Transkulturelle Dynamiken: Aktanten - Prozesse - Theorien [1. Aufl.] 9783839425633

The concept of »cross-cultural dynamics« is used in this volume to outline increasing mobility and reciprocal cultural i

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German Pages 376 Year 2014

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Table of contents :
Editorial
INHALT
Einleitung. Transkulturelle Dynamiken – Entwicklungen und Perspektiven eines Konzepts
Historische Quellen, literarische Erzählungen, phantasievolle Konstruktionen. Die vielen Leben der Theodora von Byzanz
Transkulturelle Dynamiken im US-amerikanischen Showbusiness des Gilded Age 1870-1900
Essen als Kulturkontakt. Frühe Expeditionsberichte aus Kanada und Australien
Transkulturelle Erfahrung und Migration in der anglophonen kanadischen Literatur
Neue Deutsche Welle. Über die Produktivität transkultureller Missverständnisse
Amerikanisierung, Glokalisierung, Branding. EuroDisney, 1992
Transkulturalität als ‚Klein-Werden‘ durch Reise, Migration und Translation. Zé do Rocks Fom winde ferfeelt/O erói sem nem um agá
Idiome von Zentrum und Peripherie. Transkulturalität in einer asiatischen Grenzregion
Transkulturelle Dynamiken im TV. Theoretische Perspektiven und Anwendungsfelder am Beispiel von Fernsehserien
Bodytalk. Grenzziehungen und Transkulturalität im Sport
Transkulturalität und Transdifferenz im indigenen Kino in Australien und Neuseeland
Wagner Goes East. Transkulturelle Dimensionen einer deutschen Opernlegende
AUTORINNEN UND AUTOREN
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
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Transkulturelle Dynamiken: Aktanten - Prozesse - Theorien [1. Aufl.]
 9783839425633

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Jutta Ernst, Florian Freitag (Hg.) Transkulturelle Dynamiken

Mainzer Historische Kulturwissenschaften | Band 19

2014-10-28 12-01-34 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03ae380904443142|(S.

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4) TIT2563.p 380904443150

Editorial In der Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften werden Forschungserträge veröffentlicht, welche Methoden und Theorien der Kulturwissenschaften in Verbindung mit empirischer Forschung entwickeln. Zentraler Ansatz ist eine historische Perspektive der Kulturwissenschaften, wobei sowohl Epochen als auch Regionen weit differieren und mitunter übergreifend behandelt werden können. Die Reihe führt unter anderem altertumskundliche, kunst- und bildwissenschaftliche, philosophische, literaturwissenschaftliche und historische Forschungsansätze zusammen und ist für Beiträge zur Geschichte des Wissens, der politischen Kultur, der Geschichte von Wahrnehmungen, Erfahrungen und Lebenswelten sowie anderen historisch-kulturwissenschaftlich orientierten Forschungsfeldern offen. Ziel der Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften ist es, sich zu einer Plattform für wegweisende Arbeiten und aktuelle Diskussionen auf dem Gebiet der Historischen Kulturwissenschaften zu entwickeln. Die Reihe wird herausgegeben vom Koordinationsausschuss des Forschungsschwerpunktes Historische Kulturwissenschaften (HKW) an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

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Jutta Ernst, Florian Freitag (Hg.)

Transkulturelle Dynamiken Aktanten – Prozesse – Theorien

2014-10-28 12-01-34 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03ae380904443142|(S.

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4) TIT2563.p 380904443150

Gedruckt mit Mitteln des Forschungsschwerpunktes Historische Kulturwissenschaften an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

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INHALT

Einleitung. Transkulturelle Dynamiken – Entwicklungen und Perspektiven eines Konzepts.... JUTTA ERNST/FLORIAN FREITAG

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Historische Quellen, literarische Erzählungen, phantasievolle Konstruktionen. Die vielen Leben der Theodora von Byzanz............................................ 31 FILIPPO CARLA Transkulturelle Dynamiken im US-amerikanischen Showbusiness des Gilded Age 1870-1900................. 63 MARGIT PETERFY Essen als Kulturkontakt. Frühe Expeditionsberichte aus Kanada und Australien...... 91 KYLIE CRANE Transkulturelle Erfahrung und Migration in der anglophonen kanadischen Literatur .......................... 119 WALDEMAR ZACHARASIEWICZ Neue Deutsche Welle. Über die Produktivität transkultureller Missverständnisse ............................ 139 BARBARA HORNBERGER

Amerikanisierung, Glokalisierung, Branding. EuroDisney, 1992......................................................... 165 FLORIAN FREITAG Transkulturalität als ‚Klein-Werden‘ durch Reise, Migration und Translation. Zé do Rocks Fom winde ferfeelt/O erói sem nem um agá ...................... 199 CORNELIA SIEBER Idiome von Zentrum und Peripherie. Transkulturalität in einer asiatischen Grenzregion .. 227 GUIDO SPRENGER Transkulturelle Dynamiken im TV. Theoretische Perspektiven und Anwendungsfelder am Beispiel von Fernsehserien....................................................... 255 CHRISTOPH VATTER Bodytalk. Grenzziehungen und Transkulturalität im Sport ........................................................................ 285 ANTJE DRESEN Transkulturalität und Transdifferenz im indigenen Kino in Australien und Neuseeland ........................... 307 KERSTIN KNOPF Wagner Goes East. Transkulturelle Dimensionen einer deutschen Opernlegende .................................. 343 BARBARA MITTLER Autorinnen und Autoren ............................................. 367 Abbildungsverzeichnis ............................................... 371

Einleitung Transkulturelle Dynamiken – Entwicklungen und Perspektiven eines Konzepts JUTTA ERNST/FLORIAN FREITAG „ D ’o ù p e u t b ie n v o u s v e n ir c e tte fix a tio n s u r to u t c e q u i e s t ‚tr a n s ‘? “ 1 In den 1980er und frühen 1990er Jahren erfuhr der Begriff transculturación eine späte Renaissance. Sein Ursprung ist hinreichend bekannt: Im Jahr 1940 veröffentlichte der kubanische Anthropologe Fernando Ortiz das Buch Contrapunteo cubano del tabaco y el azúcar, in dem er sich, ausgehend von den im Titel genannten Agrarprodukten (Tabak und Zucker), mit kolonialen und postkolonialen Migrationsprozessen nach Kuba und deren kulturellen Auswirkungen auf die dortige Gesellschaft beschäftigt. Im zweiten Kapitel des zweiten Teils seines Werks führt Ortiz zur Beschreibung dieser Auswirkungen und als Gegenbegriff zum englischen acculturation, das ihm zufolge einen Prozess kultureller Assimilierung bezeichnet,2 die Wortneuschöpfung „transculturation“ ein. Ortiz schreibt: 1 2

LATOUCHE, 1990, S. 44 („Woher mag es wohl kommen, dass ihr euch auf alles fixiert, was ‚trans‘ ist?“). Vgl. CORONIL, 1995, S. xxvi; SCHMIDT-WELLE, 2006, S. 86. Redfield, Linton und Herskovits dagegen grenzten den Begriff eindeutig von „assimilation“ ab (vgl. REDFIELD/LINTON/HERSKOVITS, 1936, S. 149).

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Jutta Ernst/Florian Freitag I am of the opinion that the word transculturation better expresses the different phases of the process of transition from one culture to another because this does not consist merely in acquiring another culture, which is what the English word acculturation really implies, but the process also necessarily involves the loss or uprooting of a previous culture, which could be defined as a deculturation. In addition it carries the idea of the consequent creation of new cultural phenomena, which could be called neoculturation.3

Von Kuba aus verbreitete sich Ortiz’ Konzept in den 1980er Jahren zunächst in Teilbereiche des amerikanischen Doppelkontinents – genauer: Lateinamerika und (Franko-)Kanada –, bevor es in den frühen 1990er Jahren auch in den USA und in Europa aufgegriffen wurde. Gleichzeitig und damit einhergehend überschritt das Konzept disziplinäre Grenzen und fand insbesondere in die Literatur- und Kulturwissenschaften Eingang. Ortiz selbst hatte zunächst versucht, sein Konzept in der amerikanischen Anthropologie zu etablieren. Contrapunteo cubano erschien, auf Bitten Ortiz’, mit einem Vorwort des zu dieser Zeit an der Yale University tätigen, renommierten Anthropologen Bronislaw Malinowski, der darin nicht nur seine völlige Übereinstimmung mit Ortiz und dessen Konzept von „transculturation“ zum Ausdruck brachte,4 sondern auch versprach, den Begriff fortan in seinen eigenen Publikationen zu verwenden.5 Zwar vermochte Malinowski sein Versprechen – nicht zuletzt aufgrund seines Todes im Jahr 1942 – lediglich zweimal einzulösen,6 doch gilt er seither, wie das Oxford English Dictionary mit Verweis auf seinen Essay „A Scientific Theory of Culture“ (1941) feststellt, als derjenige, der Ortiz’ Begriff in das Englische eingeführt hat.7 Im Jahr 1982 veröffentlichte der uruguayische Romanist Ángel Rama seine Studie Transculturación narrativa en América latina (2012 in englischer Übersetzung erschienen). Darin überträgt Rama Ortiz’ Konzept auf die Literaturwissenschaft und wendet es speziell auf die lateinamerikanische Literatur an, womit er zum einen Ortiz’ Behauptung 3 4 5 6 7

8

ORTIZ, 1995, S. 102f. Vgl. MALINOWSKI, 1995, S. lx. EBD., S. lvii. Vgl. CORONIL, 1995, S. x. Vgl. GERNALZICK/PISARZ-RAMIREZ, 2013, S. xiiif.

Einleitung

bestätigt, „transculturation“ gelte nicht nur für Kuba, sondern für „America in general“.8 Zum anderen modifiziert und konkretisiert Rama jedoch auch Ortiz’ Modell, indem er die Selektivität und Kreativität betont, mit der sich die Kontaktkulturen – insbesondere die lokale ‚Empfängerkultur‘ – Elemente der jeweils anderen Kultur im Prozess der „neoculturation“ versatzstückartig aneignen bzw. eigene Traditionen wieder neu entdecken.9 Nur ein Jahr später erschien in Montreal die erste Ausgabe der trilingualen, von vier Italienern und Italokanadiern gegründeten literaturund kulturkritischen Zeitschrift Vice Versa mit dem Untertitel „Revue transculturelle“. In Sous le signe du phénix (1985) definiert einer der Mitbegründer von Vice Versa, Lamberto Tassinari, den Begriff in scharfer Abgrenzung zu ‚Interkulturalismus‘ und dem in Kanada seit 1971 offiziell praktizierten (und seit 1988 gesetzlich verankerten) ‚Multikulturalismus‘: Le terme transculturel a une dimension politique car ce mot implique la traversée d’une seule culture en même temps que son dépassement. L’unité qu’il sous-tend n’a pas la même résonance que celle qu’évoquent les termes „inter-culturel“ ou „multiculturel“. Ceux-ci définissent un ensemble et le circonscrivent dans un espace et un temps, alors que le transculturel ne possède pas de périmètre. C’est le passage et l’implication totale à travers et au-delà des cultures.10 (Der Begriff transculturel hat eine politische Dimension, denn dieses Wort impliziert zugleich das Durchqueren einer einzigen Kultur und ein Darüberhinaus-Gehen. Die ihm zugrunde liegende Einheit klingt anders als diejenige, die die Termini „inter-culturel“ oder „multiculturel“ evozieren. Diese bezeichnen ein Ganzes und fixieren es in Raum und Zeit, während das Transkulturelle keine Grenzen kennt. Es meint den Übergang und die totale Vernetzung jenseits der Kulturen und durch sie hindurch.)

Auf den den konkurrierenden Konzepten hier unterstellten Essentialismus sowie auf die generelle Abgrenzung von Trans- zu Inter- und Multikulturalismus wird im Folgenden noch einzugehen sein. Wichtig ist 8 ORTIZ, 1995, S. 103. 9 Vgl. RAMA, 2012, S. 22f. 10 CACCIA, 1985, S. 299.

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zunächst, dass die Konzeptionalisierung von ‚transkulturell‘ hier in einem genuin kanadischen Kontext erfolgt; eine Verbindung zu Ortiz stellt Vice Versa erst 1987 mit Jean Lamores Beitrag „Transculturation. Naissance d’un mot“ her.11 Im Québec der 1980er Jahre konnte Vice Versa und der transkulturelle Ansatz der Zeitschrift, wie Walter Moser anmerkt, als eine offene Provokation gegenüber den fortdauernden Bemühungen der québecer Nationalisten um eine kollektive Identität der frankophonen Provinz angesehen werden, worin Moser auch den Grund für den verhaltenen, geradezu feindseligen Empfang sieht,12 der Vice Versa in Québec zuteil wurde (die Zeitschrift wurde 1996 eingestellt). Als weitaus anschlussfähiger an das Paradigma der québécité erwies sich dagegen der ‚transculture‘-Begriff, den der québecer Literaturwissenschaftler Pierre Nepveu 1989 entwickelte. Denn Nepveu sieht ‚transculture‘ als ein ureigenes Charakteristikum der québecer Literatur, das sowohl in modernen Texten von nach Québec immigrierten Schriftstellern (wie etwa Marco Micone order Régine Robin) wie auch bei ‚klassischen‘ québecer Autoren (z. B. Emile Nelligan, Alain Grandbois und Hector de Saint-Denys Garneau) zu Tage trete. So konstruiert Nepveu eine „québécité elle-même déjà transculturelle“ („in sich bereits transkulturelle Québecität“),13 was wiederum Moser dazu veranlasst, im Falle von Nepveu von einer Zähmung des Konzepts zu sprechen.14 In den frühen 1990er Jahren tauchte der Begriff ‚Transkulturation‘ bzw. ‚Transkulturalität‘ dann auch in US-amerikanischen und europäischen Publikationen auf. In den USA war es wiederum eine Romanistin, die Ortiz’ Konzept aufgriff. In ihrem bahnbrechenden Werk Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation (1992) definiert Mary Louise Pratt – mit Verweis sowohl auf Ortiz als auch auf Rama15 – „transculturation“ als ein Phänomen der „contact zone“, des Kulturkontaktraums, in dem verschiedene Kulturen unter oftmals asymmetrischen

11 Vgl. MOSER, 2010, S. 48. 12 Vgl. EBD. 13 NEPVEU, 1989, S. 27. Im Jahr 1991 wurde der Begriff ‚transcultural‘ von Janice Kulyk Keefer dann auch im Kontext anglokanadischer Literatur verwendet (vgl. KEEFER, 1991; ZACHARASIEWICZ, im vorliegenden Band). 14 MOSER, 2010, S. 56. 15 PRATT, 1992, S. 228, Fn. 4.

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Einleitung

Machtstrukturen (wie etwa im Kolonialismus und der Sklaverei) aufeinandertreffen:16 Ethnographers have used this term [transculturation] to describe how subordinated or marginal groups select and invent from materials transmitted to them by a dominant or metropolitan culture. While subjugated peoples cannot readily control what emanates from the dominant culture, they do determine to varying extents what they absorb into their own, and what they use it for.17

Obwohl sie dies selbst in ihrer Studie nicht weiter verfolgt, stellt Pratt in Imperial Eyes auch die Frage nach transkulturellen Prozessen, die in die entgegengesetzte Richtung laufen. So konstatiert sie etwa eine gewisse „Blindheit“ der kulturellen und politischen Zentren gegenüber „the ways in which the periphery determines the metropolis“ und fragt: „[H]ow does one speak of transculturation from the colonies to the metropolis?“18 Diese Forschungsfrage wurde indirekt in europäischen Ansätzen zur ‚Transkulturation‘ bzw. ‚Transkulturalität‘ aufgenommen. Der deutsche Philosoph Wolfgang Welsch veröffentlichte im Jahr 1992 seinen Aufsatz „Transkulturalität. Lebensformen nach der Auflösung der Kulturen“, in dem er im Gegensatz zu Pratt nicht zwischen ‚Metropole‘ und ‚Peripherie‘ unterscheidet, sondern Transkulturalität als ein generelles Merkmal heutiger Gesellschaften postuliert. Welsch sieht Transkulturalität sowohl als Resultat innerer Pluralisierung sowie ‚äußerer‘ Einflüsse infolge von Migrationsprozessen und technologischen Entwicklungen19 – in scharfer Abgrenzung von traditionellen, sich voneinander absetzenden, auf das ‚Volk‘ als Kulturträger rekurrierenden und homogenisierenden Kulturkonzepten,20 sowie in scharfer Abgrenzung von den laut Welsch auf diesen Kulturkonzepten basierenden Modellen von Interkulturalität und Multikulturalismus.21 Hieraus schließt Welsch, „daß wir uns jenseits der klassischen Kulturverfassung befinden; und 16 17 18 19 20 21

EBD., S. 4. EBD., S. 6. EBD.; vgl. STEIN, 2009, S. 256. WELSCH, 1992, S. 11f. Vgl. EBD., S. 6. EBD., S. 5 und S. 14.

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daß die neuen Kultur- und Lebensformen durch diese alten Formationen wie selbstverständlich hindurchgehen“.22 Auf den Beitrag von 1992 folgten zahlreiche weitere Publikationen, in denen Welsch sein Konzept fortschrieb und auf Kritik reagierte;23 ab 1996 dann auch in englischer Sprache.24 Im Jahr 1996 erschien auch Transnational Connections. Culture, People, Places des schwedischen Anthropologen Ulf Hannerz, auf dessen Arbeiten Welsch erstmals 1999 verweist.25 Wie Welsch fokussiert Hannerz auf gegenwärtige Gesellschaften, wendet sich gegen territorial gebundene Kulturkonzepte und macht Verflechtungsphänomene sowohl in ‚Metropolen‘ wie auch in der ‚Peripherie‘ aus.26 Diese Verflechtungen beschreibt Hannerz mit einer Vielzahl von Begriffen – darunter „transnational connections“ und „creolization“,27 von denen auch hier noch die Rede sein wird –, aber eben auch mit der Wendung „transcultural dynamics“,28 die wir für den Titel des vorliegenden Bandes gewählt haben. Nach dieser kurzen Skizze der transdisziplinären und transkontinentalen Verbreitung und Entwicklung des ursprünglich von Ortiz geprägten Konzepts wird im Folgenden vor allem auf einige seiner generellen Charakteristika und seine Einbettung in das weite Feld der ‚TransBegriffe‘ und verwandter Termini einzugehen sein, bevor wir schließlich einen Ausblick auf die Beiträge dieses Bandes geben werden.

„ W a s i s t e i g e n t l i c h T r a n s k u l t u r a l i t ä t ? “ 29 In ihrem Beitrag zum Band Amériques transculturelles (2010) identifiziert Afef Benessaieh vor allem zwei unterschiedliche Verwendungen des Begriffs ‚Transkulturalität‘ in der jüngeren Forschungsliteratur, die 22 EBD., S. 5. 23 Vgl. z. B. WELSCH, 1994; DERS., 1995; DERS., 2000; DERS., 2005; DERS., 2009; DERS., 2010; DERS., 2012. 24 Vgl. DERS., 1996; DERS., 1999. 25 Vgl. DERS., 1999, S. 208, Fn. 25. Ein Verweis auf Ortiz erfolgt bei Welsch dagegen erst im Jahr 2010 (vgl. DERS., 2010, S. 60, Fn. 18). 26 Vgl. HANNERZ, 1996, S. 19 und S. 22. 27 Vgl. EBD., S. 4, S. 7 und S. 66. 28 Vgl. EBD., S. 76. 29 WELSCH, 2010, S. 39.

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Einleitung

sie unter den Stichworten „cross-cultural competence“ und „plural sense of self“ zusammenfasst.30 Diese zwei Begriffskonnotationen lassen sich den beiden unterschiedlichen Bedeutungen zuweisen, die das Präfix ‚trans-‘ im Lateinischen hat: einerseits Transkulturalität im Sinne von jenseits spezifischer Kulturen anzusiedelnden Praktiken und Konstanten („cross-cultural competence“); andererseits Transkulturalität im Sinne von durch die Kultur(en) hindurchgehenden Beziehungen und Netzwerken, die Individuen oder auch Gruppen eingehen bzw. aufbauen können („plural sense of self“).31 Auf die Doppeldeutigkeit des Präfixes und die sich daraus ergebende Janusköpfigkeit des Begriffs ‚Transkulturalität‘ bzw. ‚Transkulturation‘ haben verschiedene Autoren hingewiesen.32 Auch wenn er vor allem in seinen jüngeren Publikationen verstärkt auf genetisch bedingte, präkulturelle und quasi universelle menschliche Gemeinsamkeiten abhebt,33 reklamierte Welsch von Beginn an beide Bedeutungen von ‚trans-‘ für sein Transkulturalitätskonzept.34 Die anderen eingangs genannten Autoren gehen dagegen vor allem auf kulturelle Grenzüberschreitungen und Durchdringungen ein, die in der Bedeutung von ‚trans-‘ als ‚durch ... hindurch‘ zum Ausdruck kommen. Allen gemeinsam und eindeutig scheint jedoch der Bezug von ‚Kultur‘ in ‚Transkulturalität‘ bzw. ‚Transkulturation‘ auf einen ethnisch fundierten, nach innen homogenisierenden und nach außen abgegrenzten Kulturbegriff, wie ihn Welsch auf Herder zurückführt.35 Angesichts von vor allem in der postmodernen Welt auftretenden Phänomenen wie Massenmigration und der – durch technische Innovationen beförderten – Zirkulation von Waren, Zeichen und Informationen scheint ein solches ‚geschlossenes‘ Kulturkonzept nicht (mehr) haltbar. Dennoch gilt es zu bedenken, dass „das Überwundene stets Teil des Überwindens bleibt“ und dass Begriffe wie ‚Transkulturalität‘ oder ‚Transkulturation‘ 30 BENESSAIEH, 2010, S. 21. 31 Die dritte Verwendung, die Benessaieh ausmacht und die sie unter dem Stichwort „identitary continuum“ zusammenfasst, lässt sich je nach Perspektive beiden Bedeutungen des Präfixes zuordnen (vgl. EBD., S. 23-25). 32 Vgl. z. B. WELSCH, 1992, S. 5; PENNYCOOK, 2007, S. 6; HÜHN u. a., 2010, S. 18. 33 Vgl. WELSCH 2009, S. 12-27; DERS., 2010, S. 62f. 34 Vgl. DERS., 1992, S. 5. 35 Vgl. DERS., 2005, S. 41.

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„möglicherweise eine gleichzeitige Überwindung und Rückbindung an ihren Wortstamm“ – hier ‚Kultur‘ im Herder’schen Sinne – implizieren.36 Welsch etwa sieht sich genötigt, seinen Rekurs auf den Begriff der Kultur zu verteidigen und verweist dabei auf den prozessualen Charakter seiner „Transkulturalität“.37 Und Heinz Antor macht bei Ortiz und Rama gar einen ‚Rückfall‘ in homogene Kulturkonzepte aus: Sowohl Ortiz wie auch Rama fassen [...] den Transkulturationsbegriff als Bewegung von einer Kultur in die andere auf und befinden sich durch ihren Rekurs auf die Vorstellung einer einheitlichen lateinamerikanischen Kultur im inneren Widerspruch zu ihren eigenen theoretischen Modellen, wie etwa Ortiz’ Konzept kultureller mestizaje belegt.38

Ein solches Festhalten an einem ‚geschlossenen‘ Kulturkonzept stellt auch den Kern von Welschs Kritik an den Modellen von Interkulturalität und Multikulturalismus dar.39 Gegen diese Kritik hat sich insbesondere seitens der Interkulturalitätsforschung Widerstand geregt. Einerseits wurde kritisch angemerkt, dass Welschs Definition von Interkulturalität zu eng gefasst sei. So schreibt etwa Antor, dass Welschs Definition nicht „der Praxis heutiger Interkulturalitätsforschung“ entspreche, die keineswegs von einer „grundlegende[n] Oppositionalität von Kulturen“ ausgehe.40 Dies gilt Werner Delanoy und Luisa Conti zufolge vor allem für interkulturelle Lerntheorien und prozessorientierte Fassungen von Interkulturalität, die beide transkulturelle Züge tragen.41 Andererseits wurde betont, dass – und dies steht durchaus im Einklang mit Welschs Auffassung von Transkulturalität als einem fortlaufenden Prozess, wie noch zu zeigen sein wird – „die gesellschaftliche Praxis in vielen Teilen der Welt“ heute und in absehbarer Zukunft von einer „Gleichzeitigkeit des ‚Inter-‘ und ‚Transkulturellen‘“ geprägt sei bzw.

36 Vgl. MCPHERSON, 2007, S. 19f.; HÜHN u. a., 2010, S. 18 und S. 39. 37 Vgl. WELSCH, 1999, S. 208, Fn. 26. 38 ANTOR, 2006a, S. 15; vgl. auch SCHMIDT-WELLE, 2006, S. 88; SCHRADERKNIFFKI/SANDTEN, 2007, S. 3; STEIN, 2009, S. 255; HELFF, 2012, S. 194; GERNALZICK/PISARZ-RAMIREZ, 2013, S. xv. 39 Vgl. WELSCH, 1992, S. 5 und S. 14. 40 ANTOR, 2006b, S. 29. 41 Vgl. DELANOY, 2011, S. 281f.; CONTI, 2010, S. 182.

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Einleitung

sein werde.42 Hierzu hat Conti für die Praxis die folgende Differenzierung vorgeschlagen: Solange sich Individuen als zugehörig zu klar definierbaren, untereinander abgegrenzten Kulturen wahrnehmen und mit der Intention interagieren, sich einer anderen Kultur anzunähern, behält der Begriff der Interkulturalität auch weiterhin seine Berechtigung. Von Transkulturalität hingegen sollte gesprochen werden, wenn sich die Akteure ihrer multiplen kulturellen Zugehörigkeiten bewusst sind, dadurch in der Interaktion bewusst eine neue Kommunikationskultur mit eigenem Sinnund Bedeutungsgehalt schaffen und deren Potential erkennen.43

Neben dem Präfix und dem Wortstamm müssen auch noch die Suffixe von ‚Transkulturation‘ und ‚Transkulturalität‘ und ihre Konnotationen beleuchtet werden. Im Einklang mit der sprachlichen Intuition, nach der ‚-tät‘ eher einen Zustand, ‚-tion‘ eher einen Prozess impliziert, stellt etwa Koch fest: „Transkulturalität als ein Merkmal kultureller Verfasstheit bei Welsch steht dem prozessorientierten Kulturverständnis bei Ortiz gegenüber, schon ausgedrückt in der Bezeichnung ‚transculturación‘ – nicht Transkulturalität.“44 In der Tat mag bei Ortiz am Ende der Transkulturation zwar eine homogene Kultur stehen, doch bezeichnet sein Begriff eindeutig einen Prozess,45 der, wie Stein behauptet, sich darüber hinaus auch ständig wiederholt: „The outcome [of transculturation] is the fusion of old and new cultural elements into a coherent body. However, this is not conceived of [by Ortiz] as a process that is then over and done with, but one that continues with each new generation.“46 Welsch dagegen spricht von Transkulturalität nicht nur als einer „transition“,47 sondern begreift sie ebenfalls als fortlaufenden Prozess immer neuer kultureller Verflechtungen,48 so dass eine klare Unterscheidung zwischen ‚Transkulturation‘ als Prozess- und ‚Trans-

42 43 44 45 46 47 48

SCHULZE-ENGLER, 2006, S. 47. CONTI, 2010, S. 186. KOCH, 2011, S. 238. Vgl. GERNALZICK/PISARZ-RAMIREZ, 2013, S. xv. STEIN, 2009, S. 255. WELSCH, 1999, S. 208, Fn. 26. Vgl. EBD.

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kulturalität‘ als Zustandsbeschreibung, wie Koch sie vorschlägt, zu rigide erscheint. Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal zwischen ‚Transkulturation‘ und ‚Transkulturalität‘ könnte die Frage nach dem Macht- und Kräfteverhältnis der beteiligten Gruppen respektive Individuen und dessen Konsequenzen für transkulturelle Prozesse darstellen. Moser etwa macht die besondere Bedeutung von Ortiz’ Konzept gerade daran fest, dass es auch bei einem asymmetrischen Kräfteverhältnis allen beteiligten Kulturen, und insbesondere der kräftemäßig unterlegenen, eine schöpferische und aktive Rolle zuschreibt.49 Dieser Gedanke findet sich auch bei Pratt wieder, und zwar sowohl in ihrer Definition von „transculturation“ wie auch in ihrer Beschreibung der „contact zone“, dem sozialen Ort, als dessen Phänomen sie „transculturation“ beschreibt.50 Melanie Hühn u. a. weisen dagegen darauf hin, dass Begriffe wie ‚Transkulturation‘ bzw. ‚Transkulturalität‘, wenn sie sich auf etwas „Übergreifendes, Verbindendes oder Generierendes“ beziehen – ‚trans-‘ also im Sinne von ‚jenseits‘ verwenden –, die beteiligten Kulturen „häufig als implizit gleichwertig und -berechtigt“ postulieren.51 Wie verhält sich dies nun bei Welsch und seinem Transkulturalitätskonzept? Insbesondere in seinen frühen Publikationen lässt Welsch die Machtfrage weitgehend unbeleuchtet und schreibt sogar: „Die Individuen können über ihre Zugehörigkeit [zu einer bestimmten Kultur bzw. einem bestimmten transkulturellen Netzwerk] selbst entscheiden.“52 In „Was ist eigentlich Transkulturalität?“ (2010) jedoch stellt er mit explizitem Verweis auf „kapitalistische Ökonomie“ und den „Druck politischer Herrschaft und Unterdrückung“ fest: Natürlich spielt sich der Übergang zu Transkulturalität nicht in einem machtfreien Raum ab. [...] Es ist keineswegs so, dass die Individuen die Elemente ihres Identitätsfächers gleichsam frei wählen und zusammenstellen könnten. Sie unterliegen vielmehr mannigfachen Einschränkungen und äußerem Druck.53

49 50 51 52 53

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Vgl. MOSER, 2010, S. 38. Vgl. PRATT, 1992, S. 4 und S. 6. Vgl. HÜHN u. a., 2010, S. 33. WELSCH, 2000, S. 350. DERS., 2010, S. 53.

Einleitung

Daraus folgert Welsch: „Es ist also vielfach Machtdisparitäten geschuldet, wenn die Identitäten heutiger Menschen – der Armen wie der Reichen – zunehmend transkulturell werden.“54 Gleichzeitig betont Welsch aber auch, dass „eine Begrenzung der Optionen“ für jeden bestehe,55 weshalb er auch eine zu starke Betonung der Machtfrage kritisiert: [V]ollends sophistisch verfahren diejenigen, die allenthalben böse und unterdrückende Machtstrukturen aufspüren und dabei völlig übersehen, dass ihre eigene Machtanalyse selbst ein Akt von Diskursmacht ist – dass sie selbst, während sie sich für neutrale und gutmeinende Beobachter halten, de facto Machtagenten und Machtprofiteure sind.56

Welschs ‚Transkulturalität‘ kann hier somit als eine ‚Transkulturation‘ mit erweitertem Geltungsbereich angesehen werden, die Machtdisparitäten nicht vernachlässigt, aber eben aufgrund des erweiterten Geltungsbereichs, der sich nicht mehr nur auf (post-)koloniale Situationen beschränkt, vielfältigere Relationen in Betracht nehmen muss. Abschließend müssen auch noch Aspekte von Zeit und Zeitlichkeit, genauer: die Frage nach der Historizität von Transkulturalität bzw. Transkulturation, sowie das Problemfeld von Diachronie und Synchronie kurz diskutiert werden. Auch wenn er von Transkulturalität insbesondere im Zusammenhang mit „heutigen kulturellen Formationen“ spricht,57 stellt Welsch auch klar, dass „eine Beschreibung der Kulturen im Sinn von Transkulturalität [...] schon in geschichtlicher Perspektive geboten“ sei.58 Transkulturalität ist demnach nicht als direkte Folge bereits genannter Phänomene der postmodernen Welt wie Massenmigration und der Zirkulation von Waren und Informationen anzusehen; diese haben die Herausbildung transkultureller Dynamiken bestenfalls beschleunigt. Und während die bisher genannten Autoren Transkulturalität respektive Transkulturation ausschließlich aus synchroner Perspektive betrachten (sich also auf kulturelle Grenzüberschreitungen und Durchdringungen zu einem bestimmten Zeitpunkt oder in einer be54 55 56 57 58

DERS., 2012, S. 36. DERS., 2010, S. 53. EBD., S. 54. DERS., 1994, S. 84. EBD., S. 92.

