des traumatischen Ereignisses (Naturkatastrophe, politische oder häusliche Gewalt) und den verwendeten psychodiagnostischen Methoden zeigt.92

5.8 Zusammenfassung und Fazit Im Gegensatz zum Erwachsenenalter liegen für das Kindesalter nur wenige theoretische Modelle vor. Am ausführlichsten behandelt werden Traumatisierungen, die in der frühen Kindheit stattfinden und erste Beziehungserfahrungen betreffen bzw. von den Bezugspersonen selbst ausgehen. Hier zeigen sich die deutlichsten Unterschiede zu Traumatisierungen im Erwachsenenalter und frühkindliche bindungsbezogene Traumatisierungen ziehen die schwerwiegendsten Folgen nach sich. Gleichzeitig ist nicht unumstritten, ab welcher Entwicklungsstufe der Traumabegriff angewendet werden sollte und wo er von anderen extrem nachteiligen Erfahrungen, wie Vernachlässigung, Deprivation etc., abzugrenzen ist. Letztere stellen so fundamentalen Einschnitten in die psychische, physische und kognitive Entwicklung dar, dass bestimmte traumatypische Prozesse gar nicht stattfinden können. Während extreme frühkindliche Traumatisierungen häufig zu zwar unspezifischen, jedoch deutlich wahrnehmbaren Sympto92 Für einen Überblick siehe Scheeringa und Zeanah, 2001; speziell zu Flüchtlings- und Kriegskindern siehe Smith et al., 2001.

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men und Problemen führen, ist ein weiteres Kennzeichen für Trauma in der Kindheit ebenfalls, dass Kinder häufig gerade nicht unmittelbar und offensichtlich auf traumatische Erlebnisse reagieren. Das Auftreten von langfristigen Folgen spricht allerdings dafür, dass es sich hierbei weniger um tatsächlich resiliente Entwicklungsverläufe handelt, sondern dass sich Traumafolgen unter Umständen über Jahre hinweg nur sehr subtil zeigen. Für die Diagnosestellung ist es damit äußerst wichtig, auch Veränderungen auf der Ebene des impliziten Gedächtnisses zu betrachten, um so Hinweise auf eine Traumatisierung, wie beispielsweise traumakompensatorische Schemata, aufdecken zu können. Darüber hinaus muss neben entwicklungsspezifischen Aspekten die gesamte familiäre und soziale Situation des Kindes miteinbezogen werden. Dies gilt umso mehr, wenn das Trauma die familiäre Situation verändert hat oder die Eltern selbst traumatisiert sind.

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6 Bindungsforschung als ein Zugang zum subjektiven Umgang mit Traumatisierungen und zu intergenerationalen Prozessen

Sowohl in der gegenwärtigen Traumaforschung als auch in der Entwicklungspsychopathologie und der klinischen Psychologie gewinnen Erkenntnisse der Bindungsforschung in jüngerer Zeit an Gewicht. Mit dem Konzept der Bindungssicherheit bietet die Bindungsforschung einen theoretisch-konzeptionellen Rahmen, mit dem sich eine für verschiedene Entwicklungsbereiche und für die Bewältigung traumatischer Erlebnisse relevante Dimension fassen lässt. Darüber hinaus stellt sie geeignete, klinisch orientierte Forschungsinstrumente für die methodische Erhebung von Bindung und damit für die empirische Untersuchung der langfristigen Bedeutung früher Beziehungserfahrungen zur Verfügung. Mit der Differenzierung verschiedener Bindungstypen, von denen ein kindlicher Bindungstyp (D) und die U-Klassifikation bei Erwachsenen unmittelbar mit erlebten Traumatisierungen im Zusammenhang stehen, ermöglicht die Bindungsforschung ein besseres Verständnis von resilienter versus vulnerbaler Entwicklung und bietet einen Ansatz, die Mechanismen der generationsübergreifenden Traumatisierung differenziert zu beschreiben. Darüber hinaus scheint sichere Bindung als ein wichtiger individueller Schutzfaktor bei der Bewältigung kritischer Lebensbelastung zu fungieren (Rutter, 1990; Werner, 1990; Bretherton, 2001b). Es bietet sich damit aus mehreren Gründen an, für eine extraklinische Untersuchung mit Flüchtlingskindern auf die Bindungsforschung zurückzugreifen, auch wenn methodisch zu diskutieren ist, inwiefern ein solcher konzeptgeleiteter und ob© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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6 Bindungsforschung als ein Zugang

jektivistisch-quantitativ orientierter Forschungsansatz der Anlage einer qualitativ-explorativen Studie gerecht wird. Bevor ich auf diese methodischen Überlegungen im Einzelnen eingehe, möchte ich zunächst die Grundlagen der Bindungstheorie und Bindungsforschung darstellen. Da die Bindungstheorie in den letzten 15 Jahren sehr bekannt geworden ist und zahlreiche Veröffentlichungen zu diesem Thema existieren, werde ich mich in der Theoriedarstellung sehr kurz fassen und mich im Anschluss daran auf Aspekte, die in Bezug auf Trauma und Verlusterfahrungen wichtig sind, sowie auf für meine Arbeit relevante kritische Fragen beschränken.93

6.1 Bindungstheorie und Bindungsforschung Während Freud seine Überlegungen zu frühkindlichen Erfahrungen vor allem retrospektiv aus den Berichten seiner erwachsenen Patienten rekonstruiert hat, ist John Bowlby (1907 – 1990), ein englischer Arzt und Psychoanalytiker, gewissermaßen den umgekehrten Weg gegangen und hat seine Theorie aus Verhaltensbeobachtungen bei Kindern abgeleitet. Bowlby wollte auf diese für die damalige Psychoanalyse, die stark von Anna Freud und Melanie Klein geprägt war, noch ungewöhnliche Weise vor allem die Objektbeziehungstheorie empirisch untermauern. Während in den letzten zehn Jahren gerade die moderne Psychoanalyse großes Interesse an der Bindungsforschung zeigt, wurden Bowlbys Forschungen zu seiner Zeit äußerst kritisch aufgenommen, er geriet in den Verdacht, die Innenwelt abschaffen zu wollen und behavioristisch vorzugehen (Bretherton, 2001a). Zu der Skepsis, mit der seine theoretischen Überlegungen innerhalb der psychoanalytischen Gemeinschaft aufge93

Eine sehr gute, ausführliche Darstellung zur Biographie John Bowlbys und der Entwicklung der Bindungstheorie findet sich bei Jeremy Holmes (2002). Einen umfassenden Überblick zum internationalen Forschungsstand bietet das von Jude Cassidy und Philip Shaver herausgegebene Handbook of Attachment (1999), ein Standardwerk im deutschsprachigen Raum ist Die Bindungstheorie von Spangler und Zimmermann (1995). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

6.1 Bindungstheorie und Bindungsforschung

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nommen wurden, trug sicherlich auch bei, dass Bowlby sich weitgehend von der Triebtheorie abwandte. Aufgrund dieser Spannung entwickelte sich die Bindungsforschung mehr oder weniger unabhängig von der Psychoanalyse und wurde wichtiger Bestandteil der Entwicklungspsychologie. Mittlerweile ergeben sich wieder interessante Verknüpfungspunkte zwischen moderner Psychoanalyse und Bindungsforschung (siehe unten). Der Weg, auf dem Bowlby seine Theorie entwickelte, ist für meine Arbeit insofern interessant, als er sich zunächst mit der Beobachtung von Kleinkindern in Trennungssituationen beschäftigte. Verlust und Trennung waren zentrale Themen seiner Forschung. Im letzten Band seiner Attachment and Loss-Trilogie (Bowlby, 1969, 1973 u.1980) untersucht er ausführlich Trauerreaktionen bei Kindern und Erwachsenen. Von seinen frühen Arbeiten ist der zusammen mit James Robertson 1952 gedrehter Dokumentarfilm »A Two-Year-Old Goes to Hospital« sehr bekannt geworden. Der Film zeigt ein zweijähriges Mädchen, das ohne seine Mutter in ein Krankenhaus aufgenommen wird.94 Bowlby und seine Kollegen entdeckten, dass Kinder auf Trennungssituationen in verschiedenen Phasen – Protest, Rückzug und Loslösung (protest, despair and detachment) – reagieren. Diese Reaktionsweisen fassten Bowlby und seine Kollegen als Versuche, Nähe zu einer vertrauten, Sicherheit gebenden Person herzustellen, auf. In der Bindungstheorie werden solche Nähe suchenden Reaktionen auch »Bindungsverhaltensweisen« genannt. Hierzu gehören Schreien, Lächeln, Anklammern und Nachfolgen. Bindungsverhalten stellt nach Bowlby ein eigenes Motivationssystem dar. Im Gegensatz zur klassischen psychoanalytischen Triebtheorie, in der die Verbindung zwischen Mutter und Kind aus der kindlichen Sexualität abgeleitet wird und die erste Beziehung als auf Triebreduktion beruhend konzipiert wird, geht Bowlby von einer von Libido und Nahrungs94

Bowlby agierte auch politisch sehr geschickt und nahm mit seinen Studien großen Einfluss. Den Dokumentarfilm nutzte er beispielsweise dazu, die Mitaufnahme von Müttern in Kinderkrankenhäusern (roomingin) zunächst in London und später in vielen anderen Ländern durchzusetzen (Brisch, 1999). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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6 Bindungsforschung als ein Zugang

aufnahme unabhängigen Mutter-Kind-Beziehung aus: »The young child’s hunger for his mother’s love and presence is as great as his hunger for food« (Bowlby, 1969, Seite xiii). Seine Auffassung unterscheidet sich damit auch von Melanie Kleins objektbeziehungstheoretischem Ansatz, in dem sie die Fütterung des Kindes in den Mittelpunkt stellt. Bowlby untermauerte seine These mit Hilfe von Erkenntnissen aus der Ethologie: Auch bei Tieren sind Bindung und Nahrungsaufnahme voneinander losgelöst.95 Eine weitere wichtige Erkenntnis aus den Beobachtungen von Bowlby und seinen Kollegen war, dass es sich bei dem von den Kindern gezeigten aktiven Protest gegen die Trennungssituation um die »normale« Reaktion handelt, die ein Zeichen für seelische Gesundheit darstellt. Kinder zeigen Bindungsverhalten, weil sie die Erfahrung gemacht haben, auf diese Weise Sicherheit gebende Nähe zu ihren Bindungspersonen herstellen zu können. Bowlby untersuchte systematisch den Zusammenhang von frühen Trennungserfahrungen und späteren psychischen Störungen, wie beispielsweise Delinquenz. Auch wenn er, wie man heute weiß, die Bedeutung vor allem von kurzen Trennungserfahrungen in der frühen Kindheit überschätzte, so war damals allein die Feststellung, dass solche Erfahrungen von zentraler Bedeutung für die Entwicklung psychischer Störungen sind, noch relativ neu.96 In gewisser Weise 95 Dies zeigt das berühmte, von Konrad Lorenz (1952) entdeckte Nachfolgeverhalten von Gänsen ebenso wie die ebenfalls sehr bekannte Untersuchung von Harlow (1958), in der junge Affen eine künstliche, flauschige »Mutterpuppe« gegenüber einer ebenfalls künstlichen »Mutterpuppe« aus Draht, die allerdings Milch geben kann, deutlich bevorzugten. Bowlby beschäftigte sich intensiv mit Ethologie und Evolutionsbiologie, die ein wichtiger theoretischer Bestandteil der Bindungstheorie sind. 96 Insofern nicht ganz neu, als Bowlby in seinem wichtigen frühen Buch »Child Care and Growth of Love« (1952) unter anderem auf die bereits zitierte Arbeit von Anna Freud und Dorothy Burlingham zurückgreift. Daneben bezieht er sich auf weitere Untersuchungen mit Heimkindern und seine eigenen Beobachtungen von delinquenten Jugendlichen und zieht aus diesen Studien den Schluss, dass »Mutterentbehrung« in den ersten Le-

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nahm er mit seinen Studien den entwicklungspsychopathologischen Ansatz vorweg, indem er gezielt Risiko- und Schutzfaktoren für die psychische Entwicklung studierte. In der theoretischen Ausarbeitung seiner Überlegungen führt Bowlby schließlich evolutionsbiologisches, systemtheoretisches, entwicklungspsychologisches und psychoanalytisches Denken zusammen (Grossmann, 1987). Hauptaussage der Bindungstheorie ist, dass der Säugling mit einer angeborenen Bereitschaft, soziale Beziehungen aufzubauen, auf die Welt kommt und ein entsprechendes Verhaltensrepertoire entwickelt. Dieses umfasst die bereits erwähnten Bindungsverhaltensweisen, also Schreien, Lächeln, Anklammern oder Nachfolgen, und ermöglicht dem Säugling oder Kleinkind, Nähe zu seiner Bezugsperson herzustellen. Durch diese Nähe entsteht ein Gefühl von Sicherheit, dementsprechend zeigt sich Bindungsverhalten vor allem in belastenden Situationen, wie etwa bei Müdigkeit, Krankheit, Unsicherheit oder dem Gefühl, allein zu sein. Die Bindungstheorie geht davon aus, dass neben dem Bindungssystem noch ein zweites Motivationssystem existiert, das Explorationssystem. Für ein solches Erkundungsverhalten, also etwa Spielen, aber auch Entspannen und Arbeiten, ist das Gefühl von Sicherheit ebenfalls Voraussetzung. Bindung und Exploration sind also miteinander verschränkt. Auch dies lässt sich sehr anschaulich bei kleinen Kindern beobachten. Entfernen sie sich beispielsweise auf dem Spielplatz über ein gewisses Maß von ihrer Bezugsperson, dann schauen sie zurück und es ist wichtig, dass die Bezugsperson für diese visuelle Rückversicherung zur Verfügung steht. In der Entwicklungspsychologie wird dieses Verhalten als social referencing beschrieben. Eine weitere zentrale Vorstellung der Bindungstheorie ist, dass sich Bindung auf eine Person oder eine kleine Gruppe von Perbensjahren eine Hauptursache für spätere Delinquenz sei. Wie Holmes allerdings bemerkt, beruht diese These auf nur wenigen Fallzahlen und überschätzt vermutlich deswegen die Bedeutung der »Mutterentbehrung«. Neuere entwicklungspsychopathologische Untersuchungen, unter anderem von Michael Rutter, korrigieren diesen Rückschluss, bestätigen aber Bowlbys generellen Ansatz. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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sonen bezieht. Bowlby beschrieb dies zunächst analog zur Prägung, Bindung entwickelt sich jedoch in einem viel langsameren, interaktiven Prozess (Holmes, 2002). Dabei ist die Qualität der Interaktion zwischen Säugling und Bezugsperson97 von entscheidender Bedeutung. Die Art und Weise, wie diese Interaktion verläuft, entscheidet, ob das Kind eine sogenannte »sichere« oder »unsichere« Bindung entwickelt. Erlebt ein Kind seine Bezugsperson als ausreichend »feinfühlig«, dann wird es eine sichere Bindung entwickeln. »Feinfühlig« bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Signale des Kindes wahrgenommen werden, richtig interpretiert werden und schnell und angemessen darauf reagiert wird. Das Kind macht im günstigsten Fall also die Erfahrung, dass die Bezugsperson für es da ist und es emotional unterstützen kann. Aus diesen ersten Interaktionserfahrungen baut sich ein »internes Arbeitsmodell« (inner working model) von Bindung auf, das im Laufe der Entwicklung mehr und mehr das Verhalten und die Erwartungen in sozialen Beziehungen reguliert. Mit diesen als mentale Modelle zu verstehenden inneren Repräsentanzen vom Selbst und der Bezugsperson beschreibt Bowlby die interne Welt. Auch hier ergeben sich Bezugspunkte zur modernen Psychoanalyse und Säuglingsforschung, insbesondere zu den Arbeiten von Stern, sowie zur Gedächtnistheorie nach Tulving, auf die ich bereits in Kapitel 5 eingegangen bin. Die Erfahrung einer emotional nicht verfügbaren oder nicht ausreichend zuverlässig verfügbaren Bindungsperson in den ersten Lebensjahren – dabei ist hier die Qualität und nicht die Quantität der Bindungskontakte entscheidend98 – kann dagegen 97

Mit Bezugs- oder Bindungsperson meine ich die Person(en), zu der bzw. zu denen das Kind ein Bindungsverhalten entwickelt. 98 Bowlbys Arbeiten insbesondere zur »Mutterentbehrung« sind nicht zu Unrecht aus feministischer Sicht kritisiert worden, da er die Bedeutung der Beziehung zur Mutter stark idealisiert. Holmes (2002) versucht zwar herauszustellen, dass Bowlby in gewisser Weise damit auch die hohe Bedeutung und Wertigkeit von Kindererziehung betonte, allerdings können Bowlbys Schriften in diesem Punkt ebenfalls dahingehend verstanden werden, dass Mütter in den ersten Lebensjahren ausschließlich ihre Kinder versorgen sollten. Die Bindungsforschung hat mittlerweile jedoch viele empirische Belege dafür gesammelt, dass bspw. die Berufstätigkeit von © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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zu der Entwicklung eines unsicheren Bindungsmusters führen. Auch ein unsicheres Bindungsmuster lässt sich als bestmögliche Anpassung an die Beziehungserfahrung verstehen: Erlebt ein Kind dauerhaft, dass seine Bezugsperson nicht auf seine emotionalen Bedürfnisse reagiert, so wird es sich zunehmend in belastenden Situationen zurückziehen, keine Unterstützung suchen und nach außen hin sehr selbstständig, vielleicht sogar selbstgenügsam wirken. Reagiert die Bindungsperson dagegen inkonsistent, so dass das Kind ständig unsicher über ihre Verfügbarkeit ist, entwickelt es unter Umständen ein übersteigertes Bindungsverhalten. Es lernt, dass, wenn es seine Emotionen übermäßig ins Spiel bringt, zumindest manchmal seine Bindungsbedürfnisse erfüllt werden. Während das sich zurückziehende Kind sein Bindungsverhalten minimiert, besteht diese Strategie darin, das Bindungsverhalten zu maximieren. Beide Kinder lernen damit allerdings nicht, ihre Gefühle angemessen zu regulieren und situationsadäquat auszudrücken (Gomille, 2001). Kinder entwickeln verschiedene Bindungsmuster zu verschiedenen Bezugspersonen, sie können also zum Beispiel unsicher zur Mutter, aber sicher zum Vater gebunden sein oder umgekehrt. Im Laufe der Zeit werden diese bezugspersonenabhängigen Bindungsmuster laut Bindungstheorie allerdings hierarchisch organisiert (Dornes, 1998), so dass sich ein vorherrschendes Bindungsmuster feststellen lässt.

Das Konzept der Feinfühligkeit Die Frage, welches Bindungsmuster von einem Kind ausgebildet wird, beruht damit wesentlich auf der sogenannten Feinfühligkeit der Bezugsperson. Da Feinfühligkeit empirisch nur im ersten Lebensjahr untersucht wird, beschränken sich die meisten StuMüttern keineswegs der Entwicklung einer sicheren Bindung gefährdet oder gar verhindert. Im Gegenteil ist die persönliche Zufriedenheit von Müttern (und Vätern) ein wichtiger Faktor für das Gelingen von Interaktionen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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dien darauf, als Bezugsperson die Mutter zu untersuchen, so dass häufig auch von »mütterlicher Feinfühligkeit« gesprochen wird. Nach Ainsworth wird Feinfühligkeit für die Kommunikation zwischen Mutter (bzw. Bindungsperson) und Kind im ersten Lebensjahr danach bestimmt, ob die Mutter für den Säugling aufmerksam ist, die Äußerungen des Säuglings richtig und nicht in Abhängigkeit von eigenen Bedürfnissen interpretiert, prompt und angemessen reagiert (Grossmann, 2004). Empirisch hat sich der Zusammenhang zwischen Feinfühligkeit und Bindungssicherheit des Kindes allerdings als nicht so eindeutig nachweisbar gezeigt, wie aufgrund der theoretischen Annahmen zu vermuten wäre. Er ist zwar signifikant, erklärt aber nur einen Teil der auftretenden Bindungsmuster.99 Einige Autoren (z. B. Grossmann, 2004) führen dies vor allem auf die Güte der Messung von Feinfühligkeit zurück. Feinfühligkeit lässt sich offensichtlich am sichersten bestimmen, wenn die Interaktion zwischen Bezugsperson und Kind in verschiedenen Situationen und auch in der häuslichen Umgebung beobachtet werden kann. Vergleichsweise konfliktarme Laborbedingungen führen dagegen zu wenig unterschiedlichen Verhaltensweisen zwischen den verschiedenen Eltern-Kind-Paaren, insbesondere lassen sich Belastungssituationen so nur schwer beobachten. Feinfühligkeit variiert jedoch über die Zeit; beispielsweise bei Erkrankung, Familienkonflikten oder anderen Veränderungen der Lebenssituation, und bildet nicht unbedingt eine Konstante (Dornes, 1998). Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass Geschwisterkinder oft unterschiedlich gebunden sind. Damit ist anzunehmen, dass die Entstehung eines Bindungsmusters nicht ausschließlich auf der (mütterlichen) Feinfühligkeit beruht und auch nicht nur auf ihrer eigenen Bindungssicherheit (siehe unten), sondern weitere Faktoren hinzukommen. Dornes (2002) verweist in diesem Zusammenhang beispielsweise auf die Rolle unbewusster elterlicher Phantasien über das Kind. Ein weiterer Schwachpunkt des Konzeptes ist, dass der Einfluss des kindlichen Temperaments nicht berücksichtigt wird. 99 Die wenigen Studien zu Vätern zeigen ebenfalls einen Zusammenhang, der allerdings noch schwächer ausgeprägt ist (Dornes, 1998).

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Dieser fällt nach bisherigen Untersuchungen zwar geringer aus als der Einfluss der (mütterlichen) Feinfühligkeit, wird allerdings auch erst in jüngerer Zeit zunehmend empirisch berücksichtigt (Zentner, 2004).

Innere Arbeitsmodelle von Bindung (Inner working models) Obwohl – wieder im Gegensatz zur klassischen Psychoanalyse – Bowlby vor allem die Rolle der Umwelt betont, nimmt er jedoch gemeinsam mit Freud an, dass die Innenwelt oder innerpsychische Repräsentanzen das Verhalten eines Menschen nicht nur reflektieren, sondern auch leiten. Seine Gedanken über solche innerpsychischen Repräsentanzen entwickelt er auf der Grundlage der Ethologie und der Kontrolltheorie, sie entsprechen kybernetisch regulierten Verhaltenssystemen. Freuds Modell der psychischen Triebenergie ersetzt er auf diese Weise mit einem sehr viel pragmatischeren Konzept (Bretherton, 2001a; Holmes, 2002). Den Begriff des »inneren Arbeitsmodells« übernimmt Bowlby von Kenneth Craik100, der sich mit künstlicher Intelligenz beschäftigt. Craik stellt sich vor, dass der Mensch über ein »Miniaturmodell« im Kopf verfügt, das nicht nur die externe Realität abbildet, sondern auch seine eigenen möglichen Handlungen. Er ist damit in der Lage, verschiedene Situationen durchzuspielen, Pläne zu fassen und Vorhersagen zu treffen etc. In diesem Sinne ähnelt die Funktion des inneren Arbeitsmodells wiederum Freuds Vorstellung davon, dass frühere Erfahrungen für Probehandlungen genutzt werden (Holmes, 2002; Bretherton, 2001b). Der Begriff der inneren Arbeitsmodelle ist nicht auf das Bindungsverhaltenssystem beschränkt, Bowlby hat ihn jedoch vor allem für innere Arbeitsmodelle von Bindung ausgearbeitet (Bretherton, 2001b). Er nimmt ebenso wie später Stern101 an, dass 100

Kenneth Craik (1943): The Nature of Explanation. Cambridge: Cambridge University Press. 101 Siehe Kapitel 5 sowie zu Ähnlichkeiten und Divergenzen zwischen Sterns Theorie und der Bindungstheorie auch Fonagy, 1999. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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innere Arbeitsmodelle vom Selbst und von der Bezugsperson anhand wiederholter Interaktionsmuster entwickelt werden und dass – hier folgt auch Bowlby Piaget – auch schon sehr kleine Kinder über sensumotorische Formen von Arbeitsmodellen verfügen und (primitive) Erwartungen über das Verhalten der Bezugspersonen bilden können. Im Sinne von Regelkreismechanismen geht Bowlby davon aus, dass Rückkopplungsprozesse dazu führen, dass mentale Repräsentationen gebildet werden und in bindungsrelevanten Situationen ein bereits bewährtes Verhalten ausgewählt werden kann, zum Beispiel Rückzug bei Kummer, wenn wiederholt die Erfahrung gemacht wurde, dass die Bezugsperson nicht reagiert. Mit zunehmenden Bindungserfahrungen stabilisieren sich die mentalen Repräsentationen von Bindung (Ahnert, 2004). Arbeitsmodelle bestehen vermutlich aus einer Vielzahl von Erinnerungen verschiedener Modalität oder »Scripts«. Interessant ist dabei allerdings, dass Arbeitsmodelle von sicherer Bindung kohärenter und stabiler zu sein scheinen als Arbeitsmodelle von unsicherer Bindung, auch wenn letztere Veränderungen weniger zugänglich sind. Inkohärente Arbeitsmodelle erklärt Bowlby damit, dass Informationen über Bindung sowohl im semantischen als auch im episodischen Gedächtnissystem repräsentiert sind. Bewusste, verbalisierte und oft von den Eltern vermittelte Modelle über Bindung finden demnach Eingang in das semantische Gedächtnis. Schmerzhafte Erinnerungen, beispielsweise an Zurückweisung, sind dagegen Teil des autobiographisch-episodischen Gedächtnissystems, werden jedoch verdrängt. Trotz dieser Verdrängung wirken sie weiterhin auf das Verhalten; das Arbeitsmodell ist gespalten. Beide Anteile beeinflussen Handlungen und Erwartungen, aber nur die semantische Version ist bewusst zugänglich. Bowlby beschreibt noch einen weiteren Abwehrprozess102 : Kinder die permanente Abweisung ihres Bindungsverhaltens erleben, geraten in einer tiefe Verzweiflung. Daraus resultiert eine Deaktivierung des Bindungssystems. Das Verhaltenssystem Bindung mit den entsprechenden Wünschen und dem Bedürfnis nach Zuwendung, Nähe und Sicherheit in belastenden Situationen wird vorüberge102

Zum Begriff der Abwehr bei Bowlby siehe Bretherton, 2001a. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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hend oder dauerhaft nicht aufgebaut. Auf diese Weise werden unter anderem auch mimische Signale ausgeschaltet, die normalerweise beim Gegenüber Bindungsverhalten auslösen (Gloger-Tippelt, 2001b). Die Qualität der inneren Arbeitsmodelle verändert sich mit der kognitiven Entwicklung. Ab dem vierten Lebensjahr werden die Bindungsbeziehungen sehr viel komplexer, Bowlby spricht nun von einer »zielkorrigierten Partnerschaft«, da das Kind sowohl eigene Ziele und Pläne als auch die des Partners berücksichtigen kann. Es besteht nicht nur die Möglichkeit zur symbolischen Repräsentanz, sondern auch zu deren Überarbeitung, Innere Arbeitsmodelle über Bindung beeinflussen auch die Repräsentation des Selbst. Ein Kind mit einem sicheren Bindungsmodell erfährt sich selbst als jemanden, der Aufmerksamkeit und Liebe erhält sowie wertgeschätzt wird, ein Kind mit einer unsicheren Bindung erlebt sich selbst dagegen als unwirksam, da auf seine Signale nicht reagiert wird, und wird sich im Zweifelsfall als nicht liebenswürdig betrachten.

6.2 Methoden zur Bestimmung von Bindungsmustern und zentrale empirische Ergebnisse der Bindungsforschung Die »Strange Situation« – Fremde Situation Die Typologisierung unterschiedlicher Bindungsmuster, die als sicher (B – balanced), unsicher-vermeidend (A – avoidant) und unsicher-ambivalent (C – crying) bezeichnet werden, beruht auf den Arbeiten von Mary Ainsworth, einer engen Mitarbeiterin von Bowlby. Ainsworth entwarf ein standardisiertes Verfahren zur Bestimmung der Bindungssicherheit, das die Bindungsforschung stark veränderte, da umfassende, auch statistische Untersuchungen über Bindungssicherheit und ihre Relationen zu anderen Faktoren, wie etwa der erwähnten mütterlichen Feinfühligkeit, aber auch in Verbindung mit der sozial-emotionalen und kognitiven Entwicklung der Kinder möglich wurden. Die von ihr entwickelte »Fremde Situation« (strange situation) © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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beruht auf der Überlegung, eine Situation zu schaffen, in der Bindungsverhalten aktiviert wird, beispielsweise in einer kurzen Trennungssituation, und somit beobachtet werden kann. Untersucht wird in der Fremden Situation das Bindungsverhalten von zwölf bis 18 Monate alten Kindern. In den meisten Fällen wird das Bindungsverhalten zwischen Mutter und Kind untersucht. Mutter und Kind werden dafür zunächst mit dem/-r Versuchsleiter/-in in ein Spielzimmer gebeten, nach einer kurzen Weile bekommt die Mutter jedoch ein Zeichen, den Raum für circa drei Minuten zu verlassen. Nach ihrer Rückkehr und der Wiedervereinigung mit dem Kind verlassen dann sowohl der/die Versuchsleiter/-in als auch die Mutter den Raum, anschließend kehrt nur die Mutter zurück. Die gesamte Situation wird auf Video aufgezeichnet. Für die Auswertung relevant sind sowohl die Reaktion des Kindes auf die Trennung, aber auch auf die Wiedervereinigung mit der Mutter. Das Verhalten des Kindes wird beobachtet und einem der drei beschriebenen Hauptreaktionsschemata zugeordnet. 1. Kinder mit sicherer Bindung (B) zeigen offen, dass die Trennung sie belastetet, und weinen beispielsweise. Auf die Rückkehr der Mutter reagieren sie mit Freude und lassen sich schnell trösten, um dann wieder weiterzuspielen. 2. Kinder mit einem A-Muster, also unsicher-vermeidender Bindung, zeigen keine oder wenige Anzeichen für Kummer in der Trennungssituation, bei der Wiedervereinigung ignorieren sie die Mutter. 3. Die größte Belastung aufgrund der Trennung zeigen C-Kinder mit einem unsicher-ambivalenten Bindungsmuster. Auch wenn die Mutter in den Raum zurückkehrt, lassen sie sich von dieser nur sehr schwer trösten, sie wechseln zwischen Zorn und Anklammern und sind ebenso wie Kinder mit einem AMuster im Spiel gehemmt. Die statistische Verteilung dieser drei Hauptbindungsmuster in nicht klinischen Stichproben scheint weitgehend der ursprünglich von Ainsworth gefundenen Verteilung zu entsprechen. Nach einer Meta-Analyse von van IJzendoorn, Goldberg, Kroonenburg und Frenkel (1992) ist die Mehrheit der Kinder sicher gebunden (ca.60 – 70 %), eine beachtliche Minderheit unsicher-vermei© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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dend (etwa 20 %) und eine kleinere Gruppe unsicher-ambivalent (ca. 10 – 12 %). Die Häufigkeiten verteilen sich jedoch kulturell verschieden. Beispielsweise scheinen A-Muster tendenziell häufiger in Westeuropa und den USA vorzukommen, während C-Muster in Israel und Japan häufiger anzutreffen sind (Holmes, 2002). Die Frage kultureller Unterschiede und damit auch der Kultursensitivität des Bindungskonzeptes wird noch komplexer, wenn man beachtet, dass sich innerhalb einer Kultur zwischen sozioökonomisch verschiedenen Bevölkerungsgruppen noch größere Unterschiede in der Verteilung zeigen als zwischen Kulturen im Sinnen von nationaler Zugehörigkeit. Der sozioökonomische Kontext hat damit offensichtlich einen erheblichen Einfluss auf die Entwicklung von Bindungsmustern, und zwar dergestalt, dass sich in sozial schwächeren Probandengruppen mehr Personen mit unsicheren Bindungsmustern finden (Holmes, 2002). Ein Teil der Kinder, etwa 10 – 25 %, in Nicht-Risikogruppen, und ein hoher Anteil von Kindern aus Risikopopulationen lassen sich nicht nach den beschriebenen Klassifikationsregeln zuordnen. Sie zeigen ein sogenanntes desorientiertes/desorganisiertes Bindungsmuster (D). Diese Kinder zeigen in Anwesenheit der Bezugspersonen, nämlich in der Wiedervereinigungsphase, Anzeichen von großer Belastung. Ihr Verhalten wirkt verstört und ängstlich, sie zeigen stereotypes Verhalten bis hin zu tranceähnlichen Zuständen. Die Kinder greifen weder auf eine Kontaktaufnahme noch auf ein Ignorieren oder das Äußern negativer Emotionen zurück, um ihr Bindungsverhalten zu regulieren (Zulauf-Logoz, 2004). Charakteristisch für das D-Muster ist ein »Zusammenbruch der Verhaltens- und Aufmerksamkeitsstrategien« (Main, 1995, S. 129.), den Main damit erklärt, dass das Kind eventuell weniger durch die äußeren Umstände als vielmehr durch die Bezugsperson selbst geängstigt wird. Nähe zu suchen wird so zum Paradox. Übereinstimmend mit dieser Überlegung zeigten misshandelte Kinder zu 48 – 80 % desorganisiertes Bindungsverhalten.103 Ebenfalls für 103 Hierzu existieren sehr unterschiedliche Zahlen, was eventuell an den sehr verschiedenen Stichproben liegt. Während einzelne Studien bis zu

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den wesentlichen Einfluss der Eltern-Kind-Beziehung spricht die Vorhersagbarkeit einer D-Einstufung aufgrund der mit dem Adult Attachment Interview (siehe unten) erhobenen Bindungsrepräsentation der Eltern. Kennzeichnend für die Bindungsrepräsentation dieser Eltern waren Hinweise auf unverarbeitete traumatische Ereignisse, meistens Verlust. Main bringt desorganisiertes Bindungsverhalten dementsprechend sowohl mit direkten Auswirkungen von Traumata – bei den misshandelten Kindern als auch in einigen Fällen bei schwer traumatisierten Eltern – mit dem second generation effect, also unverarbeiteten Traumata der Eltern in Verbindung (Main, 1995). Auf diesen Zusammenhang zwischen Trauma und Bindung gehe ich weiter unten ausführlich ein. Eine Einschätzung der Bindungsqualität als desorganisiert/ desorientiert kann damit ein Hinweis auf ein frühes Beziehungstrauma oder auf eine transgenerationale Traumatisierung sein. Dabei ist zu beachten, dass eine Bindungsdesorganisation auch auf einer neurologischen Störung beruhen kann.104 Inzwischen sind nicht nur die Bindungsmuster von Kleinkindern in verschiedenen Kulturen und Subkulturen untersucht, sondern auch die Frage, wie sich diese Muster auf andere Aspekte der sozio-emotionalen Entwicklung, vor allem auf die Bewältigung belastender Lebensereignisse, auswirken können. Neben der Frage, mit welchen anderen Persönlichkeitseigenschaften bestimmte Bindungsmuster korrelieren, wurde auch die Stabilität von Bindungsmustern über die Lebensspanne hinweg untersucht sowie die transgenerationale Weitergabe von Bindungsmustern.

80 % fanden, lag das Ergebnis einer Meta-Analyse verschiedener Studien bei 48 % (Zulauf-Logoz, 2004). 104 35 % der neurologisch auffälligen Kinder (Autismus, Down-Syndrom) zeigen eine Bindungsdesorganisation (Zulauf-Logoz, 2004). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Bindungssicherheit und sozio-emotionale Entwicklung Die Bindungsforschung hat umfassende empirische Belege dafür gesammelt, in welchem Ausmaß Bindungsmuster weiteres Beziehungsverhalten mitbestimmen und welche Zusammenhänge sich zur sozio-emotionalen sowie kognitiven Entwicklung zeigen. So haben mit zwei Jahren sicher gebundene Kinder eine längere Aufmerksamkeitsspanne, zeigen vermehrt positive Affekte im freien Spiel, haben mehr Selbstvertrauen im Umgang mit Werkzeugen und greifen bei schwierigen Aufgaben eher auf die Hilfe ihrer Mutter zurück als die als unsicher eingestuften Kinder (Holmes, 2002). Erzieher, die das klassifizierte Bindungsmuster der Kinder nicht kennen, schätzen sie als einfühlsamer, angepasster und vergnügter ein. Auch bei einer Untersuchung mit sechsjährigen Kindern zeigten die sicher-gebundenen Kinder konzentrierteres und längeres Spiel und eine größere soziale Kompetenz bei der Bewältigung von Konflikten. Sie haben eher wenige, aber dafür gute Freunde, verhalten sich in Interviewsituationen offener und äußern eher beziehungsorientierte Problemlösestrategien (Grossman et al., 1989).

Methoden zur Bindungserhebung im Kindergarten- und Schulkinderalter Die Erfassung der Bindungsqualität im Rahmen der Fremden Situation greift auf die implizite oder prozedurale Ebene des mentalen Bindungsmodells zurück (Gloger-Tippelt, 2001a). Inzwischen wurden eine ganze Reihe von Verfahren entwickelt, die eine Bindungsbestimmung bei älteren Kindern ermöglichen. Diese Methoden beruhen entweder auf projektiven Verfahren oder auf Interviews. Sie erschließen die Bindungsqualität nicht bzw. nur eingeschränkt über die Beobachtung einer Person in einer konkreten Bindungssituation, sondern über die symbolische oder sprachliche Ebene. Von der Art und Weise des darüber Sprechens oder des symbolischen Spiels wird auf das mentale Modell und das Bindungsmuster geschlossen. Längsschnittliche Untersuchungen sprechen dafür, dass die bei den Kindern be© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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obachtete Verhaltensebene und die repräsentational-sprachliche Ebene zusammenhängen. Bei Kindern etwa ab drei Jahren bis circa sechs Jahren ist das symbolische Spiel ein Zugang zur Bindungsbestimmung. Im Separation-Anxiety-Test (SAT) werden den Kindern Bilder über Trennungssituationen gezeigt und sie werden gefragt, wie sich das Kind fühlt und was es wohl macht. Indikator für sichere Bindung ist ein offenes und klares Antwortverhalten, wenig Stressanzeichen und ein Beschreiben des abgebildeten Kindes als angemessen traurig, einsam oder ärgerlich. Sicher gebundene Kinder überlegen sich zudem Lösungen, beispielsweise dass das Kind die Eltern überreden könnte, doch dazubleiben, oder dass es zwischenzeitlich zur Oma geht und so weiter. Kinder, die in der »Fremden Situation« als ängstlich-vermeidend eingeschätzt worden sind, sind in Bezug auf Lösungen sehr viel passiver und meinen beispielsweise, dass das Kind nichts tun könne. Desorganisiertes Bindungsverhalten zeigt sich in widersprüchlichen Auskünften über die Gefühle und in bizarren Lösungsvorschlägen, etwa dass das Kind sich einschließe oder sich umbringe (Dornes, 1998). Ähnlich geht die Bindungsbestimmung mithilfe der »MacArthur Story Stem Battery« (Bretherton, Oppenheim u. Prentiss, 1990) bzw. der deutschen Version des »Geschichtenergänzungsverfahrens« (Gloger-Tippelt u. König, 2000) vor. Den Kindern werden hier kurze Anfänge von Geschichten vorgespielt, die bindungsrelevante Themen ansprechen und die sie selbstständig zu Ende erzählen und spielen sollen. Vorgestelltes Verhalten wird dabei nicht nur erfragt, wie im SAT, sondern von dem Kind beim Spielen und Erzählen auch symbolisch dargestellt. Dieses Verfahren ist damit etwas weniger auf sprachliche Fähigkeiten ausgelegt. Insgesamt ist jedoch kritisch anzumerken, dass bei fast allen Methoden narrative Kohärenz als ein Indikator für sichere Bindung gewertet wird und die Frage, inwiefern diese von sprachlicher Kompetenz methodisch trennscharf zu unterscheiden ist, schwer zu entscheiden ist. Für Kinder ab zehn Jahren haben Zimmermann und Scheuerer-Englisch (2003) das »Bindungsinterview Späte Kindheit« (BISK) entwickelt. Auch dieses halbstandardisierte Interview © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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bezieht sich sowohl auf die Verhaltens- als auch auf die Repräsentationsebene. Ich stelle es ausführlich im Methodenteil, Kapitel 7, vor.

Das Adult Attachment Interview (AAI) und die Entdeckung der transgenerationalen Weitergabe von Bindungsmustern Ein Meilenstein für die Bindungsforschung war die Entwicklung des »Adult Attachment Interviews« (AAI) (George, Kaplan u. Main, 1985, 1986 u.1996), das die Erhebung von Bindungsmustern im Jugend- und Erwachsenenalter ermöglicht und die erste Realisierung der Erhebung von Bindungsrepräsentationen darstellt.105 Das AAI ist ein halbstrukturiertes-klinisches Interview über die frühen Erfahrungen mit Bezugspersonen in der Herkunftsfamilie und über die Einschätzung dieser Erfahrungen aus heutiger, aktueller Sicht (Gloger-Tippelt, 2001a). Im Gegensatz zur „Fremden Situation“, bei der Bindungsverhalten evoziert wird und somit unmittelbar beobachtet werden kann, wird im AAI versucht, über die Ansprache von Beziehungswissen in verschiedenen Gedächtnissystemen einen Zugang zum internalen Arbeitsmodell von Bindung zu finden. Es ist so aufgebaut, dass sich insbesondere Inkohärenzen im internen Arbeitsmodell abbilden, da die Fragen sich zunächst auf semantisches Bindungswissen, dann jedoch auf episodisches Bindungswissen beziehen. Zentral für das AAI ist die Überlegung, dass das Beziehungswissen sicher gebundener Personen in beiden Gedächtnissystemen weitgehend kohärent ist. Für die Einschätzung der Bindungssicherheit ist damit weniger entscheidend, was inhaltlich 105

Es gibt mittlerweile zahlreiche weitere Methoden zur Erfassung von Bindung im Erwachsenenalter, wie beispielsweise das »Adult Attachment Projective«, ein projektives Verfahren mit Bildkarten (George u. West, 2001). Für einen Überblick über verschiedene deutsch- und englischsprachige Methoden für das Erwachsenenalter siehe auch Buchheim und Strauß (2002). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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berichtet wird, als auf welche Art und Weise erzählt wird, das heißt, wie gut der Zugang zur eigenen Bindungsgeschichte und zu den Kindheitserfahrungen ist. Methodisch wird dabei so vorgegangen, dass nach einigen Eingangsfragen die Interviewpartner gebeten werden, die frühe Kindheitsbeziehung zu den Eltern (oder ihrer jeweiligen nächsten Bezugsperson) mit fünf Adjektiven zu beschreiben. Diese Fragen betreffen damit Wissen aus dem semantischen Gedächtnis, also Fakten, die man kontextfrei, ohne Erinnern des räumlich-zeitlichen Kontextes, in dem man sie gelernt hat, wiedergeben kann (Markowitsch u. Welzer, 2005) und die verbal enkodierte Informationen auf einem allgemeinen und abstrakten Niveau darstellen (Ziegenhain, 2001, S. 157). Viele Proband/-innen nennen Adjektive oder kurze Beschreibungen wie »liebvoll«, »unterstützend«, »distanziert«, »autoritär«, »streng«, »war mir ein Vorbild«, »sehr verständnisvoll«, »war nie da« etc. Im nächsten Schritt wird zu jedem genannten Adjektiv gefragt, ob der/-m Interviewten eine entsprechende Situation, Begebenheit oder Episode aus der Kindheit einfällt, die deutlich macht, warum sie oder er die Beziehung mit dem gewählten Adjektive, also beispielsweise als »liebevoll«, beschrieben hat. Die Beantwortung dieser Frage erfordert damit episodisches Erinnern, also das aktive, bewusste Erinnern von Ereignissen, die sich die Probanden aktiv wieder vor Augen rufen müssen. Vor allem anhand dieser episodischen Schilderungen wird anschließend beurteilt, wie »kohärent«106 und offen jemand über seine Bindungserfahrung spricht bzw. sprechen kann. Die Einschätzung der Bindungssicherheit orientiert sich daran, dass sicher (im AAI: F – free; secure-autonomous) gebundene Personen offen und frei auch über negative oder widersprüchliche Bindungserfahrungen berichten können. Sie wählen angemessene Adjektive zur Beschreibung ihrer Beziehung zu den Eltern in der Kindheit und können dies mit der 106

Unter »Kohärenz« wird im Zusammenhang mit sprachlichen Diskursen sehr Unterschiedliches verstanden, ich beziehe mich an dieser Stelle lediglich auf das Verständnis von »Kohärenz«, wie es in der Bindungsforschung definiert wird. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Schilderung entsprechender Situationen und Erlebnisse belegen. Wird die Beziehung zum Vater beispielsweise als »manchmal ungerecht« bezeichnet und die Wahl dieser Beschreibung anschließend damit begründet, dass der Vater den jüngeren Bruder aktiver bei dessen sportlichen Aktivitäten unterstützte, während der Proband diese Unterstützung nicht in diesem Maß erhielt und konkrete Situationen hierzu erinnert, so wäre dies ein Beispiel für Kohärenz. Unsicher-distanzierende Personen (im AAI: Ds – dismissing of attachment) tendieren dazu, ihre Kindheit und die Beziehung zu den Eltern idealisierend als »sehr schön«, »sehr glücklich« oder »normal« zu beschreiben. Gefragt nach konkreten Episoden, haben sie jedoch Schwierigkeiten, sich zu erinnern, und können weniger gut Situationen aus der Kindheit beschreiben. Die »liebevolle« Mutter war dann beispielsweise »immer für mich da, egal was war«. Oder die berichteten Beispiele widersprechen deutlich den gewählten Adjektiven: Die als »unterstützend« bezeichneten Eltern reagierten nicht oder bagatellisierend auf Kummer oder körperliche Verletzungen des Kindes. Die Eltern werden also idealisierend dargestellt. »Unsicher-verwickelt/präokkupiert« (im AAI: E – entangledenmeshed/preoccupied) gebundene Personen oszillieren dagegen zwischen widersprüchlichen Standpunkten, weichen oft vom Thema ab und beginnen, obwohl nach der Kindheit gefragt, über aktuelle Probleme mit den Eltern oder mit den eigenen Kindern zu sprechen. Ihr Sprachstil ist typischerweise vage und geprägt durch unvollständige oder abgebrochene Sätze und Gedankengänge. Im AAI werden zudem Fragen nach dem Umgang mit belastenden und konfliktreichen Situationen gestellt sowie explizit Missbrauchs- und Verlusterfahrungen in der Kindheit erfragt. Anhand der Antworten erfolgt eine weitere Einschätzung, die Auskunft über eventuell unverarbeitete Traumatisierungen und Verlusterfahrungen gibt und zu einer weiteren, zusätzlich zu dem Bindungsmuster vergebenen Kategorisierungen führt (im AAI: U – unresolved). Die Beurteilung, ob ein (potenziell) traumatisches Erlebnis als unbewältigt oder ein Trauerprozess als unabgeschlossen eingeschätzt wird, beruht auf einer äußerst detaillierten Analyse sprachlicher Muster. Unter anderem werden © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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»Fehlleistungen« auf kognitiver und sprachlicher Ebene beachtet, beispielsweise widersprüchliche oder verwirrende zeitliche und räumliche Angaben, Verwechslung zwischen der toten Person und dem Selbst, wenn etwa von dem Verstorbenen in der Gegenwart gesprochen wird, plötzliche Detailgenauigkeit oder andere überraschende Wechsel im Sprachstil usw. (Hauser, 2001). Die Häufigkeit der einzelnen Bindungsmuster bei Erwachsenen verteilt sich bei einer Nicht-Risikostichprobe wie folgt: 55 % haben autonome (F), 16 % distanzierte (Ds) und 9 % verstricktpräokkupierte (E) Bindungsrepräsentationen. Bei einer erstaunlich großen Gruppe, nämlich 19 %, zeigen sich zudem Hinweise auf unbewältigte Traumata oder Verlusterfahrungen (U). Häufig wird am AAI kritisiert, dass diese Methode in erster Linie die Diskursfähigkeit messen würde. In verschiedenen Studien zu dieser Frage ergaben sich allerdings keine Zusammenhänge zwischen im AAI erhobenen Bindungsmustern und Variablen, die die sprachliche Kohärenz im Interview beeinflussen könnten. Untersucht wurden allgemeine Persönlichkeits- und Intelligenzmerkmale, Temperament, soziale Erwünschtheit sowie Langzeit- und Kurzzeitgedächtnisleistungen (Hofmann, 2001).107 Ebenso wenig zeigte sich ein gender bias. Einige Forscher vermuteten, dass unsicher-distanzierende Bindungsmuster bei Männern bzw. den untersuchten Vätern überrepräsentiert seien. Die Verteilung der Bindungsmuster bei klinisch unauffälligen Vätern unterscheidet sich jedoch nicht von der Verteilung bei klinisch unauffälligen Müttern. Starke Abweichungen bei der Verteilung der Bindungsmuster zeigen sich dagegen – wie bei den Untersuchungen zu Kleinkindern – sowohl in Stichproben mit niedrigem sozio-ökonomischen Hintergrund als auch in klinischen Populationen. In ersteren sind bindungsabweisende sowie unverarbeitete Bindungsmuster überrepräsentiert, sichere Bindungsrepräsentatio107 Hofman (2001) gibt einen ausführlichen Überblick über die psychometrische Qualität des AAIs.

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nen wurden jedoch bei ca. 40 – 50 % festgestellt. In klinischen Stichproben finden sich dagegen nur sehr wenige sicher gebundene Personen, nämlich ca. 8 – 13 %. Hier sind nicht nur erhöhte Anteile von bindungsabweisenden, sondern auch von präokkupierten Bindungsmustern zu finden. Werden die Klassifikationen »U« und »nicht klassifizierbar« berücksichtigt, dann fallen 40 % in diese Gruppe mit unverarbeiteten Traumatisierungen, bzw. ihre Interviews sind nicht klassifizierbar. Tabelle 1: Zuammengefasste prozentuale Häufigkeiten der BindungsKlassifikation in der Fremden Situation und im Adult Attachment Interview (nach van IJzendoorn u. Bakermans-Kranenburg, 1996) Methode was wird erhoben?

Klassifikation

Fremde Bindungs- A – Situation verhalten unsicher (12 – 18 vermeiMonate) dend ca. 20 %

B– sicher ca. 60 – 70 %

C– unsicherAmbivalent ca.12 %

D– CC – (Zusatz) cannot Desorga- classify nisiert/ Desorientiert ca. 19 – 20 %

F– E– Adult Bindungs- Ds – unsicherAttachRepräsen- unsicher- autotation Distannom Präokkument zierend piert Inter(verwiview ca. 16 % ca. 55 % ckelt) (AAI) ca. 9 % (Erwachsene)

U– CC – (Zusatz) cannot Unverar- classify beitet ca. 19 %

Die Verteilungsangaben beziehen sich auf Nicht-Risikostichproben. »D« und »U« werden zusätzlich zu einem der organisierten Bindungsmuster vergeben, bei manchen desorganisierten Personen lässt sich ein solches jedoch nicht feststellen, so dass sie nur ein »D« erhalten. Die nicht klassifizierbare Gruppe (cannot classify) habe ich hier nicht aufgeführt, da sie nur in einigen Untersuchungen berücksichtigt wird. Diese Ka© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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tegorie wird in klinischen Stichproben allerdings oft vergeben (bis zu 40 %).

Transgenerationale Weitergabe von Bindungsmustern Prospektive Studien, in denen die Bindungsrepräsentanz der Eltern während der Schwangerschaft erhoben wurde, zeigen einen signifikanten Zusammenhang zwischen elterlicher Bindungsrepräsentanz und der kindlichen Bindungsqualität, eingeschätzt mit der Fremden Situation im Alter von einem Jahr. Fonagy, Steele und Steele (1991) zeigten, dass 75 % der als in der Schwangerschaft »autonom« eingeschätzten Mütter sicher gebundene Kinder haben. Entsprechend haben distanzierte Mütter häufiger vermeidende Kinder und verstrickte Mütter eher unsicher-ambivalente Kinder. Eine Einschätzung des AAIs als »unverarbeitet« führt zu einer überzufällig häufigen Vergabe der Kategorie »desorganisiert/desorientiert« bei den Kindern. Die Repräsentanz der eigenen Kindheitserfahrungen scheint damit eine ähnliche Rolle bei der Ausbildung der Bindungsmuster ihres Kindes zu spielen wie die beschriebene Feinfühligkeit. Folgt man den Überlegungen über innere Arbeitsmodelle, dann führt die mentale Repräsentation der eigenen Kindheitserfahrungen als »sicher« auf der prozeduralen Ebene offenbar zu einem feinfühligeren Verhalten gegenüber dem Kind. Dies entspräche dem Gedanken, dass innerpsychische Repräsentanzen als Modell, Schema oder Orientierung für das Verhalten dienen. Tatsächlich zeigt sich auf empirischer Ebene ein Zusammenhang zwischen der Bindungsrepräsentation und der beobachteten Feinfühligkeit. Die Korrelation ist signifikant, jedoch nicht besonders hoch (Dornes, 1998). Dies mag auf den erwähnten Problemen der Erhebung von Feinfühligkeit beruhen oder aber es gibt andere Wege, auf denen das Bindungsmuster übertragen wird, die im Konzept der Feinfühligkeit nicht berücksichtigt werden. In der Bindungsforschung wird dieses Problem als transmission-gap diskutiert. Weder feinfühliges Verhalten noch sichere Bindungsrepräsentationen reichen zur vollständigen Erklärung der Weitergabe von Bindungsmustern © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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aus, hier spielen also noch andere Aspekte eine Rolle (Dornes, 1998).

Kontinuität und Diskontinuität von Bindungsmustern Teilweise wird in der Rezeption der Bindungstheorie fälschlich davon ausgegangen, dass sich das in den ersten zwei Lebensjahren entwickelte Arbeitsmodell von Bindung später nicht mehr ändern würde. Davon ging jedoch weder Bowlby (1988) aus, noch spricht die empirische Forschung dafür (Zimmermann, et al., 2000; Zimmermann, Spangler, Schieche u. Becker-Stoll, 1999). Sowohl im Zusammenhang mit gravierenden, bindungsrelevanten Risikofaktoren, als auch bei einer positiven Veränderung der Beziehungserfahrung – etwa im Rahmen von Therapie – kann sich das Bindungsmuster ändern, wobei nach Bowlby diese Flexibilität mit zunehmendem Alter schwindet (Bowlby, 1988). Untersuchungen bei Kindern bis zu einem Alter von 16 Jahren fanden sowohl Kontinuität, als auch Diskontinuität. Die aufgetretenen Wechsel von einem Arbeitsmodell zum anderen waren dabei zu einem großen Teil aufgrund zwischenzeitlicher einschneidender Lebensereignisse erklärbar. Gerade nach bindungsrelevanten Ereignissen, wie etwa einer Trennung der Eltern, einer schweren Erkrankung oder dem Verlust eines Elternteils, kann es sein, dass ein zuvor sicher gebundenes Kind sekundär ein unsicheres Bindungsmuster entwickelt, insbesondere wenn keine anderen Bezugspersonen oder Ansprechpartner zur Verfügung stehen. Bindungsmuster bleiben offenbar nur stabil, wenn auch die Interaktionserfahrungen mit den nächsten Bezugspersonen – vor allem deren emotionale Verfügbarkeit – bis zum Jugendalter konstant bleiben (Zimmermann et al., 1999).

Earned Secure Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass bei AAIs immer wieder der Eindruck entsteht, eine Person habe eine »erworbene Bindungssicherheit« (earned secure), das heißt eine sichere © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Bindungsrepräsentanz, trotz sehr negativer Bindungserfahrungen mit den Eltern in der Kindheit. Zum Teil finden sich in diesen Interviews Hinweise auf andere, unterstützende Personen, wie etwa die Großeltern oder spätere Partner. Bei der Interpretation von retrospektiv berichtetem Elternverhalten im AAI ist allerdings äußerste Vorsicht geboten, wie eine prospektive Untersuchung von Roisman et al. (2002) zeigt. Sie haben im Rahmen einer Längsschnittstudie festgestellt, dass die Einschätzung einer Veränderung des Bindungsmusters anhand des AAIs nur bedingt möglich ist. Sie vergleichen dafür die Daten von Proband/-innen, deren AAIs im Alter von 19 Jahren nach bestimmten Kriterien als (retrospektiv) »earned secure« eingeschätzt worden waren, mit deren Bindungssicherheit in der Fremden Situation im Alter von zwölf bzw. 18 Monaten und dem beobachteten Interaktionsverhalten der Mütter bei den 14 Monate und 13 Jahre alten Kindern. Dabei zeigte sich, dass sich in der retrospektiv als »earned secure« eingeschätzten Gruppe kaum Personen befanden, die in der Kindheit ein unsicheres Bindungsmuster hatten, und dass das unterstützende Verhalten der Mütter in der Kindheit sogar als sehr hoch eingeschätzt worden war. Diverse methodische Probleme bei der Operationalisierung von »earned secure« werden bei dieser Studie deutlich. So verwenden Roisman et al. tendenziell liberale Kriterien für die Einschätzung negativer berichteter Kindheitserfahrungen im AAI, da mit den von Mary Main vorgeschlagenen, sehr viel strengeren Kriterien nur zwei Personen überhaupt in diese Kategorie gefallen wären. Allerdings finden die Forscher auch Hinweise darauf, dass die über das AAI als »earned secure« eingeschätzten Probanden tatsächlich diversen Belastungen in der Kindheit ausgesetzt waren. So berichteten die Mütter über verschiedene Risikofaktoren, dazu gehörten in erster Linie die Abwesenheit der Väter und instabile Familienverhältnisse. Die Autoren vermuten deshalb, dass die gleichzeitig beobachtete hohe mütterliche Unterstützung eventuell auf dem Versuch der Kompensation beruhe und im Zweifelsfall tatsächlich kompensatorisch wirke. Die Daten legen ebenfalls nahe, dass depressive Stimmungen eine negative Beschreibung von Kindheitserfahrungen befördern. So berichteten die retrospektiv als »earned © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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secure« eingeschätzten Personen häufiger als die anderen von depressiven Symptomen.

6.3 Trauma und Bindung Bindung als Risiko- und Schutzfaktor Die geschilderten Beispiele vor allem zum Zusammenhang von Bindungssicherheit und sozial-emotionaler Entwicklung geben bereits einige Hinweise darauf, warum ein sicheres Bindungsmuster in der Entwicklungspsychopathologie als ein wichtiger Schutzfaktor gilt (Bretherton, 2001a; Rutter, 1990; Werner, 1990): Sicher gebundene Personen verfügen offensichtlich nicht nur über günstigerer Konfliktlösestrategien, sondern sie sind auch in der Lage, ihre Emotionen offen zu zeigen und auszudrücken, und können vor allem soziale Beziehungen als Unterstützung in Belastungs- und Krisensituationen nutzen. Resiliente Entwicklung beruht aus bindungstheoretischer Sicht damit auf »effektiver individueller und sozialer Emotionsregulation, gesteuert über innere Arbeitsmodelle« (Zimmermann, 2002, S. 148). Mit der Entwicklung eines sicheren Arbeitsmodells von Bindung wird also gleichermaßen ein wesentlicher individueller Schutzfaktor aufgebaut. Im Gegensatz zu anderen entwicklungspsychopathologischen Modellen kann damit aus Sicht der Bindungsforschung der Mechanismus eines Schutzfaktors benannt werden: Die frühe Bindungserfahrung führt zum Aufbau eines (sicheren) Arbeitsmodells, das den Umgang mit emotionaler Belastung, das Selbstwertgefühl, die Identität und die Gestaltung enger Beziehungen prägt. Diese Kompetenzen sind maßgeblich bei der Bewältigung von Risikofaktoren (Zimmermann, 2002). Wie verhält es sich umgekehrt? Sind unsichere Bindungsmuster ein Risikofaktor für spätere psychische Krisen und/oder Erkrankungen? Hier ist zunächst zu bemerken, dass auch die beiden »unsicheren« Bindungsmuster keine Bindungsstörungen im psychopathologischen Sinne darstellen. Sichere wie unsichere Bindungsmuster sind vielmehr die jeweils günstigsten Adapti© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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onsversuche im Rahmen durchschnittlich normaler Mutter- bzw. Eltern-Kind Interaktionen (Brisch, 1999) und sind weit verbreitet. Das Bindungsmuster per se sagt damit nichts über psychische Gesundheit oder Stabilität aus, wenngleich unsichere Bindungsmuster mit einer erhöhten Vulnerabilität einherzugehen scheinen. In klinischen Stichproben und in Hochrisikostichproben finden sich überzufällig häufig Personen mit unsicheren beziehungsweise D-Mustern oder einem unverarbeiteten Bindungsstatus (U). Im Gegensatz zu den drei »organisierten« Bindungsstrategien A, B, und C scheint bei desorganisierten Bindungsmustern der Übergang zur Psychopathologie fließend zu sein (Greenberg, 1999; Brisch, 1999). In diesem Zusammenhang ist interessant, dass unsichere Bindungsmuster auch auf psychophysiologischer Ebene mit Reaktionsmustern einhergehen, die psychosomatisch als ungünstig gelten. Kinder mit einem unsicheren Bindungsmuster, die in der Fremden Situation während der Trennungsphase relativ unbeeindruckt wirken und in das Schema eines unsicher-vermeidenden Bindungsmusters passen, weisen nämlich eine höhere Herzschlagfrequenz und höhere Kortisolwerte auf als sicher gebundene Kinder. Psychophysiologisch erleben diese Kinder also Stress. Im Gegensatz zu sicher gebundenen Kindern sind sie jedoch nicht in der Lage, diesen offen auszudrücken und sich auf diese Weise schnell zu beruhigen (Spangler u. Grossmann, 1993). Diese Befunde untermauern Bowlbys Annahme, dass bei unsicheren Bindungsmustern eine Spaltung der inneren Arbeitsmodelle vorliegt. Offenbar bleibt auf einer physiologischen – und damit vermutlich prozeduralen – Ebene das ursprüngliche Bindungsbedürfnis bestehen, auch wenn dieses im Verhalten unterdrückt wird. Unsichere Bindungsmuster sind damit inkohärent und widersprüchlich und führen so eher zu einer psychischen Instabilität. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass zwischen Bindung und kritischen Lebensereignissen und/oder Traumata ein doppelter Zusammenhang besteht: Sichere Bindung ist ein wichtiger individueller Schutzfaktor, andererseits können kritische Lebensereignisse, insbesondere wenn sie Bindungsbeziehungen betreffen, Bindungsmuster verändern. Sichere Bindung führt © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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damit keineswegs zu einer »Unverletzlichkeit« und ist kein Garant für eine bessere Bearbeitung von Traumatisierungen. Das folgende Fallbeispiel aus einer Längsschnittuntersuchung von Alan Sroufe (Sroufe, Egeland, Carlson u. Collins, 2005, S. 63 ff.) gibt einen sehr guten Eindruck davon, wie komplex sich das Zusammenspiel zwischen einem früh etablierten Bindungsmuster, kritischen Lebensereignissen und dem Einfluss verschiedener Umwelt- und Situationsbedingungen gestalten kann, und davon dass dabei keineswegs von einem unidirektionalen Zusammenhang auszugehen ist: Tony wurde mit 12 und 18 Monaten als sicher an seine Mutter gebunden eingeschätzt und wurde in seiner Vorschulzeit sehr unterstützt. Bei Schuleintritt wurde er von seinen Lehrern als sehr positiv beurteilt. Die folgenden Jahre verliefen jedoch sehr belastend: Die Eltern ließen sich, begleitet von vielen Konflikten, scheiden und sein Vater besuchte aufgrund seiner Konflikte mit der Ex-Frau zwar Tonys jüngere Geschwister, nicht aber Tony, der der Mutter näher stand. Tonys Mutter wiederum überforderte ihn und setzte ihn nach Einschätzung der Forscher an die Stelle eines erwachsenen Partners. Mit 13 Jahren zeigte Tony mehr Konflikte mit seiner Mutter als andere Kinder dieser Altersgruppe. Kurz darauf verstarb die Mutter bei einem Autounfall. Tonys Vater entschied, die beiden Geschwister zu sich zu nehmen, und zog mit ihnen in einen anderen Landesteil. Tony dagegen kam zu einer Tante und einem Onkel, die jedoch bereits älter waren und Schwierigkeiten hatten, mit dem Teenager umzugehen. In den folgenden Jahren zeigte Tony diverse Entwicklungsschwierigkeiten: Er hatte Probleme in der Schule, zog sich zurück von Gleichaltrigen und erfüllte mit 17,5 Jahren die Kriterien einer Verhaltensstörung. Tony wirkte in diesen Jahren depressiv und isoliert. Mit 26 Jahren, als Tony bereits selbst Vater einer zweijährigen Tochter war, wurde er noch einmal untersucht, ohne dass die Beobachter seine Geschichte kannten. Ihre Ergebnisse sprachen für einen außergewöhnlich unterstützenden Vater, der geduldig, warm, verfügbar war, seiner Tochter angemessene Grenzen setzte und sie ermutigte. Auch die Beziehung zu seiner Frau wurde als positiv, engagiert, verständnis- und liebevoll und insgesamt an der Grenze zwischen sicher und vermeidend eingeschätzt. Sein mentales Modell von Bindung wurde dagegen im AAI als unsicher-distanziert klassifiziert. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Tonys Geschichte zeigt deutlich, dass seine frühere sichere Bindung ihn nicht vor den Folgen der diversen Belastungen und vermutlich traumatischen Erlebnisse hatte schützen können. Offenbar hat hier ein Wechsel von einem sicheren zu einem unsicheren Bindungsmuster stattgefunden. Die Beziehung zu seinem Kind und zu seiner Frau scheinen davon allerdings überraschenderweise nicht beeinflusst zu werden; parallel zu einer unsicher-vermeidenden Bindungsrepräsentation bleibt offenbar auch das »sichere innere Arbeitsmodell« von Bindung bestehen. Unter Umständen spielt hier die frühkindliche, prozedurale Verankerung einer frühen positiven Bindungserfahrung die entscheidende Rolle. Auf dieses Wissen wird im Umgang mit dem eigenen Kind (unbewusst) wieder zurückgegriffen. Tonys Geschichte zeigt auch, dass zwischen der im AAI erfassten mentalen Repräsentation, die letztlich einer gewissen kognitiven Kontrolle unterliegt, und tatsächlichem Verhalten in bindungsrelevanten Situationen ein Unterschied liegt, der sich bereits bei der Diskussion um das transmission gap andeutete.108

Trauma- und verlustbezogene Studien aus der Bindungsforschung Bindungsuntersuchungen, die sich explizit auf den Traumabegriff beziehen, untersuchen in den meisten Fällen desorganisierte/desorientierte Bindungsmuster. Dieses Bindungsmuster steht wie erwähnt sowohl im Zusammenhang mit frühen Beziehungstraumata, wie beispielsweise Misshandlung, als auch mit unverarbeiteten Traumata oder Verlusterlebnissen der Eltern. Die Bindungsforschung ermöglicht damit eine detaillierte Un108 Leider lässt dieses spannende Fallbeispiel einen wichtigen Punkt unbeantwortet, nämlich die Frage, wie die Entwicklung von einer äußerst schwierigen Zeit in der Adoleszenz und im frühen Erwachsenalter hin zu einer offenbar sehr unterstützenden und positiven Partnerschaft stattfand. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Tony im AAI über einen wieder aufgenommenen Kontakt zum Vater berichtet und dass er im Alter von 26 Jahren sehr viel offener über den Verlust seiner Mutter sprechen kann als im Alter von 19 Jahren.

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tersuchung früher Beziehungstraumata und transgenerationaler Traumatisierungen. Die Frage, in welchem Verhältnis Bindungssicherheit und im späteren Kindesalter erlebte Traumata stehen, wird dagegen eher implizit in Längsschnittstudien zu Hochrisikogruppen behandelt und dort stärker unter dem Aspekt der Bewältigung von Risikofaktoren oder kritischer Lebensereignisse als unter der Frage nach individuellen Folgen von Traumatisierungsprozessen.

Desorganisierte Bindungsmuster infolge früher Beziehungstraumata Im Fall von frühen Beziehungstraumata wie Misshandlung befinden sich die Kinder in der paradoxen Situation, dass von der Bindungsperson Gefahr für sie ausgeht und sie deshalb dort keine Nähe suchen können, auch wenn sie das Bedürfnis danach haben. Die Häufigkeit des Auftretens von Bindungsdesorganisation in Risikogruppen spricht zudem für einen Zusammenhang mit weiteren, vermutlich miteinander konvergierenden Merkmalen wie Jugendlichkeit der Mütter, niedriger sozioökonomischer Hintergrund und Alkohol- und Drogenprobleme der Mütter. Die Anzahl der als »D« klassifizierten Kinder von depressiven Eltern unterscheidet sich dagegen nicht signifikant von nicht-klinischen Stichproben (Zulauf-Logoz, 2004). Die Beobachtungen zu desorganisierten/desorientierten Kindern zeigen sehr eindrücklich, wie gravierend solche Arten von Traumata in den Aufbau innerpsychischer Repräsentanzen eingreifen und wie sich dies im Verhalten äußert: Die Kinder sind entweder gar nicht in der Lage, ein organisiertes Bindungsverhalten zu entwickeln, oder sie zeigen in bindungsrelevanten Situationen immer wieder Einbrüche in ihrer Verhaltensstrategie oder in der Aufmerksamkeit. Vermutlich können die Kinder nicht nur kein einheitliches internes Arbeitsmodell über Bindung, sondern auch keine einheitlichen Repräsentanzen von sich selbst und anderen aufbauen. Mary Main führt ihr bizarres Verhalten auf die Aktivierung widersprüchlicher Repräsentanzen zurück. Sie benennt sieben verschiedene Merkmale, an denen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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sich desorganisiertes/desorientiertes Bindungsverhalten zeigen kann (Main, 2001, S.21 f.): 1. Aufeinanderfolgendes Auftreten widersprüchlicher Verhaltensmuster : Das Kind läuft beispielsweise mit ausgestreckten Armen weinend auf die Eltern zu, stoppt plötzlich, dreht sich um und schweigt; 2. gleichzeitiges Auftreten widersprüchlicher Verhaltensmuster : Das Kind sitzt einerseits auf dem Schoß des Elternteils, schaut andererseits benommen und verstockt weg; 3. ungerichtete, falschgerichtete, unvollständige und unterbrochene Bewegungen und Ausdrücke, wie lautes Weinen während der Fremden Situation, wenn die Fremde weggeht; 4. Stereotypen, asymmetrische Bewegungen, zeitlich unpassende Bewegungen und abnorme Körperhaltungen; 5. Einfrieren, Erstarren und verlangsamte Bewegungen und Gesichtsausdrücke; 6. direkte Hinweise auf ängstliche Besorgnis gegenüber den Eltern; 7. direkte Hinweise auf Desorganisation und Desorientierung, z. B. Verwirrung beim Anblick der Eltern, tranceartiges Verhalten etc. Desorganisiertes Verhalten zeigt sich unter Umständen nur in sehr kurzen »Einbrüchen«, die zum Teil nicht länger als zehn bis dreißig Sekunden dauern, Köhler (1998) spricht von daher auch von »Einsprengseln«. Die meisten Kinder erhalten »D« als Zusatzklassifikation, das heißt sie verhalten sich, abgesehen von den Einsprengseln, wie »organisiert« gebundene A-, B- oder C-Kinder und werden entsprechend beispielsweise als D/B klassifiziert. Viele Kinder sind zudem nur mit einem Elternteil desorganisiert gebunden. Desorganisation scheint sich über Kindheit und Jugendalter hinweg zu erhalten. Im Alter von sechs Jahren zeigen desorganisiert gebundene Kinder gegenüber der Mutter ein kontrollierendes Verhalten mit Rollenumkehr, das sich entweder in strafendem und befehlendem oder besorgt-fürsorglichem Verhalten äußert. Ihre Reaktionen auf Eltern-Kind-Trennungen auf Abbildungen oder im Spiel bestehen in Katastrophenphantasien und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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unerklärlicher Ängstlichkeit. Kontrollierendes Verhalten gegenüber den Bezugspersonen steht zudem mit einem negativen Selbstkonzept in Zusammenhang und Gespräche zwischen Kind und Bezugsperson lassen sich als »nicht flüssig« charakterisieren (Main, 2002). Main und Hesse fanden in ihrer Bay-Area-Längsschnittuntersuchung keine Person, die im Kleinkindalter als desorganisiert klassifiziert und bei einer späteren Erhebung mit 19 Jahren als sicher-autonom eingeschätzt wurde. Dieses Ergebnis ist auch insofern überraschend, als dass die meisten D-Kinder als sicher gebunden zweitklassifiziert worden waren (Hesse u. Main, 2002). Im Gegensatz zu den anderen Bindungsmustern ist bei D der Übergang zur Bindungsstörung und zur Psychopathologie fließend. Kleinkinder mit desorganisiertem Bindungsverhalten zeigen in der Fremden Situation die höchsten physiologischen Indikatoren für Stress. D-Bindungsverhalten im Säuglingsalter steht im Zusammenhang mit störend/aggressiven und dissoziativen Störungen im Kindes- und Jugendalter (Hesse u. Main, 2002).