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stimmten Zeitperiode konzentrieren), gibt es durchaus Forscher, die auch die diachrone Perspektive berücksichtigen (die also kulturelle und zeitliche Grenzüberschreitungen und Durchdringungen miteinander kombinieren). So hatte sich etwa die Groupe d’études et de recherches sur l’innovation transculturelle Mitte der 1990er Jahre an der Pariser Université VIII unter der Leitung von Hélène Gantier zum Ziel gesetzt, „d[e] [...] montrer la perspective diachronique et la perspective synchronique [de la transculturalité]. Il s’agit du passage de courants culturels au travers des siècles mais aussi au travers des différentes cultures à une époque donnée“ („die diachrone und synchrone Perspektive [der Transkulturalität] aufzuzeigen. Es geht um die kulturellen Strömungen durch die Jahrhunderte, aber auch durch verschiedene Kulturen zu einer bestimmten Epoche“).59

Jenseits von Transkulturalität Etwa zur selben Zeit, als auch Ortiz’ Konzept der „transculturación“ eine Renaissance erlebte, kamen im theoretischen und kritischen Diskurs eine ganze Reihe weiterer Begriffe und Konzepte auf, die ebenfalls (kulturelle, soziale, politische, geographische) Grenzüberschreitungen und Durchdringungen thematisieren. Hierbei handelt es sich neben weiteren „Trans-Begriffen“60 wie transnational, translokal, transareal, transmigrant, transdifferent, transmedial und transversal – Hühn u. a. sprechen von einer „‚Transifizierung‘ der Wissenschaften“61 – vor allem um metaphorische Entlehnungen aus Linguistik und Biologie, z. B. creolization/créolité, Hybridität und mestizaje/métissage, sowie um Begriffe wie Anthropophagie, Heterogenität, Kontaktzone und border thinking.62 Allein aus Platzgründen kann es hier nicht darum gehen, diese einzelnen Konzepte und Begriffe genauer zu erläutern und sie von ‚Transkulturalität‘ und ‚Transkulturation‘ kritisch abzugrenzen (sofern 59 60 61 62

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N. N., 2014. HÜHN u. a., 2010, S. 12; GERNALZICK/PISARZ-RAMIREZ, 2013, S. xvii. HÜHN u. a., 2010, S. 12f. Vgl. SCHRADER-KNIFFKI/SANDTEN, 2007, S. 1; GERNALZICK/PISARZ-RAMIREZ, 2013, S. xv.

Einleitung

dies im Einzelfall überhaupt möglich sein sollte). Stattdessen möchten wir uns im Folgenden auf einige Konzepte konzentrieren, die von der Forschung bislang vergleichsweise vernachlässigt worden sind. Antor hat bereits 2006 darauf hingewiesen, dass vor allem lateinamerikanische und karibische Konzepte „aufgrund ihrer frankophonen bzw. hispanophonen Herkunft noch nicht die ihnen gebührende Beachtung gefunden haben“.63 Dazu zählt insbesondere die „Poetik der Relation“ des frankokaribischen Schriftstellers und Philosophen Edouard Glissant (1990). Aber auch die Ausführungen des Potsdamer Romanisten Ottmar Ette zu „Literatur in Bewegung“ (2001) und das Konzept des „culture sampling“ des amerikanischen Anthropologen Scott A. Lukas (2013) sollen hier genauer beleuchtet werden. Ausgehend von dem Sprachen-, Kulturen- und Ethniengemisch in seiner Heimat, den französischen Antillen, entwirft Edouard Glissant in Poétique de la relation (1990) unter Rückgriff auf Gilles Deleuze und Félix Guattari und deren Konzept des ‚Rhizoms‘ ein Kulturkonzept, demzufolge jegliche Identität in einer Beziehung zu einem Anderen steht.64 Allen Versuchen, sich in diesem dynamischen Identitätsnetz auf fixe Bezugspunkte und kulturelle Genealogien zu berufen, wird damit von vornherein eine klare Absage erteilt: Was die ‚Herkunft‘ betrifft, setzt Glissant etwa statt einer „identité-racine“ („verwurzelte Identität“) eine „identité-relation“ („relationale Identität“). Während Erstere in Glissants Beschreibung stark an den territorial fixierten, nach innen homogenisierenden und sich nach außen abgrenzenden Kulturbegriff Herders erinnert, gegen den sich auch Welsch wendet,65 steht Letztere für das in sich selbst stets Hybride und Diverse: „L’identité-relation – est liée [...] au vécu conscient et contradictoire des contacts de cultures“ („Die relationale Identität ist [...] mit dem bewussten und widersprüchlichen Erleben von Kulturkontakten verbunden“).66 Auch ein ‚Ziel‘ oder ‚Endpunkt‘ ist nicht auszumachen: Anstelle einer einheitlichen créolité, wie sie die wie Glissant ebenfalls aus Martinique stammenden Schriftsteller Jean Bernabé, Patrick Chamoiseau und Raphaël Confiant in ihrem Manifest Eloge de la créolité (1989) proklamierten,67 setzt 63 64 65 66 67

ANTOR, 2006a, S. 10f. Vgl. GLISSANT, 1990, S. 23. Vgl. EBD., S. 157f. EBD., S. 158. Vgl. ETTE, 2001, S. 532f.

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Glissant auf einen Prozess permanenter créolisation.68 Statt in einer Ära stabiler kultureller Klassizismen befinden wir uns, so Glissant, in einer barocken Epoche allgegenwärtiger Differenzen und unaufhaltsamer Vermischungen.69 Mit seinem prozessualen, ‚klassische‘ Kulturgrenzen überwindenden Begriff der „Relation“ schafft Glissant ein Konzept, das Gisela Febel zu Recht als „genuin transkulturell“ beschrieben hat.70 Dabei spielt es letztlich keine Rolle mehr, dass die Vielzahl an Querbezügen in diesem „chaos-monde“ („Chaoswelt“) der Relation nicht mehr nachzuvollziehen ist:71 „Ne pas savoir cette totalité ne constitue pas une infirmité. Ne pas désirer la savoir, assurément“ („Diese Gesamtheit nicht zu kennen, ist nicht schlimm. Sie nicht kennen zu wollen, sehr wohl“).72 Glissants Konzept wurde u. a. von dem deutschen Romanisten Ottmar Ette in dessen Studie Literatur in Bewegung. Raum und Dynamik grenzüberschreitenden Schreibens in Europa und Amerika (2001) aufgegriffen. Literaturen, so Ette, seien verstärkt jenseits nationalstaatlicher, territorialer und kultureller Räume zu denken; vermehrt fänden sich „[m]obile Grenztexte“,73 „Literaturen ohne festen Wohnsitz“.74 Es läge ein positiv zu bewertendes „transkulturelles Durcheinander“ vor, „in dem sich die verschiedenen Kulturen wechselseitig durchdringen und verändern“.75 Die rhizomatisch verflochtenen kulturellen Konstellationen unterliegen also zugleich einem zeitlichen Wandel,76 wodurch sich ihr dynamisches Potential merklich erhöht. Diese Neukonzeption von Literatur und Kultur hat weitreichende Konsequenzen für einen weiteren Schlüsselbegriff der Kulturtheorie, den der ‚Identität‘. In Weiterführung und Radikalisierung von Glissants relationalem Identitätsbe-

68 69 70 71 72 73 74 75 76

20

Vgl. FEBEL, 2006, S. 75. Vgl. GLISSANT, 1990, S. 105f. FEBEL, 2006, S. 76. GLISSANT, 1990, S. 108f. EBD., S. 168. Bronfen und Marius sehen in „Techniken der collage, des samplings, des Bastelns“ einen der Ursprünge für hybride Kulturen (BRONFEN/MARIUS, 1997, S. 14). ETTE, 2001, S. 102. EBD., S. 17. EBD., S. 13. EBD., S. 318.

Einleitung

griff77 erwägt Ette einen vollständigen Verzicht auf diese Kategorie, bezweifelt er doch ihren Nutzen „für die begriffliche Erfassung und Durchleuchtung eines komplex und multifokal, dynamisch und paradoxal ablaufenden Konstitutierungsprozesses“,78 der bar jeglicher Verknüpfung mit etwas ‚Eigenem‘ als originär transkulturell gelten muss.79 An die Stelle einer Rückbindung an identitätsstiftende Räume oder Genealogien treten performative Aspekte und „transitorische Figurationen“,80 wie Ette sie beispielhaft an dem Roman Traversée de la mangrove (1989) der aus Guadeloupe stammenden Schriftstellerin Maryse Condé aufzeigt. Die Paradoxien erlaubende, Differenz nicht reduzierende oder durch Fusion aufhebende Verfasstheit des Textes – „gleichzeitig genealogisch und multifokal“, „Baum und Rhizom“ – werde durch die titelgebende Mangrove versinnbildlicht.81 Deren Logik kann letztlich als Ettes Beitrag zur transkulturellen Theoriebildung verstanden werden. Mit dem Konzept des „culture sampling“ kehren wir abschließend in jene Disziplin zurück, aus der transculturation ursprünglich stammt: die Anthropologie. Im Jahr 2013 veröffentlichte der amerikanische Anthropologe Scott A. Lukas einen Essay, in dem er „culture sampling“ als „the tendency to draw on (or sample) a culture for the purpose of recreating or remixing that culture, or numerous variations of it, in another place“ definiert.82 Der Begriff bezeichnet somit eine kulturelle Technik oder Praktik, in der kulturelle Grenzen bewusst überschritten und durchdrungen werden, und zwar sowohl im kommerziellen wie auch im privaten Bereich: Als Beispiele für Gebiete, in denen „culture sampling“ zur Anwendung kommt, nennt Lukas etwa Themenparks und thematisierte Orte, wozu auch ‚persönliche‘ Orte wie die eigene Wohnung zählen.83 Kulturelle Durchmischungen stellen für Lukas also immer das Resultat eines bewussten Gestaltungsaktes dar, wohingegen er „culture sampling“ nicht auf die Ebene der individuellen bzw. der Gruppeniden77 78 79 80 81 82 83

Vgl. GLISSANT, 1990, S. 158. ETTE, 2001, 474f. und S. 505f. EBD., S. 506. EBD. EBD., S. 534-537. LUKAS, 2013, S. 12. Vgl. EBD., S. 7 und S. 9.

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tität bezieht. Lukas ist sich jedoch der Machtdisparitäten bewusst, denen „culture sampling“ unterliegt, verortet er doch die Ursprünge dieser Technik u. a. in den „cultural exploration[s]“ der Frühen Neuzeit.84 Auch ist Lukas’ Verwendung des Begriffs Kultur weniger essentialistisch, als es zunächst den Anschein haben mag: Nicht nur weist er auf das zunehmende Verschwimmen der Grenze zwischen ‚Original‘ und ‚Kopie‘ hin, das sich durch „culture sampling“ ergibt, er zeigt auch am Beispiel des „Tiki“-Stils, wie durch „culture sampling“ neue „subcultures“ oder transkulturelle Netzwerke zwischen Individuen entstehen können.85 Interessant ist sein Ansatz überdies insofern, als er sowohl diachrone wie synchrone Grenzüberschreitungen impliziert: Ein weiteres Beispiel für „culture sampling“ stellen Lukas zufolge „forms of historical reconstruction“ wie etwa sogenannte „reenactments“ dar, in denen nicht nur Grenzen zwischen Kulturen, sondern gleichzeitig auch zwischen Epochen frei durchschritten werden.86 Und schließlich sieht Lukas „culture sampling“ auch als Technik, die Menschen offener für (unintendierte) Transkulturationen auf anderen Ebenen macht: „In fact, the shared future of culture sampling and technological sampling will, no doubt, result in more users of place and technology realizing that the world that they share is encumbered by complex, problematic, and potentially empowering forms of remixing.“87

D ie B e itr ä g e d ie s e s B a n d e s Wie fruchtbar es sein kann, transkulturelle Dynamiken nicht nur auf synchroner Ebene zu betrachten, sondern sie als diachrone, verschiedene Zeitepochen verbindende Prozesse zu sehen, weist Filippo Carlà in seinem Beitrag zur Antikenrezeption nach. Am Beispiel der Kaiserin Theodora von Byzanz illustriert er, wie eine historische Persönlichkeit von späteren Kulturen immer wieder aufs Neue angeeignet und gemäß präsentischen Umständen variiert worden ist. Dabei stehen nicht etwa Vergangenheit und Authentizität im Zentrum des Interesses, sondern 84 85 86 87

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EBD., S. 3; vgl. EBD., S. 6. Vgl. EBD., S. 9f. und S. 13. Vgl. EBD., S. 10f. EBD., S. 14.

Einleitung

„Pastness“, ein in der Gegenwart erkanntes „Vergangensein“, das unterschiedliche Ausgestaltungen Theodoras in Hoch- und Populärkultur erlaubt, vor allem mit Blick auf ihre soziale und politische Bedeutung. Sie erscheint „als freie, unabhängige Frau oder als pervertiertes Biest“. Diachrone Transkulturalität spielt auch in Margit Peterfys Beitrag eine Rolle. Peterfy zeichnet nach, wie sich das amerikanische Showbusiness im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nicht zuletzt unter dem Druck des kommerziellen Erfolgs immer wieder Elementen präkolumbianischer, afroamerikanischer und europäischer Kulturen bediente. Dadurch entstanden zahlreiche bekannte Formen der Burleske und Parodie wie die Minstrel-Shows oder der sogenannte Dutch Act, aber auch Genres wie die Authors’ Carnivals, die von der Forschung bislang völlig vernachlässigt worden sind. Die Geschichte des Unterhaltungstheaters in den USA muss, so schlussfolgert Peterfy, als eine dynamische Sequenz transkultureller Konstellationen beschrieben werden. Berichte über europäische Entdeckungs- und Erkundungsexpeditionen in Kanada und Australien im 19. Jahrhundert stehen im Mittelpunkt von Kylie Cranes Beitrag. Crane untersucht diese Expeditionen als Kulturkontakträume, wobei sie jedoch versucht, die in der Forschungsliteratur vorherrschende Betonung der visuellen Aspekte dieses Kontakts kritisch zu hinterfragen, indem sie sich dem Essen widmet. Der Fokus auf der Doppelrolle von Essen bei imperialistischen Expeditionen – Essen als Nahrung und als Form des Kulturkontakts – erlaubt es Crane, das tragische Scheitern einiger dieser Reisen als ein Scheitern von Kulturkontakt zu lesen. Transkulturalität ist, wie Crane zeigt, in bestimmten Situationen schlicht überlebensnotwendig. Die seit dem 19. Jahrhundert stark veränderte Einwanderungsgesetzgebung in Kanada und die daraus resultierende ethnische Diversität dienen Waldemar Zacharasiewicz als Ausgangspunkt für seine Untersuchung zur Transkulturalität in der anglophonen kanadischen Literatur. Neben den Migrationserfahrungen von Angehörigen der visible minorities gilt sein Interesse denen ost- und südeuropäischer oder auch isländischer Repräsentanten, sind doch literarische Texte aus jüngster Zeit häufig autobiographisch inspiriert und zeigen in Form des „transcultural life-writing“ kulturelle Konflikte, Herausforderungen und Chancen auf, wie die Verfasser und ihre Familien sie aus eigenem Erleben kennen. Überdies, so hält Zacharasiewicz fest, wandten sich Auto-

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ren verstärkt ihren Herkunftsländern zu und schufen so eine kanadische Literatur, die nichtkanadische Räume beleuchtet bzw. globale Vernetzungen in einer postnationalen Gesellschaft thematisiert. Barbara Hornberger stellt in ihrem Beitrag die Entwicklung der Neuen Deutschen Welle als Geschichte eines transkulturellen ‚Missverständnisses‘ dar. In einem ersten Schritt, so Hornberger, wurde der englische Punk – der selbst einen Transfer unterschiedlicher kultureller Strömungen bildet – nach Deutschland übersetzt, wo er auf eine Musiklandschaft traf, die von der internationalen Entwicklung lange Zeit abgekoppelt war. Aus der bloßen mimetischen Nachahmung des Punk entwickelten sich dann in einem zweiten Schritt eine Musik und ein Stil, die sowohl zum ‚Original‘ wie auch zur deutschen ‚Zielkultur‘ eine distanzierte Haltung einnahmen und so etwas gänzlich Neues schufen – die Neue Deutsche Welle. Florian Freitags Beitrag untersucht die unterschiedlichen Konzepte von transkulturellen Dynamiken, die 1992 in der Diskussion um den kurz vor der Eröffnung stehenden EuroDisney-Themenpark bei Paris kreisten. Während Gegner des Parks sowie die Unterhändler der französischen Regierung das Projekt vor allem als einen drohenden Fall von Amerikanisierung oder Kulturimperialismus konzeptionalisierten, positionierten Disneys Pressestrategen und Kulturwissenschaftler, so Freitag, den Park als ein (mehr oder weniger gelungenes) Beispiel für Glokalisierung. Freitags kritische Analyse des Parkdesigns liest die Anlage dann als einen Balanceakt zwischen Glokalisierungsbestrebungen und dem Bemühen, den Markenkern von ‚Disneyland‘ zu wahren. Cornelia Sieber widmet sich in ihrem Beitrag kulturellen Translationsprozessen und beschreibt in Anlehnung an Néstor García Canclinis Hybriditätsbegriff wechselseitigen Austausch, dynamische Veränderungen und eine produktive Differenz als grundlegend für die Vitalität von Kulturen. Reise und Migration stimulieren das kulturelle Übersetzen, wie Sieber an Zé do Rocks Fom winde ferfeelt (1995) aufzeigt, einem autobiographischen Text, der brasilianische, deutsche, italienische und weitere Erfahrungswelten vereint und eine neue Schriftvariante auf der Basis der gesprochenen Sprache vorstellt. In Weiterführung des Konzepts der kulturellen Anthropophagie kommt es zu einer Einverleibung des Fremden und zur Transformation des Eigenen, das immer komplexere Züge annimmt und von Mehrdeutigkeiten geprägt ist.

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An Niklas Luhmanns Theorie autopoietischer Systeme anknüpfend, untersucht Guido Sprenger auf Zugehörigkeit und Abgrenzung zielende Kommunikationsformen in einer asiatischen Hochlandregion und zeigt auf, dass die Etablierung kultureller Grenzen bereits als transkultureller Akt gefasst werden muss. Seine Beispiele belegen zudem, dass Modernität keineswegs als Grundvoraussetzung für transkulturelle Dynamiken zu gelten hat. Vorstellungen, Mythen und Rituale sind systemspezifische Praktiken, die Differenzierungen reproduzieren und so stabilisierend wirken. Bei der Übernahme von Elementen aus angrenzenden Gemeinschaften werden „Idiome von Zentrum und Peripherie“ neu kontextualisiert und häufig anders interpretiert. Für die Kommunikation zwischen den Beteiligten, so Sprenger, kann dieses „strukturierte Missverständnis“ aber dennoch förderlich sein. Christoph Vatter untersucht in seinem Beitrag transkulturelle Dynamiken im Fernsehen. Gemäß dem von ihm gewählten Ansatz der interkulturellen Medienanalyse nimmt er dabei insbesondere die Rolle des TV als interkulturellen Vermittlers sowie die Repräsentation interkultureller Kommunikation im Fernsehen in den Blick. Als Analyseobjekte dienen Vatter vor allem TV-Serien: So zeigt er am Beispiel der US-Serie True Blood und deren deutscher Rezeption, wie Fernsehen jenseits von Magazinformaten und Dokumentationen kulturelles Wissen vermitteln kann. Vatters detaillierte Betrachtung der deutschen bzw. québecischen Unterhaltungsserien Türkisch für Anfänger und Pure laine illustriert sodann, wie die jeweilige Darstellung von kultureller Vielfalt vom kulturellen Kontext der Produktion abhängt. Antje Dresens Beitrag erkundet unter dem Stichwort ‚Bodytalk‘ transkulturelle Dynamiken im Sport. Dresen unterscheidet heuristisch zwischen dem ‚harten Kern‘ des Sports, der sich als gesellschaftliches Subsystem über klare Leitdifferenzen bewusst von anderen Lebensbereichen abgrenzt, und der ‚weichen Schale‘, die in Form von Fankulturen am ‚Kern‘ partizipiert. Da beide Bereiche jedoch von Mechanismen der Grenzziehung leben, vermag Dresen hier lediglich Momentaufnahmen kulturellen Austauschs auszumachen. Anders, so Dresen, in den sportlichen Randbereichen der ‚weichen Schale‘, wo jugendliche Bewegungskulturen mit ihren innovativen Formen und Zeichencodes sportliche Grenzen bewusst überschreiten und durchdringen.

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Indigene Kulturen in Australien und Neuseeland stehen im Mittelpunkt des Beitrags von Kerstin Knopf. Anhand von vier Spielfilmen aus den Jahren 1994 bis 2010 zeigt die Verfasserin auf, dass zur Analyse zeitgenössischer indigener Medienprodukte neben dem Konzept der Transkulturalität auch das der Transdifferenz gewinnbringend eingesetzt werden kann. Letzterem liegt ein Denken zugunde, das nicht auf eine „Auflösung kultureller Differenzen und komplette[...] Vermischung von Kulturen“ zielt, sondern das die „gleichzeitige Präsenz von Differenzen und [...] von Verbindungen“ sowie den Palimpsestcharakter von Kulturen betont. Mit dieser doppelten theoretischen Rahmung werde man der Bedeutung der „Eigen-fremd-Differenz“ für indigene Identitätskonstruktionen gerecht und könne die „kulturpolitische und dekolonisierende Arbeit“ der Filme erfassen. Barbara Mittler schließlich wendet sich der europäischen Oper in China zu und zeigt auf, welches die Beweggründe für ihre Rezeption waren, unter welchen historisch-gesellschaftlichen Bedingungen der Austausch ablief und welche transkulturellen Prozesse durch die beteiligten Aktanten in Gang gesetzt wurden. Einstmals als „Lärm“ eingestuft, avancierte die europäische Oper zu einem hochgelobten Musikprodukt, wie nicht erst die zeitgenössischen Programme großer chinesischer Opernhäuser und die begeisterte Aufnahme des Wagner’schen Rings in Shanghai im Jahre 2010, sondern schon die Übernahme von Richard Wagners Leitmotivtechnik in der „revolutionären Pekingoper“ illustrieren. Andererseits hat auch die chinesische Oper in der westlichen Welt eine Neubewertung erfahren und wird nun vielerorts gefeiert. Welche Schlüsse sich daraus für ein globales Opernerlebnis und -verständnis ergeben, wird mit Blick auf einen „postnationalistischen Transkulturalismus“ geklärt.

Anmerkung der Herausgeber: Mit der Nennung der männlichen Funktions- bzw. Herkunftsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form gemeint. Alle Übersetzungen ins Deutsche stammen von den jeweiligen Autoren. Unser herzlicher Dank gilt Marie Buring, Elke Butz, Tobias König, Judith Radtke und Annika Rosbach für die tatkräftige und zuverlässige Unterstützung.

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Einleitung

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Historische Quellen, literarische Erzählungen, phantasievolle Konstruktionen Die vielen Leben der Theodora von Byzanz FILIPPO CARLA Am 2. Juli 1897 organisierte die Duchess of Devonshire im Südwesten Englands einen Tanzabend, zu dem die Gäste kostümiert erscheinen sollten. Viele verkleideten sich als Persönlichkeiten der antiken Welt: die Duchess selbst als Zenobia, Königin von Palmyra, Daisy of Pless als Kleopatra. Unter den Gästen war auch eine berühmte Frau, eine echte Femme fatale ihrer Zeit – Jeannette Jerome, besser bekannt als Jennie Churchill, Winston Churchills Mutter.1 Sie entschied sich für ein prunkvolles und aufwendiges Kleid, das sie als Theodora, Kaiserin von Byzanz, identifizierte (vgl. Abb. 1). Diese Verkleidung war ein riesiger Erfolg – beide, Jennie Churchill und Theodora, erfreuten sich bei den Zeitgenossen großer Beliebtheit. Drei Jahre später konnte der österreichische Künstler Emil Fuchs, der damals in London lebte, eine Bronzestatuette mit dem Titel „Lady Randolph Churchill as Empress Theodora“ realisieren (heute im Brooklyn Museum, New York).2 Die Kostümierung ist die Aneignung einer anderen Persönlichkeit – in diesem Fall einer historischen –, die sehr persönlich gewählt wird und etwas 1 2

Vgl. SEBBA, 2007, S. 218f. Zu Jennie Churchill vgl. auch HIGHAM, 2006. Vgl. BROOKLYN MUSEUM, 2012.

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Filippo Carlà

über den Träger selbst erzählen soll. Jennie wollte sich als Theodora zeigen und als Theodora gesehen werden – eine Frau aus einer anderen Epoche, aus einer anderen Kultur, die aus biographischen und ästhetischen Gründen zu ihrer ‚natürlichen‘ Doppelgängerin wurde: Laut Shane Leslie, Winstons Cousin, brauchte Jennie gar keine Verkleidung, um Theodora zu ähneln.

Abbildung 1: James Lafayette, Photographie von Jennie Churchill als Theodora (1897) Diese Anekdote dient als Ausgangspunkt für diesen Beitrag, der die Kaiserin Theodora von Byzanz als Fallbeispiel und Paradigma einer größeren Fragestellung thematisieren möchte.3 Ein wichtiges Ziel der Forschung im althistorischen Bereich, wie die Altertumswissenschaftler Mary Beard und John Henderson geschrieben haben, ist es nicht nur, die alte Welt zu entdecken und zu erklären, sondern auch, die Natur, die Funktion und die Struktur der Beziehung zwischen Vergangenheit und

3

32

Zur Rezeption von Theodora von Byzanz vgl. auch CARLA, 2013; DERS., 2014b.

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Gegenwart zu untersuchen.4 Welche Regeln liegen den Mechanismen der Antikenrezeption (der Wiederverwendung von antiken Ereignissen, Persönlichkeiten und Kulturen als Thema und Modell)5 zugrunde und worin besteht die Relevanz solcher Themen für folgende Epochen? Ist es möglich, diese Dynamik als transkulturelle Dynamik zu definieren?

D ia c h r o n e T r a n s k u ltu r a litä t ? Die letzte Frage kann nur beantwortet werden, wenn man Transkulturalität nicht synchronisch, d. h. als reziproke Verflechtung von Kulturen mit verschiedenen Verbreitungsgebieten,6 sondern auch diachronisch versteht. Die antiken Kulturen – in Europa und in der westlichen Welt zuerst die griechische und die römische – sind doch ‚andere‘ Kulturen, die aber als Teil des kulturellen Patrimoniums verstanden werden. Gerade in der Verflechtung von Distanz und Alterität auf der einen, Nähe und Abstammung auf der anderen Seite liegt der Grund für den hohen Stellenwert der klassischen Kulturen in der europäischen Kultur, insbesondere für die Ausbildung.7 Ihre Inhalte und Elemente, Topoi, literarischen Formen und Produkte, sogar Gesten sind regelmäßig angeeignet und anschließend als Teil der modernen Kultur in einer völlig neuen Form verstanden und reproduziert worden. So entsteht ein Produkt, das in der neuesten Fachliteratur als „Pastness“8 bezeichnet worden ist. Mit „Pastness“ ist keine Vergangenheit gemeint, sondern ein ‚Vergangensein‘, das von der Referenzepoche völlig unabhängig ist und nur in der Gegenwart einen Sinn hat, indem Themen, Personen und Bilder vom Publikum als ‚antik‘ und damit als musterhaft oder identitätsstiftend wahrgenommen werden.9 Elemente (Überreste, Geschichten, Texte) aus der Vergangenheit und ihr Überleben sind damit nicht der Grund, sondern die Konsequenz eines Interesses für die Vergangenheit; diese Vergangenheit wird jedes Mal anhand der spezifischen kulturellen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Umstände neu interpre4 5 6 7 8 9

Vgl. BEARD/HENDERSON, 1999, S. 244-248. Vgl. HARDWICK/STRAY, 2011. Vgl. WELSCH, 2010. Vgl. HIMMELMANN, 1976, S. 41. HOLTORF, 2010. Vgl. EBD.; siehe auch DERS., 2005, S. 92-129 und AGNEW, 2007, S. 301f.