Transgenerationale Traumatisierung D-Muster werden auch bei Kindern beobachtet, bei deren Eltern sich im AAI vor der Geburt des Kindes Hinweise auf ein unverarbeitetes Trauma oder Verlusterlebnis zeigen. Meines Wissens existieren keine Untersuchungen, die systematisch vergleichen, inwiefern sich das desorganisierte Bindungsverhalten von misshandelten Kindern von dem Bindungsverhalten der Kinder unterscheiden, die eine Bindungsdesorganisation infolge einer solchen Traumatransmission entwickeln. Die Beschreibungen des Elternverhaltens legen allerdings nahe, dass hier Unterschiede bestehen, die sich vermutlich auch bei den Kindern zeigen. Nach einer Hypothese von Main und Hesse (1990) beruht die Trauma-Übertragung auf Momenten des Wiedererinnerns des traumatischen Erlebnisses, sie sprechen von Micro-Dissoziationen, bei den Eltern. In diesen Momenten werden die Eltern von © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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traumatischen Erinnerungen überschwemmt und dies scheint sich in ängstlichem oder ängstigendem Verhalten in der Interaktion mit dem Baby zu zeigen. Die Autoren vermuten zudem, und dies legen auch die Erfahrungen mit Familien von Holocaust-Überlebenden nahe, dass Eltern mit eigenen unverarbeiteten traumatischen Erfahrungen bei der Konfrontation mit intensivem Kummer ihrer Kinder selbst überwältigenden Gefühlen von Schmerz und Hilflosigkeit ausgesetzt sind (Zulauf-Logoz, 2004). Welche enormen Auswirkungen bereits »kleine Abwesenheiten« von Bindungspersonen in der Interaktion mit Säuglingen haben können, zeigen bereits Tronick, Als, Adamson, Wise und Brazelton (1978) mit der still face procedure. Die Mütter wurden aufgefordert, für eine kurze Zeit während einer Interaktion mit ihrem Kind ein völlig ausdrucksloses Gesicht (still face) zu machen. Die Säuglinge zeigten daraufhin zunächst diverse Verhaltensweisen wie Lächeln, Vokalisieren, um das Verhalten der Mutter wieder zu normalisieren. Da diese ohne Erfolg blieben, zogen sich die Säuglinge schließlich zurück und signalisierten Stress. In einer empirischen Studie beobachteten Schuengel et al. (1999) das Verhalten von Eltern mit desorganisierten Kleinkindern systematisch und konnten diese Hypothese eines spezifisch ängstlichen und/oder Furcht einflößenden Verhaltens bestätigen. Dies bedeutet, dass die Feststellung einer kognitiven oder sprachlichen Desorganisation im AAI einen Ausdruck auf der Verhaltensebene in der Interaktion mit dem Kind findet. Um solche subtilen Verhaltensabweichungen in der Eltern/ Mutter-Kind-Interaktion, die im Zusammenhang mit eigenen Verlust- und Traumaerfahrungen der Eltern stehen könnten, genauer zu untersuchen, haben Lyons-Ruth und Jacobovitz (1999) eine differenzierte Skala zur Erfassung solcher Verhaltensweisen entwickelt. Danach zeigen sich unverarbeitete Traumata insbesondere in drei Interaktionsformen: 1. negativ-intrusives Verhalten (bspw. Festhalten des Kindes am Handgelenk), 2. angsterfülltes/desorganisiertes Verhalten (die Mutter zeigt © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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sich z. B. verwirrt oder geängstigt durch das Kind oder sie zeigt plötzliche Verhaltens-Affektveränderungen), 3. Rückzugsverhalten (Schaffung einer räumlichen oder verbalen Distanz zum Kind) (Zulauf-Logoz, 2004).109 Im Zusammenhang mit Kindesmisshandlung wird das Verhalten der Mütter dagegen als vor allem aggressiv gefärbt charakterisiert: aggressiv zurückweisend, aggressiv einmischend, aggressiv ignorierend und Gehorsamkeit fordernd. Darüber hinaus verhalten sich diese Mütter uneinfühlend (Grossmann, 2004). Ein weiteres wichtiges Ergebnis der Untersuchung von Schuengel ist, dass die unterliegende Bindungsrepräsentanz, zu der der Status »unverarbeitet« (U) zusätzlich klassifiziert wurde, einen entscheidenden Einfluss auf die Weitergabe des Traumas hat. Mütter mit unverarbeiteten traumatischen Erlebnissen und einer unsicheren Bindungsstrategie zeigen häufiger erschreckendes oder Furcht einflößendes Verhalten als Mütter mit ebenfalls unverarbeitetem Verlust oder traumatischen Erlebnissen, aber einer sicheren Bindungsrepräsentanz. Die Frage, wie feinfühlig sich die Bindungsperson mit der unverarbeiteten Traumatisierung verhält, steht dagegen in keinem Zusammenhang mit dem Bindungsmuster des Kindes (Hesse u. Main, 2002). Damit ergibt sich ein vielschichtiger Zusammenhang zwischen Bindungsrepräsentanz der Eltern, unverarbeiteten Verlusterlebnissen der Eltern und der Bindungsstrategie und psychischen Befindlichkeit des Kindes. Neuere Studien zur transgenerationalen Weitergabe von Traumata bei Holocaust-Überlebenden versuchen, diese Wechselbeziehungen für die Erklärung diskrepanter Forschungsergebnisse in der second generation Forschung, die sich mit den Kindern von Holocaust Überlebenden beschäftigt, zu nutzen. Während klinische Studien regelmäßig einen Zusammenhang zwischen dem erlebten Trauma der Eltern und bestimmten 109

Sehr interessant ist dabei auch, dass Mütter mit einem unverarbeiteten Trauma öfter berichten, das Kind habe übernatürliche Kräfte, und sich entsprechend vor dem Kind zu ängstigen scheinen. Vermutlich werden in solchen Fällen Aspekte des Traumas in das Kind projiziert. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Symptomen der Kinder, wie etwa Schuld, Depression, Aggression, interpersonale Probleme und Konflikte im Zusammenhang mit Trennung und Individuation (Kestenberg, 1982; Wiseman et al., 2002) finden, stellen epidemiologische Studien mit nichtklinischen Stichproben mehrheitlich keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich Persönlichkeitsmerkmalen und seelischer Gesundheit im Vergleich zu Kontrollgruppen fest (Bar-On et al., 1998). Die Forschungsgruppen um Wiseman und um Bar-On gehen davon aus, dass die Bindungsrepräsentanz der Eltern eine wichtige Moderatorfunktion bei der Trauma-Übertragung haben könnte, die die Widersprüchlichkeit der Ergebnisse teilweise erklären könnte. In einer ersten Studie in diesem Kontext untersuchten Wiseman et al. (2002) den Zusammenhang zwischen der Kommunikation von Holocaust-Überlebenden mit ihren Kindern und interpersonalen Beziehungsmustern ihrer Kinder. Wie bereits in Kapitel 3 erwähnt, berichteten die Kinder von Holocaust- Überlebenden, die die Kommunikation mit den Eltern als vornehmlich »nonverbal« bezeichneten und nur wenig Informationen über das Trauma der Eltern erhielten, gleichzeitig über mehr interpersonelle Probleme als diejenigen, die die verbale Kommunikation mit den Eltern als informativ beschrieben. Wiseman et al. verstehen die Fähigkeit zur offenen und kohärenten Kommunikation zwischen Eltern und Kind als einen Ausdruck sicherer internaler Arbeitsmodelle über Bindung. Nach ihrer Auffassung kann also ein sicheres Bindungsmuster – wenn es trotz der gravierenden traumatischen Erlebnisse im Jugend- und Erwachsenenalter Aufrecht erhalten werden konnte – als Schutz vor der unbewussten Weitergabe des Traumas an die nächste Generation fungieren.

Metakognitive Prozesse bei der Bewältigung und der Weitergabe von traumatischen Ereignissen Fonagy, Steele und Steele (1998) haben die Möglichkeiten zur Auswertung des AAIs um die Skala zur Erfassung der Reflexionsfähigkeit (Reflective Functioning) erweitert. Unter Reflexi© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

6.3 Trauma und Bindung

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onsfähigkeit wird die mentale Fähigkeit verstanden, sowohl eigene Erfahrungen als auch das Verhalten anderer in Begriffen von Intentionalität und mentalem Befinden wahrzunehmen und zu verstehen. Wie Dornes (2004b) bemerkt, mentalisieren Fonagy und seine Kollegen auf diese Weise das Konzept der Feinfühligkeit. Hier geht es weniger um eine Reaktion der Bezugsperson auf der Handlungsebene, sondern um die Fähigkeit der Eltern, geistig-seelische Zustände des Kindes wahrzunehmen, was umgekehrt die gleiche Fähigkeit beim Kind fördert. In der Entwicklungspsychologie spricht man von theory of mind, womit gemeint ist, dass Kinder entdecken, dass sie selbst und andere Wesen mit mentalen Zuständen sind.110 Das Konzept der Reflective Functioning wird erst seit kurzem erforscht. Die Reflexionsfähigkeit scheint eine wichtige Rolle bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Bindungssicherheit111, bei der Unterscheidung zwischen Phantasie und Realität, bei der Kommunikation sowie für die Herstellung bedeutungsvoller Bezüge zwischen internaler und externaler Welt zu spielen (Fonagy et al., 1998; Fonagy et al., 2002). Damit erfasst dieses Konzept gleich mehrere Fähigkeiten, die in der Traumaforschung als Voraussetzung für die psychische Bewältigung eines Traumas gesehen werden, wie beispielsweise die Integration des Traumas in das deklarative Gedächtnissystem und damit in die sprachliche und narrative Repräsentation (van der Kolk, 1996), aber auch die Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen Phantasie und Wirklichkeit, vor allem in Momenten intrusiver Erinnerungen, wie etwa flashbacks. Bezogen auf trans- und intergenerationale Traumatisierungen lässt sich fragen, inwiefern die Fähigkeit zur 110

Für diese Fähigkeit zeigen sich erste Anzeichen bereits mit neun Monaten, voll entwickelt wird sie etwa mit vier bis fünf Jahren. Der Ansatz von Fonagy et al. erweitert das entwicklungspsychologische Wissen insofern, als sie den Erwerb dieser Fähigkeit nicht nur als Reifungsprozess betrachten, sondern als Folge des Interaktionsverhaltens der Eltern (Dornes, 2004b). Tatsächlich zeigen Untersuchungen, dass Kinder früher den theory of mind Test bestehen, wenn sie sicher gebunden sind (Fonagy et al., 2004) 111 Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen hohen Werten für die Reflexionsfähigkeit und autonomer Bindungsrepräsentation im AAI. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Mentalisierung ein weiterer wichtiger Mechanismus ist, um generationsübergreifenden Prozessen entgegenzuwirken. Ein empirisches Problem des Konzeptes ist allerdings – ähnlich wie beim AAI – darin zu sehen, dass die Operationalisierung dieser Reflexionsfähigkeit über die Reflective Functioning Scales stark an sprachliche Ausdrucksfähigkeit gebunden ist.

6.4 Klinische Aspekte der Bindungsforschung Bindungstheorie in der Psychotherapie und Frühintervention Überlegungen aus der Bindungsforschung werden mit steigendem Interesse in die therapeutische Praxis integriert (zum Beispiel Brisch, 1999; Endres u. Hauser, 2002). Zentral ist dabei die Überlegung Bowlbys, eine sichere Basis herzustellen, so dass Klienten von dieser Basis aus ihre inneren Arbeitsmodelle erkunden können (Suess u. Hantel-Quitmann, 2004). Damit dies gelingt, ist es hilfreich für den Therapeuten, das Bindungsmuster des Patienten zu kennen und entsprechend darauf eingehen zu können. Jemand mit der Erfahrung abweisender Eltern wird auch zunächst Angebote des Therapeuten abweisen usw. Indem im Gegensatz zur klassischen Psychoanalyse Bindungsbedürfnisse nicht auf triebdynamische Prozesse zurückgeführt werden, sondern als eigenständiges Motivationssystem gesehen werden, können Überlegungen aus der Bindungstheorie wertvolle Hinweise für die therapeutische Praxis geben und den Blickwinkel erweitern (Köhler, 1998). Als eine erste praktische Umsetzung der Ergebnisse der Bindungsforschung wurde in den 1980er Jahren das STEEP-Programm (Steps Toward Effective and Enjoyable Parenting) zur Frühintervention entwickelt. Mit diesem Programm wird versucht, insbesondere die Feinfühligkeit bei Eltern aus Hochrisikogruppen zu fördern (Suess u. Hantel-Quitmann, 2004). Dafür wurde ein aus Einzel- und Gruppenstunden bestehendes Programm entwickelt, das sowohl auf Methoden aus der Psychotherapie als auch aus der Psychoedukation und der Sozialarbeit © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

6.4 Klinische Aspekte der Bindungsforschung

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beruht. Die Eltern sollen nicht belehrt werden, sondern anhand offener Fragen soll Neugier für die Kindesentwicklung geweckt werden. Dafür werden unter anderem Eltern-Kind-Interaktionen auf Video aufgezeichnet, anhand derer gemeinsam mit den Eltern ihr Verhalten gegenüber dem Kind, aber auch eigene Bindungserfahrungen thematisiert werden (Suess u. Hantel-Quitmann, 2004).

Bindungsstörungen

In klinischen Stichproben zeigen sich neben den erwähnten Klassifikationen noch weitere Formen von Bindungsmustern oder Bindungsverhalten, die bereits in den psychopathologischen Bereich fallen. Sie werden als Bindungsstörungen bezeichnet. Crittenden (1995) hat das Klassifikationssystem der Bindungsforschung anhand ihrer Untersuchungen zu Hochrisikokindern erweitert und jeweils Zusammenhänge zwischen den organisierten Bindungsmustern und pathologischen Formen hergestellt. Sie zeichnet damit den fließenden Übergang vom Spektrum seelisch günstiger Bindungsmuster hin zu klinischen Formen nach (Brisch, 1999). Ihre Arbeiten zeigen, dass spätere psychopathologische Symptome ohne eingehende Beobachtungen über längere Zeiträume oft gar nicht als Bindungsstörung erkennbar sind (Brisch, 1999). Nach Brisch (1999) werden Bindungsstörungen in den derzeitigen diagnostischen Systemen (ICD-10 und DSM IV) nur unzureichend klassifiziert. In einem eigenen Vorschlag zur Diagnostik und Typologie von Bindungsstörungen unterscheidet er folgende Formen von Bindungsstörung: 1. keine Anzeichen von Bindungsverhalten: Die Kinder zeigen kein Bindungsverhalten gegenüber irgendeiner Bezugsperson und haben oft Deprivationserfahrungen; 2. undifferenziertes Bindungsverhalten: Die Kinder verhalten sich unterschiedslos freundlich gegenüber allen Personen (soziale Promiskuität); 3. übersteigertes Bindungsverhalten: Die Kinder zeigen exzessives Klammern, Explorationsverhalten fehlt, bei den Müttern © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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findet sich oft eine Angststörung mit extremen Verlustängsten; 4. gehemmtes Bindungsverhalten: Die Kinder zeigen kaum Bindungsverhalten, sondern wirken übermäßig angepasst bzw. gehorsam, in den Familien zeigt sich oft körperliche Gewalt; 5. aggressives Bindungsverhalten: Die Kinder drücken ihre Bindungsbedürfnisse über verbale und/oder körperliche Gewalt aus, das Familienklima ist ebenfalls aggressiv geprägt; 6. Bindungsverhalten mit Rollenumkehr : Die Kind übernehmen die Elternrolle gegenüber den Bezugspersonen und haben oft Angst vor dem realen Verlust ihrer Bindungsperson etwa durch Scheidung oder Suizid, sie sind sehr feinfühlig und werden teilweise fälschlich als bindungssicher eingestuft.

6.5 Kritische Einwände und Grenzen der Bindungsforschung Kultur und Bindung – Universalitätsannahme und Optimalitätstheorem Bindung wird als ein universelles Verhaltenssystem konzeptualisiert, das heißt, es wird angenommen, dass in jeder Kultur Kinder Bindungsverhalten und damit auch Bindungsmuster entwickeln. Gleichzeitig wird der Einfluss kulturell-kontextueller Faktoren in der Bindungsforschung nicht bestritten (Van IJzendoorn u. Sagi, 1999), der Universalitätsbegriff jedoch sehr weitreichend definiert (Keller, 2004). Keller beschreibt die Beziehung zwischen Bindungsforschung und der Frage nach kulturellen Einflüssen als Paradox: »Trotz der Sensibilität für kulturelle Einflüsse sind die meisten kulturvergleichenden Untersuchungen auf Überprüfung und Bestätigung der Universalität hin ausgerichtet« (Keller, 2004, S. 111). Sie kritisiert, dass kulturelle Einflüsse zumeist nur im Nachhinein geltend gemacht werden, wenn sich beispielsweise Unterschiede in der statistischen Verteilung von Bindungsmustern zeigen, diese These dann jedoch in © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

6.5 Kritische Einwände und Grenzen der Bindungsforschung

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der Regel unüberprüft bleibt.112 Sehr selten diskutiert wird innerhalb der Bindungsforschung, inwieweit Bindung als theoretisches Konstrukt nur vor dem Hintergrund der anglo-amerikanischen Kultur des 20. Jahrhunderts entwickelt werden konnte. Bindungsforscher wie van IJzendoorn und Sagi (1999) halten solcher Kritik entgegen, dass Ainsworth ihre ersten Bindungsuntersuchungen in Uganda durchführte und erst anschließend auf die nordamerikanische Mittelschicht übertrug. Sie nehmen aufgrund der Sichtung der Literatur von Bindungsuntersuchungen in nicht-westlichen Ländern an, dass sichere Bindung kein rein nordamerikanisches Phänomen ist. Dass dabei unter Umständen unsichere Bindungsmuster in anderen kulturellen Kontexten adaptiv sind, schließen sie nicht aus. Dennoch wird generell in der Bindungsforschung nicht nur die Vorstellung von Bindung als ein universelles Verhaltenssystem auf andere Kulturen übertragen, sondern auch die Annahme, dass sichere Bindung die bestmögliche Anpassungsstrategie darstelle (Optimalitätstheorem, siehe Ahnert, 2004). Während kaum bezweifelt wird, dass Kinder im ersten Lebensjahr im Kontext von Interaktionen mit Bezugspersonen Bindungsverhalten entwickeln, sind Aussagen über universell optimale Bindungsstrategien nicht unumstritten. Kritisiert wird dabei, dass bei solchen Annahmen nicht die Bedeutungssysteme und Wertvorstellungen der jeweils untersuchten Kultur zum Ausgangspunkt genommen werden (Keller, 2004).113 Damit wird 112

Dass die Auseinandersetzung mit »Kultur« nur am Rande erfolgt, ist keineswegs nur ein Kennzeichen der Bindungsforschung, sondern vieler psychologischer Ansätze. Ingrid Josephs (2005) erklärt diese angesichts der Tatsache, dass im Grunde sämtliche psychologischen Fragestellungen von »Kultur« durchdrungen sind, erstaunliche Lage damit, dass die (akademische) Psychologie zu sehr mit ihrer Anerkennung als Naturwissenschaft beschäftigt sei und die biologische und neurowissenschaftliche Neuorientierung damit im Zentrum der meisten Forschungsbemühungen stehe. 113 Man bezeichnet einen solchen Forschungsansatz, bei dem in westlichen Ländern entwickelte Theorien und Methoden auf andere Kulturen übertragen werden, auch als »etischen« (etic) Ansatz im Vergleich zu »emischen« (emic) Ansätzen. Kulturvergleichende Untersuchungen der Bindungsforschung beziehen sich in der Regel auf Bowlbys Konstrukt von © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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übersehen, dass verschiedene Kulturen nicht nur über ein anderes Menschenbild, sondern entsprechend auch über andere Sozialisationsziele verfügen. Puertoricanische und japanische Mütter legen beispielsweise großen Wert auf Anpassung und Harmonie in sozialen Beziehungen sowie die Erfüllung sozialer Normen. Sie verfolgen damit nach Keller (2004) eine »interdependente« Orientierung. Die Person wird »als inhärent und fundamental mit anderen verbunden« (Keller, 2004, S. 118) betrachtet. Im Gegensatz dazu ist das Sozialisationsziel euroamerikanischer Mütter vorwiegend ein »independentes«: »Eine independente Orientierung definiert die Person als kohärente, geschlossene und autonome Einheit« (Keller, 2004, S. 118). In der Interaktion mit dem Kind wird dementsprechend eher Selbstmaximierung und Unabhängigkeit gefördert. Keller gibt ein sehr anschauliches Beispiel dafür, wie Vorstellungen über Bindung und mütterliches Interaktionsverhalten kulturspezifisch variieren. So kommentiert eine amerikanische Mutter aus der Mittelschicht eine Situation, in der ihr Baby allein unter einem Spielbogen liegt und sich mit sich selbst beschäftigt, als positiv und notwendig: Es sei gut, dass es Spielsachen gebe, mit denen sich das Baby selbst beschäftigen könne, Babys bräuchten dies, um nicht überstimuliert zu werden und ein Gefühl von Unabhängigkeit entwickeln zu können. Eine westafrikanische Nso-Mutter, die ebenfalls zur Mittelschicht gehört, beschreibt die gleiche Szene dagegen als nicht entwicklungsadäquat. In ihrer Vorstellung kann ein Kind nicht für sich selbst sorgen und sollte nicht allein sein. Sie erwartet bei einem solchen Umgang kein glückliches Kind, während die Fürsorge anderer das Kind zu einem fröhlichen Kind mache. Völlig unterschiedliche Erwartungen formulieren die Mütter auch in Bezug auf das Stillen. Beide Gruppen halten Stillen für das bedeutendste mütterliche Verhalten im Umgang mit einem drei Monate alten Bindung, verwenden die etablierten Forschungsmethoden der Bindungsforschung und sind damit den »etischen« Ansätzen zuzuordnen (van IJzendoorn u. Sagi, 1999, Keller, 2004). Die Begriffe »etisch« und »emisch« gehen in Analogie zu der linguistischen Unterscheidung zwischen Phonemik und Phonetik auf Pike zurück (Josephs, 2005). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Säugling, erwarten jedoch völlig unterschiedliche Konsequenzen. Während die amerikanischen Mütter meinen, die Babys würden durch das Stillen selbstbewusst und unabhängig, sehen die Nso-Mütter das Stillen als einen Weg der Eingliederung in die Gemeinschaft und zur Übertragung von »Nso-ness« (Keller, 2004). Interessant ist in diesem Zusammenhang auch eine Überlegung von Greenfield und Suzuki: »Vielleicht würden japanische Eltern, die ihr Kind durch Stillen oder Halten zum Einschlafen bringen, mit US-Experten darin übereinstimmen, dass diese Praxis Abhängigkeit verstärkt. Die Interpretation der Japaner wäre jedoch eine ganz andere. Sicherlich würden die Japaner der negativen Bewertung, dass Abhängigkeit ein Risikofaktor ist, der die Entwicklung eines Kindes beeinträchtigt, heftig widersprechen. Die Bewertung dieses Entwicklungsrisikos ist eindeutig kulturgebunden« (2000 zitiert nach Leyendecker, 2003, S. 415).

Keller (2004) betont in diesem Sinne, dass die Kernannahmen der Bindungstheorie über sichere Bindung und die damit postulierten sozial-emotionalen Kompetenzen sowie über sensitives Interaktionsverhalten kulturspezifisch zu untersuchen seien. Gegen die Annahme von van IJzendoorn und Sagi (1999, s. u.), dass sichere Bindung kulturübergreifend sei, spricht nach ihrer Auffassung auch das Konzept der mentalistischen Sprache. Dies ist ein Charakteristikum einer independenten Orientierung. Mütter mit interdependenter soziokultureller Orientierung verwenden jedoch einen anderen Diskursstil, der auf mentalistische Konzepte eher verzichtet, konkret und skeletthaft ist. Nach der Bindungstheorie müssten sie damit die Entwicklung sicherer Bindungsmuster behindern. Ahnert (2004) plädiert aus diesen Gründen für eine Abschaffung des Optimalitätstheorems, das nur ein Bindungsmuster als optimal bewertet. Wie Bowlby bezieht sie sich dabei auf evolutionsbiologische Überlegungen, aus denen sie folgert, dass gerade die »Plastizität genetisch prädisponierter Verhaltenstendenzen als die eigentliche evolutionäre Errungenschaft des Menschen« anzusehen sei (Ahnert, 2004, S. 79). Crittenden (2000, S. 369) stellt hierzu die provokative Frage, warum sichere © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Bindung, wenn sie denn so allgemeingültig vorteilhaft sei, wie berichtet werde, nicht im genetischen Erbgut fest verankert sei. Auch wenn man sich weniger auf die Evolutionsbiologie beziehen möchte, machen die Überlegungen zu unterschiedlichen Sozialisationszielen in verschiedenen kulturellen Kontexten deutlich, dass den diversen Bindungsmustern je nach sozialer Umgebung auch eine unterschiedliche Bedeutung zukommt. Es gibt allerdings Bindungsuntersuchungen, die auf der konzeptionellen Ebene ansetzen und so versuchen herauszufinden, ob sichere Bindung in anderen Kulturen als optimal gilt. Eine Überprüfung des Bindungskonstruktes bei chinesischen Eltern und Expert/-innen anhand eines Attachment Q-Sort, mit dessen Hilfe Verhaltensbeschreibungen des eigenen und eines »idealen« Kindes nach der Frage, inwiefern diese Beschreibungen zutreffend sind, geordnet werden sollen, zeigt beispielsweise, dass auch in China das Konstrukt der »sicheren Bindung« sowohl als real vorhanden als auch als ideal bewertet wird. Van IJzenddorn und Sagi (1999) schließen daraus, dass auch eine Orientierung an emotionaler Interdependenz nicht die Vorstellung der sicheren Bindung als »idealer Fall« beeinflusst. Dafür spricht ebenfalls, dass eine Studie in China, bei der die strange situation verwendet wurde, zeigt, dass auch die Verteilung der Bindungsmuster den euroamerikanischen Ergebnissen erstaunlich gleicht (68 % der Kinder wurden als sicher gebunden klassifiziert). Dazu ist allerdings anzumerken, dass beide chinesischen Studien in Peking und mit Angehörigen der Mittelschicht stattfanden. Da sich interdependente und independente Orientierungen in allen Kulturen zu unterschiedlichen Anteilen finden, stellt sich auch hier die Frage, welches Sozialisationsziel in diesen chinesischen Stichproben größeres Gewicht hatte. Van IJzendoorn und Sagi (1999) fassen in ihrem Überblick diese und weitere Studien aus verschiedenen afrikanischen Ländern und Ethnien, aus Japan und Israel zusammen und kommen zu dem Schluss, dass in allen Untersuchungen die Mehrzahl der Kinder als sicher gebunden klassifiziert wurde. Sichere Bindung scheint damit kulturübergreifend das häufigste Bindungsmuster zu sein. Sehr interessant ist diesbezüglich eine Beobachtung von Crittenden (2000), die Auswertungstrai© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

6.5 Kritische Einwände und Grenzen der Bindungsforschung

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nings zur strange situation mit Teilnehmern aus verschiedenen Ländern durchführte und dabei feststellte, dass Forscher sichere Bindungsmuster bei Stichproben aus dem eigenen Land tendenziell – wohlgemerkt aus Crittendens amerikanischer Perspektive – überschätzten. Offenbar wird kulturell »normales« Verhalten eher als »sicher« angesehen. Ein generelles Problem auch der kritischeren Ansätzen, wie beispielsweise der Herangehensweise von Keller, ist jedoch, dass auch sie mit »interdependent« und »independent« ein polarisierendes Begriffspaar benutzt, wie sonst auch in der Migrationsforschung oder kulturvergleichenden Psychologie Begriffspaare wie Egozentrismus/Individualismus vs. Soziozentrismus/ Kollektivismus verwendet werden, was die Gefahr birgt, die kulturelle Komplexität, die aus vielerlei Überschneidungen solcher Orientierungen besteht, zu ignorieren (Leyendecker, 2003). Ebenso ist zu beachten, dass auch die wenige vorhandene Kultur vergleichende Bindungsforschung lediglich kurze Momentaufnahmen festhält. Die Hypothese, dass sich gerade Mittelschichtsstichproben einander annähern, charakterisiert jedoch den kulturellen Wandel, dem sämtliche Gemeinschaften und Individuen unterliegen. In diesem Sinne muss Bindungsforschung nicht nur kultursensibel, sondern im Zweifelsfall auch einzelfallspezifisch vorgehen.

Bindungstheorie und Psychoanalyse »Es ist nicht der Verlust allein, der Störungen verursacht, sondern auch die Phantasien, die durch diesen Verlust geweckt werden […]« (Holmes, 2002, S. 21).

Die Wahrnehmung der Bindungsforschung in der Psychoanalyse ist insofern besonders interessant, als sich aufgrund von Bowlbys psychoanalytischer Ausbildung natürlich diverse Überschneidungen zeigen, die Psychoanalyse jedoch ein sehr viel weniger spezialisiertes Theoriegebäude darstellt und zudem vielfältige Kenntnisse aus der konkreten Behandlung von Patient/-innen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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gewinnt.114 Kritische Anmerkungen psychoanalytischer Autor/innen sind entsprechend geeignet, Schwachpunkte und Leerstellen der Bindungsforschung aufzuzeigen. Während die Psychoanalyse untersucht, wie innerpsychische Repräsentanzen – ab dem 12 – 18. Lebensmonat auch als symbolische Repräsentanzen – individuell aussehen und wie in ihnen äußere Ereignisse nachwirken, wird in der Bindungsforschung die Entwicklung von Bindungsmustern betrachtet, womit eine Beschränkung der Forschung auf diesen Aspekt der Persönlichkeit stattfindet (Köhler, 1998). In der Psychoanalyse wird dagegen von mehreren Motivationssystemen ausgegangen, wie etwa Oralität, Sexualität, Abhängigkeitsbedürfnissen etc. (Köhler, 1998), auch wenn die Rolle der Sexualität in neueren psychoanalytischen Ansätzen zunehmend relativiert wird (Dornes, 2004a). Eine weitere Einschränkung der Bindungsforschung besteht darin, dass sie jeweils nur »Momentaufnahmen« gestattet, es findet keine Langzeitbeobachtung und kein intensives Kennenlernen einer Persönlichkeit statt, so wie es in Psychoanalysen möglich ist (Köhler, 1998), in deren Rahmen zudem Arbeitshypothesen gemeinsam mit dem Klienten immer wieder überprüft werden können. Entwicklungsprozesse werden in der Bindungsforschung nicht individuell untersucht, es interessiert weniger, auf welche besondere Art und Weise jemand ein bestimmtes Lebensereignis verarbeitet, als vielmehr welche Auswirkungen dieses Ereignis auf das Bindungsmuster hat. Damit fällt ein wichtiger Bereich gerade in Bezug auf die individuelle Verarbeitung traumatischer Erlebnisse weg: nämlich die Rolle der Phantasie. Ein Hauptunterschied zwischen Bindungstheorie und Psychoanalyse ist die unterschiedliche Wertung von Außen- vs. Innenwelt, auch wenn moderne, interaktionell ausgerichtete psychoanalytische Ansätze sich hier der Betonung der Rolle der Umwelt annähern (Dornes, 2004a). Mit dieser Akzentsetzung geht jedoch auch einher, dass die Rolle, die unbewusste Phanta114

Für eine detaillierte Darstellung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Psychoanalyse und Bindungstheorie siehe auch die Arbeiten von Peter Fonagy hierzu, bspw. Fonagy, 1999, sowie die hier erwähnten Artikel von Dornes (1998, 2004) und Köhler (1998). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

6.6 Fazit und methodische Schlussfolgerungen

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sien jenseits eines bestimmten Bindungsmusters für die Beziehungsgestaltung spielen, in der Bindungsforschung nicht erkannt wird. So zitiert Dornes (2004a) einige sehr interessante Fallbeispiele, in denen unbewusste Phantasien der Mütter, die zum Teil transgenerational übertragen wurden, erhebliche Auswirkungen auf ihren Umgang mit den Kindern hatten. Eine Einbeziehung solcher Phantasien, oft durch reale eigene Erlebnisse ausgelöst, könnte unter Umständen auch aufdecken, warum die Feinfühligkeit und die Bindungsrepräsentanz der Eltern nur zum Teil die Entstehung eines Bindungsmusters beim Kind zu erklären vermag. Spezifische Einstellungen der Eltern zu jedem ihrer Kinder können auch Auskunft darüber geben, warum Geschwisterkinder über unterschiedliche Bindungsmuster verfügen, auch wenn die Bindungsrepräsentation der Eltern nicht wechselt. Die Psychoanalyse kann in dieser Hinsicht die Bindungsforschung um einige Aspekte bereichern, vor allem was Aussagen über »konkrete seelische Inhalte und Konflikte« (Dornes, 2004a), die sich nur in detaillierten Einzelfallstudien aufdecken lassen betrifft. Gleiches gilt für Familienthemen, die genau wie Bindungsmuster an die nächste Generation weitergereicht werden. Auch hier bieten psychoanalytische Studien viel mehr Informationen, als es die Aussage über einen bestimmten Bindungsstil vermag. So zeigt sich zum Beispiel, wie auch sicher gebundene Kinder von den ungelösten Konflikten ihrer Eltern beeinflusst sind und dass sichere Bindung keineswegs Konfliktfreiheit bedeutet (Dornes, 2004a). Als weitere wichtige Kritik nennt Köhler die Nichteinbeziehung des Übertragungsgeschehens in der Bindungsforschung. Gerade bei Methoden wie dem AAI ist jedoch zu vermuten, dass auch Übertragungsprozesse das Interview beeinflussen, und zwar auch von Seiten des Interviewenden.

6.6 Fazit und methodische Schlussfolgerungen Die Bindungstheorie beruht auf der Annahme, dass der Säugling mit einer angeborenen Bereitschaft, soziale Beziehungen aufzubauen, auf die Welt kommt und über ein entsprechendes Re© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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6 Bindungsforschung als ein Zugang

pertoire an Bindungsverhaltensweisen wie Weinen, Schreien, Lächeln, Anklammern etc. verfügt. Ziel dieser Verhaltensweisen ist vor allem bei Belastungen die Herstellung von Sicherheit gebender Nähe zur Bezugsperson. Die von der Bezugsperson vermittelte Sicherheit ist nicht nur in Gefahrensituationen für das Kind entscheidend, sondern bildet die Basis für das zweite wichtige Verhaltenssystem des Kindes, das Explorationssystem. Je nachdem, wie die Bezugsperson auf das Bindungsverhalten des Kindes reagiert, wird das Kind verschiedene Bindungsmuster entwickelt. Die empirische Bindungsforschung zeigt, dass die qualitativen Unterschiede zwischen sicheren und unsicheren Bindungsmustern mit vielen weiteren Aspekten der sozio-emotionalen Entwicklung und der Affektregulation zusammenhängen und insbesondere für den Umgang mit Stress und kritischen Lebensereignissen relevant sind. Ein sicheres Bindungsmuster gilt als ein wesentlicher Schutzfaktor. Frühe traumatische Erlebnisse der Kinder, vor allem im Rahmen der Bindungsbeziehungen oder ungelöster traumatischer Erlebnisse der Eltern, verhindern den Aufbau eines organisierten Bindungsmusters und erhöhen damit langfristig die Vulnerabilität des Kindes. Die Bindungsforschung hat es ermöglicht, die langfristig Bedeutung der frühen sozial-emotionalen Erfahrungen empirisch zu untersuchen, und ist mittlerweile einer der wichtigsten Forschungsansätze in der Entwicklungspsychologie. Nicht nur in der klinischen Psychologie und Psychiatrie werden die Ergebnisse zunehmend rezipiert, sondern auch in der Pädagogik und in den Neurowissenschaften (z. B. Schore, 2001a u. 2001b). Zu dem breiten interdisziplinären Interesse maßgeblich beigetragen hat dabei die auf quantifizierbare Ergebnisse angelegte methodische Ausrichtung, die zugleich einen der Hauptkritikpunkte darstellen. Quantifizierende Forschung beinhaltet immer eine Reduktion und konstituiert eine scheinbare Objektivität. Welche Aspekte von Bindung dabei verloren gehen, zeigen vor allem Überlegungen aus der psychoanalytischen Richtung. Kritisiert wird auch, dass die Betonung des Bindungskonzeptes Gefahr läuft, andere wichtige Aspekte der sozial-emotionalen und der

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6.6 Fazit und methodische Schlussfolgerungen

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Persönlichkeitsentwicklung sowie soziale Faktoren auszublenden. Auf theoretischer Ebene wird vor allem die postulierte und mit biologisch-ethologischen Argumenten gestützte Universalität des Konstruktes Bindung in Frage gestellt. Wie fraglich die Annahme eines universellen Bindungsverhaltens ist, zeigen besonders Kultur vergleichende Untersuchungen. Methodisch bietet die Bindungsforschung einen Zugang zu inneren Repräsentanzen insbesondere zu Beziehungserfahrungen und zu Verhaltensstrategien in emotional belastenden Situationen. Indem nicht speziell auf psychopathologische Fragestellungen fokussiert wird, sondern normale Entwicklungsverläufe nachgezeichnet werden, ist die Bindungsforschung besonders geeignet, um wesentliche Faktoren, insbesondere sichere Bindung als individuellen Schutzfaktor, aufzudecken, die unterschiedliche Entwicklungswege von Kindern mit einem ähnlichen Hochrisikohintergrund erklären könnten. Zudem ergibt sich die Möglichkeit, intergenerationale Prozesse zu untersuchen, indem Bindungsmuster in zwei Generationen untersucht werden können. Gerade bei einer Untersuchung mit Flüchtlingskindern muss allerdings die kulturelle Angemessenheit des Konstruktes sowie der Methoden genau untersucht werden.

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7 Methodische Anlage der Studie

Anlass für die vorliegende Studie ist das Interesse an der psychosozialen Lebenssituation und der subjektiven Erfahrungsverarbeitung von Flüchtlingskindern, die sich nicht in psychotherapeutischer Behandlung befinden. Zu dieser Gruppe von Flüchtlingskindern liegen bislang kaum Untersuchungen vor. Während in klinischen Stichproben über Kinder berichtet wird, bei denen sich deutliche Hinweise auf Traumatisierungen zeigen und die zugleich Hilfe erfahren, stellt sich die Frage, wie es den Kindern geht, die nicht psychotherapeutisch unterstützt werden. Es ist anzunehmen, dass sich in einer solchen Gruppe sowohl Kinder mit geringen Anzeichen von Belastung finden, an deren Beispiel sich die Bedingungen für günstige Entwicklungsverläufe ablesen lassen, als auch Kinder, bei denen die psychischen Folgen von Krieg und Flucht weniger offensichtlich sind und bislang unerkannt blieben. Insbesondere die in der Forschungsliteratur zu findenden Schilderungen der häufig erst langfristigen Folgen nach dem Erleben von Krieg und Flucht im Kindesalter und der oft ungleichzeitigen Entwicklung mit hohen Kompensationsfähigkeiten von Flüchtlingskindern sowie die theoretischen Ansätze zu Veränderungen auf der Ebene der innerpsychischen Repräsentanzen nach Traumatisierungen zeigen, dass Kinder in vielen Fällen nicht mit unmittelbaren und abgrenzbaren Symptomen reagieren. Ebenso können Traumatisierungen nur eingeschätzt werden, wenn gleichzeitig sequentielle und familiäre Prozesse in den Blick genommen werden. Methodisch bedeutet dies, dass für die Untersuchung der Frage, ob Traumatisierungsprozesse vorliegen oder nicht, ver© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

7.1 Interviews zu traumatischen Erlebnissen

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sucht werden muss, sowohl einen Zugang zur subjektiven Erfahrungsverarbeitung, zu intergenerationalen Prozessen als auch zu biographischen Hintergründen und zur allgemeinen psychosozialen Situation der Familien zu finden. Hinzu kommt, dass eine Forschungsarbeit zu Flüchtlingskindern nicht nur aufgrund der psychischen Belastung der Familien eine besondere Sensibilität erfordert, sondern dass Flüchtlingskinderforschung zugleich immer im interkulturellen Raum stattfindet und darüber hinaus stärker als andere Forschungssituationen von einem ungleichen Machtverhältnis geprägt ist. Bevor ich die einzelnen Methoden erläutere, gehe ich zunächst auf diese Aspekte ein.

7.1 Interviews zu traumatischen Erlebnissen Die Durchführung von Interviews mit Flüchtlingen ist immer mit der Abschätzung verbunden, wann eine Interviewsituation zu belastend wird, und zwar sowohl auf Seiten des Interviewten als auch des Interviewers. Wie stark dabei unbewusste Abwehr- und Vermeidungsreaktionen des Forschers die Interviewsituation beeinflussen, lassen die Erfahrungen von Hillel Klein mit den Erzählungen von Holocaust-Überlebenden ahnen: »Im allgemeinen waren die Kriegserzählungen der Überlebenden für die meisten Leute zu entsetzlich, um sie anzuhören oder zu glauben. Selbst wer bewusst und mitfühlend interessiert war, spielte sein Interesse herunter und rationalisierte sein Ausweichen mit der Sorge, Fragen könnten noch mehr Schmerz bereiten« (2003, S. 150).

Damit wird bei Forschungsinterviews nicht immer klar zu trennen sein, inwiefern der Interviewte nicht mehr weitererzählen möchte oder der Interviewer aus eigenen, oft unbewussten Gründen nicht mehr weiterfragt und damit nicht genügend Raum gibt, um Traumatisches zur Sprache zu bringen. Solche »Lücken im Material« sind typisch für Gespräche zu traumatischen Erlebnissen und spiegeln gleichermaßen die für traumatische Prozesse als charakteristisch beschriebene »Lücke im Aussprechbaren« als auch quasi eine »Lücke im Hörbaren«. Dori © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Laubs Ansatz (siehe Kapitel 3) bezieht sich auf dieses Zusammenspiel. Wie Haubl (2003) ausführt, ist es dabei für den Interviewer wichtig, die Grenzen seiner Einfühlung und seines Verstehens anzuerkennen, anstatt sich in eine Dynamik des Verstehenwollens zu verstricken. Letztere kann einer (unbewussten) Bemühung der »Wiedergutmachung« und dem Versuch, vom Interviewten im Gegensatz zu seinen Peinigern als »guter« Mensch anerkannt zu werden, dienen. Damit überfordert der Interviewer jedoch sowohl sich selbst als auch die Interviewsituation. Bei Interviews mit Flüchtlingen kommt hinzu, dass sich Forscher und »Beforschte« in einem ungleichen Machtverhältnis befinden. Der Forschende nimmt einerseits als Angehöriger der Mehrheitskultur die mächtigere Position ein, zu der in nicht unproblematischer Weise auch die Deutungsmacht über das Gesagte zählt, zugleich werden ihm jedoch als Repräsentant des Aufnahmelandes bestimmte Haltungen, Einstellungen etc. zugeschrieben, die ihn unter Umständen moralisch in Bedrängnis bringen. Vor allem Schuldgefühle können dazu beitragen, dass der Forschende als »anderer, guter, einfühlsamer Deutscher« etwa im Gegensatz zur Ausländerbehörde wahrgenommen werden will, anstatt im Zweifelsfall auszuhalten, dass ein Flüchtling auch einem gut meinenden Interviewer mit Misstrauen und eventuell Ablehnung begegnet. Für den Forschungsprozess bedeutet dies, sowohl dieses Machtverhältnis und damit verbundene Zuschreibungen zu reflektieren als auch anzuerkennen, dass – insbesondere bezogen auf traumatische Erlebnisse – Interviewer und Interviewte gleichermaßen mit einer Grenze des gegenseitigen Verstehens konfrontiert sind. Der Interviewte muss dabei lernen, dass andere seine Erlebnisse nur bedingt nachfühlen und teilen können (Haubl, 2003). Erfahrungen aus Forschungsprojekten mit traumatisierten Personen zeigen, dass es trotz der Sensibilität und Erfahrung, die solche Gespräche erfordern, nicht unbedingt günstiger ist, wenn spezialisierte Traumatherapeut/-innen die Interviews führen. Therapeut/-innen geraten offenbar schneller in die Gefahr, die Interviewsituation zur therapeutischen Intervention werden zu © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

7.1 Interviews zu traumatischen Erlebnissen

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lassen und damit uneinlösbare Versprechen einzugehen.115 Haubl (2003) schlägt deshalb vor, Interviewer entsprechend zu schulen und zu supervidieren. Forschungssupervision nahm von daher in der vorliegenden Untersuchung einen wichtigen Stellenwert ein. Sie diente nicht nur der Erweiterung der Interpretation (s. u.), sondern vor allem auch einer Anpassung des methodischen Vorgehens an die jeweiligen Bedürfnisse der einzelnen Familien. Dazu gehörte bei einigen Familien, die Position der »nur Forschenden« zu verlassen und den Gesprächen stattdessen einen stützenden oder beratenden Charakter zu geben bzw. in Einzelfällen einen Therapieplatz zu vermitteln. Während in einem Interview ein Kontakt hergestellt werden konnte, der auch ein Erzählen über traumatische Erlebnisse ermöglichte und unter Umständen für den Erzählenden eine entlastende Funktion hatte116, war es in anderen Fällen angemessener, ein Interview wegzulassen, zu verkürzen oder zu beenden. Damit unterscheidet sich trotz eines klaren Untersuchungsdesigns (s. u.) auch das erhobene Material von Fall zu Fall. Im Verlauf der Untersuchung wurden aus diesen Gründen informelle Gespräche, Protokolle der einzelnen Forschungskontakte sowie die Interpretation von Gegenübertragungsprozessen, also meiner Gedanken, Gefühle und Phantasien vor, während und nach den Forschungsgesprächen, zu weiteren wichtigen Erkenntnisquellen. Zudem wurden in die Untersuchung von vornherein nur Familien einbezogen, bei denen zumindest ein Elternteil Kontakt zu einer Beratungsstelle oder zu einer Therapeutin oder einem Therapeuten hatte. Insbesondere für die Mütter stellte die Forschungssituation damit nicht das erste biographische Gespräch dar. 115

Ähnliches gilt übrigens auch für die Durchführung des AAIs. Hier neigen Therapeut/-innen eher zu suggestiven Fragen als andere Interviewer. 116 Zur Frage, inwieweit Erzählen im Rahmen von Forschungsinterviews eine entlastende Wirkung haben kann, siehe die Studie von Ilka Quindeau (1995) zu autobiographischen Erzählungen von Holocaust-Überlebenden. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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7.2 Forschen im interkulturellen Raum So genannte »kulturelle Sensibilität« wird in der psychologischen Forschung auf sehr unterschiedliche Art und Weise realisiert. Zumeist fungiert »Kultur« dabei – wie auch in der dargestellten Bindungsforschung – als »unabhängige Variable«, wobei ignoriert wird, dass es sich mitnichten um einen statischen Faktor handelt. Eine solche Herangehensweise schied für die vorliegende Arbeit nicht nur aus diesen grundsätzlichen Erwägungen aus, sondern auch aufgrund der kulturellen Heterogenität Bosniens und der per se von kulturellem Wandel geprägten Situation der Flüchtlinge. Ich definiere Kultur im Folgenden nach Shweder und LeVine (1984) sehr offen als »shared discourse«, »shared norms and values« oder »shared scripts«. Individuen sind demnach immer Angehörige mehrerer »Kulturen«: Sie können zugleich deutsch und bosnisch sein, zugleich zur Gruppe der Akademiker/-innen und zur Gruppe der Migrant/-innen gehören. Auf diese Weise lässt sich die Zugehörigkeit zur Gruppe der in Berlin lebenden bosnischen Flüchtlingsfamilien als eine Zugehörigkeit beschreiben, die Heterogenität dieser Gruppe bleibt dabei erhalten. »Kultur« oder vielmehr die – wechselnde – Zugehörigkeit zu Kulturen stellt zudem immer einen Prozess dar. Kulturzugehörigkeit ist nichts Abgeschlossenes, sondern entwickelt sich in der Auseinandersetzung einer Person mit der sie umgebenden kulturellen Welt (Josephs, 2005). Insofern sind auch Aussagen über kulturelle Unterschiede immer nur Momentaufnahmen. Während feste Zuschreibungen oder die Interpretation gefundener Ergebnisse als »kultureller Unterschied« die Gefahr bergen, kulturelle Differenzen zu überschätzen, birgt eine solche offene Definition die Gefahr, sie zu unterschätzen: Sehe ich beispielsweise meine Gesprächspartner in erster Linie als »Berliner Kinder und Jugendliche«, wie es mir weitgehend während des Forschungsprozesses erging, so kann es sein, dass ich bestimmte Aussagen nicht als Ausdruck eines spezifischen kulturellen und mir unbekannten Hintergrundes erkennen kann. Gleichzeitig belegt eine solche Einschätzung die oft zahlreichen Gemein© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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samkeiten, die Angehörige verschiedener Kulturen miteinander teilen. Der Versuch, mit kultureller Zugehörigkeit möglichst ohne Vorannahmen umzugehen, hat jedoch Grenzen. Als Forschende und Beschreibende bewege ich mich in Bezugssystemen und stütze mich auf theoretische und methodische Ansätze, die die Bedeutungsmuster meiner eigenen Kultur widerspiegeln. Dies gilt besonders für den in der vorliegenden Arbeit verwendeten Ansatz der Bindungsforschung, aber auch generell für die Verwendung psychologischer Begrifflichkeiten und die damit verbundenen impliziten Annahmen über Subjektivität, Identität, psychische Entwicklungsprozesse, Trauma etc. In der vorliegenden Arbeit wurde deshalb versucht, die Interpretation der Interviews durch den Einbezug weiterer Forscher/-innen mit diversen kulturellen Hintergründen zu erweitern. Aus diesem Grund wurden vor allem in die Interpretation der Bindungsinterviews, bei denen sich im Forschungsprozess am deutlichsten die Frage nach kulturellen Aspekten stellte, eine Ethnologin und eine Psychologin mit bosnischem Hintergrund im Rahmen einer Expertenvalidierung (s. u.) miteinbezogen.

7.3 Methodisches Vorgehen Um einen möglichst multiperspektivischen Zugang zur Erfahrungsverarbeitung der Kinder realisieren zu können und um mit den Besonderheiten von Traumatisierungen und kultureller Diversität angemessen umzugehen, habe ich ein exploratives, qualitatives und einzelfallorientiertes Vorgehen gewählt. Dafür wurden zum einen unterschiedliche Methoden miteinander kombiniert und zum anderen verschiedene Perspektiven in den Forschungsprozess miteinbezogen, indem nicht nur zwei Generationen – Kinder und Eltern – interviewt wurden, sondern an der Datenerhebung, Datenauswertung und Interpretation verschiedene Forscher/-innen und Ex© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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pert/-innen mit unterschiedlichen soziokulturellen Hintergründen beteiligt waren.117 Methodisch habe ich dabei aus sehr verschiedenen Ressourcen geschöpft. Für die Frage nach der Erfahrungsverarbeitung der Kinder standen Untersuchungsansätze, die sich gedächtnistheoretisch auf die implizite Erfahrungsverarbeitung beziehen, im Mittelpunkt. Dazu gehören Methoden der Bindungsforschung sowie ein projektives Verfahren, die beide als eine Möglichkeit des Zugangs zu inneren Repräsentanzen auch im außerklinischen Setting eingesetzt wurden. Hinzugenommen wurden psychodiagnostische Fragebögen zu Verhaltensproblemen und möglichen traumareaktiven Symptomen, wie Depression und Angst. Um Einblicke in intergenerationale Prozesse zu erhalten, aber auch zur Erhebung biographischer Hintergründe und der aktuellen Lebenssituation der Flüchtlingsfamilien wurden mehrere, zum Teil leitfadengestützte Interviews mit den Eltern, zumeist den Müttern, geführt. Die Mütter nahmen zudem an einem Adult Attachment Interview teil, welches ermöglichte, etwas über die gegenseitige Wahrnehmung von Müttern und Kindern, über Unterstützungsmöglichkeiten innerhalb der Familie und die Bedeutung von Bindungsmustern zu erfahren. Sie füllten darüber hinaus einen Fragebogen zu möglichen Problemen des Kindes aus. Zusätzlich wurden Gedächtnisprotokolle von jedem Forschungsgespräch angefertigt. Indem ich verschiedene Ansätze kombiniere, kombiniere ich auch verschiedene wissenschaftstheoretische Positionen, die sich zum Teil widersprechen. So verfolgt die Bindungsforschung, wie in 117

Im Einzelnen waren folgende Personen beteiligt: Eine Psychologin und eine Ethnologin mit bosnischem Hintergrund nahmen eine Expertenvalidierung zu den Bindungsinterviews vor, eine Psychologiestudentin mit bosnischem Hintergrund führte die AAIs und übersetzte z. T. bei den Gesprächen mit den Eltern, eine in der Auswertung des BISK reliable Psychologin wertete die BISK hinsichtlich der Bindungskriterien aus, eine weitere Psychologin mit Reliabilität und sehr großer Erfahrung in der Auswertung von AAIs übernahm die Bindungsklassifikation, eine Kindertherapeutin fertigte eine »blinde« Interpretation von zwei Schwarzfuß-Tests an. Die Einzelfälle wurden im Rahmen einer Forschungssupervision sowie in Forschungskolloquien und zwei interdisziplinären Arbeitsgruppen diskutiert. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Kapitel 6 dargestellt, einen quantitativ-statistischen Ansatz, dessen Objektivität insgesamt wenig hinterfragt wird. Dies spiegelt sich in den Klassifikationsverfahren, mit denen das erhobene Material quantifiziert wird, aber auch in einigen grundsätzlichen Annahmen, beispielsweise über die Universalität des Bindungskonstruktes. Ähnliches gilt für die verwendeten psychodiagnostischen Fragebögen. In beiden Fällen wurde die Möglichkeit der Quantifizierung in der vorliegenden Arbeit als ein erster Analyseschritt des vorhandenen Materials und zur Beantwortung von fallübergreifenden Fragen eingesetzt. Der Fokus der Untersuchung liegt jedoch auf Einzelfallanalysen, für die neben diesen Informationen sämtliche Interviews, das projektive Verfahren und die Gedächtnisprotokolle qualitativ – im Sinne einer verstehenden Fallrekonstruktion – interpretiert wurden. Bei einem solchen Vorgehen wird die Subjektivität jedes Forschungsprozesses anerkannt und von einem objektiven Wahrheitsbegriff zugunsten einer größtmöglichen Annäherung abgesehen. Der Forschungsprozess als solcher und Gegenübertragungsprozesse werden als zusätzliche Erkenntnisquelle und nicht als »Störvariablen« betrachtet. Mit dem wachsenden Interesse von Klinikern an der Bindungsforschung ist eine solche Einbindung von bindungstheoretischen Überlegungen in Einzelfallinterpretationen kein Novum mehr (siehe bspw. die Beiträge von Ursula Götter, Konstantin Prechtl und Susanne Hauser in Endres u. Hauser, 2002), aber immer noch sehr selten. Überwiegend werden im Rahmen klinischer Fallstudien nicht tatsächlich in der Bindungsforschung entwickelte Methoden eingesetzt, sondern Bindungsmuster aus dem Fallmaterial erschlossen. Für die vorliegende Studie wurden Bindungsmuster dagegen mit in der Bindungsforschung validierten Methoden erhoben und die Klassifikation wurde von unabhängigen Auswerter/-innen übernommen. Für die Einzelfallanalysen wurden darüber hinaus auch die Bindungsinterviews inhaltsbezogen und orientiert an den leitenden Fragestellungen ausgewertet. Der Einsatz verschiedener Methoden diente nicht nur dazu, die Basis der Erkenntnisgewinnung zu erweitern, sondern es wurde auch die Möglichkeit genutzt, die mit den unterschiedlichen Methoden erhobenen Ergebnisse miteinander zu vergleichen. In der qualitativen Sozialforschung gilt eine solche »Daten© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Triangulation« als eine Möglichkeit der Validierung der Ergebnisse (Mayring, 1996). Die Frage der Validität der vorgeschlagenen Interpretationen stellt sich bei einer einzelfallorientierten, im Bereich klinischer Entwicklungspsychologie anzusiedelnden Untersuchung, die jedoch nicht im therapeutischen Setting stattfindet, auf besondere Weise. Im Gegensatz etwa zu einer im klinischen Rahmen erarbeiteten Einzelfallstudie ermöglichen Forschungsinterviews es nur sehr begrenzt, die aufgestellten Hypothesen und Deutungen gemeinsam mit den Gesprächspartnern beziehungsweise anhand ihrer Reaktionen, etwa indem im weiteren Therapieverlauf Selbstreflexionsprozesse initiiert werden, zu überprüfen. Auch die in der qualitativen Sozialforschung teilweise eingesetzte Methode der kommunikativen Validierung ließ sich im vorliegenden Fall nur begrenzt anwenden. Unter kommunikativer Validierung wird verstanden, dass Interpretationsergebnisse ins Feld zurückgetragen und dort zusammen mit dem Beforschten überprüft werden. Als Kriterium für die Güte der Interpretation gilt dabei, ob die Beforschten die Ergebnisse nachvollziehbar und relevant finden (Mayring, 1996; Bortz u. Döring, 1995). Dieses Vorgehen hat den Vorteil, dass nicht nur die Angemessenheit der Interpretation eingeschätzt werden kann, sondern auch das angesprochene ungleiche Machtverhältnis zwischen den Interviewpartnern zumindest partiell aufgehoben wird. Im Fall von psychologischen Interpretationen, bei denen auch mögliche Abwehr- und Vermeidungsprozesse analysiert werden, bedarf ein solches Vorgehen jedoch ebenfalls eines therapeutischen Rahmens und eines stabilen Kontaktes. Die Interpretation bleibt damit ein subjektiver Prozess der Forscherin. In der vorliegenden Untersuchung wurde versucht, diese Subjektivität durch die Berücksichtigung alternativer Interpretationsvorschläge einzugrenzen. Die Analyse der Einzelfälle erfolgte dafür immer sowohl im Rahmen einer Forschungssupervision als auch durch Fallvorstellungen im Rahmen von Kolloquien und Arbeitsgruppen. In die Falldarstellungen wurden so unterschiedliche Perspektiven einbezogen und miteinander kontrastiert. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Zusätzlich wurde die von Leuzinger-Bohleber entwickelte Methode der Expertenvalidierung (Leuzinger-Bohleber, Rüger, Stuhr u. Beutel, 2002) eingesetzt. Dafür wurden zwei Expertinnen ausgewählte Interviews vorgelegt, anhand derer sie eine schriftliche Einschätzung insbesondere zu Fragen des kulturellen Hintergrundes, Besonderheiten in der Familienstruktur und zur Bedeutung von kulturellen Aspekten bei den Bindungsinterviews vornahmen.118 Als Expertinnen ausgewählt wurden dafür eine Psychologin und eine Ethnologin, die beide über eingehende Kenntnisse sowohl der bosnischen als auch der deutschen Kultur verfügen und zudem in Deutschland mit bosnischen Flüchtlingen gearbeitet haben.119 Die Angemessenheit der Interpretation des projektiven Schwarzfuß-Tests wurde exemplarisch überprüft, indem zwei erfahrene Kindertherapeutinnen eine »blinde« Interpretation von zwei Testprotokollen anfertigten. Sie verfügten dabei lediglich über Angaben zum Alter und zum Geschlecht des Kindes und waren informiert, dass es sich um ein »Flüchtlingskind« handelt. Weitere biographische Informationen lagen ihnen nicht vor. Insgesamt wurden die von Mayring (1996) formulierten Gütekriterien der qualitativen Sozialforschung auch für die vorliegende Arbeit als Maßstab gewählt. Dazu zählen: – Verfahrensdokumentation/Transparenz: Der Forschungsprozess wird für den Leser nachvollziehbar dokumentiert. 118

Die gestellten Fragen und Interviewausschnitte sowie die ausführlichen Antworten beider Expertinnen befinden sich im Materialband. 119 Die Expertinnen waren Mirta Dedic-O’Beirne und Enida Delalic, bei denen ich mich an dieser Stelle sehr herzlich bedanken möchte. Mirta Dedic-O’Beirne stammt aus Bosnien, studierte Psychologie in München und lebt und arbeitet in Deutschland. Bindungsforschung war ein Schwerpunkt ihres Studiums, mit Flüchtlingsfamilien hat sie in verschiedenen Kontexten psychotherapeutisch gearbeitet. Enida Delalic ist Ethnologin, ihre Familie stammt ebenfalls aus dem ehemaligen Jugoslawien. Sie selbst hat Forschungsinterviews mit bosnischen Flüchtlingsfrauen durchgeführt und in einem psychosozialen Zentrum für Flüchtlinge mitgearbeitet. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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– Argumentative Verfahrensabsicherung: Interpretationen sollen argumentativ so belegt werden, dass sie in sich schlüssig sind. Über die Suche nach Alternativdeutungen und deren Überprüfung wird ein möglichst tiefes Verständnis des Forschungsgegenstands erreicht. – Regelgeleitetheit: Trotz des »Prinzips der Offenheit« (s. u.) handelt es sich um ein explizites und regelgeleitetes Vorgehen. – Nähe zum Gegenstand.

7.4 Forschungsfragen Während die qualitative Forschung im Allgemeinen vorsieht, nicht hypothesengeleitet vorzugehen, habe ich dieses Prinzip der Offenheit insofern variiert, als ich sowohl aufgrund der Entscheidung, Methoden der Bindungsforschung einzusetzen, die bestimmte Forschungsfragen nahelegen, als auch aufgrund der Erfahrungen mit der eigenen Untersuchung zu Flüchtlingskindern im Jahr 1998, leitende Fragestellungen für einige Bereiche formuliert. Ich gehe dabei davon aus, dass ein solches Sichtbarmachen von Vorannahmen zu einer Transparenz des Forschungsprozesses beitragen kann und nicht unausweichlich dazu führt, sich den Blick auf Neues oder Widersprüchliches zu verstellen. Die Formulierung konkreter Fragestellungen bot sich auch aus dem Grunde an, als sich die Arbeit mit zwei sehr dominanten Forschungsparadigmen, »Trauma« und »Bindung«, auseinandersetzt. Diese Konzepte werden hier gleichermaßen zum Einsatz gebracht und auf ihre Relevanz für den Flüchtlingskinderbereich überprüft. Auf diese Weise geht die Arbeit explorativ und Hypothesen generierend vor. Dies bezieht sich auch – oder sogar gerade – auf bindungsbezogene Fragestellungen, da bislang weder Bindungsuntersuchungen zu Flüchtlingskindern noch zu Personen aus Bosnien oder dem ehemaligen Jugoslawien existieren und insbesondere die Frage möglicher kulturspezifischer Aspekte für diese Gruppe damit erstmalig untersucht wird. Das inhaltliche Interesse gliedert sich in drei Bereiche: © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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1. Annäherung an die subjektive Erfahrungsverarbeitung von Flüchtlingskindern: Welche Hinweise auf Belastungen und potenzielle Traumatisierungen, aber auch auf mögliche Bewältigung zeigen sich bei den Kindern? Hierbei steht an erster Stelle, etwas über die Flüchtlingskinder, die sich nicht in psychotherapeutischer Behandlung befinden, zu erfahren. Haben sie weniger potenziell Traumatisches erlebt, hatten sie bessere Verarbeitungsmöglichkeiten, wie zeigen sich möglicherweise dennoch bestehende Traumatisierungen? 2. Welches Zusammenspiel zwischen Trauma und Bindung zeigt sich? Die Rolle der Bindungssicherheit soll als ein besonderer Aspekt der Erfahrungsverarbeitung untersucht werden. Sowohl Ergebnisse aus der Trauma- als auch aus der Bindungsforschung legen nahe, dass Auftreten und Schwere von Folgen psychischer Traumatisierungen bei Kindern insbesondere von der emotionalen Verfügbarkeit unterstützender Bezugspersonen und einem sicheren Bindungsmuster abhängen. Der Zusammenhang traumabezogener Folgen sowohl mit dem Bindungsmuster des Kindes als auch mit dem Bindungsmuster der Mutter soll deshalb besonders in den Blick genommen werden. Da die bisherige Forschung gezeigt hat, dass Traumatisierungen zu äußerst unterschiedlichen psychischen Folgen führen können und zur Entwicklung diverser psychopathologischer Symptome beitragen (siehe Kapitel 3, 4 und 5), wird nicht vorab festgelegt, welche Symptome, Verhaltensprobleme etc. als Traumafolgen gelten. Den in Kapitel 3 vorgestellten psychoanalytischen Traumadefinitionen folgend, werde ich dann von Traumafolgen sprechen, wenn sich ein inhaltlich-biographischer Zusammenhang zwischen einem traumatisierenden äußeren Ereignis, bzw. nach Keilson einer traumatischen Sequenz, und der je individuellen Reaktion zeigt. Um die Bedeutung der Bindungsrepräsentanzen für die interviewte Gruppe einschätzen zu können, werden zudem kulturspezifische Aspekte untersucht. Hier stellt sich sowohl die Frage, inwiefern sich in den Interviews Besonderheiten zeigen,

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die kulturbedingt sein können, als auch die Frage, inwieweit die verwendeten Forschungsmethoden kulturell angemessen sind. 3. Sequentielle Traumatisierung: Wie beschreiben die Flüchtlinge ihre (psycho-)soziale Situation in Deutschland und welchen Einfluss hat diese auf eventuelle Traumatisierungsprozesse? Wie dargestellt, können Flüchtlingserfahrungen als sequentielle Traumatisierungen nach dem Konzept von Keilson beschrieben werden, bei dem der Situation im Aufnahmeland eine eigene traumatische Qualität zukommt. Es stellt sich damit die Frage, welche Hinweise auf sequentielle Traumatisierungsprozesse sich bei den interviewten Familien zeigen. Zum Interviewzeitpunkt bestand bereits seit zwei Jahren die Möglichkeit, eine Aufenthaltsbefugnis nach der Traumaregelung zu erhalten. Es ist von daher besonders interessant zu sehen, ob und wie diese Regelung die Situation der Flüchtlinge verändert hat. Bei der abschließenden kritischen Diskussion der verwendeten theoretischen Konzepte sowie der eingesetzten Methoden, geht es um die Frage, inwiefern sich die Konzepte »Trauma« und »Bindung« im Flüchtlingsbereich als erkenntnisträchtig erweisen. Während bei der Einschätzung von Möglichkeiten und Grenzen der Bindungsforschung vor allem methodische Fragen im Vordergrund stehen, ist traumatheoretisch von besonderem Interesse, welche Traumamodelle als angemessen gelten können, aber auch, welche Themen sich jenseits von Trauma abzeichnen.

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7.5 Beschreibung der angewandten Methoden

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7.5 Beschreibung der angewandten Methoden Erhebung der Bindungsmuster der Kinder : Bindungsinterview Späte Kindheit (Zimmermann u. Scheuerer-Englisch, 2000) Das Bindungsinterview dient sowohl als ein Zugang zu den inneren Repräsentanzen der Kinder, als auch dazu, zu untersuchen, inwiefern sie mit ihrem Bindungsmuster eventuell über einen individuellen Schutzfaktor verfügen und welchen Einfluss dieser auf die Erfahrungsverarbeitung hat. Dieses Interview erlaubt Aussagen über die kindliche Repräsentation der emotionalen Verfügbarkeit der Eltern bei emotionaler Belastung, über Bindungsverhaltensweisen bei emotionaler Belastung, wie Kummer oder Angst, und über Bindungsverhaltensweisen bei Alltagsproblemen, wie Streit oder Angst vor Klassenarbeiten. Aus diesen Informationen kann abgeleitet werden, ob ein Kind sicher oder unsicher gebunden ist. Das Bindungsinterview Späte Kindheit (BISK, Zimmermann u. Scheuerer-Englisch, 2000; Zimmermann u. Scheuerer-Englisch, 2003) ist ein halbstrukturiertes Interview, das für acht bis dreizehnjährige Kinder entwickelt wurde und mit dessen Hilfe sowohl Bindung auf der repräsentationalen Ebene als auch Bindungsverhalten erfasst werden soll. Im Gegensatz zum Adult Attachment Interview (AAI) basiert es damit wesentlich mehr auf der Erfragung konkreter Verhaltenweisen, und zwar sowohl von den Kindern als auch von den Eltern. Entwickelt wurde das BISK von Peter Zimmermann und Hermann Scheuerer-Englisch als eine Methode für die Bielefelder Längsschnittstudie zur Bindungsentwicklung. Im Rahmen dieser Studie wurde das BISK längsschnittlich validiert und gezeigt, dass bei einer Repräsentation der Eltern als unterstützend und nicht zurückweisend im BISK im Alter von zehn Jahren eine sichere Bindungsrepräsentation im AAI im späteren Jugendalter vorhergesagt werden konnte, sofern nicht bindungsbezogene Risikofaktoren, wie eine längere Trennung von den Eltern oder Scheidung, hinzukamen (Zimmermann et al., 2000). Die Bindungsorganisation wird auf drei Ebenen erfasst: © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

Bindungsinterview Späte Kindheit (BISK) nach Peter Zimmermann und Hermann Scheuerer-Englisch (2000, 2003) Sprache: deutsch Auswertung nach Bindungsmanual von unabhängiger Auswerterin

Schwarzfuß-Test »Patte Noire« (Corman, 1995) Parallelform mit Schäfchen für muslimische Kinder, Auswertung zusammen mit Supervisoren und Validierung mit »blinden« Auswerterinnen

Youth Self Report Form - Depressions-Inventar Kinder und Jugendliche DIKJ - Childhood PTSD Reaction Index

projektives Testverfahren

Psychodiagnostik

bosnische Flüchtlingskinder 9 – 14 Jahre (n=11)

Bindungsuntersuchung

Forschungsmethoden (multimethodisch)

Tabelle 2: Übersicht über das Untersuchungsdesign

Child Behavior Checklist Kriterium Trauma-Gutachten der Eltern

Erwachsenenbindungsinterview (Adult Attachment Interview) nach C. George, N. Kaplan u. M. Main (unveröff.) Durchführung von geschulter bosnischer Psychologie-Studentin auf bosnisch, Auswertung nach Bindungsmanual von unabhängiger Auswerterin

Mütter (n=10), Väter (n=3)

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bosnische Flüchtlingskinder 9 – 14 Jahre (n=11) Mütter (n=10), Väter (n=3)

Beratung/Therapievermittlung bei Bedarf

teilweise ergänzend: Biographisches Leitfadeninterview Fragen nach Erinnerungen, Vaterverlust, Fragen zu Familiengeschichte, traumatoFlüchtlingsdasein, besonderen Problemen. genen Erlebnissen Fluchtgeschichte, Aufenthaltsstatus, Exilsituation phys./psych. Beschwerden der Eltern Kommunikation mit dem Kind über belastende Ereignisse multiperspektivisch: Berücksichtigung verschiedener Interpretationsvorschläge durch Supervision und Expertenvalidierung bei der Dateninterpretation

Leitfaden-Interview und Anfertigung von Gedächtnisprotokollen zur Forschungssituation

Forschungsmethoden (multimethodisch)

(Fortsetzung)

7.5 Beschreibung der angewandten Methoden

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7 Methodische Anlage der Studie

1. Repräsentationale Ebene: Die kindliche Repräsentation von der emotionalen Verfügbarkeit der Eltern (oder anderer bedeutsamer Bezugspersonen) bei emotionaler Belastung wird erfasst. 2. Verhaltensebene: Beurteilt wird das berichtete Bindungsverhalten in emotionalen Belastungssituationen, bspw. bei Angst, Ärger, Kummer, Traurigkeit, sowie bei Alltagsproblemen (Streit mit den Eltern, Angst vor Klassenarbeiten etc.). 3. Verbal-emotionale Ebene: Hier wird der Zugang zu bindungsrelevanten Gedanken und Gefühlen beurteilt, indem die Kohärenz bzw. Inkohärenz der Antworten und die Art des verbalen emotionalen Ausdrucks erhoben wird. Die Fragen des Interviews orientieren sich an der Alltagswelt von Kindern. Sie beziehen sich auf Hobbys, Situationen in der Schule, im Freundeskreis und zu Hause und betreffen zunehmend emotional wichtige und bindungsrelevante Themen (Kellinghaus, 2002). Zentral sind die Fragen nach dem Umgang mit Angst, Ärger und Trauer. Gefragt wird beispielsweise: – – – –

Was macht dich traurig? Was tust du, wenn du traurig bist? Gibt es etwas, wovor du Angst hast? Was machst du dann? Was macht dich ärgerlich? Was tust du, wenn du ärgerlich bist? Wenn es dir nicht gut geht (wenn du traurig bist, wenn du Angst hast, wenn du dir wehgetan hast, wenn du ärgerlich bist, wenn du etwas angestellt hast), was tust du dann?

Diesen Fragen folgen jeweils bestimmte Nachfragen über die Situation, das Verhalten des Kindes und die Reaktion der Eltern, wie beispielsweise: – Zu wem gehst du dann? Merken deine Eltern, wenn es dir nicht gut geht/du Kummer hast/wütend bist /traurig bist etc.? Wie reagieren sie dann? Fällt dir eine Situation ein, in der du mal ängstlich/traurig/wütend warst? Wie war das? Wer kann dich gut trösten? Die vollständigen Interviewfragen finden sich bei Zimmermann und Scheuerer-Englisch (2000). Das BISK dauert zwischen sechzig und neunzig Minuten und wird auf Video aufgezeichnet. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

7.5 Beschreibung der angewandten Methoden

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Durchführung und Auswertung erfordern eine entsprechende Schulung. Die Auswertung des BISK erfolgt anhand von Skalen. Der folgende kurze Überblick über die skalenorientierte Auswertung basiert auf der detaillierten Beschreibung der einzelnen Skalen von Kellinghaus (2002): Auf der Skala »Unterstützende versus nicht-unterstützende Repräsentation der Eltern« wird eingeschätzt, ob die Eltern bzw. Bezugspersonen wahrnehmen, wie sich das Kind fühlt, wie einfühlsam sie darauf reagieren, ob ihre Reaktion für das Kind hilfreich ist und ob sie es bei der Emotionsregulation unterstützen und trösten können. Zentrale Themen sind Trennungssituationen, Alleinsein (vor allem abends), Situationen, in denen das Kind Angst, Kummer oder Schmerz empfindet, Krankenhausaufenthalte oder Arztbesuche und Situationen, in denen die Eltern mit Liebesentzug reagieren können. Die Grundlage für die Beurteilung ist der Bericht episodischen Wissens: Benutzt das Kind Konjunktive, die seine Aussagen abschwächen, widerspricht es sich im Laufe des Interviews oder erzählt es keine Beispiele, so sind die (meist positiven) Aussagen über die Eltern nicht einschätzbar und es wird – korrespondierend zur »Idealisierung« im AAI – ein niedriger Skalenwert vergeben. Die Skalenwerte reichen von 5 für »sehr unterstützend« bis 1 für »nicht unterstützend«, letzteres bedeutet, dass in keiner relevanten Situation, die im Interview angesprochen wird, die Bezugspersonen als glaubhaft unterstützend geschildert werden. Für die Auswertung der Skala »Verhaltensstrategien im Umgang mit spezifischen emotional belastenden Situationen« wird zunächst für jede einzelne im Interview erfragte emotional belastende Situation (Angst, Kummer, Ärger, Testangst, Weinen und Ärger bei Konflikten mit Bezugspersonen) die Verhaltensstrategie beurteilt. Anschließend wird anhand dieser Ergebnisse eine Gesamtstrategie ermittelt. Die Verhaltenstrategien werden dabei auf einem Kontinuum zwischen Beziehungsorientiertheit und Nicht-Beziehungsorientiertheit bzw. Beziehungsvermeidung eingeordnet: © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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7 Methodische Anlage der Studie

Beziehungsorientiert (Skalenwerte vier und fünf) handelt ein Kind, wenn es Gefühle von Angst, Kummer, Hilflosigkeit etc. seinen Bezugspersonen offen zeigt oder in belastenden Situationen deren Nähe, Sicherheit und Trost bei ihnen sucht. Beziehungsvermeidend (Skalenwert eins und zwei) verhält sich ein Kind, wenn es bei emotionaler Belastung seinen Bezugspersonen keine Gefühle zeigt, falsche, unbeschwerte Gefühle vorspielt oder in solchen Situationen versucht, alleine mit der Belastung zurechtzukommen, und sich aus Beziehungen zurückzieht. Ein Skalenwert von drei markiert eine ambivalente Verhaltensstrategie, in der sowohl beziehungsorientiert als auch beziehungsvermeidend gehandelt wird. Mit der Skala »Kohärenz des sprachlichen Ausdrucks« wird ähnlich zum AAI erfasst, inwiefern Antworten widersprüchlich, vage, knapp, ausweichend etc. sind. Die Skala stellt eine wichtige Ergänzung zur Einschätzung des Bindungsmusters dar, da z. B. viele sehr knappe Antworten zur unsicher-vermeidenden Bindungsstrategie passen, während ein häufiger vager Ausdruck und eine hohe Widersprüchlichkeit auf ein unsicher-ambivalentes Bindungsmuster verweisen. Im Zusammenhang mit möglichen intergenerationalen Traumatisierungsprozessen sind zwei Zusatzskalen interessant, die einmal die Belastung des Kindes durch die Bezugsperson sowie eine mögliche Parentifizierung erfassen sollen. Als »Belastung des Kindes durch elterliches Verhalten« werden beispielsweise unangemessener Leistungsdruck sowie konkret belastende Erziehungsmaßnahmen oder Missbrauch verstanden. Als »Parentifizierung« wird gewertet, wenn das Kind Teilaufgaben der Elternrolle übernimmt. Als ein Hinweis auf Parentifizierung gilt fürsorgliches oder bestrafendes Verhalten des Kindes gegenüber den Eltern. Auch Schilderungen darüber, dass die Eltern nicht fähig sind, ihre Elternrolle auszufüllen, können auf eine Rollenumkehr hinweisen. Die Einschätzung von »desorganisierten/desorientierten« Bindungsmustern wird sowohl anhand von sprachlichen Kennzeichen als auch über eine Beurteilung der Interaktion mit dem Interviewer erhoben. Ist in einer Antwort kein logischer Sinn© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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zusammenhang und auch keine semantische Bedeutung von Lautäußerungen erkennbar, dann gilt dies als ein Indiz für Desorganisation. Ein weiterer Hinweis sind bizarre oder katastrophische Phantasien, die das Kind oder seine Familie betreffen und ohne erkennbaren Anlass geschildert werden. Zu den Interaktionskennzeichen gehören eine aktive Kontrolle der Interviewsituation bzw. des Interviewers, beispielsweise durch Unterbrechung des Interviewers (Fragen zu Dauer des Gespräches, zum Aufnahmegerät oder zur Person des Interviewers) oder das aktive Stellen von Gegenfragen sowie Ablenken von der Interviewsituation und bizarre Antworten (Kellinghaus, 2002).