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tiert und konstruiert.10 „Pastness“ ist immer präsentisch und hat in diesem Sinne nur bedingt mit einer echten historischen Sensibilität des Publikums zu tun – die historische Sensibilität steht eventuell auf der Seite des ‚Autors‘ der Rezeption, der den Drang fühlen könnte, sich besser zu informieren; breite Bevölkerungsschichten dagegen konsumieren heute wie gestern eine Form der „Pastness“, die weder Vorwissen noch andere Voraussetzungen verlangt. Ein einfaches Beispiel, das von Martin Winkler im Detail untersucht worden ist, stellt der sogenannte saluto romano, die Begrüßung mit ausgestrecktem Arm, dar.11 Sie wurde vermutlich im Römischen Reich erfunden – ob dies wahr ist oder nicht, ist jedoch nicht relevant, solange man die Rezeption dieser Geste untersuchen will und alle diejenigen, die diesen saluto verwendeten, es geglaubt haben. Zu den verschiedenen Gruppen, die diese Form der Begrüßung gebrauchten, weil sie dachten, sie sei typisch römisch, zählen die italienischen Faschisten, die in ihrer Weltanschauung die Kontinuität zwischen antikem Rom und modernem Italien immer wieder betonen wollten. Während der Diktatur Mussolinis wurde diese Form der Begrüßung sogar gesetzlich festgelegt, um damit das Schütteln der Hände zu ersetzen, das laut den Faschisten bürgerlich und unhygienisch war. Über Italien verbreitete sich der saluto romano aber auch in andere Länder, die ähnliche Regierungsformen hatten, wie Deutschland im Nationalsozialismus (‚Hitlergruß‘), Spanien unter Franco oder auch Griechenland während der Diktatur von Metaxa. Genau dieses Beispiel macht aber auch einen weiteren Punkt deutlich. Die Aneignung antiker Elemente ist Teil eines komplizierten Diskurses über Geschichte, Vergangenheit, Differenz, Entwicklung und Identität. Im Italien der 1920er und 1930er Jahre war allgemein bekannt, dass die Italiener keine Römer mehr waren und dass die italienische Lebenswelt kaum der römischen entsprach (z. B. durch die Rolle der katholischen Kirche in der faschistischen Gesellschaft). Nichtsdestoweniger wollte man die Kontinuität zwischen dem antiken Römischen Reich und dem Machtanspruch des jungen italienischen Staates zur Schau stellen. Das Produkt dieser Mischung war etwas Neues – neue

10 Vgl. HOLTORF, 2005, S. 132f. 11 Vgl. WINKLER, 2009.

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kulturelle Formen, die es ermöglichen, die Wechselwirkung von Antike und Moderne als transkulturell zu bezeichnen. Solche diachronen Dynamiken respektieren beide Eigenschaften, die Wolfgang Welsch als typisch für die Transkulturalität identifiziert hat: die externe Vernetzung, die in diesem Fall als Verweis auf eine ausgestorbene Kultur zu verstehen ist, sowie der interne Hybridcharakter im Sinne ihrer Wahrnehmung als ‚fremd‘, aber auch im Sinne ihrer Verbreitung. Solche Formen der Aneignung sind normalerweise auf bestimmte gesellschaftliche Gruppen beschränkt. Die Differenzen zu Welschs Modell von Transkulturalität sind eindeutig: Die Vernetzung bedeutet insbesondere in diesem Fall nicht, dass Gemeinschaften über die Grenzen erkannt werden können (die zeitliche Natur solcher Grenzen macht dies unmöglich); ebenso bedeutet Hybridcharakter nicht, dass es möglich ist, alten Römern und alten Griechen zu begegnen – dennoch kann die bereits erwähnte Verflechtung von absoluter Alterität und eindeutiger Nähe und sogar physischer Präsenz (in Form archäologischer Überreste) diese Abwesenheit der Vertreter antiker Kulturen vom heutigen Alltag überbrücken. Ein weiterer Unterschied zwischen Antikenrezeption und Transkulturalität liegt in der Asymmetrie: Aus rein physikalischen Gründen (die Zeit schreitet nur fort und nicht zurück) ist es schlicht unmöglich, dass die moderne Kultur in der Antike verwendet wird. Nichtsdestoweniger scheint die Definition – auch für eine solche ‚Einbahndynamik‘ – sehr geeignet, um als heuristisches Mittel zu fungieren und uns die Gründe und Eigenschaften solcher Rezeptionsdynamiken besser zu erklären. Gerade die Vorstellung antiker Figuren, Texte, Ikonographien und Gesten als Modelle (in einem positiven wie in einem negativen Sinne), als Referenzen zum besseren Verständnis der heutigen gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Verhältnisse und als identitätsstiftende Elemente stellen die Transkulturalität dieser Operation dar. Die ‚diachrone Transkulturalität‘ zeigt einen weiteren großen Unterschied zur Transkulturalität im eigentlichen Sinne. Kommunikation und eventuelle Aneignung finden nicht unter lebendigen Menschen statt, die sich treffen, kennen lernen und miteinander reden, sondern nur auf indirektem Weg, über literarische, ikonographische oder andersartige Quellen. Die Vertreter der antiken Kultur sind lange tot – die Quellen stellen ein Bild der Antike dar, das in verschiedenen Epochen von ver-

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schiedenen Personen stets anders rekonstruiert und ergänzt wurde. Wir kennen literarische Texte aus der Antike, in die aber zwangsläufig Produkte einer gewissen Weltanschauung, einer gewissen Interpretation einfließen, und die als solche gelesen werden müssen. Außerdem verfügen wir über moderne Bearbeitungen in der Fachliteratur, aber auch über bereits existierende Rezeptionen, die die weitere Rezeption konzeptuell wie auch stilistisch und visuell weiter beeinflussen. Hierin besteht das stetige Sich-Aktualisieren der „Pastness“. Und dies ist im Fall Theodoras, wie man sehen wird, besonders auffällig. Die Frage ist hier somit nicht, wie die Antike war, sondern wie wir sie uns anhand der Quellen vorstellen. Relevanter als die Exegese der Quellen und die Rekonstruktion des Kontexts, in dem sie entstanden, wird deshalb ihre Verwendung in den folgenden Generationen und Epochen. Der Wahrheitsinhalt verschwindet als Problem, sobald die Rezipienten den Inhalt selbst übernommen, popularisiert und weiter bestätigt haben. Auch wenn die Verbreitung dieser antiken Themen, wie bereits erwähnt, normalerweise nicht uniform in der ganzen Gesellschaft zu finden ist, zeigen sich deren Aneignungen – in verschiedenen Formen und Facetten – in allen kulturellen Dimensionen, in der Hochkultur (z. B. historische Romane) ebenso wie in der Populärkultur (z. B. Comics und Film) – eine Differenzierung, die in der Postmoderne eigentlich ohnehin verschwunden und sinnlos geworden ist.12 Gerade die Verwendung von Motiven aus der Antike in den verschiedenen Formen der Populärkultur erlaubt es uns, solche Dynamiken als sozial relevant zu definieren – nicht nur in der Postmoderne, sondern auch in früheren Epochen, die die Differenz zwischen Hoch- und Populärkultur kannten und praktizierten. Die Annahme, moderne Medien würden einen direkteren Kontakt zur Vergangenheit erlauben, ginge sicher zu weit: Was heute Filme und Comics sind, waren in vergangenen Epochen Theater, Oper, Kostümbälle (wie derjenige, an dem Jennie Churchill teilnahm), noch früher Malereien in den Kirchen – alles Medien, Gattungen und Formen, die in einem gewissen historischen und kulturellen Kontext eine große Verbreitung finden und die verschiedenste gesellschaftliche Schichten erreichen können. Die Erfindung und Einführung der Massenmedien hat es lediglich erlaubt, ein größeres Publikum zu erreichen, und hat 12 Vgl. JAMESON, 1991, S. 2f.

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deshalb den verschiedenen Formen von „Pastness“ eine weitere Verbreitung und vielleicht eine größere Uniformität (im geographischen wie im sozialen Sinne) gewährt. Dies bedeutete aber weder eine strukturelle Revolution in den Formen der Antikenrezeption noch in dem unterschiedlichen Zugang zu teilweise verschiedenen „Pastnesses“ der verschiedenen Gruppen. Solche Formen der Aneignung sind deshalb nicht nur typische Merkmale der Zeitgeschichte und unserer Welt. Auch Welsch geht davon aus, dass Transkulturalität immer existierte, er behauptet jedoch, dass das Ausmaß in den letzten Generationen stark angestiegen sei. Dies gilt aber ausschließlich für die synchrone Transkulturalität, nicht für die diachrone, der auch in vergangenen Epochen eine große Bedeutung beigemessen werden kann. Welsch schreibt etwa: „Theaterpraktiken verbinden heute klassisch-europäisches Sprachtheater mit Kabuki und Ritualen der First Nation People“13 – dies aber wurde mit den Formen des klassischen Theaters (insbesondere mit der griechischen Tragödie) und noch mehr mit seinen Themen (Mythen) seit Jahrhunderten praktiziert. Wenn man eine neue Entwicklung in der postmodernen Rezeption finden will, ist diese der immer größere Erfolg von Formen der Rezeption, die die Vergangenheit direkt erlebbar machen wollen, eine Tendenz, die auch bei den neuesten Konzeptionen von Museen zu beobachten ist und dem von Vanessa Agnew als „affective turn“ definierten Prozess entspricht: „the collapsing of temporalities and an emphasis on affect, individual experience and daily life rather than historical events, structures and processes“.14 Ein Beispiel im Kontext von Theodora sind die byzantinischen Festspiele „La Tavola di Bisanzio“ in Baiso, Mittelitalien, wo die Zuschauer die Möglichkeit haben, Justinian und Theodora in einer Prozession zu begleiten – und an vielen anderen Veranstaltungen teilzunehmen.15 Die Begriffe der Authentizität und der historischen Genauigkeit sind bei solchen Rezeptionsformen fehl am Platz – diese Aneignungen sind immer echt, aber „their realism is not that of a

13 WELSCH, 2010, S. 45. 14 AGNEW, 2007, S. 299; vgl. auch HJEMDAHL, 2002, S. 105-107 und HOLTORF, 2009. 15 Vgl. N. N., 2012.

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lost, real past but of real sensual impressions and emotions in the present, which engage visitors and engender meaningful feelings“.16

Theodora von Byzanz Nach diesen theoretischen Überlegungen soll eine ausführliche Fallstudie verdeutlichen, wie Rezeptionsdynamiken funktionieren und wo spezifisch transkulturelle Elemente zu beobachten sind. Die Kaiserin Theodora bietet sich dafür an, weil sie in bestimmten Perioden auf allen sozialen Ebenen sehr populär war und weil sie mit wichtigen politischen und sozialen Fragen in Zusammenhang steht, insbesondere der öffentlichen und politischen Rolle der Frau. Transkulturell gilt Theodora immer als Musterbeispiel für die Konstruktion und Formulierung von genderspezifischen historischen Modellen im öffentlichen Leben – häufiger eher im negativen als im positiven Sinne. Dies hängt mit der Quellenlage zu ihrer Person zusammen. Die ikonographischen Quellen sind sehr mager: Abgesehen von dem Porträt aus der Kirche von S. Vitale (Ravenna; vgl. Abb. 2) gibt es nur eine Marmorbüste in Mailand; diese wurde u. a. auch Theodora zugeschrieben, kann aber nicht zweifelsfrei identifiziert werden. Viel relevanter sind die literarischen Quellen. Die wichtigste ist ein Werk des byzantinischen Autors Prokop von Cäsarea, einem Zeitgenossen der Kaiserin. Nach deren Tod (548 n. Chr.) schrieb er um 550 n. Chr. seine „Geheime Geschichte“ (oder „Anekdota“) als überaus kritisches Plädoyer gegen Theodora und Justinian. Laut Prokop sind beide keine Menschen, sondern Dämonen, die das byzantinische Reich zerstören wollen. Dies sei offensichtlich, da Justinian nie schlafe und nachts ohne Kopf im Palast herumgeistere. Aber noch schlimmer sei Theodora, die als überaus dominante Frau Justinian in ihrer Gewalt habe. Theodora stammt, so Prokop, aus sehr bescheidenen Verhältnissen. Ihr Vater sei der Wächter der Bären des „grünen Teams“ im Zirkus von Konstantinopel gewesen. Als er starb, so Prokop weiter, war Theodora, ebenso wie ihre beiden Schwestern, noch ein kleines Kind. Die Mutter habe den Wächter der Bären des anderen Teams geheiratet, und Theodora schon sehr früh eine

16 HOLTORF, 2005, S. 135f.; vgl. auch DERS., 2010, S. 28f.

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Karriere im Theater begonnen – eine Tätigkeit, die in der antiken und spätantiken Welt als überaus schäbig galt.17

Abbildung 2: Theodora-Mosaik, Ravenna Schon als Kind trat sie nackt auf der Bühne auf; später, in der Pubertät, wurde sie eine Prostituierte. Sie war unverschämt und zügellos und wurde später die Liebhaberin eines wichtigen Mannes, Hekebolos, des Statthalters Libyens. Sie folgte ihm dorthin, wurde aber von ihm aus unbekannten Gründen verstoßen. So musste Theodora nach Konstantinopel zurückkehren, und auf dem Weg in die Hauptstadt praktizierte sie weiter das einzige Handwerk, das sie verstand. In Konstantinopel durfte sie dann Justinian kennen lernen, den Neffen des Kaisers und präsumtiven Thronerben. Theodora gab vor, eine keusche Frau zu sein, er verliebte sich in sie und sie heirateten. Als Kaiserin hatte sie keine Liebhaber mehr: Die Macht war ihr wichtiger, und sie wollte auf keinen Fall das Risiko eingehen, aufgrund eines Abenteuers ihre Rolle als Kaiserin zu verlieren. Theodora besaß, wie erwähnt, nach dem Regierungsantritt Justinians im Jahr 527 n. Chr. die absolute Macht, die sie bis zu ihrem Tod erfolgreich nutzte.18 Es macht im Kontext dieses Beitrags wenig Sinn, den Wahrheitsgehalt von Prokops Geschichte zu überprüfen, weil 17 Vgl. FRENCH, 1998. 18 Vgl. PROKOP VON CÄSAREA, Geheime Geschichte, insbesondere 9-10.

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es für die Fragestellung nur relevant ist, dass dieses Werk den folgenden Jahrhunderten Stoff für die Rezeption der Kaiserin geboten hat.19 Prokops Werk wurde verloren und vergessen und tauchte erst wieder um das Jahr 1620 auf. 1623 wurde es zum ersten Mal veröffentlicht, und seitdem gilt seine „Geheime Geschichte“ als eines der berühmtesten antiken Werke. Noch in der Aufklärung war Theodora breiten Zirkeln kaum bekannt. Es existierten freilich noch keine Massenmedien, aber auch auf einer intellektuellen Ebene wurde Prokop kaum rezipiert. Die Opern und die Theaterstücke, die im 17. und 18. Jahrhundert auch Justinian und sein Zeitalter thematisieren, heben lieber den Feldherrn Belisarius hervor – bereits im Mittelalter eine sehr populäre Figur. Die einzigen expliziten Stellungnahmen zu Theodora finden sich in wissenschaftlichen Texten – Montesquieu und Edward Gibbon, zwei der berühmtesten Vertreter der europäischen Aufklärung, sind eindeutig. Der Erste schrieb im Jahr 1734: Justinian hatte eine Frau vom Theater zur Gattin genommen, die lange das Gewerbe einer Lustdirne getrieben hatte: diese übte eine Herrschaft über ihn aus, welche in der Geschichte ohne Gleichen ist, und da sie beständig die Leidenschaften und Launen ihres Geschlechts auf die Behandlung der Staatsgeschäfte übertrug, verdarb sie die schönsten Siege und Erfolge. Man hat im Oriente immer Vielweiberei gehabt, um den Frauen jenen wunderbaren Einfluss zu nehmen, den sie in unserm Klima auf uns ausüben. In Konstantinopel aber verlieh das Gebot eines einzigen Weibes diesem Geschlechte die Herrschaft, und das brachte die Regierung zuweilen in schwache Hände.20

Der britische Historiker Gibbon, der mit seinem Decline and Fall of the Roman Empire das Verständnis und die Rezeption der Spätantike bis ins 20. Jahrhundert stark beeinflusst hat,21 war 1784 kaum schmeichelhafter: Theodora gibt nach ihrer Rückkehr nach Konstantinopel vor, ein keusches Leben zu führen, aber nur, weil sie in einem Traum ihre Zukunft als Ehegattin eines mächtigen Königs gesehen hat. Es gelingt ihr, 19 Für eine deutschsprachige Biographie Theodoras vgl. LEPPIN, 2002 und zuletzt PRATSCH, 2011. 20 MONTESQUIEU, 1882, S. 185f. 21 Vgl. JAMES, 2000, S. 237-239; RICKS, 2000, S. 225-228.

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Justinian („[who,] in the room of a theatrical prostitute, might have selected the purest and most noble virgin of the East“)22 zu verzaubern (und sie verursacht damit auch den Tod der Mutter Justinians): „the prostitute, who, in the presence of innumerable spectators, had polluted the theatre of Constantinople, was adored as a queen in the same city, by grave magistrates, orthodox bishops, victorious generals, and captive monarchs.“23 Als Kaiserin bleibt sie eigentlich keusch, aber nur, weil sie sich für den Thron mehr interessierte als für mögliche Affären.24 Theodora war deshalb seit dem 17. Jahrhundert eigentlich eher berüchtigt als berühmt, und nicht alle Frauen hätten sie als Verkörperung ihrer selbst und Doppelgängerin gewählt – so wie Jennie Churchill es tat, die jedoch in vielerlei Hinsicht ebenfalls eher berüchtigt als berühmt war. Der italienische Schauspieler Totò, der ein Abkömmling der byzantinischen Dynastie der Komnener war, hat Theodora als „meine Tante, die Nutte“ bezeichnet.25 Es ist deshalb immer von zentraler Bedeutung, dass bei einem großen Repertoire von Motiven, Personen und Bildern, die zur Rezeption zur Verfügung stehen und die teilweise von politischen und kulturellen Institutionen (etwa durch eine Verwendung in Schulbüchern) popularisiert werden, auch immer die persönliche individuelle Entscheidung betrachtet wird. Sie bestimmt letztendlich die Formen der Selbstinszenierung, der Selbstzuschreibung von Identitäten und die Zugehörigkeitsgefühle. Die öffentliche Wahrnehmung Theodoras änderte sich ab der Mitte des 20. Jahrhunderts, da Theodora nach der sexuellen Revolution in unserer Kultur akzeptabler wurde. Mit dem Muster des berühmten Ravenna-Mosaiks aus der Kirche von S. Vitale, des einzigen sicheren Porträts der Kaiserin, ist sie sogar zu einem Modell der Eleganz und der Mode geworden, und auch der selbstständigen und selbstbewussten Frau. So hat Karl Lagerfeld 2011 eine ganze Kollektion der frühbyzantinischen Kaiserin gewidmet.26 „Theodora war wie Chanel“, meinte Lagerfeld, „aus bescheidenen Verhältnissen wurde sie Kaiserin“.27 Ein

22 23 24 25 26 27

GIBBON, 1788, S. 59. EBD., S. 56. Vgl. EBD., S. 54-57. TOTO, 2005, o. S. Vgl. CHANEL, 2012. MISTRY, 2012.

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Jahr später antwortete Laura Biagiotti mit einer weiteren Kollektion für den Winter 2012/2013, die ebenfalls von Theodora inspiriert wurde.28 Ein Zwischenfazit: Wie jedes Repertoire ist das Repertoire Theodora – als „Pastness“ – kein gegebenes oder festes Element, es ist immer ein Produkt der zeitgenössischen politischen, sozialen und kulturellen Umstände (und deshalb immer in stetiger Entwicklung). Dadurch ist es auch das Produkt eines stetigen Aushandelns zwischen kollektiven Mustern und individuellen Entscheidungen.

T h e o d o r a G o e s W ild In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann man das Bild von Byzanz neu zu überdenken. Die Dekadenzdichtung und die symbolistische Kunst entdeckte die Spätantike, die z. B. eine Sonderrolle in Huysmans Roman A rebours (1884) spielt, aber auch zu den berühmten Versen Paul Verlaines in dem Gedichtband Jadis et naguère (1884) führt: „je suis l’Empire à la fin de la décadence.“29 Auf der einen Seite hatte das Frühmittelalter die Aufmerksamkeit der romantischen und nationalistischen Bewegungen auf sich gezogen, also die Zeit, in der die zukünftigen europäischen Nationalstaaten durch die Germanen gegründet wurden. Auf der anderen Seite war man sich bewusst, dass dieselbe Zeitspanne im Osten die des frühbyzantinischen Reichs war, was sich gut in das generelle Interesse für Orientalismus – der immer als westliche Konstruktion zu verstehen ist30 – einfügte. Byzanz wurde den neuen römisch-germanischen Reichen gegenübergestellt und galt als seltsame Mischung aus Antike, Islam und Christentum, als Ort des Luxus und der Dekadenz31 – auch wenn Forscher und Historiker dieses negative Bild nicht immer teilten, wie später zu zeigen sein wird. In diesem kulturellen Kontext entwickelte sich der Frauentypus der Femme fatale – eine ambivalente, attraktive und verführerische Frau, die die Männer, eventuell auch mit magischen Kräften, manipulieren 28 29 30 31

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Vgl. LUXGALLERY, 2012. Zit. n. DELOUIS, 2003, S. 109f. Vgl. SAID, 1978. Vgl. RICKS, 2000, S. 229f.; AUZEPY, 2003, S. 7f.; DELOUIS, 2003, S. 118121.

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kann, keinen moralischen Regeln folgt und die Gesetze der Liebe über alles stellt. Theodora wurde quasi selbstverständlich zu einer Verkörperung dieses Typus, wie z. B. die Werke des französischen Malers JeanJoseph Benjamin-Constants zeigen. Benjamin-Constant, dessen Karriere um 1870 ihren Höhepunkt erreichte, war u. a. für seine orientalischen historischen Gemälde berühmt, die große Popularität genossen. Sie stellten Byzanz als Welt der Autokratie, der Tyrannei und des dekadenten Luxus dar. Benjamin-Constants Interpretationen des historischen Ostens konnten so als „despotism and violence linked to sex” zusammengefasst werden.32 Im Jahr 1886 realisierte er das Gemälde Justinien, in dem der Kaiser in einem prunkvollen Raum aus Gold und Purpur als machtbewusster Gesetzgeber dargestellt wird. „Throne Room in Byzantium“ dagegen zeigt Theodora und eine Prokop’sche Interpretation ihrer Figur. Die Kaiserin wirkt hier statisch und unberührbar wie eine Heilige und entspricht verbreiteten Vorstellungen der byzantinischen Kunstdarstellung. Der Kaiser erscheint dagegen unbeteiligt und zurückgesetzt im Hintergrund, und es ist völlig klar, bei wem die Macht liegt. Theodora fungiert auch als Thema eines Benjamin-Constant-Gemäldes aus dem Jahr 1887, L’impératrice Théodora au Colisée (vgl. Abb. 3). Theodora war nie in Rom und schon gar nicht im Kolosseum, aber dies ist nicht relevant: Wichtig war es dem Künstler, sie an einem Ort zu inszenieren, wo sie ihre volle Macht als Femme fatale zeigen kann.33 Und was eignet sich hier besser als das Kolosseum, wo sie als Zuschauerin die grausamen Hinrichtungen verfolgt, bei denen Menschen von wilden Tieren gefressen werden? Doch Theodora ist kaltblütig, und das Töten nimmt sie gelassen hin. In Gold und Purpur gekleidet, von der Situation völlig unberührt, ist sie die perfekte Femme fatale, mit ihren Juwelen, ihrer mangelnden Menschlichkeit, ihren roten Haaren (dies ist nicht durch Quellen belegt, Femmes fatales sind aber oft rothaarig dargestellt), die sich vom Purpur farblich kaum abheben. Als Benjamin-Constant diese beiden Gemälde realisierte, hatte aber die zweite große Revolution im Nachleben Theodoras nach der Wiederentdeckung der „Geheimen Geschichte“ bereits stattgefunden. Erneut war es ein literarisches Werk, das zu einer Wende in der Rezeption 32 BENJAMIN, 1997, S. 9. 33 Zum Thema der Femme fatale in Benjamin-Constants Werk vgl. CARDISTOULOUSE, 1988, S. 82.

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Theodoras führte. Am 26. Dezember 1886 trat in Paris zum ersten Mal Sarah Bernhardt als Verkörperung der byzantinischen Kaiserin auf die Bühne (vgl. Abb. 4), in der Premiere eines neuen Stücks des berühmten Theaterautors Victorien Sardou. Dessen Titel war schlicht: Théodora.34

Abbildung 3: Benjamin-Constant, L’impératrice Théodora au Colisée (1887) Sardous Theodora hat wenig mit derjenigen Prokops zu tun. Zunächst hat sie einen Liebhaber, den Griechen – und deshalb Heiden – Andréas. Er liebt Theodora, weiß aber nicht, dass sie die Kaiserin ist: Er kennt sie als die Witwe Myrta. Andréas hasst Justinian und Theodora abgrundtief und ist der Anführer einer Verschwörung gegen das kaiserliche Paar. Theodora arbeitete ursprünglich im Zirkus und ist von Alexandria nach Konstantinopel umgezogen, wo ihr von einer ägyptischen Zauberin eine großartige Zukunft prophezeit wurde. Als die Verschwörung Andréas’ 34 Vgl. RONCHEY, 2002; CARLA, 2014b.

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aufgedeckt wird, versucht Theodora, ihn zu schützen. Sie werden aber beide verhaftet und hingerichtet – Theodora wird mit einem Seidentuch erwürgt. Im Jahr 532 gab es in der Tat eine große Erhebung gegen Justinian, die sogenannte ‚Nika-Erhebung‘, die niedergeschlagen wurde. Ein Beleg für Theodoras Beteiligung an der Erhebung findet sich jedoch in keiner antiken Quelle. Ganz im Gegenteil musste sie laut der literarischen Überlieferung (einem anderen Werk Prokops, der „Kriegsgeschichte“, das dem kaiserlichen Paar weitaus wohlgesonnener war)35 Justinian überzeugen, nicht zu fliehen und weiter zu kämpfen (diese Rede ist auch bei Sardou zu finden).

Abbildung 4: Félix Nadar, Sarah Bernhardt als Theodora (1882)

35 PROKOP VON CÄSAREA, Kriegsgeschichte, 1.24.32-37.

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Sardous Theodora ist noch einmal die perfekte Femme fatale, die wie bei Prokop die Statthalter und die anderen Beamten am Hof empfängt und alle wichtigen Entscheidungen trifft: Sie ist jene Mischung aus Sexualität und Macht, die die westliche Kultur bei Frauen als so gefährlich empfunden hat. Die Rebellen wissen auch ganz genau, dass nur Theodora und nicht ihr unfähiger Mann die Macht in Byzanz hat. Theodora ist aber keine Prostituierte: Sie hat nur einen einzigen Liebhaber. Sie ist auch nicht, wie bei Prokop beschrieben, einfach machthungrig: Für Andréas ist sie bereit, auf den Thron und auf das Leben zu verzichten. Deshalb wird sie bei ihrem Tod auch erlöst. Wie schon Benjamin-Constants ist auch Sardous Theodora kein Produkt historischer Rekonstruktion (auch wenn wir wissen, dass Sardou viel über Byzanz, Justinian und Theodora gelesen hatte),36 sondern Rezeption, Aneignung, „Pastness“: Der französische Schriftsteller hat das historische Theater nie als Rekonstruktion der Vergangenheit wahrgenommen, sondern benutzte die Vergangenheit als Kulisse, vor der Ereignisse und Leidenschaften mit einer aktuellen Relevanz gespielt wurden. Diese Antikisierung ist eine ästhetische Erfahrung, die die Inhalte auch verabsolutieren sollte.37 Die Inhalte sind in diesem Fall ein typischer Leitfaden Sardous: die Rettung der Ehe und der bürgerlichen Familie vor den Gefahren des Ehebruchs und familiärer Spannungen und natürlich der Scheidungen (die schon damals in Frankreich möglich waren).38 Die Ehepaare haben sich immer gegenseitigen Respekt zu zollen, und in diesem Sinne sind Justinian und Theodora ein gescheitertes Paar: Justinian hat nur theologische Interessen, kümmert sich nicht um seine Frau, und sie geht fremd; Myrta und Andréas dagegen sind das vorbildliche Paar, das füreinander in den Tod geht.39 Mit Theodora und Myrta stellt die Hauptdarstellerin dann die zwei Pole der Weiblichkeit einander gegenüber,40 die mächtige Femme fata36 Vgl. STEINMETZ, 1984, S. 78; BALK, 1994, S. 76; RONCHEY, 2002, S. 446450; DELOUIS, 2003, S. 108; STATHAKOPOULOS, 2004, S. 435f. 37 Vgl. VICTOROFF, 2007, S. 376f. 38 Z. B. in Les vieux garçons oder Divorçons! (STEINMETZ, 1984, S. 103111). Vgl. auch EBD., S. 122-124 zu Sardous Ideen zu den Frauenrollen in der zeitgenössischen Gesellschaft. 39 Stathakopoulos hat Gender-Thematiken und Ideale des 19. Jahrhunderts in der Konstruktion dieser Liebesgeschichte untersucht (vgl. STATHAKOPOULOS, 2004, S. 441f.). 40 THORUN, 2006, S. 108f.

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le, die nachts am Hafen umherzieht, um Männer zu finden (dies macht sie bis zum Moment, an dem sie Andréas kennen lernt), und die treue und verliebte Witwe. Andréas sagt es eindeutig: Sollte er entdecken, dass Myrta doch verheiratet ist, würde er sie weiterlieben, aber nicht als die Eine, sondern als eine unter vielen. Die Interpretation durch Sarah Bernhardt, die selbst als Femme fatale galt, konnte den Effekt des Stücks nur intensivieren: Die Schauspielerin als Doppelgängerin der antiken Kaiserin war ein zentrales Element in der Konstruktion und Verfestigung dieser Form von „Pastness“.41 Laut Welsch ist echte Transkulturalität nicht die Existenz eines interkulturellen Ensembles: „Es müsste vielmehr darum gehen, dass nicht nur die Akteure aus unterschiedlichen Kulturen stammen, sondern dass das Werk, das sie aufführen oder kreieren, in sich unterschiedliche kulturelle Muster verbindet, also nicht monokulturell, sondern transkulturell geprägt ist.“42 Wenn Transkulturalität auch diachronisch verstanden werden kann, kann man auch bei Sardou genau das finden, was Welsch beschreibt: einen Text, der über Prokop und die Sekundärliteratur, die Sardou gelesen hat, bereits eine Mischung aus Antike und Moderne ist; dazu Sarah Bernhardt, die als Femme fatale ihrer Zeit dem damaligen Bild der Theodora entspricht, und die die Kaiserin so spielt, wie alle es erwarten. Es ist deshalb kein Zufall, dass Sarah Bernhardt (zumindest angeblich) nicht nur viele Bücher über Theodora gelesen, sondern auch die Kostüme selbst entworfen hatte. Zudem wird berichtet, sie habe stundenlang alleine in der Kirche von S. Vitale in Ravenna vor dem Theodora-Mosaik gestanden, um sich perfekt in ihre Rolle einzufühlen.43 Die Aufführung war ein voller Erfolg,44 der auch Jules Massenet, der die Musik schrieb, und Georges Clairin, der für das Werbedesign verantwortlich war, geschuldet ist. Am 27. Dezember, nur einen Tag 41 Eine andere Schlüsselfigur, wenn auch im Hintergrund, ist der Franke Charibert. Die Franken gelten seit der Romantik als die Gründer und Wegbereiter Frankreichs, und der Franke stellt hier den gesunden Westen dar: Charibert ist über die Verhältnisse in Byzanz schockiert. Seine Rolle hat nicht nur die Funktion, Frankreich und seine Geschichte zu verherrlichen, sondern auch, das dekadente und orientalische Byzanz zu verteufeln. 42 WELSCH, 2010, S. 55. 43 BALK, 1994, S. 76. Thorun ist der Ansicht, dass der Besuch Bernhardts in Ravenna nur eine Legende ist (vgl. THORUN, 2006, S. 98). 44 BALK, 1994, S. 75f.; DELOUIS, 2003, S. 112-114.

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nach der Premiere, gab es bereits ein Sonderheft von Le Figaro mit Informationen und historischen Rekonstruktionen über Theodora und ihr Zeitalter. Zu Beginn des nächsten Jahres, 1885, sah Sigmund Freud Théodora im Theater in Paris und berichtete seiner Freundin Martha Bernays davon in enthusiastischen Tönen. Als 1886 Guy de Maupassant das oben erwähnte Gemälde von Benjamin-Constant, Justinien, rezensierte, schrieb er, dass Justinian zu traurig aussähe: Vielleicht habe Sarah Bernhardt ihn verlassen. Theodora wurde zu einem Massenphänomen. Alle kannten die Kaiserin, ihre traurige und tragische Liebesgeschichte – und zwar nicht die historische Rekonstruktion, sondern die „Pastness“, die über Sardou vermittelt wurde. Überall war sie das Symbol der mächtigen und gefährlichen Frau, aber auch der Macht der Liebe. Es überrascht daher kaum mehr, dass Jennie Churchill, die sich selbst gerne als Femme fatale inszenierte, Theodora als ihr Ebenbild wählte, und dass Emil Fuchs sie in dieser Form verewigen wollte. Sardous Stück wurde 250 Mal in Paris aufgeführt, mehr als 100 Mal in London, im Jahr 1886 wurde eine Tournee durch Südamerika gestartet, in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts wurde Théodora mehrmals verfilmt (mindestens sechs Mal vor 1920) und auch als Stoff für Opern verwendet. Die berühmteste Verfilmung der Geschichte, die die Popularität von Theodora noch weiter steigern sollte, wurde in Turin, der Hauptstadt des italienischen Stummfilms, im Jahr 1919 gedreht. 1921 fand die amerikanische Premiere statt, 1922 die italienische; in Amerika, Italien, Deutschland und in den Niederlanden mussten die Zuschauer stundenlang Schlange stehen, um eine Kinokarte zu erhalten. Der Erfolg des Films übertraf den von Sardous Theaterstück. Der Regisseur war Leopoldo Carlucci, Hauptdarstellerin wieder eine Femme fatale, Rita Jolivet. Sie war nicht nur eine berühmte Schauspielerin mit den typischen Zügen der Femme fatale: Sie hatte sogar am 7. Mai 1915 den Untergang des Passagierschiffs Lusitania, bei dem 1200 Menschen ums Leben kamen, überlebt. Seither wurde sie als übermenschliche Frau bewundert, die sogar dieser Katastrophe entkommen konnte. Die Darstellung von Theodora in dem genannten Film weist einige Unterschiede zu der von Sardou auf, die vor allem deshalb interessant sind, weil sie nochmals zeigen, wie in verschiedenen politischen und kulturellen Kontexten dieselben Themen und Figuren anders interpretiert wurden – und so eine andere „Pastness“ entstand. Der junge italie-

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nische Staat suchte zu dieser Zeit eigentlich viel weniger seine Wurzeln in den römisch-germanischen Nachfolgestaaten als die anderen europäischen Länder; viel wichtiger war hier das klassische römische Erbe. Deswegen trug die Rezeption von Byzanz in Italien immer besondere Züge.45 So wurde im Film z. B. die Figur des Franken Charibert gestrichen, ebenso wie die Kritik Sardous an der christlichen Religion. Dafür wird das Leben von Theodora vor ihrer Herrschaft über Byzanz thematisiert. In der ersten Szene wird gezeigt, wie sie als Chefin der Prostituierten auf der Insel Zypern arbeitet und wie Justinian sich in sie verliebt, weil – so liest man in einem Zwischentitel – Schönheit und Weisheit, vorhanden in einer einzelnen Frau, alles gewinnen können. Z. B. wird Justinian krank (auch dies findet man bei Sardou nicht, dafür jedoch in den antiken Quellen) und Theodora betet für seine Genesung. Zwei Heilige, die auf einem Mosaik dargestellt werden, steigen aus dem Mosaik heraus und gehen zu Justinian, um ihn zu heilen. Theodora wird als eine Figur präsentiert, die über übermenschliche Kräfte verfügt, im Guten wie im Schlechten, und die keine Selbstbeherrschung kennt. Genau darum kann sie ihre Zügellosigkeit nicht kontrollieren und beginnt ihre Beziehung mit Andrea. Die Zwischentitel machen deutlich, dass ihretwegen bei der Erhebung 30.000 Menschen ums Leben kommen – diese Zahl findet man zumindest bei Prokop.46 Auch wenn sie doch eine Femme fatale bleibt, wird in Italien die Verantwortung Theodoras für das Massaker stärker betont, wohingegen die Idee des Niedergangs des Reiches weniger prominent ist als in Frankreich. Vermutlich haben Carlucci und seine Mitarbeiter Prokop gelesen und seine Texte mit Sardous Darstellung kombiniert. Dennoch deckt sich das Ergebnis nicht unbedingt stärker mit Prokops Beschreibung – es ist einfach eine andere Rekonstruktion Theodoras, die den spezifischen kulturellen Umständen Italiens angepasst wird. Für ein Land, das die Geschichte des Römischen Reiches als identitätsstiftendes Element wahrnahm, wäre es natürlich gefährlich gewesen, dessen Dekadenz zu stark zu thematisieren. Außerdem war Theodora, gerade wegen des Ravenna-Mosaiks, in Italien zu Hause – die Filmkulissen erinnern sehr

45 BERNABO, 2003. Zur Rezeption Theodoras in der italienischen Kultur vgl. CARLA, 2013. 46 PROKOP VON CÄSAREA, Kriegsgeschichte, 1.24.54.