Ergänzende Fragen

Da viele der von mir interviewten Kinder und Jugendlichen ihren Vater im Krieg verloren haben, habe ich das Interview bei diesen Kindern um folgende Fragen erweitert: – Manchmal erzählen Kinder, die keinen Vater mehr haben, dass es für sie jemanden gibt, der für sie wie ein Vater ist. Ist das bei dir auch so? – Oder hast du dir dass schon einmal von jemanden gewünscht? – Kannst du dich noch an Deinen Vater erinnern? – An deine Beziehung zu ihm?

Durchführung und Auswertung

Das Bindungsinterview mit den Kindern wurden entsprechend dem Leitfaden durchgeführt, auf Video aufgezeichnet und an der Universität Regensburg von einer unabhängigen Wissenschaftlerin, Frau Dipl.-Psych. Sue Kellinghaus, ausgewertet. Die Durchführungsreliabilität wurde über zehn Übungsinterviews, die in Regensburg ausgewertet wurden, gewährleistet.

»Drei-Wünsche-Frage«

Das BISK endet mit deren »Drei-Wünsche-Frage«. Diese Frage wird häufig in Psychotherapien mit Kindern gestellt und gibt Einblicke in zentrale Bedürfnisse, Wünsche und Konfliktbereiche von Kindern. Sie lautet: »Stell dir vor, du triffst auf der Straße einen Zauberer und hättest drei Wünsche frei. Was würdest du © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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7 Methodische Anlage der Studie

dir wünschen?« Auch im Schwarzfuß-Test (s. u.) wird die »DreiWünsche-Frage« gestellt. Hier sollen die Probanden sich allerdings überlegen, welche Wünsche Schwarzfuß hätte. Daraus ergibt sich die Möglichkeit, Wünsche, die die Kinder für sich selbst formulieren bzw. formulieren können mit Wünschen, die sie in der Übertragung für Schwarzfuß aussprechen, zu vergleichen.

Projektives Verfahren: der Schwarzfuß-Test (Corman, 1995) Projektive Verfahren stellen einen weiteren, allerdings thematisch im Vergleich zu Bindungsinterviews sehr viel offeneren Zugang zu innerpsychischen Repräsentanzen, insbesondere zu Konflikten und Phantasien, aber auch zu Mustern der Emotionsregulation dar. Der Projektionsbegriff wird dabei nicht im engeren Freudschen Sinne als Abwehrmechanismus, der eigene aggressive Regungen, die vom Ich nicht akzeptiert und auf andere Personen übertragen werden, verstanden, sondern breiter gefasst. Projektion wird definiert als die Übertragung eigener Wertvorstellungen, Wünsche, Motive, Bedürfnisse, Triebimpulse etc. auf Menschen und Objekte außerhalb der eigenen Person (Axhausen, 1993). Projektive Tests beruhen auf der Annahme, dass genau dieser Prozess der Projektion über das Testmaterial in Gang gesetzt und damit für Außenstehende sichtbar wird. Die Probanden werden dafür mit unterschiedlichem Material, häufig Bildkarten, konfrontiert, zu denen sie sich äußern sollen. Anhand ihrer Reaktionen und Bedeutungszuschreibungen werden Rückschlüsse auf Werte, Wünsche, Bedürfnisse, Konflikte etc. gezogen. Diese Rückschlüsse können dabei nicht mehr darstellen als erste Arbeitshypothesen, die gegebenenfalls im Rahmen einer Therapie oder einer Langzeitstudie überprüft werden können. Um ein projektives Verfahren zutreffend interpretieren zu können, ist es notwendig, möglichst detaillierte Informationen über den biographischen Hintergrund zu haben. In der vorliegenden Studie wurde neben den Bindungsinterviews der Schwarzfuß-Test als ein weiterer Zugang zur innerpsychischen Erfahrungsverarbeitung © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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und damit – gedächtnistheoretisch gesprochen – zum impliziten Gedächtnis verwendet. Im Gegensatz zum BISK ist der Schwarzfuß-Test jedoch wesentlich freier und überlässt die Themensetzung weitgehend den interviewten Kindern. Der Schwarzfuß-Test wurde von französischen Psychoanalytikern entworfen und wird in der kinderanalytischen Praxis oft eingesetzt, da die Kinder zu den Schwarzfuß Testkarten häufig mehr erzählen als zu den Bildern des weitaus bekannteren Children’s Apperception Test (CAT) (Leuzinger-Bohleber u. Garlichs, 1993). Der Schwarzfuß-Test besteht aus einer Reihe von Bildern, die eine Schweinchen- oder Schäfchenfamilie rund um den Protagonisten Schwarzfuß, mit der namengebenden schwarzen Pfote, darstellen. Die Bilder zeigen verschiedene Alltags- und Konfliktsituationen, zu denen die Kinder Geschichte erzählen sollen. In der Originalversion handelt es sich um Schweinchen, aufgrund der vielen muslimischen Kinder wurde hier die Parallelversion mit den Schäfchenkarten verwendet.120 Da ich die Karten und die Testdurchführung im Zusammenhang mit einem Einzelfall (siehe Kapitel 9) detailliert darstelle, gehe ich hier nur kurz auf die Grundzüge des Tests ein. Dem Kind wird zunächst eine Karte mit der gesamten Schweinchen- bzw. Schäfchenfamilie gezeigt, bei der lediglich Schwarzfuß (SF) als solcher benannt wird. Anschließend soll das Kind für alle Schäfchen, auch SF, ein Alter benennen, auch soll es sagen, um wen es sich bei den anderen Schafen handelt – ob es hier eine Familie sieht oder nicht, bleibt somit offen. Ebenso offen gestaltet sich die weitere Testdurchführung. Alle Karten werden vor dem Kind ausgebreitet, es wird aufgefordert, sich die Karten herauszusuchen, die ihm gefallen, und dazu eine Geschichte zu erfinden. Nach dem Erzählen der Geschichte sieht der Test einen zweiten Durchgang vor. In diesem zweiten Testteil werden alle Bilder von dem Kind in beliebte und unbeliebte Bilder eingeteilt. 120

In Kapitel 9 sind einige der Schweinchen-Bildkarten, nur diese dürfen publiziert werden, zur Illustration abgedruckt. In Bezug auf Hintergrund, Anordnung und Ausdruck der Tiere sind die beiden Testversionen identisch. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Anschließend wird das Kind aufgefordert, jeweils zu erläutern, warum ihm ein Bild gefällt oder nicht gefällt und ob es sich mit einer Figur auf dem Bild identifiziert. Wie bei Corman (1974) vorgeschlagen, werde ich diesen zweiten Testteil mit BI für »Bevorzugte Identifikation« abkürzen. Der zweite Durchgang liefert oft sehr wichtige Informationen für die Interpretation des Tests.

Testinterpretation und Interpretationsvalidierung

Cormans (1995) Beschreibungen liefern wichtige Anhaltspunkte für die Testinterpretation, bei der vor allem darauf geachtet wird, welche Themen als konflikthaft dargestellt werden oder wo sich Konflikte andeuten, wo beispielsweise bestimmte Themen durchgängig abgewehrt werden. Ein erster Ansatzpunkt für die Interpretation ist das Aufspüren sogenannter »außergewöhnlicher Themen«, also Themen, die nicht unmittelbar in den Bildern angesprochen werden, sondern die die Probanden selbst einbringen. Um einschätzen zu können, ob eine bestimmte Bildkarte eher gewöhnlich oder außergewöhnlich beschrieben wird, bieten die Ausführungen von Corman, die auf zahlreichen durchgeführten Tests beruhen und auch quantitative Angaben zu häufigen Deutungen und zur Beliebtheit der einzelnen Bildkarten enthalten, wichtige Anhaltspunkte. Zusätzlich habe ich die erzählten Geschichten hinsichtlich Korrespondenzen mit den biographischen Informationen untersucht. Die Interpretation der Tests ist damit zwangsläufig durch das biographische Vorwissen beeinflusst. Um abschätzen zu können, inwiefern die Tests auch ohne dieses biographische Wissen für sich sprechen, wurde, wie erwähnt, in zwei Fällen exemplarisch eine zusätzliche, gegenüber biographischen Details »blinde« Auswertung der Testprotokolle von einer Kindertherapeutin vorgenommen. Auf diese Weise konnten zwei auf unterschiedlichem Wege gewonnene Testinterpretationen miteinander verglichen werden. Dieses Vorgehen wurde auch gewählt, da projektive Verfahren in der psychologischen Forschung aufgrund der Frage, wie zutreffend interpretiert werden kann, umstritten sind. Es ist von daher äußerst interessant, dass West (1998) in einer Meta-Analyse von zwölf Studien herausfand, dass mithilfe projektiver Verfahren (u. a. Rorschach und TAT) effektiv zwischen sexuell © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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traumatisierten und nicht traumatisierten Kindern und Jugendlichen unterschieden werden konnte. Auch in der Psychotraumatologie haben sich projektive Verfahren bewährt. Nach von Hinkeldey (2002) liegt ihr Wert vor allem darin, dass sie die reflexiven Systeme der Informationsverarbeitung unterlaufen und durch eine unmittelbare Stimulierung der perzeptiven Ebene impliziten Gedächtnisprozessen näher kommen als andere Verfahren.

Traumabezogene Symptome bei den Kindern: Fragebogenerhebung Die Auswahl der Fragebögen orientierte sich daran, welche Fragebögen für ein dem Forschungsrahmen und der Fragestellung angemessenes Vorgehen für das entsprechende Alter vorliegen und bereits mit Flüchtlingskindern verwendet worden sind. Alle Fragebögen gehören zu den kinder- und jugendpsychiatrischen Standardverfahren und sind international weit verbreitet. Neben einem allgemeinen Screening, in dem sowohl die Eltern als auch die Jugendlichen gleichermaßen nach Kompetenzen und nach Problemen, Verhaltensauffälligkeiten etc. gefragt werden (CBCL und YSR, s. u.), wurden drei weitere Fragebögen verwendet, die sich gezielt auf häufige Symptome nach einer Traumatisierung beziehen: ein PTSD-Fragebogen, eine Depressions-Inventar und ein Angst-Fragebogen. Ich bin bei der Auswahl weitgehend den Empfehlungen der Hamburger Flüchtlingskinderambulanz des Universitätsklinikums Eppendorf gefolgt und hatte die Möglichkeit, zwei Fragebögen (s. u.) in der dort angefertigten Übersetzung zu nutzen.

Child Behavior Checklist (CBCL)

Die Child Behavior Checklist, kurz CBCL121, erfasst das Urteil von Eltern über Kompetenzen, Verhaltensprobleme und emotionale Auffälligkeiten bei Kindern im Alter von 4 – 18 Jahren. Im ersten 121 Original: Achenbach, deutsche Fassung nach Döpfner et al, 1994: Elternfragebogen über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen

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Teil werden Kompetenzen des Kindes erfragt und eingeschätzt, im zweiten Teil sollen 118 Items anhand einer dreistufigen Rating-Skala als nicht zutreffend (0), etwas oder manchmal zutreffend (1) bzw. häufig zutreffend (2) eingeschätzt werden. Bei den Items handelt es sich um Verhaltensbeschreibungen, wie zum Beispiel »kann nicht stillsitzen«; »hat Tagträume« oder »ist gedankenverloren« etc. Bei der Auswertung werden aus diesen Items acht SyndromSkalen gebildet, die wiederum aufgrund von Faktorenanalyse zweiter Ordnung den drei Gruppen »internalisierende Störungen«, »externalisierende Störungen« und »gemischte Störungen« zugeordnet werden können. Die Gruppe der internalisierenden Störungen setzt sich aus den Skalen »sozialer Rückzug« (Items: mag lieber alleine sein, ist verschlossen, spricht nicht, schüchtern und häufig traurig etc.), »körperliche Beschwerden« (Schwindel, Schmerz, Erbrechen) und »Angst/Depressivität« (allgemeine Ängstlichkeit und Nervosität, Klagen über Einsamkeit, Minderwertigkeits- und Schuldgefühle, traurige Verstimmung usw.) zusammen. Zur Gruppe der externalisierenden Störungen gehören die Skalen »delinquentes Verhalten« und »aggressives Verhalten«. Die Skalen »soziale Probleme« (Ablehnung durch Gleichaltrige, unreifes und erwachsenenabhängiges Verhalten), »schizoid/ zwanghaft« (Tendenzen zu zwanghaftem Denken und Handeln sowie psychotisch anmutendes, wie Halluzinationen und bizarres Denken und Verhalten) und die Skala »Aufmerksamkeitsstörungen« zählen zu der Gruppe der gemischten Störungen. Die Ausprägungen auf den Skalen werden als klinisch auffällig bzw. unauffällig eingeschätzt. Als Richtwert gilt dabei ein T-Wert über 63, das bedeutet, dass die auffälligsten 2 % einer Repräsentativstichprobe als klinisch auffällig beurteilt werden. Um der kontinuierlichen Merkmalsverteilung gerecht zu werden, wurde ein Grenzbereich zwischen den T-Werten 60 und 63 definiert. Die CBCL ist international weit verbreitet und gut untersucht. Neben dem starken Zusammenhang zur Psychopathologie wird sie in der Forschung zusammen mit anderen Untersuchungsmethoden eingesetzt, um Verhaltensprobleme und emotionale Dysregulationen einschätzen zu können. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Die CBCL unterscheidet in einer Studie Kinder mit diagnostizierter PTSD von Kindern ohne diese Diagnose. Wolfe und Mitarbeiter (1998) sehen bei 20 Items der CBCL einen Zusammenhang zur PTSD-Diagnose, z. B. Konzentrationsschwierigkeiten, Schuldgefühle usw., ein valides PTSD-Screening ist damit aber nicht möglich. Gerade die Erstellung einer PTSD-Diagnose ist im Grunde kaum möglich, wenn das subjektive Erleben der Kinder nicht direkt erfragt wird (Saylor, 1993). Die CBCL liegt in vielen verschiedenen Sprachen vor, für die vorliegende Studie wurde eine bosnische Fassung der Forschungsgruppe von Willi Butollo, Steve Powel und Maria Gavranidou (unveröffentlicht) verwendet.

Youth Self Report Form (YSR) (deutsche Version von Döpfner et al., 1994).

Die YSR ist die Selbstauskunftsform der CBCL für Kinder und Jugendliche im Alter von 11 bis 18 Jahren. Die Fragen zu Kompetenzen und Problemverhalten entsprechen weitgehend den Fragen im Elternfragebogen (s. o.). 16 Fragen wurden so modifiziert, dass sie sich auf sozial erwünschtes Verhalten beziehen.

In ausgesuchten Einzelfällen: Childhood PTSD Reaction Index (CPTSD-RI)

Der CPTSD-RI erfasst typische traumabezogene Symptome und gehört zu den international am häufigsten verwendeten PTSDScreenings für das Kindesalter. Im ersten Teil wird nach möglichen schlimmen Erfahrungen gefragt, beispielsweise einem Autounfall, einer Naturkatastrophe, einem Krieg etc., anschließend werden die Probanden aufgefordert, die Auftretenshäufigkeit von 22 typischen traumareaktiven Problemen (Alpträume, Erinnerungsstörungen, sich aufdrängende Gedanken und Bilder etc.) innerhalb des letzten Monats zu beurteilen. Der CPTSD-RI ist damit aus zwei Gründen nicht unproblematisch: Zum einen muss gewährt werden, dass das Kind nachbefragt wird, für den Fall, dass der Fragebogen zu Erinnerungen, belastenden Emotionen oder Verwirrung geführt hat, zum anderen wird ein sehr enger zeitlicher Rahmen gesetzt und damit werden nur zum Befragungszeitpunkt akute Symptome erfragt. Wie in Kapitel 5 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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7 Methodische Anlage der Studie

dargestellt, ist es jedoch gerade bei Kindern und bei Typ-IITraumatisierungen sehr wahrscheinlich, dass Symptome phasenweise auftreten und sich mit symptomfreien Intervallen abwechseln. Diese Probleme stellen sich jedoch bei anderen PTSD Fragebögen ebenfalls (siehe bspw. Carlson, 1997). Ich habe den CPTSD-RI aus diesen Gründen nur in ausgesuchten Einzelfällen eingesetzt, und zwar nach folgenden Kriterien: 1. Es bestand guter Kontakt zum Kind/Jugendlichen und zu seinen Eltern und die Möglichkeit zu einem Nachgespräch. 2. Mit dem Kind/Jugendlichen hatte sich bereits ein Gespräch über Kriegsereignisse ergeben, so dass der Fragebogen kein völlig neues Thema ansprach. 3. Das Kind/der/die Jugendliche war zum Ausfüllen weiterer Fragebögen bereit. 4. Die vorherigen Interviews gaben Hinweise auf eine Beschäftigung mit traumatischen Erlebnissen. Anhand des CPTSD-RI lässt sich beurteilen, in welcher Ausprägung typische PTSD-Symptome vorliegen: Jedes der 22 genannten Symptome wird vierstufig beurteilt (von »nie« bis »meistens«), ein Gesamtwert von 12 – 24 gilt als »schwache PTSD-Symptomatik«, 25 – 39 als »moderate«, 40 – 59 »schwere« und Werte über 60 weisen auf eine sehr schwere PTSD-Symptomatik hin (Goenjian et al., 1995). Der CPTSD-RI wurde von der Arbeitsgruppe von Pynoos entwickelt (Pynoos, Rodriguez, Steinberg, Stuber u. Frederich 1998) und hier in der deutschen Version von Aßhauer und Adam verwendet.

Depressions-Inventar Kinder und Jugendliche (DIKJ)

Depressionen gehören zu den Krankheitsbildern, die sich – besonders im Kinder- und Jugendalter – nicht leicht erkennen lassen, da der Rückzug eines Kindes in seiner sozialen Umwelt oft viel weniger auffällt als andere Störungen oder aber maskiert verläuft, das heißt beispielsweise durch aggressives oder hyperaktives Verhalten überdeckt wird. Aus der Überlegung heraus, dass Depressionen, ebenso wie Angst, häufig traumareaktiv © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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auftreten, wurde für die Untersuchung auch das DepressionsInventar für Kinder und Jugendliche (Stiensmeier-Pelster, Schürmann u. Duda, 2000) verwendet. Das DIKJ umfasst 26 Items, für jedes Item sollen die Probanden entscheiden, ob es nicht, häufig oder dauerhaft vorliegt. Die Items betreffen eine große Bandbreite depressiver Symptome, wie beispielsweise Störungen der emotionalen und somatischen Befindlichkeit, negative Selbstbewertungen, Versagens- und Schuldgefühle. Reliabilität und Validität sind für die Altersgruppe 8 – 17 Jahre untersucht. Jedem Item wird ein Rohwert zugeschrieben, die zusammengezählten Rohwerte können anhand von Normtabellen interpretiert werden. Mit dem DIKJ lässt sich in erster Linie etwas über den Schweregrad einer depressiven Störung sagen, es liefert jedoch ebenfalls Anhaltspunkte dafür, ob eine solche mit hoher Wahrscheinlichkeit vorliegt oder nicht, als kritischer Rohwert gilt dabei ein Wert von 18 und höher.

Erhebung der Bindungsrepräsentanz der Eltern: Adult Attachment Interview Die Bindungsrepräsentanz der Eltern wurde über das AAI erhoben, dabei wurde das Interviewprotokoll von George, Kaplan und Main (2001) verwendet. Ich habe dieses Interview bereits in Kapitel 6 beschrieben.122 Dem aktuellen Standard zur Übersetzung von Forschungsinstrumenten entsprechend (Bracken u. Barona, 1991) wurde das Interviewprotokoll zunächst vom Deutschen ins Serbokroatische übersetzt und anschließend von einer zweiten Übersetzerin ins Deutsche zurück übertragen und die Übereinstimmung zwischen beiden Versionen überprüft. Die Interviews wurden von einer in der Durchführung geschulten bosnischen Muttersprachlerin123 in serbokroatischer Sprache geführt und anschließend wörtlich transkribiert und 122 Die Interviewfragen auf deutsch und auf bosnisch finden sich im Materialband, der bei der Autorin erhältlich ist. 123 Alisa Zukanovic, Diplom-Psychologin, Berlin.

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7 Methodische Anlage der Studie

von professionellen Übersetzerinnen ins Deutsche übertragen, wobei alle Beteiligten mit den linguistischen Auswertungskriterien, die eine besondere Vorsicht bei der Übersetzung erfordern, vertraut waren. Die Auswertung der Interviews erfolgte nach dem Auswertungssystem von Main und Goldwyn (1998) und wurde von einer unabhängigen und in der Bindungsforschung renommierten Wissenschaftlerin, Frau Dr. Elisabeth Fremmer-Bombik, die mit der Auswertung auch von AAIs aus Hochrisikogruppen sehr erfahren ist, übernommen.

Leitfadengestützte Interviews zur Familiengeschichte und zur aktuellen psychosozialen Situation Für die Gespräche mit den Eltern wurde ein Leitfaden zusammengestellt, um sicherzustellen, dass alle Familien zu ihrer Familiensituation vor und während der Flucht sowie zu ihrer aktuellen Situation in Deutschland befragt werden.124 Der Fokus der Fragen lag dabei auf der Geschichte des Kindes. Den Eltern sollte über diesen Zugang deutlich freigestellt werden, wie viel sie von ihren eigenen Kriegs- und Fluchterlebnissen erzählen. Ein weiteres Ziel dieser Gespräche war es, den Eltern Gelegenheit zu geben, eigene Themen und Schwerpunkte einzubringen sowie einen eventuellen Beratungs- oder Therapiebedarf zu klären. Auch diese Gespräche wurden auf Tonband aufgezeichnet und anschließend transkribiert. Je nach Deutschkenntnissen wurden sie mit oder ohne Übersetzerin geführt.

124 Der Leitfaden findet sich im Materialband, der bei der Autorin erhältlich ist.

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Gedächtnisprotokolle In unmittelbarem Anschluss an jeden Forschungskontakt habe ich ein Tonband-Gedächtnisprotokoll über die jeweilige Situation sowie eigene Gedanken und Gefühle in der Forschungssituation aufgenommen und anschließend transkribiert.

Datenschutz und Anonymisierung Mit allen Familien wurde eine schriftliche Vereinbarung zur Projektdurchführung und zum Datenschutz (in bosnischer Sprache, siehe Materialband) getroffen. Für die Einzelfalldarstellungen wurden Personennamen, Ortsangaben etc. anonymisiert bzw. pseudonymisiert, es wurde die Methode der aktiven Verschlüsselung verwendet. Das bedeutet, dass Details der biographischen Angaben so verändert, verdichtet oder hinzugefügt werden, dass ein Rückschluss auf die tatsächlichen Interviewpartner nicht möglich ist. Dabei wurde versucht, die Gesamtaussage der Einzelfälle nicht zu beeinflussen.

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8 Fallübergreifende Ergebnisse

8.1 Forschungsprozess und Beschreibung der untersuchten Gruppe Voruntersuchung Die beschriebenen Methoden wurden im Rahmen einer Voruntersuchung mit einer bosnischen Flüchtlingsfamilie und zwei weiteren Flüchtlingskindern erprobt, um sowohl die Durchführbarkeit der Interviews als auch die damit einhergehende mögliche Belastung für die Flüchtlingsfamilien einschätzen zu können. In diesen Gesprächen zeigten die Familien großes Interesse an den Forschungsgesprächen und empfanden auch die Teilnahme an mehreren Interviews nicht als zu belastend. Die durchgeführten Bindungsinterviews wurden als auswertbar eingestuft.

Kontaktaufnahme Trotz der bereits über die Studie im Jahr 1998 und über die Voruntersuchung bestehenden Kontakte zu Flüchtlingsfamilien erwies es sich als schwierig, Flüchtlingsfamilien für die Teilnahme an der Studie zu gewinnen. Weit weniger Flüchtlinge als erwartet hatten bis zum Untersuchungszeitpunkt tatsächlich schon aufgrund der »Traumaregelung« eine Aufenthaltsbefugnis und Familien mit unsicherem Aufenthaltsstatus begegneten dem Projekt mit Misstrauen. Als einen weiteren Grund, nicht teilnehmen zu wollen, nannten die angesprochenen Eltern die Sorge, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

8.1 Forschungsprozess und Beschreibung der untersuchten Gruppe 229

in den Gesprächen erneut mit Erinnerungen an den Krieg konfrontiert zu werden. Daran zeigt sich, wie belastet die Flüchtlingsfamilien acht bis zehn Jahre nach dem Krieg in Bosnien und nach ihrer Ankunft in Deutschland weiterhin sind. Von den schließlich teilnehmenden zehn Flüchtlingsfamilien gehörten drei zu den bereits 1998 Interviewten. Mit diesen Familien hatte auch zwischenzeitlich Kontakt bestanden, der erste Kontakt war über das Berliner Behandlungszentrum für Folteropfer und ein Flüchtlingsheim des Deutschen Roten Kreuzes entstanden. Drei Kontakte ergaben sich über eine angeleitete Selbsthilfegruppe an einem Kulturzentrum, an der ich für einige Monate als Gast teilnahm, drei weitere Familien lernte ich über gemeinsame Bekannte kennen und zu einer Familie stellte eine Mutter, die bereits an der Untersuchung teilgenommen hatte, die Verbindung her. An der Studie nahmen elf Flüchtlingskinder, sechs Jungen und fünf Mädchen darunter ein Geschwisterpaar, im Alter von neun bis 14 Jahren teil. Zwei weitere Mädchen, mit denen ich zunächst jeweils ein Interview geführt hatte, konnten nicht miteinbezogen werden, da sich im Laufe der Interviews herausstellte, dass sie einen Roma-Hintergrund haben und ihre Mütter weder Deutsch noch Bosnisch sprechen.125 Mit Ausnahme eines Mädchens, das unmittelbar nach der Flucht zur Welt kam, sind alle Kinder in Bosnien geboren und kamen im Alter von ein bis fünf Jahren nach Berlin, wo sie zum Interviewzeitpunkt damit bereits seit acht bis zwölf Jahren lebten. Die Forschungsinterviews wurden mit Ausnahme eines Gespräches, das in dem erwähnten Kulturzentrum stattfand, bei den 125 Es ließ sich nicht realisieren, noch eine weitere Sprache und einen weiteren kulturellen Hintergrund mit einzubeziehen. Beide Mädchen gaben mir gegenüber an, bosnisch zu sein und ihre Eltern würden bosnisch sprechen, was nach der Einschätzung von Mirta Dedic-O’Beirne sehr häufig bei Roma-Familien vorkommt, oft stelle auch sie erst im Laufe einer Beratung fest, dass die Flüchtlinge nicht oder nur kaum Bosnisch beherrschen. Ausführlich zur Situation der bosnischen Roma-Flüchtlinge in Berlin siehe auch Mihok, 2001b.

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8 Fallübergreifende Ergebnisse

Familien zu Hause durchgeführt, da sich dies als für die Familien am praktischsten erwies. Die weiterhin hohe Belastung der Familien bedeutete auch, dass Interviewtermine häufig abgesagt wurden oder sich einige Mütter spontan entschlossen, doch nicht an der Untersuchung teilzunehmen. Es konnten damit nicht wie geplant mit allen Familien alle Interviews durchgeführt werden. Auch zeichnete sich bereits in den ersten Gesprächen ab, dass bei einigen Familien deutlicher Beratungsbedarf bestand und dieser die Teilnahme an der Untersuchung motivierte. Diesem Bedarf wurde so gut wie möglich entsprochen bzw. in Einzelfällen wurde ein Kontakt zu Therapeut/-innen oder Beratungsstellen vermittelt. Bei anderen Familien zeigten sich gravierende Schwierigkeiten, ohne dass sich ein ausreichender Kontakt für ein beratendes Gespräch herstellen ließ. Der Beratungs- und Gesprächsbedarf der Familien bezog sich sowohl auf aufenthaltsrechtliche Probleme als auch auf die Frage, ob für das Kind oder andere Familienangehörige eine Therapie indiziert sei.

Durchführung der Interviews und Datenlage Bei meinem ersten Besuch führte ich zunächst gemeinsam mit Eltern und Kindern ein informierendes Gespräch über das Forschungsprojekt und über Datenschutz und Anonymisierung. Im Anschluss führte ich das Bindungsinterview Späte Kindheit jeweils mit dem Kind allein durch. Beim zweiten Besuch folgte der Schwarzfuß-Test mit den Kindern und ich ließ sie den YSR ausfüllen. Das AAI und das leitfadengestützte Interview mit den Eltern, zumeist den Müttern, wurden unabhängig von den Interviews mit den Kindern durchgeführt. Bei den meisten Familien ergab sich noch ein weiteres Gespräch oder ein abschließender Besuch. Während das Bindungsinterview mit allen Kindern durchgeführt wurde, wollten zwei Mädchen nicht am Schwarzfuß-Test teilnehmen und auch die Fragebögen wurden nicht von allen Kindern und Eltern ausgefüllt, wobei nur ein Junge offen äußerte, keine Fragebögen ausfüllen zu wollen, die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

8.1 Forschungsprozess und Beschreibung der untersuchten Gruppe 231

anderen vergaßen es und schickten die Bögen auch nicht, wie verabredet, später mit der Post. Da auch oder vielleicht gerade das Ausfüllen von Fragebögen, bei denen die Probanden im Zweifelsfall schwer durchschauen können, wie ihre Antworten interpretiert werden, viel Vertrauen zur Forscherin voraussetzt und sich dieses nicht immer aufbauen ließ, habe ich das NichtAusfüllen jeweils nach einigen Nachfragen auf sich beruhen lassen. Einige Kinder und Mütter äußerten sich jedoch gerade schriftlich sehr ausführlich und nutzten die Gelegenheit, den vorhergegangenen Interviews Informationen hinzuzufügen, die ihnen wichtig waren. Dies traf allerdings nur auf Familien mit einem höheren Bildungsniveau zu, bei ihnen erwies sich die Verwendung der Fragebögen, dies gilt insbesondere für die offen gestellten Fragen im YSR und in der CBCL, als sinnvoll. Der Fragebogen DIKJ liegt deshalb nur von fünf Kindern vor, die von vorneherein nur an einige Kinder verteilte (siehe Kapitel 7) CPTSD-RI füllten drei Kinder aus und die CBCL beantworteten fünf Mütter. Diese Fragebögen werden deshalb bei der fallübergreifenden Auswertung nicht berücksichtigt. An den Adult Attachment Interviews nahmen insgesamt sechs Mütter und ein Vater teil. Der Vater erklärte sich spontan bereit, nachdem seine Frau nicht teilnehmen wollte, obwohl sie den Termin ausgemacht hatte. Ein AAI mit einer Mutter musste abgebrochen werden, da das Interview die Frau emotional zu stark belastete. Zwei Mütter lehnten die Teilnahme am AAI mit der Begründung ab, dass auch ein Interview über ihre Kindheitserfahrungen sie zu stark an den Krieg erinnern würde. Eine weitere Frau erklärte, zu dem Interview bereit zu sein, wollte sich jedoch nicht auf Tonband aufnehmen lassen, so dass hier ebenfalls auf eine Durchführung des Interviews verzichtet wurde. Da in diesen drei Fällen trotz der fehlenden AAIs Interviews zum biographischen Hintergrund geführt werden konnten bzw. in einem Fall der Vater am Interview teilnahm, wurden die Familien in der Gesamtauswertung berücksichtigt und die Ablehnung, am AAI teilzunehmen, wurde vorsichtig interpretiert. Nur eine Mutter war nicht bereit, mit mir das leitfadengestützte Interview zu führen, stattdessen fand ein Interview mit einer älteren Schwester statt. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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8 Fallübergreifende Ergebnisse

8.2 Zur familiären und psychosozialen Situation der Flüchtlingsfamilien Familiäre Situation Lediglich drei der interviewten elf Kinder lebten zum Untersuchungszeitpunkt mit beiden Eltern zusammen. Bei zwei Kindern sind die Eltern geschieden, zu den nach Bosnien zurückgekehrten Vätern bestand jeweils kein oder nur sehr sporadischer Kontakt. Bei einem Kind hatten sich die Eltern noch vor der Geburt getrennt. Die Väter der übrigen fünf Kinder gelten seit dem Massaker in Srebrenica als vermisst, in keinem Fall wurde die Leiche gefunden. Sechs Kinder haben ein oder zwei Geschwister, die übrigen fünf waren jeweils das einzige Kind. Bei diesen fünf Kindern berichteten die Mütter gerne weitere Kinder gehabt zu haben. Damit lässt sich sagen, dass bei allen Kindern die Familiensituation kriegsbedingt stark verändert ist und sich deutlich von den Herkunftsfamilien ihrer Eltern unterscheidet. Die Eltern stammen überwiegend aus ländlichen Gebieten und wuchsen dort mit mehreren Generationen und vielen Geschwistern, im Durchschnitt fünf, auf.

Ethnische Zugehörigkeit, Religion und kultureller Hintergrund Sieben Familien bezeichneten sich als bosnisch-muslimisch, wobei sie unterschiedlich stark religiös gebunden sind. So gab eine Frau zwar an, zur Gruppe der bosnischen Moslems zu gehören, sie verstehe sich jedoch als Kommunistin und sei entsprechend atheistisch. Drei Familien bezeichneten sich als bosnisch-kroatisch und waren katholischen Glaubens. Die religiöse Erziehung der Kinder war in der interviewten Gruppe entsprechend heterogen: Drei Kinder gingen regelmäßig in die Moschee, drei weitere besuchten regelmäßig die katholische Kirche. Für die anderen Kinder und Jugendliche spielten © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

8.2 Zur familiären und psychosozialen Situation

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Glaubensfragen keine Rolle, selbst wenn die Eltern religiös waren. Die Herkunftsfamilien der Eltern der Kinder stammen aus ländlichen Gebieten, wobei die meisten Eltern selbst jedoch zur Ausbildung oder aus anderen beruflichen Gründen in größere Städte übergesiedelt waren. Die Stichprobe ist damit durch einen ruralen bzw. semi-ruralen Hintergrund gekennzeichnet.

Kontakt nach Bosnien und zu anderen Familienmitgliedern Aufgrund der über viele Jahre für die Flüchtlinge eingeschränkten Reisefreiheit hatten die Familien erst in den letzten Jahren Gelegenheit, nach Bosnien und/oder Kroatien zu reisen und damit auch dort lebende Verwandte zu besuchen. Fünf der interviewten Kinder waren seit ihrer Flucht nicht mehr in Bosnien gewesen, zwei von ihnen berichteten, sie hätten noch Erinnerungen an Bosnien aus der Zeit vor ihrer Flucht. Sechs Kinder waren jeweils einmal in den Ferien in Bosnien gewesen. Für die meisten Kinder bedeutete dies, auch keinen Kontakt zu ihren Großeltern zu haben und viele Onkel, Tanten, Cousinen und Cousins nicht zu kennen. Dies galt ebenso für Verwandte, die in andere deutsche Städte oder in andere Länder geflüchtet waren. Insgesamt war der größere Familienverband bei allen interviewten Familien weit verstreut. Einige Flüchtlingsfamilien hatten gar keine näheren Verwandten in Bosnien mehr und bis auf zwei Ausnahmen hatten die Familien keine Verwandten mehr in ihrem ursprünglichen Herkunftsort, da die gesamten Familie geflüchtet bzw. getötet worden war. In einigen Fällen war es den Großeltern gelungen, nach Berlin zu reisen und die Familien zu besuchen. Doch auch solche Wiedersehen fanden sechs oder sieben Jahre nach der Flucht zum ersten Mal statt. Für die meisten Kinder fielen damit andere nahe Verwandte als weitere wichtige Bezugspersonen weg.

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8 Fallübergreifende Ergebnisse

Sprachkenntnisse Mit Ausnahme eines Jungen (Nermin), der Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache angab, ohne dass sich jedoch Verständigungsschwierigkeiten im Interview ergaben, sprachen alle Kinder fließend Deutsch und gaben an, Deutsch besser oder in einem Fall gleich gut zu sprechen wie Bosnisch bzw. Kroatisch. Sieben Kinder hatten eine Bosnische bzw. Kroatische Schule besucht, in der sie einmal in der Woche nachmittags unterrichtet wurden. Von den Eltern sprachen zwei Mütter fließend Deutsch, eine Mutter und ein Vater gut, vier weitere Mütter verstanden gut Deutsch, wollten aber bei den Interviews nicht Deutsch sprechen, zwei Mütter und zwei Väter sprachen und verstanden nur sehr wenig Deutsch.

Schulbesuch Zwei Mädchen und ein Junge besuchten zum Untersuchungszeitpunkt die in Berlin sechs Jahre dauernde Grundschule, für beide Mädchen war der Wechsel zum Gymnasium geplant. Zwei Mädchen und zwei Jungen besuchten eine Realschule, drei Jungen und ein Mädchen waren auf einem Gymnasium. Mit Ausnahme von Nermin, Grundschüler, bei dem die Versetzung gefährdet war, und einem Mädchen (Selma), das Schwierigkeiten auf der Realschule nannte, berichteten Kinder und Eltern übereinstimmend über gute bis sehr gute Schulleistungen.

Kriegserlebnisse und potenziell traumatische Erlebnisse Erwartungsgemäß hatten die Familien sehr unterschiedliche Kriegs- und Fluchterlebnisse, wobei sich einige biographische Gemeinsamkeiten bei den Flüchtlingen aus Srebrenica zeigten. Bei diesen Familien standen die erlebte Bedrohung und die Ermordung zahlreicher männlicher Verwandter, die oft nach wie vor offiziell als vermisst gelten und auf deren Rückkehr die Familien trotz besseren Wissens oft jahrelang gehofft haben, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

8.2 Zur familiären und psychosozialen Situation

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deutlich im Vordergrund und überlagerten auch aktuelle Probleme und Schwierigkeiten in Deutschland. Bei anderen Familien stand dagegen die dauerhaft existentiell unsichere Situation in Deutschland stark im Vordergrund und bei zwei Familien zeigte sich deutlich, wie das Erleben von Krieg und Flucht bereits vorher bestehende Probleme und Konflikte erheblich verschärft hatte. Folgenden potenziell traumatischen Erlebnisse und Belastungen waren die Kinder am häufigsten ausgesetzt: – Ermordung des Vaters in Srebrenica, Vermisstenschicksal; – Verlust weiterer Angehöriger wie Großväter, Onkel, Cousins etc.; – Miterleben von Krieg und Flucht in den ersten Lebensjahren, oft vermittelt durch große Ängste und Unsicherheiten der Mütter ; – unzureichende Ernährung, mangelhafte Unterbringungssituation (Belagerung, Sammelunterkunft für Binnenflüchtlinge), schlechte hygienische Verhältnisse und unzureichende medizinische Versorgung in den ersten Lebensjahren; – Miterleben potenziell traumatischer Erlebnisse wie Kampfund Bedrohungssituationen; – Trennung vom Vater und von anderen wichtigen Bezugspersonen über längere Zeit; – Schwere Kriegstraumatisierung der Mutter/des Vaters, die dauerhaft das Leben der Familie prägt; – als traumatisch erlebte Situationen der Eltern im Zusammenhang mit dem Aufenthaltsstatus und den Begutachtungen, Miterleben von Ängsten; – Miterleben von Abschiebungen und/oder Weiterwanderungen von Freunden und Bekannten; – Gesellschaftliche Desintegration in Deutschland durch Duldung, Sozialhilfe, Heimunterbringung, Verweigerung einer Arbeitserlaubnis für die Eltern, Erleben von Ausländerfeindlichkeit.

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8 Fallübergreifende Ergebnisse

Aufenthaltsstatus Die bereits in Kapitel 2 beschriebene soziale Struktur der in Deutschland lebenden bosnischen Flüchtlinge spiegelt sich in der von mir untersuchten Stichprobe wider : Von den zehn interviewten Familien haben erst fünf eine Aufenthaltsbefugnis und diese auch erst jeweils seit Ende 2002, also zwei Jahre nach der Einigung auf die »Traumaregelung« und sieben bis neun Jahr nach ihrer Ankunft in Deutschland. Die fünf Familien, die nach wie vor auf Basis einer Duldung in Deutschland leben, verfügen ebenfalls über Traumagutachten, haben die Befugnis beantragt und warten seit mehreren Jahren auf einen entsprechenden Bescheid. In einem Fall (Einzelfall Nermin) ist dieser Antrag gerade abgelehnt worden, wogegen die Familie Widerspruch eingelegt hat. Betrachtet man die Aufnahmekriterien anderer Länder (siehe Kapitel 2), so fällt auf, dass mindestens acht der interviewten zehn Familien diese Kriterien erfüllen: Sieben Familien stammen aus Gebieten, in denen sie nach einer Rückkehr zur ethnischen Minderheit gehören würden, auf eine Familie trifft der Fall zu, dass die Eltern in einer – inzwischen geschiedenen – ethnisch gemischten Ehe lebten. Lediglich bei einer Familie, die kurz vor Kriegsausbruch aufgrund einer Krankheit des Vaters ausgereist war und einer aus dem Sandzak stammenden Familie sind die Verhältnisse weniger klar.

Bildungsabschluss und berufliche Situation der Eltern Zwei Mütter hatten nach acht Pflichtschuljahren keinen Beruf erlernt und waren Hausfrauen, alle anderen acht Mütter hatten entweder bis zur Geburt des ersten Kindes oder bis Kriegsausbruch gearbeitet. Zwei hatten einen Fachhochschulabschluss und waren in ihren Berufen tätig gewesen, zwei Frauen waren im Dienstleistungssektor tätig, eine in einem handwerklichen Beruf, zwei weitere hatten jeweils ein eigenes kleines Unternehmen (Laden/Friseursalon) geleitet. Ein Vater verfügte ebenfalls über einen Fachhochschulabschluss und war in einem entsprechen© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

8.2 Zur familiären und psychosozialen Situation

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den Beruf tätig gewesen, die beiden anderen Väter waren in Dienstleistungsberufen beschäftigt gewesen. Zum Untersuchungszeitpunkt arbeiten lediglich eine Mutter und ein Vater auf dem ersten Arbeitsmarkt, allerdings jeweils in einem für sie ausbildungsfernen Bereich: Die Mutter ist als Zimmermädchen in einem Hotel tätig, der Vater verrichtet trotz akademischer Ausbildung Hilfstätigkeiten auf dem Bau. Eine weitere Frau ist über eine spezielle berufliche Weiterbildung für Migrantinnen als Altenpflegerin tätig, zwei Frauen befinden sich in einer beruflichen Weiterbildung für Flüchtlinge ohne allerdings Aussicht auf eine anschließende berufliche Tätigkeit zu haben. Ein Vater hat seinen Job auf dem Bau durch den Entzug der Arbeitserlaubnis verloren. Sechs Frauen haben keine Arbeitserlaubnis, drei von ihnen berichten von inoffiziellen Putzjobs.

Unterbringungssituation Alle Flüchtlinge leben zum Zeitpunkt der Interviews seit durchschnittlich etwa einem Jahr – also nach sieben bis neun Jahren Heimaufenthalt – in einer eigenen Wohnung. Sie schilderten dies als große Verbesserung ihrer Situation, auch wenn sie zum Teil den Kontakt zu anderen Flüchtlingen im Heim, oft auch die Betreuung durch Sozialarbeiter und Erzieher, sofern vorhanden, positiv erlebten. Mehrere Frauen erzählten auch, nach dem Umzug in die eigene Wohnung zunächst vor allem nachts unter Ängsten gelitten zu haben. Die Unterbringung im Heim bedeutete in den meisten Fällen, mit sehr geringem Wohnraum auskommen zu müssen. Alleinerziehenden Müttern und ihren Kindern stand zumeist nur ein Raum zur Verfügung, außerdem mussten sie Gemeinschaftsbäder und -küchen benutzen. Das Leben im Heim bedeutet damit oft auch viel Lärm, mangelnde hygienische Bedingungen und unter Umständen soziale Spannungen. Als eine weitere Belastung im Zusammenhang mit der Heimunterbringung nennen die Familien häufige Umzüge: Ein Junge musste mit seiner Mutter sechsmal das Heim und infol© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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8 Fallübergreifende Ergebnisse

gedessen dreimal die Schule wechseln. Grund dafür waren Umstrukturierungen, Schließungen oder Betreiberwechsel bei den Heimen. Zum Teil wechselten die Flüchtlinge auch von sich aus, wenn sie beispielsweise einen Platz in einem angenehmeren Heim bekommen konnten.

Kontakt zu Therapeut/-innen, Beratungsstellen und Traumagutachten Kein Kind oder Jugendlicher befindet sich zum Untersuchungszeitpunkt in therapeutischer Behandlung, ein Junge war jedoch einige Jahre zuvor in einer kurzen Therapie gewesen, ein anderer war kinderpsychiatrisch vorgestellt worden, ohne dass es zu einer Behandlung gekommen war. Alle Mütter verfügen über ein Traumagutachten und haben entsprechend Kontakt zu einer Beratungsstelle bzw. einem Gutachter oder Therapeuten. Zwei Mütter sind zum Untersuchungszeitpunkt, wenn auch teilweise mit Unterbrechungen, in psychotherapeutischer Behandlung, eine nimmt eher sporadisch beratende Gespräche bei einer Psychologin wahr, drei Frauen hatten an einer Gruppentherapie teilgenommen, eine weitere befindet sich aktuell in Gruppentherapie, wartet aber seit über einem Jahr auf einen Einzelplatz. Von den drei Vätern befindet sich einer aufgrund einer chronischen psychischen Erkrankung in regelmäßiger psychiatrischer Behandlung. Die beiden anderen Väter haben jeweils einmal einen psychiatrischen Gutachter aufgesucht, um ein Gutachten für eine aus psychischen Gründen ausgestellte Arbeitsgenehmigung zu erhalten. Obwohl entweder sie oder ihre Frauen über psychische Folgen vor allem von Kampferlebnissen berichten, hatten sie sich nicht in Therapie begeben.

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8.2 Zur familiären und psychosozialen Situation

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Besonderheiten der interviewten Gruppe Die interviewten Familien stellen insofern eine besondere Gruppe der bosnischen Flüchtlinge dar, als sie zur vergleichsweise kleinen Gruppe von Flüchtlingen gehören, die weder zurückgekehrt noch weitergewandert ist. Es handelt sich damit um Flüchtlinge, die trotz sehr ungünstiger Bedingungen in Berlin verblieben sind beziehungsweise keine Alternativen für sich sahen.

Allgemeine Eindrücke aus den Gesprächen mit den Flüchtlingen Entgegen der ursprünglichen Erwartung bei der Konzeption dieser Arbeit verfügen die Familie – wenn überhaupt – erst seit kurzer Zeit über eine Aufenthaltsbefugnis und erleben ihre Aufenthaltssituation weiterhin als unsicher und schwierig. Aufenthaltsrechtliche Probleme bzw. Probleme der sozialen Isolation standen bei den Gesprächen mit allen Familien, wie auch bereits bei den 1998 geführten Interviews, deutlich im Vordergrund. Bei den Familien bzw. Müttern, die inzwischen eine Aufenthaltsbefugnis haben, stellte sich heraus, dass das Problem des Aufenthalts abgelöst wurde von dem Problem, eine Arbeit zu finden. Auf diese Weise setzen sich die Ausgeschlossenheit von wesentlichen Bereichen der deutschen Gesellschaft und die unfreiwillige Abhängigkeit von Sozialhilfe für sie fort. Nachdem in den vergangenen zehn Jahren kaum eine Chance für sie bestand, sich in die Gesellschaft einzugliedern, wirken viele Flüchtlinge nun resigniert und kraftlos. Sehr deutlich wurde ebenfalls, wie unterschiedlich die beiden Generationen – Eltern und Kinder – in die Aufnahmegesellschaft eingebunden sind. Die Kinder und Jugendlichen knüpfen ihre Zugehörigkeit weniger an den Aufenthaltstatus, da sie über den Schulbesuch, Freundschaften, Mitgliedschaften in Vereinen etc. eine gewisse Integration erfahren. Auf die Frage, wie die Flüchtlinge selbst ihre Situation in Deutschland erleben, gehe ich in Kapitel 10 ausführlich ein. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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8 Fallübergreifende Ergebnisse

8.3 Fallübergreifende Ergebnisse der Fragebögen und der Bindungsinterviews Wie geschildert, war der Rücklauf der Fragebögen mit Ausnahme des YSR, den zehn der elf Kinder ausfüllten, mit 46 % sehr gering.

Youth Self Report Form (YSR) Mehrheitlich schätzen sich die Kinder und Jugendlichen im YSR als »verhaltensunauffällig« ein: Sechs von zehn Kindern haben TGesamtwerte zwischen 38 und 56. Ein Junge (Marko) hat einen unauffälligen Gesamtwert, liegt jedoch im unteren Grenzbereich für internalisierende Probleme (T= 62). Bei drei Kindern ergeben sich in der Selbsteinschätzung Werte im klinisch auffälligen Bereich. Bei einem Jungen (siehe Einzelfall Nermin) liegen sowohl der Gesamtwert (T=62)126 im leicht auffälligen Bereich als auch die Werte der Skalen für externalisierende (T=62) und internalisierende (T=63) Probleme. Das Vorliegen von behandlungsbedürftigen psychischen Problemen bestätigte sich in anschließenden Gesprächen mit der Familie. Bei zwei weiteren Mädchen liegen sowohl der Gesamtwert (T=66 bzw. 67), als auch die Auswertung der Skalen zu internalisierenden Problemen (T=66 bzw. 73) im klinisch auffälligen Bereich. Von den Kindern/Jugendlichen mit auffälligen Werten füllte lediglich eine Mutter (Ema) die CBCL aus, sie schätzt ihr Kind jedoch wie die anderen vier Mütter, die diesen Fragebogen ausfüllten, als unauffällig ein. Nach den CBCLs hat kein Kind Verhaltensauffälligkeiten oder -probleme (T-Werte für den Gesamtwert zwischen 29 und 51). Die Übereinstimmung zwischen CBCL und YSR ist damit in drei Fällen hoch und in einem niedrig, im Falle des Mädchens mit den hohen Werten für internalisierende Störungen sogar sehr niedrig. 126 Bei den T-Wert-Angaben ist zu beachten, dass die Normtabellen für Jungen und Mädchen und für verschiedene Altersgruppen unterschiedlich sind.

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8.3 Fallübergreifende Ergebnisse

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DIKJ und CPTSD-RI Diese Fragebögen wurden lediglich von jeweils drei bzw. fünf Kindern ausgefüllt, fallübergreifende Aussagen sind damit nicht möglich. Interessant ist, dass zwei Jungen mit unauffälligen YSRund CBCL-Werten nach Selbsteinschätzung auf der CPTSD-RISkala moderat ausgeprägte PTSD-Symptome, und zwar vor allem im Bereich »Vermeidung«, aufweisen. Ein weiterer Junge hat einen klinisch auffälligen Wert im DIKJ, alle anderen ausgefüllten Fragebögen liegen im unauffälligen Bereich.

Bindungsmuster bei den Kindern Alle elf Bindungsinterviews waren auswertbar und wurden von einer gegenüber den Forschungsfragen und der Biographie der Kinder »blinden« Psychologin der Universität Regensburg ausgewertet. Nach dieser Auswertung kann die im Interview erfasste Bindungsstrategie bei einem Mädchen (Katarina) als »sicher« bezeichnet werden: Sowohl die Repräsentationen der Mutter und des Vaters werden mit »5« als »sehr unterstützend« gewertet, ebenso wird die allgemeine Bindungsstrategie des Mädchens mit »5« als »durchgehend beziehungsorientiert« eingeschätzt. Das Bindungsverhalten eines weiteren Mädchens (Marija) wird zwar ebenfalls als »durchgehend beziehungsorientiert« eingeschätzt und sie stellt die Mutter als »sehr unterstützend« dar, gleichzeitig zeigt sie im Interview jedoch häufig kontrollierendes Verhalten und erhält so auch hohe Werte für »Desorganisation«. Dazu passend finden sich Hinweise auf ein parentifiziertes Verhalten. Bei zwei Jungen (Denis und Emir) lässt sich aufgrund der geschilderten Bindungsstrategie ein unsicher-ambivalentes Muster annehmen, wobei ein Junge mit einer als hoch bewerteten Unterstützung der Mutter (Skalenwert 4) an der Grenze zu einem sicheren Bindungsmuster liegt. Für die sieben übrigen Interviews, drei Mädchen und vier Jungen, wurden Werte vergeben, die sehr deutlich auf mangelnde emotionale Unterstützung durch die Eltern und eine unsicher© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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8 Fallübergreifende Ergebnisse

vermeidende Bindungsstrategie schließen lassen.127 Der Wert für die allgemeine Bindungsstrategie liegt bei fünf Kindern bei 1 (»durchgehend vermeidend«) und der Wert für die elterliche Unterstützung bei 1 – 2 (»nicht oder kaum unterstützend«). Bei zwei Kindern wird die Bindungsstrategie mit einer 2 (»eher vermeidend«) eingeschätzt, bei diesen liegt auch die Repräsentation der mütterlichen Unterstützung etwas höher (3: »gleichermaßen unterstützend/nicht unterstützend«), wobei das Interview mit einem Jungen (Marko) auf ein teilweise beziehungsorientiertes Bindungsverhalten gegenüber seiner vier Jahre älteren Schwester schließen lässt. Eine unsicher-vermeidende Bindungsstrategie ist damit für die untersuchte Stichprobe typisch. Dabei fällt auf, dass dies vor allem auf die Kinder zutrifft, deren Väter als vermisst gelten. Die durchschnittliche Interviewdauer lag bei 86 Minuten und unterschied sich bei Jungen und Mädchen nicht (Mädchen: 87,2 Minuten; Jungen: 84,8 Minuten). Obwohl das Ergebnis, dass zwei Mädchen als tendenziell sicher gebunden eingeschätzt werden, auf einen Geschlechtsunterschied hinweisen könnte, ergibt sich ein solcher mit ebenfalls drei unsicher-vermeidend gebundenen Mädchen nicht. Kritisch zu diskutieren ist, inwieweit die Durchführung und Klassifikation der Bindungsinterviews kulturell sensitiv ist. Die Ergebnisse der Expertinnenvalidierung (s. u.) legen nahe, dass unsichere Bindungsmuster überschätzt werden, aufgrund kultureller Faktoren wären dabei allerdings vor allem unsicherambivalente Bindungsmuster zu erwarten gewesen.

Schwarzfuß-Test (SFT) und Übereinstimmungen mit den Bindungsinterviews Die Kinder und Jugendlichen nahmen überwiegend sehr aufgeschlossen am Schwarzfuß-Test teil und erzählten lange Geschichten. Nur ein 14-jähriger Junge (Emir) äußerte, sich auf127 Eine tabellarische Übersicht über die einzelnen Skalenwerte für jedes Kind findet sich im Materialband, der bei der Autorin erhältlich ist.

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8.3 Fallübergreifende Ergebnisse

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grund der an Kinder gerichteten Bilder zu »alt« für diese Form vorzukommen, entwarf dann aber eine »Geschichte für Kinder«.128 Zwei Mädchen lehnten auf meine Ankündigung hin, dass es sich um ein Geschichtenerzählen handeln würde, die Teilnahme ab und begründeten dies, ohne die Bilder zu betrachten, damit, dass ihnen bei solchen Aufgaben keine Geschichten einfallen würden. Auf einzelne Beispiele und deren Interpretation gehe ich bei den Einzelfalldarstellungen ein, der erste Einzelfall (Alen) enthält ein ausführliches Protokoll und eine detaillierte Auswertung. Fallübergreifend zeigen sich Übereinstimmungen zwischen den sich in den Narrativen abzeichnenden inneren Repräsentanzen und den Ergebnissen der Bindungsinterviews. So entspricht die Inszenierung der Elternfiguren im Schwarzfuß-Test sehr häufig den Darstellungen der eigenen Eltern im BISK, was beispielsweise bedeutet, dass bei einer unsicher-vermeidenden Bindungsstrategie die Elternfiguren entsprechend im SFT als wenig präsent und nicht unterstützend dargestellt werden. Darüber hinaus ergeben sich aus den erzählten Geschichten inhaltlich sehr viel reichhaltigere Hinweise auf konflikthaft erlebte Themen und Entwicklungsbereiche sowie auf traumatische Erlebnisse als in den Bindungsinterviews. Ein zentrales Thema ist bei fast allen Kindern die Frage der Ablösung von den Eltern (im SFT symbolisiert durch die Bildkarte »Aufbruch«) und der eigenen bevorstehenden Autonomie-Entwicklung. Hier deutet sich bei einigen Kindern eine forcierte Autonomie-Entwicklung an, zugleich erweist sich das Thema als stark angstbesetzt. Weitere häufige Themen betreffen die Traurigkeit der Eltern, die Übernahme von Elternrollen und die Inszenierung des Vaterverlustes. Um abzuschätzen, inwieweit die Interpretationen durch biographisches Wissen und theoretische Vorannahmen verzerrt werden, wurden, wie in Kapitel 7 dargestellt, zwei SFTs zusätzlich von zwei Psychologinnen ausgewertet, denen von den Kindern lediglich Alter, Geschlecht und der Umstand »Flüchtlingskind« 128 Mit dem Vorschlag, aus den Bildern eine Geschichte für ein Kinderbuch zu erzählen, wird der SFT auch mit Erwachsenen durchgeführt (Corman, 1974).

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8 Fallübergreifende Ergebnisse

bekannt war. In einem Fall weist diese »blinde« Interpretation eine sehr hohe Übereinstimmung mit der von mir vorgeschlagenen Interpretation auf, im zweiten Fall werden ähnliche Kernkonflikte genannt, das Kind wird aber insgesamt als noch belasteter eingeschätzt. Ausführlich gehe ich bei den Einzelfällen auf diese Interpretationen ein.

Erwähnen des Krieges von Seiten der Kinder Altersbedingt berichten die meisten Kinder, keine Erinnerungen an den Krieg zu haben, fünf Kinder erwähnen jedoch im Interview den Krieg, und zwar immer im Zusammenhang mit Ängsten oder Krankheiten der Mutter oder des Vaters. Sieben Kinder wünschen sich bei der Drei-Wünsche-Frage, die zum Schluss des BISK gestellt wird, dass es keinen Krieg mehr geben solle, ihre Familien den Krieg nicht erlebt hätten oder dass alle, die im Krieg gestorben sind, noch leben würden. Bei zwei Kindern berichten die Mütter, dass sich ihre Kinder an den Krieg erinnern. Ein Mädchen (Almira) schildert eine frühkindliche Erinnerung an den Abschied von ihrem Vater im Alter von etwa zweieinhalb Jahren, bevor dieser an die Front ging.

Ergebnisse der Adult Attachment Interviews Bei der Durchführung des AAIs zeigte sich, dass es für die Flüchtlingsfrauen sehr ungewohnt war, sowohl an einem Forschungsinterview teilzunehmen als auch in der vom AAI vorgegebenen Art und Weise über ihre Beziehung zu den Eltern nachzudenken und zu sprechen. Wie erwähnt, waren auch nicht alle Frauen bereit, an einem Interview über ihre Kindheit teilzunehmen. Die Durchführung der AAIs, die eine von mir geschulte bosnische Psychologie-Studentin übernommen hatte, wurde deshalb ausführlich bei jedem Interview besprochen. Die Vorgabe, das AAI möglichst vor anderen Forschungsinterviews und Forschungskontakten durchzuführen, erwies sich als nicht sinnvoll, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

8.3 Fallübergreifende Ergebnisse

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da es für die Flüchtlinge sehr wichtig war, zunächst die Interviewerin kennenzulernen, und sie mit ihr auch oft aktuelle Anliegen besprachen. So kam es auch vor, dass die Interviewerin eine Familie zweimal besuchte, bevor sie das AAI führte. Alle Interviews wurden von einer unabhängigen Auswerterin aufgrund der Durchführung als auswertbar eingeschätzt. Sie klassifizierte alle Interviews als »unverarbeitet« und »unsicher«: Drei Transkripte wurden als unsicher-vermeidend, vier als unsicher-präokkupiert eingeschätzt, wovon eines allerdings im Grenzbereich zu cannot classify liegt. Für ein Interview wurde aufgrund sprachlicher Merkmale und Inkohärenzen nicht die Zusatzkategorie »unverarbeiteter Bindungsstatus« vergeben, sondern eine chronische Traumatisierung festgestellt. Zu den traumatischen Erlebnissen zählen vor allem kriegsbedingte Verlusterfahrungen, in zwei Fällen kann davon ausgegangen werden, dass zusätzlich bereits in der Kindheit Traumata erlebt wurden. Während Traumatisierungen in dieser Gruppe zu erwarten waren, fragt sich, wieso kein Interview als »sicher« eingeschätzt wurde129 und wie sich der ungewöhnlich hohe Anteil an unsicherpräokkupierten Bindungsmustern erklären lässt. In westlichen Kulturen liegt der Anteil von unsicher-präokkupierten Bindungsmodellen in nicht klinischen Stichproben bei 10 – 25 %, in klinischen Stichproben allerdings wesentlich höher (Gomille, 2001). Auffällig ist an den Interviews ebenfalls, dass mit einer Ausnahme in allen Interviews eine hohe »Idealisierung«130 eines oder beider Elternteile feststellbar ist. Dieser an sich für unsicher-distanzierende Bindungsmuster typische mentale Verarbeitungsstil tritt damit auch in den als unsicher-präokkupierten klassifizierten Interviews ungewöhnlich häufig auf. 129

Um Missverständnissen vorzubeugen: Auch eine Person, die traumatisiert wurde, kann als bindungssicher eingeschätzt werden und zwar entweder indem das Trauma nicht zu einer Einschätzung als »unverarbeitet« führt oder indem die Zweitklassifikation »sicher« ist, das AAI also als »unverarbeitet/autonom« kategorisiert wird. 130 »Idealisierung« bezieht sich hier und im Folgenden auf die Konzeptionalisierung von »Idealisierung« wie sie im AAI vorgenommen wird. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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8 Fallübergreifende Ergebnisse

Die beiden Kinder, deren Mütter die Teilnahme am AAI ganz ablehnten, weisen im Bindungsinterview niedrigere Skalenwerte als die anderen Kinder auf, was bedeutet, dass sie über überhaupt keine emotionale Unterstützung durch die Eltern berichten und ihre Bindungsstrategie als bindungsvermeidend bis abweisend schildern (siehe Einzelfall Nermin). Damit lässt sich vorsichtig vermuten, dass wahrscheinlich auch ihre Mütter über keine sichere Bindungsstrategie verfügen.

Einschätzung des kulturellen Hintergrundes und seiner Bedeutung für die Bindungsklassifikation – Ergebnisse der Expertinnenvalidierung Beide Expertinnen betonen, dass es sich bei den interviewten Familien überwiegend um Familien mit ruralem oder semi-ruralem Hintergrund handelt, deren Familienstruktur traditionell geprägt ist. Die spezifischen Familienstrukturen der bosnischen Landbevölkerung beeinflussen nicht nur kulturspezifische Formen von Bindung, sondern auch eine kulturspezifische Form des Sprechens und des Erinnerns von Bindungserfahrungen, was sich deutlich in den AAIs zeigt. Unsichere Bindungsmuster werden dadurch kulturbedingt vermutlich eher über- als unterschätzt, wobei sich beide Expertinnen dabei jedoch vor allem auf unsicher-ambivalente und nicht auf die bei den Kindern häufig gefundenen unsicher-vermeidenden Bindungsmuster beziehen. Dedic-O’Beirne bemerkt zusätzlich zum kulturellen Hintergrund der Stichprobe allerdings auch, dass es sich um eine psychisch besonders belastete Gruppe von bosnischen Flüchtlingen handelt, in der Traumatisierungen eine große Rolle spielen. Die häufige Klassifikation unsicherer Bindungsmuster ist damit auch unter diesem Aspekt zu diskutieren.

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8.4 Zusammenfassung und tabellarische Ergebnisübersicht

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8.4 Zusammenfassung und tabellarische Ergebnisübersicht Zusammenfassend ergibt sich damit für die interviewte Gruppe von Flüchtlingskindern folgendes Bild: Alle Kinder sind hohen Belastungen sowohl durch eigene potenziell traumatische Erfahrungen, wie vor allem Vaterverlust, als auch vor allem durch die Traumatisierung der Mütter und aufgrund einer dauerhaft unsicheren Aufenthaltssituation ausgesetzt. Trotz dieser Risikofaktoren schätzten sich die Kinder und Jugendlichen mehrheitlich als verhaltensunauffällig ein, dies entspricht auch der Einschätzung ihrer Eltern und korrespondiert mit guten bis sehr guten Schulleistungen, die für eine hohe Anpassung sprechen. Auch wenn unsichere Bindungsmuster sehr wahrscheinlich aufgrund kulturspezifischer Aspekte überschätzt werden, weisen die Bindungsinterviews darauf hin, dass die Kinder und Jugendlichen nicht über eine hohe emotionale Unterstützung durch die Eltern oder andere Bezugspersonen verfügen. Die Bindungsstrategie der Kinder wird entsprechend mehrheitlich als bindungsvermeidend eingeschätzt, lediglich bei einem Mädchen zeigt sich ein durchgängig sicheres Bindungsmuster. Es lässt sich damit vermuten, dass sich in dieser Gruppe eher hohe Kompensationsleistungen zeigen als dass die Kinder über viele Schutzfaktoren verfügen und die Traumatisierungen gut bearbeiten konnten. Für eine solche Traumakompensation spricht auch, dass geschilderte Probleme – mit einer Ausnahme – im internalisierenden Bereich liegen. In diesem Sinne fragt sich, inwiefern auch das bindungsvermeidende Verhalten der Kinder als Reaktion auf familiäre Traumatisierungen verstanden werden kann oder ob es sich hier – eventuell kulturell bedingt – um ein häufiges Auftreten von unsicher-vermeidenden Bindungsstrategien handelt bzw. die Interviewmethode nicht kulturell sensitiv ist. Diese Frage stellt sich auch bezüglich der AAIs: Auch die Mütter zeigen ausschließlich unsichere Bindungsmuster, zugleich jedoch deutliche Hinweise auf unverarbeitete Verlusterlebnisse und Traumatisierungen. Für die Einzelfallanalysen stellt sich damit die Frage, ob die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Kinder entweder die Traumatisierung und/oder belastende Erfahrungen gut bearbeiten konnten und welche Faktoren hierbei eine Rolle spielten oder ob bei den Kindern Traumatisierungsprozesse bei gleichzeitigen hohen Kompensationsleistungen vorliegen, die weitgehend unerkannt sind und sich in den bisherigen Ergebnissen nicht abbilden. Nach diesen ersten Ergebnissen lässt sich die Stichprobe grob in drei Gruppen einteilen: 1. Eine sehr kleine Gruppe von verhaltensunauffälligen131 Kindern mit sehr hoher elterlicher Unterstützung und (tendenziell) sicherer Bindung. In diese Gruppe gehört sicher ein Mädchen (Katarina), an der Grenze zwischen dieser und der nächsten Gruppe liegen ein weiteres Mädchen (Marija) mit dem desorganisiert/sicheren Bindungsmuster sowie ein Junge (Denis), der ebenfalls über hohe mütterliche Unterstützung berichtet, dessen Bindungsmuster jedoch zugleich ambivalente Züge aufweist. 2. Die größte Gruppe von Kindern und Jugendlichen, die sich ebenfalls als verhaltensunauffällig beschreiben, aber über wechselhafte bis geringe Unterstützung durch die Eltern berichten und deren Bindungsstrategie unsicher ist. Auffällig bei dieser Gruppe ist zudem, dass – mit einer Ausnahme – diese Kinder allein bei einer traumatisierten Mutter aufwachsen. 3. Eine Gruppe von drei Kindern, die für sich selbst viele Verhaltensprobleme angeben und ebenfalls als bindungsvermeidend eingeschätzt werden. Hier lässt sich vermuten, dass eine eventuell bereits manifeste, aber unerkannte bzw. unbehandelte Symptomatik vorliegt und weniger von hohen Kompensationsleistungen gesprochen werden kann.

131 »Verhaltensunauffällig« bezieht sich hier und im Folgenden auf die Selbsteinschätzung im YSR.

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8.4 Zusammenfassung und tabellarische Ergebnisübersicht Tabelle 3: Übersicht über die fallübergeifenden Ergebnisse 1. Sichere Bindung, bzw. an der Grenze zur sicheren Bindung und »verhaltensunauffällig«: YSR CBCL AAI BISK: BISK Repräs. Allgemeine (T-Wert) (T-Wert) Mu/Va Bindungsstrategie »Katarina« 5/5 weibl., 11 J.

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Biographische Besonderheiten

5 sicher

49

49

n. a.

Eltern traumatisiert, depressiv/suizidal

47

39

U/E

Mutter vor Geburt kriegstraumatisiert, kein Kontakt zum Vater

n. a.

U/Ds

Traumatischer Vaterverlust, Mutter traumatisiert, ältere Schwester

2. Unsichere Bindung und »verhaltensunauffällig«: »Emir« 3 3 n. a. n. a. männl., ambivalent 14 J. (desorg.)

U/E1

Traumatische Kriegserlebnisse und mit Vater, Eltern geschieden

»Marija«132 weibl., 9 J.

5

5 desorg./ sicher

»Denis« männl. 13 J.

4

46 3 (gute Unterstützung, aber ambivalente Bindungsstrategie)

»Marko« männl., 14 J.

3/2

2 58 n. a. vermeidend Int: 62 (parent.) (Grenzwert)

E1/ Marko hat eine Tumorchron. erkrankung und wurde Trauma operiert, Vater chronisch psychisch krank, Mutter traumatisiert

»Tarik« männl., 13 J.

2

2 38 vermeidend

37

U/E1/ CC

Traumatischer Vaterverlust, Mutter traumatisiert

»Alen« männl. 12 J.

2

1 48 vermeidend

29

abgebr./ CC

Traumatischer Vaterverlust, Mutter traumatisiert

»Almira« weibl., 14 J.

2

1 56 vermeidend

n. a.

U/Ds

Traumatischer Vaterverlust, Mutter traumatisiert

132 Die beiden kursiv eingesetzten Fälle liegen zwischen dieser und der nächsten Gruppe, die Bindungsstrategie ist nicht so deutlich »sicher« wie bei dem anderen Mädchen.

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8 Fallübergreifende Ergebnisse

3. Unsichere Bindung und verhaltensausffällig »Ema« weibl., 10 J.

3

2 66 vermeidend Int: 73

51 Int: 55

U/Ds3

»Nermin« 1/1 männl., 11 J.

1 62 vermeidend Int: 63 Ext: 62

n. a.

n. a. Beide Eltern (Vater: kriegstraumatisiert, U/Ds) Einkoten, Sprach- und Schulprobleme

»Selma« weibl., 13 J.

1 67 vermeidend Int: 66

n. a.

n. a.

1

Traumatische Erlebnisse mit krankem Vater, Eltern geschieden, Mutter traumatisiert

Traumatischer Vaterverlust, Mutter traumatisiert, Sprach- und Schulprobleme

Werte im auffälligen Bereich sind fett gedruckt, »Int« bezieht sich auf die Skala Internalisierung, »Ext« auf die Skala Externalisierung.