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stark an Ravenna und an italienische Barockarchitektur.47 Die Rezeption konstruiert verschiedene Varianten der Vergangenheit, je nachdem, in welchem Land und in welcher Zeit man sich befindet – die Rezeptionssituation beeinflusst dann die Stereotypen, die jeweils verbreitet sind und die deshalb beim Publikum spezifische Erwartungsstrukturen verursachen; in dieser Aktualität des Vergangenseins durch die Rezeption liegt die Transkulturalität der Antikenrezeption begründet. Dies kann man auch an einem anderen, noch extremeren Beispiel sehen. Theodora war keine Vertreterin des orthodoxen Christentums, sondern gehörte der Gruppe der Monophysiten an, die als Häretiker galten, aber in Syrien und im Irak weiter existierten, sogar bis heute. In diesen Gegenden wurde Theodora deshalb völlig anders rezipiert: Sie ist die heilige Kaiserin, die den richtigen Glauben immer geschützt hat – so z. B. in einem Text aus dem späten 6. und frühen 7. Jahrhundert von Zacharias von Mytilene.48 Schon im Mittelalter werden so Legenden erfunden, die Theodoras Kindheit in der frommen und bürgerlichen Familie eines Priesters verorten.49 Die Rezeption Theodoras im Nahen Osten hat somit mit der Rezeption im Westen nichts gemeinsam – und noch 1956 hat Mor Faulos Behram, der Metropolit von Bagdad, ein Theaterstück namens Theodora auf Arabisch geschrieben, in dem die Verehrung Theodoras fortgeführt wird.50

D ie Z e it d e r A u fw e r tu n g Auch im Westen, wo es keine Tradition einer positiven Charakterisierung der Kaiserin gab, erfuhr Theodora jedoch eine allmähliche Aufwertung. Wenn schon Jennie Churchill eine gewisse Sympathie für Theodora zeigen konnte, und die Theodoren Sardous und Carluccis als Femmes fatales ein nicht ausschließlich negatives Bild anboten, verstärkte sich diese Entwicklung in den folgenden Jahren noch weiter. 47 Vgl. REDI, 1998. 48 ZACHARIAS VON MYTILENE, 9.15; 9.19; vgl. auch HARVEY, 1990, S. 80f.; DIES., 2001, S. 3; FOSS, 2002, S. 143-148. 49 MICHAEL DER SYRER, 9.20; vgl. PAZDERNIK, 1994, S. 272f.; HARVEY, 2001, S. 9-14; EVANS, 2002, S. 18; FOSS, 2002, S. 142; MCCLANAN, 2002, S. 101f. 50 CAMERON, 1985, S. 77.

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Diesen Wandel kann man auch in der Wissenschaftsgeschichte beobachten – nicht nur ist die Historiographie in der zeitgenössischen Kultur verortet, und deshalb auch eine Form der Konstruktion von „Pastness“; auch beeinflussen sich Geschichtsschreibung und Rezeption oft gegenseitig: Ein Victorien Sardou liest die Werke der zeitgenössischen Byzantinisten, und die Byzantinisten gehen ins Theater und ins Kino. Wichtigster Vertreter dieser akademischen Aufwertung war der berühmte Byzantinist Charles Diehl. Bereits im Jahr 1903 hatte er eine Biographie der Kaiserin, Theodora, impératrice de Byzance, geschrieben. Theodora ist hier die Heldin einer ‚banaleren‘ Geschichte, eine Tänzerin, die das Glück hat, einen reichen und wichtigen Mann zu finden, ihr früheres Leben für ihn aufgibt und zur Ehe und zur Treue bekehrt wird. Ein ähnliches Bild findet man auch in William Gordon Holmes’ The Age of Justinian and Theodora (1907), in dem Theodora eine pervertierte Prostituierte ist, aber nur bis zu ihrer Rückkehr nach Byzanz. Hier wird sie weiser, frommer und bedacht genug, um ihr neues Leben nicht durch unangemessene Abenteuer zu gefährden. Diehl wusste ganz genau, welches Bild der Kaiserin zu dieser Zeit verbreitet war, und verfasste sogar einen Aufsatz über dieses Thema.51 Wenig überraschend widmete er einen großen Teil des Beitrags Sardou. Der Historiker mag die Inszenierung und die Kostüme der Théodora Sardous schätzen, ebenso die generelle Darstellung der Stadt und ihrer Bewohner; auch die Idee einer aktiven, praktischen und willensstarken Kaiserin mag ihm gefallen – dennoch muss er betonen, dass Sardou Opfer der stereotypen Darstellung der byzantinischen Frau ist. Dazu dachte Sardou, so Diehl, nicht daran, dass es neben dem korrupten und sinnlichen Byzanz auch eine elegante, tugendhafte, religiöse Stadt gab, die nicht vergessen werden darf. Wenn bei Diehl auch bereits eine Tendenz zur Aufwertung Theodoras zu beobachten ist, so geschieht dies aber, gemäß den Vorstellungen und Erwartungen der Zeit, durch eine Ablehnung der literarischen Tradition. Diehl will so Theodora zum traditionellen Muster der guten Kaiserin zurückführen. Es bedurfte anderer Zeiten, anderer Wertvorstellungen und anderer Weltanschauungen, um dies zu ändern – und diese fanden sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg, in verschiedenen For-

51 DIEHL, 1926.

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men, die generell einem politischen oder einem erotischen Modell zuzuordnen sind. Im ersten Fall nimmt Theodora die Rolle einer Kaiserin aus dem Volk und für das Volk ein. Eine Begründung konnte auch in den antiken Quellen gefunden werden; Johannes Lydos, ein zeitgenössischer Autor, schrieb in der Tat, dass sie immer auf die Bedürfnisse der ärmeren Leute einging.52 Diese Form der Rezeption wird in einem italienischen Film aus dem Jahr 1954 besonders augenfällig. In einer sehr gespannten politischen und sozialen Situation (Gründung der Republik; Terrorangriff von Portella della Ginestra, 1947; Wahlbetrug bei den ersten freien Wahlen, 1946 und 1948; Attentat auf Palmiro Togliatti, 1948, der das Land fast in den Bürgerkrieg stürzte) hat Riccardo Freda, ein Regisseur, der der kommunistischen Partei nahestand, den Film Teodora, Imperatrice di Bisanzio gedreht. Theodora wird hier als eine junge Frau aus dem Volk dargestellt, die als Tänzerin arbeitet und manchmal stiehlt, aber nur aus Not. Die ganze Bevölkerung von Byzanz ist in zwei große Gruppen geteilt – die Blauen, die Aristokraten, unter der Leitung des bösen Johannes von Kappadokien, und die Grünen, das Volk, das die parasitären Aristokraten hasst. Justinian ist ein junger Kaiser, der von den Aristokraten ausgebeutet wird, der aber auch die Unzufriedenheit des Volks wahrnimmt. Verkleidet streift er in der Stadt umher, um die Stimmung des Volks zu erkunden, und so verliebt er sich in Theodora. Der Film ist die Geschichte einer Verschwörung der Aristokraten, um sich Theodoras zu entledigen. Prokops und Sardous Darstellungen Theodoras scheinen ansatzweise durch, die Figur der Theodora ist jedoch eine andere: Sie will die Privilegien der Aristokratie abschaffen und dem Volk helfen. Sie ist es deshalb auch, die Justinian vorschlägt, den Codex iuris civilis zu publizieren, um dem Volk die Sicherheit des geschriebenen Gesetzes anzubieten. Wie Belisarius ihr sagt, „nur die Bösen können dich hassen, Theodora“. Theodora ist nun eine einfache Frau aus dem Volk, keine Femme fatale mehr – sie ist lediglich ein Opfer der Gesellschaft, auch wenn sie, zumindest in Fredas Film, am Ende reüssiert. Durch den großen Erfolg des Films – nicht nur in Italien, sondern in ganz Europa – wurde so ein neues Bild von Theodora verbreitet, das schnell an Popularität gewann und das Theodoras „Pastness“ nochmals radikal veränderte. Mit dieser 52 JOHANNES LYDOS, Über die Ämter des römischen Staates, 3.69.2.

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Aufwertung Theodoras sind mehrere Vergleiche verbunden, die in den 1960er und 1970er Jahren vorgeschlagen wurden, nämlich zwischen Theodora und Eva Perón, etwa in der Monographie der amerikanischen Ärztin Eva Lucia Fischer-Pap, Theodora, Evita Perón. Empress Theodora Reincarnated. Nur in Deutschland hatte dieses Bild kaum Erfolg. Der Grund hierfür lag aber nicht in der Zurschaustellung eines exzessiven Kommunismus, sondern im Einfluss eines bestimmten Autors und deshalb in einer besonderen nationalen Prägung der frühbyzantinischen „Pastness“. Felix Dahns Roman Ein Kampf um Rom, der immer wieder als Bildungsroman analysiert und 1968 verfilmt wurde, hat die deutsche Rezeption nicht nur beeinflusst, sondern sie derart geformt, dass er sie gegen jede mögliche Alternative aus dem Ausland verschloss. Die Darstellung Theodoras bei Dahn – ein Thema, das hier nicht ausführlich behandelt werden kann – ist noch einer chauvinistischen Idee der Gefahr verhaftet, die von Frauen im politischen Leben ausgeht. Die Tradition Prokops war in jedem Fall auch in anderen Ländern schon zu stark – und Sardous Werk noch zu bekannt –, um eine echte Wende herbeizuführen und Fredas Interpretation überall zu einem dominanten Bild zu machen. Ebenso stark blieb auch die Vorstellung von Theodora als Prostituierter im Gedächtnis – Sex war ein zentrales Element in Prokops Darstellung, und zentral war es auch in der Rezeption. Als aber ab der Mitte des 20. Jahrhunderts die sexuelle Thematik expliziter werden konnte, vermochte sie auch zu einem Motiv für die Aufwertung der Kaiserin zu werden – was zu sehen ist, ist letztlich eine echte Spaltung in zwei große Rezeptionszweige, die die politischen Positionen der Autoren und Vertreter deutlich machen. Auf der einen Seite ist gemäß einer chauvinistischen Weltanschauung Theodora eine zügellose Frau, eine echte Nutte, die unter keinen Umständen als Vorbild gesehen werden kann. Als solche war Theodora eine große Inspiration für eine spezifische, typisch italienische Gattung: die fumetti neri (‚schwarze Comics‘). Es handelt sich um erotische Comics, in denen, wie Andreas C. Knigge richtig bemerkt hat, immer gleiche Szenen von Geschlechtsverkehr vor verschiedenen Hintergründen wiederholt werden.53 Unter diesen Hintergründen finden sich auch

53 Vgl. KNIGGE, 1985, S. 209-216.

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mehrere antike.54 So wurden 1972 und 1973 insgesamt 52 Heftchen unter dem Titel Teodora veröffentlicht (vgl. Abb. 5). In jedem Heft wird betont, dass die Handlung komplett auf historischen Quellen beruhe – was falsch ist; Prokop bleibt aber im Hinterkopf, und die Autoren haben ihn vermutlich auch gelesen; viele Namen werden erwähnt, die in der „Geheimen Geschichte“ zu finden sind, u. a. Hekebolos. Theodora ist hier dann in einer ganz anderen Weise zu sehen als bei Freda. Diese Comics, die im katholischen Italien der 1970er Jahre so vermeintlich revolutionär wirkten, waren in der Tat Vertreter eines sehr konservativen Bildes der Gesellschaft und der Frau im Allgemeinen. Frauen sind entweder Nymphomaninnen oder hässlich, die Darstellung der weiblichen Homosexualität entspricht den billigsten chauvinistischen Erwartungen.55 Das Bild der Frau, auch der Kaiserfrau, soll keineswegs einen Anstoß geben, über die Rolle der Frau in der Gesellschaft und in der Politik nachzudenken; diese pseudohistorischen Darstellungen sollten lediglich das männliche Publikum ansprechen.

Abbildung 5: Teodora (1972-1973)

54 Vgl. CARLA, 2014a. 55 Vgl. ECO, 1973, S. 276-278.

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Auf der anderen Seite steht die Idee Theodoras als freie, unkonventionelle Frau. Dieses Bild wurde zum Beispiel von der LGBTQ-Bewegung übernommen. 1984 feierte in New York Charles Buschs Parodie von Sardou, Theodora, She-Bitch of Byzantium, Premiere (vgl. Abb. 6). Es handelt sich um ein Werk, das sich noch immer einer gewissen Beliebtheit erfreut. Charles Busch kam aber nicht auf die Idee, das Stück zu schreiben, weil er auf irgendeine Weise in Kontakt mit der frühbyzantinischen Geschichte gekommen war, sondern weil er für die bereits erwähnte Schauspielerin Sarah Bernhardt große Bewunderung empfand56 – seine Konstruktion der „Pastness-Theodora“ fand so über Sardou statt und zeigt in einer eindeutigen Art und Weise die Stratifizierung und Komplexität von Rezeptionsphänomenen. Theodora, die ehemalige Zirkusartistin, hat Justinian geheiratet – dieser ist ein pervertierter Pädophiler. Sie bekommt einen Zaubertrank, den sie Justinian geben soll, doch sie trinkt ihn selbst und verliebt sich in Andreas, der eine Verschwörung gegen Justinian organisiert. Nach verschiedenen komplizierten Ereignissen sterben alle, ausnahmslos – die letzte Überlebende ist Theodora selbst, die sich schließlich umbringt. Genderrollen werden immer wieder diskutiert (Theodora verkleidet sich auch als junger Mann), ebenso die sozialen Rollen: der adelige Justinian, seine Tante und die Beraterin Vulva sind bösartige Menschen, die einzigen positiven Charaktere sind die Zigeunerin Fata Morgana und z. T. auch Theodora, die deutlich die soziale Erwartung, dass Frauen Kinder zeugen sollten, diskutiert und ablehnt. Sie könne viel mehr als Kinder zeugen, sagt sie der Tante Vulva – sie sei in der Lage, Macht auszuüben, hätte sie nur ein eigenes kleines Königreich. Aber auch in der Welt der Erotik erfuhr Theodora eine Aufwertung. Dies geschah am Ende des 20. und am Anfang des 21. Jahrhunderts im Werk des vielleicht berühmtesten italienischen erotischen Zeichners, Milo Manara. Dieser ist jedoch kein einfacher Autor von erotischen Comics – politisch sehr engagiert, linksgerichtet, hat Manara seine Werke nie nur für die Unterhaltung der Leser gezeichnet, sondern immer auch als Reflexionen über die Gesellschaft insgesamt und die Rolle der Frau im Besonderen. Theodora kommt zweimal in seinem Werk vor – beide Male ist sie eine moderne feministische Heilige. Sie ist eine Frau, die selbstbewusst ihr Leben gestaltet und ihre Sexualität zügellos 56 Persönliche Mitteilung an den Autor dieses Beitrags.

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auslebt, gegen Frömmelei kämpft und Spontanität und Natürlichkeit in das politische Leben bringt. Pervers ist laut Manara nur die bürgerliche Moralität, die natürliche Instinkte unterdrückt und somit Ursache für Krieg und Gewalt ist.57

Abbildung 6: Charles Busch als Theodora und Ken Elliott als Justinian (1984) Im Jahr 1999 wurde der Band Bolero publiziert. Die Menschheitsgeschichte, schreibt Manara in der Einführung, ist eine unendliche Aneinanderreihung von Sex und Gewalt, in immer neuen Kleidern. Diese zyklische Monotonie erklärt den Titel Bolero. Nur ein Beispiel wird in dieser Einleitung explizit erwähnt – Theodora, eine zentrale Figur in der Reihenfolge von Darstellungen von Sex und Gewalt, die das Buch formen. Das Bild ist metaliterarisch und metakünstlerisch: Nicht nur das Mosaik von Ravenna wird zitiert, sondern auch Prokop (vgl. Abb. 7). Im Jahre 2002 greift Manara nochmals die Figur der Theodora auf, in Il Pittore e la modella (‚Der Maler und das Modell‘). Die Kunstgeschichte wird von Manara aus der Perspektive der Beziehung zwischen Künstler und Modell betrachtet. 57 Vgl. TISCHER, 1994.

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Abbildung 7: Milo Manara, Bolero (1999) Es handelt sich um eine komplizierte Beziehung, die auf einer gegenseitigen Verzauberung beruht. Durch die Bewunderung der Schönheit des Modells kann der Künstler das Schöne an sich sehen. Jede Kunst, auch die kirchliche, basiert auf der physischen Schönheit. Ohne diese, die natürlich eine sehr starke sexuelle Komponente hat, gäbe es überhaupt keine Kunst auf der Welt. Und woher komme das Mosaik von Ravenna? Aus der Schönheit und aus der natürlichen Spontanität Theodoras (vgl. Abb. 8).

Abbildung 8: Milo Manara, Il pittore e la Modella (2002)

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F a z it Die Rezeption von Theodora ist viel breiter als hier aufgezeigt: Die Kaiserin taucht noch in vielen anderen Romanen, Filmen und Kunstwerken auf, die hier nicht besprochen werden konnten. Zweck dieses Aufsatzes war es aber nur, eine Auswahl der bedeutendsten Beispiele ihrer modernen Bearbeitung vorzustellen, die die Entwicklung der Figur in der Konstruktion von „Pastness“ unter verschiedenen kulturellen und politischen Umständen deutlich macht. Die frühbyzantinische Kaiserin stellt unter vielen anderen Persönlichkeiten aus der Antike und aus der gesamten Menschheitsgeschichte lediglich ein interessantes Fallbeispiel für Antikenrezeption dar – und deshalb, laut dem hier vorgestellten Ansatz, für eine diachrone Transkulturalität. Unter verschiedenen sozialen, politischen und religiösen Umständen wird sie immer als ein Musterbeispiel präsentiert – entweder als negatives oder positives, als freie, unabhängige Frau oder als pervertiertes Biest. Durch die literarischen und künstlerischen Filter prägt sie stets das kulturelle Gedächtnis und wird als wichtiger Aspekt der westlichen „Pastness“ bearbeitet und aktualisiert. Sie ist somit ein perfektes Beispiel für die andere Seite der Medaille, den anderen Blick auf die Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart vermittels historischer Studien, den wir doch aber immer präsent haben und untersuchen müssen: [H]istorians and archaeologists cannot discover the cause-and-effect relationships that created the conditions of each present in the first place. Ancient remains [und dies gilt auch für Personen, Episoden, Erzählungen], rather than places that can tell us something about the actual past, become sites at which certain themes and stories of the present manifest themselves.58

Was Theodora in der Zukunft erwartet, hängt zum größten Teil von den nächsten Schritten im Bereich der Gleichberechtigung und der feministischen Bewegung ab. Die Tatsache, dass ihre Rolle als Ikone der Freiheit und Spontanität vergessen worden ist und dass die Mode uns eine

58 HOLTORF, 2005, S. 158.

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bürgerliche, reiche, zugeknöpfte, mit Schmuck behängte Theodora zeigt, lässt aber leider nichts Derartiges am Horizont erkennen.

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Transkulturelle Dynamiken im US-amerikanischen Showbusiness des Gilded Age 1870-1900 MARGIT PETERFY Kultur als wissenschaftlicher Untersuchungsgegenstand bedarf einer historischen Kontextualisierung, da der Begriff der Kultur an sich, laut Ute Daniel, „nicht definierbar [ist], weil er eine zu lange und heterogene Geschichte hat“.1 Auch in der synchronen Betrachtung ist der Gegenstandsbereich der Kulturwissenschaften heute so weit gefasst, dass menschliche Aktionen und Produktionen unterschiedlichster Art in die Betrachtung einbezogen werden.2 Im vorliegenden Fall weist zwar der Titel „US-amerikanisches Showbusiness des Gilded Age 1870-1900“ zunächst auf eine eindeutige thematische, territoriale und temporale Fokussierung hin. Dennoch bleiben bei näherer Betrachtung zahlreiche begriffliche und methodische Ambiguitäten, die auf die Vielfalt der kulturellen Einflüsse im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hinweisen. Diese Einflüsse sind deshalb besonders komplex, weil ihre Dynamik multidimensional ist: Einerseits finden wir Einwirkungen von außen, vermittelt durch Personen, die im Ausland entstandene kulturelle Produkte in den USA verbreiteten. Andererseits wurden zu dieser Zeit in 1 2

DANIEL, 2004, S. 352. Es würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, alle existierenden Abhandlungen und Theorien der neueren Kulturwissenschaften zusammenzufassen. Im Wesentlichen stütze ich mich auf die Ansätze von ASSMANN, 2012; BACHMANN-MEDICK, 2009; HÖRNING/REUTER, 2004; NÜNNING/ NÜNNING, 2003 und SCHEIDING, 2011.

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den USA selbst Kunst- und Kulturschaffende aktiv, deren Sozialisation und künstlerische Ausbildung zwar außerhalb des Landes stattgefunden hatten, die aber ihre Werke nun auf US-amerikanischem Territorium und vor allem für ein US-amerikanisches Publikum produzierten. Der letztere Faktor ist für die folgenden Überlegungen von besonderer Bedeutung, da im Fall der performativen Künste des Showbusiness Fragen der Rezeption einen direkten Einfluss auf die Aufführungen hatten: Es ging schließlich darum, den Geschmack und die Bedürfnisse eines zahlenden Publikums zu treffen. Die Bereitschaft des Publikums, neue ästhetische Erfahrungen zu machen, lässt sich direkt an seiner Bereitschaft ablesen, Eintrittskarten zu kaufen. Somit griffen die zahlenden Zuschauer aktiv in den Prozess des kulturellen Austauschs ein und waren keinesfalls nur passive Empfänger von Einflüssen. Im Folgenden werden zunächst der kulturgeschichtliche Hintergrund und die sozioökonomischen und institutionellen Grundlagen für diese kulturelle Komplexität diskutiert, bevor dann einige Beispiele für transkulturelle Dynamiken innerhalb des Showbusiness vorgestellt werden. Es soll gezeigt werden, dass eine Analyse performativer Praktiken ohne die Wahrnehmung transkultureller Dynamiken ein verzerrtes Bild der amerikanischen Bühnenkultur im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts liefern würde.

H is to r is c h e r H in te r g r u n d u n d M e ta p h e r n d e r k u ltu r e lle n B e g e g n u n g Die Epoche, die oft als Gilded Age bezeichnet wird,3 ist jene historische Periode, in der die kontinentale Ausdehnung der amerikanischen Republik ihren Abschluss fand. Mit seinem berühmten Vortrag „The Closing of the American Frontier“ aus dem Jahre 1893 leitete der Historiker Frederick Jackson Turner den Beginn eines neuen geistesgeschichtli3

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Der Begriff ist eine satirische Prägung von Mark Twain und Dudley Warner (TWAIN/WARNER, 1873) und bedeutet „vergoldetes Zeitalter“. Twain und Warner kritisierten damit die Oberflächlichkeit und vermeintliche Wertlosigkeit der Epoche. Aus heutiger Sicht wird das Zeitalter jedoch nicht nur negativ betrachtet, sondern auch als eine Zeit des Umbruchs und der kulturellen Neuorientierung (vgl. CALHOUN, 2007).

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chen Zeitalters ein, welches nun zum ersten Mal nicht mehr von der Überwindung einer sich ständig verschiebenden Grenze zwischen Zivilisation und der sogenannten „Wildnis“ (wilderness) geprägt sei. Für Turner hatte die frontier und damit die Überschreitung dieser Grenze einen Charakter, der immer nach dem gleichen Muster wirksam wurde: Die Pioniere überqueren die Besiedlungsgrenze, und während sie das Land verändern und urbar machen, verändern sie sich auch selbst. Diesen Prozess in Richtung Individualismus, Demokratie, Erfindungsreichtum usw. nennt Turner „Amerikanisierung“. Die Auswirkungen der Besiedlung seien dabei nicht ökonomisch und örtlich begrenzt, sondern hätten einen weiteren nationalen und kulturrelevanten Wirkungskreis: „And to study this advance, the men who grew up under these conditions, and the political, economic, and social results of it, is to study the really American part of our history.“4 Die wichtigste kulturelle und zivilisatorische Auswirkung der frontier war Turner zufolge demnach die Entwicklung hin zu einer genuin amerikanischen, demokratischen Gesellschaft, die zwar aus den Nachfahren von Europäern bestand, welche aber durch den Kontakt mit dem Kontinent eine neue kulturelle Identität entwickelten.5 Neben Turners Konzeptualisierung gibt es eine weitere sehr einflussreiche Interpretation der nationalstaatlichen Entwicklung, die weniger das Grenzüberschreitungsmotiv betont, sondern typologische Parallelen zu St. John de Crèvecœurs früherer Metapher der Amerikanisierung aufweist. Crèvecœur gilt als der Erfinder der Idee eines neuen amerikanischen Menschentypus, der aus einer Verschmelzung unterschiedlicher „Rassen“ hervorgehe: „Here individuals of all races are melted into a new race of man, whose labors and posterity will one day cause great changes in the world.“6 Obwohl diese Vorstellung bereits 1782 formuliert wurde, erlangte sie erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine Renaissance und weitere Verbreitung.7 Die Vorstellung, dass es sich bei der amerikanischen Kultur um eine „Verschmelzung“ von anderen Kulturen handele, findet sich schließlich auch in Randolph

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TURNER, 1953, S. 29. Vgl. dazu auch MACKENTHUN, 2009. CREVECOEUR, 1925, S. 54f. Vgl. CUNLIFFE, 1975.

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Bournes einst vielbeachtetem Artikel über „Trans-National America“ (1916) wieder.8 In einer gewissen Abgrenzung zu Randolph Bourne hat sich in den letzten Jahren in der amerikanistischen Forschung der Begriff der Transnational American Studies durchgesetzt, mit einer Vielzahl von unterschiedlichen Schwerpunkten. Einerseits handelt es sich dabei um eine begriffliche Zuspitzung der schon seit einigen Jahrzehnten anhaltenden Korrektur eines Ansatzes, der den Anspruch und die Rhetorik des Exzeptionalismus kaum hinterfragt hatte. Andererseits geht es dabei aber auch um eine methodische Neuorientierung: um das Bewusstsein nämlich, dass der Alltag, auch der kulturelle Alltag von Individuen, ob Künstler oder Rezipienten von Kunst, aber auch von ganzen Gesellschaftsgruppen nicht immer und nicht primär durch nationale Selbstund Fremdbestimmung definiert wird, und dass kulturelle Praktiken multidimensional und auch grenzüberschreitend motiviert waren (und sind). Wie einzelne Akteure oder Kulturschaffende handeln und welche Entscheidungen sie dabei treffen, kann trotz aller patriotischer Rhetorik keinesfalls allein auf nationalistische Motive mit Ausrichtung auf eine genuin ‚amerikanische‘ Kultur reduziert werden.9 Hier lohnt es, sich an einen klassischen Theoretiker der Kulturgeschichte zu erinnern – an Jacob Burckhardt, der folgende Unterscheidung trifft: „Die Kulturgeschichte ist die Geschichte der Welt in ihren Zuständen, während man mit Geschichte im Allgemeinen den Verlauf der Ereignisse und ihren Zusammenhang bezeichnet.“10 Weiterhin notiert Burckhardt: „Neben der Wandelbarkeit die Vielheit, das Nebeneinander von Völkern und Culturen, wesentlich als Gegensätze oder als Ergänzungen erscheinend“.11 Burckhardts Erklärung präsentiert eine Alternative zu jener Betrachtungsweise, die Zusammenhänge von der Gegenwart her zurückverfolgt, um Entwicklungen, die nur in der Retrospektive eine innere Logik an den Tag legen, für eine historische Kausalkette zu rekrutieren. Die anscheinende teleologische ‚Zwangsläufigkeit‘ beruht dabei oft genug auf einer selektiven Sichtweise, die jene Phänomene ausblendet, die zu der Kausalkette nicht passen. Die kultur8 9 10 11

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BOURNE, 1992, S. 248-264. Vgl. PETERFY, 1996. BURCKHARDT, 1982, S. 136. EBD., S. 28.

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geschichtlichen „Zustände“ jedoch, die Burckhardt untersucht, müssen keine Funktion in einer Kette von scheinbar zwingend ablaufenden Ereignissen annehmen. Es gilt vielmehr, die kulturellen „Zustände“ in ihrer vielfältigen Potentialität zu betrachten und somit auch nicht nur gradlinig oder – zumindest aus der Retrospektive – ‚kausal‘ verlaufenden Entwicklungen eine kulturgeschichtliche Relevanz zuzusprechen. Im Zusammenhang mit der Thematik dieses Bandes mag die Fokussierung auf „Zustände“ zunächst paradox erscheinen, denn diese widerspricht augenscheinlich der Konzeptualisierung als „Dynamik“. Aber dieser Widerspruch löst sich bei einer weiteren methodischen Reflexion auf: Selbst wenn eine Dynamik als real existierendes Phänomen ‚Bewegung‘ impliziert, ist ein Zugang durch Analyse nur möglich, wenn eben diese Dynamik in einzelne Momentaufnahmen dividiert wird. Erst dann wird sie als eine Reihe von Vergleichen zwischen den Zuständen identifizier- und beschreibbar. Gleichzeitig relativiert die Metapher der „Dynamik“ die teleologische Einspurigkeit vieler historiographischer Betrachtungen. Obwohl zu Beginn dieses Beitrags von einer normativen Definition von Kultur Abstand genommen wurde, lässt sich nun wiederum mit Burckhardt eine beschreibende Definition geben: „Die Cultur, d. h. die ganze Summe derjenigen Entwicklungen des Geistes, welche spontan geschehen und keine universale Zwangsgeltung in Anspruch nehmen“.12 Wichtig ist hier das Attribut „spontan“ und der Verzicht auf eine zentrale Autorität. Für eine Betrachtung der amerikanischen Theater- und Unterhaltungslandschaft gegen Ende des 19. Jahrhunderts bietet Burckhardts Definition einen idealen Ansatz. Zuhörer und Zuschauer betraten ein Zirkuszelt, ein Theater oder eine Wanderausstellung spontan und lediglich mit der Erwartung, unterhalten zu werden. Diese Unterhaltung hatte natürlich einige unverrückbare Rahmenbedingungen, aber eine gehörte ganz sicher nicht dazu: die Bedingung, dass amerikanische Künstler nur ‚amerikanische‘ Kunst zeigen dürfen. Auch der größte amerikanische Patriot hörte gerne Verdi, fieberte mit dem Grafen von Monte Christo oder bewunderte die Tänzerin Lola Montez,

12 EBD., S. 180.

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die eigentlich Eliza Gilbert hieß und nicht etwa aus dem ‚feurigen‘ Süden, sondern aus Irland stammte.13 Das Beispiel von Lola Montez zeigt bereits eindringlich, dass die Kategorien eines binären Kulturaustausches nicht greifen, wenn es darum geht, die Unterhaltungslandschaft unter Maßgabe ihrer kulturellen Dynamiken zu untersuchen. Die Berührungsflächen sind vielfältiger und auch komplexer; es sind auch wahrscheinlich keine ‚Flächen‘, sondern dreidimensionale Verflechtungen. Hier kann Mary Louise Pratts Vorstellung von „contact zones“ in einer erweiterten Variante hinzugezogen werden:14 Die Zone der Begegnung wäre dabei nicht rein räumlich gemeint, sondern bezöge sich auch auf institutionelle „contact zones“. Die Definition von (kulturellen) Institutionen folgt hier den theoretischen Überlegungen von Pierre Bourdieu, der Literatur und Kunst als das Ergebnis von verschiedenen Akteuren in einem institutionellen Feld definiert.15 Übertragen auf die vorliegenden Fallstudien erlaubt dies eine Untersuchung der transkulturellen Dynamiken nicht nur im Vergleich mit, sondern auch jenseits von nationalen Kategorien.