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9 Exemplarische Fallanalysen

9.1 Alen, 12 Jahre: »Ich bemerke es nicht, wenn sie traurig ist« – Beispiel für einen pseudo-resilienten Entwicklungsverlauf Einleitung und biographische Hintergründe Ich beginne die Einzelfallanalysen mit dem Fall eines Jungen, der sowohl hinsichtlich seiner Biographie und seiner familiären Situation als auch bezogen auf seine Erfahrungsverarbeitung als typisch für die von mir interviewten Flüchtlingskinder gelten kann. Alen gehört zu den Kindern, deren Vater seit dem Massaker von Srebrenica als vermisst gilt und deren Mutter schwer traumatisiert ist. Im Rahmen dieses Einzelfalls gehe ich detailliert auf den Schwarzfuß-Test (SFT) und dessen Interpretation ein. Alen konnte sich sehr gut auf dieses projektive Verfahren einlassen, sein SFT gibt damit einen Einblick, wie seine Identitätsentwicklung mit traumabezogenen Schemata verbunden ist und aufgrund welcher Anpassungsleistungen seine Traumatisierung schwer zu erkennen ist. Alen gehört zudem zu der Gruppe von Kindern, die ich 1998 schon einmal interviewt habe, so dass hier eine breite Datenbasis zur Verfügung steht und in Bezug auf Bindungsmuster und psychopathologische Symptome Verlaufsdaten vorliegen. Auch über die psychosoziale Situation und die psychische Befindlichkeit der Mutter habe ich Informationen aus Interviews von 1998, 2001 und 2003. Der dadurch bereits länger bestehende © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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9 Exemplarische Fallanalysen

Kontakt hat die Gesprächssituation sehr erleichtert, sowohl Alen als auch seine Mutter nahmen gern an den Interviews teil. Alen wurde 1990 als einziges Kind seiner bosnisch-muslimischen Eltern in Srebrenica geboren, wo er bis 1995 lebte. Die Familie wohnte in Srebrenica zusammen mit den Eltern des Vaters und einer Schwester des Vaters in einem eigenen Haus. Alens Vater stammt aus Srebrenica, die Mutter wuchs in einem kleineren Ort in der Nähe auf. Alen war nicht nur das erste Kind, sondern auch der erste Enkel in der Großfamilie und seine Mutter beschreibt seine Geburt als großes Ereignis und »große Freude« für die ganze Familie. Bei Alens Geburt war seine Mutter 21 Jahre alt. Wie einige andere Frauen berichtet sie, aufgrund des Krieges nicht noch mehr Kinder bekommen zu haben. Bis zum Kriegsausbruch beschreibt die Mutter das Leben der Familie als glücklich.133 Bei Kriegsausbruch war Alen 22 Monate alt. Srebrenica wurde zu diesem Zeitpunkt (April 1992) bereits einmal von den serbischen Truppen eingenommen, bosniakische, also bosnisch-muslimische, Kämpfer eroberten die Stadt kurz darauf zurück (Bogoeva u. Fetscher, 2002). Die Mutter berichtet, dass ihr Mann und sie große Angst um den Jungen hatten, als sich 1995 die Situation in der damaligen UN-Schutzzone Srebrenica zunehmend anspannte. Alen konnte schließlich Anfang Juli 1995, fast fünfjährig, zusammen mit seiner Großmutter väterlicherseits Srebrenica in Richtung Tuzla verlassen, die Mutter selbst blieb jedoch bis zum 13. Juli in Srebrenica. Dutchbat, die niederländischen Blauhelm-Soldaten, gaben die Schutzzone jedoch bereits am 12. Juli auf und zwischen dem 12. und 18. Juli fand der bekannt gewordene Massenmord an ca. 7500 – 8000 muslimischen Jungen und Männern durch ser133

Ihre Beschreibung des Lebens der Familie vor dem Krieg ist zwar deutlich idealisierend, es ergaben sich jedoch im Gegensatz zu anderen Elterninterviews in den Gesprächen mit Alens Mutter keine Anhaltspunkte dafür, dass es in der Familie vor Beginn des Krieges gravierende Konflikte oder Schwierigkeiten gab. Ich gehe deshalb davon aus, dass die Lebenssituation sowohl der Mutter als auch der Familie vor dem Krieg als unbelastet gelten kann. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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bische Militärs und Militärpolizisten der bosnischen Serben statt. Zehntausende von Frauen und Kindern wurden am 12. und 13. Juli in Bussen und LKWs deportiert (Bogoeva u. Fetscher, 2002). Alens Mutter floh mit einem der letzten LKWs. Über ihre Erlebnisse in diesen Tagen kann sie kaum sprechen. Sie berichtet, dass ihre Schwiegermutter ihr eine schmutzige Windel, vermischt mit Erde, ins Gesicht gedrückt habe, um sie vor einer Vergewaltigung zu schützen. Auf ihrer Flucht, während der sie nichts über den Verbleib ihres Sohnes wusste, musste sie unter anderem mit ansehen, wie ein Säugling erschossen wurde. In Tuzla brauchte sie drei Tage, um Sohn und Schwiegermutter zu finden, fast eine Woche war der Kontakt unterbrochen. Seit diesen Tagen gelten nicht nur ihr Mann, also Alens Vater, sondern auch ihr eigener Vater, zwei ihrer Brüder und mehrere Cousins als vermisst. Im August 1995 kamen Alen und seine Mutter nach Berlin. Sieben Jahre lebten sie in einem Frauenflüchtlingsheim, das in dieser Zeit in ein neues Gebäude in einen anderen Stadtteil umzog. Ein gutes Jahr vor dem Untersuchungszeitpunkt konnten sie in eine eigene Wohnung wechseln. Die Mutter, eine zierliche, dunkelhaarige Frau, die deutlich jünger wirkt, berichtet nach wie vor über schwere, chronische Traumafolgen. Nach ihrer Beschreibung vergeht kein Tag ohne flashbacks, Schlafstörungen und Ängste. Sie nimmt fast ununterbrochen Schlafmittel und leidet unter verschiedenen (psycho-)somatischen Beschwerden wie Rücken- und Magenschmerzen. Als besonders schlimm erlebt sie die jeweiligen Jahrestage, so dass wir die Interviewtermine immer so vereinbaren, dass diese nicht in die Woche oder den Monat des Geburtstages ihres Mannes, des Todestages ihrer Mutter oder des Jahrestages von Srebrenica fielen. Allein an der dadurch sehr eingeschränkten Möglichkeit, überhaupt einen Termine für ein Interview zu finden, wurde spürbar, wie erheblich die Belastung der Mutter ist. Sie erlebte nach dem Krieg weitere Verluste; ihre Mutter starb im Jahr 2000 und ihre beiden Schwestern wanderten nach Amerika aus, was sie ebenfalls als Verlust beschreibt. Alens Mutter war mehrmals in therapeutischer Behandlung. Besonders eine Gruppentherapie im Berliner Behandlungszen© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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trum für Folteropfer mit Flüchtlingen aus verschiedenen Ländern und Regionen schildert sie als sehr hilfreich. Dort habe sie im Gegensatz zu einer Gruppe mit ausschließlich bosnischen Frauen auch von ihren Erlebnissen in Srebrenica sprechen können. Für sie sei es wichtig gewesen zu erleben, dass nicht nur sie als bosnische Muslimin Opfer einer Gräueltat wurde, sondern dass auch Menschen mit anderen Hintergründen und in anderen Ländern Verfolgung erleben mussten. Sie ist sehr interessiert an den Interviews und bemüht sich in den Gesprächen auch über ihre Kriegserlebnisse zu sprechen, was ihr sehr schwer fällt. Das Adult Attachment Interview wurde von der Interviewerin nach der zweiten Frage abgebrochen, weil sie Alens Mutter als zu belastet erlebte: Sie begann sich den Kopf zu halten und hin- und herzuschaukeln, die Erinnerung an ihre frühe Kindheitsbeziehung zur zwischenzeitlich ebenfalls verstorbenen Mutter waren offensichtlich zu schmerzhaft. Alens Mutter hat in den vergangenen Jahren sehr gut Deutsch gelernt und eine berufliche Weiterbildung für Migrantinnen abgeschlossen, mit der sie teilweise an ihren früheren Berufswunsch, im sozialen Bereich zu arbeiten, anschließen konnte. In Bosnien war ihr damals eine solche Ausbildung nicht möglich gewesen, da sie dafür in eine andere Stadt hätte umziehen müssen, was ihr Vater ihr nicht erlaubte. Sie bedauert allerdings sehr, dass sie nicht, wie gewünscht, eine Möglichkeit gefunden hat, mit Kindern zu arbeiten, sondern derzeit über eine berufliche Integrationsmaßnahme für Migrantinnen für die Betreuung älterer Flüchtlingsfrauen zuständig ist. Zum Interviewzeitpunkt hat die Familie seit zwei Jahren eine Aufenthaltsbefugnis aufgrund der Traumaregelung, zuvor hatte sie Duldungen mit unterschiedlicher Dauer. Eine Rückkehr kam für Alens Mutter aufgrund der Ereignisse in Srebrenica nie in Frage, sie bemerkt dazu: »Wie könnte ich dahin gehen, wo die Knochen noch liegen, die Leichen im Wald«. Kein Familienangehöriger lebt mehr in Srebrenica. Eine Weiterwanderung nach Amerika kann sie sich als Alleinerziehende nicht vorstellen. Die eine Schwester sei mit ihrem Mann gemeinsam dorthin gegangen, sie könnten das Leben dort nur bestreiten, weil sie beide viel arbeiteten. Ihre zweite Schwester sei © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

9.1 Alen, 12 Jahre

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sehr viel jünger, mache in den USA eine Ausbildung und baue sich so dort eine Zukunft auf. In Berlin lebt noch ein Cousin von Alens Vater mit seiner Familie, zu dem sie regelmäßig Kontakt haben. Alen und seine Mutter sind religiös und gehen regelmäßig in die Moschee.

Kommunikation über den vermissten Vater In den verschiedenen Interviews, die ich mit Alens Mutter führte, spiegeln sich die verschiedenen Stadien ihrer Hoffnung wider. Während sie im ersten Interview 1998 noch erzählte, es gebe Gerüchte, dass viele muslimische Männer in Serbien gefangen seien, und deutlich wurde, dass sie noch hoffte, ihr Mann sei darunter, äußert sie im aktuellen Interview, dass sie nicht mehr daran glaube, dass er noch lebt – zu viele Leichen seien gefunden worden. Ihre Kommunikation mit Alen über den Vater ist dennoch lange Zeit ambivalent geblieben. Nach ihrem Bericht hatte auch Alen viele Jahre die Vorstellung, dass sein Vater wiederkommen würde. Auf welche Weise ihre eigene Verzweiflung – und vermutlich auch Aggression – ihre Kommunikation mit Alen beeinflusst, wird in der folgenden Episode, die sie mir erzählt, deutlich: Alen habe lange geglaubt, sein Vater sei noch in Bosnien134, und immer wenn Verwandte aus Bosnien zu Besuch kamen, habe er diese gefragt, ob sie seinen Vater gesehen hätten. Als Alen und seine Mutter vor drei Jahren selbst nach Bosnien fuhren, habe sie sich gefragt, ob er dort wohl auch nach seinem Vater fragen würde. Darauf angesprochen habe sie ihn aber erst, als sie wieder in Berlin waren: »Und hast du deinen Vater getroffen?«, worauf er antwortete: »Nein, der war nicht da«. Sie 134

Diese Phantasie hatten in meiner ersten Untersuchung 1998 viele der sechs- bis siebenjährigen Flüchtlingskinder. Sie sprachen davon, dass ihre Väter in Bosnien seien und dort ihre Häuser wieder aufbauen würden. Es ist denkbar, dass diese Vorstellung von den Müttern bewusst oder unbewusst unterstützt wurde, da zu diesem Zeitpunkt viele Frauen noch glaubten, ihre Männer würden noch leben. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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kommentiert diese Episode mit der Bemerkung: »Was soll ich ihm denn sagen, ich weiß es ja auch nicht«. Dass sie, obwohl sie weiß, dass Alen seinen Vater nicht getroffen haben kann, ihm dennoch diese – fast brutal wirkende – Frage stellt, zeigt meines Erachtens, dass die Mutter hier aufgrund ihrer eigenen Traumatisierung für ihren Sohn keinen schützenden Raum herstellen kann, um ihm die (schreckliche) Realität zu vermitteln. Ihre abschließende Bemerkung macht deutlich, dass sie sich der Realität des Todes ihres vermissten Mannes noch nicht stellen kann: Wissen und Nichtwissen existieren nebeneinander. Da weder ein genauer Todeszeitpunkt noch ein konkreter Ort und auch kein genauer Todesumstand bekannt sind, müsste sie, um die Realität, die sie eigentlich kennt, anerkennen zu können, quasi für sich selbst die Entscheidung treffen, ihren Mann für tot zu erklären. Dies ist vielen Frauen unmöglich, da sie sich dann in ihrer Phantasie auf die Seite der Verfolger und Mörder stellen würden (siehe hierzu auch Becker, 1992). Auf dem Fernseher im Wohnzimmer stehen das Foto ihres Mannes und ein Foto von Alen nebeneinander. Alens Mutter erzählt, dass sie Alen oft sage, dass er seinem Vater ähnlich sehe.

Leben im Heim Bis zum Alter von knapp zwölf Jahren lebte Alen mit seiner Mutter in einem relativ kleinen Zimmer, das gerade Platz für ein Waschbecken, einen Schrank, einen kleinen Tisch und zwei Betten, die über Eck nebeneinander standen, bot. Im letzten Jahr im Heim schaffte er es allerdings, sich dort auf kreative Weise etwas »Privatheit« und vermutlich vor allem etwas mehr räumliche Distanz zur Mutter zu verschaffen. Auf meine Frage, wie es ihm im Heim gefallen habe, antwortet er »gut«135, aber er habe – 135

Abgesehen von der mangelnden Privatsphäre, gehört das Heim, in dem Alen und seine Mutter lebten, mit Abstand zu den angenehmsten und am besten geleiteten Heimen, die ich kennen gelernt habe. In den ersten Jahren waren dort mehrere Sozialpädagoginnen und Erzieherinnen be© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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und dies berichtet er spontan – sich am Ende ein neues Bett auf der Kofferablage, einer Art Hängeboden über der Zimmertür, eingerichtet. Das sei zwar etwas eng gewesen, er hat es aber offensichtlich bevorzugt, lieber auf diese Weise sozusagen ein »Hochbett« zu haben, als in dem Bett, das direkt neben dem seiner Mutter stand, zu schlafen. In der jetzigen Wohnung hat Alen ein eigenes Zimmer.

Persönlicher Eindruck von Alen im Alter von sieben und zwölf Jahren Im Alter von sieben Jahren begegnet mir Alen sehr offen und fröhlich und nimmt gern an den damals mit den Kindern durchgeführten Spielgeschichten136 teil. Während er mir gegenüber sehr höflich ist, stelle ich bei der späteren Auswertung der Videobänder zu meiner Überraschung fest, dass er die Momente, in denen ich nicht zu ihm schaue, sondern Spielfiguren aus einer Kiste hole, nutzt, um lustige Grimassen in die Kamera zu schneiden. Ähnlich wie ich es für die Situation im Heim beschrieben habe, scheint er auch damals bereits einfallsreich eine kleine Nische gefunden zu haben, um eine andere, freche und aufgeweckte Seite von sich zu zeigen. Alen scheint auf diese Weise Gefühle und Bedürfnisse, die die meiste Zeit von einem eher überangepassten Verhalten überdeckt werden, zumindest in einem gewissen Rahmen äußern zu können. Von seiner damaligen Erzieherin, die die Kinder im Heim nachmittags betreute, wird Alen zu diesem Zeitpunkt als guter Schüler beschrieben, sie schätzt ihn als verhaltensunauffällig schäftigt, die die Frauen und Kinder sehr unterstützten, so dass es für viele, die dort wohnten, gerade in der ersten Zeit nach dem Krieg tatsächlich »ein Zuhause« wurde. Die Kinder genossen den Kontakt zu den anderen Kindern, wurden pädagogisch betreut und erhielten in den ersten Jahren Sprachunterricht. Als der Heimleiterin bewusst wurde, wie belastet die Frauen waren, organisierte sie für die Frauen eine Gruppentherapie am Behandlungszentrum für Folteropfer. 136 Verwendet wurde die »MacArthur StoryStemBattery« (Bretherton, Oppenheim u. Prentiss, 1990), siehe hierzu Lennertz, 1998. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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ein.137 Seine Spielgeschichten weisen auf ein unsicher-vermeidendes Bindungsmuster hin, in Konfliktsituationen weicht er öfter aus, indem er intensiver mit dem Mobiliar als mit den Spielfiguren spielt. Besonders auffällig ist dabei, dass er eine vorgespielte Trennungssituation zwischen Eltern und Kindern, die er selbst fortsetzen soll, sehr schlecht aushält und dabei das Thema Tod im Zusammenhang mit der Spiel-Großmutter einbringt. Zudem stellt er die Mutterfigur in Konfliktsituation sehr hilflos dar, oft kann sie sich gegenüber den Kindern nicht durchsetzen. Mit der Vaterfigur spielt Alen im Gegensatz zu anderen Kindern mit ähnlicher Biographie auffallend häufig und schreibt ihr überwiegend positive Seiten zu: Der Vater kann das Auto reparieren und einen Unfall verhindern. Als es zu einer schwierigen Situation zwischen Mutter und Kind kommt, »haut« der Vater allerdings einfach »ab«. Ähnlich den Spielen, die A. Freud und Burlingham beschreiben (Kapitel 4), inszeniert er hier vermutliche eine Szene, mit der er versucht zu »erklären«, warum der Vater verschwunden ist. Dabei weist er sowohl dem Vater (»er haut ab«), als auch sich selbst (er löst das Abhauen durch einen Streit mit der Mutter aus) eine aktive Rolle zu. Im Alter von zwölf Jahren ist Alen ein sportlicher Typ, Fußballfan, für sein Alter eher klein, hat dunkle Haare und dunkle Augen und trägt modisch-sportliche Kleidung. Während sein mit Gel gestylter Haarschnitt ihn eher ein wenig älter und vor allem »cooler« erscheinen lässt, zeigt er im Interview auch kindliche Seiten. Diese sind mir besonders im Schwarzfuß-Test aufgefallen, in dem er sich teilweise fast ungebrochen mit Schäfchen Schwarzfuß zu identifizieren scheint. Auf die Interviewsituation reagiert er mit viel Neugierde und zeigt vor allem bei den Anfangsfragen deutlich Spaß an den Gesprächen, so dass es mir trotz seiner Verschlossenheit gegenüber bindungsrelevanten Themen (s. u.) leicht fällt, einen Zugang zu ihm zu bekommen. Wiederum verhält er sich mir gegenüber äußerst höflich und freundlich.

137

Verwendet wurde die »Teacher Report Form« der CBCL. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Bindungsinterview (Alter : 12 Jahre, 10 Monate) Trotz seiner Aufgeschlossenheit gegenüber allgemeinen Fragen und der Interviewsituation weist Alens Bindungsinterview die typischen Merkmale einer ängstlich-vermeidenden Bindungsstrategie (A) auf: Seine Antworten im Bindungsinterview sind fast durchgängig kurz und knapp, viele Passagen im Interview erfüllen das formale Kriterium »knappe Antwort« (siehe Kapitel 7). Bindungsbezogenen und emotionalen Themen weicht er aus, indem er entweder das Auftreten von bestimmten Situationen insgesamt verneint (z. B. sagt er, er habe nie Kummer) oder ihm keine konkreten Beispiele einfallen. Seine bindungsvermeidende Strategie wird in den unten wiedergegebenen Interviewausschnitten deutlich. Beim Lesen des Transkriptes kann der Eindruck entstehen, sein Antwortstil wäre »brüsk« oder »abweisend«. Er antwortet zwar äußerst kurz, nimmt sich aber oft einen kleinen Moment zum Nachdenken und wirkt damit häufig um eine Antwort bemüht. Zusammen damit, dass er sich auch relativ leicht und mit viel Spontaneität auf den projektiven SFT einlassen kann, ist dies vielleicht ein Anzeichen dafür, dass das A-Muster nicht so verfestigt ist, wie es aufgrund der erfüllten Kriterien scheinen könnte. Die Interviewatmosphäre ist insgesamt sehr ruhig, auch für meine Nachfragen lasse ich mir Zeit. Ich bin dabei sehr bemüht, immer wieder nachzufragen, um nicht in die gerade bei wortkargen Interviewpartnern bestehende Gefahr zu geraten, Vermeidungstendenzen zu befördern. Es ist gut möglich, dass dieses Nachfragen für Alen eine bedrängende Qualität hat, da er im Interview auch beschreibt, dass er Nachfragen von Seiten der Mutter nicht mag. Er selbst äußert allerdings nach dem Interview, dass es ihm gut gefallen habe, und er sucht noch weiter Kontakt, indem er mir anschließend hilft, Kamera und Aufnahmegerät wieder einzupacken, und wir noch eine Weile über verschiedene Themen sprechen. Die folgenden beiden Interviewausschnitte zeigen sowohl, dass Alen über wenig emotionale Unterstützung von Seiten der

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Mutter oder einer anderen wichtigen Bezugsperson berichtet, als auch seine bindungsvermeidendende Strategie.138 Wenn es dir mal nicht so gut geht, was machst du dann? . . . .{{4 sec, eine kurze unverständliche Äußerung}} Wenn du mal Kummer hast, wegen irgendwas? – weiß ich nicht. Weißt du nicht so? Hm, kommt es mal vor, dass du mal Kummer hast wegen irgendwas? Nö. Ne? (ne). Wenn du dir mal weh getan hast, was machst du denn dann? Na, dann gehe ich zum Arzt (hm), ja. Fällt dir da ein Beispiel ein, wann du dir das letzte weh getan hast? Äh, ja, da hab’ ich mir hier den Finger verstaucht, musste ich also so ein Band tragen (hm). Und wie war das denn dann? – Wie hast du dich da gefühlt? Na, nicht so gut. Hm. – Kann dich denn jemand gut trösten, wenn es dir nicht so gut geht? Ähm, ne. Bekommt das denn jemand mit, wenn es dir mal nicht so gut geht? Auch nicht. Ne? Wenn du mal Kummer hast? tz {{Zungenschnalzen, verneint}} Erzählst du das mal jemanden? Ne. Wissen das deine Freunde? Auch nicht. Ne? Oder weiß das mal deine Mutter? Auch nicht. Stellst du dir denn manchmal vor, dass das anders sein könnte? Ääääh, nö.

Kongruent zu dem hier beschriebenen Verhalten wird im nächsten Ausschnitt deutlich, dass Alen Ärger ebenfalls kaum kommuniziert und dass er es nicht mag, wenn jemand mitbe138

Anmerkung zur Transkription: »hm« ist ein längerer »einsilbiger« Laut und als nachdenkliches, unterstützendes »hm« zu lesen. Gedankenstriche (–) zeigen Gesprächspausen unter 3 Sekunden an. Die Transkription folgt den Regelungen für das AAI (Gloger-Tippelt, 2001). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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kommt, dass es ihm nicht gut geht oder er weint. Auch hier kann er keine konkreten Situationen nennen: Merkt deine Mutter, wenn dich mal was ärgert? Ne, (hm) ich glaub’ nicht. Du glaubst nicht? Wann hast du dich denn das letzte Mal über was geärgert? Äh, . . . {{3 sec}} weiß ich nicht. (sehr leise: weißt du nicht, hm.) – Kommt es denn mal vor, dass du mal weinst? Äh, – nöö. Ne? – Noch nie? – Auch nicht früher, dass du mal wegen irgendetwas geweint hast? Ja, früher schon (hm). Wann hast du denn früher mal geweint? Ja, äh, . . . . {{4 sec}} weiß ich nicht. Oder weißt du noch warum? tz {{Zungenschnalzen, verneint}}(Ne?) – Aber wenn du mal weinst, dürfen das denn die anderen merken? Hm, na, wenn sie es merken – passiert ja nichts. (hm) Wie findest du es denn, wenn sie es merken? Na, nicht so gut. Nicht so gut? – Warum denn nicht? Ja, dann fragen sie mich immer so, wieso hast du geweint (hm), ja. Und was sagst du da? Na dann sag’ ich nichts (hm) eigentlich. Und merkt das denn deine Mutter? Ähm, ja, sie schon. Und was sagt sie dann? Ja auch, wieso weinst du (hm). Wie findest du das? Na, nicht so gut. Nicht so gut. – Und antwortest du ihr dann? Hm, selten. Selten, hm. Wann hast du ihr denn mal geantwortet, weißt du das? Äh, weiß ich nicht.

Eine Situation, in der er Kummer hatte oder traurig war, kann er nicht schildern. Seine Strategie, auf negative Emotionen zu reagieren, scheint darin zu bestehen, sich zurückzuziehen und nicht den Kontakt zur Mutter zu suchen. Wie im letzten Abschnitt deutlich wird, scheint sich die Mutter allerdings manchmal als © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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9 Exemplarische Fallanalysen

Ansprechpartnerin anzubieten. Eine andere Interviewfrage, in der es darum geht, ob ihm seine Mutter helfe, wenn er ein Problem habe, das er nicht lösen könne oder nicht selbst lösen wolle, beantwortet er zu diesem Eindruck passend: »ne, dann sag’ ich ihr lieber nichts«. Dass die hier vorgestellten Interviewausschnitte so stark einem Frage-Antwort-Schema folgen, entspricht nicht der Intention des Interviews, obwohl dieses immer wieder sehr konkretes Nachfragen vorsieht. Im Wechsel mit den Nachfragen werden offene Fragen gestellt, um die Kinder zu längeren narrativen Äußerungen anzuregen. Wie bei den anderen Einzelfallinterpretation zu sehen sein wird, gelingt dies bei vielen Kindern auch. Im Fall von Alen wird jedoch darüber hinaus deutlich, dass ich als Interviewerin mehr und mehr beginne, Entscheidungsfragen zu formulieren und seinen knappen Antwortstil auf diese Weise befördere. Hier fragt sich, inwieweit ich Alen unbewusst helfe, seine Gefühle verschlossen zu halten und ihn – und mich – davor schütze, zu sehen, zu wem er mit seinem Kummer oder Ärger gehen bzw. nicht gehen kann. Meines Erachtens deutet sich hier zwischen Alen und mir eine ähnliche Dynamik des Schützens und Nichtan- bzw. Nichtaussprechens an, wie sie sich auch zwischen Alen und seiner Mutter findet (siehe unten).139

139

Die auswertende Psychologin fand das Interview gut und ausreichend offen durchgeführt. Vorsichtiges und tendenziell vermeidendes Frageverhalten fand sich sowohl in den Interviews, die ich geführt habe, als auch in den von der bosnischen Psychologin geführten AAIs. In verschiedenen Arbeitsgruppen, in denen das Interviewmaterial vorgestellt wurde, wurde kontrovers diskutiert, inwiefern es sich dabei um Durchführungsfehler handelt, die möglichst vermieden werden müssen oder ob ein solches Interviewerverhalten eine vielleicht intuitive aber auch angemessene Reaktion auf die hohe emotionale Belastung der Flüchtlinge darstellt und diese – zumal es sich bei Forschungsinterviews um einmalige Begegnungen handelt – damit auch angemessener Weise schützt. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Beziehung zur Mutter

Die Beziehung zur Mutter klingt in den beiden zitierten Ausschnitten schon an: Sie nimmt seine Emotionen entweder – nach seiner Wahrnehmung – nicht wahr oder er fühlt sich durch ihr Nachfragen eher bedrängt. Man kann vermuten, dass er auf Nachfragen der Mutter ähnlich kurz und ausweichend reagiert wie hier auf die Interviewfragen. Obwohl sich die Fragen immer wieder auf das Verhältnis zur Mutter beziehen140, entsteht aufgrund seiner knappen Äußerungen kein lebendiges Bild von seiner Beziehung zur Mutter oder von der Persönlichkeit der Mutter. Er bejaht zwar mehrmals Fragen danach, ob er sich von ihr unterstützt fühle, außer dass sie ihm bei den Hausaufgaben hilft, fällt ihm jedoch auch hierfür kein Beispiel ein. Seine Beschreibung – was ebenfalls typisch für ein A-Muster ist – wirkt dadurch idealisierend. Das Einzige, was er bezogen auf seine Mutter im Interview mehrmals in verschiedenen Zusammenhängen erwähnt, ist ihre Angst. Die Angst der Mutter nimmt, und dies ist aus traumatheoretischer Sicht sehr plausibel, eine zentrale Dimension in der Beziehung ein. Angst ist auch die einzige Emotion, die er in Zusammenhang mit der Beziehung zu seiner Mutter nennt. Für mich überraschend, erwähnt er dieses Thema gleich zu Beginn des Interviews, als ich nach Hobbys und Lieblingsbeschäftigungen frage: Als Erstes würde ich Dich gerne nach Deine Hobbys fragen, was sind denn die Sachen, die du am liebsten magst? Ähm, mich mit Freunden verabreden (mhm), Fußball spielen (hm), ja Basketball und Computer spielen 140 Der Interviewleitfragen bezieht sich immer auf beide Elternteile beziehungsweise auf die für das Kind bedeutsamen Bezugspersonen. Die Tatsache, dass ich bei Alen und den meisten anderen Flüchtlingskindern jeweils nur nach der Mutter fragen konnte, machte bereits während der Durchführung der Interviews spürbar, wie »schmal« die Basis ist, auf die die Kinder zurückgreifen können, die Hälfte der Fragen fällt einfach weg. Ob es jemanden gebe, »der wie ein Vater ist«, oder das Kind eine andere wichtige Bezugsperson habe, wurde zu Beginn des Interviews erfragt und von allen Kindern, auf die diese Frage zutraf, verneint.

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9 Exemplarische Fallanalysen Und ähm, Fußball spielst du das im Verein oder spielst du das// Ne, mit Freunden. Mit Freunden, hm. – Wie bist du dazu gekommen, das zu machen? Na, ich habe mal mein-, meinen Cousin zugeguckt, da hat mir das gefallen, habe ich es mal ausprobiert (hm) und jetzt spiele ich es oft. Wie oft machst du das so? Ja, wenn mein Cousin zu mir kommt oder in der Schule spielen wir in der Pause Fußball. Hm. Und würdest du gerne in einen Verein gehen oder ist das… Ne, (nicht so?) ne. Warum nicht? Weiß ich nicht. Hm, hm. Und was würdest du sagen, unterstützt deine Mutter, dass du das machst? Ja, aber sie interessiert sich nicht dafür (mhm, mhm). Sie mag es eher lieber, wenn ich zu Hause bin. – Mhm. Warum mag sie lieber, wenn du zu Hause bist? Ja, sonst hat sie immer Angst, dass mir was passiert und so. – Aha, sagt sie das oder woher weißt du das? Ja, sie sagt das öfter. Und wie findest du das, wenn sie das sagt? Na, gut. Die kümmert sich ja wenigstens um mich dann.

Der letzte Satz wirkt so, als würde Alen vor allem durch die Angst der Mutter spüren, dass sie sich um ihn kümmert, und als würde er »Angst um mich haben« gleichsetzen mit »sich um mich kümmern«. Auch das »wenigstens« fällt auf, wobei hier nicht erkennbar wird, ob er sich damit darauf bezieht, dass sich seine Mutter seiner Meinung sonst nicht um ihn kümmert, oder ob er dies eher bei anderen Eltern beobachtet. Im weiteren Verlauf des Interviews wird deutlich, dass die Angst der Mutter Alen auch einschränkt. So nimmt er zum Beispiel nicht an einem Sporttraining der Schule teil, weil er dann im Winter erst im Dunkeln nach Hause käme und seine Mutter dies nicht möchte. Die Bedenken der Mutter sind dabei zumindest zum Teil verständlich: Wie alle von mir interviewten Flüchtlingsfamilien leben Alen und seine Mutter in einer kostengünstigen Sozialwohnung, die nur in Bezirken zu finden ist, die gleichzeitig als soziale Brennpunkte gelten. Bei Alen wie auch bei den meisten anderen Flüchtlingskindern fällt jedoch auf, dass sie © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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sich über solche Einschränkungen nicht beschweren und dass es nach Alens Schilderung zwischen der Mutter und ihm kaum Kommunikation über solche Themen gibt. Dies passt zu dem Eindruck, dass Alen mit einem überangepassten Verhalten auf die Angst seiner Mutter reagiert. Es ist allerdings ebenso denkbar, dass hier ein kultureller Unterschied zum Tragen kommt, dass nämlich »Verhandlungsprozesse« zwischen Eltern und Kind in der (ländlichen) bosnisch-muslimischen Kultur insgesamt eher unüblich sind, wofür die Ergebnisse der Expertinnenvalidierung sprechen (siehe Kapitel 11). In der Literatur zur transgenerationalen Übertragung von Traumatisierungen wurden die Angst um die Kinder und die Schwierigkeiten, sich von ihnen zu lösen, als wesentliches Merkmal der Eltern-Kind-Beziehungen geschildert (siehe Kapitel 3 und 5). Auch Alens Mutter beschreibt im Interview immer wieder ihre Ängste um Alen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass ihre Ängste um den Sohn über ein nachvollziehbares Maß hinaus zusätzlich traumatisch gefärbt sind und sich dadurch weniger gut eingrenzen bzw. kontrollieren lassen. In dem folgenden Interviewausschnitt geht es darum, wie Alen Trennungssituationen erlebt. Auf die Frage, ob er schon einmal längere Zeit von seiner Mutter getrennt war, erzählt er, dass er schon mehrmals in den Sommerferien im Ferienlager war : Und wie fandest du das [im Ferienlager]? Na, gut eigentlich (hm). Und hattest du da auch ein bisschen Heimweh oder so? Hm, nee. Hm, wie fandest du das, von deiner Mutter getrennt zu sein? – Äh. . . . {{4 sec}} weiß ich nicht. Weißt du nicht, hm. – Und wie war das denn, als du wieder zurückgekommen bist? Na, da war sie eigentlich froh. Sie war froh? Ja. (hm). Und du? Wie ging es dir? Na, – ja, so mittel. So mittel? (ja) Wie denn so ungefähr? Na, erst war ich ein bisschen froh, ein bisschen nicht (hm). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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9 Exemplarische Fallanalysen Warum warst du froh, also ein bisschen froh? Na, weil ich zu Hause war (hm) Und weshalb warst du vielleicht nicht so froh? Na, äh. . . . . . . . {7 sec}}ja, dass ich nicht mit den gleichen Kindern spielen konnte (hm), dass ich dann die ganze Zeit zu Hause war (hm). Weißt du denn, wie deine Mutter das fand, als du so lange weg warst? Ne.

Überraschend ist der Perspektivwechsel, den Alen vornimmt, als er sich hier auf die Frage nach der Rückkehr spontan zu den Gefühlen seiner Mutter äußert: »Na, da war sie eigentlich froh«. Dies könnte dadurch ausgelöst sein, dass ich kurz zuvor die Trennung von der Mutter erwähne, die Frage bezieht sich jedoch explizit auf seine Gefühle. Er spricht daraufhin sofort von den Gefühlen seiner Mutter und es scheint so, als würde es ihm nicht gelingen, im Zusammenhang mit dieser für die Mutter schwierigen Trennungssituation bei seinen Gefühlen und seiner Situation zu bleiben. Mit dem Satz »Da war sie eigentlich froh« drückt er auch die Erleichterung der Mutter aus, dass sie ihren Sohn wohlbehalten – lebend – wiedersieht. Mit der Wahrnehmung und Äußerung ihrer Gefühle überdeckt er seine eigenen. Bei seiner Rückkehr stehen für ihn offenbar das Frohsein und die Erleichterung der Mutter mehr im Vordergrund als sein eigenes Erleben. Wie existenziell die Ängste der Mutter sind, wird in den Interviews mit ihr deutlich. Dabei nimmt sie durchaus sensibel wahr, wie genau ihr Sohn um ihre Ängste weiß. Sie erzählt in einem Interview beispielsweise, dass Alen ihr aus dem Ferienlager eine besonders lustige Postkarte geschickt habe. Nach ihrer Einschätzung habe er diese Karte ausgesucht, weil er wisse, dass es ihr nicht gut gehe und er sie aufmuntern wolle. Vermutlich aufgrund ihrer Traumatisierung scheint sie solche Zusammenhänge im unmittelbaren Umgang mit ihrem Kind jedoch nur ansatzweise wahrnehmen zu können. Alen kann seine eigenen Gefühle bezüglich der Trennungssituation gar nicht benennen, bezogen auf die Rückkehr nach Hause sind sie offenbar ambivalent. Am Ende der Passage bleibt sogar der Eindruck, dass seine Beschreibung als »mittel« eine diplomatische Umschreibung dafür ist, dass er eigentlich gerne © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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weiter mit den anderen Kindern zusammengeblieben wäre. Immerhin, und dies scheint mir vor dem Hintergrund der schweren Traumatisierung der Mutter bemerkenswert, kann er seine eigenen Bedürfnisse hier zumindest, wenn auch nur auf diese sehr vorsichtige Weise, andeuten. Während Alen die Ängste seiner Mutter thematisiert, gibt er auf die Frage, ob es mal vorkomme, dass die Mutter traurig sei, die Antwort: »Äh ne. Ich bemerke es nicht, wenn sie traurig ist«. Die Mutter dagegen berichtet, häufig traurig zu sein und viel zu weinen, sie weint auch während der Interviews. Alen nennt an einer anderen Stelle im Interview dann eine Situation, in der er sie habe weinen sehen, und zwar als seine Großmutter gestorben sei. Alen war damals neun Jahre alt, er berichtet aber, er könne sich an die Situation nicht mehr erinnern, nur dass die Mutter geweint habe. Nicht zuletzt aufgrund der beschriebenen engen Wohnsituation erscheint es unwahrscheinlich, dass er die Traurigkeit der Mutter nicht wahrnimmt, und es stellt sich die Frage, wie das doppeldeutige »nicht bemerken« verstanden werden kann. Geht man davon aus, dass die Mutter vermutlich die mit dem Trauma verbundenen Affekte kaum kontrollieren kann, dann ist denkbar, dass Alens »Nichtbemerken« auch in dem Sinne aufgefasst werden kann, dass er sowohl zum eigenen Schutz als auch zum Schutz der Mutter vermeiden muss, seine Reaktion auf die Traurigkeit der Mutter zu zeigen. Versteht man seine Bindungsstrategie insgesamt als Reaktion auf die Traumatisierung der Mutter, was insofern plausibel ist, als A-Muster im Zusammenhang mit emotional wenig unterstützenden Bezugspersonen entwickelt werden, dann ist auch wahrscheinlich, dass er emotionsvermeidende Prozesse nicht bewusst wahrnimmt, sie sind Teil einer frühen Anpassungsleistung, mit der Alen die Beziehung zur Mutter stabilisiert. Situationsangemessene Gefühle wie Traurigkeit, Wut oder ein Zusammenbruch würden diese Stabilität gefährden, da die Mutter diese vermutlich kaum aushalten könnte. Die darauf basierende Vermutung, dass negative Gefühle bei Alen hoch angstbesetzt sind, bestätigt sich im SchwarzfußTest (s. u.).

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Äußerungen über den Vater

Alen berichtet keine Erinnerungen an seinen Vater zu haben. Er denke nicht oft an ihn und spreche auch nicht oft über ihn. Wenn er an ihn denke, dann frage er sich, wie sein Vater aussah. Auf Nachfrage antwortet er, nicht viel über seinen Vater zu wissen, kann aber nicht benennen, was er gerne noch wissen würde. Und wenn du mal eine Frage hast [zu deinem Vater], mit wem kannst du denn darüber sprechen? Ähm . . . . {{4 sec Pause}} mit – meiner Mutter. Machst du das auch manchmal? Ne.

Die Pause, bis er auf seine Mutter als mögliche Ansprechpartnerin kommt, ist ungewöhnlich lang und lässt vermuten, dass er sich mit diesen Fragen eher nicht an sie wendet. Es wirkt so, als sei sein Wissen darum, dass die Mutter eine Ansprechpartnerin für ihn sein könnte, gewissermaßen abstrakt. Wie schwierig die Kommunikation über den Vater zwischen Mutter und Sohn ist, hat die eingangs zitierte Episode demonstriert. Deutlich wird an dieser Antwort ebenso wie im gesamten Interview, dass Alen auch keine anderen erwachsenen Ansprechpartner zur Verfügung stehen, die eventuell elterliche Aufgaben übernehmen könnten. So lebt zwar ein Cousin des Vaters ebenfalls in Berlin, dieser nimmt aber keine väterliche Rolle gegenüber Alen ein. Im Gegensatz zu anderen Kindern mit ähnlichen biographischen Hintergründen kann Alen jedoch den Wunsch nach einem Vater ausdrücken und eine vorsichtige Phantasie entwerfen, indem er auf Nachfrage angibt, sich schon einmal vorgestellt zu haben, dass jemand wie ein Vater für ihn wäre und dass er dann mit ihm Fußball spielen würde. Der Wunsch nach einem Vater ebenso wie die weiterhin bestehende Unsicherheit, ob der Vater lebt, werden bei seinen »Drei Wünschen« deutlich. Alen wünscht sich: »Einmal dass mein Vater lebt, ja, ähm . . . . .{{5 sec pause}}, also dass alle die leben, die im Krieg gestorben sind, ja und nichts«. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Ein dritter Wunsch fällt ihm nicht ein. Da hier nicht klar wird, ob Alen doch noch Hoffnung auf eine Rückkehr des Vaters hat, habe ich ihn an dieser Stelle direkt gefragt, ob er denke, dass sein Vater lebt, was er verneint. Den Wunsch nach der Rückkehr des Vaters äußerte Alen auch im Alter von sieben Jahren, nur dass es damals für ihn noch wahrscheinlicher war, dass sein Vater noch leben könnte. Damals lauteten seine »Drei Wünsche«: »dass ich gut lese, dass ich gut schreibe, dass mein Vater wiederkommt und dass wir wieder alle zusammen leben«.

Schwarzfuß-Test (SFT) Im SFT bestätigt sich, dass der von Alen genannte Wunsch nach der Reversion des Todes des Vaters sein zentrales Thema ist. Für Schwarzfuß (SF) wählt Alen ein Alter, das, bezogen auf seine eigene Lebensgeschichte, vor dem Vaterverlust liegt: Schwarzfuß ist drei Jahre alt. Im Laufe der Geschichte inszeniert er eine Trennung von Vater und Sohn, auf die ich ausführlich eingehen werde. Der SFTendet ebenfalls mit einer »Drei-Wünsche-Frage«, allerdings sollen dabei die Wünsche von Schäfchen Schwarzfuß genannt werden. In Alens Geschichte wünscht sich Schwarzfuß, »dass er immer mit seiner Familie zusammenbleibt und dass er nicht geschlachtet wird«.141 Alens Geschichte im SFT ist sehr dicht und enthält einige »außergewöhnliche Themen« im Sinne von Corman (1995). Nach Corman sind vor allem solche Themen hinweisreich, in denen der Proband »vom erwarteten durchschnittlichen Thema abweicht«. Bei Alen bestätigt die Themenwahl einige Eindrücke aus dem Bindungsinterview. Die Verwobenheit von Alens Identitätsentwicklung mit dem traumatischen Verlust des Vaters wird aber meines Erachtens erst hier deutlich. Ich werde im Folgenden erst seine Er141

Auf einer Bildkarte (»Karren«, siehe unten) wird angedeutet, dass ein Schäfchen zum Schlachten gebracht wird. Es ist durchaus bemerkenswert, dass er dieses Thema hier aufnimmt, es wird auch im Test als eine Gefahrensituation dargestellt. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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zählung wiedergeben und anschließend eine Interpretation vorschlagen. Das erzählte Narrativ habe ich in zwei Sequenzen unterteilt: Alen erzählt entsprechend der Testdurchführung zunächst zu den Bildern, die ihm spontan gefallen und zu denen er etwas erzählen möchte (erste Sequenz). Anschließend frage ich ihn, ob ihm auch noch etwas zu den übrigen, zunächst weggelegten Bildern einfällt, woraufhin er die Geschichte fortsetzt (zweite Sequenz). Nach dem Erzählen einer Geschichte ist, wie in Kapitel 7 beschrieben ein zweiter Testdurchgang vorgesehen. In diesem zweiten Testteil werden alle Bilder noch einmal in beliebte und unbeliebte Bilder eingeteilt. Anschließend wird der Proband aufgefordert, jeweils zu erläutern, warum ihm ein Bild gefällt oder nicht gefällt und ob er sich mit einer Figur auf dem Bild identifiziere. Dieser zweite Durchgang, bei Corman (1995) »Bevorzugte Identifikation« genannt, liefert oft sehr wichtige Informationen für die Interpretation des Tests. Aus Darstellungsgründen habe ich mich jedoch dafür entschieden, diesen Testteil nicht ausführlich wiederzugeben, sondern die Informationen zu den bevorzugten Identifikationen in die Interpretation mit einfließen zu lassen.

Erzählverhalten Alen braucht nicht lange, um Bilder auszuwählen, die ihn ansprechen. Das Erzählen macht ihm Spaß, er erzählt spontan und flüssig. Die Bilder scheinen für ihn unmittelbar eine »logische« Geschichte zu ergeben, denn er denkt nur selten darüber nach, auf welche Weise er seine Geschichte fortsetzen wird. Da dadurch kaum längere Pausen auftreten, ist es manchmal sogar schwierig, klärende Nachfragen zu stellen, vieles klärt sich dann aber durch seine Ausführungen im zweiten Testteil. Im Gegensatz zu anderen Kindern/Jugendlichen seines Alters thematisiert er nicht, für solche Bildergeschichten eigentlich schon zu alt zu sein.

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Darstellung der Geschichte Beschreibung des Titelbildes

Im SFT wird lediglich vorgegeben, welches der – je nach Testversion – Schäfchen- oder Schweinchen- Schwarzfuß ist, wer die anderen auf der Titelkarte sein sollen, welches Alter und Geschlecht sie haben, kann der Proband selbst festlegen. Bei Alen ist Schwarzfuß ein Junge und drei Jahre alt, die beiden weißen Schäfchen sind die jüngeren

Abbildung 1: Titelbild, hier in der Schweinchen-Version. (Nur für die bekanntere Schweinchen-Version war eine Abdruckgenehmigung erhältlich. Die Bilder sind Corman, Le Test Patte Noire, erschienen 1995 bei PUF, Paris, entnommen und unterliegen dem Copyright. Die Version mit den Schäfchen ist bezüglich der Hintergrundgestaltung, Anordnung und Ausdruck der Tiere, Größe etc. identisch.)

Geschwister, ein Mädchen und ein Junge. Bei den beiden großen Schafen setzt er zunächst dazu an, diese, so wie es das Bild nahelegt, als Eltern zu beschreiben. Er verbessert sich dann aber und beschreibt sie als den erwachsen gewordenen SF mit seiner Freundin: »Vielleicht ist das die Mutter und der Vat-, ne, das ist SF, wenn er erwachsen ist [zeigt auf das große weibliche Schaf mit dem schwarzen Fleck], und das ist seine Freundin [zeigt auf das große männliche Schaf]«.

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Abbildung 2: Traum Mutter

Abbildung 3: Traum Vater

Erste Sequenz

Als erstes Bild wählt Alen Traum Mutter : Seiner eigenen Beschreibung der Titelkarte folgend, lässt Alen SF hier nicht von seiner Mutter, sondern von sich selbst als Erwachsenem träumen: »Also erst legt sich SF schlafen und träumt und da träumt er, wie er mal aussehen will, wenn er groß ist«. Alen nimmt daraufhin © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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sofort das nächste Bild (Traum Vater): »und da träumt er, wie er gerne seine Freundin hätte«. Auf meine Nachfrage fügt Alen hinzu, dass SF sich vorstellt, immer noch den schwarzen Fleck zu haben, und dass er sich etwas mutiger und stärker fühlen würde, wenn er groß ist. Anschließend beschreibt er spontan sehr detailliert wie die »Freundin«– nach Testintention also das als männlich dargestellte »Vaterschaf« – aussieht (Traum Vater): »[er stellt sich vor,] dass sie so kleine Hörner hat […], dass sie ganz weiß ist, dass sie nirgendwo einen Fleck hat […], dass sie einen längeren Schwanz – also als er – hat«. Trotz dieser detaillierten Beschreibung behält Alen die umgekehrte Geschlechtszuordnung auch später im Test bei. Die nächsten Bilder sind Nacht und Fee:

Abbildung 4: Nacht

SF »kommt er irgendwie so gegen diese Mauer und dann wacht er auf, ja, dann guckt er rüber zu seinen Eltern [hier spricht Alen kurz von Eltern], dann sieht er da, wie die schlafen und seine Geschwister schlafen auch. Dann guckt der wie alle schlafen, legt er sich auch wieder schlafen hin, ja und am nächsten morgen wacht er auf und fragt seine Mut- nein«. Hier findet sich wieder ein Versprecher, ähnlich wie bei der Beschreibung der Titelkarte: »und fragt seine Mu-, nein, geht er, also geht er spazieren«. SF trifft daraufhin eine Fee und hat drei Wünsche frei. Er © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Abbildung 5: Fee

wünscht sich, »wie er aussehen will und wie seine Freundin aussehen will. Dann kommt der an so eine kleine Mauer [Kuss], die sieht der da und da bemerkt er, dass er genau so aussieht, wie er es sich vorgestellt hat im Traum«. Hier sieht also nicht das Kind seine Eltern, wie es das Bild nahe legt, sondern der kleine SF sieht den erwachsenen SF, »wie er mit

Abbildung 6: Kuss

seiner Freundin knuddelt«. Alen beendet die Geschichte mit Baum, eine Karte auf der das große Schaf SF auf den Schultern trägt, damit er auf einen Baum klettern kann. Hier bezeichnet er das große männliche Schafe als Vater: »Und dann geht der nach © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Hause und er fragt seinen Vater, ob er, ob er ihn auf dem Baum helfen kann, ja und dann klettern die auf dem Baum. Ja , und nichts mehr«.

Interpretation der ersten Sequenz Bereits bei der Titelkarte fällt auf, dass Alen zwar zunächst eine Familienkonstellation sieht, diese Idee dann aber sofort verwirft und stattdessen Schwarzfuß zweimal auftauchen lässt: als jungen, dreijährigen Schwarzfuß und als erwachsenen Schwarzfuß. Die damit bereits festgelegten Themen Selbstentwicklung und Erwachsenwerden ziehen sich im Folgenden durch den gesamten Test. Die wenig bildgetreue Beschreibung der Bildkarte zeigt, wie dominant das Thema ist. Alen hält diese bei der Titelkarte vorgenommen Zuweisung der Protagonisten fast konsequent durch: In der ersten Sequenz spricht er nur bei der Karte Nacht von Eltern, dort jedoch nur sehr kurz und ohne sie weiter in die Geschichte einzubinden. Selbst bei der Bildkarte Kuss, bei der die Eltern noch deutlicher als Paar dargestellt werden und die unübersehbar auf die triadische Situation und das ödipale Thema anspielt, »übersieht« Alen diese Deutungsmöglichkeit. Der Vater alleine taucht einmal bei er Karte Baum auf, wo der kleine SF zum Vater geht und bittet, auf den Baum gehoben zu werden. Alen nimmt zudem einen Geschlechtertausch vor, indem er das große weibliche Schaf als erwachsenen (männlichen) SF bezeichnet und das große männliche Schaf als dessen Freundin. Hierbei scheint der schwarze Fleck eine wichtige Rolle zu spielen. Ich werde auf das Thema des Geschlechtertausches ganz zum Schluss im Zusammenhang mit dem bei Alen ebenfalls auftauchenden Nährvatermotiv eingehen. Alen thematisiert damit bereits bei diesem ersten Bild auf der projektiven Ebene sowohl die Unvollständigkeit seiner eigenen familiären Situation als auch deren Konsequenz: Schwarzfuß ist gleichzeitig Kind und Erwachsener und später im Test (siehe zweite Sequenz) sogar gleichzeitig Vater und Kind. Dass der erwachsene Schwarzfuß an der Seite seiner »Freundin« steht, könnte ein Hinweis darauf sein, dass auch Ersatzfunktionen für © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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den Ehemann der Mutter – Alen steht alleine an der Seite seiner Mutter – übernommen werden. Schon in Alens Bindungsinterview war seine (reale) Mutter in seinen Beschreibungen von Alltags- und Konfliktsituationen kaum präsent, auf der Phantasieebene im SFT fällt eine Mutterrepräsentation nun, abgesehen von den zwei kurzen Versprechern, komplett weg.142 Bis auf die erwähnten Versprecher erzählt Alen dann eine Geschichte mit hoher Kohärenz: SF träumt davon, wie er aussieht, wenn er erwachsen sein wird, wie seine Freundin aussehen wird, wacht in der Nacht auf, wendet sich am nächsten Morgen nicht an seine Mutter, sondern trifft eine Fee, sieht sich selbst als Erwachsenen und stellt fest, dass er als Erwachsener genauso aussieht, wie er es sich vorgestellt hat. Am Ende dieser ersten Sequenz kann SF wieder der »kleine« SF sein, der sich an seinen – großen, erwachsenen – Vater wendet, der ihn auf dem Baum hebt und, bildlich gesprochen, so hilft, »groß« zu sein. Sieht man erst einmal von Alens besonderem biographischen Hintergrund ab, der hier die Frage aufkommen lässt, inwiefern es sich um einen Hinweis auf eine forcierte Autonomieentwicklung, also ein »Erwachsen-werden-Müssen«, handeln könnte, dann kreist diese erste Sequenz im Wesentlichen um das prägende psychosoziale Thema in der Pubertät (Erikson, 1965). Die Frage nach der eigenen Identität ist typisch für Alens Alter und sicherlich ist seine Themenwahl hiervon beeinflusst. Auch ist Alens Interpretation der Traumkarten nicht ganz ungewöhnlich. Einige Kinder sehen hier Schwarzfuß, der von sich selbst träumt, wählen also ein Thema des Ich-Ideals. Corman (1974, S. 46 f.) beschreibt diese Interpretation bei der Karte Traum Mutter für 7 % und bei der Karte Traum Vater für 12 % der von ihm untersuchten Kinder. Ungewöhnlich an Alens Erzählung zu diesem Thema ist jedoch, dass es einerseits sehr dominant ist – bis zum Wegfallen von Elternfiguren –, andererseits aber in der ersten Sequenz 142 Rein von der Bildebene her gedacht ist dabei interessant, wenngleich schwer zu interpretieren, dass der erwachsenen SF auch die Mutter ersetzt, da das »Mutterschaf« als erwachsener Schwarzfuß beschrieben wird.

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kaum inhaltlich gefüllt wird. Alen beschränkt sich auf äußere, oberflächlich wirkende Fragen: Wie sieht SF später aus? Wie wird seine Freundin aussehen? Eine tatsächliche Geschichte, etwa darüber, was der erwachsene SF erlebt, entwickelt er hier nicht, zudem belässt er das Thema Erwachsensein auf der Traumebene. Die aus seiner Beschreibung ableitbare Zukunftsvorstellung ist ebenfalls nicht weiter ausgeschmückt, jedoch positiv : SF sieht sich als Erwachsenen, der mit seiner Freundin »knuddelt«. Gleichzeitig gibt es in diesem kurzen Narrativ Anzeichen dafür, dass es sich um ein beunruhigendes Thema handelt: SF wacht nach dem Traum von sich selbst als Erwachsenem auf. Alens Versprecher lässt erkennen, dass SF sich anschließend beinahe – Trost suchend? – an seine Mutter gewandt hätte. Dass er diese Idee nicht weiter ausführt, entspricht dem Bild, das Alen von sich selbst im Bindungsinterview gegeben hat: In schwierigen Situationen bleibt er lieber allein, das Wissen darum, sich an die Mutter wenden zu können, wirkt abstrakt. Der Eindruck einer ängstlich-vermeidenden Bindungsstrategie bestätigt sich hier auf der projektiven Ebene. Zugleich lässt dieser Versprecher den Wunsch nach einer emotional verfügbaren Mutter, bei der Schwarzfuß »klein sein« kann, vermuten. Die Tatsache, dass anschließend anstelle der Mutter die Fee auftritt, verstärkt diese Annahme und zeigt, dass Alen hier in seiner Geschichte eine »Ersatzmutter« findet, ein Motiv, das sich ebenfalls in der zweiten Sequenz fortsetzt. Alen beendet in dieser ersten Sequenz die Auseinandersetzung mit dem Erwachsenwerden, nachdem sich SF selbst als Erwachsener sehen konnte. Es wirkt fast so, als habe das Schäfchen hier eine beruhigende Gewissheit erhalten: Es sieht genauso aus, wie es sich das vorgestellt hat. Im Anschluss stellt er Schwarzfuß als Kind dar im gemeinsamen Spiel mit dem Vater. Die Isoliertheit, mit der das Bild Baum am Schluss der Geschichte steht, und die Schnelligkeit und Endgültigkeit, mit der Alen hier mögliche weitere Phantasien mit »und nichts mehr« beendet, deuten darauf hin, dass er hier eine Wunschvorstellung äußert, die vermutlich, wenn man an Alens im Bindungsinterview geäußerten Wunsch, mit einem Vater Fußball spielen zu können, denkt, zu schmerzhaft ist, um weitergedacht zu werden. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Mit welcher Ambivalenz für Alen das Thema Erwachsenwerden verbunden ist, wird ganz deutlich im zweiten Testteil zur bevorzugten Identifikation, bei dem er seine Gedanken zu den einzelnen Bildern weiter ausführt, ohne jedoch im Gegensatz zu anderen Probanden seine Beschreibungen der Bilder zu verändern. Während Karten, zu denen er Erwachsenwerden, Größerwerden auf der Traum- oder Vorstellungsebene thematisiert (Traum Mutter, Traum Vater, Fee), bei ihm beliebt sind, lehnt er Kuss entschieden ab. Das Bild Traum Mutter ist sogar das zweitbeliebteste. Die Vorstellungen, die SF in seinem Traum hat, führt er weiter aus: SF fragt sich, »ob er auch immer noch den Fleck haben wird. Ja, wie er größer wird oder ob er so klein bleibt«. Der Fleck hat damit eine wichtige, identitätsstiftende Bedeutung, darüber hinaus stellt Alen hier eine weitere zentrale Frage: Werde ich (überhaupt) groß? Die Karte Kuss dagegen gehört zu den wenigen unbeliebten Karten. Bei dieser Karte beschreibt er das gleiche Thema, allerdings nicht auf der Traumebene. Die Konfrontation mit Elternbzw. Erwachsenenfiguren und einer vollständigen Familie ist hier allerdings unausweichlich. Alens Beschreibung dieser Karte ist eine der auffälligsten im gesamten Test, da er die in dem Bild sehr deutlich angelegte ödipale Situation (Schwarzfuß sieht seine Eltern, die sich küssen) umgeht. Es fragt sich, ob er hier möglicherweise keine Eltern sehen kann oder ob das Sehen der Eltern – die Triangulation – für ihn einen bedrohlichen Charakter hat. Aufschlussreich ist seine Begründung für die Ablehnung der Karte: »Er sieht sich zwar, wenn er erwachsen ist, und seine Freundin, wie die knuddeln, ja, und da guckt er traurig, er möchte nicht so gerne erwachsen sein«. Als Erwachsener könne SF nicht mehr so »gut rumtoben« und »überall hinklettern«. Die angesprochene Traurigkeit ist vermutlich sowohl eine Reaktion auf das zu frühe Erwachsen-sein-Müssen, als auch auf das auf dem Bild vollständig dargestellte Elternpaar und auf die fehlenden Begleitung beim eigenen Erwachsenwerden. In der von Alen beschriebenen Szene sieht sich der kleine Schwarzfuß selbst beim Größerwerden zu. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Alen findet für die meisten Bilder, auf denen Erwachsenenbzw. Elternfiguren dargestellt werden, keine andere Möglichkeit, als sie den bereits groß gewordenen Schwarzfuß darstellen zu lassen. In seiner Beschreibung der Karte Kuss ersetzt er ebenfalls die Vaterfigur durch den erwachsenen oder Erwachsen-seinmüssenden SF. Wie bei der Titelkarte scheint Alen mit dieser Konstellation auf seinen eigenen Realkonflikt zu verweisen.143 Alens auffälliges Ausklammern triadischer Situationen wird dadurch unterstrichen, dass er für die erste Sequenz fast ausschließlich Bilder wählt, die dyadische Szenen darstellen: auf den Bildern Traum Mutter, Traum Vater, Fee, Baum und in seiner Beschreibung auch bei dem Bild Kuss sind jeweils nur zwei verschiedene Personen zu sehen. Alen erläutert später im Test noch einmal, dass Schwarzfuß nicht so gerne erwachsen werden möchte, weil er sich dann »kümmern muss«, zum Beispiel wenn er Kinder kriegt. Diese Äußerung erinnert an die im Zusammenhang mit dem Bindungsinterview angesprochene Gleichsetzung von »Kümmern« und »Angst haben«. In der zweiten Sequenz erschließt sich, worum der erwachsenen Schwarzfuß Angst haben muss, wenn er Kinder hat.

143

Bei der Karte Kuss bietet sich als alternative Interpretation an, dass es sich um den (abgewehrten) Wunsch, an der Stelle des Vaters – oder im Sinne eines umgekehrten Ödipuskomplexes und von der Bildebene her gedacht an Stelle der Mutter – stehen zu wollen, handelt. Auf der Grundlage des Testes und der Interviews ergeben sich hierfür keine weiteren Anhaltspunkte. Die Betonung dyadischer Situationen bei gleichzeitigem Wegfallen der Mutter im SFT lässt allerdings eine problematische, wahrscheinlich sehr enge Beziehung zur Mutter annehmen, wie sie sich auch, verbunden mit der Thematisierung der Angst der Mutter, im Bindungsinterview zeigte. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sowohl die Traumatisierung der Mutter als auch der fehlende Vater Alens Ablösung von der Mutter erschweren. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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2. Sequenz Die Verknüpfung des Themas Erwachsenwerden/Selbstentwicklung mit einem traumatischen Kern wird in der zweiten Sequenz erkennbar. Aus Darstellungsgründen gebe ich hier nur Ausschnitte seiner Erzählung wieder, das gesamte Protokoll des Tests befindet sich im Materialband. Alen erzählt jetzt nach Aufforderung zu den Bildern, die er anfangs weggelegt hatte – im Sinne des Tests also zu den zunächst »abgewehrten« Karten. Auch hier macht er keine langen Pausen, sondern erzählt spontan und lässt sich schnell wieder auf das Erzählen ein. Im Gegensatz zu der ersten Sequenz ist der Anfang dieser Geschichte, bei der Alen zu den Bildern Schmutzspiele, Gänserich und Trog (Abbildungen siehe Materialband) erzählt, jedoch fragmentarisch und wirkt zusammenhangslos.

Abbildung 7: Karren

Erst als Alen bei dem Bild Karren auf die Traumebene wechselt, entsteht zunehmend eine narrative Kohärenz und das Thema seiner Erzählung wird deutlich: [Schwarzfuß träumt]dass er hier von so einem Mann von der Familie weggenommen wird. […] Der Mann schubst ihn rein [in den Wagen, I.L.], die Eltern gucken traurig, die Geschwister auch. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Abbildung 8: Ziege, in der Schäfchenversion: Esel Wie geht es da SF? SF guckt traurig, er will weinen Wie geht der Traum zu Ende? Er will jetzt erst mal da raus, schafft es aber nicht, im Traum wird er dahin gebracht.

An dieser Stelle bleibt sowohl unklar, wo Schwarzfuß raus möchte, als auch, wohin er gebracht wird. Anhand der Karte Esel lässt Alen SF gleich weiterträumen. Auf diesem Bild ist in der Schäfchenversion zu sehen, wie SF bei einem Esel trinkt: »da träumt er, dass er einen Esel kennen lernt, der Esel ist ein Weibchen.[… ]Er nimmt was von dem Esel zu trinken, man sieht den Fleck«. Als nächstes nimmt er die Karte Wurf. Alen erzählt, dass SF träumt, dass er dann hier Vater wird und auch drei Kinder hat, und die anderen drei Kinder gucken da zu und dann stellt der sich vor, dass eines von denen wegläuft, (eines von den Kindern?) ja, das wegläuft (nimmt Aufbruch). Es ist auf der Strasse ganz allein, man sieht nur Berge, Pflanzen. Warum läuft das weg? Ja, weiß ich nicht, vielleicht hat es sich verlaufen. Und macht der Vater dann was? Ne, ja, dann sucht er sie. Aber, ja, dann gehen noch die anderen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Abbildung 9: Wurf

Abbildung 10: Aufbruch Bauern und helfen, ob sie es finden, aber die finden es nicht, dann und dann wacht SF auf und geht dann (Loch) so zu einem kleinen Teich in der Nacht, also geht da ein bisschen baden, ja und da freut er sich dann, wenn er seine Eltern sieht.

Alen beendet hier also die Traumsequenz, die mit dem Bild Karren begonnen hat – inhaltlich vermischt er allerdings die beiden Ebenen, wenn er das Thema Trennung von den Eltern über den Traum hinaus fortsetzt. Dann nimmt er das Bild Streit: »da sieht SF, da beisst dann sein Bruder in den Fuß, in den Fuß und seinen Bruder ihn hier am © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Abbildung 11: Loch

Abbildung 12: Streit

Ohr, die Schwester läuft zu den Eltern oder, ja – oder, ne, oder das sind SF Kinder, die zwei prügeln sich, ja, und äh, ja, und ein anderes läuft zu den Eltern hin«. Wieder verspricht bzw. verbessert sich Alen an einer Stelle, an der es um die Eltern geht: die Schwester läuft zu den Eltern »oder, ne, das sind Schwarzfuß’ Kinder«. SF hat damit (wieder) keine Eltern, sondern ist selbst der Vater. Als letztes nimmt Alen die Karte Zögern: »und später gehen sie sich erholen, trinken was und dann eigentlich nichts mehr«. Alen hat damit zu allen Bildern, außer zu den Bildern mit den © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Stillsituationen, Saugen 1 und Saugen 2 (siehe unten) etwas erzählt. Am Schluss frage ich, wie die Geschichte von Schwarzfuß ausgeht: »Ähm, er spielt fröhlich mit den Geschwistern, mit den Eltern, ja, er führt ein ruhiges Leben«.

Abbildung 13: Zögern

Interpretation der zweiten Sequenz Das Bild Karren stellt eine dramatische Trennungssituation dar. Wie stark er auf dieses Thema reagiert, wird in seiner Geschichte jedoch erst später bei seiner Erzählung zu der Bildkarte Wurf, in der er das Thema Trennung noch einmal aufnimmt und weiterführt, deutlich. Bei dem Bild Karren assoziiert Alen mit dem Schäfchen, das auf den Karren geschoben wird, sofort Schwarzfuß, obwohl dies auf dem Bild nicht eindeutig dargestellt wird. Schwarzfuß träumt, dass er von einem Mann von der Familie weggenommen wird, der Mann schubst ihn, die Eltern gucken traurig, die Geschwister auch, SF guckt traurig, er will weinen. Auf die Frage, ob der Traum weitergehe, antwortet Alen: »Ne, er will jetzt erst mal da raus, aber schafft es nicht, im Traum wird er dahin gebracht, da träumt er, dass er einen Esel kennen lernt«. Es wird nicht erkennbar, ob sich die Bemerkung, dass SF »da raus will«, auf den Traum oder auf den Karren bezieht. Der nächste Satz »im Traum wird er dahin gebracht«, bleibt ebenfalls © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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ohne Erläuterung, Alen wirkt an dieser Stelle für einen kurzen Moment von der Geschichte absorbiert. Im zweiten Testteil fasst er sich auffällig kurz bei diesem Bild: »da ist Schwarzfuß traurig, hat einen Alptraum, das war’s«.144 Die Traumebene ermöglicht den schnellen Wechsel zur Karte Eselin. Das im Schwarzfuß-Test häufig vorkommende Aufeinanderfolgen von Saugen-Bildern auf Schreckerlebnisse kann in den meisten Fällen als Beruhigungsversuch interpretiert werden (Corman, 1974). In Übereinstimmung mit der bisher mutterlosen Geschichte beruhigt hier nicht die Mutter, sondern die Eselin, die wie vorher die Fee vermutlich die Rolle einer Ersatzmutter einnimmt. Dabei stellt Alen bei der Eselin jetzt die Weiblichkeit besonders heraus (»der Esel ist ein Weibchen«) und zeigt damit, dass er um die Geschlechtsunterschiede weiß. Mit der Bemerkung »man sieht den Fleck« betont er die unveränderte Identität von SF, auch wenn dieser bei der Eselin trinkt. Im zweiten Testteil lehnt er das Bild mit der Begründung ab, es sei merkwürdig, dass SF bei einem Esel trinke. Innerhalb der Geschichte kann er jedoch der Phantasie von einer Ersatzmutter für einen kurzen Moment Raum geben: SF nimmt etwas von der Eselin, was ihm die Mutter in seiner Geschichte nicht geben kann. Denkbar ist auch, dass es sich hier um ein Übertragungsgeschehen auf mich als Untersucherin handelt: Alen kann sich kurz auf eine »Fremde«, die ihm Interesse entgegenbringt, einlassen. Die zentrale Karte dieser Sequenz ist schließlich das Bild Wurf. Anhand von Alens Beschreibung zu diesem Bild lässt sich seine gesamte Erzählung entschlüsseln. Hier erzählt Alen, was dem erwachsenen SF passiert. Das Thema der ersten Sequenz wird fortgesetzt, jedoch nun mit Inhalt gefüllt: Schwarzfuß wird Vater, eines der Kinder läuft weg, Schwarzfuß muss es suchen. Es geht also um Weglaufen und Verlassen, Getrennt sein und Suchen. Wie konflikthaft dieses Thema ist, wird gerade daran deutlich, dass er es nicht bei dem Bild Karren, das das Thema deutlich 144

Im Bindungsinterview berichtet Alen von eigenen Alpträumen, an die er sich jedoch nicht erinnere, er wisse nur noch, dass sein letzter Alptraum von einer »gruseligen Frau« aus einem Zeichentrickfilm im Fernsehen handelte. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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vorgibt, ausführlich aufnimmt, sondern erst später bei der Karte Wurf, wo es nicht vom Bild her angesprochen wird. Ab diesem Punkt enthält seine Erzählung weitere Merkmale, die darauf hindeuten, dass er sich thematisch auf den erlebten Vaterverlust bezieht und dieser eine traumatische Qualität für ihn hat. Vor dem Hintergrund seiner Biographie lässt sich Alens Geschichte vom weglaufenden/verschwindenden Kind als ein traumakompensatorisches Thema nach Verlusterfahrungen (Fischer u. Riedesser, 1998, siehe Kapitel 5) verstehen. Das Kind, das den Vater verlässt, ist ein Gegenentwurf zur traumatischen Situation, in der das Kind vom Vater verlassen wurde. Der ohnmächtig und passiv erlebte Verlust kann mit diesem Gegenentwurf in der Phantasie nachträglich verhindert werden, da das Kind, das den Vater verlässt, nicht mehr vom Vater verlassen werden kann. Passivität wird in Aktivität umgekehrt.145 Im Narrativ bringt Alen die Vaterfigur in die Situation, erfolglos zu suchen, und stellt so eine Korrespondenz zu seiner eigenen Suche nach dem Vater her. Dies ist jedoch nur eine Seite von Alens Geschichte. Er geht noch darüber hinaus, indem er hier kein rein traumakompensatorisches Thema entwickelt, sondern gleichzeitig auch eine Wiederholung der traumatischen Situation (oder des »Traumaschemas«, Fischer u. Riedesser, 1998, siehe Kapitel 5) inszeniert: Das Kind verlässt im Grunde nicht den Vater, sondern das Kind wird zum Vater, der von seinem Kind verlassen wird. Ein solches gleichzeitiges Vorkommen von Aspekten der ursprünglichen traumatischen Situation und von kompensatorischen Maßnahmen ist nicht selten. Fischer und Riedesser (1998) behandeln dieses Phänomen unter der vielleicht etwas umständlichen Bezeichnung »minimales kontrolliertes Darstellungsoder Handlungsfeld« (S.100 f.). Mit dieser Bezeichnung machen 145

Die Tatsache, dass das Kind hier aktiv weggeht, kann auch als Hinweis auf die bei kleinen Kindern nach Verlusterfahrungen häufige Phantasie sein, die vermisste oder verstorbene Person habe es absichtlich verlassen. Aufgrund von Alens Alter beim Verlust des Vaters kann eine solche Phantasie vermutet werden, im Test und in den Interviews ergaben sich jedoch keine weiteren Anhaltspunkte hierfür. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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sie deutlich, warum Traumaschema und traumakompensatorisches Schema in einer Szenerie abgehandelt werden: Die Sicherheit versprechende traumakompensatorische Maßnahme ermöglicht, dass die traumatische Erfahrung mit ihrem ansonsten unkontrollierbaren Affekt Raum bekommen kann. Beiden Tendenzen kann auf diese Weise nachgegeben werden.146 Alen verwendet dabei insgesamt drei verschiedene Möglichkeiten zur Distanzierung bzw. Kontrolle: Erstens verlegt er seine Geschichte auf die Traumebene bzw. hält die Traumebene über das Bild Karren, wo SF träumend dargestellt wird, hinaus bei. Zweitens inszeniert er parallel dazu ein traumakompensatorisches Schema und drittens findet die Trennung auch innerhalb des Traumes noch zusätzlich in Schwarzfuß’ Gedankenwelt statt: Schwarzfuß träumt, dass er Vater wird und auch drei Kinder hat und dann stellt er sich vor, dass eines der Kinder wegläuft. Interessant an der Bildkarte Wurf ist auch, dass hier von Alen inszeniert wird, wie sich die Trennung von Vater und Sohn in der nächsten Generation fortsetzt: Schwarzfuß ist in Alens Geschichte zum überwiegenden Teil vaterlos und Schwarzfuß’ Sohn steht, auch wenn er selbst fortgeht und wenn dies »nur« im Traum geschieht, schließlich wiederum vaterlos da. Mit Faimbergs (1987) Begriff gesprochen »rücken« damit bei der Karte Wurf drei Generationen »ineinander« (siehe Kapitel 3): Das weglaufende Kind von Schwarzfuß eignet sich dessen Projektion, deren Ursache vor Beginn seines Lebens liegt, an beziehungsweise reagiert auf sie. Ein solches Auflösen von Zeit- und von Generationengrenzen und die (unbewusste) Wiederholung im Handeln/Agieren ist ein weiteres typisches Kennzeichen eines Traumas. Alen beendet zwar formal den Traum bei der Karte Aufbruch, inhaltlich setzt er aber sowohl das Thema der Trennung als auch das Vatersein (Streit) bei den letzten drei Karten der Sequenz fort und findet so gesehen nicht mehr zur ursprünglichen Rahmen146

Fischer und Riedesser betrachten dies als einen Prozess der Kompromissbildung und vergleichen ihn mit der psychoanalytischen Auffassung zur neurotischen Symptombildung als Kompromissbildung zwischen (Trieb-)Wunsch und Abwehr. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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handlung zurück. Der (Alp-)Traum wirkt nach, er wird nicht deutlich von der »Realität« unterschieden. Nach dem Traum, inhaltlich gesprochen nach der Trennung, gibt es außer Schwarzfuß selbst keine Vaterfigur mehr. Die auf den Bildern dargestellten vollständigen Familiensituationen (Streit, Zögern) interpretiert Alen wieder – wie bereits bei der Titelkarte und in der ersten Sequenz – so, dass der (elternlose) Schwarzfuß selbst den Vater ersetzt. Bemerkenswerterweise findet sich auch hier wie in der ersten Sequenz eine Korrektur, nachdem Alen erst kurz von Eltern spricht: »oder, ne, das sind Schwarzfuß’ Kinder«. Auch findet Alen keinen eindeutigen Schluss: Während er auf der narrativen Ebene eine beruhigende Szene erfindet, Schwarzfuß badet ein bisschen (Loch) und freut sich, wenn er seine Eltern wieder sieht, wählt er auf der Bildebene eine Karte, die Einsamkeit und Verzweiflung ausdrückt. Schwarzfuß ist in der Dunkelheit in einem Wasserloch zu sehen und schreit. Auf diese bedrohliche Seite des Bildes geht Alen erst im zweiten Testteil ein. Die Karte gehört zu den unbeliebten: »da ist er allein in der Nacht, weiß nicht, wo er ist, konnte nicht sehen in der Dunkelheit, hat sich verlaufen«. Alen beendet die Geschichte schließlich mit einem Bild, das eine aggressive Szene (Streit) darstellt, und einem Bild mit ambivalentem Charakter (Zögern). Er betont bei diesen Karten, dass sie jeweils die ganze Familie darstellen. Dass er auch bei seinen Schlussbildern gedanklich bei einer drohenden Trennung bleibt, zeigen seine Antworten im zweiten Testteil: Die Karte Zögern ist ein sehr beliebtes Bild, Schwarzfuß ist jetzt »ein Erwachsener mit Familie, sein Sohn hat auch einen schwarzen Fleck. Sie sind glücklich, er freut sich, sie werden nicht getrennt«. Auf die Frage, ob sie denken, dass sie getrennt werden könnten, antwortet Alen: »Vielleicht hat er andere Ziegen gesehen, die getrennt worden sind [..] vielleicht wurden sie verkauft oder geschlachtet«. Insgesamt stellt Alen damit in dieser Sequenz zweimal eine Trennungssituation her und wiederholt dieses Thema auch in seinem Schlussbild. Die Wiederholung und die fehlende deutliche Auflösung ähneln dem posttraumatischen Spiel, das durch Wiederholung und fehlende imaginäre Transformation der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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traumatischen Situation gekennzeichnet ist. Eine partielle Transformation gelingt Alen im Narrativ aufgrund der gleichen Anpassungsleistung, die er offensichtlich in seiner realen Situation selbst erbringt, nämlich über eine Vateridentifikation. Für die Geschichte des weglaufenden Kindes ließe sich auch als alternative Interpretation denken, dass Alen in seiner Geschichte den Wunsch gehen zu dürfen oder gehen zu können anspricht. Einige seiner Schilderungen im zweiten Testteil zeigen, dass sich für ihn in der Trennungssituation bei dem Bild Aufbruch durchaus Angst und Neugierde mischen: »er (SF) sieht die Landschaft, kann machen, was er will, ist an der frischen Luft […] der guckt sich erst die Berge an, weil er hat sie noch nicht gesehen[…]«. Auf die Frage, wie sich das Schäfchen fühlt, nennt Alen als Erstes die Neugierde, schränkt dann aber ein, dass es nicht so gut findet, von seiner Familie getrennt zu sein. Er identifiziert sich einerseits mit dem Schäfchen, weil »der sich frei bewegen kann«, allerdings habe Schwarzfuß auch Angst »dass ihn die anderen Besitzer, die auch Schafe haben, kriegen [oder] dass er nicht gefunden wird«. Mit dem Abstand, den der zweite Testteil bietet, kommen also auch die positiven Seiten von Autonomie und Unabhängigkeit zum Tragen, gleichzeitig bleiben diese jedoch mit Angst verbunden.