Showbusiness als kulturelle Kontaktzone Die Aneignung von Eigenschaften und äußerlichen Merkmalen einer anderen – in diesem Fall europäischen – Kulturgruppe lässt sich als eine US-amerikanische performative Praktik beschreiben, die von mehreren Historikern bereits explizit als Rollenspiel gedacht wurde. Karen Halttunen spricht in Confidence Men and Painted Women. A Study of Middle-Class Culture in America, 1830-1870 (1982) von einer bürgerlichen Schicht, die sich über bestimmte theatralische Gesten und bewusst angeeignete kulturelle Praktiken definierte.16 ‚Aufführung‘ oder ‚Per13 Die Präsenz ‚ausländischer‘ Kultur und Kulturvermittler lässt sich in der amerikanischen Presse der Zeit nachverfolgen. Seitdem wissenschaftliche Datenbanken zahlreicher, auch provinzieller Zeitungen existieren, ist der Zugang zu dieser kulturellen Nische sehr leicht geworden. Datenbanken der American Antiquarian Society, der Library of Congress und anderer, kommerzieller Anbieter stellen entsprechende Quellen bereit. 14 Vgl. PRATT, 1992. 15 Vgl. BOURDIEU, 1992. 16 Vgl. HALTTUNEN, 1982.

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formanz‘ waren somit nicht nur nicht auf die Bühne beschränkt; vielmehr wurden bestimmte halböffentliche Räume wie etwa das Empfangszimmer selbst zur Bühne. Die zahlreichen Benimmbücher (advice books, conduct manuals) waren gleichsam die Bühnenskripte oder – anachronistisch gesprochen – die Drehbücher dieser Auftritte. Europäische Einflüsse wurden darin als zivilisatorische Maßnahmen begriffen. Als eines der bekanntesten Beispiele fungiert der Euphemismus saloon für eine Bar oder ein pub: ein Lehnwort aus dem Französischen, womit eine gesellschaftliche Verfeinerung zum Ausdruck kommen sollte. Auf die echte, professionelle Bühne übertragen kam dem bereits erwähnten institutionellen Aspekt in kulturellen Entwicklungsprozessen eine besonders wichtige Rolle zu, da Theater und verwandte performative Formen auf eine komplexe organisatorische Struktur angewiesen sind, die einer bestimmten ‚Trägheit‘ unterliegen und somit auch individuellen Handlungen, egal wie revolutionär oder innovativ diese sich auch gebärden mögen, erst mit einer gewissen Verzögerung den Durchbruch erlauben. Denn auch wenn der Wunsch nach einer Neuschöpfung sich in einer Namensgebung wie National Theatre äußert, so kann das dennoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die im Jahre 1839 so umbenannte New Yorker Institution, bei gleichbleibendem Personal, zuvor Italian Opera House geheißen hatte.17 Im Gegensatz zu Namen und Kategorisierungen lassen sich institutionelle Strukturen nicht so schnell und radikal ändern. Auf der anderen Seite kann gerade dieser Impuls der Umbenennung als ‚typisch amerikanisch‘ identifiziert werden, da er die nationale Selbsterschaffung durch das Postulieren einer neuen ‚amerikanischen‘ Identität imitiert.18 Während der Saison 1869/1870 wurden auf den New Yorker Bühnen gerade mal ein halbes Dutzend Stücke aufgeführt, die als ‚amerikanisch‘ bezeichnet werden konnten, während es mehr als 70 ‚Importe‘ gab.19 Es existierte also eine frontier mitten durch New York; sowohl zwischen den Stücken selbst als auch zwischen den Theatern und den

17 Vgl. COLUMBIA UNIVERSITY, 2013. 18 G. K. Chesterton beschrieb 1922 in seinem Reisebericht „What I Saw in America“ die USA als das einzige Land, das sich per Credo definierte (vgl. CHESTERTON, 1922, S. 7). 19 Vgl. BORDMAN, 1994, S. 5.

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Kompanien.20 Wie in den vorherigen Überlegungen aber bereits angedeutet wurde, kann diese ‚Grenze‘ nicht als eine absolute Linie gedacht werden, sondern eher als ein fluktuierendes Forum für Ideen und Akteure, die sich in immer wieder neuen Konstellationen zusammenfanden. Die von Gerald Bordman verfasste Chronik des amerikanischen Theaters zwischen den Jahren 1869 und 1914 gibt einen lebhaften Eindruck von diesen wechselnden Zuständen, in denen etwa amerikanische Regisseure mit einer Truppe aus britischen, irischen und amerikanischen Schauspielern Stücke basierend auf Romanen des Franzosen Victor Hugo aufführten.21 Somit kommt dem Präfix ‚trans-‘ bei der Entwicklung des amerikanischen Showbusiness eine besonders wichtige Rolle zu. Mit ‚trans-‘ ist ein ‚Jenseits‘ oder ‚Darüber-hinaus‘ gemeint, was auch eine Grenze impliziert, die überschritten wird. Wenn es eine solche eindeutige Abgrenzung aber nicht gibt, beziehungsweise wenn sie sich ständig ändert, und das, was eben noch jenseits der Grenze war, im nächsten Moment schon ‚annektiert‘ wurde und nun auch zum ‚eigenen‘ kulturellen Territorium gehört, dann müssen viele Ergebnisse als provisorisch angesehen werden und es gilt, die Standpunkte und Aussagen immer wieder zu relativieren. Hier muss auch deutlich zwischen der amerikanischen Publizistik über amerikanisches Theater und der eigentlichen Aufführungspraxis unterschieden werden. Journalisten und Kritiker mögen zwar immer wieder entsprechende Forderungen nach einem „nationalen“ oder „patriotischen“ Theater gestellt haben, dies kann jedoch nicht mit den Zielsetzungen der tatsächlichen Akteure gleichgesetzt werden.22 Die Grund20 Die Präsenz von europäischen Schauspieltruppen wurde bereits in der frühen Republik beklagt: „It is, however, a matter of regret that we should be so entirely dependent on a foreign market, not only for the dessert, but also for the first and second courses, and that our caterers should so exactly model themselves upon ‚liberal and enterprisingʻ managers of the London stage“ (zit. n. WOLTER, 1993, S. 98f.). 21 Bordman nennt diese Interaktion „the tug between the past and the present (and implicitly, the future), between foreign influences and native ones“ (BORDMAN, 1994, S. 5). 22 Für eine erste Übersicht ist die von Jürgen Wolter herausgegebene Anthologie The Dawning of American Drama. American Dramatic Criticism, 1746-1915 hilfreich, wobei auch hier in Betracht gezogen werden muss, dass durch das Herausgeberinteresse jene Texte bevorzugt aufgenommen

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voraussetzung jedes Unternehmens des Showbusiness war die Abhängigkeit von den zahlenden Zuschauern und damit ein geschäftliches Interesse. Durch leichtere Kommunikation und bequemere Transportwege wuchsen sowohl die Konkurrenz – auch in den entlegeneren Regionen – als auch die Möglichkeit, größere Gewinne zu erwirtschaften. Die Schauspielerin Olive Logan kritisierte bereits 1870 die Profitgier bestimmter Investoren, die die English Burlesque Blondes importierten und mit ihnen durch das ganze Land tourten.23 Diese Truppe parodierte zwar griechische Mythen in der Tradition der sowohl in den USA als auch in Europa sehr verbreiteten dramatischen Literaturburlesken,24 zeichnete sich aber zugleich durch die im Mittelpunkt stehenden Auftritte von Frauen in Männerkleidung aus. Diese Hosenrollen waren besonders kontrovers, da es sich bei den Hosen eigentlich um eng anliegende sogenannte tights handelte, die die Konturen des weiblichen Körpers in jedem Detail zeigten. Die Kontroverse wird oft als Beleg für viktorianische (oder gar puritanische) Prüderie angeführt. Der durchschlagende Erfolg kann aber auch anders interpretiert werden, nämlich als eine gesellschaftlich akzeptierte Transgression, deren ästhetischformale Ausprägung eine Überwindung von Traditionen restriktiver Körperlichkeit impliziert. Dass sich Olive Logan als amerikanische Schauspielerin über die nichtamerikanische Konkurrenz beklagte, illustriert die Parallelen zwischen dem Bereich des Theaters und dem literarischen Verlagswesen, in dem billige Nachdrucke britischer Bücher es den amerikanischen Autoren erschwerten, ihre eigenen Werke zu verkaufen. Dennoch hatte diese Konkurrenz – sowohl im literarischen als auch im performativen Bereich – ganz konkrete Auswirkungen auf die Ausprägung der amerikanischen Kultur, vor allem im populären Sektor. Die Vermutung, dass der weltweite Erfolg der US-amerikanischen Populärkultur im 20. Jahrhundert darauf zurückzuführen ist, dass die Werke dieser Kultur bereits in den USA einem heterogenen Publikum gefallen mussten, und somit einem multikulturellen test run unterworfen waren, wurde bereits

wurden, die den ‚nationalenʻ Charakter der Bühnen betonten (vgl. WOL1993). 23 Vgl. LOGAN, 1870, S. 128. 24 Vgl. KITCHIN, 1967. TER,

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von der Forschung geäußert.25 Die kritische Aufmerksamkeit richtete sich dabei aber zumeist auf Werke des 20. Jahrhunderts und die multikulturellen Rezipienten. Im Folgenden sollen jedoch die Akteure und Produzenten die transkulturelle Ausprägung dieser performativen Gattungen für die Anfänge des modernen Showbusiness beleuchten. Die Kulturschaffenden standen einerseits in der jeweiligen Tradition ihrer Zunft; sie waren Künstler, die ihre Arbeit mit Stolz auf ihre Kreativität ausübten. Dass sie zugleich mit ihren Produkten ihren Lebensunterhalt verdienen mussten, war eine weitere Komponente ihrer Beschäftigung. Es ist hier nicht unwesentlich, dass dabei ein Ethos der Professionalität entwickelt wurde. Die Notwendigkeit, mit den eigenen kreativen Produkten Geld zu verdienen, wurde nicht als Manko angesehen, sondern als Garant der Unabhängigkeit. So lässt sich etwa der Widerstand gegen Konzepte eines national theatre oder einer national opera erklären. Viele Theaterschaffende sahen diese Institutionen als ein Zeichen europäischer Dekadenz an, als inneres Kapitulieren und Rückfall in die Strukturen der höfischen Patronage.26 Mit der bereitwilligen Akzeptanz dieser ökonomischen Unabhängigkeit hing strukturell die Notwendigkeit zusammen, dem Publikum immer einen Schritt voraus zu sein und es gerade mit so viel Neuem zu überraschen, dass es sich nicht vor den Kopf gestoßen fühlte, aber dennoch geneigt war, dafür Geld zu bezahlen. Eine natürliche Quelle für Neuerungen aller Art war nicht nur die eigene Imagination, sondern auch die Imitation von Elementen aus anderen Kulturkreisen. Die Analyse von inter- und transkulturellen Dynamiken in der Geschichte der amerikanischen Literatur hat eine lange Tradition, wohingegen das populäre Theater und andere performative Gattungen erst in 25 Vgl. Richard Pells: „The heterogeneity of America’s population – its ethnic, racial, class, and regional diversity – forced the media to experiment with messages, images, and story lines that had a broad multicultural appeal, an appeal that turned out to be equally potent for multiethnic audiences abroad“ (PELLS, 1997, S. 209). 26 Die Haltung gegen ein zentralisiertes Theater wird 1887 in der einflussreichen Zeitschrift The North American Review referiert: „In the United States it is frequently contended that national aid to Art is opposed to the spirit of our institutions, and even if this opinion did not exist, the jealousy of other States would probably prevent the founding of a governmentally assisted theater in New York – the only place where it should be started“ (MAGNUS, 1887, S. 568).

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den letzten Jahrzehnten vermehrt Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen wurden.27 Da es keine Photographien und häufig auch keine Manuskripte oder andere Dokumentationen von diesen Produktionen gibt, ist die Quellenlage oft schwierig.28 Das ,Ephemereʻ dieser Ausdrucksformen führte tatsächlich dazu, dass sie lange Zeit nicht nur nicht untersucht, sondern auch nicht wahrgenommen wurden. Dies erklärt auch, dass die amerikanische Theatertradition in so vielen amerikanischen Literaturgeschichten meist mit der Erwähnung von Royall Tylers Stück The Contrast (1787) beginnt und dann direkt zu den Dramen Eugene O’Neills übergeht. Für die Anthologien und die Literaturgeschichte existierten lange Zeit nur jene Stücke, die in gedruckter Form vorlagen und damit für Studierende und Wissenschaftler zugänglich waren. Für meinen Überblick werde ich Beispiele mit unterschiedlichen Schwerpunkten bezüglich der transkulturellen Dynamik anführen, die jedoch alle durch mindestens zwei wichtige Faktoren verbunden sind: den performativen und den primär unterhaltenden Charakter, der letztendlich für den kommerziellen Erfolg sorgte und ohne den die Produktionen nicht möglich gewesen wären. Dabei wird der Begriff Kommerz recht weit gefasst und schließt Gewinne für philanthropische Zwecke mit ein. Neben dieser Verankerung im kommerziellen Bereich spielt ein weiterer Aspekt eine wichtige Rolle: die Spannung zwischen den programmatischen Entwürfen zur nationalen Identität und der Lebenspraxis der Menschen. Hier besteht teilweise eine große Diskrepanz. Für die Kulturschaffenden – sowohl jene, die generell zur Hochkultur gerechnet werden, als auch die ,Unterhalterʻ – war die nationale Selbstbestimmung und Abgrenzung von der ausländischen Konkurrenz nicht nur eine Frage des ideellen und ästhetischen Anspruchs, sondern auch des ökonomischen Überlebens. Die Rezipienten der Kultur dagegen beschäftigten sich in der Regel wenig oder gar nicht mit der Frage der nationalen Identität. In allen meinen Beispielen werden daher neben transkulturellen Aspekten auch das republikanische Ideal der Selbstbestimmung (self-reliance) wie auch der Wunsch nach spiritueller künstlerischer Freiheit eine Rolle spielen. Diese stehen im Zentrum vieler 27 Vgl. FLYNN, 1986, S. 418. 28 Vgl. GALE/FEATHERSTONE, 2011, S. 19.

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Definitionen des US-amerikanischen Selbstverständnisses. Spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts kann dieses Ideal gar als Ideologie bezeichnet werden, d. h. als ein ganzes System von unhinterfragten Konzepten. Oft sind die Elemente dieses Ideals Teil einer kollektiven Alltagskultur. In diesem Sinne kann der Filmhistoriker Eric Barnouw behaupten: „Other people’s fiction we can recognize as propaganda, – and they ours. One’s own is, entertainment.“29 Laut Barnouw muss „entertainment“ die Zuschauer zunächst einmal in ihren Erwartungshaltungen bestätigen; Kritik oder Provokation dagegen können nur indirekt anhand besonderer Hilfsmittel wie Humor oder Melodrama vermittelt werden. Insgesamt liefern die Beispiele Argumente für die Annahme, dass die allgemeine Akzeptanz für ästhetische Neuerungen und Grenzüberschreitungen mit der Bereitschaft einherging, Fremdes auch im Alltag zu akzeptieren. Auch die Entwicklung hin zur Akzeptanz von Individualismus, bis hin zur sexuellen Selbstbestimmung, kann in diesen Zusammenhang gestellt werden. Gleichzeitig entstanden dabei Rezeptionsstrukturen, die einer besonderen Interpretation bedürfen, weil sie bestimmten gängigen Erwartungen zunächst widersprechen. Die zeremoniellen und auch politischen performativen Praktiken der amerikanischen Ureinwohner können als der Anfang eines transkulturellen Austausches auf dem Kontinent gelten. Die oft auch in gedruckter Form vorliegenden Vertragsdokumente zwischen Engländern und Indianern enthielten genaue Protokolle der Begegnungen. Diese fanden sowohl in den Kolonien als auch in England Verbreitung. Die rhetorischen Fähigkeiten der Indianer wurden darin zum ersten Mal dokumentiert und danach bis in den Untersuchungszeitraum dieses Beitrags fortgeschrieben. Thomas Jefferson, einer der sogenannten ‚Gründerväter‘ der amerikanischen Republik, benutzte diese rednerischen Errungenschaften gar als Argument gegen die amerikakritischen Äußerungen des Comte du Buffon. Buffon behauptete, auf amerikanischem Boden und im amerikanischen Klima müsse alles zwangsläufig degenerieren. Die Rede des sterbenden Häuptlings Logan, die Jefferson daraufhin in seinem Band Notes on the State of Virginia (1787) veröffentlichte, sollte beweisen, dass sich auch in Amerika eine rednerische Performanz im

29 BARNOUW, 1983, S. 34.

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Sinne der klassischen Rhetorik entwickeln konnte.30 Bis in die 1890er Jahre lernten US-amerikanische Schulkinder diese Rede des Häuptlings Logan, auch „Logan’s Lament“ genannt, als Beispiel indianischer Eloquenz auswendig, wie sich John Palmer Williamson erinnert: When I was a school-boy in Baltimore, one afternoon in the week was consecrated to the awful rites of ‚declamation‘. For these exciting functions we had several favorite pieces, […] most acceptable to our hysterical raptures was the Speech of Logan because it so cunningly blended the heroic with the pathetic, the tomahawk with tears.31

Die Vorstellung des Indianers als ‚Redner‘ erinnert natürlich auch an die des edlen Wilden, aber die Konzepte sind nicht deckungsgleich. Der Indianer bewies seine Eloquenz in der Performanz zusammen mit einer bestimmten körperlichen Ausstrahlung. Wie wirkungsvoll und erfolgreich diese Kombination über lange Strecken des 19. Jahrhunderts war, beweist die Aufführungsgeschichte des Theaterstückes Metamora. Dieses enorm erfolgreiche Werk, eine intendierte Tragödie, die aber eher ein Melodrama darstellte, handelt von der historischen Persönlichkeit Metacom oder King Philip (die Umbenennung in „Metamora“ hatte rein deklamatorische Gründe) und fiktionalisierte eine historische Episode aus der Zeit des King Philip’s War (1675-1676). Das Stück endet ebenfalls mit einer indianischen Rede, in der Metamora, alias King Philip, kurz vor seinem Selbstmord eine Tirade gegen den „white man“ loslässt – eine Tirade, die mit einem grandiosen Fluch endet: „May your graves and the graves of your children be in the path the red man shall trace! And may the wolf and panther howl o’er your fleshless bones, fit banquet for the destroyers! Spirits of the grave, I come! But the curse of Metamora stays with the white man!“32 Aus heutiger Sicht ist es interessant, dass sich das zahlende Publikum bereitwillig verfluchen ließ. Es fühlte sich wohl in seiner eigenen Überlegenheit sicher, ließ sich aber den Schauer der angedrohten Rache in der Darbietung des Schauspielers Edwin Forrest gerne gefallen. Forrest im Gegenzug achtete sehr wohl darauf, dass außer ihm niemand die 30 Vgl. JEFFERSON, 1982, S. 62f. 31 WILLIAMSON, 1896, S. 497. 32 STONE, 1995, S. 79.

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Rolle des Metamora spielte; deshalb gab es auch keine gedruckte Ausgabe des Stückes, und es wurde nach seinem Tod nicht mehr aufgeführt. Selbst der Verfasser war nur Eingeweihten bekannt. Dies ist nicht verwunderlich, wenn man die historischen Plakate betrachtet: Den Namen von John Augustus Stone, des Autors des Stückes, sucht man auf ihnen vergeblich. Forrests erfolgreiche Personifizierung des indianischen ‚Anderen‘ basierte auf einer außergewöhnlichen persönlichen Begegnung mit einem transkulturellen Aktanten par excellence, dem Häuptling Pushmataha, der zwischen indianischer und weißer Lebenswelt hin und her wechselte. Forrest lernte diesen Mann auf einer seiner Tourneen kennen und war von dessen indianischer Erscheinung fasziniert.33 Pushmatahas Identität entfaltete sich aus der jeweiligen Rolle, die er gerade spielte. Dieses erste Beispiel für transkulturelle Dynamik im amerikanischen Theater könnte etwa durch die sogenannten Indian Plays oder Pageants (große Freiluftveranstaltungen) ergänzt werden. Für meine Argumentation ist es wichtig, dass sich in der Gestalt der Indianerdarstellung eine transkulturelle Komponente zeigt, die aufgrund ihrer flüchtigen Natur historiographisch zwar schwer zu fassen ist, durch die breite Rezeption jedoch eine große Wirkung im kulturellen Erleben des amerikanischen Alltags hatte. Dass nach der Etablierung eines professionellen, akademischen Kritikerwesens diese und ähnliche ‚niedere‘ Formen der Unterhaltung nicht der Kultur zugerechnet wurden, beschleunigte ihr Verblassen im kollektiven akademischen Gedächtnis. Im direkten Gegensatz zu der flüchtigen oder ephemeren Natur performativer Gattungen steht nun die konkrete Körperlichkeit der Darsteller auf der Bühne. Dieses Charakteristikum der Performanz, die Präsenz des Körpers, und der wortwörtlichen Zur-Schau-Stellung stand besonders in den amerikanischen britischen Kolonien und später auch in bestimmten Teilen der USA in einem besonderen Spannungsverhältnis. Das liegt natürlich an den Theaterverboten ‒ nicht nur im puritanischen Neuengland, sondern z. B. auch in Philadelphia, wo die Quäker ebenfalls die Körperlichkeit, den potentiellen Voyeurismus der Zuschauer im Kontext von Bühnendarstellungen ablehnten.34

33 Vgl. JONES, 1996. 34 Vgl. HOUCHIN, 2003, S. 6-39.

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In der historischen Entwicklung zeigt sich aber eine erstaunliche Parallele: Transgressionen in der Darstellung der Körperlichkeit gehen regelmäßig mit Transgressionen über kulturelle und nationale Grenzen einher. Dass der ‚Indianerʻ Metacom auf der Bühne mit dem energischen Edwin Forrest gleichgesetzt wurde, spricht ebenso dafür wie die für heutige Zuschauer ‒ gelinde gesagt ‒ seltsam anmutenden MinstrelShows, in denen sich weiße Schauspieler als Afroamerikaner kostümiert, d. h. vor allem die eigene Haut an allen sichtbaren Stellen schwarz geschminkt hatten. Der selbsternannte Urheber dieser Gattung, T. D. Rice, war bereits Schauspieler und Sänger, als er 1821 einen Sklaven dabei beobachtete, wie dieser, scheinbar nur zu seiner eigenen Belustigung, ein Lied vor sich hin summte und dazu bestimmte ungewöhnliche Tanzbewegungen ausführte.35 Rice erkannte das performative und ästhetische Potential der Bewegungen, imitierte sie und baute sie schließlich zu einem abendfüllenden Programm aus, das er „Ethiopian Opera“ nannte. Einerseits ist diese Bezeichnung parodistisch gemeint: Verglichen mit den aufwendigen Produktionen von Opern mit einem Orchester, Bühnenbild etc. ist die Gattungszuschreibung „Opera“ hyperbolisch. Andererseits ist in unserem Kontext das Attribut „Ethiopian“ besonders interessant. Die Denotation ist eindeutig und bezieht sich auf die Sklaven afrikanischer Abstammung, für die metonymisch der Name „Ethiopia“ verwendet wird. Ebenso wichtig sind die Konnotationen, denn die Herkunftsbezeichnung bezieht sich hier nämlich primär auf ein Land oder eine Nation, und nicht auf eine Ethnie. Damit wird eine interkulturelle oder auch transkulturelle Beziehung hergestellt, keine biologistische. Es bleibt natürlich unbestritten, dass die Minstrel-Shows und die Kultur des blackface aus heutiger Perspektive aufgrund des gesellschaftlichen Kontextes und der Art der Rezeption insgesamt als rassistisch bezeichnet werden müssen. Dennoch ist ihr Erfolg auch auf die genuin neuen formalen und ästhetischen Elemente dieser Aufführungspraxis zurückzuführen. Als Rice eine Tournee in England unternahm, waren die dortigen Zuschauer von seinen Aufführungen ebenso begeistert wie die Amerikaner. Dies ist ein weiterer Hinweis darauf, dass die Tänze und Bewegungsmuster, die Rice im Repertoire hatte, nicht nur als Verhandlungen eines spannungsbeladenen Verhältnisses zwischen 35 Vgl. hierzu die Einleitung bei LHAMON/RICE, 2009, S. vii-xxiv.

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master und slave in den USA interpretiert werden können. Vielmehr ist der Erfolg auf die neuen und originellen Ingredienzen dieser Aufführung zurückzuführen. Aber die internen Bewegungsmuster oder Dynamiken solcher transkultureller Strömungen waren im Bereich des Theaters und Showbusiness teilweise noch komplexer. So gehörte ab den 1850er Jahren standardmäßig auch eine Parodie oder eine Burleske zum Programm der Minstrel-Shows, meist auf der Grundlage eines ShakespeareStückes. Auf den ersten Blick wirkt diese Kombination abstrus, scheint doch ein urbritischer Klassiker mit afroamerikanisch inspirierten Tanzund Gesangseinlagen wenig gemein zu haben. Die Aufführungspraktiken und -möglichkeiten in der frühen Republik liefern eine Erklärung für die innere Logik solcher kultureller und intertextueller Komplexität. Burlesken oder Parodien funktionieren nur auf der Grundlage, dass die Ausgangstexte sich einer allgemeinen Bekanntheit erfreuen. Die von Amerikanern verfassten Theaterstücke dieser Zeit hatten aber mit wenigen Ausnahmen, wie z. B. das bereits erwähnte Metamora, nicht den Bekanntheitsgrad von Shakespeares Stücken. Dies hing wiederum damit zusammen, dass über lange Zeit vorrangig britische Schauspieler und Schauspieltruppen Stücke in den USA verbreiteten.36 Dies begann bereits in der Kolonialzeit, z. B. durch die American Company, durch deren Namen man sich nicht täuschen lassen sollte: Es handelte sich dabei um eine britische Truppe, die sich einfach aus Marketing-Gründen umbenannt hatte. Bis spät in das 19. Jahrhundert wurde Shakespeare in den USA von europäischen Schauspieltruppen aufgeführt. Sie kamen nicht nur aus Großbritannien, sondern auch aus Italien, Polen, Frankreich und Deutschland. Der italienische Star Tommaso Salvini hatte von 1873 bis 1889 fünf Tourneen mit durchschlagendem Erfolg – obwohl er nur auf Italienisch auftrat. Olive Logan berichtet voller Erstaunen über solche Aufführungen: Their polyglot performances were not, as one might suppose, sustained solely by the foreign-born citizens who speak the foreign tongue in which they were given; but, with an absurdity which words fail to express, they were listened to by vast crowds of Americans, who would sit 36 Vgl. BRISTOL, 1990.

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Transkulturelle Dynamiken im US-amerikanischen Showbusiness for from three to six mortal hours listening to a play whose language they did not understand.37

Das Publikum hatte aber trotz dieser „Absurdität“ offensichtlich Gefallen an den Aufführungen, denn seine Teilnahme war natürlich freiwillig ‒ das, was Burckhardt als „spontan“ bezeichnete. Die wahrscheinlich vielfältige Motivation der Zuschauer kann hier nicht im Detail untersucht werden. Sicherlich interessierten sie sich aber für die schauspielerische Interpretation eines bekannten Stoffes, die Stimme und die Ausstrahlung der Akteure – in einem Wort, für die Performanz. Zugleich führte dies zu einem Bewusstsein für unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten je nach nationaler oder kultureller Zugehörigkeit. Wie ernst die unterschiedlichen Aufführungspraktiken genommen wurden, wird aus einem blutigen Zwischenfall aus dem Jahr 1849 in New York ersichtlich. Obwohl der Astor Place Riot mit 25 Toten einen komplexen, auch lokalpolitischen Hintergrund hat, entzündete sich der Streit über die unterschiedlichen Interpretationen einer Shakespeare-Rolle: einerseits der körperbetonte, energische („muscular“) Stil des Amerikaners Forrest und andererseits die nachdenklichere, zurückhaltendere Aufführungspraxis des Briten Macready.38 Die Verbindung von körperlicher Präsenz auf der Bühne und dramatischen Elementen, die aus anderen Kulturkreisen importiert wurden, finden wir auch in einer besonderen, diesmal genuin neuen amerikanischen performativen Gattung, den sogenannten Authors̕ Carnivals. Authors’ Carnivals waren halbkommerzielle Veranstaltungen, die immer karitativen Zwecken dienten und am ehesten mit einem Maskenball oder einem Jahrmarkt verglichen werden können. Es handelte sich dabei um mehrtägige Inszenierungen in großen Hallen, in denen Laiendarsteller auf mehreren kleinen Bühnen sogenannte ‚lebende Bilderʻ oder tableaux vivants aus bekannten literarischen Werken darstellten. Die Autoren selbst waren nicht präsent, weshalb Authors’ Carnivals eine leicht irreführende Bezeichnung ist.39 Als Rahmenprogramm gab 37 LOGAN, 1870, S. 399. 38 Vgl. MOODY, 1958. 39 Zu den Authors’ Carnivals gibt es keinerlei sekundärliterarische Aufarbeitung. Die Autorin selbst forscht über dieses Phänomen und betreut eine Dissertation zum Thema. Die Ähnlichkeit zu Walt Disneys Themenpark Disneyland ist nicht von der Hand zu weisen. Ob sich Disney selbst be-

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es weitere Elemente wie etwa eine große Prozession oder kürzere musikalische und tänzerische Darbietungen. Die Besucher der Authors’ Carnivals zahlten Eintritt und beurteilten die tableaux vivants danach, wie genau sie die literarische Vorlage nachahmten und wie originell sie dabei vorgingen (vgl. Abb. 1).

Abbildung 1: Authors’ Carnival in Chicago (1879) Unsere wichtigsten Quellen über die Authors’ Carnivals sind zeitgenössische Zeitungsberichte wie etwa ein Artikel des Philadelphia Inquirer aus dem Jahre 1876. Hier wird im Detail über die Veranstaltung berichtet, in deren Rahmen Werke folgender Provenienz inszeniert wurden: Shakespeare, Tennyson, Dickens, Scott, Mühlbach, Tausendundeine Nacht, Molière, Marie Antoinette, Moore. Die amerikanischen Autoren Irving, Longfellow, Whittier und Hawthorne waren ungeachtet der Dekoration in den Farben der amerikanischen Flagge in der Unterzahl.40 wusst an Authors̕ Carnivals angelehnt hat, ist nicht bekannt, zumindest noch nicht, aber die Parallelen sind vorhanden: Das Eintauchen in eine inszenierte Welt mit lebendigen Darstellern von fiktionalen Figuren, die sich nicht auf einer Bühne bewegten, sondern sich unter die Besucher mischten, ist nur eine von vielen Gemeinsamkeiten. 40 N. N., 1876a.