Nährvatermotiv und die Bilder Saugen 1 und 2 Diese beiden Bilder beschreibt er nur im zweiten Testteil. Beide Bilder sortiert er, wie fast alle Karten (14 von 18), zu den »beliebten« Karten. Innerhalb der beliebten Karten kommen sie jedoch ganz zum Schluss (an 12. bzw. 13. Stelle). Saugen 2, das Bild mit den Geschwistern, ist etwas beliebter. Alen bleibt auch hier konsequent bei seiner Rollenverteilung: »da ist er bei seinem Vater, die haben ja als Einzige einen schwarzen Fleck am Fuß. Heißen beide Schwarzfuß, der große Schwatzfuß und der kleine Schwarzfuß junior, seine Geschwister kommen«. Auf Nachfrage, was SF da mache, antwortet er : »der trinkt«. Es handelt sich also um ein Nährvatermotiv. Dabei ist zu be© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Abbildung 14: Saugen 1

Abbildung 15: Saugen 2

achten, dass Alen dieses Motiv erst im Nachhinein entwickelt und die Zuordnung des Vaters bzw. des erwachsenen Schwarzfuß zu dem weiblichen großen Schaf damit zusammenhängt, dass nur dieses wie Schwarzfuß auch einen schwarzen Fleck hat. Es ist denkbar, dass Alen den Fleck später deshalb so häufig erwähnt, weil er seine Geschlechterverwechslung bemerkt hat, aber nicht rückgängig machen möchte. Insbesondere seine Betonung der Weiblichkeit der Eselin bei gleichzeitiger Erwähnung des Flecks spricht für ein solches Bemerken seiner Verwechslung. Aufgrund dieser Überlegung und auch weil für ein tiefergehendes Verständnis des Nährvatermotivs bei Alen weitere Informationen zu © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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seiner Entwicklung notwendig wären, stelle ich hier mehrere Interpretationsmöglichkeiten vor, die interessante Hinweise enthalten, im Rahmen der Studie aber nicht weiter untersucht werden konnten. Interessant ist bezüglich des Nährvatermotivs auch, dass es im Schwarzfuß-Test nicht so selten vorkommt, wie man annehmen könnte. In Cormans Untersuchung tauchte diese Beschreibung bei circa jedem fünftem Kind (42 von 200) auf (Corman, 1974). Da es abgesehen vom Schwarzfuß-Test kaum projektive Verfahren gibt, bei denen es für den Probanden überhaupt möglich ist, einen Nährvater zu erfinden, existieren nur wenige Erkenntnisse zu diesem Thema. Corman und seine Kollegen haben, ausgehend von ihren Beobachtungen, dazu folgende Thesen formuliert: 1. Die Gemeinsamkeit durch den Fleck spielt eine besondere Rolle für das Auftauchen eines Nährvatermotivs, letztlich wird vor allem eine affektive Bevorzugung des Vaters ausgedrückt.In Alens Narrativ spielt ganz offensichtlich der Fleck die ausschlaggebende Rolle für seine Wahl des großen weiblichen Schafes mit dem Fleck als erwachsener Schwarzfuß. Darüber hinaus ist interessant, dass der Fleck von Alen im zweiten Testteil äußerst positiv besetzt wird (man kann SF unterscheiden, sein Name passt zu ihm und er kann sich aufgrund des Flecks gegenüber Geschwistern durchsetzen). Es ist auch sehr wichtig, dass Schwarzfuß den Fleck behält (Traum Mutter), dieser darf also nicht verloren gehen. Diese Fokussierung auf das Aussehen erinnert an Alens Bindungsinterview, in dem er sich fragt, wie sein Vater aussah. Er hat keine bewusste Erinnerung, die äußere Ähnlichkeit jedoch, die ihm erhalten bleibt, stellt eine Verbindung zum Vater her. Die Tatsache, dass Alen eine Mutterfigur fast komplett wegfallen lässt und es – wenn überhaupt – die Vaterfigur ist, die mit dem Kind Schwarzfuß spielt oder es unterstützt (z. B. Baum), passt zu Cormans Hypothese, dass der (vorgestellte) Vater bevorzugt wird. Sicherlich ist die Beschäftigung mit der Vaterfigur für Alen schmerzhaft, er bricht seine Phantasien hierzu immer wieder ab. Gleichzeitig ist sie jedoch auch attraktiv, weil er sich den Vater, an den er keine deutlichen Erinnerungen hat, sehr frei nach seinen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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eigenen Wünschen vorstellen kann. Wie erwähnt, gab es bei Alen interessanterweise auch bereits bei den Story Stems eine starke Beschäftigung mit der Vaterfigur, während die Mutterfigur – beide werden bei den Story Stems als Protagonisten vorgegeben – wenig in Erscheinung trat und oft hilflos wirkte. 2. Corman vermutet, dass das Nichtauftreten der Mutterfigur im Zusammenhang mit einem Nährvater darauf beruht, dass die Mutter vom Kind als frustrierend erlebt wird. Eine solche These passt zwar generell zum Bild der »traumatisierten Mutter«, allerdings nur insofern, als traumatisierte Mütter unter Umständen bestimmte Bedürfnisse ihres Kindes nicht sehen oder aufgrund der Traumatisierung eine Erfüllung der Bedürfnisse der Kinder nicht ertragen können (siehe Kapitel 3). Die Bilder Saugen beziehen sich allerdings auf eine sehr frühe Entwicklungsphase, über die die Mutter in den Interviews wenig berichtete. Ohne weitere Informationen zu Alens früher Kindheit ist damit eine solche Interpretation schwierig. Neben der angesprochenen hohen Bedeutung des Flecks, die Alen die Geschlechtszugehörigkeit »übersehen« lässt, ist ebenfalls denkbar, dass er bildlich gesprochen etwas Nährendes beim Vater sucht. 3. Nach Cormans Beobachtung waren die Mutter- und Vaterbilder bei Kindern, die einen Nährvater erfanden, nicht sehr klar. Die Wahl eines Nährvaters könnte demnach auch eine Folge mangelnder psychischer Reife oder unvollständiger Familienkonstellation sein. Aufgrund seines Alters bei der Trennung vom Vater lässt sich annehmen, dass Alen ein Mutter- und Vaterbild entwickeln konnte. Entwicklungspsychologische Untersuchungen haben allerdings gerade bei Jungen einen Zusammenhang zwischen frühem Vaterverlust und Problemen bei der Geschlechtsrollenidentifikation festgestellt (Schneewind u. Weiß, 1995).

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Traurigkeit und Weinen als vertuschtes Thema Erst eine Analyse des zweiten Testteils zeigt, dass das Narrativ ein weiteres, »vertuschtes« Thema enthält: Traurigkeit und Weinen. Alen lehnt alle Bilder, die er damit in Zusammenhang bringt, Kuss, Gänserich147 und Karren, ab. Darüber hinaus sind dies auch die Bilder, bei denen er sich mit niemandem identifiziert. In seiner Begründung für die Ablehnung der Bilder benennt er jedes Mal Traurigkeit bzw. Weinen. Kuss: »er sieht sich zwar, wie er aussehen wird, guckt so traurig, möchte nicht so gerne erwachsen sein«. Gänserich: »da sieht er seine Schwester weinen und das war’s«. Bei der Karte Karren beschreibt Alen: »SF guckt traurig, er will weinen«, er lässt es jedoch nicht zum weinen kommen oder er kann es nicht dazu kommen lassen. Das Bild gefalle ihm nicht gut: »da ist er traurig, hat einen Alptraum«. Ebenso wie im Bindungsinterview lässt er es nicht zu traurigen Gefühlen kommen und bricht seine Geschichte schnell ab, wenn er wie bei Gänserich mit Traurigkeit konfrontiert wird. Dieses Abbrechen oder Abwenden erinnert an sein »Nichtbemerken« der Traurigkeit der Mutter. Die Tatsache, dass er auch auf der projektiven Ebene diese Gefühle vermeidet, spricht dafür, dass sie angstbesetzt sind und vermieden werden müssen. Seine Äußerung »er will weinen« klingt fast wie ein Wunsch, traurig sein zu dürfen. Gerade im zweiten Testteil nennt Alen jedoch auch öfter positive Gefühle. Als besonders »glücklich« werden die beiden Bilder beschrieben in denen sein Vaterwunsch erkennbar wird, wie beispielsweise bei dem Bild Baum: »SF ist glücklich, die klettern und spielen [..], der Vater ist auch glücklich« und bei Schmutzspiele (siehe Materialband): »da sind alle glücklich, verspielt«.

147 Abbildung siehe Einzelfall »Nermin« oder Materialband, der bei der Autorin erhältlich ist.

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»Blinde« Testauswertung ohne Kenntnis der Biographie Die »blinde« Auswertung ohne Kenntnis des biographischen Hintergrunds (siehe Kapitel 7) weist einige zentrale Übereinstimmungen bezüglich wesentlicher Konflikte auf, betont aber insgesamt stärker das Regressionsstreben (das gewählte Alter ist drei Jahre) und die Identitätskonfusion vor allem bezüglich der Geschlechterverwirrung. Die Kindertherapeutinnen vermuten aus diesem Grund eine frühe Störung, wo ich eine frühe Traumatisierung sehe und aufgrund des biographischen Hintergrundes für äußerst wahrscheinlich halte. Hinsichtlich der Interpretation der traumatischen Qualität des Vaterverlustes ist allerdings bemerkenswert, dass auch sie der Karte Karren eine zentrale Stellung zuweisen und sie mit Verlusterlebnissen in Zusammenhang bringen. Sie vermuten einen traumatischen Verlust von Sicherheit und Heimat und eine Angstreaktion aufgrund des traumatisch Erlebten. Ein zentraler Punkt der von mir vorgeschlagenen Interpretation wird so bestätigt. Die anschließende Karte Eselin deuten sie als Rettungsversuch, bei dem sofort wieder das Aussehen wichtig wird, was auf ein fragiles Selbst verweist, das sich am Äußeren orientiert und versucht, ein »Funktionieren« aufrechtzuerhalten. Diese Einschätzung stimmt ebenfalls mit meinem Gesamteindruck von Alen überein. Alens Lösungsversuch mündet nach ihrer Deutung schließlich in einer eigenen (vollständigen) Familie. Die Kindertherapeutinnen konstatieren eine Angst vor dem Wunsch nach Progression und eine Verdrängung von Konflikthaftem. Sie vermuten Trennungsängste, kein mütterliches positives Objekt, wogegen der Vater zwar etwas positiver besetzt aber nicht sehr präsent ist. Abweichend von der von mir vorgeschlagenen Interpretation erscheint ihnen das Narrativ insgesamt konfuser, sie betonen stärker eine Identitätsstörung, welche ich unmittelbar auf die reale Familienkonstellation zurückgeführt habe (siehe Materialband).

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Fragebogenergebnisse Alen schätzt sich selbst im YSR als unauffällig ein. Im CPTSD-RI weisen seine Angaben dagegen auf eine moderate PTSD-Symptomatik hin, die angegebenen Symptome liegen alle im vermeidenden Bereich. Bemerkenswert ist dabei die hohe Selbstreflexion von Alen. Er schätzt er sich selbst als jemanden ein, dem es schwer fällt, Trauer oder Ärger zu empfinden sowie sich an wichtige Teile dessen, was passiert ist (er bezieht sich dabei auf den Krieg), zu erinnern. Auch bejaht er, Menschen, Orte und Dinge, die ihn erinnern könnten, zu vermeiden. Ebenso gibt er somatische Reaktionen wie Herzklopfen, Bauch- und Kopfweh an, wenn ihn etwas an den Krieg erinnere. Diese Selbsteinschätzung zeigt, dass Alen sein Vermeidungsverhalten zumindest zum Teil bewusst ist. Er signalisiert zugleich wie im SchwarzfußTest seine Bereitschaft, sich mit den traumatischen Erlebnissen zu befassen.

Zusammenfassung Alen und seine Mutter gehören zu den Überlebenden des Massakers von Srebrenica. Fast alle erwachsenen männlichen Familienangehörigen, darunter auch Alens Vater, gelten seit dem Massaker als vermisst. Wie elementar die Ereignisse von Srebrenica das tägliche Leben der Überlebenden prägen, zeigt sich in den Gesprächen mit Alens Mutter und den von ihr beschriebenen vielfältigen psychischen und physischen Folgen. Alen zeigt keine Traumafolgen im Sinne einer ausgeprägten PTSD oder sonstiger psychopathologischer Symptome, jedoch ein deutliches Vermeidungsverhalten gegenüber emotional bedeutsamen Themen. Dieses Vermeidungsverhalten wird deutlich sowohl in einem Fragebogen als auch in dem als unsicher-vermeidend klassifizierten Bindungsinterview. Das Vermeidungsverhalten hat eine stabilisierende Funktion und vermittelt nach außen einen (über-)angepassten oder »pseudo-resilienten«148 148

In Kapitel 5 bin ich auf den Resilienzbegriff eingegangen. Ich spreche © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Eindruck. Im Gegensatz zu anderen Kindern mit Vermeidungsverhalten kann sich Alen jedoch gut auf das projektive Verfahren einlassen. Anhand der von ihm im Schwarzfuß-Test erfundenen Geschichte wird erkennbar, wie eng seine Identitätsentwicklung mit dem traumatischen Verlust des Vaters verknüpft ist. Diese Verknüpfung äußert sich sowohl in einer starken Identifikation mit dem vermissten Vater als auch in einer Reinszenierung des Verlusterlebnisses. Auffällig in Alens Schwarzfuß-Test ist zudem das komplette Wegfallen einer Mutterrepräsentation. Damit bestätigt sich der Eindruck aus dem Bindungsinterview, dass die schwer traumatisierte Mutter Alen emotional nicht unterstützen kann und dass sie gleichzeitig vermutlich eine sehr enge und von der Angst der Mutter bestimmte Beziehung haben. Mit dem Bindungsinterview stimmt ein weiteres Ergebnis des Schwarzfuß-Tests überein: Negative Emotionen, insbesondere Traurigkeit und Weinen, werden abgewehrt. Im Fall von Alen ist durchaus denkbar, dass sich die vermeidende Bindungsstrategie erst sekundär als Reaktion auf die schwere Traumatisierung der Mutter entwickelt hat und zuvor eine sichere Bindung bestand.149 Alens Mutter fällt insofern in der untersuchten Gruppe auf, als sie trotz ihrer enormen psychischen Belastung mittlerweile Deutsch lernte und wieder einer beruflichen Tätigkeit nachgeht. Sie gibt zudem an, von einer psychotherapeutischen Gruppe profitiert zu haben. Aufgrund der eigenen Traumatisierung ist es ihr dennoch offenbar kaum möglich, ihren Sohn in dem Maße zu unterstützen, wie es für ihn notwendig wäre. Bei Alen werden traumatische Prozesse offensichtlich in der Latenz gehalten. Wie in der Literatur beschriebene klinische Fälle zeigen, können sich solche Traumatisierungen unter Umständen hier von »pseudo-resilient«, um deutlich zu machen, dass bei guten Anpassungsleistungen schnell der Eindruck einer (scheinbaren) Widerstandsfähigkeit entstehen kann, und um auf die Problematik des zurzeit auch in Bezug auf Flüchtlingskinder angewendeten populären Begriffs aufmerksam zu machen (siehe auch Kapitel 12). 149 Siehe hierzu auch den in Kapitel 6 beschriebenen Fall »Toni«, bei dem sich das Bindungsmuster nach einem Verlusterlebnis änderte. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

9.2 Katarina, 11 Jahre

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erst viele Jahre später in psychischen Krisen äußern und lassen sich dann oft nur sehr schwer auf das ursprüngliche traumatische Erlebnis zurückführen (Becker, 1992). Es ist von daher bei Kindern wie Alen besonders wichtig, im Blick zu haben, dass traumatische Prozesse nicht unmittelbar sichtbar sein müssen, aber dennoch eine Vulnerabilität der Kinder darstellen.

9.2 Katarina, 11 Jahre: »Du musst jetzt aber nicht traurig sein, nur weil ich traurig bin« – Beispiel für ein sicheres Bindungsmuster bei gleichzeitiger Angstsymptomatik Kontrastierende Fälle Während ich Alen als einen »typischen Fall« ausgewählt habe, stelle ich nun zwei Fälle vor, die jeweils ein »Extrem« in Bezug auf die interviewte Gruppe darstellen. Bei Katarina handelt es sich in dem Sinne um einen besonders positiven Fall, als dass sie emotional gut unterstützt wird. Ihre sehr wahrscheinlich traumatisch bedingte Angstsymptomatik kann sie vermutlich aus diesem Grund zumindest teilweise bereits reflektieren und bearbeiten. Nermin, den ich abschließend vorstelle, hat dagegen von allen interviewten Kindern die auffälligste Symptomatik entwickelt, die jedoch bezeichnenderweise bis zum Untersuchungszeitpunkt nicht dazu führte, dass eine Behandlung eingeleitet wurde. Nermin erfüllt sehr wahrscheinlich die Rolle des Symptomträgers innerhalb der Familie, was den vernachlässigenden Umgang seiner Eltern mit seinen vielfältigen Problemen erklären könnte.

Einleitung Wie in der Darstellung der Bindungsergebnisse bereits erwähnt, sind unter den von mir interviewten Kindern nur zwei, bei denen sowohl die Wertungen für die Repräsentation der elterlichen Unterstützung sehr hoch sind (5) als auch die Verhaltensstrategie in belastenden Situationen als beziehungsorientiert (5) einge© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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9 Exemplarische Fallanalysen

schätzt wird. Im Fall des einen Mädchens150 enthält das Bindungsinterview jedoch so deutliche Kennzeichen eines desorganisierten/desorientierten Bindungsverhaltens, dass die Einschätzung einer »sicheren Bindung« nur eingeschränkt zutrifft. Bei Katarina, einem 11-jährigen Mädchen, ist die Erzählung dagegen sehr lebhaft, offen und frei, das Bindungsinterview hat damit einen ganz anderen Charakter als das von Alen. Bei ihr lässt sich ein sicheres Bindungsmuster annehmen, wenngleich ihr Bindungsinterview auch einige Kennzeichen einer ambivalenten Bindungsstrategie aufweist.151 Auch in der Lebensgeschichte und vor allem in der aktuellen Familiensituation finden sich deutliche Unterschiede zu den anderen Kindern: Katarina lebt mit beiden Eltern und ihren beiden älteren Schwestern zusammen. Ihre Familie hatte diverse traumatische Kriegserlebnisse, verlor jedoch nicht im selben Maße nahe Angehörige wie andere Flüchtlingsfamilien und die – äußere – familiäre Kernstruktur hat sich nicht dauerhaft kriegsbedingt verändert. Beide Eltern leiden jedoch seit dem Krieg an zum Teil schweren depressiven Zuständen, der Vater

150

Wie in Kapitel 8 bereits angemerkt, zeigte sich kein Geschlechtsunterschied bezüglich der Bindungsmuster, etwa in dem Sinne, dass Mädchen einen offeneren Kommunikationsstil haben und dadurch tendenziell eher als bindungssicher eingeschätzt werden, auch wenn die Einzelfallauswahl dies nahelegen könnte. Es wurden jedoch genauso viele Mädchen wie Jungen als unsicher-vermeidend klassifiziert und einige Mädchen fassten sich im Bindungsinterview weitaus kürzer als bspw. Alen. 151 Die Ergebnisse der Expertinnenvalidierung (siehe Kapitel 11) legen nahe, die Klassifikation der Bindungsinterviews aufgrund möglicher kultureller Unterschiede kritisch zu betrachten. Diese Einschätzung bezieht sich allerdings auf eine Überschätzung unsicherer Bindungsmuster. Es ist allerdings auffällig, dass ausgerechnet bei einem Mädchen, dessen Eltern ein im Vergleich zu den anderen Eltern höheres Bildungsniveau haben, eine sichere Bindung klassifiziert wird. Trotz der in Kapitel 6 dargestellten Untersuchungen der Bindungsforschung, die einen Zusammenhang zwischen Bindungsmuster und Bildungshintergrund widerlegen, wäre kritisch zu fragen, inwiefern eine höhere Bildung den Eindruck einer sicheren Bindung beeinflusst. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

9.2 Katarina, 11 Jahre

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unternahm bereits einen Selbstmordversuch, die Mutter deutete an, ebenfalls schon einmal suizidgefährdet gewesen zu sein. Bei Katarina zeigen sich gleichermaßen die Folgen dieser psychischen Belastungen als auch Hinweise auf eine hohe emotionale Unterstützung durch ihre Eltern. Deutlich wird auch, dass nicht unbedingt »weniger« Belastung oder »weniger« traumatische Erlebnisse, sondern vielmehr ein anderer Kommunikationsstil und ein offenbar sehr reflektierter Umgang mit der Gefahr der Traumaweitergabe in ihrem Fall dazu beitragen, dass eine überwiegend sichere Bindungsbeziehung etabliert und aufrechterhalten werden kann. Eine weitere Besonderheit ist zudem, dass Katarinas Mutter so hervorragend Deutsch spricht, dass sämtliche Gespräche ohne Dolmetscher geführt wurden. Dies war nur bei einer weiteren Familie der Fall. Die Familie bezeichnet sich als bosnisch-kroatisch und ist katholischen Glaubens. Auf die biographischen Hintergründe gehe ich weiter unten detailliert ein. Katarina lebt seit ihrem zweiten Lebensjahr in Berlin und besucht die fünfte Klasse eines katholischen Gymnasiums.152

Kontaktaufnahme und Forschungssituation Der Kontakt zu der Familie entstand über eine gemeinsame Bekannte. Die Mutter wirkte am Telefon sehr aufgeschlossen. Wir verabredeten einen ersten Besuch, bei dem ich zunächst mit der Mutter sprach und später mit Katarina das Bindungsinterview führte. Trotz der Offenheit am Telefon begegnet mir Katarinas Mutter zunächst äußerst reserviert und mit großem Misstrauen, was mich nach unserem freundlichen Telefonat überrascht. Im Laufe des Gespräches erfahre ich schließlich, dass sie kurz vor meinem Besuch im Rahmen einer beruflichen Weiterbildungsmaßnahme als »Ausländerin« beschimpft wurde. Ihre Wut über dieses Ereignis schafft zunächst eine Distanz gegenüber mir als 152 Einige Berliner Gymnasien beginnen mit der fünften Klasse und führen besondere Aufnahmeverfahren durch.

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Deutscher, führt jedoch auch dazu, dass sie mir im Gegensatz zu vielen anderen Flüchtlingsfrauen ausführlich von zahlreichen Diskriminierungserfahrungen berichtet. Wie stark sie unter diesen Erlebnissen leidet, zeigt sich deutlich, als sie ihre ausgezeichneten Sprachkenntnisse als Fluch bezeichnet, da sie nur deshalb so viele ausländerfeindliche Bemerkungen überhaupt verstehe. Der Kontakt zwischen uns beginnt damit sehr spannungsreich, im Laufe meiner Besuche entwickelt sich dann allerdings eine offene und angenehme Atmosphäre. Katarinas Mutter interessiert sich sehr für meine Arbeit und meine Fragestellung, ist jedoch auch deutlich verunsichert darüber, dass ich auch alleine mit ihrer Tochter sprechen möchte und sie dadurch nicht genau weiß, was Katarina mir erzählt. Auch bei unseren Gesprächen bleibt sie insofern distanziert, als sie nicht möchte, dass diese auf Tonband aufgezeichnet werden. Aus diesem Grund wird mit ihr kein AAI durchgeführt, sie nennt in diesem Zusammenhang allerdings auch Ängste, dass ein Interview über ihre Kindheit zu vielen schmerzhaften Erinnerungen führen könne und sie vor allem nicht über Kriegserlebnisse sprechen wolle. Katarinas Vater begegne ich nur jeweils kurz und habe dann mehrere freundliche Wortwechsel, er möchte jedoch nicht an den Interviews teilnehmen.

Gesprächseindruck von Katarina Katarina begegnet mir sehr aufgeschlossen, interessiert und vergnügt. Sie ist klein und zierlich, modisch gekleidet und erzählt sowohl im Bindungsinterview als auch im Schwarzfuß-Test äußerst lebhaft. Die Interviewteilnahme bereitet ihr offensichtlich Spaß und sie findet es aufregend, auf Video aufgenommen zu werden.

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Bindungsinterview: Beispiele für eine beziehungsorientierte Bindungsstrategie Während des Interviews lacht Katarina viel und kommt beim Erzählen oft fast ins »Nachspielen« einzelner Szenen. Sie gibt dabei oft Dialogszenen wieder, ohne den Erzählrahmen zu wahren. In der Auswertung hat sie deshalb einen sehr hohen Wert für »inkohärente Antworten« erhalten. Diese Wertung bezieht sich auf solche formalen – nicht inhaltlichen – Inkohärenzen. Inkohärente Antworten sind ein Kennzeichen für »unsicherambivalente« Bindungsstrategien, bei Katarina überwiegen jedoch insgesamt die Hinweise auf ein sicheres Bindungsmuster. Denkt man die verschiedenen Bindungstypen als Kontinuum, so ist es allerdings nicht unwahrscheinlich, dass sich ihre Bindungsstrategie an der Schnittstelle zu einer unsicher-ambivalenten Bindungsstrategie befindet. Dafür sprechen auch die verschiedenen Hinweise auf die »Verwickeltheit« ihrer Beziehung zur Mutter und auf eine trennungsbezogene Angstsymptomatik (siehe unten). Obwohl Katarina meistens sehr spontan antwortet, nimmt sie sich auch immer wieder Zeit, um über die Fragen nachzudenken. Im Gegensatz zu Alen scheint sie sich durch die Fragen nicht bedrängt zu fühlen. Die gesamte Interviewsituation hat damit einen anderen Charakter, Katarinas Antworten sind häufig geradezu prototypisch »beziehungsorientiert«: Was machst du, wenn du ein bisschen Kummer hast? (wie?) Also, wenn es dir nicht so gut geht, weil du Kummer hast wegen irgendwas? Dann gehe ich zur Mama und rede mit ihr. Hm, weshalb kommt das denn mal vor, dass du ein bisschen Kummer hast, was können da so die Gründe sein? Na, vielleicht, weil mich jemand geärgert hat. Mhm, hm und dann gehst du zu deiner Mutter? Ja. Und was macht die dann? Na, die sagt dann vielleicht, ich sollte dann mit demjenigen noch mal reden (hm) und ihm sagen, dass ich das nicht so in Ordnung fand, was er da gemacht hat.(hm). Also, wenn er mich zum Beispiel irgendwie beleidigt hat mit Worten (hm) ja und dass ich das nicht in © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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9 Exemplarische Fallanalysen Ordnung finde (hm). Und hilft dir das denn, wenn sie das sagt? (Mhm) Machst du das denn auch? Mhm, meistens {{lacht}}.

Deutlich wird hier nicht nur, dass sich Katarina an ihre Mutter wendet, sondern auch, dass sie deren Reaktion als unterstützend erlebt. Ebenso belegen Katarinas Antworten auf die Kernfragen des Bindungsinterviews – Verhalten bei Angst, Ärger und Traurigkeit – dass sie sehr offen über diese Gefühle sprechen kann: Dürfen das andere merken, wenn du weinst? (Ähm) Dürfen das andere mitbekommen? Na wenn, dann Person 3 [Schulfreundin], die sitzt ja neben mir (mhm). Aber sonst niemand. Mhm. Und zu Hause? Na, da bekommen es meine Mama, meine Schwestern und mein Papa mit (mhm). Findest du das okay, wenn die das mitbekommen? Ach, na ja, die beleidigen mich ja nicht oder so. Die finden das ja ganz in Ordnung, wenn ich weine (hm). Wenn ich weinen muss, dann weine ich halt. Genau. Was machen die dann? Die trösten mich. Mhm. Wer kann dich denn gut trösten? Am besten meine Mutter wieder mal {{lacht}}. Mhm, wie macht sie das? Sie kommt auf mich zu (mhm), probiert mir-, ähm mit mir das Problem zu lösen, ähm, umarmt mich – ähm, und ja, redet halt einfach über ähm, das Problem und wir probl-, probieren dann Lösungen zu finden, die ich dann auch vorschlagen sollte mal (hm). Also dem Jungen oder dem Mädchen, das mich geärgert hat oder den ich geärgert habe, wo ich mich dann entschuldigen soll in dem Fall, ja. Hilft dir das, wenn sie das macht? Es kommt drauf an, welcher Fall, also (hm) wenn mich jemand geärgert hat, dann ja, ein bisschen, ähm, wenn ich jemanden geärgert habe, ähm, dann sehe ich es aber meistens auch schon alleine ein, dass ich da einen Fehler gemacht habe (mhm, hm). Gibt es denn jemanden, mit dem du gut schmusen kannst?

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. . . {{3 sec}} {{lacht}} Ja (ja?), mit der Mama {{lacht}}, alles mit der Mama.

Katarina erzählt nicht nur offen, sondern sie hat auch keine Mühe, Beispiele zu finden und sie kann den guten Kontakt zu ihren Eltern – auch zum Vater – mit vielen Episoden belegen. So unterstützt sie der Vater eher beim Sport, kann sie aber auch gut trösten, an die Mutter wendet sie sich eher, wenn sie Ärger mit ihren Freundinnen hat und einen Rat braucht. Sie ist das einzige Kind dieser Stichprobe, das gleich guten Kontakt zu beiden Eltern hat, auch wenn sie der Mutter näherzustehen scheint.

Hinweise auf Angst, Depressivität und verhinderte Parentifizierung Der Hauptteil des Interviews ähnelt diesen zitierten Passagen, oft antwortet sie noch ausführlicher, so dass man einen anschaulichen Eindruck von ihrem Alltag in der Familie, mit Freunden und in der Schule erhält. An mehreren Stellen im Interview spricht Katarina jedoch von Ängsten und davon, wie sie die Traurigkeit und Depressivität vor allem der Mutter erlebt. Diese Passagen lassen ebenfalls erkennen, auf welche Art und Weise die Mutter es versteht, negative Folgen für die Tochter möglichst einzugrenzen und vor allem die Weitergabe der eigenen Belastung zu unterbrechen. Im folgenden Ausschnitt schildert Katarina, wie sie sich fühlt, wenn ihr ihre Mutter von ihrer Traurigkeit erzählt. Meine Einstiegsfrage schließt an die Standardfrage an, ob ihre Mutter manchmal traurig sei: Wie fühlst du dich dann, wenn sie dir was davon erzählt? [Telefon klingelt] Wehe, das ist wieder für mich. Ähm, wenn sie mir was davon erzählt, dann probier’ ich irgendwie die Lage besser zu machen (mhm). Dann bin ich in dem Moment sozusagen die Mama und sie ist jetzt ich, also, so denke ich mir das dann immer (mhm). Weil- ich kann sie auch trösten (mhm), auch wenn ich nicht groß bin. Na, ich geh’ hin, frag’ sie was los ist {{lauscht der Mutter, die im Nebenzimmer etwas am Telefon sagt}} (ist das für dich?) Ja, ich glaub schon. Ähm, dann also {{lauscht wieder dem Telefongespräch, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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9 Exemplarische Fallanalysen lacht}}. Hallo, ähm, ja also, was war denn jetzt noch, ach so, also, ich gehe dann zu meiner Mama, setze mich auf ihren Schoß {{lacht}} ähm, umarme sie und frag sie, was los ist. Wenn sie dann zum Beispiel sagt, ähhhm, dass sie traurig ist, weil sie ein Ziel nicht geschafft hat oder so was (hm),was sie sich jetzt fest vorgenommen hat, ähm, dann meine ich so, du kannst es ja noch mal probieren (hm), ist ja auch nicht so schlimm, wenn du es nicht (hm) geschafft hast, das sei ja auch nicht so wichtig, ja (hm). Und dann meint Mama immer, ja, das sei ja ganz lieb von mir und so (hm) und dann fängt sie an, ein bisschen zu lachen (mhm), und dann bin ich immer schon beruhigt. Da bist du dann schon beruhigt? Ja. Wie geht es dir dann? Da geht es mir dann schon besser (hm, hm). Und wie fühlst du dich zwischendurch, also erst, wenn du dir so überlegst// Miserabel. Miserabel, hm. Kriegt das jemand mit, wie du dich fühlst? Ja, die Mama. Mama meint dann auch immer so »du musst jetzt aber nicht traurig sein, nur weil ich traurig bin (hm, hm). Das ist ja meine Angelegenheit und nicht deine.« Wie findest du das, wenn sie das sagt? Eigentlich ganz, ja, eigentlich ganz schön (hm, hm).

Der Abschnitt enthält mehrer bemerkenswerte Punkte. Katarina beschreibt für ihr Alter sehr reflektiert ihre Versuche, die Mutter zu trösten: »dann bin ich in dem Moment sozusagen die Mama und sie ist jetzt ich, also, so denke ich mir das immer«. Sie skizziert damit eine Rollenumkehr par excellence, dennoch wird im Folgenden deutlich, dass die Grenze zwischen Mutter und Tochter bestehen bleiben kann und keine tatsächliche Parentifizierung153 stattfindet: Zum einen bemerkt Katarina, dass sie »klein bleibt«, nicht »groß« ist, sondern als »Kleine« tröstet. Sie lacht ein wenig, als sie schildert, sich dann bei ihrer Mutter auf 153

Wie im Auswertungsmanual des Bindungsinterviews Späte Kindheit (siehe Kapitel 7) verstehe ich unter Parentifizierung die Übernahme von Teilaufgaben der Elternrolle sowie die Übernahmen der Verantwortung für den emotionalen Zustand der Eltern. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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den Schoß zu setzen, wie sie es vermutlich auch tut, wenn sie selbst Trost sucht, und signalisiert damit, dass ihr bewusst ist, dass sie nicht zur Mutter wird in dieser Situation und auch nicht deren Rolle übernimmt. Zweitens, und das erscheint mir entscheidend dafür, dass keine tatsächliche Rollenumkehr stattfindet, zieht die Mutter eine Grenze und bleibt in der Elternrolle. Sie nimmt wahr, wie sich Katarina fühlt, äußert, dass ihre Traurigkeit nicht Angelegenheit der Tochter sei, und entlastet Katarina damit ausdrücklich: »Du musst jetzt aber nicht traurig sein, nur weil ich traurig bin. Das ist meine Angelegenheit und nicht deine«. Die Mutter grenzt damit ihre Emotionen vom Kind ab, Katarina muss nicht die Verantwortung für den emotionalen Zustand der Mutter übernehmen. Die Gefahr der Parentifizierung steht damit im Raum, wird jedoch – nach Katarinas Schilderung – von der Mutter nicht nur wahrgenommen, sondern sie versucht auch, sie einzuschränken. In diesem offenen Kommunikationsstil besteht ein wichtiger Unterschied zu den anderen von mir interviewten Familien. Auch andere Eltern waren sich durchaus dessen bewusst, dass ihre Kinder unter der seelischen Belastung der Eltern leiden. Die Interviews mit den Kindern zeigen aber, dass die Eltern mit ihnen über ihre Traurigkeit und deren Gründe nicht sprechen und die Kinder so auf eigene Erklärungen angewiesen sind. Die Tatsache, dass Katarinas Mutter so reflektiert mit ihrer Tochter sprechen kann, trägt sehr wahrscheinlich dazu bei, dass Katarina einen beziehungsorientierten Bindungsstil entwickeln und aufrechterhalten kann, was aber nicht verhindert, dass die Traurigkeit der Mutter154 sie beeinflusst und prägt. Der zitierte Ausschnitt zeigt dies ebenfalls: Sie fühlt sich »miserabel«, wenn die Mutter traurig ist, und sie fühlt sich aufgefordert zu helfen und zu trösten. Katarina reagiert zudem mit einer Angstsymptomatik auf die seelische Belastung der Eltern: Stell dir vor, du möchtest gerne bei einer Freundin übernachten, und deine Mutter wäre dann ausgerechnet in der Nacht ganz alleine und Du merkst, dass ihr das unangenehm wäre. Was würdest du dann 154 Und sicherlich auch die des Vaters, über den ich jedoch weniger erfahren habe.

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9 Exemplarische Fallanalysen machen? Das ist das Problem bei mir, ich habe zuviel Angst, ich weiß auch nicht wieso (mhm). Aber allein auf Klassenfahrten, das gefällt mir auch nicht immer so (mhm). Ich mag’ nicht auf Klassenfahrten oder so bei jemanden übernachten (mhm). Meine Mama sagt dann immer, geh’ doch, die freut sich dann immer für mich (mhm) und so, »Du wirst doch da Spaß haben!« ich mein’ so »ja« und sie so »ich warte auf dich, mir wird nichts passieren«. Also, meine Mama ist nicht so (mhm). Aber wenn, ja dann würde ich auch zu Hause bleiben, dann würde ich irgendeine Ausrede finden (mhm), erfinden (mhm), dann würde ich zu Hause bleiben.

Katarina dreht in ihrer Antwort die skizzierte Situation um: Nicht ihre Mutter sei das Problem (»meine Mama ist nicht so«), sondern ihr Problem sei es, zuviel Angst zu haben und von sich aus nicht gerne anderswo übernachten zu wollen. Dieses Problem bezieht sie spontan auf Klassenfahrten, eine Situation, die sie im Interview mehrmals erwähnt und die ihr Schwierigkeiten bereitet. Wie im gesamten Interview gibt Katarina hier gesprochene Sequenzen wieder, sehr auffällig ist dabei der Satz, mit dem sie ihre Mutter zitiert: »Ich warte auf dich, mir wird nichts passieren«. Die Mutter versucht nicht nur Katarina zu ermuntern, mit auf Klassenfahrt zu gehen, sondern sie vermutet offenbar, dass sich hinter der (Trennungs-)Problematik der Tochter eine Sorge um die Mutter verbirgt. Wie auch im Beispiel zuvor, versucht die Mutter, Katarina zu entlasten und ihr die vermutete Sorge zu nehmen. Der weitere Interviewverlauf zeigt aber, dass diese Unterstützungsversuche Katarina zum Teil geradezu hilflos machen und tendenziell sogar unter Druck setzen: Warum übernachtest du nicht so gerne woanders? –Weißt du das? Nein, ich hab’ halt irgendwie Angst. Ich weiß auch nicht (hm), aber ich weiß nicht welche Angst das ist. Meine Mama probiert die auch immer, also, sie will die rausfinden (mhm) und ich will sie auch wissen, aber wenn ich- , sie will halt das Problem lösen (hm) und sie will, dass ich halt mehr Spaß haben kann, auf Klassenfahrten und so (hm, hm). Ähm, dass ich dann auch einschlafen kann und davor nicht Angst haben muss (hm). Und das-, da will sie mir helfen, aber ich weiß halt nicht wie (mhm). Und du weißt nicht genau, wovor du da Angst hast, also? © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Ne, also, ich// Und geht es da ums Schlafen oder um die Tage oder? Ne, um die Tage überhaupt nicht (hm). An den Tagen habe ich auch immer Spaß, aber in der Nacht, ich weiß nicht, ich kann da immer nicht einschlafen (mhm). Das ist auch manchmal zu Hause so, ich kann einfach nicht schlafen (hm,hm). Kannst du nicht einschlafen // //ja, ich kann nicht einschlafen// //Oder wachst du nachts auf ?// Aha. Und geht dir dann-, manchmal geht einem ja so ganz viel durch den Kopf so? Ja! Und ich kann die Gedanken halt nicht loswerden (mhm). Weißt du ungefähr, was das für die Gedanken sind oder ist das – Na, nicht wirklich. Weißt es nicht wirklich, das ist ja auch schwierig das zu wissen. (hm). Was machst du dann, wenn du nicht einschlafen kannst zu Hause? Dann gehe ich zu meiner Mutter {{lacht etwas}}. Hm, und was macht die dann? Ja, bei meiner Mama, wenn ich neben ihr liege, kann ich einschlafen (aha), das verstehe ich auch nicht wirklich (hm), wenn ich neben ihr oder manchmal neben Papa liege, dann kann ich einschlafen (mhm). Aber sonst kann ich nicht einschlafen, ich verstehe das einfach nicht. (mhm)

Die Mutter oder der Vater können zwar unmittelbar helfen, indem sie sich zu Katarina legen, die Ursache von Katarinas Angst jedoch nicht beheben. Katarina geht auf das gleiche Thema noch einmal später im Interview ein, als ich sie frage, ob sie schon einmal daran gedacht habe, von zu Hause wegzulaufen: Sie (ihre Eltern) wollten, dass ich auf Klassenfahrt gehe, aber ich wollte nicht (hm). Meine Mama »wieso denn nicht?« »Ja, weil ich nicht einschlafen kann.« »Aber du kannst doch da auch sehr viel Spaß haben!« »Nein, kann ich nicht!«, und dann wollte ich eigentlich, dann bin ich ins Bad gerannt, und dann habe ich so gedacht: Jetzt gehe ich weg, jetzt reicht’s mir, jetzt steht es mir bis hier {{lacht ein wenig}}! (hm, hm) Ne, aber das habe ich dann nicht gemacht. Und wie ist das denn ausgegangen? Dann bin ich doch auf die Klassenfahrt gegangen {{lacht}}. Hm, und hast du das Gefühl gehabt, die haben dich verstanden, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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9 Exemplarische Fallanalysen warum du das nicht wolltest? Mama, ja.

Katarina fühlt sich einerseits unter Druck gesetzt, sie soll gehen, sie soll »Spaß haben« trotz ihrer Angst, andererseits wird sie mit ihrer Angst aber auch verstanden. Ihre Äußerungen machen deutlich, wie in ihrer Familie um das Thema »Angst«, vor allem Angst, dass einem Familienmitglied etwas zustoßen könnte, gerungen wird. Aus Katarinas Perspektive scheint das Verhalten ihrer Eltern zwischen Unterstützungsversuchen und dem verstehbaren Wunsch, ihre Tochter soll Spaß haben, was wahrscheinlich auch bedeutet, sie soll gesund und normal sein, zu oszillieren. Die Mutter versucht Katarina zu unterstützen, da sie jedoch selbst verstrickt ist – die Tochter hat Angst um sie – kann sie ihr nur begrenzt helfen. Katarina erzählt, schließlich mit auf die Klassenfahrt gefahren zu sein, dort habe sie dann zunächst nicht schlafen können. Ihr Vater habe sie dann aber am Telefon beruhigt und gesagt, dass das bei einer ersten Nacht in einer fremden Umgebung normal sei. Die Bemerkung des Vaters habe ihr geholfen. Sie habe sich schließlich eingewöhnt und konnte auch mit einer Freundin über das Problem sprechen. Letztendlich habe sie auf der Fahrt Spaß gehabt, die Angst vor weiteren Fahrten habe sie allerdings behalten.

Schwarzfuß-Test Im Schwarzfuß-Test finden sich gleichfalls sowohl Hinweise auf Bindungssicherheit als auch auf bindungsbezogene Ängste. Wie bereits angedeutet, scheint sich Katarinas Angst vor allem darauf zu beziehen, dass ihrer Mutter oder ihrem Vater etwas passieren könnte, wenn sie weg ist bzw. sich von ihnen entfernt. Katarina inszeniert hier mehrmals eine »Aufbruchs-« bzw. Trennungssituation, die zunächst schrittweise länger und dramatischer wird, dann auf die Traumebene verlegt wird und sich schließlich dem Kernkonflikt nähert. Katarina wählt ein sehr junges Alter für Schwarzfuß, sieben © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Monate, wobei ihre Altersangabe auf der Überlegung beruht, dass Schafe nicht alt werden. Sie bezeichnet Schwarzfuß zunächst als Mädchen, wechselt dann aber im Laufe der Erzählung zum männlichen Geschlecht. Auf eine spätere Nachfrage, ob Schwarzfuß denn nun ein Mädchen oder ein Junge sei, bleibt sie allerdings bei dem Mädchen und gibt folgende Begründung: »Mädchen können doch auch mal Abenteuer erleben, warum denn nicht!« Protagonist und Identifikationsfigur ist allerdings öfter Schwarzfuß’ jüngerer Bruder (sechs Monate alt). Ich beschränke die Wiedergabe auf die Bildkarten, denen in ihrer Geschichte eine besondere Rolle zukommt, nämlich Aufbruch, Traum Mutter und Traum Vater. Zu der Karte Aufbruch entwickelt Katarina insgesamt drei Geschichten, bei den ersten beiden »Aufbrüchen« ist Schwarzfuß’ jüngerer Bruder die Hauptfigur. Er geht zunächst ein bisschen spazieren, verirrt sich dann, wird aber – Version eins – vom Vater gefunden. Alle freuen sich, er sieht seine fröhlichen Eltern. Daraufhin unterbricht Katarina ihre Erzählung und bittet, die Geschichte noch mal verändern zu dürfen. Das Schäfchen verirrt sich wieder, diesmal wird es allerdings Abend, es kommt zum Wasser, bleibt dort die ganze Nacht und wird erst am nächsten Morgen vom Vater gefunden. Die Geschichte endet also ebenfalls positiv, das Schäfchen war nun aber die ganze Nacht über von zu Hause weg. Anschließend wählt Katarina die Karte Traum Mutter, jetzt ist Schwarzfuß Protagonist und träumt von der Mutter. Auf Nachfrage, was im Traum passiert: »Der hat Angst, der Mutter würde irgendetwas zustoßen (lacht verlegen)«. Schwarzfuß steht auf, kann die Mutter aber nicht sehen, weil es Nacht ist, es kein Licht gibt, und er läuft weg. Er sucht die Mutter, läuft raus und begegnet der Fee, von Katarina als »Engel« bezeichnet. Der »Engel« sagt, dass »alles okay sei, dass nichts passieren wird. Daraufhin geht Schwarzfuß wieder ins Bett und schläft«. Am nächsten Morgen ist Schwarzfuß richtig hungrig und die Mutter stillt ihn (Saugen). Erst in dieser dritten Geschichte benennt Katarina die Angst, von der sie auch im Bindungsinterview spricht, dort allerdings nur als eine Vermutung ihrer Mutter über sie. Die ersten beiden »Aufbrüche« wirken wie ein Probehandeln, bei dem das Schäf© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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chen schließlich länger wegbleiben kann und dennoch vom Vater gefunden wird.155 Gleich im Anschluss inszeniert sie allerdings einen Angsttraum. Sie thematisiert darin die bereits im Bindungsinterview angesprochene Angst, dass der Mutter etwas zustoßen könne. Von der Mutter ist dabei keine Auskunft zu bekommen, ob sie »okay« ist oder nicht – es ist dunkel, es gibt kein Licht –, sondern Katarina bringt hier den Engel ein, eine Figur, von der man sich vorstellen kann, dass sie alles weiß und das Schäfchen beruhigen kann. Katarina spricht damit genau jene Situation an, in der die Beruhigungs- und Unterstützungsversuche der Mutter an ihre Grenzen stoßen: Die Auskunft der Mutter, was mit ihr selbst sei, hinterlässt bei ihr offenkundig einen Rest Unsicherheit. Vermutlich spürt sie, dass auch für die Mutter selbst ihre emotionalen Zustände phasenweise unwägbar sind. In ihrer Erzählung kann sich das aufgewühlte und hungrige Schäfchen nach dem Angsttraum und nach der Nacht allerdings sehr wohl an das Mutterschaf wenden und wird von diesem gestillt und getröstet. Außerhalb der Nacht und – übertragen auf Katarinas reale Situation – außerhalb ihrer Angstsituation besteht also eine selbstverständliche und unterstützende Bindungsbeziehung. Zu dem Bild Traum Vater erfindet Katarina eine ganz ähnliche Geschichte. Im Vergleich zu den anderen Kindern ist damit auch auffällig, dass Katarina bei den Traum-Karten tatsächlich die Eltern sieht und nicht das Thema des Ich-Ideals wählt. Bei dem Bild Traum Vater träumt Schwarzfuß, dass dem Vater etwas zustößt, der Vater wird weggebracht (Karren), der Traum wird dann allerdings abgebrochen, sie führt die Trennung also nicht aus und wiederum endet die Sequenz mit Saugen. Beide Traumbilder lehnt Katarina im zweiten Testteil ab. Sie gibt folgende Begründung für ihre Ablehnung: »die Mutter sieht glücklich aus, doch er (Schwarzfuß) weiß, dass sie unglücklich ist, weil er sie gesehen hat«. Diese Beschreibung erinnert eben155 Im Vergleich zu den anderen Kindern geht Katarina in ihrer Erzählung sehr viel aktiver mit dem Vater um. Hier bestätigt sich die bereits im Bindungsinterview festgestellte emotionale Präsenz beider Elternteile.

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falls an Katarinas reale Situation. Die Eltern versuchen, sich glücklich zu geben und sie wollen, dass Katarina »Spaß hat«, aber Katarina »sieht« ihre Depression. Katarina wünscht sich jemand Stärkeren oder Allwissenden, den Engel, der sie in ihrer Angst und Sorge darüber, wann sie sich nicht mehr auf ihre Eltern verlassen kann, beruhigen kann und der ihr einen Blick in die Zukunft gewährt: Es wird nichts passieren, alles ist okay. Bei der Karte Traum Mutter findet Katarina im zweiten Testteil noch eine andere Möglichkeit zur Beruhigung, die ein weiteres Schlaglicht auf die bereits angesprochene »beinahe Parentifizierung« wirft: »da [auf dem Bild] würde ich gerne die Mutter sein, die ihm [Schwarzfuß] dann irgendwie sagen würde, dass es gar nicht so ist, sondern halt einfach, dass sie [die Eltern] über was nachgedacht haben, deswegen«. Sie greift damit die Strategie der Mutter auf, die tatsächlich Katarina auf ähnliche Weise zu beruhigen versucht, setzt sich aber selbst an die Stelle der Mutter : Nur die Mutter selbst kann wissen, wie es wirklich um sie steht. In der Realität hat diese Konstruktion Grenzen. Katarina wird nie die Mutter sein und damit wird sie nie wirklich wissen, wie es der Mutter geht. Die Mutter bemüht sich sehr, ihre Tochter zu beruhigen, kann ihre Depression und die damit wahrscheinlich einhergehenden eigenen emotionale Unsicherheiten jedoch nicht verbergen. Die nächtlichen Ängste der Tochter lassen sich nicht auflösen, da die Unsicherheit, ob den Eltern etwas zustößt beziehungsweise, was hier unausgesprochen bleibt, ob sie sich etwas antun, bestehen bleibt. Dieses Thema ist ein deutlicher Bestandteil der von Katarina erfundenen Geschichte, in der sie jedoch schließlich ein glückliches Ende findet und im Wechsel mit den Aufbruchs- und Trennungssituationen Szenen des Vergnügens und des Spielens der Schäfchen erfindet. Ganz am Ende kann das eine kleine Schäfchen sogar seine Geschwister und sich vor dem Schlachthof retten, weil es sich aufgrund seiner früheren Ausflüge (den Aufbruchsituationen) und den überstandenen Trennungssituationen an den Weg nach Hause erinnern kann. Im zweiten Testteil beschreibt sie die Aufbruchskarte entsprechend ambivalent, indem sie nicht nur Angst, sondern auch Abenteuerlust erwähnt. Die Autonomieentwicklung scheint damit auch positiv besetzt zu © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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sein, Katarina zeigt eine Bereitschaft und Neugier, sich auf die anstehenden Schritte der Ablösung von den Eltern einzulassen. Die Überwindung der Angst (das lange nächtliche Wegbleiben des Schafes) und die damit gewonnenen neuen Erlebnisse und Erkenntnisse (die Ortskenntnis) beschreibt sie in ihrem Narrativ als eine wichtige Ressource: Schwarzfuß kann dank dieser Kenntnisse den anderen später helfen. Die Rolle des Helfenden ist ein weiteres, in ihrem Test immer wieder auftauchendes Motiv. So wählt sie im zweiten Testteil immer solche Identifikationen, die es ermöglichen, helfend ins Geschehen einzugreifen: Bei dem Bild Gänserich (siehe 9.3 und Materialband) wäre sie gerne selbst die Gans, weil sie dann »gar nicht so handeln würde«, es also gar nicht erst zu der dargestellten aggressiven Szene käme, und bei dem Bild Loch überlegt sie sich, dass sie am liebsten der Mond wäre, der dem verirrten Schäfchen leuchten könnte. Den auf den Bildern angesprochenen aggressiven und dramatischen Themen weicht sie auf diese Weise allerdings aus.

Biographische Hintergründe Bei der Drei-Wünsche-Frage am Ende des Bindungsinterviews wünscht sich Katarina: Vielleicht dass ich, dass man den Krieg nicht erlebt hätte (mhm), dass es mehr Frieden auf der Erde gäbe (hm) und,–ja, äh, dass meine Eltern gesund wären {{lacht}} also, dass alle gesund wären, keiner ’ne Krankheit hätte (mhm, hm).156

Wie andere Flüchtlingskinder verbindet sie den Krieg, obwohl sie keine eigenen Erinnerungen daran hat, mit einer großen Belas156

Als Wünsche von Schwarzfuß nennt sie: »dass die ihn nicht wegschleppen zu dem Schlachthof, dann hätte er das zwar alles nicht erlebt, aber die hätten auch nicht soviel Angst gehabt und, hm, dass halt die immer zusammenbleiben, die ganze Familie, äh ja, und – und und, mal überlegen, was denn noch, halt das keiner seiner Geschwister verloren geht oder so, ihm irgendwas zustößt«. Sie geht also auch hier wieder auf ihr zentrales Thema ein. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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tung für ihre Familie. Aus ihrer Sicht sind zudem ihre Eltern nicht gesund. Ich habe bereits Depressivität und auch Suizidgedanken der Eltern erwähnt. Die biographischen Berichte der Mutter zeigen, wie grundlegend der Krieg das Leben der Familie veränderte und zu schweren psychischen Krisen der Eltern führte: Katarinas Familie stammt aus einer mittelgroßen Stadt in Bosnien. Beide Eltern haben einen akademischen Abschluss. Die Mutter war bis kurz vor Katarinas Geburt in einer leitenden Position in einem kleinen Unternehmen tätig. Der Vater arbeitete ebenfalls in seinem Beruf, bis er zum Militärdienst eingezogen wurde. Schwangerschaft und Geburt waren bereits vom Krieg in Kroatien überschattet. Die Mutter berichtet, dass sie sich zwar noch ein Kind gewünscht habe, die Schwangerschaft mit Katarina allerdings nicht geplant war und sie sich aufgrund des Krieges in Kroatien in Sorge befand. Gleichzeitig habe sie sich bis zum letzten Moment nicht vorstellen können, dass auch in Bosnien Krieg ausbrechen könne. Zum Zeitpunkt der Geburt war die Lage dann bereits sehr schwierig. Es gab nur noch eine Ärztin in dem Krankenhaus, da die bosnisch-serbischen Ärzte die Klinik verlassen hatten, die Versorgung mit Lebensmitteln war problematisch und es gab Luftangriffe, die den Heimweg für mehrere Tage nach der Entbindung unmöglich machten. Katarina sei kurz nach der Geburt an Fieber und Neugeborenengelbsucht erkrankt, die Mutter habe sie zudem im Gegensatz zu den älteren Schwestern nicht stillen können, was sie auf ihre psychische Belastung zurückführt. Wie die meisten Flüchtlingsfrauen möchte sie nicht über ihre Kriegserlebnisse sprechen. Kurz nach Katarinas Geburt wurde ihr Vater gegen seinen Willen zur Front eingezogen und musste, so schildert es die Mutter, dort kämpfen. Wie traumatisch dieses Erlebnis für beide Eltern war, lässt sich anhand der Andeutungen der Mutter erahnen: An dem Tag, an dem er das Haus mit einer Waffe verließ, bat sie ihn, wohl wissend, wie unmöglich dies sein würde, niemanden zu töten. Sie weint, als sie von diesem Tag erzählt. Beide Eltern sind gläubige Katholiken, die Vorstellung, in Situationen zu kommen, in denen der Mann töten muss, ist für sie unvorstellbar. Im Krieg fühlten sie sich ohnmächtig. Während der Vater an der Front war, gelang es Katarinas © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Mutter mit den Töchtern zu einer Cousine ins benachbarte Kroatien zu fliehen. Der Vater schaffte es zu desertieren und floh zu einem ehemaligen Arbeitskollegen nach Österreich, von wo er Kontakt zu seiner Familie aufnahm. Die Mutter bemerkte die tiefe psychische Krise, in der sich ihr Mann befand und reiste ihm unter schwierigen Umständen nach. Sie fand ihn, bereits zum Suizid entschlossen, auf dem Weg zu Bahngleisen. Die Cousine der Mutter ließ die Kinder über die Grenze schmuggeln. Der Arbeitskollege organisierte eine Unterkunft in einem leer stehenden Musterhaus in einem Gewerbegebiet, wo sich die Familie über mehrere Wochen versteckte. Sie überlegten zunächst eine Weiterwanderung nach Kanada, ließen diesen Plan dann aber fallen, da sich Katarinas Vater in seiner psychischen Verfassung keine Auswanderung vorstellen konnte. Mit der Absicht, nach dem Krieg wieder nach Bosnien zurückzukehren, gingen sie schließlich, als sie das Musterhaus verlassen mussten, nach Berlin, da sie sich nach ihrem illegalen Aufenthalt nicht in Österreich als Flüchtlinge melden wollten. Berlin war dem Vater zwar aufgrund seiner früheren beruflichen Tätigkeit vertraut, zugleich verunsicherten sie Nachrichten über ausländerfeindliche Übergriffe in Ostdeutschland. Wiederum mit Hilfe des Arbeitskollegen passierten sie die Grenze und meldeten sich schließlich in Berlin als Flüchtlinge. Die ersten fünf Jahre verbrachten sie in einem Heim, sie hatten ein Zimmer für die gesamte Familie. Als sie schließlich die Erlaubnis erhielten, in eine eigene Wohnung umziehen zu dürfen, wählten sie einen Stadtteil mit einem hohen Anteil an Mirgant/-innen um so ausländerfeindlichen Diskriminierungen zu entgehen. Seit zwei Jahren hat Katarinas Familie eine Aufenthaltsbefugnis. Seit diesem Zeitpunkt besuchen sie regelmäßig die in Kroatien lebenden Eltern des Vaters. Die Großmutter mütterlicherseits starb bereits 1990, der Vater der Mutter verstarb während des Krieges an den Folgen eines Granatenangriffes, der auch das Elternhaus der Mutter zerstörte. Katarinas Mutter berichtet, seit dem Krieg nur einmal sehr kurz in ihrem Heimatort gewesen zu sein, was sie kaum ertragen habe. Sie könne nie mehr dort leben, in Deutschland würde sie aber ebenfalls nicht richtig leben. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Kurz nach Katarinas Geburt wurde bei der Mutter eine rheumatische Erkrankung diagnostiziert. 1997, als der Druck auf die Flüchtlinge zur Rückkehr wuchs, verschlechtert sich ihr gesundheitlicher Zustand stark. Die Situation ihrer Familie in Deutschland nach 1997 habe sie oft als schlimmer empfunden als den Krieg. Ständig hätten sie in Ungewissheit und Angst vor Abschiebung gelebt. In den Sommerferien hätten sie sich regelmäßig versteckt, weil bekannt war, dass Familien mit schulpflichtigen Kindern vermehrt in den großen Ferien abgeschoben werden. Katarinas Mutter befindet sich seit mehreren Jahren in psychotherapeutischer Behandlung und war mehrmals in stationärer, teilweise auch psychiatrischer Behandlung, worüber sie nicht sprechen möchte. Sie erwähnt jedoch suizidale Gedanken. Katarinas Vater befindet sich nicht in therapeutischer Behandlung. Die Mutter wünscht sich jedoch, dass auch ihr Mann Hilfe in Anspruch nähme. Insbesondere seine aggressiven Impulsdurchbrüche157 machen ihr große Sorgen, da sie nicht wisse, wie sie ihre Töchter davor schützen könne, wenn sie selbst nicht zu Hause sei. Die Situation sei etwas weniger spannungsreich, seitdem ihr Mann wieder arbeite. Er habe allerdings keine Arbeit in seinem Beruf gefunden, sondern verrichte Hilfsdienste auf dem Bau. Für Katarinas Mutter ist neben ihrem Gesundheitszustand die Arbeitslosigkeit ein zentrales Thema. Sie hat bereits zahlreiche Versuche unternommen, Arbeit zu finden. Ihren Äußerungen ist zu entnehmen, dass sie sich bis zum Krieg stark über ihre Berufstätigkeit, in Bosnien hatte sie eine verantwortungsvolle Stellung in einer Bank, identifizierte. Zur Zeit der Interviews nimmt sie an einer berufsintegrierenden Maßnahme für 157 Katarina gibt eine sehr auffällige Beschreibung der Karte Gänserich im SFT, bei der sie sich eventuell auf das Miterleben von Wutanfällen ihres Vaters bezieht. Sie verschleiert dabei allerdings, von wem sie spricht, als sie sehr konkret schildert, dass ihr die Karte nicht gefalle, weil sie nicht gerne miterlebe, wenn jemand wütend sei. Obwohl sie von »er« spricht, sagt sie auf Nachfrage, bei wem sie so etwas manchmal erleben würde, dann allerdings nur, dass es ja jedem mal passieren könne, dass man aggressiv werde.

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Flüchtlingsfrauen im sozialen Bereich teil, die sie einerseits sehr engagiert und ehrgeizig betreibt und mit besten Noten beendet, von der sie jedoch äußerst frustriert berichtete, dass anschließend keine Aussicht auf eine Arbeit in diesem Bereich bestehe. Besonders wütend mache sie, dass den Flüchtlingen zunächst Hoffnung gemacht werde, obwohl bereits vor Ausbildungsbeginn klar sei, dass es für die Flüchtlingsfrauen mit dieser Weiterbildung keine Chancen auf eine Integration in den Arbeitsmarkt gebe. Treffend bemerkt sie, dass diese Maßnahme letztlich nur ihren Ausbildern zu einem Job verhelfe. Trotz vielfältiger Ausgrenzungs- und Diskriminierungserlebnisse ist Katarinas Familie insgesamt und im Vergleich zu den anderen interviewten Familien gut sozial eingebunden. Sie ist sowohl in ihrer örtlichen katholischen Gemeinde als auch in der kroatischen katholischen Gemeinde engagiert und verfügt auf diese Weise über viele sehr unterschiedliche Kontakte. Auch die Wahl eines katholischen Gymnasiums für die Töchter zeigt, dass sich die Eltern nicht nur bemühen, den Kindern eine gute Schulbildung zukommen zu lassen, sondern dass sie auch in Deutschland versuchen, den Töchtern bestimmte, ihnen wichtige Werte zu vermitteln. Trotz guter Schulleistungen von Katarina spricht die Mutter jedoch auch hierüber sehr besorgt. Ihr falle zum Beispiel auf, dass Katarina zu Hause Aufgaben bewältigen könne, die sie dann in der Schule aufgrund von Konzentrationsschwierigkeiten falsch mache. Katarinas Mutter spricht in diesem Zusammenhang von einem möglichen Trauma als Ursache. Obwohl sich Katarina nicht mehr an den Krieg erinnern kann, da sie erst zwei Jahre alt war, als sie Bosnien verließen, habe sie sich noch über Jahre bei lauten Geräuschen, besonders wenn ein Flugzeug oder ein Hubschrauber zu hören gewesen sei, unter dem Tisch versteckt. Ebenso würde sie sich wie eine ihrer älteren Schwestern abends immer etwas zu essen neben das Bett stellen, wie sie sagt, aus Angst sie könne nachts hungrig aufwachen. Besorgt berichtet Katarinas Mutter auch von einem Brief, den ihr die Tochter im Alter von zehn Jahren, als die Mutter für mehrere Wochen ins Krankenhaus musste, schrieb und über den sie sich nach wie vor viele Gedanken mache. Katarina formuliert in diesem Brief ihre Angst, die Mutter könne sterben, und bittet die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

9.2 Katarina, 11 Jahre

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Mutter eindringlich, am Leben zu bleiben. Katarinas Mutter schreibt über diesen Brief im CBCL-Fragebogen: Sie denkt über Tod und Todesschmerzen158 nach. Sie schrieb einen Brief, dass sie Angst vor dem Tod und Todesschmerzen hat und dass sie Angst davor hat, dass ich sterbe und dass sie dann nicht mehr leben will. Sie bittet mich für sie länger zu leben. Meiner Meinung nach hat sie ein Trauma erlebt. Ich habe große Angst davor, was mit ihr sein wird, wenn ich sterbe (ich habe viele gesundheitliche Probleme). Hier wird ganz deutlich, dass Katarinas Trennungsängste sich darauf beziehen, dass der Mutter etwas passieren könnte, und dass auch die Mutter selbst tatsächlich Angst davor hat. Die Angst vor dem Tod ist somit in Katarinas Familie ein zentrales Thema. Bei beiden Eltern scheint der Lebenswille durch den Krieg stark angegriffen zu sein und beide leiden unter dem Verlust ihres Berufs- und Alltagslebens in Bosnien. Katarinas Vater scheint insbesondere durch seine Kampferlebnisse traumatisiert, die Mutter leidet unter dem Verlust ihrer Eltern, ihres Heimatortes und ihrer Arbeit. Im letzten Gespräch spricht Katarinas Mutter selbst die Frage an, ob eine Therapie für Katarina sinnvoll wäre. Dabei wird deutlich, dass eine solche Unterstützung auch für die Mutter eine entlastende Funktion haben könnte. Katarina selbst kann sich zudem eine Therapie vorstellen, da auch gerade eine ihrer Schwestern eine beginnt. Sie möchte allerdings den Zeitpunkt selbst bestimmen und noch ein wenig warten.

Zusammenfassung Katarina hat einen deutlich beziehungsorientierten Bindungsstil und geht offen mit ihren Gefühlen um. Sie fühlt sich von beiden Eltern verstanden und emotional unterstützt. Gleichzeitig zeigt ihre Geschichte, dass sichere Bindung keineswegs bedeutet, frei 158 Die Mutter hat mir den auf Deutsch geschriebenen Brief gezeigt. Katarina verwendet darin das Wort »Todesschmerzen«, das ihr vermutlich aufgrund ihres katholischen Hintergrundes bekannt ist.

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von psychischen Belastungen oder Symptomen zu sein (siehe Kapitel 6). Katarina hat eine Angstproblematik entwickelt, die sich allerdings sehr abgegrenzt auf Trennungssituationen bezieht. Verursacht sind diese Ängste offensichtlich durch die phasenweise Suizidalität der Eltern, die Katarina fürchten lässt, ihre Eltern könnten sich etwas antun. Diesen Zusammenhang reflektieren allerdings sowohl Katarina als auch ihre Mutter. Katarinas Mutter gelingt so eine ausreichende Grenzziehung gegenüber der Tochter, sie kann auf diese Weise Prozesse der Parentifizierung und der unbewussten Traumaweitergabe einschränken. Da sie jedoch selbst in die Problematik verwickelt ist, sind ihre Möglichkeiten, die Tochter zu unterstützen und in ihren Ängsten zu beruhigen, begrenzt. Bei der Mutter wird auch spürbar, wie schwierig und unter Umständen auch schuldbesetzt es für sie ist, die Weitergabe eigener Belastungen und seelischer Konflikte einerseits wahrzunehmen, andererseits aber auch nicht gänzlich verhindern zu können. Katarinas Beispiel macht deutlich, wie eine sichere Bindung und eine hohe reflexive Fähigkeit im Sinne des Konzeptes der »Reflective Functioning« von Fonagy u. Target (siehe Kapitel 6)159 den familiären Umgang mit psychischen Belastungen günstig beeinflussen können. In Katarinas Fall bedeutet dies, dass die Eltern sowohl Katarinas als auch die eigene Problematik wahrnehmen und, was prognostisch sehr günstig ist, über therapeutische Hilfe für Katarina nachdenken. Entscheidend dafür, dass Katarina und ihre Familie aktiver mit dem Erlebten umgehen können, scheint ebenfalls zu sein, dass sich bei Katarina im Vergleich zu den anderen Kindern neben ihrem sicheren Bindungsmuster mehrere der in der Literatur genannten protektiven Faktoren (siehe Kapitel 5) finden: kein Verlust unmittelbarer Bezugspersonen und damit eine geringere Risikogesamtbelastung, mindestens durchschnittliche Intelligenz, soziale Förderung (Mitgliedschaft im Chor und in Jugendgruppen) und hohes Bildungsniveau der Eltern.

159 Da kein AAI vorliegt, konnten die »Reflective Functioning Scales« nicht angewendet werden.

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9.3 Nermin, 11 Jahre

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9.3 Nermin, 11 Jahre, »Er ist traurig von irgendwas« – Beispiel für verminderte intergenerationale Grenzbildung und unbehandelte traumabedingte Symptomatik Im Gegensatz zu den anderen Kindern zeigen sich bei Nermin bereits über Jahre bestehende behandlungsbedürftige Symptome, wobei im Mittelpunkt eine Enkopresis steht. Diese wird zwar von seinen Eltern wahrgenommen, bleibt aber dennoch seit drei Jahren weitgehend unbehandelt.160 Zusätzlich berichten sowohl die Eltern als auch Nermin selbst von Sprach- und Schulproblemen und auch Nermins Selbsteinschätzung im YSR weist auf diverse, gravierende Probleme des Jungen hin. Aufgrund dieser deutlichen Symptomatik hätte man Nermin in einer klinischen Stichprobe161 erwarten können. Wie die Fallanalyse zeigt, erweist es sich jedoch als für die Familienstruktur bezeichnend, dass sich Nermin zum Untersuchungszeitpunkt noch nicht in therapeutischer Behandlung befindet. Ihm scheint vielmehr die Rolle des Symptomträgers innerhalb der Familie zuzukommen, was den vernachlässigenden Umgang seiner Eltern mit seiner Symptomatik erklärt. Die komplizierte Familiendynamik beeinflusste auch die Forschungssituation, die sich entsprechend schwierig gestaltete. So wollte beispielsweise die Mutter einerseits an der Studie teilnehmen und äußerte einen Beratungsbedarf, war dann jedoch 160

Nermin wurde sowohl medizinisch als auch kinderpsychiatrisch vorgestellt. Eine kinderpsychiatrische Behandlung blieb jedoch aus. Dieser vernachlässigende Umgang mit seinen Problemen ging dabei offenbar nicht nur von den Eltern, die Termine nicht wahrnahmen, sondern auch von dem Kinderpsychiater aus, der sich nach Angaben der Eltern nicht um einen Dolmetscher bemühte, um eine tatsächlich wirkungsvolle Zusammenarbeit mit der Familie zu etablieren. 161 Präzise gesagt, in einer Gruppe von Kindern, die Therapie in Anspruch nehmen. Meistens wird zwischen »klinischen« und »nicht-klinischen« Stichproben unterschieden, Fälle wie Nermin rechtfertigen jedoch die begrifflich etwas sperrige Differenzierung in eine Inanspruchnahmeversus Nichtinanspruchnahmepopulation. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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zum verabredeten Termin nicht anzutreffen oder wollte nicht sprechen. Ihre Angaben in den Interviews sind zudem oft widersprüchlich und inkohärent, was dazu führt, dass die Rekonstruktion der Familiengeschichte lückenhaft bleibt und einige wichtige Informationen fehlen. Schwer einzuschätzen ist auch die Frage, inwiefern die Familiensituation bereits vor dem Erleben von Krieg und Flucht konflikthaft war und bei der Mutter eventuell schon zuvor psychische Probleme bestanden. Auszüge aus den Gesprächen mit ihr provozierten in verschiedenen Fallvorstellungen regelmäßig eine Diskussion darüber, inwiefern sich in ihrem Verhalten die Folgen einer zweifelsohne bestehenden Traumatisierung zeigen oder ob bei ihr (zusätzlich) von anderen psychischen Problemen ausgegangen werden muss. Besonders auffällig ist die verminderte Grenzbildung zwischen ihr und ihrem Sohn und die familiäre Entstrukturierung. Eine solche Tendenz könnte schon vorher in der Familie bestanden haben, wird jedoch ebenfalls als Traumafolge beschrieben. So weist David Becker (1992) darauf hin, dass bereits die unbehandelte Traumatisierung eines einzelnen Familienmitgliedes über Jahre zu einer pathologischen Familienstruktur führen kann und sich diese dann oft nur nach langen Bemühungen als Traumafolge rekonstruieren lässt. Verminderte oder fehlende Grenzbildung wird von Kogan (2003) als typisch für die Beziehungen zwischen traumatisierten Eltern und ihren Kindern beschrieben. Hierzu gehören sowohl das Verwischen der Generationengrenzen und der Grenzen zwischen Selbst und Objekt als auch eine unzureichende oder fehlende Differenzierung zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Phantasie und Realität. Die Frage, welche psychischen Prozesse sich als Traumafolge verstehen lassen, ist insbesondere für die Therapie bedeutungsvoll. Komplexe Problematiken, bei denen vorher bestehende Konflikte und Belastungen und das Erleben von Krieg und Flucht ungünstig ineinandergreifen, sind jedoch keineswegs selten. So verschärften sich in zwei der interviewten Familien bereits bestehende Ehekonflikt während des Krieges erheblich und es kam schließlich zur Scheidung. In einer anderen Familie verschlechterte sich kriegs- und fluchtbedingt der Zustand des bereits zuvor © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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psychisch erkrankten Vaters und belastete die Situation der Familie in Berlin, die zudem aufgrund der vorher bestehenden Symptomatik eine Kriegstraumatisierung aufenthaltsrechtlich nicht geltend machen konnte.