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Es ist auffällig, dass trotz dieser patriotischen Dekoration und obwohl sich diese Art der Veranstaltungen tatsächlich erst in den USA entwickelt hatte, die Bücher und dargestellten literarischen Figuren alle aus der ‚Alten Weltʻ stammen. Mit ganz wenigen Ausnahmen war dies bei allen Authors̕ Carnivals der Fall. Wenn es um den Wunsch nach Unterhaltung und die reine Lust an der Performanz ging, so wurde aus der gesamten Weltliteratur geschöpft. Dies war aber zugleich ein Symptom für eine äußerst diverse amerikanische Rezeptionslandschaft, die sich nicht an programmatische Aufforderungen der amerikanischen Intelligenzija hielt. Es ist ebenfalls noch nicht bekannt, was etwa europäische Beobachter von diesem unbekümmerten Umgang mit literarischen Figuren, auch großen Klassikern wie Goethe oder Dante, hielten. Sicherlich lassen sich aber in der Rezeption Parallelen zu einer weiteren Gattung herstellen, mit der ich meine Ausführungen zur transkulturellen Dynamik in den Anfängen des amerikanischen Showbusiness abschließen möchte. Es handelt sich dabei noch einmal um die literarische Burleske im Sinne einer Parodie. Burlesken gehörten bei Schauspieltruppen zum Standardprogramm und Shakespeare war, wie bereits erwähnt, eine der wichtigsten Quellen. Weiterhin wurden vor allem antike Mythenstoffe parodistisch umgeschrieben. Einen solchen antiken Mythenstoff brachte im Jahre 1868 die britische Schauspielerin Lydia Thompson nach Amerika. Mit ihrer auch British Blondes genannten Truppe, die ausschließlich aus weiblichen Darstellern bestand, führte sie das Stück Ixion, or The Man at the Wheel auf. Ixion ist eine Gestalt aus der griechischen Mythologie, der zur Strafe für seine Transgressionen an ein Rad gebunden wird, das sich ewig dreht. Wie bereits erwähnt, traten die Frauen in der parodistischen Bearbeitung knapp und eng bekleidet als Männer auf, wodurch Thompson die leg shows begründete und popularisierte.41 Der Autor und einflussreiche Kritiker William Dean Howells kategorisierte solche leg shows, in denen Frauen nicht nur ihre Beine zeigten, sondern sich auch wie Männer auf der Bühne bewegten, als Beispiele einer „horrible prettiness“.42 Einerseits konnte er die visuelle Anziehungskraft der Darstellungen nicht leugnen, andererseits fand er die Präsentation der weibli41 Vgl. ALLEN, 1991. 42 HOWELLS, 1869, S. 643.

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chen Körper schockierend. Diese Kombination von Anziehung und Ablehnung galt aber zunächst nur für ausländische Darstellerinnen. In seinem Artikel „The New Taste for Theatricals“ gesteht er den amerikanischen Imitationen aus dem Jahre 1869, die einheimische Schauspielerinnen einsetzten, nur noch das „horrible“ zu: The effect upon the unprepared spectator was all the more stupefying from the fact that most of the ladies were not dancers, and had not countenances that consorted with impropriety. Their faces had merely the conventional Yankee sharpness and wanness of feature, and such difference of air and character as should say for one and another, shop-girl, shoe-binder, seamstress; and it seemed an absurdity and injustice to refer to them in any way the disclosures of the ruthlessly scant drapery. A grotesque fancy would sport with their identity: „Did not this or that one write poetry for her local newspaper?“ so [sic!] much she looked the average culture and crudeness.43

Howells’ unterschiedliche Maßstäbe wurden in den folgenden Jahren langsam, aber kontinuierlich aufgeweicht. Die Wahrnehmung der ‚ausländischenʻ moralischen Verworfenheit und der gleichzeitige Respekt für eine gelungene und neuartige Performanz führten bald zur Entstehung einer ‚echtenʻ amerikanischen Burleske. Die Komponisten Edgar Everett Rice and John Cheever Goodwin begannen das Projekt als eine Geschäftsidee und entsprechend suchten sie ihre Vorlage aus: das populäre epische Gedicht Evangeline, verfasst von Amerikas damals erfolgreichstem Dichter, Henry Wadsworth Longfellow. Das daraus resultierende „Operatic Extravaganza“ war drei Jahrzehnte lang die erfolgreichste Broadway-Produktion überhaupt (vgl. Abb. 2). Rice und Goodwin erklärten die Motive für die Komposition ihres Musicals mit ihrer Ablehnung von Thompsons Ixion, und vor allem mit ihrer Ablehnung der erotisch-provokativen Aspekte der leg show. Evangeline wurde entsprechend als ein harmloses Vergnügen beworben.44

43 EBD., S. 639. 44 JACKSON, 1994, S. xv.

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Abbildung 2: Werbeplakate für Evangeline Diese Erklärung ist allerdings wieder im Bereich des Marketings anzusiedeln, denn de facto übernahmen Rice und Godwin sehr viele Elemente der britischen Burleske. Dazu gehörten nicht nur die Anspielungen aller Art und überhaupt die Gattung der Parodie, sondern auch die Darstellerinnen in Männerrollen und jene ‚Strumpfhosenʻ, die Howells zufolge bei Thompson zu gewagt waren. Indem die Autoren jedoch eine amerikanische literarische Vorlage wählten und auch ihre Komik durch landestypische Elemente geprägt war, konnten sie das britische Vorbild so bearbeiten, dass es nun als durch und durch amerikanisch beworben werden konnte. Die Funktionalisierung eines nationalistischen Diskurses wird etwa in dem Programmheft der Bostoner Auführung deutlich, in dem die Declaration of Independence parodistisch zitiert wird: „In the course of inhuman events, when you find yourself having to entertain your mother and maiden aunt from out of town […] take them to the musical extravaganza of Evangeline, The Belle of Acadie.“45 Das Musical Evangeline hat inhaltlich sehr wenig mit der Originalvorlage gemein. Bei Longfellow ist Evangeline eine junge Frau, die zusammen mit ihrer gesamten Dorfgemeinschaft im Kontext des Sie45 N. N., 1876b. Mit Erlaubnis der New York Public Library for the Performing Arts.

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benjährigen Krieges aus ihrem Heimatdorf im heutigen Nova Scotia vertrieben wird, was historisch belegt ist. Nach ihrer Ankunft in den damals noch englischen Kolonien sucht Evangeline den gesamten nordamerikanischen Kontinent vergeblich nach ihrer Jugendliebe ab. Allein die Tatsache, dass das Werk als Grundlage für eine Burleske gewählt wurde, zeigt bereits seine kulturelle Breitenwirkung; in Analogie können wir von derselben Funktionalität sprechen wie etwa bei einem Stück von Shakespeare oder einer Episode aus der antiken Mythologie. Bei Rice und Goodwin bleibt es nur bei den Namen der Charaktere und einigen motivischen Wiederaufnahmen. Die Liebesgeschichte gipfelt in einem Happyend und die Schauplätze des Stücks sind „Acadia, Africa and Arizona“; eine Auswahl, deren Logik unschwer als jene der Alliteration erkennbar ist. Ein weiteres Element von Evangeline, das in den Vorbildern aus Großbritannien nicht vorkommt, ist der ethnische Humor oder die ethnic comedy. In diesem Stück sind es die Deutschen, die für comic relief sorgen. Basierend auf der phonetischen Ähnlichkeit von ‚Dutchʻ und ‚Deutschʻ entsteht eine Verwechslung der Ursprünge, wie auch schon bei den Pennsylvania Dutch und Pennsylvania Germans. In Evangeline werden die deutschen Soldaten zu „Dutchies“ und somit zu „marketable mock Germans“.46 Der sogenannte Dutch Act stellte ein Standardelement in den Programmen des Varietétheaters und der leichten Unterhaltung dar. Es ging dabei nicht nur, oder zumindest nicht in erster Linie, darum, die deutschen Immigranten im besonderen Maße der Lächerlichkeit preiszugeben. Vielmehr standen sie als prototypische Beispiele für den ‚neuenʻ Immigranten schlechthin: den Immigranten aus einem europäischen Land (ausgenommen England), der Probleme mit der Sprache, mit den Alltagsgewohnheiten und mit seinen neuen Mitbürgern hat. Ein weiterer Grund für die weite Verbreitung des Dutch Act war allerdings nicht inhaltlicher oder kultureller, sondern ästhetisch-kommunikativer Art: Da es eindeutige Konventionen für die fehlerhafte Aussprache der ‚Dutchʻ gab, stand eine codierte und konventionalisierte Version des fremden Idioms zur Verfügung. Auf einer solchen Grundlage konnten

46 MEHRING, 2006, S. 95.

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die Schauspieler ihre Rolle individuell, aber immer noch eindeutig erkennbar gestalten.47 Mit dem Beispiel des Dutch Act zeigt sich abermals, dass transkulturelle Dynamiken im amerikanischen Kontext komplexe analytische und methodische Ansprüche stellen. Denn im Falle von Evangeline und verwandten zeitgenössischen Gattungen zählt meines Erachtens der Dutch Act bereits zum inländischen, d. h. amerikanischen Repertoire, obwohl die wichtigsten Vertreter von früheren Auftritten solcher Art Deutsche waren und man somit sagen könnte, dass es sich bei diesem Phänomen um einen kulturellen Einfluss jenseits der amerikanischen Sphäre handelte. Da jedoch ein Dutch Act in Deutschland ohne jeden Sinn gewesen wäre, ist diese Untergattung der Komödie trotz der demonstrativ zur Schau gestellten ‚Fremdheitʻ eine amerikanische Neuschöpfung. Eine indianische Rede mit ihrer charakteristischen bildhaften Sprache oder Shakespeare-Stücke sind dagegen echte transkulturelle ‚Einflüsseʻ, da sie unabhängig von der amerikanischen Zielkultur auch in ihren ursprünglichen kulturellen Kontexten existierten.

A b s c h lie ß e n d e B e m e r k u n g e n Meine Beispiele betonten jeweils unterschiedliche Aspekte von transkulturellen Dynamiken im amerikanischen Unterhaltungstheater des 19. Jahrhunderts. Dabei zeigt sich, dass bestimmte Elemente der amerikanischen Alltagskultur, vor allem das mit ideologischer Überzeugung verfochtene Prinzip der ‚Professionalität‘, die Grenzen für inter- bzw. transkulturelle Einflüsse durchlässiger machten. Dies gilt ebenso für die gesteigerte Wahrnehmung und auch visuelle Präsenz von Körperlichkeit auf der amerikanischen Bühne, die insgesamt zu verzeichnen war und die auch andere performative Praktiken in den paratheatricals von Spektakel, Zirkus und Tanz charakterisierte.48 Die Beobachtungen des deutschen Wissenschaftlers Hugo Münsterberg sind in diesem Zusammenhang aufschlussreich. Münsterberg lebte als einer der frühen Wissenschaftsnomaden der Moderne lange in den USA und lehrte an der Harvard University Soziologie. Er beschäftigt 47 Vgl. MINTZ, 1996, S. 21. 48 Vgl. BUCKLEY, 1998.

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sich in seinem Essay „Society and the Dance“ (1914) mit den neuen performativen Elementen der amerikanischen Kultur. So schreibt er: [T]he tremendous influx of warm-blooded, sensual peoples who came in millions from southern and eastern Europe […] altered the tendencies of the cool-blooded, Teutonic races in the land. They have changed the old American Sunday, they have revolutionized the inner life, they have brought the operas to every large city, and the kinematograph to every village, and have at last played the music to a nation-wide dance.49

Dies klingt zunächst nach einem der rassistischen Argumente, die um die Wende zum 20. Jahrhundert von der amerikanischen Politik bemüht wurden, um die Einwanderungsströme so zu lenken, dass langjährige, unausgesprochene Privilegien der eigenen Ethnie nicht in Frage gestellt werden konnten. Münsterbergs Aussage beinhaltet sogar nicht nur Rassismus, sondern ist an sich rassistisch, weil darin die Andersartigkeit der ‚neuenʻ Immigranten nicht mit der Andersartigkeit ihrer kulturellen Identität erklärt wird, sondern mit unverrückbaren biologischen Kategorien. In seiner phänomenologischen Diagnose eines allgemeinen kulturellen Wandels liegt Münsterberg aber dennoch nicht falsch. Das von den Einwanderern mitgebrachte Kulturgut fand bei den Kulturschaffenden sowohl Beachtung als auch Zuspruch, da sie aufgrund ästhetischer und geschäftlicher Interessen immer auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen waren. Somit entwickelte sich die Dynamik des kulturellen Austausches auf der Grundlage von strukturellen Gegebenheiten, die in den USA des späten 19. Jahrhunderts tatsächlich ein Alleinstellungsmerkmal besaßen. Die bereitwillige Aufnahme neuer Impulse und Einflüsse durch das zahlende Publikum verlangte von den Künstlern geradezu, sich zu öffnen und auf die Bedürfnisse zu reagieren, womit die Grenzen zwischen ‚Eigenemʻ und ‚Fremdemʻ immer wieder neu gezogen wurden. Wenn Kulturgeschichte eine Geschichte der Momentaufnahmen ist, um Jacob Burckhardt zu paraphrasieren, so lässt sich ein zentraler Strang der Geschichte des Unterhaltungstheaters in den USA als eine Sequenz von transkulturellen Konstellationen beschreiben. Deren jeweilige Gültigkeit währte zwar nicht lange, aber in der dynami-

49 MÜNSTERBERG, 1914, S. 276.

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schen Abfolge dokumentieren sie die wachsende – inzwischen globale – Wirkmächtigkeit des Showbusiness.

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Essen als Kulturkontakt Frühe Expeditionsberichte aus Kanada und Australien KYLIE CRANE E in le itu n g In diesem Beitrag möchte ich transkulturelle Begegnungen untersuchen, die häufig als ‚erster Kontakt‘ bezeichnet werden: die Erkundung von fernen Ländern durch Europäer. Dies erfordert natürlich eine postkoloniale Auslegung der Texte, die diese Erkundungen beschreiben. Ich werde dabei vor allem auf Thesen und Gedankengänge zurückgreifen, die Mary Louise Pratt in ihrem einflussreichen Werk Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation (1992) vorgestellt hat. Bereits der Titel des Buchs ist ein Hinweis auf die starke Betonung des Visuellen in dem kritischen Rahmen, den Pratt konstruiert (und den sie auf seine Machtpolitik hin hinterfragt). Ihr Konzept der Kontaktzonen scheint für die Fragestellungen des vorliegenden Bandes sehr geeignet, doch mein besonderes Erkenntnisinteresse gilt den Food Studies. Essen, so meine These, ist eine Spielart kulturellen Kontakts, die die Grenzen von Pratts Konzept ausweitet, da Essen überlebenswichtig ist, also mehr als ‚lediglich‘ ein Kulturprodukt. Indem ich im Folgenden die Lebenswege von Entdeckern nachzeichne, deren Essgewohnheiten schriftlich dokumentiert sind, befasse ich mich mit einer Art von Kontaktzone, die der in Pratts Buch ergründeten gewiss nicht unähnlich ist. Und doch ist der Kontakt, den ich in diesem Beitrag genauer untersuchen möchte, nicht

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nur ein Kontakt im Sinne eines bloßen Berührens; vielmehr geht es um ein In-sich-Aufnehmen. In der in historischen Zeugnissen von Entdeckungsreisen beschriebenen Kontaktzone kämpfen die Entdecker nicht nur um ihr Überleben im physischen, sondern auch im kulturellen Sinne. Der Tod einiger der Entdecker in den Berichten, die ich hier untersuchen möchte, lässt sich mehr auf tief verwurzelte Annahmen über fremde Kulturen als auf für Menschen lebensfeindliches Terrain zurückführen. Diese Todesfälle müssen als Konsequenz kultureller Entscheidungen gesehen werden, d. h. als Folge gescheiterter Kulturkontakte.

D ie K o n ta k tz o n e Mary Louise Pratts Imperial Eyes hat vor allem durch die Auseinandersetzung der Autorin mit dem Thema der Kontaktzonen und dem Konzept des imperial gaze großen Einfluss erlangt. Beide Konzepte sind für meine Untersuchung u. a. von Texten, in denen F. W. Ludwig Leichhardts Reisen durch das Australien der Kolonialzeit nachverfolgt werden, von zentraler Bedeutung. Pratts Sprache weist jedoch nach meinem Empfinden Unzulänglichkeiten auf. Die Erfahrungsberichte, die ich im Folgenden untersuchen werde, hinterfragen das von Pratt verwendete Vokabular, insbesondere ihre Betonung des Visuellen als Rahmen ihrer Thesen. Mit der Kontaktzone geht es in Imperial Eyes um einen Begriff, der über die geläufigere Bezeichnung frontier hinausgeht und der die Kopräsenz von Aktanten verschiedener Kulturen postuliert.1 Diese Koprä1

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Ein zentraler Text für den Begriff der frontier ist nach wie vor Frederick J. Turners The Significance of the Frontier in American History aus dem Jahr 1893, ursprünglich als Vortrag in Chicago gehalten. Darin beschreibt Turner das Phänomen frontier als eine Art Grenze, die sich kontinuierlich nach Westen bewegt. Laut Turner ist die frontier eine wichtige, wenn nicht gar die wichtigste Komponente der US-amerikanischen Geschichte (die seiner Meinung nach sogar wichtiger als die Sklaverei ist). Turners Ausführungen sind kritisiert worden, vor allem vor dem Hintergrund von Aussagen wie der folgenden: „Each [area] was won by a series of Indian wars“ (TURNER, 1966, S. 206). Es ist ein ambivalentes Bild, das Turner von den Native Americans zeichnet. Mal sind sie Helfer des Zivilisationsprojekts und werden in einem Satz mit „Trappers“, „earliest Pathmakers“ und „French

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senz wird sowohl räumlich als auch zeitlich verstanden. Den Terminus ‚Kontakt‘ entleiht Pratt der Linguistik – Kontaktphänomene äußern sich dort in Form von Pidgins und Kreolsprachen – und betont dabei die „interactive, improvisational dimensions of imperial encounters so easily ignored or suppressed by accounts of conquest and domination told from the invader’s perspective“.2 Somit ist Pratts Konzept der Kontaktzone vor allem für solche Ansätze von Bedeutung, welche die Beidseitigkeit kulturellen Kontakts betonen möchten, also solche, die die Machtverhältnisse kultureller Kontakte kritisch hinterfragen. Dabei gilt es jedoch zu beachten, dass Pratt, wie bereits erwähnt, die sichtbaren Dimensionen des Kontakts stark betont. Dies wird bereits durch das titelgebende „imperial eye“ offenkundig, aber auch durch ihr Konzept des „seeing-man“, „an admittedly unfriendly label for the white male subject of European landscape discourse – he whose imperial eyes passively look out and possess“.3 Indem ich jedoch im Folgenden den Schwerpunkt auf Essen und seine Materialität lege, verlagere ich die Rubriken des Kontakts vom Sehen auf andere Sinne, insbesondere auf das Tasten und den besonders engen Kontakt des In-sichAufnehmens.4

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voyaguers“ erwähnt, mal verhindern sie – als primitive Völker – das Voranschreiten des Europäers, der ‚etwas aus dem Land macht‘. Hier liegt ein Verständnis von Kultur zugrunde, die als westliche Kultur verstanden wird, und zwar in zweifachem Sinne: zum einen westlich als ‚nicht-mehreuropäisch‘, als Ablösung von einem zentralen Europa und im Gegensatz zu östlich (und dem Orient), also westlich im Sinne von okzidental. Zweitens westlich als sich Richtung Westen orientierend, als eine Kultur mit klar definiertem Pfad des vermeintlichen Fortschritts (Beschleunigung, Anstieg von Produktivität, Industrialisierung bzw. Technologisierung), welcher sich räumlich durch den kartographierten ‚Siegeszug‘ des Westens darstellen lässt. An diese Kritik knüpft Mary Louise Pratt an, wenn sie den Begriff der frontier verwirft: „‚Contact zone‘ in my discussion is often synonymous with ‚colonial frontier‘. But while the latter term is grounded within a European expansionist perspective (the frontier is a frontier only with respect to Europe), ‚contact zone‘ shifts the center of gravity and the point of view“ (PRATT, 1992, S. 8). PRATT, 1992, S. 8. EBD., S. 9. Gerhard Stilz, der Pratts Kontaktzonen kritisch hinterfragt, führt für das Moment des gemeinsamen Essens (und Trinkens) den Begriff ‚Kommensalität‘ ein (vgl. STILZ, 2012, S. 40).

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E x p e d itio n e n Die Betonung des visuellen Teils der Kolonisierung und des ‚ersten Kontakts‘ findet auch im wiederholten und unablässigen Rückgriff auf die Kartographie ihren Ausdruck, sowohl in den vielfachen Diskussionen über die Praxis der Kartographie als auch durch den Gebrauch kartographischer Metaphern zur Beschreibung anderer, verwandter kultureller Praktiken. Beschreibungen kultureller Kontakte strotzen nur so vor quasigeographischen und insbesondere explizit kartographischen Metaphern, vor allem infolge des sogenannten spatial turn. Derartige Metaphern – Bhabhas „third space“,5 Sojas „thirdspace“,6 der Diskurs von Rändern und Grenzen und die Fixierung auf Zentrum und Peripherie, um nur einige Beispiele zu nennen – haben in teils mehr, teils weniger explizit geographische Schriften Einzug gehalten oder sind diesen überhaupt erst entnommen worden. Diese und ähnliche Metaphern betonen vor allem visuelle Vorstellungen von Kontakträumen. Durch Formulierungen, in denen das Geographische auf kartographische Metaphern reduziert wird (Kartierungen, graphische Darstellungen, Palimpseste, Abgrenzungen usw.) entledigt man sich der Herausforderung, sich selbst in die Welt hineinzuversetzen. Simon Ryan schreibt dazu in „Inscribing the Emptiness. Cartography, Exploration and the Construction of Australia“, einem Kapitel im Sammelband Describing Empire. Post-Colonialism and Textuality (1994): [T]he cartographic practice of representing the unknown as a blank does not simply or innocently reflect gaps in European knowledge but actively erases (and legitimizes the erasure of) existing social and geocultural formations in preparation for the projection and subsequent emplacement of a new order.7

Auch Anna Johnston und Alan Lawson weisen in ihrem Beitrag „Settler Colonies“ in Schwarz’ und Rays A Companion to Postcolonial Studies (2005) in beinahe poetischem Duktus auf ein ähnliches Phänomen hin: 5 6 7

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BHABHA, 2002. SOJA, 1996. RYAN, 1994, S. 116.

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„Empty land can be settled, but occupied land can only be invaded. So the land must be emptied so that it can be filled with both words and herds.“8 Das Bild der Tabula rasa ist für diese Konzeption, ebenso wie für die Projektion von Ordnung, die beinahe zwangsläufig visualisiert, ja kartographiert wird, von zentraler Bedeutung. Die von Johnston und Lawson verwendete Sprache weist jedoch wiederum geographische Metaphern auf und fokussiert, obschon nicht explizit kartographisch, dennoch auf das Sichtbare (vgl. etwa den Reim von „words“ auf „herds“, der die diskursiven Methoden und die Rhetorik betont). Ryan lenkt die Aufmerksamkeit auf den Akt der Ausblendung und die damit einhergehende Legitimierung eben dieses Aktes als integraler Bestandteil des imperialen Projekts; ein Gestus, der die weißen Flecken in Erinnerung ruft, die auf den ersten Seiten von Joseph Conrads Heart of Darkness (1899) literarische Form annehmen. Conrads Erzähler Marlow berichtet seinen Zuhörern an Bord der Nellie von seiner Jugend: [W]hen I was a little chap I had a passion for maps. I would look for hours at South America, or Africa, or Australia, and lose myself in all the glories of exploration. At that time there were many blank spaces on the earth, and when I saw one that looked particularly inviting on a map (but they all look that) I would put my finger on it and say „When I grow up I will go there.“9

Durch diese kartographische Sicht wird die Aufmerksamkeit der Leser auf die Kolonisierung und die damit verbundenen Repräsentationsstrategien gelenkt, insbesondere das Erstellen von Karten durch Entdeckungsreisende. Kartographie ist zweifellos eine wichtige Trope kolonialer Macht, und diese Macht wird durch die Benennung und Kartierung von Orten geltend gemacht und aufrechterhalten. Paul Carter schreibt hierzu: „It was the names themselves that brought history into being, that invented the spatial and conceptual co-ordinates within which history could occur.“10 ‚Expedition‘ wiederum stammt von den lateinischen Wort8 JOHNSTON/LAWSON, 2005, S. 364. 9 CONRAD, 2000, S. 21f. 10 CARTER, 1987, S. 46.

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stämmen ex- (‚aus‘) und pes, ped (‚Füße‘) und dem lateinischen Verb expedire (‚entwirren‘, ‚befreien‘). Sich auf eine Expedition zu begeben heißt also, zu Fuß hinauszuziehen, sich loszumachen (ursprünglich: die Füße befreien) und das Ziel zu befreien. Die Richtung ist eindeutig: weg und nach außen. Dies deutet aber gleichzeitig auch auf ein Zentrum hin, von dem aus diese Richtung eingeschlagen wird. Vom postkolonialen Standpunkt aus gilt es also, den dem Expeditionsbegriff innewohnenden Peripherie/Zentrum-Dualismus, aber auch das ‚Befreien‘ (was voraussetzt, dass das Ziel bisher unfrei war) kritisch zu hinterfragen. Zweifellos hatte das visuelle Paradigma der Kolonisierung in Form von geographischen und kartographischen Betrachtungen (und Metaphern) einen enormen Einfluss. Doch muss eine Untersuchung des Phänomens Kulturkontakt über das Visuelle hinausgehen: So mächtig und ermächtigend der imperial gaze auch sein mag, er bleibt ein Gestus aus sicherer Entfernung. Essen dagegen, das Kernthema dieses Beitrags, ist zugleich Nahrung sowie Kommunikation und betont dadurch sowohl die körperlichen und materiellen Aspekte des Kulturkontakts als auch den Austausch. In diesem Beitrag möchte ich daher den Zusammenhang zwischen Essen als Nahrung und Essen als Kommunikation auf den Aspekt des Kulturkontakts hin untersuchen. Dabei greife ich auf den Kontext von Pratts Werk zurück, d. h. die Strukturen der frühen Kolonisierung, indem ich die Berichte zweier bekannter (John Franklin in Kanada; Robert O’Hara Burke und William John Wills in Australien) und zweier weniger bekannter Expeditionen (Ludwig Leichhardt in Australien) ergründe. Die Expeditionen, auf die ich später ausführlicher eingehen werde, werden gemeinhin im Sinne eines ‚ersten Kontakts‘ verstanden, als Mythos oder sinnstiftendes Narrativ also, wie Roland Barthes den Begriff verwendet.11 Es entstehen Narrative kulturellen Kontakts, die 11 Vgl. BARTHES, 2000. Etwas Ähnliches hat bereits Irene Klaver in Bezug auf die Lewis-und-Clark-Expedition in ihrem Artikel „Boundaries on the Edge“ (2007) bemerkt: „Saying that Lewis and Clark discovered the West seems very different from saying that they made or invented the West. But suppose we say, more ambiguously and less straightforwardly, that with them the West was engendered. After all, through their expeditions (their discoveries) and their writings (their in[ter]ventions) an understanding of the West, came into existence – a narrative of land stunningly beautiful, wild, and free. Both renderings – finding, inventing – make different histo-

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zwar wirkungsvoll sein können, gleichzeitig aber auch als imperial oder kolonialistisch verstanden werden müssen. Die Expeditionen, die Franklin, Leichhardt und Burke und Wills unternahmen, bringen jeweils Erzählungen von Entdeckung und ‚erstem Kontakt‘ hervor. Durch diesen sogenannten ‚ersten Kontakt‘ werden die Umstände ausgeblendet, unter denen er entstand: Zunächst einmal gilt es festzuhalten, dass dieser ‚erste Kontakt‘ von einer eurozentrischen Position aus erdacht wurde und von einer Position, die dem kolonialen ‚Entdecker‘ in britischer Tradition eine Vorrangstellung einräumt. Das bedeutet, die Perspektive, aus der dieser Kontakt betrachtet wird, ist nicht nur eurozentrisch sondern auch ‚britischzentrisch‘: Der Kontakt mit Seefahrern anderer (europäischer) Nationen wird bewusst verschwiegen. Zweitens werden bei diesem ‚ersten Kontakt‘ eine Vielzahl von Kulturen nicht berücksichtigt, die mit einem entdeckten Ort bereits in Kontakt stehen. Anders gesagt: Die kulturellen Unterschiede zwischen den Volksgruppen, die der kolonialen ‚Entdeckung‘ unterworfen werden, werden zu einer einzigen Kultur eingeebnet, wenn sie denn überhaupt als ‚Kultur‘ anerkannt werden. Der Begriff ‚erster Kontakt‘ berücksichtigt also keine anderen Kontakte: weder den Kontakt zwischen später kolonisierten Kulturen, die eben keinen homogenen Block von ‚Fremdheit‘ darstellten, noch den Kontakt zwischen später kolonisierten Volksgruppen – als Vielzahl von Kulturen – und nichteuropäischen Volksgruppen, wie z. B. zwischen Volksgruppen vom Festland12 und den umliegenden Inseln im Norden Australiens, noch den Kontakt zwischen später kolonisierten Volksgruppen und anderen, nichtkolonisierenden europäischen Volksgruppen, z. B. seefahrenden Händlern. Oft genug jedoch sind indigene Kulturen einfach als Teil der ‚Natur‘ abgetan worden: Man denke z. B. an die terra nullius-Praxis, eine diskursive Strategie, die im Kontext der australischen Kolonisierung entwickelt wurde. Diese Verschmelzung von Kultur und Natur, durch die die indigenen Völker ihrer Stimmen beraubt wurden, untergräbt das Konzept des ‚ersten Kontakts‘ von der anderen Seite: Wenn diese Kul-

ries visible, set different trains of thought or agendas of action in motion“ (KLAVER, 2007, S. 115). 12 Die Verwendung des Begriffs ‚Festland‘ im Kontext von Australien soll den Gebrauch des Wortes anfechten, in dem ‚Festland‘ stets mit europäisch gleichgesetzt wird.

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turen als Teil der Natur gesehen werden, so kann es eigentlich auch keinen ‚ersten Kontakt‘ geben. Die interessantesten Explorationen sind meines Erachtens diejenigen, die zu Mythen, zu sinnstiftenden Erzählungen werden, die ungleich faszinierender sind, wenn sie aus europäischer Sicht scheitern. Bevor ich genauer auf Ludwig Leichhardts Expeditionen eingehe, möchte ich diese mit zwei weiteren Beispielen von gescheiterten Expeditionen kontextualisieren, nämlich Franklins und Burkes und Wills’. Die von diesen Entdeckungsreisenden unternommenen Expeditionen gelten, wie der Begriff Entdeckung bereits andeutet, als ‚erster Kontakt‘; ein Mythos, der zugleich unglaubliche Geschichte und sinnstiftende Erzählung ist. Der Kontakt mit den Kulturen des malaiischen oder auch indonesischen Archipels und der dortigen niederländischen Kolonialobrigkeit ist z. B. noch älter als die durch Leichhardt und seine Gefährten verkörperte europäische Präsenz im Norden Australiens. Die Konzeption dieses Aufeinandertreffens als ‚erster Kontakt‘ blendet die Heterogenität der indigenen Völker selbst aus und lässt das Bestehen verschiedener Gruppen oder Bindungen außer Acht: Wo Menschen sind, da gibt es auch Kontakt, und damit kulturellen Kontakt. Durch die Terminologie des ‚ersten Kontakts‘ werden solche Prozesse jedoch negiert.

Franklin Der Engländer Sir John Franklin ist vor allem für seine ‚letzte‘ Expedition bekannt. Nach einer Karriere in der Navy, während der er an der Schlacht von Trafalgar und dem britischen Angriff in der Schlacht von New Orleans teilnahm, unternahm er mit dem Auftrag, die legendäre Nordwestpassage ausfindig zu machen, 1819 eine Expedition in die Arktis. Die Nordwestpassage versprach einen schnelleren Seeweg von Europa nach Asien, und ihre Entdeckung übte nicht nur großen wirtschaftlichen Reiz aus, sondern sollte auch ein Symbol für die Überlegenheit der britischen Marine darstellen. Vermutlich wurde Franklin damit beauftragt, weil er schon bei einer Forschungsreise mit seinem Onkel Matthew Flinders in Australien Erfahrungen sammeln konnte. Auf ihrer ersten Expedition erlitten Franklin und seine Männer viele

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Rückschläge – Hunger, beschädigte Kanus und begrenzte Vorräte. Berichte über Franklins Führungsstil lassen auch eine gewisse Tendenz zu Aggressivität und Sturheit erkennen.13 Bei seiner Rückkehr nach England 1822 wurde Franklin dennoch als Held gefeiert und in die Royal Society aufgenommen. Trotz des Fehlschlags der ersten Expedition empfahl sich Franklin somit auch für die weitere Erforschung der Arktis.14 Seine Pläne für zukünftige Expeditionen mussten jedoch aufgeschoben werden, da er für einige Jahre als Gouverneur von VanDiemens-Land (dem heutigen Tasmanien) eingesetzt wurde. Er wurde jedoch seines Amtes enthoben, und schon kurz nach seiner Rückkehr nach England entstanden Pläne für eine weitere Expedition in die Arktis. Als Franklin 1845 mit den Schiffen Erebus und Terror von England aus in See stach, war die Stimmung – trotz der eher bedrückenden Schiffsnamen – recht optimistisch, und es wurde Proviant für gut drei Jahre mitgeführt, um den Norden Kanadas zu erforschen und die Nordwestpassage zu kartographieren. Hier klafft eine Lücke in der Geschichte. Beide Schiffe wie auch ihre kompletten Mannschaften blieben lange verschollen. Manche der Leichen konnten seither geborgen werden, aber der Verbleib der Schiffe bleibt bis heute ein Rätsel. Zwischen 1847 und 1859 machten sich etwa 30 weitere Expeditionen auf den Weg, um die ‚verschollene Franklin-Expedition‘ aufzufinden. Seither haben sich viele Expeditionen und Gruppen von Forschern in das Gebiet gewagt, um das Schicksal der Expedition zu eruieren. Bis heute stellen die einzigen bedeutenden Funde zwei knappe schriftliche Berichte – in denen u. a. der Tod Franklins 1847 festgehalten ist – und die Gräber von etwa 20 Expeditionsteilnehmern dar. Da es zudem keinerlei Reisetagebücher oder schriftliche Zeugnisse (von ein paar losen Blättern Papier abgesehen) gibt, ist es schwierig zu sagen, was genau vorgefallen ist. Dies hat natürlich die allgemeine Vorstellungskraft angeregt und zu wilden Mutmaßungen geführt. Bei der Untersuchung von drei durch den Dauerfrost erhalten gebliebenen Leichen etwa wurde ein hoher Bleispiegel festgestellt, was zu 13 Vgl. HOLLAND, 2013. 14 Clive Holland führt einen weiteren Grund für seine Ernennung an: „Courage rather than talent was expected in an explorer, and [Franklin] had shown courage in great measure in the face of dreadful hardship“ (HOLLAND, 2013, o. S.).

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Spekulationen über kollektiven Wahn und körperlichen Zerfall geführt hat. Eine andere Theorie stützt sich auf Funde, die nahelegen, dass auf der Expedition Kannibalismus praktiziert wurde. Bei der Debatte zwischen Dr. John Rae und Charles Dickens wird (durch Dickens’ Argumentation) deutlich, wie man sich im Viktorianischen England schlicht weigerte, auch nur in Erwägung zu ziehen, dass die ‚zivilisierten‘ Männer Englands zu solchen Gräueltaten fähig seien.15 Das Einzige, was sich über diese Expedition mit Bestimmtheit sagen lässt, ist, dass sie auch weiterhin auf die gesamte westliche Welt eine ungemeine Faszination ausübt. Obwohl sie fehlschlug, ist die Expedition ein Teil der geographischen Vorstellung des Nordens und insbesondere der Nordwestpassage geworden. In Artic Dreams hält Barry Lopez fest: „The search for Franklin caught England’s imagination as Barrow’s quest for a Northwest Passage never had.“16 Sie diente bereits einer großen Bandbreite von Texten als Thema oder Inspiration und wird bis heute oft in Verbindung mit Reisen in den hohen Norden Amerikas genannt. Neben zahlreichen Schilderungen der Suche nach dem Verbleib der Franklin-Expedition gibt es auch Bücher, die die Gefahren und Probleme seiner Expeditionen in ihrem Titel kennzeichnen, etwa durch Schlüsselwörter wie ‚tödlich‘, ‚tragisch‘, ‚verschollen‘, ‚erfroren‘ und ‚Schicksal‘.17 Franklins erste Expedition galt zur damaligen Zeit als Erfolg, wenn auch nur aus europäischer Sicht, wie Kerstin Knopf argumentiert.18 Auf der letzten Etappe der Reise kam es zu Versorgungsengpässen und die Expeditionsteilnehmer mussten auf verdorbenes Fleisch und Dinge wie 15 Russel A. Potter hat dies online archiviert (vgl. POTTER, 2013). Dickens’ Argumentation beruht weitestgehend auf der Unzuverlässigkeit der Esquimaux (als unzivilisiertes Volk) und dreht sich daher regelrecht im Kreis. 16 LOPEZ, 1986, S. 363. Lopez schreibt weiter: „Where once the goal had only been to get through en route to somewhere else, now expeditions were prepared to overwinter and to make the region itself the focus of their attention“ (EBD.). Für Lewis und Clark war dieser Perspektivenwechsel bereits Teil der Rückreise. 17 Vgl. BEARDSLEY, 2002; COOKMAN, 2001 und BEATTIE, 2004 (mit einer Einleitung von Margaret Atwood). Der Titel von Dan Simmons’ Roman The Terror (2007) scheint noch vertretbar, da eines der Schiffe diesen Namen trug. Arctic Drift (2008), ein Roman aus der Dirk-Pitt-Reihe von Clive Cussler, beschwört ein Gefühl der Orientierungslosigkeit herauf, aber nicht wie die anderen Titel die Zerstörung und den bevorstehenden Tod. 18 Vgl. KNOPF, im Erscheinen.

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gekochte Lederstiefel und Decken sowie auf Flechten (die schwere Magenverstimmungen zur Folge hatten) zurückgreifen. Doch selbst das konnte positiv gedeutet werden, wie Knopf anmerkt: „Even this fact was turned, congenial with the workings of empire discourse, into the heroic myth of Franklin as ‚the man who survived by eating his boots‘.“19 Sein Überleben wird als individualistische und imperialistische Leistung aufgefasst, und doch, so führt Knopf fort: „In fact, Franklin and the rest barely survived only because their Métis translator Pierre St. Germain tracked down the camp of Yellowknife Indians on the vast tundra begging them to bring food to the starving men who had dragged themselves to a cold and empty Fort Enterprise.“20 Aus einer Perspektive, die die Expedition auf ihre Essgewohnheiten hin beleuchtet, wird der Mythos der gescheiterten Franklin-Expedition in ein neues Licht gerückt. Das Narrativ des fehlgeschlagenen Entdeckens, des Hinausziehens und wieder Heimkehrens, wenn nicht erobert werden konnte, wird zu einer Erzählung über das Unvermögen, Nahrung zu finden und (diesbezüglich) zu kommunizieren bzw. Kontakt herzustellen. Die erste Expedition mit ihrer Geschichte vom Verzehr von Stiefeln, der zum Heldentum umgemünzt werden kann, wird zu einem Fast-Scheitern, der nur durch die erfolgreiche Kommunikation des Métis-Übersetzers Pierre St. Germain mit den Indigenen zum Guten gewendet werden konnte. Die letzte Expedition wiederum wird zu einer Erzählung völligen Versagens. Es ist nicht nur eine Geschichte von fehlender Orientierung, sondern auch von unzureichender Nahrung. Sie untergräbt Narrative der britischen oder, metonymisch gesehen, europäischen (aber nicht ‚westlichen‘) moralischen Überlegenheit durch deren Verfall in eine tabuisierte Essenspraxis: den Kannibalismus.

B u rk e u n d W ills In seinem Buch Claiming a Continent stellt David Day die Behauptung auf, die Expedition von Burke und Wills sei bis heute die bekannteste ihrer Art in Australien.21 Auch Robert Sellick bemerkte schon 1971: 19 EBD. 20 EBD. 21 Vgl. DAY, 2005, S. 136.

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„There can be few native-born Australians who are not aware, at least in broad outline, of the story of the Burke and Wills Expedition.“22 Anlass für die Expedition war nicht nur ein wachsendes Interesse an den unerforschten Weiten des Inlands, auch Handelsinteressen spielten eine Rolle. Die Bevölkerung des Bundesstaats Victoria wurde angesichts der ungünstigen Bedingungen für die Handelsroute von Osten nach Westen dazu angehalten, eine Nord-Süd-Handelsroute in Betracht zu ziehen.23 Es wurde ein Komitee gegründet, mit dem Ziel, das allgemeine Interesse für die Expedition zu steigern und Spenden zu sammeln, doch es sollte noch bis 1860 dauern, ehe eine ausreichende Finanzierung organisiert werden konnte. Robert O’Hara Burke, einem Polizeibeamten irischer Abstammung, wurde die Leitung der Expedition übertragen, und infolge des Rücktritts von Burkes Stellvertreter George James Landells wurde der englische Landvermesser und Meteorologe William John Wills befördert und nahm Landells’ Platz ein. Keiner der Beteiligten verfügte über Erfahrungen als Entdeckungsreisender, und in der ganzen Truppe fand sich kein einziger Aborigine. Die Expeditionsmitglieder machten sich am 20. August 1860 von Melbourne aus auf. Wie es scheint, war Burke bestrebt, die Nordküste möglichst bald zu erreichen, weshalb er Cooper’s Creek im Dezember hinter sich ließ, also zu Beginn des Sommers. Vier Männer – Burke, Wills, John King und Charles Grey – unternahmen die Reise zum Golf von Carpentaria. Sie bekamen den Golf jedoch nie zu Gesicht, da sie – und das untergräbt wohl die Vorherrschaft des Sichtbaren, die für die Erzählungen imperialer Macht so wesentlich ist – offenbar entschieden, dass es wohl genüge, die Sümpfe im Küstengebiet zu erreichen. Die Situation war heikel: Was an Verpflegung noch übrig war, würde nur für die halbe Strecke zurück nach Cooper’s Creek ausreichen. Auf dem Rückweg starb Charles Grey. Auch mehrere der Kamele und Pferde verendeten. Als die Truppe endlich in Cooper’s Creek eintraf, mussten sie feststellen, dass sie die übrigen Expeditionsmitglieder, die sie vier Monate zuvor zurückgelassen hatten, nur knapp – um wenige Stunden – verpasst hatten. Nach ein paar Tagen Erholung kam Burke zu dem Schluss, dass ihre Chancen am besten stünden, wenn sie sich, statt nach Menindee zurückzukehren (wo sie im Jahr zuvor eine weitere Gruppe 22 SELLICK, 1971, S. 180. 23 Vgl. DAY, 2005, S. 136.

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zurückgelassen hatten), auf den Weg zur nächstgelegenen Stadt in eine andere Richtung aufmachen würden. Burke, Wills und Kings hinterließen eine Nachricht in dem versteckten Proviantlager, in der sie ihr Vorhaben beschrieben, vergaßen jedoch, das Lager sichtbar zu ändern (z. B. durch andere Markierungen am Baum), so dass andere Expeditionsmitglieder bei ihrer Rückkehr nach Cooper’s Creek nicht bemerken konnten, dass die drei Männer in der Zwischenzeit dort gewesen waren und wieder gingen. Nachdem ihre Lasttiere verendet waren und es ihnen daher auch nicht mehr möglich war, Wasser mit sich zu führen, kehrten Burke, Wills und King nach Cooper’s Creek zurück, wo sie den Rest der Gruppe ein weiteres Mal verpassten. Eine Zeit lang überlebten sie noch, vor allem dank der Großzügigkeit des YandruwandhaStammes, doch letztlich starben Burke und Wills in Cooper’s Creek. Beide verhungerten. Obwohl mehrere Bergungsmannschaften entsandt wurden, sollte es noch bis zum September 1861 dauern, bis King entdeckt und zurück nach Melbourne gebracht wurde. Die Faszination, die von Burkes und Wills’ Expedition ausgeht, spiegelt sich in einer großen Bandbreite an Schriften wider, die die Schicksalsschläge oder die Tragik der Geschichte betonen, oder alternativ den Heldenmut der Expeditionsmitglieder und ihren Übergang in einen Mythos. In vielen dieser Bücher wird Burkes und Wills’ Kampf mit der Natur in der gottverlassenen und menschenleeren Weite der Wüste beschrieben.24 Dabei wird jedoch außer Acht gelassen, dass dies keinesfalls der Realität entsprach, wie auch Tom Griffiths betont: It’s worth remembering that Burke and Wills died not of heat and thirst in the middle of nowhere, but of malnutrition, exhaustion, thiaminase poisoning (from raw nardoo) and the cold (Burke accidentally set fire to their wurley and burnt most of their spare clothes) in a watered and inhabited place of art and industry.25

King verbrachte einige Zeit mit den Yandruwandha, wo er im Gegenzug dafür, dass er Vögel mit seiner Waffe erlegte, Essen und Trinken erhielt, bis er später von einer der zahlreichen Suchexpeditionen zurück 24 W. T. Pyke betont ebenfalls den Heldenmut der Expedition (vgl. PYKE, 1889). 25 GRIFFITHS, 2003, S. 88.

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nach Melbourne mitgenommen wurde. Es war der Austausch von Essen, von überlebenswichtiger Information und Nahrung, der King in der Wüste am Leben hielt. Ganz anders Burke und Wills, die eine Gruppe Yandruwandha mit einem Schuss aus ihrer Waffe verschreckt hatten. Was sich damals ‚wirklich‘ abspielte, vermag niemand zu sagen. Was jedoch immer wieder als Grund für Burkes und Wills’ Tod angegeben wird, ist, dass sie sich, wie oben im Zitat erwähnt, von einer Pflanze ernährten, die auch die Aborigines verzehrten. Angeblich hatten sie beobachtet, wie die Aborigines von den Sporen der ngardu bzw. nardoo – einer farnähnlichen Pflanze – aßen und bereiteten sie daraufhin auch selbst zu; nur leider nicht auf die Art und Weise der Aborigines. So hatte sich die Wirkung des Thaminaseenzyms, durch das Vitamin B1 in der Nahrung zerstört wird, wenn diese roh verzehrt wird, frei entfalten können. Laut dieser Theorie starben Burke und Wills also an Vitamin B1-Mangel.26 Dieses Scheitern und der damit einhergehende Tod der beiden Forschungsreisenden ist ein Fall von unvollständigem Kulturkontakt: Es reicht nicht nur zu wissen, was essbar ist – man muss ebenso wissen, wie es gegessen werden muss. Die Geschichte von Burke und Wills, ebenso wie die der FranklinExpedition (nicht aber die von King), kann nicht mehr, selbst aus einer völlig kolonialistischen Sichtweise heraus, als tragische Geschichte eines Beinahe-Erfolgs gelesen werden, wenn sie stattdessen als Geschichte über das Unvermögen gesehen wird, durch Kommunikation an Nahrung zu gelangen. Das Sich-knapp-Verpassen am Proviantversteck, das häufig als Schlüsselmoment der Tragödie dargestellt wird, stellt sich somit als doppelte Farce heraus: erstens in Bezug auf die Vorstellung, das Proviantversteck sei für das Überleben unabdingbar, und zweitens in Bezug auf die Annahme, die Umgebung sei menschenfeindlich und gefährde das Leben. Insbesondere wenn man der Geschichte von Burkes und Wills’ Scheitern die Geschichte von Kings Überleben gegenüberstellt – seine Fähigkeit zu kommunizieren und durch Kooperation Nahrung zu erhalten – wird die Idee von Essen als Kulturkontakt zur Idee von Überleben durch Essen und Kulturkontakt.

26 EARL/MCCLEARY, 1994.

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L e ic h h a r d t In seiner Kulturgeschichte der Erkundung Australiens und deren Beitrag zur australischen Ortsnamenskunde stellt Paul Carter fest: „Leichhardt might have been a competent naturalist; but he was no surveyor.“27 Die von Ludwig Leichhardt Mitte des 19. Jahrhunderts unternommenen Expeditionen von Sydney in den Norden Australiens und Richtung Westen unterscheiden sich von den anderen hier diskutierten Beispielen gleich in mehrfacher Hinsicht. Im Folgenden werde ich vor allem die kulinarischen Unterschiede im Detail analysieren. Zu Beginn soll festgehalten werden, dass Leichhardt seine Forschungsreisen größtenteils ohne offizielle finanzielle Förderung durch den Staat unternahm. Leichhardt selbst war eher mit den Rückschlägen beschäftigt, die er erlitt – diese werden vor allem in Hans Wilhelm Fingers Berichten von 1999 beschrieben –, darunter auch die mangelnde koloniale Unterstützung für seine Unternehmungen. Dies ermöglichte es ihm jedoch, seine Expeditionen in einem eher weiträumigen, unklaren Rahmen der ‚Aufklärung‘ zu verorten (genauer: der europäischen wissenschaftlichen Aufklärung). Dies mag zwar größtenteils mit dem Rahmen der ‚Kolonisierung‘ deckungsgleich sein, bringt tatsächlich aber einige kleine Unterschiede mit sich, die für eine andere Lesart seines Verhaltens und der um seine Person konstruierten Narrative fruchtbar gemacht werden können. Indem ich Leichhardt in den Mittelpunkt dieses Beitrags stelle, wird auch ein anderer Aspekt seiner Expedition betont, der über mein Erkenntnisinteresse an Essen als Kulturkontakt hinausgeht: Als Deutscher war Leichhardt ein dezentrierter Entdecker; in der damaligen, anglozentrischen Gesellschaft war er bereits selbst Teil eines kulturellen Kontakts (Leichhardt musste rassistische Ächtungen erdulden, z. B. weil er mit einem Akzent sprach).28 Dies befreit ihn jedoch nicht vom kolonialistischen Kontext seiner Zeit. Am 23. Oktober 1813 in Sabrodt (dem heutigen Trebatsch) geboren, studierte Ludwig Leichhardt in Berlin und Göttingen, zunächst in der Absicht, als Beamter in den Dienst des Königreichs Preußen zu treten. Letztlich jedoch schloss er kein Studium ab. Im Jahr 1842 traf er in 27 CARTER, 1987, S. 104. 28 Vgl. z. B. FINGER, 1999, S. 128.

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Australien ein, mit dem erklärten Ziel, nach dem Vorbild Alexander von Humboldts auf Entdeckungsreise zu gehen. In einem Brief vom 27. September 1841, der an seinen in Cottbus lebenden Schwager adressiert ist, erläutert er, warum seine Wahl auf Australien fiel: Während sich so die Küsten von Neuholland allmählich beleben, ruht das Innere noch in völligem Dunkel. Man hat Expeditionen hineingesandt, aber sie haben immer nur eine verhältnismäßig geringe Strecke eindringen können, indem ihre Vorräte sich aufzehrten, oder die Eingeborenen sie durch Feindseligkeiten zurückschreckten. Dieses Innere, dieser Kern der dunklen Masse ist mein Ziel, und ich werde nicht eher nachlassen, als bis ich es erreiche.29

Festzuhalten sind hier die Bilder der Leere und Dunkelheit, die auf das bereits thematisierte Paradigma der Kartographie und des Visuellen hindeuten. Hier soll die Aufmerksamkeit jedoch auf die anderen Faktoren gelenkt werden: Auf der einen Seite ist sich Leichhardt der Schwierigkeiten der Nahrungsbeschaffung bewusst, auf der anderen Seite verbindet er dies etwas ungeschickt mit den Gefahren einer als feindselig dargestellten Kultur. Die feindseligen „Eingeborenen“ sind (als Bedrohung) gegenwärtig und gleichzeitig nicht gegenwärtig: Durch die Notwendigkeit, Vorräte mitzunehmen, die dann ärgerlicherweise aufgebraucht werden, wird ihre fortwährende Existenz verschleiert, durch das Bild der „dunklen Masse“, in die es einzudringen gilt, wird ihre Gegenwart gleich völlig ausradiert; und doch können sie, obwohl sie ja scheinbar gar nicht da sind, „durch Feindseligkeiten zurückschreck[...]en“. Im Rahmen dieses Beitrags möchte ich mich vor allem mit den Berichten der ‚erfolgreichen‘ Expeditionen Leichhardts genauer befassen – erfolgreich genug jedenfalls, um ihm 1847 eine Ehrenmedaille der Royal Geographic Society of London einzubringen, sowie Anerkennung in Form einer Auszeichnung der Paris Geographical Society –, aber auch seine ‚gescheiterte‘ zweite Expedition soll diskutiert werden. Verglichen mit dem Mythos, der sich um Burke und Wills rankt, ist diese Geschichte weniger tief in die Mythologie australischer Entdeckungen eingedrungen. Dafür gibt es mehrere Gründe: Während Leich29 Zit. n. FINGER, 1999, S. 108.

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hardt viele seiner späteren Expeditionen zu Pferd (oder auf einem Maulesel) bestritt, sammelte er seine ersten Erfahrungen im australischen Busch noch zu Fuß. Diese Entschleunigung deckt sich mit Leichhardts Selbstbild als ‚Humboldt Australiens‘ und seiner Auseinandersetzung mit der Umgebung als Naturwissenschaftler. Als ‚Entdecker‘ treibt er das koloniale Projekt voran; als ‚Erkunder‘ bzw. ‚Wissenschaftler‘ und gar als ‚Fußreisender‘ entschleunigt er diesen Prozess.

Leichhardts erste Reise Die erste Zeit nach seiner Ankunft in Australien im Februar 1842 verbrachte Leichhardt damit, in der Gegend um Sydney und Moreton Bay zahlreiche Pflanzen zu Studienzwecken zu sammeln. Nach einigen dieser Wanderungen bemühte sich Leichhardt zunächst vergebens bei der Kolonialregierung um finanzielle Unterstützung für eine Expedition nach Port Essington, das im Norden Australiens, in der Nähe des heutigen Darwin, liegt. Dennoch gelang es ihm, (Sach-)Spenden u. a. von Viehzüchtern zu sammeln, die daran interessiert waren, weiter nördlich gelegenes Land ausfindig zu machen, das sich als Weideland eignen könnte. Die Expedition war somit kolonialistisch, wenn auch nicht zwangsläufig kolonisierenden Charakters. Die Forschungsreisenden machten sich 1844 auf den Weg, erreichten ihr Ziel aber erst Ende 1845, als die meisten Anwohner Sydneys die gesamte Gruppe bereits für tot erklärt hatten. In Expeditionstagebüchern jedweder Art – und Leichhardts bildet hier keine Ausnahme – wird der Logistik der Reise und des Transports, vor allem was die Nahrungsversorgung anbelangt, besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Selbst Geographen, die sich nie selbst auf Forschungsreise begeben hatten, beteiligten sich an solchen Erörterungen.30 In Berichten zu Leichhardts Entdeckungsreise – etwa denen von Finger und Dan Sprod (1989), auf die ich mich vorrangig stützen werde – gilt die Hauptsorge häufig dem Essen, so z. B. beim Zwiespalt zwischen (europäischem) Rindfleisch und (einheimischem) Kängurufleisch im folgenden Zitat:

30 Vgl. GRAVES/RECHNIEWSKI, 2014.

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Kylie Crane Die Männer hatten bis vor kurzem alle an Diarrhoe gelitten, in etwa seitdem sie häufig getrocknetes Fleisch von dem geschlachteten Stier zu sich nahmen. […] Während sie bisher Leguane, Opossums und Vögel aller Art gerne in ihren Schmortöpfen hatten brutzeln sehen, mied man sie jetzt. Das getrocknete Känguruhfleisch ähnelte sehr dem getrockneten Rindfleisch, sie brieten es lange und richteten daraus mit Wasser und durch langes Kochen eine ausgezeichnete Brühe an, die in der Regel mit etwas Mehl angedickt wurde.31

Die Beschreibung des Kängurufleischs erfolgt unter Rückgriff auf den bekannten Geschmack von Rindfleisch. Nicht nur das, es wird wie das Rindfleisch durch die Zugabe von Mehl zubereitet, wohl um es ‚essbar‘ zu machen. Das australische Tier kann nur durch die Zubereitung gemäß europäischen Normen zu Essen gemacht werden. Im Gegensatz dazu werden die Leguane, Opossums und Vögel aller Art ausgeblendet – ihnen wird in diesem Auszug kein vergleichbarer Geschmack zugeschrieben. Und trotz des kausalen Zusammenhangs, der zwischen dem Fleisch des zugleich ‚fremden‘ und doch ‚vertrauten‘ Tieres und der Diarrhoe hergestellt wird, verlangt es den Expeditionsteilnehmern in ihrer Verfassung offenbar nach vertrautem Essen.32 Finger fügt dieser Beschreibung ein Zitat aus Leichhardts Reisetagebuch vom 21. November 1844 hinzu: „Es ist merkwürdig, wie bald man gegen den Wohlgeschmack des Essens gleichgültig wird, wenn uns alle die künstlichen Bedürfnisse der Gesellschaft genommen sind, dann bildet nur noch das Lebenserhaltende den Gegenstand des Verlangens.“33 Dieser Auszug zeugt von einer fortwährenden Voreingenommenheit gegenüber der Gesellschaft, selbst wenn dies abgestritten wird. Die Mitglieder der Expedition verscheuchten am letzten Tag im Jahr 1844 eine Gruppe „Eingeborener“ aus ihrem Lager: Nachdem sie eine Hütte, welche zweifelsohne „das Werk eines weißen Mannes gewesen

31 FINGER, 1999, S. 268. 32 Ochsenfleisch wird gerne als Festmahlzeit aufgespart; es ist die Rede von „großem Vergnügen“ und „Luxus“ dank „gebratener Leber zum Frühstück, gefüllte[m] Herz zu Mittag und die Nieren zum Abendbrot. Nach ihren oft kümmerlichen, einseitigen Mahlzeiten war dieses Ereignis Gegenstand ausgiebiger, lustvoller Gespräche“ (EBD., S. 275). 33 Zit. n. EBD., S. 268.

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ist“, gefunden haben,34 bemerken sie eine Säule dichten Rauches nahe einer Wasserstelle, aber die Gruppe „Eingeborener“ verschwindet, bevor sie in Kontakt treten können: Wir ritten zum Lager und fanden ihr Mahl bereitet, bestehend aus 2 Eiern des Buschhuhns, geröstetem Opossum, Beuteldachse und Leguane. In ihren ‚dillys‘, kleinen Körben, befanden sich einige Wurzeln oder Knollen von länglicher Form von süßem Geschmack und angenehmem Aroma, auch ungekocht.35

Leichhardt gibt zu, von den Eiern gekostet zu haben, und er „fand sie ausgezeichnet“.36 Es ist klar, dass er auch von den Wurzeln probiert haben muss (denn ansonsten würde er sie nicht als süßlich beschreiben können). Bemerkenswert ist dabei, dass er sowohl von der rohen als auch der zubereiteten Nahrung kostet. Es ist eine Annäherung an Kulturkontakt, welche auch durch Browns Vermutung, die Ansässigen hätten noch vor ihrem Eintreffen „weißer Mann“ gerufen, als Weiterführung eines vorausgegangenen Kulturkontakts gesehen werden kann. Leichhardts Bereitschaft, die zurückgelassenen Essensreste zu kosten und zu verzehren, weist auf eine Neugier und die Fähigkeit hin, in kulturellen Kontakt zu treten, da die Angst vor dem ‚Andersartigen‘, wäre sie tief verwurzelt, ihn andernfalls dem Essen gegenüber allzu misstrauisch gemacht hätte. Im Rahmen des ‚ersten Kontakts‘, diesem sagenhaften Konstrukt, das den kulturellen Kontakt zwischen Nichteuropäern und sogar jeglichen Kontakt, an dem der Kolonisierer nicht beteiligt ist, außer Acht lässt, ist es notwendig, eigene Essensvorräte mit sich zu führen. Die Umgebung, die die Expedition durchquert, wird auf eine Weise wahrgenommen, die nur eine antagonistische Sichtweise zulässt, was wiederum das Mitführen von Nahrung notwendig macht. In diesem Zusammenhang lässt sich von einer Reziprozität sprechen: Die Umgebung wird als lebensfeindlich kodiert, da sie nichts bereithält, was als ‚echtes Essen‘ anerkannt wird; der eklatante Mangel an Lebensmitteln wiederum, die auf irgendeine Weise als ‚echtes Essen‘ bezeichnet werden 34 Leichhardts Reisetagebuch vom 31.12.1844, zit. n. FINGER, 1999, S. 278. 35 EBD. 36 EBD.

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könnten, bedeutet, dass die Umgebung lebensfeindlich sein muss. Und so ziehen die Expeditionen aus, führen Rinder, Schafe und Ziegen mit sich, tragen Vorräte an Tee, Mehl und Zucker, alles während sie gleichzeitig die Last kultureller Vorurteile zu tragen haben, durch die andere Tiere und Pflanzen nicht als ‚echtes Essen‘ kodiert werden können oder zumindest eine Verständigung verhindern, die zur Zubereitung dieser Lebensmittel führen könnte. Das Mitführen von vertrautem Fleisch in Gestalt des mitgebrachten Viehs erfordert, dass die Mitglieder der Expedition fortwährend auf der Suche nach gutem Futter für die Tiere sind. Grüne Lagunen und Wiesen sind willkommene Stationen auf der Reise, die (zumindest aus Sicht der heutigen Leser) durch indigene Lebensmittelherstellungspraktiken gestaltet wurden. So lautet ein Eintrag in Leichhardts Tagebuch vom 16. Dezember 1844, als an der Brown-Lagune37 Rast gemacht wird: „Die Eingeborenen mußten einige Zeit zuvor an dieser Stelle gewesen sein und das Gras abgebrannt haben.“38 Doch zugleich ist dieser Ort auch deshalb von Vorteil, da „wir eine ansehnliche Strecke weit sehen konnten, ein für uns sehr günstiger Umstand im Falle sich die Eingeborenen feindlich zeigen sollten“39 – eine Bemerkung, die im starken Kontrast zu Fingers Kapitelüberschrift steht, die „Aufbruch und durch unberührtes Land“40 lautet. Der einvernehmliche Austausch von Nahrung muss auch mit der Weitergabe von überlebenswichtigem kulturellen Wissen einhergehen, will man dem Schicksal von Burke und Wills entgehen. Der Kontakt im folgenden Zitat ist unvollständig, da das Essen nicht verspeist wird, doch entsteht durch die Kulisse eine Zone des Kontakts, in der der Geschenkeaustausch stattfinden kann: Sie gingen die halbe Meile zu den jungen Schwarzen, die eine Menge Allamurr ausgegraben hatten, brachten einen großen Teil davon ins La37 Die Benennungsgepflogenheiten ähneln denen anderer Expeditionen: Die verstreute Bezugnahme auf Gönner, Mitglieder und Freunde findet sich auf der Karte wieder (vgl. auch CARTER, 1987), obwohl sich auch eine köstliche Reihe toponymischer Essenserinnerungen wie „Dried-Beef Camp“ oder „Honey Camp“ finden lassen. 38 Zit. n. FINGER, 1999, S. 275. 39 Zit. n. EBD. 40 EBD., S. 253.