Kontaktaufnahme und Gesprächssituation Der Kontakt zur Familie entstand über eine Selbsthilfegruppe für Frauen in einem Kulturzentrum, die von Nermins Mutter besucht wird und in der ich mein Projekt vorgestellt hatte. Die Mutter gab mir gleich im Anschluss an meine Projektvorstellung ihre Adresse, so dass ich den Eindruck hatte, sie sei sehr interessiert und würde gerne an den Interviews teilnehmen. Bei meinem ersten Besuch, bevor ich mit Nermin das Bindungsinterview führte, traf ich zunächst die gesamte Familie im Wohnzimmer. Im Gegensatz zu meinem ersten Eindruck von der Mutter stellte sich nun allerdings heraus, dass sie selbst nicht an Gesprächen teilnehmen wollte, sondern vor allem daran interessiert war, dass ich mit dem Sohn spreche. Das Gespräch führte hauptsächlich der Vater, der im Vergleich zur Mutter recht gut Deutsch spricht. Nermin übersetzte dabei teilweise spontan, obwohl weder seine Eltern noch ich ihn darum gebeten hatten und die Verständigung auch ohne Übersetzung gut funktionierte. Nermin wirkte auf mich spontan sehr belastet und depressiv. Er ist ein schmaler, zunächst eher zurückgezogen und schüchtern wirkender Junge, der auf dem Wohnzimmersofa fast »untergeht«. Sein Vater dagegen ist groß, kräftig und wirkt etwas »machohaft«, die Mutter – beide Eltern sind ca. Anfang dreißig – ist ebenfalls ein burschikos wirkender Typ und macht zugleich einen sehr depressiven und angestrengten Eindruck. Nachdem ich kurz das Forschungsprojekt vorgestellt hatte, gingen die Eltern schnell dazu über, über Nermin zu sprechen und nannten in einem oft vorwurfsvollen Ton ihre diversen Probleme mit Nermin. Vor allem klagten sie über seine schlechten Schulleistungen und seine mangelhaften Deutsch-

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kenntnisse.162 Obwohl Nermin direkt neben uns saß, bezogen die Eltern ihn nicht von sich aus in das Gespräch mit ein. Auf diese Weise wurde ich bereits in meiner Rolle als Zuhörerin unfreiwillig in die Dynamik zwischen Eltern und Sohn eingebunden und sah mich von Beginn an gezwungen, allen Beteiligten gegenüber aktiv meine neutrale Haltung deutlich machen zu müssen. Dabei hatte ich das Gefühl, Nermin schützen zu müssen und mich ihm gegenüber deutlich von den Eltern und ihren verbalen Angriffen abgrenzen zu müssen. Meine mehrmaligen Versuche, Nermin in das Gespräch einzubinden, indem ich ihn direkt ansprach, führten, sobald er die Situation aus seiner Sicht zu schildern begann, jedes Mal zu einem Streit zwischen Eltern und Sohn. Bei dem Gespräch ebenfalls anwesend war Nermins jüngere, fünf Jahre alte Schwester, die ich im Unterschied zu Nermin als äußerst lebhaft und vereinnahmend erlebte. Auch schienen mir sowohl die Eltern als auch Nermin ihr gegenüber sehr zugewandt, sie reagierten häufig amüsiert auf sie. Bei dem ersten Besuch versteckte sie sich zunächst vor mir, kam dann aber ein paar Mal kichernd hinter dem Sofa hervor und näherte sich mir auf diese spielerische Art, bis sie schließlich sagte: »Jetzt habe ich keine Angst mehr vor dir«. Nermin erklärte mir daraufhin lachend, dass die Mutter ihnen erzählt habe, am Nachmittag würde eine Frau kommen und sie mitnehmen. Im Laufe der Gespräche beobachtete ich diese Art zu »scherzen«, die mir zumindest grob vorkommt, noch öfter, ohne dabei jedoch beurteilen zu können, wie diese Scherze von den Kindern aufgefasst werden. Deutlicher 162

Die Diskussion um Nermins Deutschniveau war ein offener Streitpunkt in der Familie. Die Mutter warf ihm auch in meinem Beisein öfter vor, dass er schlecht spreche, worauf Nermin einmal wütend antwortete, er spreche immer noch besser Deutsch als sie, und den Raum verließ. Bei meinem ersten Besuch zeigte sich, dass Nermin im Gegensatz zu fast allen anderen von mir interviewten Kindern nicht Bosnisch lesen und schreiben kann. Er konnte die Datenschutzvereinbarung, die ich mit seinen Eltern traf, nicht lesen. Die Eltern berichteten, dass es Nermin in der bosnischen Schule nicht gefallen habe und er nur wenige Male dort war. Nermin beherrscht damit weder Deutsch noch Bosnisch vollständig schriftlich und mündlich. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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als bei anderen Familien waren für mich bei Nermins Familie kulturelle Differenzen spürbar, vor allem den Kommunikationsstil innerhalb der Familie konnte ich oft nur schwer einschätzen.163

Biographischer Hintergrund Nermin lebt mit seinen Eltern seit Anfang 1994 in Berlin, seine jüngere Schwester wurde in Berlin geboren. Die Eltern stammen ursprünglich aus einem Dorf im montenegrinischen Teil des Sandzak, einer Region im Nordosten Montenegros und Südwesten Serbiens, und bezeichnen sich als muslimisch. Der Sandzak ist gemischt serbisch/muslimisch. Auf der Suche nach einer besseren beruflichen Perspektive gingen die Eltern jedoch kurz nach ihrer Heirat zunächst nach Serbien und später nach Sarajewo, wo sie bereits einige Zeit vor Ausbruch des Krieges lebten. Der Vater arbeitete bei den dortigen Verkehrsbetrieben, die Mutter in einer Betriebskantine. Nach Auskunft der Mutter war Nermin ein Wunschkind. Er wurde 1992 geboren, und zwar, wie die Mutter bemerkt, vierzig Tage bevor der Krieg begann. Diese Zeitspanne ist insofern bedeutend, als es in vielen bosnisch- muslimischen Familien die Tradition gibt, das Haus mit einem Neugeborenen erst nach vierzig Tage zu verlassen und es erst dann Nachbarn und Freunden vorzustellen. Dieses erste Vorstellen des Neugeborenen in der Welt fiel mit dem Kriegsbeginn zusammen. Wenige Tage später begann die Belagerung Sarajewos. Über die Zeit der Familie im Krieg machen Mutter und Vater in unabhängigen Interviews unterschiedliche Angaben, ich orientiere mich hier weitgehend an den ausführlicheren Berichten der 163

Aus diesem Grund bin ich auch vorsichtig damit, die Bemerkung der Mutter – ich würde kommen und die Kinder mitnehmen – psychologisch zu interpretieren. Sie könnte sowohl auf eine aggressive Phantasie der Mutter gegenüber ihren Kindern oder aber auf ihre Unsicherheit mir gegenüber – wer ist die fremde Psychologin und was wird sie mit den Kindern machen, darf ich meine Kinder behalten? – hinweisen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Mutter. Nach ihrer Schilderung verbrachten sie und ihr Sohn circa anderthalb Jahre im belagerten Sarajewo. Die Mutter berichtet im Interview mehrfach von ihrer großen Angst vor den Bomben und vom Hunger. Zu ihrem Mann habe sie in dieser Zeit kaum Kontakt gehabt, da er gekämpft habe und sie sich kaum sahen. Wie ihr das zu diesem Zeitpunkt sehr schwierige Verlassen Sarajewos gelang, bleibt unklar, ihr gelang jedoch zusammen mit Nermin die Flucht in ihren Heimatort in Montenegro. Dort versuchte sie Papiere für die weitere Flucht zu bekommen, was mehrere Monate dauerte. Ein Verbleiben im nunmehr serbisch bestimmten Heimatort erschien ihr unmöglich. Im anschließenden Winter floh sie mit dem damals knapp zweijährigen Nermin weiter bis zur slowenischen Grenze, wo sie zunächst mehrfach abgewiesen wurden. Schließlich wurden sie illegal über die Grenze geschmuggelt und in ein Auffanglager gebracht. Dort, so erzählt sie, habe sie zufällig jemanden getroffen, der ihren Mann kannte und sie informierte, dass ihr Mann ebenfalls aus Sarajewo geflohen sei und sich in Berlin aufhalte. Sie selbst verfügte über Monate über keine Informationen von ihrem Mann, ließ sich auf diese Nachricht hin jedoch nach Berlin schleusen. Dort traf sie ihn – wiederum zufällig – bei der zentralen Aufnahmestelle für bosnische Flüchtlinge. In den Interviews mit der Mutter wird dabei deutlich, dass sie ihrem Mann vorwirft, nicht aktiver versucht zu haben, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Andere Männer hätten zu dieser Zeit übers Radio ihren Familien Nachrichten vermittelt, was ihr Mann jedoch nie versucht habe. Die Mutter deutet neben dem Erleben der Belagerung Sarajewos, während der sie große Ängste hatte, weitere dramatische Erlebnisse während der Flucht an. Als sie mit dem erkrankten Nermin ein Krankenhaus in ihrem montenegrinischen Heimatort aufsuchte, in dem nur noch serbische Ärzte beschäftigt waren, habe einer der Ärzte Nermin auf dem Arm gehalten, während ein zweiter, daneben stehender Arzt sie fragte, wo denn der Vater des Kindes sei. Bevor sie etwas sagen konnte, antwortete der Arzt, der Nermin auf dem Arm hielt, der Vater sei wohl in

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Sarajewo und töte Tschetniks.164 Diese Bemerkung sei für sie ein Schock gewesen, sie habe große Angst gehabt, dass die serbischen Ärzte Nermin etwas antun würden, zumal diese unmittelbar darauf mit dem Kind in einem Nebenzimmer verschwanden, um ihn zu untersuchen. Eine in dem Krankenhaus beschäftigte Bekannte habe sie anschließend gewarnt, sie solle nie wieder in dieses Krankenhaus gehen. An einer anderen Stelle im Interview deutet sie zudem Verhöre und Gefangennahme durch serbische Kämpfer an, wobei nicht deutlich wird, ob sie eine solche Situation selbst erlebt hat oder in ständiger Angst davor lebte. Familiengeschichtlich bedeutsam ist zudem, dass Nermin die ersten beiden Lebensjahre in engem Kontakt mit seiner Mutter, aber praktisch ohne den Vater aufwuchs. Erst in Berlin, als er zwei Jahre alt war, war die Familie wieder vollständig. Hinsichtlich der Symptombildung ist dabei interessant, dass die Sauberkeitserziehung in dieser Phase begann. Der Vater bezeichnet sich aufgrund seiner Kampferlebnisse als kriegstraumatisiert und nennt im AAI verschiedene Symptome. Wie für die anderen Flüchtlingsfamilien ist auch für Nermins Familie die Situation in Berlin nicht einfach. In den ersten sieben Jahren lebten sie in sechs verschiedenen Heimen in oft äußerst beengten Verhältnissen. Zum Untersuchungszeitpunkt haben sie seit zwei Jahren eine eigene Wohnung. Der Vater verfügte 1994/95, als die Aufnahme der bosnischen Flüchtlinge noch sehr liberal gehandhabt wurde, über eine Arbeitserlaubnis und arbeitete auf dem Bau. Als ihm die Arbeitserlaubnis entzogen wurde, musste er den Job aufgeben. Er berichtet, sehr unter der Arbeitslosigkeit gelitten zu haben, was auch seine Familie sehr zu spüren bekommen habe. Er habe sich schließlich von einem Psychiater ein Gutachten ausstellen lassen, das bestätigt, dass er aus gesundheitlichen (psychischen) Gründen arbeiten müsse. Zum Interviewzeitpunkt hatte er endlich wieder eine Arbeitserlaubnis erhalten und fand auch wieder eine Tätigkeit auf dem Bau. 164 Im Zweiten Weltkrieg und auch in den neunziger Jahren verbreiteter Begriff für serbische Kämpfer, siehe Kapitel 2.

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Nach wie vor verfügt die Familie lediglich über eine Duldung, die aufgrund eines Traumagutachtens der Mutter beantragte Aufenthaltsbefugnis wurde in der Zeit, in der ich die Interviews führte, abgelehnt. Die Familie legte gegen diesen Bescheid Widerspruch ein und war sehr besorgt, da für sie völlig undurchschaubar war, nach welchen Kriterien eine Aufenthaltsbefugnis abgelehnt oder erteilt wird. Die Mutter nimmt unregelmäßig eine Gruppentherapie teil, der Vater ist nicht in therapeutischer Behandlung. Nermins schlechte Schulleistungen und Sprachschwierigkeiten bringen die Eltern mit dem durch den Umzug der Familie vom Heim in die eigene Wohnung verbundenen Schul- und Stadtteilwechsel in Zusammenhang. Im Hort des Flüchtlingsheims habe Nermin regelmäßig Unterstützung bei den Hausaufgaben erhalten, die ihm nun sehr fehle. Zudem seien sie in einen Stadtteil mit einem sehr hohen Anteil an Migrant/-innen gezogen, in dem auch das Deutschniveau an den Schulen sehr schlecht sei. Eine Hausaufgabenhilfe oder Deutschunterricht für Nermin haben sie bisher aus finanziellen Gründen nicht in Erwägung gezogen, und beim schuleigenen Hort haben sie ihn wieder abgemeldet, da dort nach ihrem Eindruck keine Hausaufgaben gemacht worden seien, sondern die Kinder lediglich gespielt hätten.

Symptomatik und Fragebogenergebnisse Von Nermins Enkopresis-Symptomatik erfahre ich von der Mutter erst bei meinem zweiten Besuch. Nachdem ich mit Nermin das Bindungsinterview geführt habe, fragt sie mich in Nermins Anwesenheit, ob Nermin mir auch alles erzählt habe, und bemerkt gleich darauf, dass sie nicht glaube, dass er mir alles erzählt habe. Obwohl Nermin halb scherzend, halb ernst deutlich macht, dass er nicht möchte, dass die Mutter mir von seinem Problem erzählt, berichtet mir die Mutter daraufhin, dass Nermin einkoten würde. Sie äußert außerdem – in gebrochenem Deutsch – dass sie Nermin für traumatisiert halte. Als sie ihn gestillt habe, sei ihre Milch schlecht gewesen. Sie habe damals © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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immer geschaut von wo die Bomben fallen und ihre Milch sei deshalb nicht gut gewesen. Auf diesen Erklärungsansatz der Mutter gehe ich weiter unten ausführlich ein. Das Einkoten besteht zum Interviewzeitpunkt seit über drei Jahren und tritt nach Auskunft der Mutter zwei- bis dreimal pro Woche auf. Mögliche organische Ursachen wurden im Rahmen von zwei stationären Aufenthalten ausgeschlossen. Die Enkopresis begann nach einem Aufenthalt in einem Ferienlager, der die erste längere Trennung Nermins von seiner Familie darstellte. Damals war Nermin acht Jahre alt. Anhand von Nermins Angaben in den diagnostischen Fragebögen (YSR, DIKJ) lassen sich zudem weitere klinisch relevante Symptome vermuten: Bei dem YSR liegen sowohl der Gesamtwert (T=62) als auch die Werte »Externalisierung« (besonders Aggression, T=62) und »Internalisierung« (T=63) im klinisch bedeutsamen Bereich. Ebenso deuten Nermins Antworten im DIKJ auf eine erhöhte Depressivität hin (Testwert 23, kritischer Wert ist 18). Bevor ich ausführlich auf die Enkopresis-Symptomatik eingehe, stelle ich zunächst das Bindungsinterview und den Schwarzfuß-Test dar.

Beispiele aus dem Bindungsinterview In beiden Gesprächen hatte ich den Eindruck, einen guten Kontakt zu Nermin herstellen zu können, er sprach mich vor allem in seiner offensichtlichen Hilfsbedürftigkeit an. Das geschilderte übergriffige Verhalten der Mutter, in dem sie mir gegen seinen Willen von der Enkopresis erzählte, veränderte den Kontakt zwischen Nermin und mir allerdings merklich, wobei hinzukam, dass ich anschließend nur noch ein kurzes Gespräch allein mit Nermin führte. Die Interviews mit Nermin fanden in einem mir spärlich eingerichtet erscheinenden Durchgangszimmer statt. Erst im Anschluss an das erste Gespräch nahm ich wahr, dass es sich dabei um das Kinderzimmer handelte. Während die Schwester durch ein Gitterbett präsent ist, dachte ich bei dem zweiten, provisorisch aufgestellt wirkenden Bett zunächst an ein Gäste© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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bett, es handelt sich jedoch um Nermins Bett. Auf ein Kinderzimmer wies in dem Raum lediglich eine auf der Schrankwand stehende Ritterburg hin. Bei meinem zweiten Besuch stand diese dann auf dem Fußboden und es war klar, dass damit gespielt wurde. In dem Zimmer befand sich außerdem noch ein kleiner, sehr aufgeräumter Tisch mit einem Computer.165 In der Regensburger Auswertung wird das Bindungsinterview mit Nermin mit den niedrigsten Werten sowohl für erlebte elterliche Unterstützung (1) als auch für seine Bindungsstrategie (1) gewertet. Dies bedeutet, dass er im Interview durchgängig angibt, sich von seinen Eltern nicht unterstützt zu fühlen und eine durchgehend beziehungsvermeidende Bindungsstrategie zu haben. Im Gegensatz zu anderen Kindern mit einer unsichervermeidenden Bindung finden sich in Nermins Interview allerdings keine Beispiele für eine Idealisierung der Eltern. Seine Art offen und fast drastisch zu schildern, dass ihn »niemand« unterstütze, und auch seine mehrmalige Erwähnung, sich »miserabel« oder »einsam« zu fühlen, wirken sehr depressiv und verzweifelt. Dazu passend ist seine Körperhaltung während des Interviews gebeugt. Häufig schaut er, während er spricht, auf den Boden und wirft mir am Ende seiner Antworten fragende, zum Teil auch Hilfe suchende Blicke zu. Vor allem bei emotional belastenden Themen wird er unruhig, dreht sich auf seinem Stuhl und wendet sich phasenweise soweit von mir ab, dass ich ihn nur noch von der Seite oder halb von hinten sehen kann. Für die nicht erlebte Unterstützung durch die Eltern ist folgende Passage beispielhaft: Wer kann dich gut trösten? Meine Freunde. Was machen die? 165

Natürlich befinden sich Flüchtlinge in einer eingeschränkten finanziellen Situation. Dieses Kinderzimmer hob sich jedoch von den anderen Kinderzimmern, die ich gesehen habe, deutlich ab. In den anderen Familien war es auch oft sehr beengt, die Zimmer der Kinder waren jedoch immer sehr liebevoll eingerichtet und deutlich mit Plakaten, Spielsachen, Kuscheltieren, Postkarten etc. von den Kindern und Jugendlichen selbst geprägt. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Die lachen und machen Witze […] Können dich deine Eltern auch gut trösten? Nein. Wenn du mal Ärger mit deinen Freunden hast, wer tröstet dich denn dann? Niemand.

Für ein sehr problematisches Verhältnis zu den Eltern spricht ebenfalls, dass Nermin das einzige Kind in dieser Stichprobe ist, das ernsthaft berichtet, schon einmal darüber nachgedacht zu haben, von zu Hause wegzulaufen. Die erwähnten Freunde werden im Interview fast ausschließlich pauschal als »Freunde« bezeichnet und gewinnen keine Kontur. Andere Kinder beziehen sich im Laufe des Interviews beispielsweise wiederholt auf ein oder zwei Freunde/Freundinnen und nennen diese auch mit Namen. Bei Nermin überwiegt dagegen der Eindruck, dass es sich eher um lockere Bekanntschaften handelt und er über keine engen Freundschaften verfügt. Sein eigenes Verhalten in emotional belastenden Situationen schildert Nermin nicht nur als stark bindungsvermeidend, sondern es wirkt auch, als sei es mit Aggressionen vermischt. Er scheint sich zudem auf einem jüngeren Entwicklungsniveau zu bewegen, wofür unter anderem seine Wortwahl spricht, die sich jedoch teilweise schwer von möglichen Sprachproblemen abgrenzen lässt. In den mit ihm geführten Interviews stelle ich jedoch keine gravierenden Verständigungsprobleme fest. Wie sieht es denn aus, wenn du dich ärgerst? Böse. Böse? Merkt das jemand, wenn du dich ärgerst? Nein. Was machst du denn, wenn du dich ärgerst? Bleibe ich in meinem Zimmer. Hm. Und wie lange bleibst du dann in deinem Zimmer? 15 Minuten. Und dann? Dann gucke ich fernsehen. Und kommt jemand und holt dich aus deinem Zimmer? Nein. Und sagst du denn auch mal jemanden, wenn du dich geärgert hast? © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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9 Exemplarische Fallanalysen M-hm [d.h. nein]. Und wenn du dich mal über einen Freund in der Schule geärgert hast, kannst du das mal sagen? Nein.

Im Laufe des Interviews erwähnt er mehrmals, »böse« zu sein oder »die Wut zu kriegen«. Nermins Antworten brechen außerdem teilweise einfach unvermittelt ab. Auf die Frage, wie es ist, wenn die Eltern sauer sind, deutet Nermin beispielsweise nur an, dass die Eltern schreien. Dabei wird er äußerst unruhig, dreht sich auf dem Stuhl hin und her und vergräbt sein Gesicht kurz in seinen Händen. Im Gegensatz zu Alen scheint seine Vermeidungsstrategie keinerlei Stabilisierung166 mit sich zu bringen, sondern an der Schnittstelle zu einem desorganisierten Bindungsmuster oder zu einem aggressiven Bindungsverhalten (Brisch, 1999, siehe Kapitel 6) zu liegen. Für eine Klassifikation als »desorganisiert« werden seine Antworten als zu kohärent eingeschätzt, wobei allerdings zu diskutieren ist, wie sensibel das Bindungsinterview Späte Kindheit desorganisierte/desorientierte Bindungsmuster erfasst. Bei einem aggressiven Bindungsverhalten nach Brisch drücken die Kinder ihre Bindungsbedürfnisse über verbale und/oder körperliche Gewalt aus und das Familienklima ist ebenfalls aggressiv geprägt. Nermin scheint sein Bindungsbedürfnis sowohl über aggressive als auch über regressive Verhaltensweisen auszudrücken. Nermins Konflikte mit seinen Eltern werden auch bei dem Thema Schule deutlich. Hier fühlt er sich einerseits zumindest in dem Sinne unterstützt, als seine Eltern sich dafür interessieren, gleichzeitig spricht er jedoch auch den Druck an, der von ihnen ausgeht. Er kommentiert diese Situation fast verzweifelt damit, dass er selbst gerne besser wäre, er aber nicht gut lernen könne. Er erwähnt außerdem, dass die Lehrer häufig schreien würden und dass er sehr viel lieber auf seiner alten Schule geblieben wäre.167 166 Wie bei Alen diskutiert, ist die stabilisierende Wirkung von Alens bindungsvermeidender Strategie äußerst ambivalent zu betrachten. 167 An diesem Beispiel wird deutlich, wie sehr die Flüchtlingskinder

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Sehr auffällig an dem Interview mit Nermin ist, dass er spontan den Krieg, an den er kaum eigene Erinnerungen haben kann, erwähnt und zwar bei der Frage, ob seine Mutter manchmal Angst habe. Während er davon berichtet, ist er wiederum körperlich sehr unruhig und schaut auf den Boden, seine Angaben sind diffus: Hast du mal erlebt, dass deine Mutter vor etwas Angst hatte oder hilflos war? Also, Angst hatte. Was war das? Früher im Krieg. Kannst du dich daran erinnern? Da war ich klein. Kannst du dich daran erinnern oder/ Nein, nicht so ganz. Hat dir das jemand erzählt? Hm. Oder erzählt sie jetzt manchmal davon? Ja. Und wie fühlst du dich, wenn sie das erzählt? Traurig.

Nermin äußert bei diesen Fragen deutlich seine emotionale Belastung durch körperliche Unruhe, so dass ich hier nicht weiter frage, etwa was ihm die Mutter oder jemand anderes vom Krieg erzählt habe. Es wird dadurch nicht deutlich, was er von der Angst der Mutter und vom Krieg weiß und aus welchen Gründen er diese Verbindung, die die Mutter selbst immer wieder erwähnt, herstellt. Ebenso bleibt unklar, ob sich Nermin auf die Vergangenheit oder die Gegenwart bezieht. Wie bei seiner Mutter, die jedes Gespräch damit beginnt, zu erwähnen, nicht über den Krieg sprechen zu wollen, ist der Krieg damit auch in den Interviews mit Nermin präsent, zugleich jedoch etwas Nicht-Ansprechbares. Die Mutter selbst gibt an, nie mit den Kindern über den Krieg zu auch unter den Umzügen innerhalb Berlins, die oft mit Schulwechsel verbunden sind, leiden. Alle von mir interviewten Kinder mussten mehrmals das Heim wechseln und für fast alle bedeutete dies ebenfalls einen Schulwechsel. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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sprechen. Vermutlich beruht Nermins Wissen vor allem auf Ahnungen, Andeutungen und Beobachtungen, die für ihn kein kohärentes, verstehbares Bild entstehen lassen. Eine Verwischung von Vergangenheit und Gegenwart zeigt sich auch an einer weiteren Stelle im Interview, als Nermin über eigene Erinnerungen an Bosnien spricht. Sehr wahrscheinlich bezieht er sich auf eine Reise der Familie nach Bosnien, als er sechs Jahre alt war. Durch das »früher« wird sprachlich jedoch nicht klar, ob er auf meine Frage in Hinblick auf seine Reise nach Bosnien antwortet oder bezogen auf die Zeit des Krieges: Hast du noch Erinnerungen an Bosnien? Hm [d.h. ja] An was kannst du dich denn erinnern? Früher, als ich da war, da war alles kaputt. […] An was kannst du dich denn erinnern? Kaputte Häuser.

Bei der abschließenden Drei-Wünsche-Frage äußert Nermin ausschließlich materielle Wünsche168 : Er wünscht sich »Klamotten«, und zwar eine Hose von einer besonderen Marke, einen Hund, und zwar nicht irgendeinen, sondern einen kleinen Pitbull, und ein Auto, damit er nicht mehr zu Fuß gehen muss. Kurz zuvor hat er erwähnt, Angst vor Hunden zu haben und häufig die Straßenseite zu wechseln, wenn ihm Hunde begegnen. Der Wunsch nach einem kleinen, aber sehr aggressiven und gefährlichen Hund lässt sich vielleicht als Wunsch nach einem Begleiter, der ihn schützen und verteidigen kann, verstehen, symbolisiert aber auch Nermins eigene »gefährliche« und »mächtige« Seite, die er sich, wie der Schwarzfuß-Test zeigt (s. u.), sehr wünscht. Psychodynamisch passen Nermins materielle Wünsche in dem Sinne zur Enkopresis-Symptomatik, als sich diese ebenfalls auf einer »materiellen« Ebene manifestiert. Auffällig ist auch, dass Nermins Eltern häufig materielle und finanzielle Fragen 168

Dies ist nur bei einem weiteren Mädchen, Selma, der Fall. Interessanterweise ähneln sich die Bindungsinterviews beider Kinder, Selma gehört zu den wenigen Kindern, die ebenfalls Schul- und Sprachschwierigkeiten angeben (siehe unten). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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betonen. Als Nermin mir von seinen Hobbys erzählt, wird deutlich, dass seine Wünsche in diesem Bereich oft an den Kosten scheitern und seine Eltern auch als erstes immer nach möglichen Kosten fragen. So war ihre nach Nermins Schilderung offenbar einzige Reaktion, als er sich mit einem Schulkameraden einen Karateverein angeschaut hatte, die Frage, wie teuer eine Mitgliedschaft dort sei. Ähnlich sei es bei einem Fußballverein gewesen. Zwar muss man bedenken, dass die Familie von Sozialhilfe lebt, doch ermöglichen andere Flüchtlingsfamilien ihren Kindern durchaus die Teilnahme an Sportvereinen und sind trotz der eingeschränkten finanziellen Möglichkeiten sehr bedacht, dies zu tun.169

Schwarzfuß-Test (SFT) Wie ambivalent Nermins Beziehung zu den Eltern ist, wird im SFT noch deutlicher. Hier zeigt sich auch, wie negativ und depressiv sein Selbstbild ist. Neben der immer wieder thematisierten Traurigkeit und Einsamkeit bildet sich jedoch auch ein starker Wunsch nach Macht, Stärke und Aggression ab. Wie bei den anderen Kindern ist auch bei Nermin die Frage nach der Autonomieentwicklung ein zentrales Thema, wird hier jedoch gleichermaßen als »Ausgestoßenwerden« oder »Weglaufen« inszeniert und stellt damit weniger die Vorbereitung auf eine tatsächlich autonome Ablösung dar. Weitere Themen sind Geschwisterrivalität, das Thema des IchIdeals und Hinweise auf Defizite in der frühkindlichen, oralen Phase. Schwarzfuß ist bei Nermin acht Jahre alt – das entspricht also Nermins Alter während seines Aufenthaltes im Ferienlager und damit zu Beginn der Enkopresis. Die beiden kleinen Schäfchen sind fünf Jahre (ein Junge und ein Mädchen) und haben damit das gleiche Alter wie seine Schwester. Nermin lässt sich schnell 169 Einige Flüchtlingsfrauen berichteten, illegal putzen zu gehen, um ihren Kindern Schulausflüge etc. bezahlen zu können und eine gewisse Unabhängigkeit vom Sozialamt zu haben.

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auf den SFT ein, spontan wählt er als Erstes die Aufbruch-Karte, beginnt seine Erzählung dann jedoch mit der Karte Wurf:170 Seine Geschichte beginnt damit, dass die Mutter Kinder bekommt und von den Bauern versorgt wird. Die Kinder stehen auf und spielen. Es gibt eine Tür, durch die die Kinder rausgehen, sie spielen Fangen. Anschließend wählt er die Karte Nacht: »Also, da ist es dunkel geworden und da sind die Schafe ähm, also, ähm, hingelegt«. SF guckt die Eltern an: »er guckt also die Eltern an, er ist traurig von irgendwas, weil er Angst hat in der Nacht, weil er sich fürchtet, er schläft ein oder er schläft nicht ein.« Bei der Karte Wurf fällt zunächst lediglich auf, dass er explizit eine Tür erfindet, also eine Möglichkeit, die Szene zu verlassen. Bei dem Bild Nacht dagegen beschreibt er vielfältige emotionale Reaktionen von Schwarzfuß, die sich sowohl auf das in der Karte angesprochene Thema, die Eltern als Paar, als auch auf eine generelle Angst in der Nacht zu beziehen scheinen. Erst in einem späteren Gespräch mit den Eltern stellt sich heraus, dass Nermin selbst oft sehr unruhig schläft und häufig Alpträume hat. Eventuell bezieht er sich hier auch auf diese eigene Erfahrung. Sehr hinweisreich sind nun die nächsten drei Karten, deren Interpretation durch Nermin ich hier wörtlich wiedergeben möchte: Gänserich: »da hat SF die Ente geärgert und die hat ihn gebissen und SF heult jetzt«. Aufbruch: »da ist SF weggelaufen von dem Bauernhof und ist einsam irgendwo hingelaufen, wo die nicht mehr, wo die Eltern nicht mehr sind«. Auf die Frage, ob noch etwas passiert: »er weint, weil er einsam ist«. Loch: »Es wird dunkel, dann hat si// also er hat sich verloren und ist in einen Fluss reingegangen und also, weint oder schreit um Hilfe. Er hat Angst. Weil er einsam ist, also nicht mehr bei den Eltern ist«. »Hm, wovor hat er Angst?« »Ähm, vor der Dunkelheit«. Mit der Karte Gänserich schließt sich an die Nacht-Szene, in der SF traurig und ängstlich ist, ein Bild mit aggressivem, be170 Ich gebe den SFT hier nur in Ausschnitten wieder, das komplette Protokoll des SFT findet sich im Materialband.

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Abbildung 16: Gänserich

strafendem Inhalt an. Die Bestrafung folgt damit auf das ödipale Thema, sie folgt in Nermins Geschichte zugleich auch auf die von SF gezeigte Angst. Nermin lässt SF die Aggression jedoch nicht passiv ertragen, sondern zum einen ruft SF diese aktiv hervor, indem er die »Ente«171 ärgert, zum anderen identifiziert sich Nermin später im zweiten Testteil mit dem Gänserich und damit mit dem Stärkeren. Das Bild ist bei ihm sehr beliebt. Das anschließende Weglaufen von Schwarzfuß bei dem Bild Aufbruch erfolgt zwar chronologisch auf die Aggression des Gänserichs, inhaltlich berichtet Nermin dann jedoch interessanterweise, dass SF vor den Eltern wegläuft: irgendwohin, »wo die Eltern nicht mehr sind«. Diese Formulierung klingt einerseits nach einem Ausreißen oder Weglaufen vor den Eltern, andererseits wird die anschließend geschilderte Einsamkeit vorweggenommen und eine Sehnsucht nach den Eltern deutlich. Die Trennung führt zu einer sehr großen Angst. SF verläuft sich und schreit um Hilfe, bei der Karte Loch schildert Nermin Schwarzfuß als hilflos und in größter Not. Die bereits bei der Karte Nacht geschilderten Gefühle von Traurigkeit, Einsamkeit und Furcht 171

Wie schon bemerkt, ist es schwierig, die falschen Tierbezeichnungen zu interpretieren. Natürlich stellt die Bezeichnung »Ente« eine Verniedlichung gegenüber einer Gans oder einem Gänserich dar, es ist jedoch nicht klar, ob der in der Stadt aufgewachsene Nermin den Unterschied zwischen Ente und Gans kennt. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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wiederholen sich hier in sehr viel dramatischerer Form. Schwarzfuß’ Weggehen scheint aus Furcht zu erfolgen und zu noch größerer Furcht zu führen. Es erfolgt in Nermins Geschichte nicht als ein eigener autonomer Aufbruch, sondern scheint vielmehr einer Flucht, einem Vertrieben- oder Ausgeschlossenwerden gleichzukommen und ist hochgradig ambivalent. Die Nähe zu den Eltern scheint genauso angstbesetzt zu sein wie die Entfernung von ihnen. Ein solches Muster erinnert an das von emotional oder körperlich misshandelten Kindern, so dass sich hier einige Fragen aufdrängen. Im Bindungsinterview erwähnt er mehrmals das Schreien der Eltern, ohne dass deutlich wird, wie weit dieses geht. Die Mutter berichtet allerdings selbst, Nermin unter anderem im Zusammenhang mit dem Einkoten geschlagen zu haben. Sie kommentiert dabei umgehend, dass dies in ihrer Kultur durchaus üblich sei, das Schlagen jedoch bezogen auf die Enkopresis nichts genützt habe. Nermin löst in seiner Geschichte die Aufbruchssituation schließlich positiv, allerdings – wie bei den meisten interviewten Kindern – nur unter Zuhilfenahme übermächtiger Kräfte; er wählt die Karte Fee. Der verirrte und einsame Schwarzfuß trifft die Fee, bittet sie um einen Wunsch und wünscht sich, dass er wieder bei den Eltern wäre. Die Fee erfüllt ihm diesen Wunsch und SF geht wieder zurück. Für die anschließende Familienszene wählt er dann allerdings das Bild Kuss, das er so interpretiert, dass hier lediglich SF und seine Mutter als tanzendes Paar zu sehen sind. Er sieht weder den Vater noch das kleine zuschauende Schäfchen. Die angelegte Konfliktsituation übersieht er damit einerseits, gleichzeitig verwirklicht er – psychoanalytisch gesprochen – in seiner Version auch den ödipalen Wunsch: SF ersetzt den Vater und tanzt an dessen Stelle mit der Mutter. Der an die Fee gerichtete Wunsch nach dem Zusammensein mit der ganzen Familie beschränkt sich damit auf einer unbewussten Ebene auf den Wunsch nach einem ungestörten Zusammensein mit der Mutter. Diesen Wunsch scheint Nermin zugleich abwehren zu müssen. So lehnt er Karten, auf denen SF allein mit seiner Mutter zu sehen ist, wie beispielsweise eine Stillsituation, ab. Die bei anderen Kindern häufig zu beobachtende Verwendung der Saugen-Karten als Bilder des Trostes oder der Beruhi© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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gung, die auf bedrohliche oder spannungsreiche Szenen folgen, fehlt bei Nermin. Eine solche Auslassung kann darauf hindeuten, dass Oralität einen zentralen Wunsch darstellt, der jedoch gleichzeitig abgewehrt wird. Auch die Ambivalenz bezüglich des mehrmals formulierten Wunsches, die ganze Familie solle zusammen sein, wiederholt sich, indem Nermin Bilder, auf denen die ganze Schäfchenfamilie abgebildet ist, wie zum Beispiel die Titelkarte, ablehnt. Gleichzeitig sind Bilder, auf denen SF allein ist, bei Nermin beliebt, er begründet dies jeweils damit, dass SF traurig und einsam sei, was ihm gefiele. Ein weiteres wichtiges Thema von Nermin wird erst bei den Beschreibungen der Traumkarten im zweiten Testteil erkennbar. Hier träumt SF jeweils von sich selbst als Erwachsenem. Großwerden setzt er dabei mit »mächtig werden« und »der Boss sein« gleich. Der große SF kann jetzt Befehle geben, zum Beispiel kann er den jüngeren Geschwistern etwas verbieten. Auch hier erinnern die formulierten Wünsche eher an ein sehr viel jüngeres Kind. Nermin lehnt diese Bilder allerdings ab, und zwar genau mit der Begründung, dass SF mächtig sei. Erwachsenwerden ist offenbar mit einer Angst auslösenden Omnipotenzphantasie verbunden. Entsprechend bezeichnet Nermin bei den Schlussfragen Schwarzfuß als das glücklichste Schaf, weil er so klein sei. Am unglücklichsten seien dagegen die Eltern, da Schwarzfuß weglaufe. Bei Nermin scheint klein »ungefährlich« zu bedeuten. Auch hier findet sich möglicherweise ein Motiv für seine Enkopresis, mit der er einerseits »klein« bleibt, die andererseits aber ein sehr aggressives Symptom darstellt, das durchaus geeignet ist, die Eltern zu »bestrafen«. Wie sehr sich Nermin wünscht, dass seine Probleme wahrgenommen werden und ihm geholfen wird, drückt er am Ende des Tests bei dem Bild Fee aus. Dieses Bild bezeichnet er als das schönste Bild, denn die Fee sei gekommen und habe gesehen, dass SF traurig sei, und habe ihm einen Wunsch erfüllt. SF wünscht sich von ihr, dass er zu Hause glücklich ist und »dass er nett zu den anderen ist«. Er macht damit noch einmal deutlich, dass er in seiner Familie unglücklich ist und auch, dass er sich © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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daran wohl einen eigenen Anteil zuschreibt, da es ihm nicht immer gelingt, nett zu den anderen zu sein.

»Blinde« Testauswertung Wie bei Alen wurde das Protokoll von Nermins Schwarzfußtest von einer Mitarbeiterin des Universitätsklinikums Hamburg Eppendorf ohne weitere Kenntnisse der Biographie von Nermin kommentiert. Deren Wahrnehmung der Depressivität und Hilfsbedürftigkeit Nermins, der konflikthaften Beziehung zu dem Vater und Nermins Wunsch nach familiärer Geborgenheit und der forcierten Autonomieentwicklung stimmen mit meiner Interpretation überein. Insgesamt betont sie, stärker als ich es getan habe, eine Bedrohlichkeit des Vaters und bestätigt damit meine Vermutungen, auch wenn sich aus den weiteren Interviews hierzu keine direkten Hinweise ergeben. Sehr interessant ist eine weitere Bemerkung von ihr, die die Regression von Nermin auf ein »unkompliziertes« Alter betrifft, nämlich auf die Zeit vor Beginn der Pubertät mit ihrer Ambivalenz zwischen Trennung/ Ablösung und Geborgenheit/Nähesuchen. Diese Regression agiert Nermin auf der realen Ebene durch seine Symptomatik. »Fazit: es scheint sich um ein sehr ängstliches, regrediertes (zurückgebliebenes?), manifest oder latent depressives Kind zu handeln mit viel erlebter Ohnmacht und Hilflosigkeit und depressiver Hilfserwartung nach außen, Wünschen nach familiärer Unterstützung und Geborgenheit, mangels dieser Wünsche nach eigener Stärke und schnellem Erwachsenwerden (schnell der Boss werden und groß und stark wie der Vater), dabei mit konflikthafter väterlicher Repräsentanz (Vater vermutlich übermächtig, streng, verbietend), Vater wird verleugnet, andererseits wird Bedürftigkeit nach dem Vater spürbar, mit ödipaler Beziehung zur Mutter, aggressive Impulse werden verleugnet, verdrängt und in der Wunscherfüllung gegen Schwächere gerichtet«.

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Zusammenfassung der Informationen von Nermins Seite In den Gesprächen mit Nermin fallen vor allem seine Depressivität und das häufige Thematisieren von Traurigkeit und Einsamsein auf. Ebenso wird deutlich, dass er sich auf eine nicht näher bestimmbare Art und Weise unwohl in seiner Familie fühlt, gleichzeitig aber den Wunsch nach einer »glücklichen Familie« hat. Seinen Eltern gegenüber nimmt er im Bindungsinterview teilweise eine ebenso vorwurfsvolle und aggressive Haltung ein wie sie ihm gegenüber. Das Bindungsinterview zeigt außerdem eine sehr unsichere Bindungsrepräsentanz, in der kein (pseudo-) stabilisierender Schutz vor negativen Emotionen aufgebaut werden konnte und die in diesem Sinne an der Grenze zur Desorganisation einzuordnen ist. Ein für eine Bindungsdesorganisation typischer Zusammenbruch der Verhaltensstrategie lässt sich dabei nicht beobachten, es ist aber auffällig, wie Nermin immer wieder auf ein jüngeres Entwicklungsniveau regrediert. Die Art und Weise, wie Nermin im SFT eine Trennungssituation inszeniert, bestätigt den Eindruck einer äußerst unsicheren Bindungsrepräsentanz und der sehr gespaltenen Beziehung zu den Eltern. Offenbar existiert einerseits ein Druck, gehen zu müssen, nicht gewollt zu sein, andererseits führt das Weggehen in eine katastrophal einsame Situation und bedeutet nicht nur für SF, sondern auch für die Eltern Unglück. Im Zusammenhang mit seiner Lebensgeschichte erinnert dieser Teil des Narrativs an die Tatsache, dass die Enkopresis-Symptomatik während der ersten Trennung von den Eltern begann. Diese Trennung verlief mit großer Angst. Zur Enkopresis, die einen Verlust der ersten Autonomie des Kindes darstellt, passt auch der starke Wunsch nach Regression, jünger sein zu wollen und sich jünger zu verhalten. Weitere zentrale Themen, wie die Frage nach Selbstständigkeit und Erwachsenwerden, aber auch nach Möglichkeiten, seine Aggression und Wut auszudrücken, kann er offenbar nur auf diesem jüngeren Entwicklungsniveau behandeln, auf dem er sich sicherer zu fühlen scheint. Psychoanalytisch betrachtet spricht darüber hinaus einiges für einen nicht gelösten ödipalen Konflikt, was lebensgeschichtlich aufgrund der langen Trennung vom Vater, der ver© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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mutlich sehr engen Beziehung zur Mutter und der angedeuteten Spannungen zwischen den Eltern nachvollziehbar wäre. Nermin drückt auf unterschiedliche Art seine Sehnsucht nach einer glücklichen Familie aus, kann eine solche vollständige, glückliche Familie jedoch auch auf der symbolischen Ebene nicht herstellen. Sein abschließend für SF ausgesprochener Wunsch, dass er immer nett zu anderen sei, legt nahe, dass er sich selbst als Ursache für die Störung in der Familie sieht.

Zur Enkopresis-Symptomatik In einem Überblick über diverse psychodynamische Erklärungsansätze zur Enkopresis warnt Krisch (1985) davor, nur weil das Symptom des Einkotens wie kaum ein anderes zu phantasievoller Bildsprache einlädt, aus den zahlreich kursierenden metaphorischen und symbolischen Umschreibungen vorschnelle Rückschlüsse auf Ätiologie und Bedeutung zu ziehen, und plädiert für eine genaue Untersuchung des jeweiligen Einzelfalls. Für den vorliegenden Fall erscheint mir der in der Literatur erwähnte Hinweis bedeutsam, dass Enkopresis sowohl ein aggressives als auch ein regressives Element enthält. Beides zeigt sich in Nermins SFT. Häufig werden als Merkmale zudem Aggressionen gegenüber der Mutter genannt und Ärger wird als eine vorherrschende Emotion in Enkopretikerfamilien beschrieben. Wichtig ist auch zu beachten, dass eine Enkopresis einen Selbstbestrafungsaspekt hat: Kinder, die einkoten, werden gehänselt und ausgegrenzt. Die Regression auf eine Entwicklungsstufe vor der Sauberkeitserziehung ist offensichtlich, der Zusammenbruch der Sauberkeitserziehung wird psychodynamisch als Hinweis auf einen möglichen Zusammenbruch einer zuvor bereits instabilen Mutter-Kind-Dyade verstanden. Dementsprechend beginnt eine Enkopresis häufig, wie auch bei Nermin, in Trennungssituationen.172 Dies gilt selbstverständlich jedoch auch für viele andere kinderpsychiatrische Symptome. 172 Enkopresis wurde häufig während des zweiten Weltkrieges bei Kindern beobachtet, die von ihren Eltern getrennt wurden (Krisch, 1985).

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Im Folgenden gehe ich auf die Gespräche mit der Mutter ein, in denen sie aus ihrer Sicht verschiedene Erklärungsmuster anbietet und darüber hinaus deutlich wird, wie unbearbeitete traumatische Erlebnisse der Mutter die Mutter-Sohn-Problematik in diesem Fall verschärfen.

Gespräche mit der Mutter Nachdem die Mutter es zunächst ablehnte, mit mir Interviews zu führen, sprach sie mich wiederholt an, wenn ich in die Familie kam, um mit Nermin zu sprechen. Wie erwähnt war sie es, die mir von der Enkopresis berichtete, und sie fragte auch nach Therapiemöglichkeiten für Nermin. Da unsere Sprachschwierigkeiten jedoch eher zu Missverständnissen führten als zu einer Verständigung, ging sie schließlich auf meinen Vorschlag ein, bei meinem nächsten Besuch eine Übersetzerin mitzubringen. Ich führte schließlich zwei lange Gespräche mit der Mutter, die äußerst unterschiedlich verliefen. Im ersten Gespräch erscheint sie sehr abwehrend und stellte immer wieder klar, nicht über den Krieg sprechen zu wollen, obwohl wir ihr dies mehrfach zugesichert hatten. Sie erwähnt in diesem Zusammenhang, oft nächtelang nicht schlafen zu können, wenn in der Gruppentherapie, die sie sporadisch besucht, über den Krieg gesprochen wird. Auch äußerlich gestaltet sich die Gesprächssituation schwierig, so dass ich den Eindruck habe, sie versucht auf dieser Ebene das Gespräch doch noch zu verhindern. So unternimmt sie trotz unserer Absprache, das Gespräch ohne die Kinder zu führen, nichts, als die Kinder in den Raum kommen und zeitweilig den Fernseher anschalten. Als ich daraufhin versuche, Nermin, über den sie die ganze Zeit spricht, in das Gespräch einzubeziehen, verlässt sie den Raum und beginnt zu telefonieren. Sie beklagt sich während des Interviews mehrmals darüber, nicht zur Ruhe zu kommen, gleichzeitig herrscht in dem Zimmer nicht nur aufgrund der zeitweise durch den Raum tobenden Kinder, sondern auch durch den laut zwitschernden Vogel und die in den angrenzenden Räumen staubsaugende Schwester der Mutter ein © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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beträchtlicher Lärmpegel. Inhaltlich handelt dieses Gespräch vor allem von den Schwierigkeiten, die die Mutter mit Nermin hat. Das zweite Gespräch verläuft völlig anders. Anlass für dieses Treffen, das mehrere Monate nach dem ersten stattfindet, sind meine Bemühungen, Nermin einen Therapieplatz zu vermitteln, was schließlich gelang. Diesmal ist die Mutter bereits am Telefon aufgeschlossener und begegnet uns – der Dolmetscherin und mir – weniger misstrauisch. Im Verlauf des Gespräches beginnt sie, ohne dass wir danach gefragt hätten, von sich und ihren Problemen zu erzählen. Sie nutzt das Gespräch auch, um über ihre Ängste vor einer erneuten Begutachtung zu sprechen. Diese stand ihr bevor, da ihre Familie gerade einen Ablehnungsbescheid für die beantragte Aufenthaltsbefugnis erhalten hatte. Die meisten Informationen zu den eingangs geschilderten biographischen Hintergründen stammen aus diesem zweiten Gespräch.

Angaben zu Nermins früher Kindheit und Erklärungsmuster der Mutter zur Enkopresis Übereinstimmend geben sowohl Nermin als auch seine Mutter für den Beginn der Enkopresis Nermins Aufenthalt in einem vom Flüchtlingsheim organisierten Ferienlager, der zugleich seine erste längere Trennung von der Familie bedeutete, an. Die Mutter selbst sieht offenbar jedoch keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Trennung als solcher und dem Beginn der Symptome, sondern stellt im Laufe der Gespräche mehrere »Krankheitstheorien« auf. Die eine bezieht sich auf die Stillsituation während des Krieges (»Stilltheorie«) und andere frühkindliche Auffälligkeiten von Nermin, die andere bezieht sich auf seine Ängste während des Ferienlagers, die sie durch in unmittelbarere Nähe des Ferienlagers sich befindende alte Kriegsbunker ausgelöst sieht (»Bunkertheorie«). In beiden Theorien stellt sie damit eine Verbindung zwischen Nermins Symptomatik und den Thema »Krieg« her. Dass darüber hinaus ganz offensichtlich ihre eigenen Ängste eine erhebliche Rolle bei Nermins Problematik spielen, zeigt sich erst am Schluss der Gespräche. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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»Stilltheorie« und frühe Kindheit

Wie bereits erwähnt, erzählt Nermins Mutter, ihre Milch sei während des Stillens »schlecht« gewesen, da sie immer große Angst gehabt und immer nach den Bomben geschaut habe. Als ich sie in noch einmal nach dieser Vorstellung frage, wird deutlich, dass sie denkt, ihre Sorgen hätten sich so auf Nermin übertragen, er sei dadurch traumatisiert: Sie haben mir letztes Mal, als ich da war, erzählt, dass Sie glauben, dass er traumatisiert ist, weil – als er noch sehr klein war, haben Sie erzählt, gab es Probleme mit dem Stillen. Ja, ich glaube, dass es im Zusammenhang ist, weil ich ihn ja ein Jahr gestillt habe und während der Zeit Krieg war, und dass es irgendwie dadurch meine ganzen Sorgen alles übertragen sind auf ihn. Ich denke, das hat was damit zu tun. Was meinen Sie, hat sich übertragen? Vielleicht diese Angst oder diese Nervosität, die ich gefühlt habe. Wovor hatten Sie Angst? Ich weiß auch nicht ganz genau, vor allem hatte ich Angst. Vor allem. Wissen Sie noch ein bisschen, ob es sich auf etwas Bestimmtes bezogen hat? Ich kann nicht darüber reden, es gibt vieles und ich kann nicht darüber reden.173

Unübersehbar wird hier ihre enorme emotionale Belastung während der Belagerung und damit in Nermins ersten Lebensjahren. Während ihre These, dass sich ihre Ängste auf den Säugling übertragen haben, einleuchtet, verwundert ihre Bemerkung, dass dies über die Milch geschehen sei. Sicherlich war die Stillsituation durch die Kriegssituation massiv gestört: Es ist bekannt, dass sich großer Stress negativ auf das Stillen auswirkt und zu vielfältigen Stillproblemen führen kann. Auch Katarinas Mutter berichtete, dass sie aufgrund des Krieges nicht stillen konnte, obwohl dies für sie bei ihren älteren Kindern kein Problem war. Nermins Mutter stellt jedoch eine körperliche Verbindung zwischen ihren Kriegsängsten und Nermin her : Die durch 173 Die Übersetzung der Interviews mit der Mutter wurde anhand der Tonbandaufnahme überprüft und so in eine wörtliche Übersetzung gebracht.

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den Krieg hervorgerufene Angst und Nervosität wird ein Teil von ihr, den sie über die (schlechte) Muttermilch an Nermin weitergibt. Selbst wenn sie den Ausdruck »schlechte Milch« metaphorisch verwendet, dann gehen in diesem Bild ihre Ängste in Nermin »hinein«. Bezieht man diese Vorstellung auf Nermins Enkopresis, so fällt auf, dass er mit einem ebenfalls körperlichen, scheinbar organischen Symptom reagiert, das sich zudem auf die Ausscheidung von Nahrung bezieht und – psychologisch gesehen – große Angst ausdrückt (»sich in die Hose machen«). Interessant im Zusammenhang mit dieser Erklärung der Mutter ist Nermins widersprüchlicher Umgang mit Bildern im Schwarzfuß-Test, auf denen Stillsituationen abgebildet sind. Im Zusammenhang mit diesen Bildern drückt er wiederholt einen Wunsch nach dem ungestörten Zusammensein mit der Mutter aus, lehnt jedoch Bilder, auf denen Schwarzfuß alleine mit der Mutter abgebildet ist, ab. In der realen Situation hatte seine Mutter vermutlich den Wunsch, ihn zu versorgen, fühlte sich aber sicherlich gleichzeitig überfordert. Wenn sie während des Stillens den Gedanken hatte, ihre Milch sei schlecht, dann wird sie ihn nur mit sehr widersprüchlichen Gefühlen versorgt haben können. Weiteren Nachfragen zu dem von ihr angedeuteten Zusammenhang zwischen ihren Kriegsängsten und Nermins Problemen weicht sie zunächst aus und erwähnt stattdessen andere, noch vor dem Krieg liegende Gründe für sein »Anderssein«. Die folgende Interviewpassage bezieht sich auf meine Frage nach dem Verlauf der Schwangerschaft: Wie war es während der Schwangerschaft, gab es da auch schon Sorgen? Nein, da war alles in Ordnung – Es war alles normal und in Ordnung, ich habe auch vor der Schwangerschaft gearbeitet und während der Schwangerschaft und ich habe dann aufgehört, als ich wollte. Er ist mit einer Glocke rausgeholt worden, mit 4 Kilo und 400 Gramm. Es könnte auch sein, dass es damit zusammenhängt, dass irgendwas nicht in Ordnung ist. Ich bin der Meinung, dass alle Kinder, die per Kaiserschnitt oder eben mit einer Glocke oder anderen Hilfsmitteln geboren werden, dass es eben nicht normal ist. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Anschließend beschreibt sie ihn als sehr ruhigen, sehr großen Säugling. Bei einer ersten Untersuchung nach vierzig Tagen habe er älter gewirkt und sei gesund gewesen. Als problematisch aufgefallen sei er ihr ab dem zweiten Lebensjahr, somit nach ihrer Ankunft in Deutschland. Im Heim habe sie bemerkt, dass Nermin im Gegensatz zu den anderen Kindern, die im Kindergarten am Tisch saßen und malten, immer herumgelaufen sei und nicht habe stillsitzen können. Sie nennt noch eine Reihe weitere Dinge, die ihr als »nicht normal«, wie sie es ausdrückt, erscheinen: Er habe keine Freunde, könne nicht spielen, sondern streite immer und kaue ständig Fingernägel. Mit zehn Jahren habe sie ihn untersuchen lassen, und es sei festgestellt worden, dass er das Entwicklungsniveau eines Achtjährigen habe. Sie fügt allerdings hinzu, dass Nermin auf sie selbst zwar auch manchmal jünger wirke, sie erlebe ihn jedoch genauso oft, als wäre er bereits fünfzehn. Dies deckt sich mit meinem Eindruck, dass bei Nermin weniger ein kognitives Entwicklungsdefizit vorliegt als eine Regression aufgrund gravierender Konflikte. Unübersehbar fehlen in seiner psychischen Entwicklung jedoch wichtige Schritte.

Besonderheiten der Sauberkeitserziehung, Ferienlager und »Bunkertheorie«

Im weiteren Verlauf der Interviews wird deutlich, dass mehrere Faktoren dazu geführt haben, dass Nermin eine Enkopresis entwickelt hat. Nermins Sauberkeitsentwicklung beschreibt die Mutter als unauffällig, er sei von seinem dritten Lebensjahr an alleine auf die Toilette gegangen. Überraschend ist jedoch, dass sie berichtet, ihm bis zu seiner Fahrt ins Ferienlager immer geholfen zu haben, sich nach der Toilette sauber zu machen. Dazu muss erwähnt werden, dass es in vielen bosnischen Familien üblich ist, sich den Hintern mit Wasser zu waschen, und den Kindern, die dies oft nicht gerne machen, traditionell dabei länger geholfen wird als in anderen Kulturkreisen. Dass die Mutter jedoch auch weit über das Schulalter hinaus, bis zum achten Lebensjahr, Nermin dabei half, lässt sich nicht kulturell erklären. Sie begründet ihr Verhalten damit, dass sie sich nur sicher war, dass Nermin sich genügend gewaschen habe, wenn sie © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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es selbst machte, sie habe zudem genügend Zeit dafür gehabt.174 Abgesehen davon, dass dieses Verhalten allein eventuell Nermin schon in eine Regression brachte, erscheint mir vor allem problematisch, dass sie ihren Sohn nicht auf die Situation vorbereitete, sich im Ferienlager selbstständig zu waschen, obwohl sie selbst bemerkt, dass dies für ihn schwierig sein könnte und sie auch erwähnt, dass es viele muslimische Kinder beispielsweise in deutschen Kindergärten und Schulen schwer hätten, allein schon deshalb, weil sie nicht wie in einigen muslimischen Ländern Wasserhähne neben den Toiletten fänden. Anstatt mit Nermin diese Situation zu besprechen und eventuell zu üben, kam es über dieses Thema zwischen Mutter und Sohn zum Streit: Haben Sie denn mal mit ihm darüber gesprochen, wie das ist, wenn er sich alleine abputzt? Das er alleine? (wird lauter und aufgeregter) Er sagt: »Ich bin doch nicht blöd, dass ich mir meinen Hin// [spricht Wort ›Hintern‹ nicht zu Ende und lacht, als sei es ihr unangenehm]«, seine Hände würden schmutzig werden und er ist nicht blöd, das zu machen.

Es wirkt so, als hätte Nermin hier die stärkere Position – die Mutter soll ihm den Hintern abputzen und sich die Hände schmutzig machen –, umgekehrt hält ihn die Mutter jedoch in ihrer Abhängigkeit und bereitet ihn nicht darauf vor, sich in einer fremden Umgebung zurecht zu finden, ohne sich dabei bildlich gesprochen in die Hose machen zu müssen – mit Blick auf den SFT also hilflos zu sein. Seine Ablösung und Selbstständigkeit wird damit von ihrer Seite erheblich erschwert. Es fragt sich, ob die Mutter Nermin unbewusst nicht groß werden lassen möchte. Ihre Antwort auf eine meiner späteren Fragen, nämlich was ihr besonders an ihrem Sohn gefalle, spricht tatsächlich dafür, dass sie ihn lieber mochte, vielleicht auch als unproblematischer empfand, als er noch jünger war : 174

Dies ist ein weiterer »Nebeneffekt« des Flüchtlingsdaseins. Bei vielen Familien fällt auf, dass sich das Leben der Eltern äußerst stark um die Kinder zentriert, denen andererseits die Orientierung an ihrerseits aktiven Eltern fehlt. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Ich habe ihn geliebt, als er so…jetzt liebe ich ihn halb soviel. Aber als er klein war, habe ich ihn sehr geliebt und jetzt liebe ich ihn nicht soviel, weil er nicht gut in der Schule ist.

Die Mutter gibt Nermin damit einen unmittelbaren Grund »klein zu bleiben«. Warum sein Heranwachsen von ihr abgewehrt wird oder eventuell sogar angstbesetzt ist, wird in den Interviews nicht erkennbar. Über das Ferienlager erzählt die Mutter, dass sich Nermin dort nicht wohl fühlte und sie ihn deshalb früher nach Hause mitnahm. Sie habe bereits an seiner Wäsche gesehen, dass er eingekotet hatte, und dieses Problem habe seitdem nie wieder aufgehört. Als Grund dafür, dass sich Nermin im Ferienlager nicht wohl fühlte, nennt sie jedoch weder sein vermutlich ganz reales Problem mit der Toilettensituation und auch nicht die erste Trennung von ihr, sondern beginnt stattdessen von russischen Kriegsbunkern zu sprechen: Er wollte nicht mehr bleiben und….ich habe ihn zurückgebracht und dann hat er das [gemeint ist das Einkoten] weiterhin gemacht. Seitdem hat er nie aufgehört und bis dahin hat (hatte?) er es noch nie gemacht. Und sie waren sich dort selbst überlassen und konnten machen, was sie wollen. Es war einfach in den Ferien ein….hm, wie das….jetzt habe ich es vergessen, das war außerhalb Berlins, da waren die ……………..Bunker! Was weiß ich von welchen……(Übersetzerin: ratni- Kriegsbunker?) Ja, und dann hat er, er war da und …… hm.

Auf meine Nachfrage äußert sie sich zu den Kriegsbunkern ausführlicher : Als wir die erste Elternversammlung [im Heim, I. L.] hatten, konnten wir uns eintragen, wer Interesse hatte, die erste Woche mal dahin zu kommen [in das Ferienlager, I. L.] und zu gucken, wie es den Kindern dort geht. Sie wollten einfach für die Kinder, dass es denen dort gut geht, aber als wir ankamen, war es furchtbar, die Kaserne, wo früher Soldaten wohnten, das war gar nicht schön. […] Die haben auch gar nicht richtig gesagt, wie es aussieht, das sollen russische Bunker gewesen sein, so in die Erde eingegraben und so, da war es auch ganz dunkel drin. Ich denke, auch durch seine Ängste war es ganz schlimm © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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9 Exemplarische Fallanalysen für ihn. Die haben die Kinder da einfach so spielen lassen, vielleicht war es für andere Kinder schön, aber für ihn war es nicht gut.[…] Als ich da zur Besichtigung war, da hat er sich an mich geklammert, wollte nicht mehr weg von mir und da waren jüngere Kinder und ältere Kinder und alle haben sich wohl gefühlt, nur er nicht.

Zweifellos ist die Vorstellung, dass ein Ferienlager für Flüchtlingskinder ausgerechnet in unmittelbarere Nähe von ehemaligen Kriegsbunkern – in denen auch nach Nermins Schilderung die Kinder gespielt haben – organisiert wird, absurd.175 Nermins Mutter macht dies im Interview unmissverständlich deutlich: Wie haben Sie reagiert, als Sie die Bunker gesehen haben? Also, ehrlich gesagt, wenn ich das vorher gewusst hätte, wie es dort aussieht, dann hätte ich ihn auch gar nicht hingeschickt. Also für mich war das, als würden sie einfach die Kinder entweder erinnern, wie es im Krieg war oder die Kinder, die dort nicht waren, einfach zeigen, wie es im Krieg ist.

Sie spricht hier jedoch auch zum ersten Mal von Nermins Ängsten: »durch seine Ängste war es ganz schlimm für ihn«. Und sie stellt eine Verbindung zwischen den Kriegserlebnissen in Bosnien und den russischen Bunkern aus dem Zweiten Weltkrieg her, Vergangenheit und Gegenwart rücken dabei ganz eng aneinander. Nermin selbst berichtet mir auf Nachfrage von seinen Erlebnissen im Ferienlager und schildert dabei mehrere Episoden, die ihn offensichtlich verstört haben. Eine davon bezieht sich auf eine Uniform, die er zusammen mit anderen Kindern bei den Bunkern gefunden habe. In einem Bunker habe es außerdem eine Explosion gegeben und sie hätten alle einen großen Schreck bekommen. Auf meine Frage, ob er manchmal von seinen Erlebnissen im Ferienlager erzähle, antwortet er, nicht gerne darüber zu 175

Es ließ sich nichts Näheres über den genauen Ort und die Organisation des Ferienlagers herausfinden. Nermins Familie konnte sich an den Namen des Ortes nicht mehr erinnern und da der Betreiber des Heimes, das das Ferienlager veranstaltet hatte, zwischenzeitlich gewechselt hatte, ließ sich auch keiner der Organisatoren ausfindig machen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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sprechen, da er davon wieder Alpträume bekomme und folgt damit bemerkenswerterweise fast wörtlich der Begründung der Mutter, warum sie nicht über den Krieg sprechen möchte. Damit wird deutlich, dass Nermin das Ferienlager mit vielen Ängsten erlebt hat. Wie im Bindungsinterview stellt er dabei einen engen Zusammenhang zwischen den »Bunkern«, »Krieg« und großer Angst her. Hier fragt sich, ob er diese Verbindung von der Mutter übernommen hat oder ob er eventuell aufgrund eigener, vermutlich diffuser und körpernaher Erinnerungen an die Zeit der Belagerung, die er vor allem im Keller verbrachte, auf die Bunker und das Spielen in den Bunkern reagiert hat. Die Trennung von der Familie sowie die konkrete Toilettensituation, die sicherlich ebenfalls zu seinem Unwohlsein im Ferienlager beigetragen hat, thematisiert er dagegen – wie seine Mutter – nicht. Wie verwoben Nermins Ängste und die Ängste seiner Mutter sind, wird im Gespräch mit ihr an anderer Stelle deutlich. Während sie sowohl über die Situation in der frühen Kindheit als auch im Ferienlager verständnisvoll spricht, löst die Thematisierung von Nermins Ängsten bei ihr starke Aggressionen aus. In einem langen, sehr aufgebrachten Redestrom zählt sie dabei sehr viele unterschiedliche Ängste ihres Sohnes auf. Während sie spricht, wirkt es, als würde sie auf etwas (oder jemanden) »eindreschen«. Die folgende Passage ist ihre – ausweichende – Antwort auf meine Frage, ob sie einen Zusammenhang zwischen Nermins Enkopresis und ihrer Hilfe beim Abwaschen des Hinterns sehe. Sie geht auf diese Frage nicht ein, sondern beginnt, von ihrem »schwierigen Kind« zu sprechen: Oder wenn wir jetzt irgendwo zusammen spazieren gehen und wir sind wieder zurück, wenn wir die Tür aufschließen, rennt er sofort, um die Tür wieder zuzumachen (ein paar Wörter unverständlich, spricht sehr schnell und aufgeregt), wenn wir über die Straße gehen, er muss sie (Schwester) an der Hand halten (paar Wörter unverständlich). Dann, wenn wir auf der Rolltreppe sind: »Wird sie hinfallen?«….das ist irgendwie zuviel. Oder meine Mutter, sie ist jetzt 65 Jahre als. Ja, Oma ist alt, sie wird sterben. Nun, eine zeitlang hat er nur davon gesprochen. Oder wenn ich mit meiner Schwester gehe und sie mit ihren, mit ihren Kindern © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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9 Exemplarische Fallanalysen und sie müssen jetzt über die Strasse laufen: »Ein Auto wird sie anfahren!« Weißt du? All das! Ich meine, das ist alles nicht normal Nermin ist inzwischen in den Raum gekommen, verblüfft: Wer sagt das? Mutter : Willst Du etwa sagen, dass ich lüge? (fährt fort). Oder wenn wir ins Schwimmbad gehen! Auch eine Katastrophe! Und dann, er nur// Natürlich das, ist ein Kind. Jetzt ist er hier, jetzt da und mal da, ich passe auf, wie ich kann, wie es normal ist. Wenn er zufällig für fünf Minuten in das tiefere Becken geht, kommt er von dort und fragt: »wo ist sie (Schwester)?« Die nicht sagen kann (unverständlich). Die fünf Minuten, bis ich auf sie aufpasse.

Was sie hier an Ängsten schildert, erinnert frappierend an die Ängste, die mir typischerweise andere Flüchtlingsfrauen von sich selbst erzählt haben. Die ständige Alarmbereitschaft und die Vorstellung, etwas Schreckliches würde passieren, sind charakteristisch für eine Traumatisierung. Wie die Zwischenbemerkung von Nermin zeigt, erkennt er sich selbst in ihren Schilderungen nicht oder zumindest nicht spontan wieder. Später bestätigt er, dass er solche Ängste kenne, die Mutter bestätigt dies für sich selbst allerdings auch. Es lässt sich damit nicht sagen, ob die Mutter in dieser Passage von ihren eigenen Ängsten spricht oder ob sie diese tatsächlich oder zumindest teilweise so bei Nermin wahrnimmt. Eine Grenzziehung zwischen Mutter und Sohn fehlt, es scheint so, als habe sie ihre Ängste in Nermin »verlagert«. Am Ende des Interviews wird dies noch deutlicher : Die Mutter drückt aus, dass sie sich wünsche, dass Nermin sich entspanne, dass er nicht mehr diese Ängste hätte und unter diesem Druck stünde. Auf meine daran anknüpfende Frage, wie sie reagiere, wenn sie bemerke, dass ihr Sohn Angst habe, gerät sie allerdings umgehend wieder in Rage: Wie reagieren Sie darauf, wenn er Angst hat? Dass er Angst hat? (spricht lauf und aufgeregt) Ich fange manchmal an mit ihm so: Nermin, ich bin doch da. So am Ende. Manchmal fange ich nett an (ruft): Nermin! Geh’ spielen. Manchmal schicke ich ihn weg und mache die Tür zu und er dann: »(Name der Schwester)! (Name der Schwester)!«(ein kurzer Satz unverständlich) Wenn sie (Schwester) nicht hinläuft, um zu gucken, warum er ruft, dann geh © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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ich um zu sehen, warum sie nicht antwortet, und manchmal sage ich: »Du bist ein Idiot. Ich habe sie geboren, du darfst nicht für sie denken. Ich bin da, sie ist nicht, nicht deine, sondern meine!« Und ich weiß nicht wie, einfach, ich weiß nicht, einfach so.

Ihre Reaktionen im Interview lassen vermuten, dass sie auch Nermin gegenüber ihre Impulse kaum steuern kann und er ihren aggressiven Gefühlen unmittelbar ausgesetzt ist. Dass die Wahrnehmung ihres ängstlichen Kindes bei ihr zu dieser starken Aggression führt, könnte darauf beruhen, dass Nermins Ängste und Symptome sie mit ihrer eigenen, unbearbeiteten Traumatisierung konfrontieren. Die hier zu beobachtende Dynamik entspricht den Prozessen, die bei transgenerationalen Traumatisierungen beschrieben werden. Wie die Kinder der zweiten Generation scheint Nermin die Ängste zu erleben, die man erwarten würde, wenn er den Krieg (deklarativ/episodisch) erinnerbar miterlebt hätte. Da die Mutter von ihren traumatischen Ängsten überschwemmt wird, kann sie nicht unterstützend oder tröstend reagieren.176 Geht man davon aus, dass die Mutter ihre eigenen Ängste auf Nermin projiziert, dann lässt sich vermuten, warum seine Symptomatik zwar wahrgenommen wird, aber bislang nicht dazu führte, dass die Eltern mit ihm eine konsequente Behandlung aufsuchen. Sehr wahrscheinlich muss Nermin für die Mutter diese Ängste und Symptome übernehmen, die sie selbst nicht aushalten kann. Die gerade zitierte Passage enthält einen sehr deutlichen Hinweis auf verminderte Grenzbildung beziehungsweise ein Ineinanderrücken der Generationen. Die Mutter behauptet hier ihre Mutterschaft gegenüber Nermin: »ich habe sie geboren, sie ist meine und nicht deine«. Eine solche Auflösung der Generationengrenze findet sich bei der Mutter zusätzlich gegenüber ihrer eigenen Mutter, also Nermins Großmutter. Der nächste 176

Im Schwarzfuß-Test hat Nermin auf die Situation, in der Schwarzfuß in der Nacht Ängste zeigt, als Nächstes die Bestrafung durch den Gänserich, von ihm weiblich als »Ente« bezeichnet, folgen lassen. Das Ausdrücken von Ängsten führte auch in seinem Narrativ zu hoher Aggression. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Interviewausschnitt schließt unmittelbar an die eben zitierte Stelle an: Oder zum Beispiel meine Mutter, er ruft sie Mama: »Mama hat viele Jahre [im Sinne von ist sehr alt]. Sie ist ganz alt. Sie wird jetzt sterben!« – (…)»Wir brauchen sie, ich liebe sie mehr…« – so wie: er liebt sie mehr, als er mich liebt. […] wenn ich jetzt zum Beispiel mit ihm schimpfe, ruft er meine Mutter an und sagt: »Mama, Mama erlaubt mir das nicht oder das nicht.« Und dann sage ich ihr : »Du darfst mit ihm nicht sprechen, du musst ihm sagen, das ist deine Mutter, wie du mit ihr, wenn sie etwas erlaubt oder nicht erlaubt.« Und so. Zum Beispiel, er beschwert sich bei ihr, weil ich ihm nicht erlaube Fahrrad zu fahren. Ich höre im Fernsehen jeden Tag von einem Unfall – Fahrradfahrer verunglückt – und ich erlaube es nicht. Er würde sie anrufen. Und dann sage ich:»Nermin, das ist meine Mama, sie wird sterben« (…)Weißt Du? Ich bereite ihn schon vor auf das. Weil eines Tages wird sie sterben.

Gegenüber Nermin befindet sie sich damit also auch mit ihrer eigenen Mutter in Konkurrenz. Überraschend ist auch, wie sie zunächst den möglichen Tod ihrer Mutter herunterspielt, dann jedoch im letzten Satz klar sagt, dass auch sie mit dem Tod ihrer Mutter rechne. Die Passage wirkt konfus, die Entstrukturierung innerhalb der Familie wird nun ganz deutlich. Da die fehlende Generationengrenze auch die Grenze zwischen Mutter und Großmutter betrifft, ist, wie bereits erwähnt, allerdings auch zu fragen, inwiefern eine solche Dynamik nicht bereits zuvor bestand oder zumindest angelegt war. Im Rahmen einer Fallvorstellung wurde anhand dieser Passagen aus den Gesprächen mit der Mutter sehr intensiv die Frage diskutiert, ob die – von mir interpretierte – fehlende Grenzbildung zwischen den Generationen sich auf kulturelle Unterschiede zurückführen ließe. Eine anwesende bosnische Psychologin stufte das aus den Interviewausschnitten hervorgehende Verhalten von Nermins Mutter allerdings als sehr speziell und keineswegs charakteristisch für die Region ein. Dennoch ist zu beachten, dass das Aufwachsen in ländlichen Regionen des Sandzak traditionell weniger durch die Eltern-Kind-Beziehungen als durch die gesamte Großfamilie geprägt wird. Nermins © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Familie befand sich jedoch bereits durch ihren Umzug nach Sarajewo im »kulturellen Wandel«, vielleicht damit jedoch auch in einer die Eltern in ihrer Elternschaft verunsichernden Situation. Die Traumatisierung von Nermins Mutter wurde sowohl durch die Schilderungen einiger konkreter traumatisierender Situationen, wie etwa die Zeit in Sarajewo oder die extrem beängstigende Situation mit den Ärzten im Krankenhaus, spürbar als auch durch ihre Auslassungen, Andeutungen und ihr gesamtes, sehr widersprüchliches Gesprächsverhalten. Ihr Redenwollen und Nichtwollen scheint auch in der von ihr besuchten Gruppentherapie eine Rolle zu spielen. So beschreibt sie ausführlich ihre Angstzustände, wenn in der Gruppentherapie andere Frauen etwas vom Krieg erzählen. Sie könne dann manchmal gar nichts mehr hören, alles in ihrem Kopf gerate durcheinander und sie habe das Bedürfnis, sich die Ohren zuzuhalten. Sie verlässt die Gruppe jedoch auch nicht, obwohl sie selbst dort nichts erzählen könne und sich bereits seit längerem Einzelgespräche wünsche. Vor den Einzelgesprächen schrecke sie jedoch ebenfalls zurück.177 Meine Frage, ob es bestimmte Erlebnisse gebe, die sie noch niemanden mitgeteilt habe, bejaht sie und weint daraufhin lange. Sie thematisiert anschließend ihre starken Ängste vor der erneuten Begutachtung: Sie wisse zwar, dass die Gutachter nicht die serbischen Kämpfer seien, von denen sie offenbar im Krieg ausgefragt wurde, aber, so sagt sie es, ihre inneren Ängste seien in dem Moment stärker als sie.

AAI mit dem Vater Während ich über die Mutter-Sohn-Beziehung in Nermins Familie sehr viele Informationen erhalte, erfahre ich über den Vater wesentlich weniger, und dies, obwohl er als einziger Vater bereit ist, an einem AAI teilzunehmen. Zu dem Interview kam es, nachdem seine Frau die Interviewerin bereits einmal versetzt 177 Ihre Angst vor Einzelgesprächen kommt ungünstigerweise mit der Situation zusammen, dass die Therapeutin, bei der sie an einem Gruppenangebot teilnimmt, derzeit keine Plätze für Einzeltherapien hat.

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hatte und dann auch am verabredeten Ersatztermin nicht mit ihr sprechen wollte. Ihr Mann erklärte sich daraufhin spontan bereit, an Stelle seiner Frau am AAI teilzunehmen. Das AAI ist jedoch äußerst kurz und enthält nur wenige biographische Informationen. Der Vater zeigt im AAI ein typisches bindungsabweisendes Muster, es wird als U/Ds (unverarbeitet traumatisiert und bindungsabweisend) klassifiziert. Über seine Herkunftsfamilie ist zu erfahren, dass er zusammen mit seinen Geschwistern von der Mutter allein großgezogen wurde, da sein Vater als Gastarbeiter in Frankreich war und nur jeweils für zwei Wochen im Sommer und zwei Wochen im Winter zu Besuch kam. Das Verhältnis zur Mutter beschreibt er idealisierend als gut, ohne dass er Situationen oder Beispiele dafür benennen könnte. Schläge mit dem Gürtel oder dem Stock gehörten zur Erziehungspraxis, die er als normal und sogar positiv bewertet, auch wenn er seine eigenen Kinder nicht mit Gürtel oder Stock schlagen würde. Er deutete jedoch an, seine Kinder mit der Hand zu schlagen.178 Wie vermutet, spielt damit körperliche Bestrafung in der Familie eine Rolle. Im Zusammenhang mit seinen Kriegserlebnissen schildert er insbesondere den Tod eines ihm nahe stehenden ebenfalls in Sarajevo kämpfenden Onkels, die ständige Todesangst und seine seitdem bestehenden gravierenden Schlafstörungen: Auch spricht er von »psychischen Problemen«, zu denen er sich jedoch nicht weiter äußert. Seine Art der Darstellung führt dazu, dass diese Erlebnisse als unverarbeitetes Trauma klassifiziert werden. Sehr bemerkenswert ist, dass der Vater eine andere Fluchtgeschichte erzählt als seine Frau. Während sie in ihrer Erzählung wütend auf ihren Mann ist, weil er sich so lange nicht gemeldet 178 Da Schläge in einigen Kulturen durchaus Teil der gesellschaftlich als »normal« angesehenen Erziehungspraxis angesehen werden und dies unter anderem auch für die amerikanische Kultur (spanking) der Fall ist, werden sie im AAI nicht per se als misshandelndes Verhalten aufgefasst, sondern es wird sehr genau unterschieden, ab wann von tatsächlicher Misshandlung ausgegangen werden müsse. Inwieweit diese Abklärung gelingt, hängt dabei natürlich von der Bereitschaft der Interviewten ab, darüber Auskunft zu geben.

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habe, verkürzt er die Zeit der Trennung deutlich und deutet an, seine Frau und sein Sohn seien bereits einen Tag vor dem Krieg geflohen, hätten sich also in Sicherheit befunden. Aufgrund der Beschreibungen die seine Frau von der Zeit der Belagerung gibt, ist dies jedoch unwahrscheinlich, sie wird zumindest einen Teil der Zeit noch in Sarajewo verbracht haben. Vielleicht versucht er hier, das Bild des sorgenden und seine Familie in Sicherheit bringenden Mannes zu bewahren. Umgekehrt ist genauso denkbar, dass Nermins Mutter im Zusammenhang mit der bevorstehenden Begutachtung Kriegserlebnisse stärker betont. Da erfundene Geschichten jedoch glatt und eher stereotyp erzählt werden, gehe ich bei Nermins Mutter davon aus, dass ihre Version weitgehend zutreffend ist. Wie im Theorieteil dargestellt, ist es für die Frage, inwiefern sie traumatische Erlebnisse hatte, zudem nicht entscheidend, ob sie beispielsweise eine oder mehrfache Bombardierungen erlebte. Auch wenn sie Sarajewo eventuell vergleichsweise schnell verlassen konnte, erlebte sie die dortigen Zustände als traumatisch. Die Tatsache, dass zwei Versionen der Familiengeschichte existieren, spricht dafür, dass die Beziehung zwischen Nermins Eltern von Konflikten und mangelnder Kommunikation, wenn nicht sogar Misstrauen, geprägt ist.

Zusammenfassung In Nermins Familie zeigen sich diverse gravierende Probleme, wobei die jeweils unbehandelte Kriegstraumatisierung der Eltern ebenso eine Rolle zu spielen scheint, wie sehr wahrscheinlich schon vorher bestehende Konflikte. Besonders auffällig ist die fehlende Grenzbildung zwischen Mutter und Sohn. Das Trauma der Mutter und Nermins Erleben scheinen untrennbar miteinander vermischt. Der abwehrend-aggressive Umgang der Mutter mit Nermins Ängsten und die Tatsache, dass sie nicht zwischen ihren und seinen Ängsten differenziert, sprechen dafür, dass er für sie als Projektionsfläche eigener abgewehrter Ängste dient. Nermin übernimmt auf diese Weise die Rolle des Symptomträgers in der Familie. Eine Besserung seiner Symptomatik würde © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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vermutlich die Eltern mit ihrer eigenen Traumatisierung konfrontieren. Inwiefern die mangelnde Fähigkeit zur Grenzbildung bei der Mutter auf ihre Kriegstraumatisierung zurückgeht oder schon vorher bestand, lässt sich anhand der geführten Interviews nicht einschätzen. Falls diese Problematik schon vorher bestand, dann erschwert sie zweifellos den Umgang mit den traumatischen Erlebnissen. Die Bindungsbeziehung zwischen Mutter und Sohn ist dementsprechend durch das Trauma der Mutter geprägt, zusätzlich scheint körperliche Bestrafung in der Familie eine Rolle zu spielen. Die Entwicklung der Bindungsbeziehung wurde von Beginn an massiv von Kriegsereignissen gestört, zum Vater bestand – ebenfalls kriegsbedingt – in den ersten zwei Lebensjahren fast kein Kontakt. In Nermins Bindungsinterview zeigen sich eine sehr ausgeprägte Beziehungsvermeidung und eine Repräsentation der Eltern als nicht unterstützend bis abweisend. Darüber hinaus fallen seine hilflosen, depressiven und zum Teil aggressiven Äußerungen auf, die sich bei der standardisierten Auswertung des Bindungsinterviews auf den Skalen allerdings nicht abbilden. Nermins Verhalten entspricht in mehreren Bereichen einem jüngerem Entwicklungsniveau. Dazu zählen sein sprachlicher Ausdruck, seine Omnipotenzphantasien, die mangelnde Triangulierung und der sich in der Enkopresis ausdrückende Zusammenbruch der Sauberkeitserziehung. Bezogen auf die Enkopresis lässt sich sagen, dass Nermin auf das Stadium vor der bereits erworbenen Fähigkeit regrediert, in den anderen Bereichen bleibt dagegen offen, ob es sich um eine Regression oder um tatsächliche Entwicklungsdefizite handelt. Nermins Ausdrücken diffuser Ängste und Äußerungen wie »er ist traurig von irgendwas« im Schwarzfuß-Test sprechen zusätzlich dafür, dass seine Problematik auf frühkindliche, schwer fassbare Erlebnisse zurückgeht. Die Tatsache, dass sich die Familie trotz der deutlichen Symptome Nermins bislang noch keine konsequente Unterstützung gesucht hat, erscheint mir sowohl bezeichnend für die Überforderungssituation, in der sich viele Flüchtlingsfamilien befinden, als auch für intergenerationale Traumatisierungsprozesse, bei © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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denen die Kinder die Symptomatik der Eltern übernehmen müssen.

9.4 Zusammenfassende Darstellung der Fallanalysen: Drei unterschiedliche Wege der Erfahrungsverarbeitung von Flüchtlingskindern Anhand der drei vorgestellten Fälle lassen sich unterschiedliche Arten der subjektiven Erfahrungsverarbeitung von Flüchtlingskindern differenzieren, die sich in ähnlicher Weise auch bei anderen untersuchten Kindern fanden. Jeder dieser Wege ist durch eine spezifische Reaktion der Eltern und durch eine unterschiedlich stark ausgeprägte Symptombildung auf Seiten des Kindes gekennzeichnet.

Pseudo-Resilienz und verdecktes Trauma In der untersuchten Gruppe ist dies der häufigste Weg der Erfahrungsverarbeitung. Die Kinder und Jugendlichen wirken äußerlich stabil, auf der Ebene innerpsychischer Repräsentanzen zeigen sich jedoch Hinweise auf Traumatisierungsprozesse. Charakteristisch ist, dass die betroffenen Kinder nicht unmittelbar mit einem »Symptom« auf die Traumatisierung reagieren, sondern dass eine »pseudo-resiliente« Entwicklung179 die psychischen Folgen des Traumas überdeckt beziehungsweise dieses in der Latenz hält. Bei einigen Kindern lässt sich eine ähnliche psychische Struktur erkennen, wie sie von Kestenberg (1982) für die Kinder von Holocaust Überlebenden als »Balance zwischen ungewöhnlicher Ich-Stärke und einem gewissen Maß an Pathologie« (S.126) beschrieben wird (siehe Kapitel 3). 179

Lorenzer und Thomä (1965) sprechen bei ähnlichen Fällen von »Pseudo-Normalität«: Die Betroffenen entwickeln besonders rigide Abwehrstrukturen, die sie auffallend angepasst erscheinen lassen. Kinder wie Alen zeigen jedoch ein gewisses Maß an Kreativität und erscheinen weniger »starr«. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Die in unterschiedlichem Ausmaß ausgeprägte Fähigkeit zur Kompensation verhindert oder begrenzt eine offene Symptombildung. Oft übernehmen die Kinder eine wichtige stabilisierende Rolle in der Familie. Dass die Kinder in der Lage sind, eine solche Rolle auszufüllen, verweist auf ihre Stärken, bedeutet zugleich jedoch die Vernachlässigung anderer Entwicklungsbereiche. Sheila Melzak (1995) beschreibt eine solche ungleichzeitige Entwicklung als ebenfalls typisch für Flüchtlingskinder und spricht davon, dass sie »spezifische Vulnerabilitäten« entwickelten. Alens Schwarzfuß-Test gibt einen Einblick, was unter solchen spezifischen Vulnerabilitäten verstanden werden kann. Bei Alen bezieht sich die Entwicklung von traumabezogenen und traumakompensatorischen Schemata auf den traumatischen Vaterverlust und wird im Zusammenhang mit Alens Inszenierung einer Familienbildung und der damit einhergehenden Erwartung neuer Verlusterlebnissen sichtbar. Zu einer krisenhaften Entwicklung führen diese Schemata erst, wenn sie im realen Handeln Erwartungen steuern und zu unbewussten Wiederholungen von Trennungs- und Verlusterlebnissen führen. Während andere Entwicklungsbereiche davon nicht betroffen sein müssen, können bei allen Themen, die enge Beziehungen und damit mögliche Verluste betreffen, wie der mit der Pubertät einhergehenden Ablöseprozess, das Eingehen von Partnerschaften, Familiengründung etc., Schwierigkeiten auftreten, die sich eventuell nur noch schwer als Traumafolge erkennen lassen. Bis das traumatische Thema in einem Entwicklungsschritt angesprochen wird, ist es in der Latenz. Im Fall von Alen wird darüber hinaus deutlich, wie sein Vermeidungsverhalten zur Stabilisierung der Familiensituation beiträgt. Die Grenzziehung zwischen den beiden Generationen geht hier vom Kind aus, indem bestimmte, mit dem Trauma in Zusammenhang stehende Themen vermieden werden. Besonders deutlich wird dies anhand des Umgangs mit Trauer. In den untersuchten Familien scheint es noch nicht zu einem Trauerprozess gekommen zu sein, das Thema der Trauer wird vermieden. So sagt Alen, er »bemerke es nicht, wenn seine Mutter traurig ist«. Ein anderer Junge, Tarik, mit einer ähnlichen Biographie und einer vergleichbaren Art der Erfahrungsverarbei© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

9.4 Zusammenfassende Darstellung der Fallanalysen

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tung sagt, er denke nie an seinen (vermissten) Vater und sei deshalb nie traurig. Auf diese Weise »schützt« er sowohl sich als auch seine Mutter davor, sich mit seiner Trauer auseinandersetzen zu müssen. Auch das von den meisten Kinder und Jugendlichen entwickelte unsicher-vermeidende Bindungsmuster könnte in diesem Sinne, sofern es nicht bereits vorher bestand, eine Reaktion auf die elterliche Traumatisierung darstellen. Charakteristisch für diese Gruppe von Kindern ist, dass bei den meisten von ihnen die familiäre Situation durch den Verlust oder die Trennung vom Vater und die Traumatisierung der Mutter gekennzeichnet ist. Eine solche Familienkonstellation ist eine der häufigsten »Kriegsfolgen« für Kinder. Die in Kapitel 4 erwähnten, erst in jüngerer Zeit entstehenden Forschungsarbeiten zu den ehemaligen Kriegskindern des Zweiten Weltkrieges (Radebold, 2000; Leuzinger-Bohleber, 2003; Schlesinger-Kipp, 2003) geben einen Eindruck davon, dass das Aufwachsen in einer solchen Familiensituation vor allem langfristig zu Schwierigkeiten in Bezug auf intime Beziehungen und im Umgang mit eigenen Kindern führen kann. Gemeinsam ist den von mir untersuchten Kindern jedoch auch – im Vergleich etwa zu Nermin – dass sie Krieg und Flucht im Alter zwischen zwei und fünf Jahren erlebten. Die meisten verbrachten damit zumindest die ersten beiden Lebensjahre in einer stabilen Familiensituation. Somit waren sie zu jung, um differenzierte Erinnerungen an das Erlebte zu haben, was ein »Übersehen« ihrer Traumatisierung begünstigt.

Reflektierende Erfahrungsverarbeitung und gelingende intergenerationale Grenzziehung In Katarinas Familie lässt sich beobachten, dass sowohl ihre Ängste und Schwierigkeiten als auch die der Mutter sehr viel offener kommuniziert werden und ein Zusammenhang zwischen aktuellen Problemen und dem Erlebten hergestellt wird. Anstelle der Aufrechterhaltung einer scheinbaren Normalität und damit einer Stagnation der Erfahrungsverarbeitung befindet sich die Auseinandersetzung mit den traumatischen Erlebnissen in dieser © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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9 Exemplarische Fallanalysen

Familie im Prozess. Der Unterschied zu den anderen Wegen der Erfahrungsverarbeitung liegt damit nicht darin, dass keine Traumatisierungen vorliegen, sondern dass mit den auftretenden Problemen innerhalb der Familien offener umgegangen wird. Zugleich wird deutlich, wie schwierig es für die selbst hoch belasteten Eltern ist, die Probleme ihres Kindes wahrzunehmen und auch zu erkennen, dass diese zum Teil mit der eigenen Traumatisierung im Zusammenhang stehen. Wie im Einzelfall dargestellt, scheint der günstigere Entwicklungsweg bei Katarina von mehreren Faktoren beeinflusst zu sein, die auch in der Literatur als protektive Faktoren beschrieben werden (siehe Einzelfall und Kapitel 5). Dazu gehören die gute elterliche Unterstützung und die sichere Bindung, der sicherlich auch durch die psychotherapeutischen Erfahrungen der Mutter bedingte offene Kommunikationsstil innerhalb der Familie, die hohe Reflexionsfähigkeit der Mutter und die Tatsache, dass kein traumatischer Verlust unmittelbarer Bezugspersonen vorliegt. Im Gegensatz zu anderen Flüchtlingsfamilien ist Katarinas Familie darüber hinaus sozial gut integriert. Dass sich in der hier interviewten Gruppe nur ein solches Beispiel findet, lässt sich sowohl auf die geringe Größe der Untersuchungsgruppe zurückführen als auch auf den Umstand, dass Flüchtlingsfamilien mit stabileren Verhältnissen vermutlich öfter den Weg der Weiterwanderung oder der Rückkehr wählen als beispielsweise alleinstehende Frauen. Ebenso ist denkbar, dass sich ein solch aktiver Umgang mit dem Erlebten auch bei Kindern findet, die sich in psychotherapeutischer Behandlung befinden. Diese wurden aber in die vorliegende Untersuchung nicht einbezogen.

Vernachlässigend-abwehrender Umgang mit dem Trauma trotz manifester Symptombildung und fehlende intergenerationale Grenzbildung Kinder mit deutlichen psychopathologischen Symptomen, wie Nermin, wären in einer klinischen Stichprobe zu erwarten. Dennoch ist es bezeichnend, dass sich auch in der untersuchten © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

9.4 Zusammenfassende Darstellung der Fallanalysen

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Gruppe Kinder mit unübersehbaren, aber unbehandelten Problemen befinden. Unter den interviewten Kindern finden sich außer Nermin noch zwei weitere Kinder mit einer deutlichen, allerdings im internalisierenden Bereich liegenden Symptomatik, die ebenfalls nicht in therapeutischer Behandlung sind. Auch bei diesen beiden Kindern erweist sich die familiäre Kommunikation als problematisch, was sich jeweils in einer schwierigen Forschungssituation äußert. Im Fall der zehnjährigen Ema ist beispielsweise sehr auffällig, dass Ema selbst im Fragebogen diverse Probleme nennt, während ihre Mutter Ema als völlig unauffällig beschreibt. Zugleich berichtet Emas Mutter auf überflutende Art und Weise von ihren eigenen Problemen, so dass es kaum möglich ist, mit ihr über ihre Tochter ins Gespräch zu kommen. Bei der 13-jährigen Selma scheint es dagegen völlig an Kommunikation zu fehlen, was sich unter anderem darin äußert, dass sie bezüglich ihrer Familiengeschichte völlig orientierungslos aufzuwachsen scheint. Sie weiß beispielsweise weder Genaueres über ihren (vermissten) Vater noch weiß sie, ob die ihr bekannten Großeltern die Eltern ihres Vaters oder ihrer Mutter sind. Biographische Informationen liegen damit nur aus einem bereits 1998 geführten Interview mit der Mutter und einem weiteren Gespräch mit einer älteren Schwester vor. Die Mutter sagte die erneute Teilnahme an Interviews ab. Die ältere Schwester amüsiert sich über die »Dummheit« von Selma, die über Bosnien überhaupt nichts wisse. Selma war bereits 1998 im Altern von 7 Jahren aufgefallen, weil sie im damals durchgeführten projektiven Verfahren zwar spielte, aber kaum sprach. Bei Nermin zeigt sich, dass der vernachlässigend-abwehrende Umgang der Eltern mit seinen offensichtlichen Problemen zum Teil auf einer Überforderung der Eltern beruht, seine Symptome darüber hinaus jedoch auch innerhalb der Familie eine Funktion übernehmen, indem er stellvertretend die Belastung der Mutter ausdrückt. Befördert wird diese Entwicklung durch eine mangelnde Grenzbildung zwischen den Generationen, die zu einer Vermischung der Traumatisierung der Mutter und Nermins Traumatisierung führt. Zugleich zeigt sich in dieser Familie ein Zusammenspiel zwi-

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9 Exemplarische Fallanalysen

schen vermutlich bereits vor dem Krieg bestehenden Konflikten und kriegsbedingten Traumatisierungen.

Tabellarische Übersicht

Tabelle 4: Wege der Erfahrungsverarbeitung von Flüchtlingskindern im Überblick Reflektierende ErPseudo-resiliente VernachfahrungsEntwicklung und lässigte Traumaverarbeitung verdecktes Trau- tisierung und Rolle des Symp(Katarina) ma (Alen) tomträgers in der Familie (Nermin) Bindung

Tendenziell sicher, Kind berichtet von emotionaler Unterstützung und bindungsorientiertem Verhalten

Trauma

Bearbeitung trauEntwicklung matischer Erlebnisse traumabezogener im Prozess innerpsychischer Repräsentanzen, wie Traumaschemata oder traumakompensatorisches Schema; unbewusste Reinszenierung des Traumas

Grenzbildung Gelingt weitgehend zwischen den (Gefahr der RollenGenerationen umkehr)

unsicher-vermeidend

Kind übernimmt die Abgrenzung (Gefahr der Rollenumkehr)

Unsicher-vermeidend, an der Grenze zum desorganisierten Bindungsmuster bzw. Formen der Bindungsstörung

Übernahme elterlicher Traumatisierung, psychopathologische Symptome, Regression, evtl. Entwicklungsdefizite

Verwischt oder fehlend

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9.4 Zusammenfassende Darstellung der Fallanalysen (Fortsetzung)

Symptome

Reflektierende Erfahrungsverarbeitung (Katarina)

Pseudo-resiliente Entwicklung und verdecktes Trauma (Alen)

Vernachlässigte Traumatisierung und Rolle des Symptomträgers in der Familie (Nermin)

Werden in der Familie wahrgenommen, evtl. behandelt

Zeigen sich nur indirekt, Trauma des Kindes wird »übersehen«

Sind offensichtlich, werden aber vernachlässigt bzw. nicht behandelt, haben Funktion in der Familiendynamik

Kommunikation über traumatische Erlebnisse wird vermieden

Aggressiver Kommunikationsstil oder fehlende Kommunikation

Traumatischer Verlust des Vaters (vermisst), Aufwachsen bei traumatisierter Mutter, Mutter in therapeutischer Behandlung

Vermutlich bereits vor dem Krieg bestehende problematische Familiensituation, beide Eltern unbehandelt traumatisiert, körperliche Bestrafung in der Familie

Kommunika- Offen, emotional tionsstil in unterstützend der Familie Besondere biographische Faktoren bei den Beispielfällen

Lebt mit beiden Eltern, kein Verlust unmittelbarer Bezugspersonen, gute soziale Integration der Familie, hohes Reflexionsvermögen der Mutter, Mutter profitiert von therapeutischer Behandlung

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10 Exilbedingte sequentielle Traumatisierungen – Das Erleben der Aufenthaltssituation in Deutschland

Die Einzelfälle machen deutlich, mit welchen komplexen Traumatisierungsprozessen Flüchtlingskinder konfrontiert sind. Neben eigenen traumatischen Erlebnissen spielen dabei sowohl die Traumatisierung der Eltern als auch sequentielle Traumatisierungsprozesse eine Rolle. Beide Aspekte nehme ich im Folgenden noch einmal fallübergreifend in den Blick. Dabei gehe ich zunächst auf die Schilderungen der Flüchtlinge zu ihrer Situation in Deutschland ein und diskutiere im Sinne der zweiten Forschungsfrage (siehe Kapitel 7), inwiefern das Leben im Exil eine weitere traumatische Sequenz darstellt. Theoretisch beziehe ich mich dabei auf die Spezifizierung von Becker und Weyermann (2006) zu dem Modell der sequentiellen Traumatisierung von Hans Keilson (siehe Kapitel 3). Generell lässt sich in den Gesprächen feststellen, dass die Einführung der Traumaregelung bei den interviewten Familien zum Untersuchungszeitpunkt noch kaum zu einer Entspannung ihrer Lage beigetragen hat: Die Familien haben entweder noch keine Aufenthaltsbefugnis erhalten, obwohl das Gutachten bereits vorliegt, sie befinden sich in dem als sehr belastend erlebten Begutachtungsprozess, oder das Traumagutachten ist nicht anerkannt und ihr Antrag auf Aufenthaltsbefugnis abgewiesen worden. Bei den Familien, die eine Aufenthaltsbefugnis erhalten haben, fällt auf, dass sie nach den langen Jahren mit sogenannter Kettenduldung nun sehr misstrauisch sind, ob ihnen die auf zwei Jahre befristete Befugnis tatsächlich verlängert werden wird, zudem wird das Problem des unsicheren Aufenthaltsstatus nun von dem Problem abgelöst, dass die Flüchtlinge, nachdem sie © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

10.1 Chronische oder wiederkehrende Belastungsfaktoren

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circa zehn Jahre lang nicht arbeiten durften, nun aufgefordert sind, sich auf dem Arbeitsmarkt zu orientieren. Viele Flüchtlinge befinden sich damit – nach dem Modell von Becker und Weyermann – noch in der Phase der »Chronifizierung der Vorläufigkeit« beziehungsweise gerade im Übergang, zu – anerkannten – Immigranten zu werden. Dies ist sicherlich auch ein Grund dafür, dass die Kriegserlebnisse nach wie vor in den Familie sehr präsent sind: Die Phase nach der Verfolgung, die eine Bearbeitung des Erlebten erst ermöglicht, ist noch nicht erreicht. In den Gesprächen mit den Flüchtlingen wird jedoch auch deutlich, dass insbesondere die Kinder ihre Situation in Deutschland keineswegs nur negativ erleben. Die genannten Belastungen und Situationen lassen sich differenzieren in chronische oder wiederkehrende Belastungsfaktoren und in einzelne herausragende Erlebnisse, die Angst auslösend oder traumatogen waren.

10.1 Chronische oder wiederkehrende Belastungsfaktoren Das Leben mit unsicherem Aufenthaltsstatus und die ungleiche soziale Einbindung beider Generationen: »Du kannst ja gehen, ich bleibe hier!« Hinsichtlich der Darstellungen ihrer Situation in Deutschland fällt in den Interviews die große Differenz zwischen den Schilderungen der Eltern und der Kinder auf. Diese zeigt sich sowohl bei einzelnen Themen, wie beispielsweise der Frage einer möglichen Rückkehr, als auch anhand der völlig unterschiedlichen sozialen Einbindung beider Generationen in den Alltag in Deutschland. Dauerhafte Belastungen nennen vor allem die Eltern, während die Kinder davon eher indirekt betroffen zu sein scheinen. Sie erwähnen häufiger positive Seiten ihres Lebens in Deutschlands, wobei sie vor allem angeben, sich in Berlin heimisch zu fühlen, Freunde zu haben, ihren Hobbys nachgehen zu können etc. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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10 Exilbedingte sequentielle Traumatisierungen

Entsprechend thematisieren alle Eltern aktuelle Probleme, oft bieten diese Themen den Einstieg in unsere Gespräche181, während die Kinder und Jugendlichen nie spontan ihre Flüchtlingssituation ansprechen. Auf Nachfrage, ob und wie ihr Flüchtlingssein in ihrem Alltag eine Rolle spiele, nennen sie vor allem die Abhängigkeit von der Sozialhilfe, das Ausländersein, das Problem, mit Duldungsstatus nicht reisen zu können, teilweise Probleme mit der Heimunterbringung und oft den Wunsch, den Krieg nicht erlebt zu haben. Im Gegensatz zu ihren Eltern erwähnen insbesondere die jüngeren Kinder die Unsicherheit ihres Aufenthaltsstatus gar nicht, die Jugendlichen dagegen sind sich dieser Tatsache zwar bewusst, versuchen sie aber zu verdrängen. Almira, ein 14-jähriges Mädchen, dessen Vater seit dem Massaker von Srebrenica als vermisst gilt und dessen Mutter über ein Traumagutachten verfügt, äußert sich im Interview folgendermaßen: Und habt ihr eine Aufenthaltsberechtigung inzwischen? Ne, Duldung, immer für sechs Monate Machst du dir manchmal Sorgen deshalb? Ne, irgendwie nich, ich weiß nich, und ich denk’ immer, ach, die verlängern doch sowieso, wir bleiben doch sowieso hier.182

Ihre weitere Antwort macht deutlich, dass sie sich schlicht nicht vorstellen kann, Berlin verlassen zu müssen, obwohl sowohl über eine freiwillige Rückkehr als auch über eine mögliche Abschiebung in ihrer Familie gesprochen wird: Das wäre voll der Horror, ey. (…) Also meine Mutter hat mal kurz angedeutet, nach Bosnien zu gehen, »ne, ne da kannst Du alleine hinfahren!« Also ich weiß nicht, aber das ist irgendwie wie mein Heimatland hier, Deutschland, ich weiß nicht, ist irgendwie ganz anders. 181

Dies beruht sicherlich auch auf der Tatsache, dass die Forschungsinterviews den Flüchtlingen eine Gelegenheit bot, mit mir als Deutscher ausführlich über ihre Situation zu sprechen. 182 Das Interview mit Marijas Mutter wurde auf Deutsch geführt. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

10.1 Chronische oder wiederkehrende Belastungsfaktoren

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Mit dem »ganz anders« bezieht sie sich auf ihre Erfahrungen in Bosnien, wo sie kurz vor dem Interview zum ersten Mal seit ihrer Flucht war. Sie beschreibt die Unterschiede zwischen dem ländlichen Bosnien und der Großstadt Berlin, die sie als ihre Heimat bezeichnet und in der sie sich auskennt und zurechtfindet. Viele Eltern dagegen beschreiben in den Interviews, wie fremd sie sich in Berlin fühlen. Damit verbunden sind oft Sorgen und Fragen, wie es ist, wenn die Kinder in einer für sie ungewohnten Umgebung aufwachsen und entsprechend mit anderen Werten und Lebensstilen konfrontiert werden. So berichtet Katarinas Mutter von ihrem Befremden und auch ihrer Traurigkeit, als sie feststellte, dass Ihre Töchter ganz selbstverständlich auf Deutsch fluchen. Marijas Mutter formuliert: Mein Kind wächst auf in dieser ganz anderen Welt, fremd für uns, für mich vor allem, mehr als für sie. Wo eine andere Mentalität herrscht und andere Werte, die ich schwer billige.

Obwohl sich für die meisten Eltern die Frage einer Rückkehr nicht mehr stellt, beschreiben viele, wie sehr sie ihre Heimatorte und ihr dortiges Leben vermissen. Tariks Mutter erzählt immer wieder ausführlich, wie sehr sie sich nach Bosnien sehnt. Als sie dies ihrem Sohn gegenüber erwähnt, erhält sie eine ähnliche Reaktion wie die Mutter von Almira: »Du kannst ja gehen, ich bleibe hier!«. In Markos Familie hat das Thema eines möglichen Umzugs nach Kroatien, wo auch die Großeltern väterlicherseits als bosnisch-kroatische Flüchtlinge leben, zu einem mehrwöchigen Familienstreit geführt. Der Wunsch, nach Kroatien zu gehen, sei zunächst von seinem Vater ausgegangen. Markos ältere Schwester, die große Schwierigkeiten hat, sich in Deutschland zurechtzufinden, habe daraufhin ebenfalls über einen Umzug nach Kroatien nachgedacht, während Markos Mutter lieber in Deutschland bleiben wolle. Marko selbst habe sich in dieser Situation abhängig von der Entscheidung seiner Eltern gefühlt. Ein Leben in Kroatien, wo er noch nie war, könne er sich nicht vorstellen. Er spreche die Sprache nicht gut, habe dort keine Freunde und müsste seinen Fußballverein aufgeben, der ihm sehr wichtig © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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10 Exilbedingte sequentielle Traumatisierungen

sei. Da seine Familie jedoch nach wie vor nur geduldet ist, erwähnt auch er, große Angst vor einer Abschiebung zu haben. Die Angst habe zugenommen, seit er im Heim miterlebt habe, wie Bekannte abgeschoben wurden. Nachts um vier Uhr sei die Polizei gekommen, die Familie habe nur ihre Wertsachen zusammenpacken können und musste dann in ein Flugzeug nach Kroatien steigen. Dieses Erlebnis habe ihn sehr erschreckt und er habe damals zum ersten Mal gedacht, so etwas könne ihnen auch passieren. Während die Kinder und Jugendlichen im Zusammenhang mit einer Rückkehr oder Abschiebung das Fremde an Bosnien und den Verlust von Deutschland als Heimat betonen, mischen sich bei ihren Eltern ganz unterschiedliche Gefühle, Ängste und Sorgen. Wie bereits in Kapitel 8 erwähnt, ist es wichtig zu betonen, dass fast alle Familien aus Orten stammen, in denen sie im Falle einer Rückkehr kriegsbedingt nun zur ethnischen Minderheit gehören würden. Neben der oft formulierten Sehnsucht nach ihrem früheren Leben in Bosnien führen die Flüchtlinge an, dass das Erleben der Verfolgung und des Krieges sie davon abhalten würden, wieder in ihre Heimatorte zurückzukehren. Hinzu komme die Frage, wie sie sich ökonomisch wieder ein Leben in Bosnien aufbauen könnten, zumal sie dann an einen ihnen fremden Ort gehen müssten. Die Vorstellung, unfreiwillig nach Bosnien zu müssen, löste bei vielen Flüchtlingen eine ständige Ruhelosigkeit aus, aus der sie sich auch mit der Aussicht auf eine Aufenthaltsbefugnis nur schwer lösen können. Zu der Angst vor einer Abschiebung kommt hinzu, dass die Flüchtlinge aufgrund dieser existenziellen Unsicherheit keine Zukunftsperspektive für ihr Leben in Deutschland entwickeln können. Während sie die Zukunft für sich selbst damit negativ sehen oder sogar aufgegeben haben, fließen alle Hoffnungen in die Kinder. Emirs Mutter, vierzig Jahre alt, beschreibt ihre Situation wie folgt: Es ist sehr schwierig hier, weil man nicht weiß, wie lange man bleiben kann, aber im Endeffekt ist es mir eigentlich egal, weil ich denke, dass mein Leben sowieso zu Ende ist, es ist mir nur wichtig, dass es Emir gibt. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

10.1 Chronische oder wiederkehrende Belastungsfaktoren

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In den Gesprächen mit ihr wird deutlich, dass sie bereits einige Unterstützungsangebote gerade im beruflichen Bereich erhalten hat, sich aber nicht auf diese einlassen kann. Dabei scheinen innerpsychische Faktoren, insbesondere ein depressiver Zustand, und die äußere Situation, die Einschätzung, in Deutschland keine Chance zu haben, sich gegenseitig zu verstärken. Über die Jahre kann sich so eine ungünstige Festlegung auf die Position des Chancenlosen oder des »Opfers« entwickeln, die den Blick auf sich bietende Veränderungsmöglichkeiten dann zusätzlich verstellt. Birgit Möller (2006) berichtet in ihrer Untersuchung über kinder- und jugendpsychiatrische Behandlungen von traumatisierten Flüchtlingskindern und ihren Familien über ähnliche Aussagen von Eltern, »das Leben sei zu Ende« (S. 218). In dem Falle eines Vaters kommt sie dabei zu dem Schluss, dass die von außen beförderte Festlegung auf einen Status als »Traumatisierte« für die Betroffenen auch eine Abwehrfunktion haben kann, indem sämtliche Konflikte und Schwierigkeiten nach außen projiziert werden. Auf diese Weise entsteht eine – wenn auch sehr fragile – Stabilität: Alles wird äußeren Faktoren zugeschrieben, während man selbst (ohnmächtiges) Opfer bleibt. An solchen Beispielen wird deutlich, wie aufgrund der äußeren Bedingungen Traumatisierungsprozesse nicht nur nicht zu einer Bearbeitung gelangen, sondern im Gegenteil über die Jahre zu einer ungünstigen Persönlichkeitsentwicklung führen können.

Erleben der Arbeitslosigkeit Neben dem unsicheren Aufenthaltsstatus schildern die Flüchtlinge die Arbeitslosigkeit als eine der größten Belastungen. Sie erleben ein ständiges Gefühl der Nutzlosigkeit und der unfreiwilligen Abhängigkeit. Dass sie bei ihrer Ankunft als Flüchtlinge weder erwarteten, vom deutschen Staat finanziell unterstützt zu werden, noch diese Regelung unbedingt begrüßen, macht Marijas Mutter deutlich: Ich hatte früher gar keine Ahnung, dass so etwas existiert in Deutschland : Ich kann kommen als Flüchtling, bekomme Sozialhilfe. Ich habe gesagt : »Was soll das ?«, ich möchte wieder arbeiten. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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10 Exilbedingte sequentielle Traumatisierungen Ich wollte kein Bettler sein, aber anders ging es nicht. (…) In Österreich hatte man gleich eine Chance, Arbeit zu finden und so wird der Status geregelt. Und hier, du wirst ganz am Anfang gestoppt, blockiert, Du kannst überhaupt nichts machen, nur vegetieren mit der Duldung.

Nermins Vater nennt als einen weiteren Aspekt, dass ihm die Arbeit auch als tägliche Ablenkung fehle. Er befindet sich zum Interviewzeitpunkt in der besonders absurden Situation, dass er kurz nach seiner Ankunft in Deutschland zunächst eine Arbeitserlaubnis erhalten hatte und auf dem Bau tätig war. Da ihm die Arbeitserlaubnis jedoch im Zuge restriktiver Maßnahmen gegenüber Flüchtlingen wieder entzogen wurde, musste er seinen Job aufgeben. Seine Arbeitslosigkeit mache ihm oft sehr schlechte Laune, worunter auch seine Familie sehr zu leiden habe. Marijas Mutter, die in Bosnien als Lehrerin an einem Gymnasium tätig war, schildert, wie schwierig sie es findet, ihrer Tochter zu vermitteln, dass es nicht normal sei, von Sozialhilfe zu leben, und dass auch sie früher berufstätig war. Ihre Tochter könne sich allerdings gar nicht vorstellen, dass ihre Mutter früher eine Arbeit gehabt habe, nicht nur einen kleinen Putzjob. Als Marija eingeschult wird, erzählt sie ihrer Tochter, dass sie in Bosnien Lehrerin gewesen sei. Marija habe darauf sehr überrascht reagiert, kurz nachgedacht und schließlich gesagt: »Nein, Mama. Du bist Putzfrau«. Marijas Mutter berichtet zudem, häufig zu erleben, dass sie in Deutschland auffällig anders behandelt werde, wenn sie erwähnt, studiert zu haben. So sei sie bei einer medizinischen Untersuchung ihrer Tochter zunächst sehr unwirsch vom behandelnden Kinderarzt gefragt worden, warum sie sich überhaupt noch in Deutschland befände. Als der Arzt später erfuhr, dass sie über eine akademische Ausbildung verfügt, sei er plötzlich sehr freundlich gewesen und habe sich interessiert nach ihrer Situation erkundigt. Zufrieden über ihre Arbeitssituation äußert sich lediglich die Mutter von Almira und Denis. Sie hat trotz ihres Duldungsstatus eine Arbeitserlaubnis erhalten – hier zeigt sich der völlig © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

10.1 Chronische oder wiederkehrende Belastungsfaktoren

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undurchsichtige und uneinheitliche Umgang mit den Flüchtlingen – und selbstständig im Hotelgewerbe eine Stelle gefunden. Unzufrieden sei sie nur mit den langen und ungünstigen Arbeitszeiten, die ihr den Kontakt zu ihren Kindern erschweren. Auch Katarinas Vater gibt an, trotz seiner ausbildungsfernen Tätigkeit, verglichen mit der Alternative der Arbeitslosigkeit, zufrieden zu sein.

Das Leben im Heim Während sich einige Flüchtlinge im Heim besonders sicher fühlten und den Kontakt zu anderen Flüchtlingen schätzten, hatten andere Familien sehr negative Erfahrungen mit der Heimunterbringung. So erzählt beispielsweise Marko, dass »Du niemanden im Heim trauen kannst«, seine Familie sei auch von sogenannten »Freunden« immer wieder beklaut worden. Die sehr unterschiedlichen Erfahrungen mit der Heimunterbringung beruhen auf den sehr großen Differenzen zwischen den Berliner Flüchtlingsheimen. Sowohl die Ausstattung als auch die Betreuung durch Sozialarbeiter variiert sehr stark, je nachdem, ob das Heim privat und damit in erster Linie profitorientiert oder von einem Verband wie dem Deutschen Roten Kreuz oder den kirchlichen Hilfswerken betrieben wird. Letztere bieten oft nicht nur sozialarbeiterische Betreuung, sondern auch Kinderbetreuung, Sprachunterricht und Hausaufgabenhilfe an. Als eine weitere Belastung im Zusammenhang mit der Heimunterbringung nennen die Familien häufige Umzüge. So musste der 14-jährige Emir sechsmal das Heim und infolgedessen dreimal die Schule wechseln. Die vorherigen Heime wurden entweder umstrukturiert, es gab einen Betreiberwechsel oder sie wurden geschlossen. Zum Teil wechselten die Flüchtlinge auch auf eigenen Wunsch das Heim, wenn sie beispielsweise einen Platz in einem für sie angenehmeren Heim bekommen konnten. Marko erzählt, wie seine Familie unter Druck gesetzt worden sei, das Heim gegen ihren Willen zu wechseln. Offensichtlich aus Verwaltungsgründen sollte die Familie aus einem Flüchtlingsheim im Süden Berlins, wo bereits eine gute soziale Einbindung © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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über die Schule und den Fußballverein der beiden Söhne bestand, in ein Heim im Norden Berlins umziehen. Dieses Heim ist jedoch als sozialer Brennpunkt bekannt, und kurz bevor die Familie vom Sozialamt über den angeordneten Umzug informiert wurde, war es dort zu einer Messerstecherei gekommen und ein Mann getötet worden. Insbesondere bei Markos psychisch erkranktem Vater löste die Vorstellung, in diesem Heim wohnen zu müssen, massive Ängste und Panik aus. Die Familie teilte dem Sozialamt mit, nicht dorthin ziehen zu können, und blieb in ihrer bisherigen Wohnung. Das Sozialamt weigerte sich daraufhin, weiterhin die Mietkosten zu übernehmen, was dazu führte, dass der Vermieter ihnen Strom und Wasser abstellte. Um sich etwas Warmes zu essen zu machen, kochte die Familie über Wochen mit einem Grill auf dem Balkon. Als Lichtquellen dienten Kerzen. Erst als der zuständige Sachbearbeiter am Sozialamt wechselte, fand sich für die Familien eine Lösung, sie bekamen einen Heimplatz im gleichen Bezirk Berlins zugewiesen. Wieso dieses Angebot nicht bereits vorher gemacht wurde, blieb unklar.

Soziale Desintegration durch die Einschränkung der Reisefreiheit Die Einschränkung der Reisefreiheit bedeutet, dass der Kontakt zu Verwandten und Freunden sowohl in anderen Städten Deutschlands als auch europa- beziehungsweise weltweit und im ehemaligen Jugoslawien enorm erschwert wird. Wie dargestellt, kennen viele der interviewten Flüchtlingskinder ihre Großeltern und andere nahe Verwandte kaum. Zusätzlich führt die Einschränkung der Reisefreiheit auch dazu, dass die Kinder bei diversen sozialen Aktivitäten ausgegrenzt werden. Mehrere Kinder und Jugendliche berichten, dass sie sowohl an Klassenfahrten als auch an Fahrten des Sportvereins oder der Kirche nicht oder nur mit Schwierigkeiten teilnehmen konnten. Dabei kommt zu dem Problem, mit Duldung nicht oder nur mit Ausnahmegenehmigung reisen zu dürfen, noch die Frage der Finanzierung hinzu. Um sich solche Fahrten leisten zu können, müssen die Eltern © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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entweder beim Sozialamt oder gegebenenfalls beim Sozialfond der Schule nachfragen, was für viele wiederum schambesetzt ist. Der in seinem Fußballverein sehr engagierte Marko berichtet, nun bereits zum zweiten Mal aufgrund der Duldung nicht zu einem in Dänemark stattfindenden Trainingslager mitfahren zu können. Seinem Trainer sei es zu riskant, ihn mitzunehmen.

Ausländerfeindlichkeit und Diskriminierungserfahrungen Viele Flüchtlinge berichten über Ausländerfeindlichkeit und Diskriminierungen. Sie seien immer wieder erstaunt darüber, wie wenig Deutsche oder auch andere Migrant/-innen über ihre Situation als Flüchtlinge wüssten. So erzählt eine Mutter, dass sie immer erklären müsse, was eine Duldung sei, und dass ihr regelmäßig unterstellt werde, sie wolle nicht arbeiten. Auch die Unfreiwilligkeit der Flucht nach Deutschland wird den Flüchtlingen von Außenstehenden oft abgesprochen. Hinzu kommen ausländerfeindliche Beschimpfungen, denen in bestimmten Stadtteilen auch die Kinder ausgesetzt seien. Mehrere Familien beschreiben es als sehr belastend, dass nicht wahrgenommen werde, dass ihre Familie in Bosnien vor dem Krieg eine andere soziale Stellung gehabt habe. Auf meine Frage, was in einem Buch über Flüchtlingskinder stehen sollte, antwortet beispielsweise Marko Folgendes: Dass sie sich anders gegenüber uns verhalten sollen, dass sie wissen, wie wir mal gelebt haben und was wir durchstehen mussten, den Krieg und vielleicht auch Krankheiten.183

Kurz darauf erwähnt er, dass seine Mutter in Bosnien einen eigenen Friseursalon gehabt habe, sein Vater Taxifahrer gewesen sei und dass sie ein eigenes großes Haus hatten: »und das ist alles kaputtgegangen und alles verloren«. Auch bei der Ausländerbehörde sind die Flüchtlinge regel183

Ausschnitt aus dem Kinderbindungsinterview mit Marko. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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10 Exilbedingte sequentielle Traumatisierungen

mäßig diskriminierenden Bemerkungen ausgesetzt (siehe auch Kapitel 12). Mehrere Flüchtlinge berichten, dass es sie immer sehr beschäftige, wenn der für sie zuständige Sachbearbeiter wechselt. Sie erleben sich als sehr abhängig davon, ob ihr Sachbearbeiter nett ist oder nicht: Jetzt habe ich eine neue Sachbearbeiterin am Sozialamt, die ich noch nicht gesehen habe, nur so telefonisch. Das ist für mich auch eine psychische Belastung. Man bekommt immer so nach einer Zeit eine neue Sachbearbeiterin. Bisher hatte ich Glück, Gott sei dank, die waren immer sehr nett.184

10.2 Angst auslösende und traumatogene Situationen im Zusammenhang mit der Aufenthaltssituation in Deutschland Zusätzlich zu den geschilderten alltäglichen Belastungen berichten mehrere Flüchtlinge von Erlebnissen, die bei ihnen unmittelbar eine psychische Krise auslösten. Ich gebe im Folgenden die Berichte von zwei Frauen ausführlich wieder, in denen mir die Häufung schwieriger Situationen als typisch erscheint, insbesondere für Frauen, die allein mit ihren Kindern geflohen sind.

Orientierungslosigkeit und Suizidalität in den ersten Monaten nach der Ankunft Zwei Mütter berichten von Selbstmordgedanken in ihrer ersten Zeit in Berlin, da sie sich völlig orientierungs- und hilflos fühlten und sich ihre persönliche Situation in Berlin im Gegensatz zu Bosnien zunächst sogar verschlimmerte. Beide Frauen waren allein mit ihren Kindern geflohen und in den ersten Tagen bei entfernten Verwandten untergekommen, die sie nicht weiter unterstützen konnten oder wollten. Beide hatten damit gerechnet, sich nur für wenige Wochen, bis der Krieg vorüber ist, in 184

Gedächtnisprotokoll eines Gespräches mit Katarinas Mutter. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

10.2 Angst auslösende und traumatogene Situationen

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Deutschland aufzuhalten. Aus diesem Grund meldeten sie sich zunächst gar nicht als Flüchtlinge an und erhielten weder Sozialleistungen noch hatten sie Kontakt zu Beratungsstellen oder anderen Flüchtlingen. Nachdem das mitgeführte Geld aufgebraucht war, standen sie völlig mittellos da. Emirs Mutter berichtet, wie sie, nachdem die Verwandte, bei der sie zunächst untergekommen war, sie aufgefordert hatte, in ein Flüchtlingsheim zu gehen, in eine psychische Krise geriet. Mehrfach habe sie überlegt, sich vor die U-Bahn zu werfen, und sei völlig orientierungslos durch Berlin geirrt. Erst als sie von einem Treffpunkt für bosnische Flüchtlinge erfuhr und dort Ansprechpartner fand, habe sich ihre Situation wieder stabilisiert. Ema und ihre Mutter wurden nach einer sehr schwierigen und anstrengenden Flucht zunächst von einem Großonkel der Mutter aufgenommen. Bei ihrer Ankunft in Berlin stellte sich jedoch heraus, dass dieser Onkel im Streben lag und zudem völlig mittellos war. Emas Mutter versuchte Sozialhilfe zu beantragen, das Sozialamt verweigerte jedoch die Zahlung von Leistungen mit der Begründung, dass der Großonkel für ihren Lebensunterhalt aufkommen müsse. Emas Mutter berichtet, wie sie auch in Berlin wieder hungern mussten. Erst auf Intervention des Arztes des Onkels und eines hilfreichen Dolmetschers erhielten sie schließlich Sozialhilfe. Zwei Monate später starb der Onkel. Emas Mutter wollte dessen Wohnung daraufhin so schnell wie möglich verlassen, da sich dort mittlerweile ein weiterer entfernter bosnischer Verwandter, der desertiert war und offensichtlich in kriminelle Geschäfte verwickelt war, niedergelassen hatte. Auch nachdem der Mann schließlich festgenommen worden war, hatte Emas Mutter Angst, er oder seine Bekannten könnten wieder in der Wohnung auftauchen, weshalb sie auf keinen Fall allein mit ihrer eineinhalbjährigen Tochter dort bleiben wollte. Aus diesen Gründen beantragte sie einen Platz in einem Flüchtlingsheim. Das Sozialamt wies ihr daraufhin eine in einem Außenbezirk Berlins im Wald gelegene Sammelunterkunft zu. Diese war kaum mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen und zudem fast ausschließlich von jungen Männern bewohnt. Die Vorstellung, in diesem Heim mit ihrer kleinen Tochter übernachten zu müssen, sei für sie noch schlimmer gewesen, als im Zweifelsfall nach © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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10 Exilbedingte sequentielle Traumatisierungen

Bosnien zurückzukehren. In ihrer Verzweiflung wandte sie sich erneut an den Dolmetscher, der ihr schon einmal beim Sozialamt geholfen hatte. Durch seine Vermittlung bekam sie schließlich einen Platz in einem kirchlich geführten Mutter-Kind-Heim. Da die Frauen psychisch nicht auf eine Flucht mit lang dauernder Abwesenheit, sondern nur auf einen kurzen, provisorischen Aufenthalt eingestellt waren, benötigten sie, auch nachdem sie einen Heimplatz hatten und Lebensmittel bekamen, lange Zeit, um sich in ihrer neuen Situation zurechtzufinden. Beide Frauen berichten, diese ersten Monate nur wegen ihrer Kinder durchgehalten zu haben. Becker und Weyermann (2006) beschreiben die Anfangszeit am Ankunftsort als erste Phase des Übergangs, die folgende Charakteristika aufweist: – Die Flüchtlinge erleben oft eine schockierende Ankunft; der Fluchtort entspricht häufig nicht den Erwartungen und garantiert oft keine wirkliche Sicherheit. – Sie fühlen sich existenziell überfordert. – Die erlittenen psychischen Verletzungen werden erstmals wahrgenommen. – Die äußere Lebenssituation ist verbunden mit der Frage nach Wohnraum, nach Aufenthaltsrecht und nach den ökonomischen Lebensverhältnissen.

Unterbrechung des innerfamiliären Kontaktes durch die eingeschränkte Reisefreiheit auch bei schwerer Krankheit oder Tod naher Familienangehöriger Die mit der Duldung verbundene Einschränkung der Reisefreiheit trifft besonders jene Flüchtlinge, die aus diesem Grund nicht zu schwer erkrankten nahen Verwandten bzw. zu einer Beerdigung reisen können. Hier kumulieren insofern mehrere Ereignisse, als alle Flüchtlinge bereits mehrere Verlusterlebnisse hatten, die sie nicht psychisch bearbeiten konnten. Viele hatten Verwandte im Krieg verloren und konnten kein bzw. kein vergleichbares Ritual vornehmen können. Wiederholt sich das Er© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

10.2 Angst auslösende und traumatogene Situationen

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lebnis, sich von einer nahestehenden Person nicht verabschieden zu können, führt dies zu psychischen Krisen, bei einigen Flüchtlingen auch zu Schuldgefühlen. Marijas Mutter berichtet in diesem Zusammenhang von ihren unglaublichen Schwierigkeiten, eine Sondergenehmigung zu erhalten, um zur Beerdigung ihres Bruders reisen zu können. Bereits die Todesnachricht hatte sie schockiert: Ihr Bruder, der als Lehrer arbeitete, war kurz nach dem Krieg von einem ehemaligen Schüler mit einem Messer so schwer attackiert worden, dass er an den Rollstuhl gebunden war. Drei Jahre nach diesem Ereignis brachte er sich um. Marijas Mutter hatte ihren Bruder, dem sie sehr nahestand, aufgrund von Krieg und Flucht bereits sechs Jahre nicht sehen können. Sie beschreibt einen Zustand emotionaler Aufgelöstheit, in dem sie dennoch sofort zur Ausländerbehörde gegangen sei, um eine Reiseerlaubnis zu erhalten. Als sie einem Mitarbeiter aufgeregt ihre Situation geschildert habe, habe dieser sie als erstes darauf verwiesen, dass sie keine Wartenummer gezogen habe und habe sie zurück in den Wartebereich geschickt. Ein zwei Tage langes Hin- und Herschicken zwischen verschiedenen Ämtern und der Botschaft begann, bis sie schließlich, da sie nun fürchtete, nicht mehr zur Beerdigung reisen zu können, auf einem Amtsflur zusammenbrach. Ein leitender Mitarbeiter nahm sich daraufhin ihrer Angelegenheit an und sie erhielt die Sondergenehmigung. In einem auf Deutsch geführten Gespräch kommentiert sie dieses Erlebnis mir gegenüber folgendermaßen: Ich bekomme ein bisschen Geld, damit ich nicht an Hunger sterbe, aber das ist psychische Qual, was die Behörde in Deutschland macht, das ist so schlimm, wenn man nicht Abschied nehmen kann. Diese unmenschliche Behandlung, wir sind auch Menschen. Als mein Bruder starb, kam ich zur Behörde und der Mann sagte, ich habe keine Wartenummer geholt…!

Nicht reisen zu dürfen, sei für sie unvorstellbar gewesen. Nur durch den tragischen Tod ihres Bruders sei sie überhaupt wieder nach Bosnien gefahren, eine Reise, die auch unabhängig von der Angst, eventuell doch nicht wieder nach Deutschland einreisen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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10 Exilbedingte sequentielle Traumatisierungen

zu dürfen und von dem dramatischen Anlass, schwer genug ist: »und das erste, was meine Tochter von Bosnien sieht: Gräber«. Andere Flüchtlinge bekamen keine Sondergenehmigung, sie hatten nicht genügend Energie, sich so vehement dafür einzusetzen wie Marijas Mutter. So erzählt Emas Mutter, sie habe nicht zu ihrer im Sterben liegenden Mutter reisen können und auch nicht zu deren Beerdigung. Ihre Eltern seien bereits mit ihrer Flucht, zu der sie sich damals wegen ihrer kleinen Tochter entschieden habe, nicht einverstanden gewesen. Nun habe sie Schuldgefühle, dass sie nicht mehr für ihre Mutter habe sorgen können.

Angst auslösende Ereignisse im Zusammenhang mit drohender Abschiebung oder der Begutachtungssituation Mehrere Flüchtlinge erlebten unangekündigte Besuche der Polizei, die bei ihnen große Ängste auslösten. Viele Familien wurden zudem Zeugen, wie andere Familien in ihrem Heim abgeschoben wurden. Auch die Nichtanerkennung von Traumagutachten oder eine Nichtverlängerung der Duldung lösten oft Krisen aus. So berichtet Tariks Mutter, sie habe wochenlang Kopf- und Magenschmerzen sowie massive Schlafstörungen gehabt, nachdem die Duldung für sie und ihren Sohn überraschend – und wie sich später herausstellte unrechtmäßig – aufgrund einer Entscheidung des Polizeiärztlichen Dienstes nicht für ein Jahr, sondern nur für drei Monate ausgesprochen wurde. Zwei Familien erzählen, sich mehrfach in den Sommerferien über Wochen versteckt zu haben bzw. immer wieder den Aufenthaltsort bei verschiedenen Verwandten oder Bekannten gewählt zu haben, da bekannt sei, dass Familien mit schulpflichtigen Kindern bevorzugt in den Ferien abgeschoben würden.

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10.4 Zusammenfassung und tabellarische Übersicht

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10.3 Positive Erfahrungen und positive Aspekte des Lebens in Deutschland Neben allen Schwierigkeiten nennen die Flüchtlinge, und zwar sowohl die Kinder und Jugendlichen als auch die Eltern, positive Aspekte ihres Lebens in Deutschland. Die Kinder und Jugendlichen formulieren oft eine starke Bindung an Deutschland, die Eltern nennen sowohl persönliche Kontakte als auch vor allem schulische und berufliche Ausbildungsmöglichkeiten ihrer Kinder, sowie die trotz aller Einschränkungen bestehende soziale Absicherung bzw. Versorgung im Krankheitsfall, die besonders den alleinstehenden Müttern sehr wichtig ist. Viele wissen von Verwandten in Bosnien, dass sie in Deutschland besser abgesichert sind. Viele Flüchtlinge beschreiben auch ihre erste Zeit in Deutschland als sehr positiv. Sie hätten viel Hilfsbereitschaft erfahren, sich willkommen und unterstützt gefühlt. Zu den positiven persönlichen Erfahrungen zählen in erster Linie die erfahrene Unterstützung durch Therapeutinnen oder in Therapiegruppen sowie die Kontakte zur christlichen oder muslimischen Gemeinde, zu Kulturzentren und Selbsthilfegruppen.

10.4 Zusammenfassung und tabellarische Übersicht über mögliche traumatische Sequenzen Sehr deutlich wird die dauerhafte, alltägliche Belastung, die die Flüchtlinge vor allem aufgrund einer Politik der sozialen Desintegration erleben. Vor dem Hintergrund, dass die Traumaregelung zum Untersuchungszeitpunkt bereits seit zwei bzw. drei Jahren besteht, ist es überraschend, dass sich die psychosoziale Situation vieler nun aufenthaltsberechtigter Flüchtlinge noch gar nicht geändert hat und das Bangen um eine bessere Absicherung des Aufenthaltes sich fortsetzt. Während die Eltern dies als chronische Belastung schildern, formulieren zwar auch vereinzelt die Jugendlichen Ängste vor einer möglichen Abschiebung, gleichzeitig scheinen sie solche Gedanken besser verdrängen zu können, da sie über Schule, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Freundeskreis und Hobbys in das Leben in Deutschland eingebunden sind. Dass den Aufenthaltsbedingungen eine eigene traumatische Qualität im Sinne einer weiteren traumatischen Sequenz zukommt, wird besonders an einzelnen als Angst auslösenden oder traumatisch erlebten Situationen deutlich. In diesen Situationen fließen entweder Kriegserinnerungen und aktuell Erlebtes zusammen, wie beispielsweise in einer Begutachtungssituation, oder diverse Erlebnisse kumulieren, wie bei Marijas Mutter, als ihr zunächst verwehrt wird, zur Beerdigung ihres Bruders fahren zu dürfen. Ich habe in der Darstellung zwischen solchen herausragenden Erlebnissen und der dauerhaften bzw. immer wiederkehrenden Belastung durch den unsicheren Aufenthaltsstatus, Arbeitslosigkeit, Diskriminierungen etc. unterschieden. Für die Flüchtlinge kommt jedoch beides vor dem Hintergrund der bereits im Krieg erlebten Traumatisierungen zusammen. Im Einzelfall kann diese Situation wie ein erneutes Trauma wirken, bei allen Flüchtlingen führt sie jedoch dazu, dass Traumatisierungen entweder gar nicht oder nur sehr erschwert bearbeitet werden können. Die interviewte Gruppe von Flüchtlingen beschreibt ihre Situation ganz ähnlich wie andere Flüchtlinge und Asylsuchende in Deutschland. So berichtet Anke Ollech (2007), die qualitative Interviews mit mehrheitlich kurdischen Flüchtlingen führte, dass diese sich fremdbestimmt und nur beschränkt handlungsund entscheidungsfähig fühlen. Sie verharren »in einem Zustand der Lähmung und Passivität« (S.223). Dabei können, wie oben dargestellt, innerpsychische, oft traumareaktiv bedingte Prozesse und die realen äußeren Bedingungen so ungünstig zusammenwirken, dass die Flüchtlinge eine sogenannte Opferidentität entwickeln und damit auch Entscheidungen, die sie nach wie vor treffen könnten, von sich weisen. In solchen Fällen führt die Flüchtlingssituation nicht nur dazu, dass eine Traumatisierung nicht bearbeitet werden kann beziehungsweise weiter aufrechterhalten wird, sondern auch dazu, dass Persönlichkeitszüge befördert werden, die langfristig eine Traumabearbeitung erschweren. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

10.4 Zusammenfassung und tabellarische Übersicht

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Wie besonders die vielen Jahre mit »Kettenduldungen« negativ nachwirken und langfristige Folgen nach sich ziehen, zeigt sich bei den Familien, die inzwischen eine Aufenthaltsbefugnis erlangt haben: Sie bleiben weiterhin sehr misstrauisch, ob die Befugnis denn nun wirklich verlängert wird, sie berichten über mittlerweile chronische psychische und psychosomatische Beschwerden und sie haben über Jahre hinweg Chancen zur sozialen und beruflichen Integration nicht nutzen können.

Einordnung der Ergebnisse in das Modell der sequentiellen Traumatisierung nach Becker und Weyermann (2006) Fasst man die Ergebnisse aus der Untersuchung der Einzelfälle und aus den Darstellungen zur Aufenthaltssituation zusammen, lässt sich eine Einordnung in das Modell von Becker und Weyermann vornehmen. Ich habe das Modell bereits in Kapitel 3 vorgestellt und die Phase vor Beginn der Verfolgung bzw. von Krieg und Flucht mit aufgenommen. Für die folgende Darstellung habe ich zwei weitere Ergänzungen vorgenommen, indem ich zum zweiten Übergang neben der Rückkehr, die ich nicht untersucht habe, die gesicherte, unbefristete Aufnahme ins Exilland hinzugefügt habe. Auch dieser Übergang, obwohl von den Flüchtlingen lange ersehnt, wird oft konflikthaft erlebt. Er ist nicht nur begleitet von der Begutachtung der Traumatisierung, sondern hat auch die Bedeutung eines weiteren, nun noch konkreteren Abschieds von Bosnien. Der nun tatsächlich mögliche Anfang in Deutschland ist von diversen anderen Unsicherheiten geprägt, z. B. der Frage nach der beruflichen Zukunft. Einen weiteren Punkt habe ich verändert, indem ich mögliche entlastende oder unterstützende Situationen gesondert aufgeführt habe. Hierfür finden sich in der untersuchten Gruppe der bosnischen Flüchtlinge nur sehr wenige Beispiele. In Keilsons Untersuchung (1979) macht aber gerade eine unterstützende psychosoziale Umgebung den entscheidenden Unterschied hinsichtlich günstiger bzw. ungünstiger Entwicklungsverläufe der jüdischen Waisenkinder aus. Mit dieser expliziten Hervorhebung der – verpassten – psychosozialen Unterstützung möchte ich © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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keineswegs im Sinne eines Aufrechnungsmodells erlebte Traumata relativieren oder die psychosoziale Gesamtsituation in »positive« und »negative« Anteile aufteilen. Natürlich nützt die beste psychotherapeutische Unterstützung nichts oder bestenfalls wenig, wenn existenzielle Fragen des Aufenthalts nicht geklärt sind. Die Nennung möglicher entlastender und unterstützender Faktoren zeigt vielmehr, wo zum Teil recht simple Interventionen schnell greifen könnten, sich in der Realität jedoch ein entscheidendes Versäumnis zeigt.

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Extrem traumatische Erlebnis- Miterleben von Kriegshandse, wie z. B. Srebrenica, eigene lungen, ethnischer Verfolgung, Kampferfahrungen Belagerungen, Hunger, Tod naher Angehöriger und Freunde

Lange Zeiten als Binnenflüchtlinge oder an der Grenze in Sammel-unterkünften, besondere traumatische Erlebnisse

2. Beginn der Verfolgung bis zur Flucht

3. Auf der Flucht

Oft getrennt von nahen Familienmitgliedern, über viele Monate ohne Informationen über nächste Verwandte, viele Etappen und ohne klares Ziel, oft illegale, mit großer Angst verbundene Arrangements für die weitere Flucht

Ehekonflikte, bestehende psychische Krankheit

Betraf die Mehrheit der Familien

1.Vor Beginn des Krieges

Besondere Belastungen und Traumata in einigen Familien

Möglichkeit, sich geplant für eine Flucht entscheiden zu können; konkretes, evtl. bekanntes Fluchtziel bzw. aufnehmende Freunde oder Verwandte

Mögliche entlastende oder unterstützende psychosoziale Faktoren

Tabelle 5: Einordnung der von den interviewten Flüchtlingen genannten Belastungen und traumatischen Situationen in ein erweitertes Modell der sequentiellen Traumatisierung nach Keilson (1979) und Becker und Weyermann (2006)

10.4 Zusammenfassung und tabellarische Übersicht

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Besondere Belastungen und Traumata in einigen Familien

4. Phase: Ankunft in Deutsch- Schwierigkeiten, Sozialhilfe land und Lebensmittel zu erhalten, inakzeptable Bedingungen im Flüchtlingsheim, Orientierungslosigkeit, Verzweiflung bis zu Suizidgedanken 5. Phase: Chronifizierung der Konkrete Bedrohung abgeschoben zu werden Vorläufigkeit Belastungen als Folge des Krieges: Vermisstenschicksal naher Verwandter, kriegsbedingte körperliche Verletzung naher Verwandter, Scheidung

(Fortsetzung)

Teilweise sehr positive Unterstützung durch Beratungsstellen, andere Flüchtlinge, Arbeitserlaubnis

Hohe Integration der Kinder, positive Erfahrungen mit psychotherapeutischer Unterstützung, z. T. Berufstätigkeit

Psychische und körperliche Folgen aufgrund der Kriegsund Fluchterlebnisse, fehlende Möglichkeit zu trauern, »Kettenduldung« über acht bis zehn Jahre, keine Arbeitserlaubnis beengte Wohnverhältnisse im Heim, Einschränkung der Reisefreiheit, kein Kontakt zu Verwandten und Freunden in Bosnien oder an anderen Orten.

Mögliche entlastende oder unterstützende psychosoziale Faktoren

Aufnahme in Heime

Betraf die Mehrheit der Familien

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Besondere Belastungen und Traumata in einigen Familien

Betraf die Mehrheit der Familien

6. Die Rückkehr bzw. die gesi- Besondere Belastungen bei der Abschied vom Heimatort/Boscherte, unbefristete Aufnahme Trauma- Begutachtung, nien wird konkret, ins Exilland Ablehnung des Trauma-GutArbeitssuche achtens, Rechtsstreit 7. Nach der Verfolgung: Aus ? Flüchtlingen werden Migrant/innen

(Fortsetzung) Mögliche entlastende oder unterstützende psychosoziale Faktoren

10.4 Zusammenfassung und tabellarische Übersicht

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11 Intergenerationale Traumatisierungen – die Ergebnisse der Adult Attachment Interviews (AAI)

Bei der Analyse der Einzelfälle habe ich versucht, die unterschiedlichen Interaktionsmuster zwischen den Eltern und den Kindern herauszuarbeiten und aufzuzeigen, wie diese die Entwicklung und den unterschiedlichen Verlauf von Traumatisierungsprozessen beeinflussen. Dabei wird in allen drei Fällen deutlich, dass der Umgang der Eltern mit ihrer Traumatisierung unmittelbar die Reaktion des Kindes beeinflusst. Ob es den Eltern möglich ist, neben der eigenen Traumatisierung auch die Belastungen des Kindes wahrnehmen zu können, oder ob die eigene Traumatisierung noch zusätzlich an das Kind weitergegeben wird, hängt entscheidend davon ab, wie die Grenzbildung zwischen den Generationen gelingt. Während die wenigen Studien, die Traumafolgen nach intergenerationalen Traumatisierungen sowohl bei Kindern als auch bei Eltern untersuchen, nahelegen, dass ausgeprägte Symptome bei den Eltern zu ausgeprägten Symptomen beim Kind führen (siehe Kapitel 5), verweisen die dargestellten Einzelfälle auf ein sehr viel komplexeres Zusammenspiel. Bei Alen führte die starke Traumatisierung der Mutter zu einem besonders ausgeprägten Vermeidungsverhalten. Er übernimmt damit jedoch nicht die Reaktionsweise der Mutter, sondern reagiert konträr. Auch bei Nermin und seiner Mutter sind die Reaktionen nicht gleich, sondern Nermin drückt zusätzlich zur eigenen Problematik die Traumasymptome seiner Mutter aus. Katarinas Mutter versucht ihrer Tochter zu vermitteln, dass ihre Probleme Katarina nicht betreffen. Katarina kann zwar in Ansätzen von diesem reflektierenden Umgang profitieren, bleibt aber in die familiäre Problematik verwickelt. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

11.1 Bindungsforschung als Zugang

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Die untersuchten Kinder übernehmen also nicht einfach die Art und Weise, wie ihre Eltern auf das Trauma reagieren, sondern ihre Reaktion richtet sich zusätzlich danach, welche Art der Reaktion die Familiendynamik erlaubt. Sowohl das Verhalten von Alen als auch das von Nermin haben dabei jeweils eine stabilisierende Funktion.

11.1 Bindungsforschung als Zugang zu intergenerationalen Traumatisierungen Eine Ausgangsfragestellung der Arbeit ist zum einen, welche Rolle bei diesen Prozessen die Bindungsmuster beider Generationen spielen, und zum anderen welche Möglichkeiten Bindungsinterviews bieten, um intergenerationale Traumatisierungen zu untersuchen. Aus Sicht der Bindungsforschung lässt sich vermuten, dass sichere Bindungsmuster eine offene, das Kind emotional unterstützende Kommunikation und Interaktion fördern, wodurch das Kind sowohl günstigere Möglichkeiten zur Bearbeitung eigener Traumatisierungen hat als auch die Weitergabe des elterlichen Traumas an die Kinder eingeschränkt werden kann. Auf der Einzelfallebene bestätigte sich diese These, die Fallanalysen bringen aber auch zutage, dass wesentliche Aspekte intergenerationaler Traumatisierungsprozesses allein über die Frage der Bindungsklassifikation nicht erfasst werden. So spiegelt sich beispielsweise die bindungsbezogene Angstproblematik von Katarina, die sehr wahrscheinlich auf die Depressivität und Suizidalität der Mutter zurückzuführen ist, nicht in der skalenorientierten Auswertung des Bindungsinterviews. Für ein Verständnis der intergenerationalen Traumatisierungsprozesse gibt das Kinderbindungsinterview zwar einen guten Eindruck davon, wie die Kinder ihre – traumatisierten – Eltern erleben, es erlaubt jedoch nur wenige Aussagen darüber, inwiefern sich traumatische Themen auf die Kinder übertragen oder ob das Kind selbst traumatische Erlebnisse hatte. In der Bindungsforschung werden Traumatisierungen bei Kindern nur dann sichtbar, wenn sie sich in einem desorganisierten Bindungsmuster niederschlagen. Hinweise auf desorganisierte Bindungsmuster © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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11 Intergenerationale Traumatisierungen

finden sich bei den untersuchten Kindern kaum. Es lässt sich vermuten, dass viele Kinder bereits vor dem Krieg, und damit vor der elterlichen Traumatisierung, ein organisiertes Bindungsmuster entwickeln konnten.185 Inwiefern sich allerdings die gefundenen unsicher-vermeidenden Bindungsmuster erst sekundär in Reaktion auf die elterliche Traumatisierung bildeten, wie ich es bei Alen vermutet habe, bleibt offen. Mithilfe des AAIs lassen sich sehr differenziert mögliche traumatische Erlebnisse der Eltern und deren Verarbeitung erheben. Das AAI bezieht sich jedoch kaum auf die Beziehung zu den eigenen Kindern – wie sich diese gestaltet, wird lediglich aufgrund der Bindungsklassifikation erschlossen. Gerade in Nermins Fall zeigt sich jedoch, dass es notwenig ist, auch die Phantasien und Vorstellungen, die die Eltern in Bezug auf ihre Kinder entwickelt haben, zu berücksichtigen, um zu verstehen, wie und auf welche Weise Traumata an die Kinder weitergegeben werden. Für diese Frage greift der quantifizierende Ansatz der Bindungsforschung zu kurz. Aufgrund der Tatsache, dass fast alle Kinderbindungsinterviews als unsicher und sämtliche AAIs als unverarbeitet/unsicher klassifiziert wurden186, zeigte sich eine hohe Übereinstimmung zwischen den Bindungsmustern der Eltern und der Kinder. Es ist aber auch kritisch zu fragen, warum sich bezügliche der Bindungssicherheit in der untersuchten Gruppe keine Bandbreite findet. Drei mögliche Erklärungen bieten sich an: 1. Vorbelastete Gruppe: Es handelt sich um eine Gruppe, in der schon vor dem Erleben von Krieg und Flucht überzufällig 185 Bei einem Mädchen, das kurz nach der Flucht geboren wurde und dessen Mutter damit bereits vor ihrer Geburt traumatische Erlebnisse hatte, fanden sich tatsächlich viele Indikatoren eines desorganisierten Bindungsmusters. Ein weiterer möglicher Grund für die wenigen Hinweise auf D-Muster ist, dass desorganisierte Bindungsmuster mit dem verwendeten Interview weniger gut erfasst werden. 186 Wie erwähnt wurde die Klassifikation der Bindungsinterviews Späte Kindheit sowie der AAIs jeweils von unabhängigen Expertinnen übernommen, siehe Kapitel 7.

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11.2 Zur Frage der kulturellen Sensitivität der AAIs

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häufig unsichere Bindungsmuster vertreten waren. Eine mögliche inhaltliche Erklärung hierzu schlägt Mirta DedicO’Beirne in der Expertinnenvalidierung (s. u.) vor: Sie vermutet, dass weniger belastete Flüchtlinge seltener in Deutschland geblieben sind, sondern tendenziell öfter den Weg der Weiterwanderung wählten oder sich in Bosnien eine neue Perspektive aufbauen konnten. Nach ihrer Einschätzung würde der Vergleich mit anderen Flüchtlingsgruppen zu einem anderen Ergebnis führen. 2. Kultureller Einfluss: Bei der Durchführung und Interpretation der Bindungsinterviews kommen kulturelle Faktoren zum Tragen, die zu einer Überschätzung unsicherer Bindungsmuster führen. Eine andere mögliche Erklärung kann darin liegen, dass aufgrund bestimmter kultureller Faktoren unsichere Bindungsmuster in der bosnischen Kultur die günstigere Anpassungsstrategie darstellen und in bosnischen Stichproben tatsächlich häufiger vertreten sind als in anderen Kulturen. Auf diese These gehe ich im Zusammenhang mit der Expertinnenvalidierung im Folgenden ausführlich ein. 3. Traumafolge: Die erlebten Traumatisierungen haben auch Veränderungen der Bindungsmuster bewirkt, so dass sich in Reaktion auf das Trauma unsichere Bindungsmuster entwickeln. Diese Hypothese habe ich bei Alen vertreten, sie lässt sich jedoch ohne Längsschnittuntersuchungen (siehe Kapitel 6) nicht belegen. Auf die Frage, inwiefern sich Hinweise auf solche traumabedingten Veränderungen bei den Eltern finden, gehe ich am Schluss des Kapitels ein.

11.2 Zur Frage der kulturellen Sensitivität der AAIs: Ergebnisse der Expertinnenvalidierung Zur Beantwortung der Frage, welchen Einfluss kulturelle Faktoren auf die Klassifikation der Bindungsinterviews haben, wurde eine Expertinnenvalidierung durchgeführt. Zwei Expertinnen (siehe Kapitel 7) wurden anhand ausgewählter AAIs um eine Einschätzung möglicher bindungsrelevanter Besonderheiten

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11 Intergenerationale Traumatisierungen

bosnischer Familienstrukturen und Kommunikationsformen187 sowie um eine Beurteilung der Klassifikation einzelner Bindungsinterviews gebeten.188 Die Einschätzungen beider Expertinnen weisen hohe Übereinstimmungen auf und betonen folgende zentrale Punkte: 1. Je nach sozialer Schicht, sowie geographischer Herkunft (Land- oder Stadtbevölkerung) finden sich mehr oder weniger große Differenzen zwischen Familienstrukturen in Bosnien und denen die von der Bindungsforschung vornehmlich in Amerika und Westeuropa untersucht werden. Diese kulturelle Heterogenität Bosniens spiegelt sich auch in den geführten Bindungsinterviews wider. Allerdings haben die interviewten Familien mehrheitlich einen ruralen Hintergrund mit traditioneller Prägung der Familienstrukturen. 2. Ein ruraler Hintergrund beeinflusst nach Einschätzung der Expertinnen sowohl aufgrund bestimmter Familienstrukturen als auch durch kulturspezifische Formen des Sprechens und des Erinnerns die Ergebnisse des AAIs. Es ist damit sehr wahrscheinlich, dass die in den AAIs gefundenen, häufig unsicher-präokkupierten Bindungsmuster sowie die stark idealisierende Darstellung der Eltern zumindest zum Teil kulturell bedingt sind. 3. Darüber hinaus bestätigen die Expertinnen den Eindruck, dass es sich bei dieser kleinen, für die bosnische Kultur nicht repräsentativen Stichprobe um eine besonders belastete Gruppe handelt. Auch aufgrund der Tatsache, dass sich in fünf der sieben AAIs deutliche Hinweise auf negative Beziehungserfahrungen in der Kindheit und in zwei Fällen Hinweise auf Kindheitstraumata finden, ist es daher nicht un187

Die Fragen wurden eng am Interviewmaterial orientiert diskutiert, um zu vermeiden, dass ein stereotypes Bild »der« bosnischen Kultur entsteht. 188 Die ausführlichen Antworten beider Expertinnen befinden sich im Anhang, der bei der Autorin erhältlich ist. Da einige Anmerkungen nur stichwortartig vorlagen, habe ich sie für die obige Darstellung leicht stilistisch überarbeitet. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

11.2 Zur Frage der kulturellen Sensitivität der AAIs

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wahrscheinlich, dass die interviewten Flüchtlinge tatsächlich mehrheitlich unsicher gebunden sind.

Bedeutung des soziokulturellen Hintergrundes für die AAIs Mirta Dedic-O’Beirne beschreibt typische Familienstrukturen in Bosnien und zeigt, wie diese mit der Art und Weise, wie gegenüber Dritten von der eigenen Familie gesprochen wird bzw. werden kann, korrespondieren: »Die meisten bosnischen Familien (Land- aber auch Stadtbevölkerung) haben eine patriarchalische Familienstruktur. Nach dem Zweiten Weltkrieg, während der Zeit des Sozialismus und des ehemaligen Jugoslawien, zogen aufgrund der zunehmenden Industrialisierung etwa 70 % der Landbevölkerung in die Städte um. Sie wechselten von Bauern zu den Arbeitern oder studierten und wurden ›Intellektuelle‹. Das äußere Bild des Landes veränderte sich rasch, was nicht mit gleicher emotionaler Entwicklung der Menschen, Familie und Gesellschaft einherging. Die Familienstrukturen blieben die gleichen. Die Menschen lebten, im Unterschied zu den meisten Menschen in den westlichen Industrieländern, weiterhin in Großfamilien mit einer starren, klassischen Verteilung von Frauen- und Männerrollen. Die patriarchalische Struktur der bosnischen Familien charakterisiert sich durch eine starre Loyalität zu der eigenen Familie. Die Familienmitglieder dürfen einander der ›äußeren Welt‹ nicht ›verraten‹. Vermutlich deshalb zeigt sich bei allen Interviewten in den AAIs starke ›Idealisierung‹ – die Mutter / der Vater dürfen der äußeren Welt nicht ›verraten‹ werden. Die Emotionen werden meistens an die nächste Generation weitergegeben. Die/der ›schlechte, pathogene‹ Mutter/Vater muss bedeckt, versteckt bleiben. Dies erklärt eventuell die sehr vage, unkonkrete ›passive/verwickelte‹ Sprechweise in fast allen Interviews« (Dedic-O’Beirne).

Einen ganz ähnlichen Zusammenhang zwischen der Stellung der Familie und dem Sprechen über die Familie nach außen schildert Enida Delalic. Sie betont dabei jedoch auch schichtspezifische Unterschiede: © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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11 Intergenerationale Traumatisierungen »[Es] gibt eine gesellschaftliche Verordnung, den Eltern gebührenden Respekt und Achtung entgegenbringen zu müssen. Das ist aber je nach sozialer Schicht auch in Bosnien-Herzegowina unterschiedlich. Die Interviewpartnerinnen kommen entweder aus ruralen Gebieten oder befinden sich in einem Übergang zwischen rural und städtisch. Vor allem die wirtschaftliche Situation der Familien oder des Einzelnen im ehemaligen Jugoslawien ließ ein ›individuelles Leben‹ in unserem Sinne nicht zu. Das hatte natürlich für die familiären Beziehungen bzw. für das Handeln des Einzelnen und folglich für das Sprechen darüber Folgen. Die viel länger andauernde wirtschaftliche Abhängigkeit von den Eltern und die damit andauernde soziale Gebundenheit haben ein offenes und verdecktes Miteinander gefördert. Also nach außen hin den Normen und Werten entsprechendes Verhaltensmuster, während nach innen hin ein von den Mitgliedern verdecktes Inneres lebte, z. B. geheime Liebesbeziehungen, die so auch zu einem romantisch idealisierten Liebesbild führen. Die ›Alten‹ wurden respektiert, aber im ›Geheimen‹ hat man doch so manches gemacht. Ich denke, dies entspricht ganz der bisherigen Auswertung: Unsicher-verwickeltes/ambivalentes Muster mit einer großen ›Abhängigkeit‹ und ›fehlender Autonomie‹« (Delalic).

Schichtspezifische Unterschiede führen auch dazu, dass die Expertinnen bei einigen AAIs den Eindruck eines »gelungenen« Interviews haben, bei denen die Interviewten den Fragen folgen und sie im Sinne des Interviews auffassen, während bei anderen Interviews der Eindruck entsteht, dass Begriffe wie »Beziehung« oder »Persönlichkeit« von den Interviewten sehr abstrakt aufgefasst werden und die im AAI gestellten Fragen in ihrer Direktheit ein reflektiertes Erzählen verhindern. Delalic beschreibt für die Frauen mit einem ausschließlich ländlichen Hintergrund eine »interdependente Orientierung« (siehe Kapitel 6) als charakteristisch, bei der die Ausrichtung stärker an der Gemeinschaft als am einzelnen Subjekt erfolgt und die die Beantwortung der im AAI sehr direkt gestellten Fragen nach der Kindheitsbeziehung zu den eigenen Eltern beeinflusst: »Frauen mit diesem (ruralen) sozio-kulturellen Hintergrund erleben das Leben mehr als rite de passage, denn als einen zielgerichteten Prozess, der auf eine persönliche Entwicklung hinzielt, mit Ausbildung, beruflicher Karriere usw. (…) Das tägliche Leben ist eine Art © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

11.2 Zur Frage der kulturellen Sensitivität der AAIs

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Gleichförmigkeit. Das Leben spielt sich zyklisch ab und verläuft nicht linear. Für das erinnerte Erzählen bedeutet dies, dass es situationsgebunden ist. Alles ist Wiederholung: Ereignisse wie Geburt, Tod, Hochzeit werden als solche erinnert, um die sich dann storys bilden« (Delalic).

In diesem Sinne lässt sich vermuten, dass die Fragestruktur des AAIs bei einigen Interviewpartnern eher erzählhemmend als erzählgenerierend wirkt. Aufgrund der erwähnten Heterogenität der untersuchten Gruppe trifft diese Einschätzung nicht auf alle Interviews zu. So bemerkt Delalic zu einem anderen Interview Folgendes: »Der kulturelle Hintergrund [der Sprecherin] ist ebenfalls ein semiruraler. Durch die [akademische] Ausbildung durchläuft sie einen Individuationsweg, der sozusagen den Wandel von Tradition zur Moderne markiert. Der Bildungshintergrund lässt sie differenziert auf ihr Leben blicken und dieses reflektieren. Sie erzählt jedoch ebenfalls situationsgebunden und erlebnisgebunden, was dem ›natürlichen‹ Alltagserzählen entspricht. Sie versteht alle Fragen voll, kann etwas mit ›Adjektiven‹ [wie sie im AAI erfragt werden] anfangen ebenso wie mit den Begriffen Beziehung/Persönlichkeit« (Delalic).

Damit stellt sich allerdings auch die problematische Frage, inwiefern die Einschätzung eines AAIs als »sicher gebunden« vom Bildungshintergrund des jeweiligen Sprechers abhängt. Obwohl, wie in Kapitel 6 dargestellt, Untersuchungen der Bindungsforschung einem solchen Zusammenhang widersprechen, scheint der Bildungshintergrund in der untersuchten Gruppe durchaus eine Rolle zu spielen. Auch die hohen Werte für »Idealisierung«, die in ungewöhnlicher Weise in Kombination mit unsicher-präokkupierten Bindungsmustern auftreten,189 lassen sich kulturell erklären: »In der Direktheit [der Fragen] kann erinnertes Erzählen [nicht stattfinden], meine ich, gerade ambivalente Gefühle, [können] nicht 189 »Idealisierung« ist ein Kennzeichen unsicher-vermeidender Bindungsmuster.

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11 Intergenerationale Traumatisierungen reflektiert werden. Respekt/Ehre/Etikette stehen im Vordergrund, das persönliche Erlebnis ist dementsprechend bestimmt. Es ist nicht als individuell, sondern kulturell bestimmt zu bezeichnen, wenn die Mutter/Eltern sehr idealisiert wird/werden. Gerade die gesamte Volkslyrik ist voll von der Idealisierung der Mutter und der ›romantischen Liebe‹« (Delalic).

Das in der bosnischen Kultur tradierte Mutterbild beschreibt Delalic folgendermaßen: »Es gibt nur eine Mutter, Mutter ist die Einzige, Mutter ist alles auf der Welt, Mutter stirbt/hungert für ihre Kinder«. Diese Beschreibung enthält fast wörtlich die von den bosnischen Flüchtlingen gewählten Ausdrücke zur Beschreibung ihrer Bindungsbeziehung zur Mutter : »Mutter ist die Beste«, die Mutter ist eine große Liebe«, »es kann keiner zu dir sein, wie eine Mutter es kann«, etc. Hier scheinen die Antworten kulturell und weniger individuell geformt zu sein. Beide Expertinnen verweisen zudem in diesem Zusammenhang auf das für die bosnische Kultur zentrale Gedicht »Hasanaginica« von Santic, das das Bild der für ihre Kinder kämpfenden, hungernden und schließlich sterbenden Mutter idealisiert.

Diskussion der Expertinnenvalidierung Die Expertinnenvalidierung zeigt deutlich, dass die Durchführung und Klassifikation der Bindungsinterviews stark von kulturellen Faktoren beeinflusst ist. Um einschätzen zu können, inwiefern die vorgenommene Bindungsklassifikation zutreffend ist, wären weitere Untersuchungen größerer Stichproben notwendig. Das häufige Auftreten von unsicher-präokkupierten Bindungsmustern in den AAIs lässt sich mit der beschriebenen interdependenten Orientierung erklären. Die für dieses Bindungsmuster sonst untypischen, aber gleichzeitig vorgefundenen sehr idealisierenden Darstellungen der Eltern lassen sich ebenfalls vor dem kulturellen Hintergrund verstehen. Inhaltlich zeigte sich allerdings, dass die Einschätzung der Sprechweise in einem AAI als »idealisierend« auf in den Interviews beschrie-

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11.2 Zur Frage der kulturellen Sensitivität der AAIs

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benen negativen Bindungserfahrungen mit den Eltern beruhte.190 Auch dieser Befund wird von Expertinnen wahrgenommen, die Stichprobe wird aus diesem Grund und aufgrund der oft extremen und das gesamte Interview überlagernden Traumatisierung als besonders belastet eingeschätzt. Es handelt sich also um eine besonders vorbelastete Gruppe, bei der zusätzlich unsichere Bindungsmuster aufgrund kultureller Faktoren tendenziell überschätzt werden. Die geschilderten kulturellen Besonderheiten beziehen sich in erster Linie auf Formen des Erinnerns und Reflektierens von Beziehungserfahrungen, die bei der Auswertung der AAIs zentral sind. Die Kinderbindungsinterviews beruhen dagegen auf einer Beschreibung und Einschätzung aktueller Situationen. Die Art, wie gegenüber Dritten über familiäre Beziehungen gesprochen wird, kann ebenfalls kulturell geprägt sein, die Darstellung konkreten Verhaltens in belastenden Situationen wird jedoch kaum durch kulturspezifische Formen des Sprechens beeinflusst: Wenn ein Kind beschreibt, dass es sich nach dem Streit mit einem Freund für eine halbe Stunde vor den Fernseher setzt, dann beeinflussen kulturelle Faktoren möglicherweise dieses konkrete – beziehungsvermeidende – Verhalten, weniger jedoch die Art der Darstellung. Interessanterweise entspricht das Bindungsverhalten der Kinder nicht der von Delalic beschriebenen »interdependenten Orientierung«, nach der – wie bei den AAIs – auffällig häufige unsicher-ambivalente Bindungsmuster auftreten müssten. Dies stützt den Eindruck, dass beziehungsvermeidende Bindungsmuster eine Anpassung an hoch traumatisierte Eltern darstellen können, es könnte aber ebenfalls Ausdruck des kulturellen Wechsels sein, in dem sich die Kinder befinden.

190

Siehe Kapitel 6: Die Wertung »Idealisierend« wird vergeben, wenn ein Sprecher im AAI sehr positive Adjektive für die Beschreibung seiner Beziehung zu den Eltern wählt, diese Wahl dann aber entweder nicht mit Beispielen belegen kann, weil ihm/ihr keine einfallen, oder aber Situationen beschreibt, die den gewählten positiven Adjektiven widersprechen. Letzteres war in den meisten der hier geführten Interviews der Fall. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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11 Intergenerationale Traumatisierungen

11.3 Hinweise auf Traumatisierungen in den AAIs Jenseits der Frage, wie valide die Bindungsklassifikation der AAIs ist, finden sich in den Interviews deutliche Indikatoren für Traumatisierungen. Ob die Traumatisierungen dazu führen, dass sich bei einigen Eltern das Bindungsmuster traumareaktiv verändert, lässt sich anhand der AAIs nicht einschätzen. Um eine solche Veränderung beurteilen zu können, bedarf es wie bei Tony (siehe Kapitel 6) längsschnittlicher Daten. Eine Einschätzung als »erworben unsicher« anhand des AAIs würde den sehr unwahrscheinlichen Fall voraussetzen, dass im AAI positive Bindungserfahrungen glaubhaft dargestellt werden, zugleich jedoch die Art der Sprechens und der mentalen Verarbeitung auf ein unsicheres Bindungsmuster verweist. In den geführten Interviews finden sich schon allein deshalb keine solchen Muster, weil die Bindungsbeziehungen in der Kindheit entweder gar nicht episodisch erinnert werden oder überwiegend negative Beispiele berichtet wurden. Deutlich sind jedoch alle Interviews von Traumatisierungen überlagert und in einigen Fällen wird auch deutlich, wie eng in der Erinnerung Kriegs- und Kindheitserlebnisse miteinander verknüpft werden. Solche Überlagerungen fanden sich vor allem bei jenen Sprecherinnen, die bereits in der Kindheit Verluste oder Traumata erlebt haben. Die Traumatisierung der Flüchtlinge äußert sich auch darin, dass es zu bestimmten »Interviewerfehlern« kam, die oft zu einem Ausweichen vor bestimmten Themen führten. Da die Interviews außerhalb eines therapeutischen Rahmens stattfanden, war allerdings auch verabredet, das Sprechen über traumatische Erlebnisse zu begrenzen, wenn sich die Interviewten dadurch sehr belastet zeigten. Um einen Eindruck davon zu vermitteln, wie sich Traumatisierungen in den AAIs mit den Flüchtlingen äußern, gehe ich hier auf ein paar Beispiele ein. Ein Beispiel für die Überlagerungen von Kindheits- und Kriegserinnerungen findet sich im AAI mit Emirs Mutter. In der folgenden Passage versucht sie zunächst mit einem unvermittelten Themenwechsel der Frage nach Kriegserlebnissen auszuweichen:191 191

In dem folgenden Interviewausschnitt habe ich das bosnische Füllsel © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

11.3 Hinweise auf Traumatisierungen in den AAIs

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Du hast schon erwähnt, dass es später im Krieg auch andere Verluste gab, kannst Du darüber sprechen? Haaaa, wenn ich über die Kindheit spreche {{Sprecherin lacht dabei}}, wenn ich in die Kindheit zurückgehe, damit mir, äh, eine zeitlang habe ich, wie bei dieser Psychiaterin, zu der ich gehe, und da haben wir jetzt gerade mit der Kindheit angefangen und dann weiter (mhm), wir sind immer noch bei der Kindheit und dann fühle ich mich immer so gut (mhm). Egal, wo ich hingehe ist mir die Kindheit, aber wenn der Krieg dran ist. . . . . {{5 sec}} was weiß ich. Im Krieg ist umgekommen—ein Onkel—zwei Cousin, ein Sohn von einer Tante, von dieser Tante (mhm) ist der Sohn gestorben—also, er war so alt wie meine Tante, genauso alt ist er umgekommen—Dann viele Freunde, viele (mhm) Freunde. Manchmal kann ich mir nicht vorstellen, dass ähm und das ist ein ähm starker Schmerz, und dass, wenn ich träume. und wenn ich träume, weiß ich, dass sie alle tot sind, dass das ähm kein (mhm) Traum ist und ähm morgens wache ich auf alles tut mir hier so weh. . . . .(5 sec) Jetzt sprichst du noch mit jemanden, nach, nach einer halben Stunden sagen sie dir, er ist gestorben.

Hier entsteht zu Beginn der Eindruck, die Sprecherin würde lieber von ihrer Kindheit sprechen. Ihre Kindheit scheint der sichere innere Ort zu sein, der ihr Stabilität verleiht. Im gesamten Interview zeigt sich jedoch, dass ihre Kindheit von negativen und zum Teil auch erschreckenden Erlebnissen geprägt war : Sie wurde eingesperrt, versteckte sich aus Angst vor Strafen über mehrere Stunden vor den Eltern, eine Kopfverletzung nach einem Unfall wurde kaum beachtet. Einen stabilisierenden Wechsel von den traumatischen Kriegserlebnissen zu positiven Erfahrungen in der Kindheit kann sie also nicht vornehmen. Angesichts der Frage nach den Kriegserlebnissen wird dennoch die Kindheit idealisiert. »onaj«, das in den Übersetzungen aufgrund seiner Unübersetzbarkeit nicht ins Deutsche übertragen wurde, mit »ähm« ersetzt, um die Lesbarkeit zu erhöhen und möglichst dennoch dem sprachlichen Charakter des Interviews nahe zu kommen. In diesem Fall hat die Interviewpartnerin das Duzen eingeführt. Da Siezen in ländlichen Gebieten Bosniens äußerst ungewöhnlich ist, ist die Interviewerin darauf eingegangen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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11 Intergenerationale Traumatisierungen

Abrupte Themenwechsel bestimmen den weiteren Interviewverlauf, diese werden jedoch sowohl von Emirs Mutter als auch von der Interviewerin vorgenommen. Der folgende Ausschnitt knüpft unmittelbar an die obige Passage an: Aber irgendwie wird man im Krieg, ähm auch . . . {{3 Sek. Pause}} irgendwie härtet man ab. /Man wird unempfindlich./ Man wird unempfindlich. {{Sprecherin lacht dabei}}/Ja./ Und es macht einem nichts aus, einen Verwundeten zu besuchen und Tote zu sehen und zu. – - Aber jetzt zum Beispiel, – - wo bald dieser Krieg im Irak, wenn ich denke, dass es wieder Krieg geben wird, jetzt ist es schlimm für mich, ähm. – - Jetzt [ist] mir ähm, – - hätte ich den Krieg nicht erlebt, wäre es nicht schlimm für mich, ich wünschte, ich hätte das nicht erlebt. – - Aber so weiß ich, was K-, was Krieg bedeutet und . . . {{3 Sek. Pause}} und habe wieder Angst. Und später, als du verheiratet warst, hast du in Stadt A gelebt? In, ich bin mit achtzehn nach Stadt A gegangen, weil – - der Ort etwas weiter entfernt war von Ort 1, (Mm-hm) es gab keine Verkehrsverbindung so bei (Mm-hm) uns, Ort 1 liegt noch weiter Richtung Sandzak, Richtung, Richtung, {{beide sprechen gleichzeitig}} ich habe in zwei [Schichten] gearbeitet / Nein, nein, Ort 1 ist in Richtung Stadt B, Richtung, ach so// zwölf Kilometer von Stadt A. Okay. Von Stadt A. Aber ich habe in zwei Schichten gearbeitet und um zehn gab es keine ähm, Verkehrsverbindung (Mm-hm) nach, nach Ort 1, es gab keinen direkten Bus (Mm-hm), der fuhr, weißt du. – - Und dann habe ich gewohnt. . . . . {{4 Sek. Pause}} Ich habe in Stadt A gelebt, Freitag und Samstag bin ich nach Hause gefahren, so. – - Also, bis {{sic!}} achtzehn war ich schon selbständig, hää {{Sprecherin lacht dabei}}.

Hier greift die Interviewerin zunächst in das Interview ein, indem sie nach der Bemerkung »härtet man ab«, ergänzt »man wird unempfindlich«. Es wirkt wie eine Absprache zwischen den beiden Interviewpartnerinnen, sich das Gesagte nicht zu nahe kommen zu lassen. Als Emirs Mutter erneut beginnt, über Kriegserlebnisse zu sprechen, ist es schließlich die Interviewerin, die einen unvermittelten Themenwechsel vornimmt und sich nach biographischen Angaben erkundigt, anstatt auf das Gesagte © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

11.3 Hinweise auf Traumatisierungen in den AAIs

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einzugehen oder die nächste Frage des AAIs zu stellen. Auch wenn es sich hier ebenfalls um ein klares Ausweichen vor dem traumatischen Inhalt handelt, werden ihre Nachfragen verständlicher, wenn man weiß, dass die Information, wer wann an welchem Ort gewesen ist, implizit auch die Information enthält, wer was im Krieg miterleben musste. Unausgesprochen wissen in diesem Fall beide Sprecherinnen, welchen Kriegshandlungen die Bevölkerung der Stadt A ausgesetzt war. Die Reaktion der Interviewerin beruht dabei vermutlich ebenso auf einer eigenen Belastung als auch auf der Wahrnehmung, dass die Interviewpartnerin nicht über ihre Kriegserlebnisse sprechen möchte. Im Folgenden spricht sie dies explizit an: Gut, ich weiß nicht, ob es dir zuviel wird, über diese traumatischen Erlebnisse zu sprechen, die es später gab? Ja, besser nicht—Dann würdest du sofort einschlafen (lacht dabei).

Hier nimmt Emirs Mutter das Angebot zu einem Themenwechsel einerseits an, bietet dann aber eine sehr bizarr wirkende Erklärung, mit der sie vermutlich versucht, mögliche Affekte abzuwehren. Sie zeigt damit auch, dass sie die Belastung der Interviewerin spürt. Während die hier zitierten Passagen bereits auf unverarbeitete traumatische Erlebnisse schließen lassen, findet sich an einer anderen Stelle im Interview ein deutlicher Hinweis darauf, dass der Verlust einer ihr sehr nahe stehenden Tante in der Kindheit ebenfalls unverarbeitet blieb. Sie erzählt hier von einem Besuch bei ihrer Tante: dann fahren wir alle drei. drei Kinder, mein Bruder und meine Schwester waren noch nicht geboren, d. h. dass ich da auch jünger als zehn war (m-hm) bis meine Tante gestorben ist, als sie (sic) zehn war. Ich habe sie sehr, sehr geliebt, sie war auch Schneiderin (…).

Zehn Jahre ist nicht das Alter der Tante, sondern der Probandin, die Tante verstarb, wie aus einer anderen Interviewpassage deutlich wird, mit 47 Jahren. Obwohl der Verlust dreißig Jahre zurückliegt, kommt es zu einer Verwechslung zwischen der toten © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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11 Intergenerationale Traumatisierungen

Person und dem Selbst.192 Eine solche kognitive Desorientierung gilt bei der AAI-Auswertung als ein sicherer Indikator für ein unverarbeitetes Verlusterlebnis. Beispiele kognitiver Desorientierungen finden sich in fast allen Interviews. Wie sich im folgenden Ausschnitt aus dem AAI mit Emas Mutter zeigt, betreffen kognitive Desorientierungen keineswegs nur die Darstellung der Vergangenheit, sondern können sich auch auf die Wahrnehmung der Gegenwart beziehen. Ähnlich wie bei Nermins Mutter scheint sich bei ihr durch die Konfrontation mit einem traumatogenen Erlebnis, in diesem Fall den Berichten über die Terroranschläge am 11. September 2001 in New York, die Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart aufzulösen. Vorwegzuschicken ist, dass Ema sich nicht in New York befand: Wie reagierst du darauf, wenn du von Ema getrennt bist? Wie ich darauf reagiere? Na, ich habe mich nie von ihr getrennt. Du hast dich nie von ihr getrennt? Aber ich meine diese Situationen, dass sie zur Schule geht, dass sie vielleicht eine Schulfahrt macht oder so etwas. Ja, sie war letztes Jahr, als sie in New York war (sic). Vorletztes, Vorletztes Jahr. (Mm) Das hat mich so getroffen, dass, ich weiß nicht. Damals sind sie mit der Klasse für vier Tage weggefahren, und sie sind gerade dann gegangen, am nächsten Morgen ist es passiert. (Ja, ja, ja.) Ich habe, sofort hatte ich Krieg vor Augen. (Mm- hm) Ich habe nur gedacht, ich sehe mein Kind nie wieder. (Mm- hm) Das hat mich wirklich sehr getroffen, obwohl ich nicht einmal wusste, was passiert war, oder sonst was. Ich weiß noch, ich erinnere mich noch gut, wie ich bei »Karstadt« reinging und dass sich Leute dort versammelt haben, wo die Fernseher sind, ich habe den Fernseher gesehen, ach, dachte ich, vielleicht gibt es neue Fernseher. Und sie gucken und gucken und ich denke, ach, was sind das für Idioten, dass sie so lange gucken? Als ich nach Hause gekommen bin, als ich die Nachrichten angeschaltet habe, als ich das gesehen hab. Ich hab nur darauf gewartet, mein Kind zu sehen. Die sind erst, erst nach vier Tagen zu-

192 Transkription und Übersetzung wurden bei dieser und allen folgenden in diesem Kapitel zitierten Passage von einer zweiten Übersetzerin überprüft.

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11.4 Zusammenfassung

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rückgekommen. (Mmm) Weißt du, nur dass {{2 Wörter unverständlich}}.

Ihre Tochter war am 11. September 2001 auf Klassenfahrt, die Terroranschläge in New York lösen große Angst bei ihr aus, die soweit geht, dass in ihrer sprachlichen Darstellung ihre Tochter in New York war. Ein weiteres Kennzeichen unverarbeiteter traumatischer Erlebnisse im AAI sind sprachliche Desorientierungen (siehe Hauser, 2001). Hierbei wechseln die Interviewten im Zusammenhang mit traumatischen Erlebnissen plötzlich den Sprachstil. Am häufigsten findet sich dabei eine plötzlich überflutende Sprechweise, bei der die Flüchtlinge absorbiert wirken und minutiös bestimmte Erlebnisse darstellen. So gibt Tariks Mutter über mehrere Seiten das erste Telefonat mit ihrer von serbischen Kämpfern verschleppten Schwester nach deren Befreiung wieder. Gleichzeitig gelingt es ihr nicht, die eigene Fluchtgeschichte kohärent zu erzählen, sondern es geraten ihr bei der Schilderung ihrer Flucht Orts- und Zeitangaben fortwährend durcheinander.

11.4 Zusammenfassung Intergenerationale Traumatisierungsprozesse spielen in der interviewten Gruppe eine große Rolle. Auf der Einzelfallebene wurde deutlich, wie zentral dabei insbesondere die Art der Grenzbildung zwischen den Generationen ist. Dass sich eine gelingende Grenzbildung und angemessene emotionale Unterstützung des Kindes von Seiten der Eltern nur in einem Fall beobachten lässt, passt durchaus zu dem Ergebnis, dass sich in der interviewten Gruppe auch bei den Eltern nur unsichere Bindungsmuster finden. Bei diesem Ergebnis ist allerdings zu beachten, dass der spezifische soziokulturelle Hintergrund der Flüchtlinge und die damit verbundene Art und Weise des Sprechens über Familienbeziehungen den Eindruck unsicherer Bindungsmuster befördert. Unsichere Bindungsmuster werden damit tendenziell überschätzt. Besonders eine idealisierende Darstellung der Be© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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11 Intergenerationale Traumatisierungen

ziehung zu den Eltern gegenüber Dritten entspricht kulturellen Vorgaben und erklärt, warum eine solche Sprechweise sich in den Bindungsinterviews, und zwar in beiden Generationen, deutlich zeigt. Zugleich ergeben sich einige Anhaltspunkte dafür, dass sich in der Untersuchungsgruppe tatsächlich viele Personen mit unsicheren Bindungsmustern befinden. Die Klassifikation der Interviews als »unverarbeitet« hinsichtlich erlebter Verluste und Traumatisierungen beruht dagegen auf Indikatoren, die typisch für unverarbeitete traumatische Erlebnisse sind, wie beispielsweise kognitive und/oder sprachliche Desorientierung, und die sich nicht kulturspezifisch erklären lassen. Besonders hinsichtlich der Einschätzung möglicher unverarbeiteter Traumatisierungen erweist sich damit das AAI als erkenntnisträchtige Methode. Die Kinderbindungsinterviews ermöglichen einen guten Einblick, wie die Kinder die traumatisierten Eltern erleben. Erst im Zusammenhang mit einer inhaltlichen Auswertung der geführten Interviews ließen sich jedoch intergenerationale Prozesse im Einzelnen nachvollziehen.

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12 Diskussion der Ergebnisse und Schlussfolgerungen

12.1 Flüchtlingskinder und Trauma – das Ineinandergreifen verschiedener Prozesse In der Einleitung habe ich von dem Jungen berichtet, der nicht an der Untersuchung teilnehmen wollte, weil er sich selbst als »ganz normalen deutschen Jungen« beschreibt und sich mit der Ansprache als Flüchtling bzw. Flüchtlingskind nicht identifiziert. Ich habe dieses Beispiel eingebracht, weil es darauf aufmerksam macht, wie sehr der Blick auf Flüchtlingskinder von außen definiert wird. Die Ergebnisse der Arbeit zeigen allerdings, dass sich in der Reaktion des Jungen noch ein anderes Thema verbergen könnte. In den meisten der interviewten Familien gehen auch die Eltern davon aus, dass die Kriegs- und Fluchterlebnisse, die ihre Kinder in den ersten Lebensjahren hatten, kaum Spuren hinterlassen hätten. Da sich die Kinder nicht explizit erinnern, werden sie von ihnen nicht als Kriegs- und Flüchtlingskinder betrachtet. Wenn sie zusätzlich keine offensichtlichen Symptome entwickeln, sondern vielmehr ein gut angepasstes Verhalten zeigen, wie die Mehrheit der von mir untersuchten Kinder, besteht die Gefahr, dass dieser Teil ihrer Biographie und dessen psychische Folgen nicht genügend beachtet werden. Entgegen der Erwartung, bei Flüchtlingskindern, die sich nicht in psychotherapeutischer Behandlung befinden, auch Beispiele für günstige Entwicklungsverläufe zu finden, finden sich bei allen Kindern psychische Folgen des Erlebens von Krieg und Flucht beziehungsweise des Aufwachsens in einer chronisch belasteten psychosozialen Situation als Flüchtling. Verdeckte oder © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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12 Diskussion der Ergebnisse und Schlussfolgerungen

vernachlässigte Traumatisierungsprozesse wurden so zum zentralen Thema der Arbeit. Aufgrund des qualitativen, einzelfallorientierten Ansatzes der Arbeit habe ich nur eine kleine Stichprobe untersucht. Dennoch zeigt die Untersuchung, wie belastet die Gruppe der bosnischen Flüchtlinge weiterhin ist und dass trotz der großen Aufmerksamkeit, die der Traumabegriff in den letzten Jahren erfahren hat, davon ausgegangen werden muss, dass Traumatisierungsprozesse bei Flüchtlingskindern nach wie vor tendenziell übersehen werden. Anhand des empirischen Materials habe ich drei unterschiedliche Wege der Erfahrungsverarbeitung skizziert (siehe Kapitel 9): Die meisten Kinder zeigen das oben beschriebene gut angepasste Verhalten, sie haben keine unmittelbaren Traumasymptome entwickelt. Da sich gleichzeitig jedoch auf der Ebene der innerpsychischen Repräsentanzen deutliche Hinweise auf Traumatisierungsprozesse finden, habe ich diese Kinder als pseudo-resilient beschrieben. Drei Kinder berichten klinisch relevante Symptome, deren Behandlung jedoch bislang vernachlässigt worden ist. Bei Nermin, dessen Fall ich beispielhaft vorgestellt habe, zeigt sich, dass dieser Vernachlässigung des Traumas eine Funktion innerhalb der Familie zukommt: Er hat die Rolle des Symptomträgers übernommen. Auch bei Katarina finden sich Symptome, die sich auf traumatische Erlebnisse, in ihrem Fall auf eine Angst, den Eltern könne etwas zustoßen, beziehen. Ihre Angstproblematik wird in der Familie jedoch offen kommuniziert und es wird über eine Behandlung nachgedacht. Sowohl bei Katarina als auch bei ihrer Mutter befindet sich die Bearbeitung des Traumas im Prozess. Dass bei allen drei Wegen der Erfahrungsverarbeitung Traumatisierungsprozesse eine Rolle spielen, lässt sich nur aufgrund des einzelfallorientierten Zuganges erschließen, bei dem der gesamte Lebenskontext betrachtet wird. Wie andere Untersuchungen zu Flüchtlingen und Flüchtlingskindern (Möller, 2006; Ollech, 2007) bestätigt auch diese Arbeit, dass, um Traumatisierungsprozesse bei Flüchtlingen zu verstehen, ein komplexer, das subjektive Erleben und die gesamte psychosoziale Situation berücksichtigender Traumabegriff notwendig ist. Im Traumabe-

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12.1 Flüchtlingskinder und Trauma

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reich dominante Konzepte, wie beispielsweise die PTSD, greifen dagegen zu kurz. Drei Arten potenziell traumatischer Erlebnisse lassen sich bei Flüchtlingskindern unterscheiden: 1. Erstens erleben viele Kinder im Zusammenhang mit Krieg und Flucht traumatische Situationen, neben dem Verlust der vertrauten Umgebung gehört hierzu vor allem der Verlust naher Angehöriger, oft des Vaters. Von den von mir interviewten elf Kindern leben nur drei Kinder zum Untersuchungszeitpunkt mit beiden Eltern zusammen. Die Väter von fünf Kindern gelten weiterhin als vermisst, bei drei Kindern haben sich die Eltern scheiden lassen, auch dies war nach dem Krieg in Bosnien ein sehr häufiges Phänomen. Einige Kinder haben Kriegshandlungen miterlebt und fast alle lange, zum Teil gefährliche Zeiten der Flucht, die sie oft in überfüllten Sammelunterkünften und mit schlechter Lebensmittelversorgung verbrachten, bis die in vielen Fällen illegale und damit wiederum nicht ungefährliche Einreise nach Deutschland gelang. 2. Zweitens sind Flüchtlingskinder häufig von intergenerationalen Traumatisierungen betroffen, das heißt, das traumatische Erlebnis betrifft nicht nur sie, sondern auch ihre Eltern.193 In der Folge wachsen die Kinder in einer chronisch belasteten Familiensituation auf, in der sie nur eingeschränkt von ihren Eltern emotional unterstützt werden können. Abgesehen davon, dass Eltern, die selbst traumatisiert sind, die Traumatisierung ihres Kindes oft nur schwer erkennen können, kann es dazu kommen, dass sie ihr eigenes Trauma an das Kind weitergeben. In der untersuchten Gruppe können alle Eltern als traumatisiert bezeichnet werden. Die Mehrzahl der Kinder wächst kriegsbedingt in einer durch den Verlust des

193 Im Unterschied zur transgenerationalen Traumatisierung, bei der das Kind nach dem traumatischen Erlebnis der Eltern zur Welt kam (siehe Kapitel 3 und 5).

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12 Diskussion der Ergebnisse und Schlussfolgerungen

Vaters und die Traumatisierung der Mutter gekennzeichneten Familiensituation auf. 3. Als dritte mögliche Ursache für traumatische Prozesse bei Flüchtlingskindern kommt die rechtliche und soziale Situation im Aufnahmeland hinzu, die im Sinne einer sequentiellen Traumatisierung eine eigene traumatische Qualität annehmen kann. In der Darstellung ihrer Situation als Flüchtlinge in Deutschland (siehe Kapitel 10) lassen sich singuläre, als erneut traumatisierend erlebte Situationen, wie beispielsweise das plötzliche Wiedererleben völliger Mittellosigkeit und Hunger, da Sozialleistungen unrechtmäßig abgelehnt wurden, von chronischen Belastungen unterscheiden. Zu den chronischen Belastungen zählen der mit einer ständigen Angst vor Abschiebungen verknüpfte unsichere Aufenthaltsstatus sowie die aufgezwungenen Lebensbedingungen, wie die Verweigerung einer Arbeitserlaubnis. Die Situation in Deutschland bedeutet nicht nur mögliche neue traumatische Erlebnisse, sondern auch, dass vorhandene Traumatisierungen aufrechterhalten werden. Diese drei Prozesse greifen ineinander : Das Trauma des Kindes kann von den selbst traumatisierten Eltern nur unzureichend wahrgenommen werden oder führt zu Abwehrprozessen. Reagieren die Kinder mit dem in der untersuchten Gruppe häufig beobachteten Vermeidungsverhalten, dann kann dieses in der Familie unter Umständen unbewusst verstärkt werden, da einer Konfrontation mit dem Trauma so ausgewichen werden kann. Indem die Aufenthaltssituation in Deutschland dazu beiträgt, dass die Flüchtlinge nicht zur Ruhe kommen und Erlebtes nicht bearbeiten können, chronifizieren sich auch die Folgen beim Kind. Die gesellschaftliche Desintegration der Flüchtlinge verhindert zudem, dass vorhandene oder neue soziale Unterstützungsmöglichkeiten genutzt werden können. Durch die Verweigerung einer Arbeitserlaubnis, durch Schwierigkeiten, an Klassenfahrten teilnehmen zu können etc. wird es ihnen erschwert, sich neue soziale Kontakte aufzubauen. Ebenso haben die Flüchtlingsfamilien durch die Einschränkung ihrer Reisefreiheit © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

12.2 Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung

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kaum die Möglichkeit, wichtige Beziehungen zu nahen Verwandten, wie beispielsweise zu Großeltern der Kinder, pflegen zu können. Für viele Kinder fällt so die Möglichkeit weg, neben ihren Eltern andere unterstützende Bezugspersonen zu finden. Während Hans Keilson (1979, siehe Kapitel 3) in seiner Studie eine Gruppe von Kindern fand, deren Entwicklung trotz traumatischer Erlebnisse einen günstigen Verlauf nahm, weil ihre Betreuungssituation nach der Verfolgung sehr unterstützend war, wird bei den bosnischen Flüchtlingskindern genau diese Chance vergeben.

12.2 Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung vor dem Hintergrund der Traumatheorie Der Überblick über die traumatheoretischen Modelle führt zu dem Schluss, dass die gesellschaftliche Ebene in fast allen Traumakonzepten zu wenig berücksichtigt wird und lediglich das Modell der sequentiellen Traumatisierung (Keilson, 1979; Becker u. Weyermann, 2006) hier einen angemessenen Ansatz liefert. Keilson und auch Becker und Weyermann klammern dabei bewusst die Formulierung von Traumafolgen, wie etwa von bestimmten Symptomen, aus, um der Unterschiedlichkeit traumareaktiver Prozesse gerecht zu werden. Wie sich die subjektive Erfahrungsverarbeitung gestaltet, bleibt damit offen. Die Einzelfallanalysen belegen, wie verschieden diese sein kann. Die seelischen Folgen eines Traumas weisen dennoch eine Gemeinsamkeit auf, denn in ihnen konstituiert sich auf je spezifische Art und Weise die Verknüpfung des äußeren traumatisierenden Ereignisses und der individuellen Reaktion. Was als Traumafolge aufgefasst wird, ist damit nicht beliebig. Der inhaltlich-biographische Zusammenhang zwischen bestimmten Verhaltensweisen, Phantasien, Erwartungen, Gedanken und/oder Symptomen und dem ursprünglichen traumatisierenden Erlebnis beziehungsweise den traumatischen Sequenzen muss aufgespürt werden, um eine Traumatisierung feststellen zu können. Dass beispielsweise Alen in seiner im Schwarzfuß-Test erfundenen Geschichte sehr wahrscheinlich © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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12 Diskussion der Ergebnisse und Schlussfolgerungen

den selbst erlebten traumatischen Verlust des Vaters in einer traumatypischen Umkehrung reinszeniert, lässt sich nur erkennen, wenn man sowohl um Alens Verlusterlebnis weiß als auch um mögliche intrapsychische Traumafolgen. Die Traumatisierung der Betroffenen erschwert das Sichtbarwerden dieses Zusammenhangs, da sie seine Herstellung selbst vermeiden. Er wird verdrängt oder dissoziiert (siehe Kapitel 3). In Nermins Familie wird dies deutlich. Hier zeigte sich auch, wie schnell man außerhalb eines längeren therapeutischen Kontaktes an die Grenzen des Verstehens stößt. Dies gilt insbesondere, wenn nur wenig Konkretes über die ursprüngliche traumatogene Situation bekannt ist beziehungsweise der traumatische Prozess anhält und sich dementsprechend kaum abgrenzen und fassen lässt. Traumatisierungen festzustellen ist damit äußerst voraussetzungsreich. Es erfordert nicht nur die Reflexion der psychosozialen Gesamtsituation und der genannten traumatischen Sequenzen, sondern auch die eingehende Kenntnis möglicher traumareaktiver Folgen sowie ein einzelfallspezifisches Vorgehen. Becker (2006) diskutiert in seinem Buch »Die Erfindung des Traumas – verflochtene Geschichten«, warum Keilsons Modell zwar zitiert und gelobt wird, jedoch äußerst selten in der Praxis zur Anwendung kommt. Zusammen mit dem israelischen Soziologen Jos¦ Brunner nimmt er an, dass das Konzept schlicht zu unbequem für alle Betroffenen sei. Indem die traumatische Situation nicht begrenzt wird, wird nicht nur für Opfer und Täter die Langfristigkeit der Zerstörung aufgezeigt, sondern zudem für mögliche Gutachter und Therapeuten unübersehbar auch der aktuelle Kontext als möglicherweise weiterhin traumatisierend oder das Trauma aufrechterhaltend konzipiert. Ich halte den Umgang mit Keilsons Konzept darüber hinaus auch deshalb für unbequem, weil er in jedem Fall zu einer konkreten Auseinandersetzung zwingt: Die Knochen im Wald von Srebrenica, die zum Töten bestimmte Waffe in der Hand, die Angst vor jeder einzelnen Granate vom Himmel, das Warten auf das aus der Schule heimkommende Kind, die Kopfschmerzen an jedem Todestag, das Miterleben der nächtlichen Abschiebung der Nachbarn im Flüchtlingsheim müssten genannt und gehört werden. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

12.3 Der problematische Begriff der Resilienz

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Für eine PTSD-Diagnostik reicht im Zweifelsfall die Verwendung eines Fragebogens. Im theoretischen Teil der Arbeit bin ich auf die unterschiedlichen Annahmen über traumaspezifische Erinnerungsprozesse eingegangen: Während Freud von Verdrängung ausgeht, betonen aktuelle Theorien und nicht zuletzt die neurowissenschaftlichen Ansätze den Vorgang der Dissoziation. Insbesondere van der Kolks Annahme eines traumaspezifischen Gedächtnisses, in dem sich Eins-zu-eins Repliken der ursprünglichen traumatischen Situation finden, habe ich bereits kritisch diskutiert. Es war nicht Ziel der vorliegenden Arbeit, die Gültigkeit dieses Ansatzes zu prüfen, aber es fällt auf, dass die in den Einzelfällen dargestellten Formen der Reinszenierung bzw. des Ausdrücken des Traumas in spezifischen Ängsten oder Symptomen für eine vielfältige Überarbeitung des traumatischen Materials sprechen. Auf theoretischer Ebene mag es durchaus interessant sein, welche Hirnregionen auf welche Art und Weise an der kognitiven Verarbeitung traumatischer Erlebnisse beteiligt sind. Die Hinweise auf die diversen innerpsychischen Reorganisationsversuche nach traumatischen Erlebnissen, wie sie etwa Fischer und Riedesser (1998) beschreiben, sowie die vielfältigen Einzelfallanalysen, wie sie die Literatur über die Überlebenden des Holocaust bietet, sind auf einer anwendungsbezogenen Ebene jedoch weit erkenntnisträchtiger als die derzeit vieldiskutierten Ansätze der Hirnforschung.

12.3 Der problematische Begriff der Resilienz Ich habe mich in der Beschreibung der Erfahrungsverarbeitung der Flüchtlingskinder immer wieder auf den Begriff der Resilienz bezogen, indem ich von pseudo-resilienten Entwicklungsverläufen gesprochen habe. Das zunehmende Interesse am Resilienzbegriff in der Entwicklungspsychopathologie und Traumaforschung ist insofern wertvoll, als es hilft, auch Hochrisikogruppen wie Flüchtlingskinder nicht nur als potenziell Traumatisierte zu betrachten, sondern gerade Stärken, unterstützende Faktoren und positive Verläufe in den Blick zu nehmen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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12 Diskussion der Ergebnisse und Schlussfolgerungen

Dies könnte eine Möglichkeit sein, sich stärker der Subjektivität der Betroffenen zu nähern. Die Ergebnisse der Arbeit zeigen jedoch auch ganz deutlich, mit welch großer Vorsicht der Resilienzbegriff zu verwenden ist. Sowohl die beschriebene Verknüpfung zwischen dem Trauma und der Entwicklung innerpsychischer Schemata, die zunächst im Handeln und Verhalten gar nicht auffallen muss, als auch die derzeitige Erfahrung, dass immer mehr Kriegskinder des Zweiten Weltkrieges nun in psychische Krisen geraten und therapeutische Hilfe suchen (Leuzinger-Bohleber, 2003a; Radebold, 2003a), zeigt, dass vermutlich erst im hohen Erwachsenenalter beurteilt werden kann, ob sich ein Entwicklungsverlauf tatsächlich als resilient bezeichnen lässt oder nicht. Die Rede von Resilienz bereits bei Kindern oder Jugendlichen194 läuft dagegen Gefahr, krisenhafte Entwicklungen und/oder Traumatisierungen zu übersehen bzw. zu verleugnen.

12.4 Diskussion der verwendeten Methoden Für den empirischen Teil der Arbeit habe ich mehrere Methoden kombiniert (Fragebögen, Bindungsinterviews, Schwarzfuß-Test, siehe Kapitel 7) und versucht, unterschiedliche Forscher/-innen und damit unterschiedliche Perspektiven in den Forschungsund Interpretationsprozess mit einzubeziehen. Im Mittelpunkt standen dabei Methoden der Bindungsforschung, die als ein Zugang zur subjektiven Erfahrungsverarbeitung und zu intergenerationalen Prozessen sowie zur Untersuchung der Bindungssicherheit als möglichem Schutz- oder Risikofaktor eingesetzt wurden. Die verwendeten Methoden erwiesen sich in verschiedenem Maß als erkenntnisträchtig, wobei sich von Fall zu Fall unterschied, über welche Methode sich ein Zugang zu den Kindern herstellen ließ. Während einige Eltern und Kinder Fragebögen wie die CBCL beispielsweise gar nicht ausfüllen wollten, nutzten andere gerade diese schriftliche Form, um spezielle Probleme zu beschreiben (siehe Kapitel 8). 194

Speziell zu Flüchtlingskindern siehe Lustig et al., 2004. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

12.4 Diskussion der verwendeten Methoden

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Ähnlich verhält es sich mit dem Schwarzfuß-Test (SFT). Bei einigen Kindern ermöglichte gerade dieses projektive Verfahren, einen Eindruck von der Erfahrungsverarbeitung und von zentralen Entwicklungsthemen der Kinder zu erhalten. In diesen Fällen gehen die Erkenntnismöglichkeiten des SFT über die des Bindungsinterviews hinaus, auch wenn der SFT nur das Aufstellen von Arbeitshypothesen erlaubt. Es gab aber ebenso Kinder und Jugendliche, die sich kaum auf das Geschichtenerzählen einließen und deren Narrative sich entsprechend schwer deuten ließen. Ein solches Verhalten kann unter Umständen auf einer traumabedingten Einschränkung der Phantasietätigkeit oder der Vermeidung der Inhalte bestimmter Bildkarten beruhen. Finden sich hierzu im Fallmaterial jedoch keine weiteren Anhaltspunkte, dann bleiben wesentliche Fragen der Fallinterpretation offen. Das Gleiche geschieht, wenn nicht genügend biographische Informationen vorliegen, beispielsweise weil die Eltern nicht über bestimmte Erlebnisse sprechen können oder wollen.195 Auf diese Weise kann die Erkenntnismöglichkeit projektiver Verfahren im Traumabereich, insbesondere im Rahmen extraklinischer Untersuchungen, schnell an Grenzen stoßen. Dass die im Rahmen von projektiven Verfahren erzählten oder inszenierten Geschichten keineswegs beliebig sind, belegt meines Erachtens die hohe Übereinstimmung zwischen den Ergebnissen des SFT und den Ergebnissen der Bindungsinterviews. Es findet sich kein Beispiel dafür, dass ein Kind im Bindungsinterview über wenig emotional unterstützende Eltern berichtet, im SFT dann aber sehr zugewandte und präsente Elternfiguren erfindet. In Übereinstimmung mit den im Bindungsinterview deutlich werdenden wenig unterstützenden Elternrepräsentan195 Bei einem Mädchen spielt zum Beispiel das Thema Geschwisterrivalität eine sehr große Rolle im SFT. Das Mädchen hat selbst jedoch keine Geschwister. Eine Vermutung ist, dass eventuell der mittlerweile von der Familie getrennt lebende Vater weitere Kinder hat, sich diese wünscht oder das Mädchen dieses fürchtet. Ebenso mag der weiterhin bestehende Kinderwunsch der Mutter eine Rolle spielen oder die Geschwisterrivalität steht stellvertretend für einen anderen Konflikt. In diesem Fall erschweren besonders die fehlenden Informationen zum Vater die Interpretation des SFT.

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zen finden sich vielmehr auch in den Narrativen abwesende oder auf Belastungssituationen wenig reagierende Elternfiguren. In Hinblick auf die kritisch diskutierte Validität der Interpretation von projektiven Verfahren wären hier weitere methodische Untersuchungen spannend.

Möglichkeiten und Grenzen der Bindungsforschung bei Flüchtlingskindern Die Erfahrungen mit den Bindungsinterviews waren zwiespältig. Die Bindungsinterviews mit den Kindern geben zweifellos einen guten Einblick in die Frage, wie die Kinder mit emotional belastenden Situationen umgehen, ob und gegebenenfalls von wem sie dabei Unterstützung erfahren. Die Adult Attachment Interviews erweisen sich als besonders geeignet, etwas über traumatische Erlebnisse und deren Verarbeitung bei den Eltern zu erfahren. Indem die Flüchtlinge im Rahmen der AAIs Szenen aus ihrer eigenen Kindheit schilderten, entstand zudem ein sehr umfassender biographischer Eindruck. Dieser verdeutlicht, vor welchem Hintergrund die Flüchtlinge Krieg und Flucht erlebten. Darüber hinaus wird auch die große Diskrepanz zwischen ihrem Aufwachsen in Bosnien, oft in einem größeren familiären Zusammenhang und auf dem Land, und dem Kontext, in dem nun ihre Kinder in Berlin groß werden, unmittelbar spürbar. Als problematisch erwies sich jedoch die Frage, inwiefern die anhand der Interviews vorgenommenen Klassifikationen der Bindungsmusters als zutreffend angesehen werden können. Die Auswertung des AAIs basiert auf einem Rückschluss von bestimmten Formen des Reflektierens und Sprechens über frühe Beziehungserfahrungen auf internale Bindungsmuster. Wie in Kapitel 11 dargestellt, bleibt fraglich, ob dieser Ansatz greift, wenn ein individualisiertes Sprechen über frühe Beziehungserfahrungen kulturell nicht oder auf andere Art und Weise tradiert ist. Abhängig vom jeweiligen soziokulturellen Hintergrund (semi-rural vs. urban, Bildungsgrad etc.), in dem sich die Untersuchungsgruppe nochmals stark unterscheidet, drückt sich damit in einigen Erwachseneninterviews vermutlich eher eine © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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kulturbedingte Form des Sprechens als ein individueller Bindungsstil aus. Dies betrifft vor allem idealisierende Darstellungen der Bindungserfahrungen in der Kindheit. Um die Frage zu klären, auf welche Weise valide Einschätzungen der Bindungsklassifikation mit bosnischen Proband/innen vorgenommen werden können, wären weitere Studien notwendig. Die vorliegende Arbeit kann hier nur einen Zwischenschritt leisten, wobei insbesondere die Ergebnisse der Expertinnenvalidierung wichtige Anhaltspunkte für zukünftige Forschungsarbeiten liefern. Die mit den Kindern durchgeführten Interviews beruhen im Gegensatz zu den AAIs auf der Beschreibung aktueller Situationen. Kulturbedingte Formen des Erinnerns früher Beziehungserfahrungen kommen damit weniger zum Tragen. Da jedoch sowohl bei den Kindern als auch bei den Erwachsenen fast ausschließlich unsichere Bindungsmuster gefunden wurden, muss überlegt werden, inwiefern unsichere Bindungsmuster überschätzt wurden. Mögliche alternative Erklärungen habe ich in Kapitel 11 diskutiert. In den Einzelfallanalysen wird ebenfalls deutlich, dass mit der Einschätzung der Bindungssicherheit in Bezug auf intergenerationale Traumatisierungsprozesse nur ein sehr begrenzter Aspekt erfasst wird. Das Beispiel von Katarina, die eine bindungsbezogene Angstproblematik entwickelte, obwohl sie laut Bindungsklassifikation über ein sicheres Bindungsmuster verfügt, zeigt, dass wichtige Informationen ausgespart werden, wenn die Bindungsinterviews lediglich zur Bestimmung der Bindungsklassifikation verwendet werden. Das Gleiche zeigt sich bei Nermin, in dessen Fall sich wesentliche Aspekte der Bindungsbeziehung nur nachvollziehen lassen, wenn man die subjektiven Vorstellungen seiner Mutter über ihre Beziehung zu ihrem Sohn, beispielsweise ihre Beschreibung der Stillsituation, mitberücksichtigt. Gerade für ein Verständnis intergenerationaler Traumatisierungsprozesse ist damit sowohl eine inhaltliche Auswertung der Interviews als auch die Kombination mit weiteren Methoden unverzichtbar. Aufgrund dieser Ergebnisse wäre bei weiterführenden Untersuchungen zu überlegen, inwiefern eventuell biographische In© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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12 Diskussion der Ergebnisse und Schlussfolgerungen

terviews, wenn auch unter Verzicht auf eine Bindungsklassifikation, zu ähnlichen Erkenntnissen führen und unter Umständen kulturell sensibler durchgeführt werden können. Bezogen auf die Kinder wäre dabei allerdings zunächst zu untersuchen, inwiefern andere qualitative Interviewformen ebenso viele Informationen zur Eltern-Kind-Beziehung hervorbringen, da sich das Bindungsinterview in diesem Punkt als sehr geeignet erwies. Diese Überlegungen zu methodischen Alternativen bedeuten nicht, dass die Frage, wer welches Bindungsmuster entwickelt hat, nicht interessant bliebe. Bei einem sicher gebundenen Kind kann davon ausgegangen werden, dass es seine Probleme eher zur Sprache bringen kann und sich im Zweifelsfall auch außerhalb der Familie Hilfe sucht. Bei den meisten interviewten Flüchtlingskindern ist es dagegen sehr wahrscheinlich, dass sie ein unsicher-vermeidendes Bindungsmuster haben. Ich habe im Zusammenhang mit der Darstellung von Alens Bindungsinterview die These aufgestellt, dass sich ein solches Bindungsverhalten als Reaktion auf die Traumatisierung der Eltern bzw. der Mutter entwickeln kann. Wenn tatsächlich viele Flüchtlingskinder sekundär einen unsicheren Bindungsstil entwickeln, dann bedeutet dies, dass diese Kinder der besonderen Aufmerksamkeit bedürfen. Sie sind darauf angewiesen, dass eine Beziehung zu ihnen aktiv aufgebaut wird und versucht wird, ihr Vertrauen zu gewinnen. Dies gilt umso mehr, als gerade die Bindungsinterviews zeigen, dass die Flüchtlingskinder aufgrund ihrer psychosozialen Situation kaum die Möglichkeit haben, zu anderen Personen außer ihren Eltern bzw. ihrer Mutter bindungsrelevante Beziehungen zu entwickeln.

12.5 Gesellschaftliche Verleugnungsprozesse im Umgang mit Flüchtlingen Im Forschungsprozess war ich unmittelbar mit den Lebensbedingungen der Flüchtlinge in Deutschland und deren negativen Konsequenzen konfrontiert. Gleichzeitig hatte ich auch Kontakt zu vielen Institutionen und Einzelpersonen, die sich sehr engagiert für Flüchtlinge einsetzen und diese auf vielfältige Art und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

12.5 Gesellschaftliche Verleugnungsprozesse

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Weise unterstützen. In der Darstellung ihrer Lebenssituation in Deutschland (siehe Kapitel 10) beschreiben auch die Flüchtlinge sehr widersprüchliche Erlebnisse. Sie erinnern sich oft an die zunächst sehr herzliche Aufnahme in Deutschland. Vielen war es wichtig, den Raum, den ihnen die Forschungssituation bot, zu nutzen, um ihren Dank dafür auszudrücken. Zugleich leiden alle unter den aufgezwungenen Lebensbedingungen und dem Rückkehrdruck. Positiven Erlebnissen beispielsweise bei Beratungsstellen und Therapeut/-innen stehen Diskriminierungserfahrungen beim Kinderarzt oder bei der Ausländerbehörde gegenüber etc. Wie lässt sich ein solch widersprüchlicher politischer und gesellschaftlicher Umgang mit den Flüchtlingen erklären? Mehrere Gründe scheinen zusammenzukommen: Es existiert insgesamt ein zwiespältiges Verhältnis gegenüber Einwanderungsprozessen, nicht nur gegenüber Flüchtlingen. Zahlreiche politische Äußerungen belegen dies. Über Jahre finden sich dabei auch innerhalb der gleichen politischen Partei sowohl Vertreter, die Deutschland als Einwanderungsland bezeichnen, als auch solche, die dieses heftig bestreiten. Ein ambivalentes Verhältnis gegenüber Migrationsprozessen lässt sich auch in anderen europäischen Ländern beobachten. Einige Länder fanden jedoch sehr viel klarere Regeln im Umgang mit den bosnischen Flüchtlingen, wie etwa Schweden. England und Frankreich nahmen dagegen nur eine marginale Zahl von bosnischen Flüchtlingen überhaupt auf. Darüber hinaus weist der Umgang mit den bosnischen Flüchtlingen in Deutschland jedoch einige Besonderheiten auf, die nahelegen, dass auch gesellschaftliche Verleugnungsprozesse im Umgang mit Traumatisierten eine Rolle spielen. So ist die Widersprüchlichkeit im konkreten politischen Umgang mit den Flüchtlingen auch im europäischen Kontext einzigartig. Nirgendwo findet sich so eine dichte Abfolge von zunächst großzügiger und mit großer Geste versehener Aufnahme und einer anschließend sehr restriktiven und auf Rückkehr abzielenden Politik (siehe Kapitel 2). Hinzu kommt die Ignoranz gegenüber den Empfehlungen des UNHCRs. Auf politischer Ebene wurden der Krieg im ehemaligen Ju© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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goslawien und seine Konsequenzen mit zweierlei Maß gemessen: Außenpolitisch wurde das Massaker von Srebrenica als »schlimmstes Kriegsverbrechen seit 1945« bezeichnet und diente als zentrales Argument für die deutsche Beteiligung am militärischen Eingreifen im Kosovo-Konflikt (Fetscher, 2001). Gleichzeitig waren innenpolitisch Flüchtlinge aus Srebrenica über Jahre von Abschiebung bedroht. Dabei lagen bereits im Herbst 1995 detaillierte Informationen über die Vorkommnisse von Srebrenica vor (Fetscher, 2001) und es wäre vergleichsweise einfach möglich gewesen, die Schutzbedürftigkeit der von dort stammenden Flüchtlinge anzuerkennen. Hierzu gab es Vorlagen, die jedoch nicht zur Orientierung herangezogen wurden, wie etwa die von den USA und Kanada aufgestellten Kriterien für eine Weiterwanderung (siehe Kapitel 2). Bei diesen Kriterien wurde die Anerkennung als Flüchtling ausschließlich an den Tatbestand einer Verfolgungssituation geknüpft, und nicht an etwaige psychische Folgen. Letztere wurden schließlich in Deutschland zum Bleiberechtskriterium, nachdem allerdings trotz der intensiven öffentlichen Diskussion um Traumatisierungen im Zusammenhang mit Flucht und Vertreibung die Traumatisierungen bei den bosnischen Flüchtlingen jahrelang überhaupt nicht und dann auch nur partiell berücksichtigt worden waren. Ich habe beschrieben, wie einige engagierte Institutionen und Verbände schließlich die »Traumaregelung« erwirkten, die sich in ihrer Anwendung jedoch – nicht zuletzt aufgrund des damit entstehenden Problems der Begutachtung – wiederum als äußerst schwierig erwies (siehe Kapitel 2). Bemerkenswert ist dabei, dass in diesem Zusammenhang bereits vorhandenes Wissen zum Umgang mit traumatisierten Personen in administrativen Zusammenhängen ebenfalls nicht angewendet wurde. So war die Erfahrung, wie belastend und fragwürdig Begutachtungssituationen sein können, bereits bei der Umsetzung des Bundesentschädigungsgesetzes in Bezug auf Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung gemacht worden (Henningsen, 2003). Den Überlebenden der nationalsozialistischen Verfolgung wurde schließlich das Begutachtungsverfahren zu Gunsten einer sogenannten »KZ-Vermutung« erspart. War die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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betroffene Person mindestens ein Jahr im KZ gewesen, so reichte dieser Tatbestand aus, um ihr eine Entschädigung zuzugestehen. Diese Regelung wurde allerdings erst 1965 – zwanzig Jahre nach Kriegsende! – getroffen. Ohne die Situation der Verfolgten des Nationalsozialismus mit der der bosnischen Flüchtlinge im Geringsten vergleichen zu wollen, fällt es doch auf, dass diese Erfahrungen nicht zur Orientierung herangezogen wurden. Die beschriebenen Widersprüchlichkeiten und die Ausblendung bereits vorhandenen Wissens können ein Hinweis auf gesellschaftliche Verleugnungsprozesse sein. Angesichts der deutschen Vergangenheit liegt es nahe, anzunehmen, dass sowohl Schuld- und Schamgefühle in Bezug auf die Verbrechen des Nationalsozialismus als auch die nach wie vor sehr schwierige und tabuisierte Auseinandersetzung mit dem Leid der Zivilbevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg die Art und Weise, wie in Deutschland mit verfolgten und traumatisierten Personen umgegangen wird, beeinflussen. Inwiefern im Flüchtlingsbereich konkret aufgrund solcher unbewussten Prozesse gehandelt wird, lässt sich nur anhand einzelner Beispiele ahnen. Hinweise darauf, dass sich sowohl »Deutsche« als auch »Flüchtlinge« in der gegenseitigen Wahrnehmung auf die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands beziehen, finden sich jedoch auch in den geführten Interviews. So fragt eine der von mir interviewten Mütter, nachdem sie mir einige ihrer diskriminierenden Erfahrungen in Deutschland geschildert hat, schließlich: »Warum müssen die Deutschen immer Täter sein?«. Erst im weiteren Gespräch wird deutlich, dass ihr impliziter und unangemessener Vergleich zwischen der Situation der bosnischen Flüchtlinge und der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden während des Nationalsozialismus seinerseits vermutlich eine Reaktion auf eines ihrer Erlebnisse bei der Ausländerbehörde ist. Sie berichtet Folgendes: Als sie wegen der Verlängerung ihrer Aufenthaltsbefugnis, die in ihrem Fall einen rein formalen Akt darstellte, zur Ausländerbehörde ging, forderte der zuständige Sachbearbeiter unangekündigt die erneute Vorlage bereits mehrfach vorgelegter Unterlagen. Sie merkte an, dass sämtliche Unterlagen der Familien gut bekannt seien und sie auf eine erneute Vorlage bei der Terminabsprache nicht hingewiesen worden sei. Nach längerer © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Diskussion suchte der Sachbearbeiter schließlich ihre Akte heraus und las lange darin. Zu der Akte gehören unter anderem ein ausführliches Gutachten über die Traumatisierung der Frau, sowie ein Hinweis darauf, dass die Familie Sozialhilfe bezieht. Sie schildert es als sehr unangenehm, dass der Sachbearbeiter und auch andere Mitarbeiter der Ausländerbehörde einen so genauen Einblick in ihre Lebenssituation haben. Der Sachbearbeiter schloss schließlich die Akte und stellte die Verlängerung der Aufenthaltsbefugnis aus. Er machte dazu jedoch folgende Bemerkung: »Mein Großvater hat den Ersten Weltkrieg mitgemacht, den Zweiten Weltkrieg mitgemacht, und als der aus der Gefangenschaft zurückkam, der hat gar nichts gekriegt!«. Die Frau schildert, wie ihr daraufhin übel wurde und sie sich setzen musste. Die Äußerung des Sachbearbeiters habe sie mehrere Wochen beschäftigt. Vor dem nächsten Termin bei der Ausländerbehörde würde ihr grauen. Solche Beispiele verweisen darauf, dass es, wie die Psychoanalytikerin Franziska Henningsen (2003) annimmt, in der zweiten und dritten Generation nach Ende des Nationalsozialismus zu unbewussten Identifizierungen sowohl mit der Opferals auch mit der Täterseite kommt. In der Bemerkung des Sachbearbeiters zeigt sich, dass insbesondere die Auseinandersetzung mit der Frage, wie mit den Problemen der in den Nationalsozialismus verwickelten Familien umgegangen werden kann, keineswegs abgeschlossen ist. Diese unbearbeiteten emotionalen Prozesse können offensichtlich in der Begegnung mit verfolgten und kriegstraumatisierten Personen aktualisiert werden. Alexander und Margarete Mitscherlich beschrieben bereits 1967 (siehe Kapitel 3), wie die mangelnde Fähigkeit, um die »eigenen« Toten zu trauern, zu einer Abwehr gegenüber »anderen Opfern« führt. Umgekehrt können unbewältigte Schuldgefühle bezüglich des Nationalsozialismus auch dazu führen, dass im Umgang mit Flüchtlingen Helferidentitäten ausgebildet werden (Möller, 2006), die letztlich eine Festschreibung der Flüchtling auf die Opferrolle unbewusst fördern. Auch wenn andere Länder ohne nationalsozialistische Vergangenheit keineswegs eine »flüchtlingsfreundliche« Politik betreiben, bildet die deutsche Vergangenheit sowohl in konkreten © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

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Begegnungen als auch auf politischer Ebene bei der Auseinandersetzung mit Flüchtlingen in Deutschland einen zentralen, zumeist unbewusst wirkenden Bezugspunkt. Erfahrungen mit Verfolgung, Krieg, Folter, Konzentrationslagern, »ethnischen Säuberungen«, Flucht und Exil prägen Gesellschaften über Generationen hinweg. Sie werden in Familien weitergegeben und die Art des Umgangs mit diesen Erlebnissen wird tradiert. Indem Personen, die als Flüchtlinge nach Deutschland kommen, mit problematischen Zuschreibungen von Opfer- und Täteridentitäten sowie Lebensbedingungen, die ihnen kaum eine Möglichkeit bieten, Erlebtes zu verarbeiten, konfrontiert werden, setzen sich solche destruktiven gesellschaftlichen Prozesse fort – in Deutschland und in Bosnien.

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Danksagung

An erster Stelle möchte ich den Interviewteilnehmern, den Kindern und Eltern, für ihre Bereitschaft und Offenheit danken, an der Untersuchung trotz ihrer schwierigen Lebenssituation teilzunehmen und Einblicke in ihre Lebensgeschichten und ihren Familienalltag zu geben. Mein herzlicher Dank gilt Frau Prof. Dr. Leuzinger-Bohleber, die die vorliegende Arbeit betreut und in vielerlei Hinsicht ermöglicht hat. Ihrem Engagement, ihrer Unterstützung und ihrem methodischen und psychoanalytischem Fachwissen verdanke ich sehr viel. Herrn Prof. Dr. Martin Hildebrand-Nilshon danke ich ebenfalls für eine viele Jahre währende Unterstützung meiner wissenschaftlichen Arbeit. Ein besonderer Dank gilt Dr. Birgit Möller für viele anregende Diskussionen. Von ihren Erfahrungen mit Therapien mit Flüchtlingskindern habe ich viel gelernt. Für Forschungssupervision und die Diskussion der Einzelfälle danke ich im Besonderen PD Dr. David Becker, Dr. Eva Reichelt und der Trauma-Arbeitsgruppe des Karl Abraham Institutes Berlin unter Leitung von Dr. Franziska Henningsen. Im Zusammenhang mit der Bindungsforschung bin ich Prof. Dr. Franziska Lamott für wertvolle Hinweise dankbar, ebenso Prof. Dr. Peter Zimmermann, dessen »Bindungsinterview Späte Kindheit« ich verwenden durfte. Für die Übernahme von Interviewdurchführungen und der Auswertung der Bindungsinterviews danke ich Dr. Elisabeth Fremmer-Bombik, Dipl.-Psych. Sue Kellinghaus und Dipl.-Psych. Alisa Zukanovic. Für die Exper© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451267 — ISBN E-Book: 9783647451268

Danksagung

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tinnenvalidierung, Hilfe bei Übersetzungsfragen, die Vermittlung von Kontakten zu Flüchtlingsfamilien und interkulturelle Einblicke danke ich Dipl.-Psych. Mirta Dedic-O’Beirne, Enida Delalic, M. A., und Dr. Sladja Blazan. Dank gilt auch dem Süd-Ost Europa Kultur e. V., Berlin, dem Behandlungszentrum für Folteropfer, Berlin, sowie dem Frauenflüchtlingsheim des Deutschen Roten Kreuzes, Berlin. Die Heinrich Böll Stiftung hat meine Arbeit mit einem Promotionsstipendium finanziell und ideell unterstützt. Das wissenschaftliche Begleitprogramm ermöglichte mir meine Arbeit im interdisziplinären Austausch mit anderen Stipendiat/-innen zu diskutieren. Besonders danke ich in diesem Zusammenhang Prof. Dr. Claudia Steckelberg, Elke Wohlfahrt, Donata KochHaag, Stefanie Rosenmüller, Dr. Isabel Enzenbach, JProf. Dr. Anna Lipphardt, sowie den Mitgliedern der Arbeitsgruppe Migration. Die Durchführung, Übersetzung und Auswertung der Erwachsenenbindungsinterviews konnte dank einer Sachmittelzuwendung der Lotte Köhler Stiftung realisiert werden. Frau Brigitte Keßeler danke ich für sehr zuverlässige Korrekturarbeiten. Die Doktorarbeit hat nicht nur mich, sondern auch meine Familie einige Jahre begleitet. Von ganzem Herzen danke ich meinem Mann Stephan Hoffmann, der mich nicht nur emotional unterstützte, sondern mit seinem kritischen Denken und sprachlicher Präzision immer ein unschätzbarer Begleiter meiner Arbeit war.

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