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Essen als Kulturkontakt ger, wo das Wurzelgemüse hochwillkommen war und erhielten dafür einige Gegengeschenke. Eine dünne, graue Schlange von über einem Meter Länge, von der sie andeuteten, daß sie giftig sei und die von ihnen Yulla genannt wurde, hatten sie ebenfalls mitgebracht, um sie auf den Kohlen zu rösten. Die Weißen boten ihnen von der geschmorten, frischen Haut und dem Rinderfleisch zu probieren an. Sie nahmen es zwar entgegen, warfen es später aber fort, als sie sich unbeobachtet glaubten.41

Obwohl der Austausch, das Essensgeschenk, nicht durch den Verzehr abgeschlossen wird, ist die Geste des Austauschs, das Übergeben der Nahrung in den Besitz des jeweils anderen, vollbracht. So lässt sich hier von einem zögerlichen Kulturkontakt sprechen, von Kommunikation, wenn auch nicht ganz von Versorgung. Die Stimmung unter den Expeditionsteilnehmern besserte sich leicht, nachdem es im hohen Norden, in unmittelbarer Nähe zum East Alligator River, im Zuge einer vermutlichen Entweihung heiligen Bodens zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung mit einem indigenen Stamm gekommen war. Die „Eingeborenen“ hier sind des Englischen mächtig; Leichhardt „war überrascht über die zunehmende Kenntnis englischer Wörter bei den Eingeborenen“.42 Es kommt zu einem Austausch von Essen, wenn dieser auch von Misstrauen getrübt wird: Die gaben uns davon [eine Masse aus Windengewächs] einen ansehnlichen Teil, wollten unser getrocknetes Fleisch aber nicht kosten, sondern besahen es von allen Seiten, zerbrachen es, rochen daran und gaben es uns mit einem Ausdruck von Mitleid und Ekel zurück.43

41 EBD., S. 375, mit Verweis auf Leichhardts Reisetagebucheintrag vom 04.12.1845. 42 FINGER, 1999, S. 378. 43 Zit. n. EBD., S. 379. Später gelingt es Mitgliedern der Expedition, einen Büffel zu schießen, der Finger zufolge vermutlich ein Überbleibsel der „ehemaligen Ansiedlung der Weißen an der Raffles Bay“ war. „Nach deren Auflösung waren sie von dort entweder entlaufen oder zurückgelassen worden. Ursprünglich aber stammten sie von den malaiischen, heute indonesischen Inseln“ (EBD., S. 380). Diese Büffel stellen zwar eine Nahrungsquelle dar, sind aber auch Symbol für eine Geschichte von Verbindungen, die weit über die weiße Kolonisierung hinausreicht und diese fest in der

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So kurz die Momente des Austausches auch sein mögen, so prägen sie die Expedition doch hinsichtlich des kulturellen Kontakts und machen dabei auch Schwierigkeiten offenkundig. Weder seitens der Mitglieder der Expedition noch seitens der Indigenen ist man bereit, die von der anderen Gruppe angebotenen Güter zu verspeisen.

Leichhardts zweite Reise Leichhardts zweite umfangreiche Expedition, sein gescheiterter Versuch, Swan River im Westen zu erreichen, kann sowohl auf der Grundlage der Berichte von Hans Wilhelm Finger und Dan Sprod wie auch der verbleibenden schriftlichen Zeugnisse dieser Expedition in erster Linie als kulinarisches Versagen interpretiert werden. Eine Vielzahl von Gründen könnte für die frühzeitige Rückkehr – denn dies entscheidet über Erfolg oder Misserfolg der Expedition – angeführt werden, zum Beispiel schlechte Witterung, Krankheiten oder Unstimmigkeiten innerhalb der Gruppe. In den Quellen jedoch ist in erster Linie vom Essen die Rede. In einem Bericht vom November 1846 finden fast 500 kg Mehl, 100 kg Salz, Tee und Zucker sowie eine Reihe anderer Vorräte Erwähnung, zusätzlich zu den 40 Bullen und ein paar Schafen und Ziegen. Bei Sprod heißt es: „[This] afforded [Leichhardt] an extra source of food and a buffer against the uncertainties of long overland travel. Any shortfall would have to be met by hunting and by gathering food from the surrounding countryside.“44 Die einheimischen Lebensmittel – sowohl Tiere als auch Pflanzen – werden als Ergänzung konstruiert, d. h. für sich genommen reichen sie grundsätzlich nicht aus, um sich allein davon zu ernähren, sie sind rein supplementär. Bei Sprod heißt es weiter: „Leichhardt, more than most Australian explorers, was willing to experiment with natural foods, as the accounts of his first expedition make plain when he did not shrink from eating dingo and flying fox, to the dismay of his companions.“45 Hier wird Leichhardt als experimenRegion verankert, die die Expedition durchquert. Die dortige Siedlung Trepangfang führt die Gruppe zusammen. 44 SPROD, 1989, S. 47. 45 EBD., S. 48.

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tierfreudig beschrieben und gleichzeitig sein Status als Außenseiter untermauert. Doch nicht nur Leichhardt und seine europäischen Begleiter, auch seine indigenen Mitreisenden waren Fremde in den Regionen, in denen sie unterwegs waren: „Wommai tried Zamia nuts with unfortunate consequences.“46 Ihre Erfolge, sich von ihrer Umwelt zu ernähren, waren begrenzt, wie Sprod erläutert: „[W]hile this variety of foods relieved the monotony of the diet of flour and meat […] the party was not very successful in living off the land.“47 Sprod stellt die These auf, dass Leichhardts Gruppe im Vergleich zu den Aborigines, die vom Land lebten, sehr laut gewesen sein und so Jagdwild wie Einheimische verscheucht haben muss.48 Diese Spekulation, die Sprod noch um die Behauptung erweitert, die Gruppe sei nie Gefahr gelaufen, zu verhungern, mutet jedoch recht fragwürdig an. Pflanzen beispielsweise lassen sich nur in den seltensten Fällen aufschrecken. Durch den Gebrauch europäischer Waffen hätte sich das Unvermögen, sich im Busch unbemerkt fortzubewegen, vermutlich ausgleichen lassen. Ein schlüssigerer Grund scheint mir etwas, auf das Sprod schon in einer früheren Beobachtung hindeutet: die Skepsis der Männer gegenüber Leichhardts Versuchen, einheimisches Essen zu verzehren. Dies zeugt von einer Kontaktangst, von Misstrauen gegenüber einheimischen Produkten (und Menschen). Ganz abgesehen davon, dass es überlebensnotwendig ist, ist Essen hier nicht nur als Kulturkontakt zu verstehen, sondern auch als Symbol für ebendiesen. In seiner Schilderung schreibt Finger: Am Vorabend des 25. März, kaum einer zeigte Reaktionen auf den folgenden Tag des [erneuten] Aufbruchs, lagen sie da und jammerten über ihren schrecklichen Zustand, und wenn sie nicht mehr weiter jammern konnten, dann sprachen sie von Essen, immer nur von Essen: Helys Reisetagebuch ist voll davon.49

Als Leichhardt von John Frederick Mann, dem selbsternannten Stellvertreter Leichhardts50 und dem Aufseher über den Proviant, bezüglich der 46 47 48 49 50

EBD. EBD. Vgl. EBD. FINGER, 1999, S. 473. EBD., S. 519. Sprod lässt Manns Rolle offen (vgl. SPROD, 1989, S. 82).

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Essensrationen konfrontiert wird, muss er feststellen, „daß von dem knappen Fleisch fast jede Woche drei Pfund fehlten. Der Bruch in der Reisegesellschaft lag jetzt offen“.51 Auf seiner zweiten Reise verwendet Leichhardt Essen als Mittel, um Kontrolle über seine Männer auszuüben. So werden etwa ,Fettkuchen‘ als Belohnung benutzt und die Männer können mehrfach nur durch die Aussicht auf weitere Nahrungsmittel, besonders Mehl, motiviert werden. Als sich 1847 gegen Ende April Unmut unter seinen Männern breit macht, lassen sie sich durch Mehl wieder umstimmen: „[G]iven more flour, the malcontents agreed to proceed.“52 Schwindende Mehl- und Fleischvorräte sowie gesundheitliche Probleme bewegten Leichhardt aber schließlich zum Umkehren. Für diesen Beitrag von größerer Bedeutung ist jedoch vielmehr die Unfähigkeit der Gruppe, die Lebensmittel zu erkennen, die während ihrer Reise rundum vorhanden waren (auf der ersten, erfolgreichen Reise machten die Männer ab und an noch Jagd auf australische Wildtiere). Eine Gruppe Entdeckungsreisender, die nicht in der Lage ist, auf die sie umgebenden Kulturen und Umwelten einzugehen, scheint in diesen Mythen gescheitert zu sein. Es reicht nicht, die zur Verfügung stehenden Lebensmittel einfach nur zu essen; das kulturelle Wissen um Praktiken der Zubereitung ist essentiell, sogar überlebenswichtig. Leichhardts erster Reise mit erfolgreichen Kulturkontakten (trotz oder gar wegen der vorangegangenen Schwierigkeiten) steht die zweite, gescheiterte gegenüber, mit ihrer hermetischen Abschottung gegenüber der (kulturellen) Umwelt.

F a z it Das Paradigma des Visuellen hatte auf die Betrachtungsweise des kolonial-imperialen Projekts einen enormen Einfluss.53 Das Visuelle kann 51 FINGER, 1999, S. 501. 52 SPROD, 1989, S. 34. 53 Donna Haraway argumentiert: „Vision is always a question of the power to see – and perhaps of the violence implicit in our visualizing practices“ (HARAWAY, 2008, S. 680). Bill Ashcroft schreibt ähnlich: „For the observer, sight confers power“ (ASHCROFT, 2001, S. 141). Bessere Sicht verleiht größere Macht, und so suchen die Entdecker Berge und Hügel auf, um ihre Umgebung im Blick zu behalten. In seinem Artikel „Coming to Our

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jedoch nicht all die materiellen Praktiken und Austauschprozesse in der Kontaktzone erfassen. Durch eine Konzentration auf den Austausch und das Phänomen des durch Nahrung bedingten Kulturkontakts habe ich aufgezeigt, wie Ernährung und Geschmackssinn vorherrschende Denkweisen über Kontakt hinterfragen können und sich für eine neue Lesart von (Besiedlungs- und) Entdeckermythen eignen. Die Analyse der Expeditionen von Franklin und Burke und Wills gewinnt neue Dimensionen hinzu, indem auf die überlebenswichtige Rolle aufmerksam gemacht wird, die Essen und (der Mangel an) Kommunikation in den sich entwickelnden Tragödien gespielt haben. Essen verwischt die Grenze zwischen Natur und Kultur, zwischen ‚europäisch‘ (oder zivilisiert) und ‚nichteuropäisch‘ (oder unzivilisiert), sowohl beim tragischen Tod der Expeditionsteilnehmer als auch, im Falle Franklins, bei der Annäherung an ein Tabuthema, den Kannibalismus. In beiden Fällen wird deutlich, dass der Verzehr von Speisen ohne einhergehendes Kulturwissen nicht nur zu bloßen Magenverstimmungen, sondern zum Tod führen kann. Der Austausch von Nahrung ist letztlich eine Frage der Ethik: sich über Nahrung austauschen, sich durch Nahrung austauschen, Leben durch Austausch bewahren. Im Moment der Annahme des Geschenks akzeptiert der Beschenkte auch die Erfahrungswelt des Spendenden. Durch den Verzehr des Essens wird die Kultur des anderen angenommen und zugleich in sich aufgenommen. Somit weist Essen als Geschenk, als Austausch, auf die größeren Kontexte des Überlebens hin, einschließlich des Überlebens der Kultur.54

L it e r a t u r ASHCROFT, BILL, Post-Colonial Transformation, London u. a. 2001. BARTHES, ROLAND, Mythologies, übers. von ANNETTE LAVERS, London 2000. Senses. Narratology and the Visual“ verwendet Christian Huck einen blinden Entdecker, um die gängige Praxis der Verwendung von Metaphern des Sehens für die Beschreibung von Wissen und Vernunft kritisch zu hinterfragen, insbesondere in der Narratologie (vgl. HUCK, 2009). 54 Mein besonderer Dank geht an Moritz Kneuer, der diesen Text aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt hat.

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Transkulturelle Erfahrung und Migration in der anglophonen kanadischen Literatur WALDEMAR ZACHARASIEWICZ Die fortschreitende Globalisierung und die sich verändernde Einstellung zur Migration in Kanada im Zusammenhang mit der Arbeit der Royal Commission on Bilingualism and Biculturalism (1963-1969), die Empfehlungen hinsichtlich der Berücksichtigung des multikulturellen Charakters des Landes vorlegte,1 haben das flächenmäßig zweitgrößte Land der Welt zum Ziel von Hunderttausenden von Einwanderern vor allem auch aus der Dritten Welt gemacht. Die alle zehn Jahre durchgeführten Volkszählungen bzw. der dazwischen ausgewertete Zensus von 2006 haben gezeigt, dass inzwischen weit über fünf Millionen Kanadier selbst Zuwanderer oder Kinder von Zuwanderern sind und zur Kategorie der visible minorities zählen, also aus Ost- und Südasien, der Karibik oder Afrika stammen.2 Vor der grundlegenden Liberalisierung der Einwanderungsgesetze gab es zweifellos Diskriminierung, und verschiedene Nationen waren nicht willkommen bzw. wurden durch z. T. prohibitive steuerliche Maßnahmen daran gehindert, in das Land zu 1

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Vgl. die von Valerie Knowles in Strangers at Our Gates analysierte Veränderung der kanadischen Einwanderungsgesetze und verschiedene Initiativen nach einem stark kritisierten Green Paper aus der Mitte der 1970er Jahre. Vgl. auch KELLEY/TREBILCOCK, 2010, S. 419. Nach dem Zensus von 2006 sind mehr als 1,26 Millionen Kanadier oder deren Nachkommen aus Südasien eingewandert, insbesondere vom indischen Subkontinent; mehr als 1,2 Millionen haben chinesische Vorfahren, fast 800.000 afrikanische Ahnen.

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gelangen. Dies gilt insbesondere für die Head Tax, die von Chinesen seit 1885 eingehoben und bald nach Beginn des 20. Jahrhunderts bis auf 500 Kanadische Dollar pro Person hinaufgesetzt wurde, um die Zuwanderung zu unterbinden.3 Das Bemerkenswerte ist, dass der beschriebene Paradigmenwechsel, der in der Gesetzgebung zum Multikulturalismus als Kennzeichen und Wert in der kanadischen Gesellschaft legistisch formuliert ist, inzwischen seinen Niederschlag in einer Vielfalt von literarischen Texten gefunden hat, die die ethnische Diversität der kanadischen Gesellschaft widerspiegeln. Die wichtigsten Passagen im Multiculturalism Act von 1985, der 1988 endgültig verabschiedet wurde, lauten: (1) It is hereby declared to be the policy of the Government of Canada to: (a) recognize and promote the understanding that multiculturalism reflects the cultural and racial diversity of Canadian society and acknowledges the freedom of all members of Canadian society to preserve, enhance and share their cultural heritage; (b) recognize and promote the understanding that multiculturalism is a fundamental characteristic of the Canadian heritage and identity and that it provides an invaluable resource in the shaping of Canada’s future; […] (i) preserve and enhance the use of languages other than English and French, while strengthening the status and use of the official languages of Canada; and (j) advance multiculturalism throughout Canada in harmony with the national commitment to the official languages of Canada.

Die seit der Gründerzeit auf dem Boden des späteren Kanadas gegebene Bipolarität, d. h. das Nebeneinander von anglophonen und frankophonen Siedlern, war unter Pierre Trudeau, dem charismatischen liberalen kanadischen Premier, im Official Languages Act 1969 festgeschrieben worden. Durch die Royal Commission aber ist eben nicht nur die bikulturelle Basis des Landes betont worden, sondern die Vielfalt des kulturellen Erbes anderer neuer Kanadier wurde ausdrücklich anerkannt. Die 3

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Vgl. ZACHARASIEWICZ, 2008, S. 118f.

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Konsequenzen der Liberalisierung der Einwanderungsgesetze seit 1962 sind im Land sehr deutlich: Es ist bekannt, dass im Großraum von Toronto inzwischen über 140 Ethnien und Nationalitäten leben und über 46 Prozent der dortigen Bevölkerung außerhalb Kanadas geboren sind.4 Insgesamt werden bald 20 Prozent der Kanadier foreign born sein, und die Transformation der kanadischen Gesellschaft schreitet rasch voran. Je nach ihrer Grundeinstellung haben Beobachter dieses Prozesses erfreut oder skeptisch von Kanada als einem postnationalen Land gesprochen.5 Avantgardistische Autoren und Literatur- und Kulturwissenschaftler haben wohlwollend die Begrenzung staatlicher Autorität registriert. Unter dem Begriff glocal haben sie die direkte Verbindung von Lokalem und Globalem hervorgehoben und dabei die Reduktion der Bedeutung staatlicher Grenzen erörtert. Damit korreliert die Diskussion über den Verlust bzw. die Einschränkung der staatlichen Souveränität durch die wachsende Macht multinationaler Konzerne.6 Andere Beobachter haben auf soziale Probleme und Spannungen verwiesen, die durch globale Trends und den Zuzug von Migranten aus der ganzen Welt in die kanadischen Ballungszentren entstanden sind. An Theoriekonzepten interessierte Kommentatoren sehen in Kanada eine postkoloniale Gesellschaft schlechthin.7 Sie begrüßen die in dieser weiten Kontaktzone, um einen geläufigen, von Mary Louise Pratt in Imperial Eyes (1992) eingeführten Begriff zu gebrauchen, erkennbare Entwicklung hin zu einer Gesellschaft, in der Hybridität akzeptabel ist, ja geradezu zu einer Norm wird.8 Kulturelle Pluralität ist in Kanada nicht nur im öffentlichen Raum manifest geworden, sondern es erfolgt auch entgegen früherer Praxis ein Geben und Nehmen zwischen stark differierenden Lebens- und Verhaltensweisen und heterogenen kulturellen Mustern. Die stärkere Differenzierung innerhalb der Gesellschaft bzw. einzelner Gruppen scheint mit einer Vernetzung nach außen verknüpft zu sein. Dies zeigt sich u. a. darin, dass in Kanada stark rezipierte zeitge4 5 6 7 8

Vgl. LENZ, 2001, S. 229-235, besonders S. 234. Vgl. die positive Deutung von DAVEY, 1993. Inzwischen ist die Debatte intensiv weitergeführt worden (vgl. FLORBY, 2009). Dies hat beispielsweise Wilfried von Bredow in „Ironische Mythen der Souveränität“ im Jahr 2000 dargelegt. Vgl. MOSS, 2003. Vgl. BHABHA, 1994.

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nössische anglophone Texte häufig nicht Ereignisse und Prozesse aus dem eigenen Land beschreiben. Autoren wie Michael Ondaatje, Rohinton Mistry und M. G. Vassanji, die in Kanada eine neue Heimat gefunden haben, lenken die Phantasie der Leser immer wieder auf entfernte Räume – oft auf ihr eigenes Herkunftsland. Bei ihnen gilt für die Schauplätze ihrer Fiktion nicht mehr die früher für kanadische Autoren typische Frage, „where is here?“, sondern „what is there?“9 Es wird damit offenkundig, dass die kanadische Gesellschaft inzwischen nicht nur die Präsenz ganz unterschiedlicher ethnischer Kulturen im Sinne des Multikulturalismuskonzeptes akzeptiert, sondern auch die transkulturelle Interaktion zwischen den Aktanten und Ethnien in ihrer Spiegelung in der Literatur, in imaginierten Welten, positiv aufnimmt. Dieser erstaunliche Zustand ist das Ergebnis einer längeren Entwicklung, die mit der Reform der Einwanderungsgesetze und dem Ende der erwähnten Diskriminierung von Einwanderern aus bestimmten Herkunftsländern zusammenhängt sowie mit der Rekrutierung von gut ausgebildeten bzw. hoch talentierten Migranten aus der Dritten Welt. Die Collegeabsolventen oder -aspiranten aus Indien, Sri Lanka oder China, die sich in Kanada nach einigen Jahren ganz der Schriftstellerei zu widmen begannen, haben wesentlich zu einem Paradigmenwechsel im Denken beigetragen.10 Es gehört zu den bemerkenswertesten Aspekten des kanadischen kulturellen Lebens, dass spätestens seit den 1980er Jahren im Literaturbetrieb der Stellenwert von Sprechern jener ethnischen Gruppen außerordentlich stark gestiegen ist; dem entspricht die Tatsache, dass kanadische Jurys Autoren aus der Dritten Welt wiederholt hohe Preise verliehen und sie mit dem Giller Prize oder dem Governor General’s Award ausgezeichnet haben. Dies trifft etwa auf Michael Ondaatje zu, den aus Sri Lanka stammenden und seit dem Beginn seiner Studienzeit in Kanada lebenden vielseitigen Erzähler und Dichter.11 Ebenso hat Rohinton Mistry, ein aus Mumbai stammender Parse, in Kanada hohe Anerkennung erlangt, nachdem er zunächst in einer Bank tätig war, ehe er sich ganz dem Schreiben gewidmet hat. Ähnliches lässt sich auch über M. G. Vassanji 9 Vgl. STAINES, 1999, S. 32f. und DERS., 1995. 10 Vgl. TEN KORTENAAR, 2009, S. 561-566, wo besonders der Beitrag der „second wave“ von Migranten hervorgehoben wird. 11 Er erhielt diese Auszeichnungen u. a. für The English Patient (1992), Anil’s Ghost (2000) und für Divisadero (2007).

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sagen, der aus Dar-es-Salaam in Tansania stammt und über die USA nach Studien am MIT und in Pennsylvania nach Kanada kam und dort zunächst als Atomphysiker wirkte, ehe er als Erzähler großen Erfolg hatte.12 Wie Alfred Hornung und Neil ten Kortenaar in ihren Beiträgen in der Cambridge History of Canadian Literature (2009) darstellen, ist es in Kanada zu einer Proliferation von autobiographischen Texten gekommen, die Hornung unter dem Begriff „transcultural life-writing“ subsumieren kann.13 In ihnen bieten die Autoren eine Erkundung ihrer Familiengeschichten. Die Kinder von Zuwanderern und von Flüchtlingen bzw. Abkömmlinge von Überlebenden des Holocaust berichten von ihrer spät(er)en Suche nach der verlorenen Heimat ihrer Vorfahren in Mittel- und Osteuropa. Ebenso haben auch die Kinder der lange diskriminierten Chinesen bzw. Japaner auf kanadischem Boden die Vergangenheit auszuloten versucht. Es kam zur Aushandlung einer individuellen Identität durch Zuwanderer aus Süd- und Südostasien, die ihre Position ebenso zwischen der Mehrheitsbevölkerung und ihrer eigenen Ethnie fanden wie Erzähler mennonitischer oder indigener Herkunft. Die Bedeutung gerade der jüngeren Einwanderungswelle, die gut ausgebildete bzw. hochtalentierte Personen nach Kanada brachte, die als Literaten selbstbewusst ihre eigene Erfahrungswelt – vielfach rückgewendet zu ihren Ursprungsländern – vermitteln, lässt sich nicht bestreiten. Ihr Auftreten hat die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass sich Migration und transkulturelle Erfahrung zu dominanten Themen in der anglophonen kanadischen Literatur entwickeln konnten. So sind in den letzten Jahrzehnten viele autobiographische Zeugnisse von Immigranten erschienen, die lange zu weniger geschätzten Zuwanderern aus dem europäischen Raum gehörten. Die Vorgeschichte jener Entfaltung des produktiven Texttyps von „life-writing“ und der allmählichen Verknüpfung von ethnischer Identität mit dem Konzept der Transkulturalität verdient dargestellt zu werden. Unter dem kanadischen Innenminister Clifford Sifton war 1896 die Einladung an verschiedene ethnische Gruppen wie die Ruthenen/ Ukrainer aus dem österreichischen Galizien und der Bukowina ergan12 Mistry erhielt einen Governor General’s Award für Such a Long Journey (1991), Vassanji diesen für A Place Within (2009). 13 Vgl. HORNUNG, 2009; TEN KORTENAAR, 2009.

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gen, sich geschlossen in Dorfgemeinschaften in der zuvor kaum oder nur dünn besiedelten Prärie niederzulassen.14 Ein Resultat dieses Bemühens war das Nebeneinander von z. T. relativ abgesonderten ethnischen Siedlungen in Manitoba, Saskatchewan und Alberta, was in der politischen Rhetorik den Begriff des ethnischen Mosaiks vorbereitete. Es ist freilich unbestritten, dass bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg die politische Elite von einer Hierarchie der ethnischen Gruppen auf kanadischem Boden ausging und mitunter mit erheblicher Skepsis auf den starken Zustrom von Ukrainern und Südeuropäern, statt der zunächst eindeutig präferierten Angelsachsen oder der Skandinavier, reagierte.15 Manch kritische Stimme war in diesem Zusammenhang zu hören, nicht zuletzt von dem als Politikwissenschaftler anerkannten und als Humorist gefeierten Stephen Leacock, der in einer sarkastischen Rede 1909 durch eine reductio ad absurdum die Fragwürdigkeit einer Amalgamierung verschiedener ethnischer Elemente und Traditionen herausstellte: Out of all these we are to make a kind of mixed race in which is to be the political wisdom of the British, the chivalry of the French, the gall of the Galician, the hungriness of the Hungarian and the dirtiness of the Doukobor.16

Das Nebeneinander ethnischer Gruppen im Dominion bedeutete freilich nicht, dass die neuen Kanadier der Aufgabe enthoben waren, sich aus ökonomischen Gründen die Sprache der Majorität anzueignen. Dabei gab es in den Minoritäten z. T. große Spannungen zwischen den Angehörigen verschiedener Generationen. Es überrascht nicht, dass die Kinder der Einwanderer das Englische rascher erlernten als ihre Eltern und dass sie gegenüber deren Bemühen, Traditionen zu bewahren, relative Distanz zeigten. Ein kurzer historischer Überblick über das Verhalten der Angehörigen verschiedener Gruppen und Einwanderungswellen kann dies illustrieren. Die Ukrainer kamen, zunächst als „men in sheepskins“ bezeich14 Vgl. KNOWLES, 2007, S. 84-93. 15 Vgl. die kritische Analyse von PORTER, 1965. 16 Zitiert aus der 1910 veröffentlichten Rede Leacocks „The Political Achievement of Robert Baldwin“ nach BERGER, 1976, S. 151.

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net, auf Einladung Siftons im späten 19. Jahrhundert und in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts; später gab es angesichts der Verfolgungen in der Sowjetunion eine weitere Einwanderungswelle in die Prärieprovinzen, und schließlich kam es auch nach dem Zweiten Weltkrieg zur Ansiedelung von emigrierten Ukrainern. Gegenüber den summarisch als ‚Bohunks‘17 bezeichneten Zuwanderern hielten sich lange Vorurteile, und sie wurden auch nicht ihrem Ausbildungsstand und ihrer Kompetenz entsprechend beschäftigt, sondern arbeiteten in der Regel als Hilfsarbeiter, Köchinnen oder als Putzfrauen. Ihre mangelnde Sprachkompetenz im Englischen förderte diese Tendenz, und viele autobiographische Zeugnisse belegen, dass ihre z. T. spät eingeschulten Kinder oft Zurücksetzung erfuhren. Wie Janice Kulyk Keefer, die aus ukrainischer Familie stammende Autorin und Professorin, über die Erfahrungen ihrer Mutter und ihrer Tante berichtet,18 mussten diese erst mühsam ihr Talent beweisen: Ihre Mutter war dann zeitweilig eine erfolgreiche Modedesignerin, ihre Tante wurde Kinderärztin. Die traditionell negative Einschätzung der ukrainischen Ethnie bezeugt unter den Pionieren der anglokanadischen Literatur etwa Margaret Laurence in ihren Romanen und Erzählungen, die in der Kleinstadt Manawaka spielen, einem fiktionalisierten Porträt von Neepawa, wo Laurence aufwuchs. Ihre Fiktion illustriert die strikte soziale Trennung zwischen den angesehenen Schotten, Engländern und Nordiren einerseits und den Angehörigen von ukrainischen Familien und erst recht den marginalisierten Métis andererseits.19 Verschiedene Faktoren haben – wie oben impliziert – in vielen Fällen dazu geführt, dass die Kinder von Einwanderern erst relativ spät die Sprache der Majorität erlernten. Die Verfasserin der ersten genuinen Autobiographie ethnischer Provenienz, Laura Goodman Salverson (1890-1970), die Tochter von Einwanderern aus Island, war bereits zehn Jahre alt, als sie im Mittleren Westen eingeschult wurde.20 Ihre zunehmende Kompetenz im Englischen inspirierte die Tochter eines 17 Diese abfällige Benennung von Immigranten meist slawischer Herkunft ergab sich aus der Kontraktion von Bo(hemians) und Hun(garians). 18 Vgl. KEEFER, 1998, S. 132-144 und S. 152-154. 19 Vgl. Laurence’ Roman A Jest of God (1966), welcher mit Nick Kazlik einen ukrainischen Charakter einführt, sowie die Einschätzung der Ethnien in A Bird in the House (1970) und The Diviners (1974). 20 Vgl. SALVERSON, 1981, S. 179.

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gebildeten und phantasievollen, aber in einem Ausbeuterbetrieb in der Lederbranche schuftenden Isländers, sich begeistert der Lektüre von Romanen aus der Leihbücherei zuzuwenden und weckte in ihr die Hoffnung, dass sie einmal selbst im Stande sein würde, in dieser Sprache zu erzählen. Das ist ihr nach Jahren harter Arbeit in verschiedenen Berufen dann tatsächlich in den 1920er Jahren gelungen. Das kulturelle Kapital, über das sie, die viel von den Heldinnen isländischer Sagen gehört hatte,21 verfügte, und das Verständnis von Förderern, u. a. der frühen Feministin Nellie McClung,22 haben dazu geführt, dass sie in The Viking Heart (1923) dem Ringen isländischer Siedler in Manitoba ein Denkmal setzen konnte. In dem erfolgreichen Roman schildert sie das schwere Leben der Zuwanderer in die Prärieprovinzen und erzählt am Ende, wie Thor, der ganze Stolz einer isländisch-kanadischen Familie, an der Westfront fällt – wie 60.000 andere junge Kanadier. Dieser schwere Verlust scheint den lange von den Einheimischen distanziert betrachteten Isländern erst das uneingeschränkte Heimatrecht in Kanada gesichert zu haben. Ihre persönlichen Erfahrungen hat Laura Goodman, verehelichte Salverson, dann in der erwähnten Autobiographie vermittelt, worin sie den Sozialisierungs- und Akkulturierungsdruck beschreibt, der ihr und ihren Altersgenossen nahelegte, „a blameless Canadian skin, Canadian habits, and Canadian houses“ zu erwerben.23 Schon vorher hatte sie während ihrer Schulzeit ihre Fremdheit beunruhigt wahrgenommen: „Wherever I looked, our foreigness shrieked at me. We were hopelessly Icelandic, and doubtless doomed to remain so to the end of time.“24 Ein Verweilen in einem ‚Zwischenraumʻ zwischen der Majoritätsbevölkerung und ihrer Ethnie schien damals unmöglich. Und doch hat Laura Salverson sich dann zu ihrem Erbe bekannt und damit Einstellungen vorweggenommen, die erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts in Kanada weitgehend akzeptiert wurden. Die eine Generation nach ihr geborene Penny Petrone (1925-2005), deren Eltern aus Kalabrien zu verschiedenen Zeiten nach Kanada ausgewandert waren und sich in Port Arthur am Lake Superior kennen ge21 22 23 24

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Vgl. EBD., S. 115. Vgl. EBD., S. 399. Vgl. EBD., S. 357. Vgl. EBD., S. 244.

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lernt hatten,25 hat die schmerzliche Erfahrung der Marginalisierung und des mangelnden Respekts für Süditaliener internalisiert.26 In ständiger Auseinandersetzung mit ihrer sehr traditionsbewussten Mutter, die der Tochter selbst Kleidungsstücke in den italienischen Nationalfarben anfertigte und sie zum Tragen derselben nötigte, hat sich die auf den Namen Serafina Getaufte von den rigiden Verhaltensregeln mediterraner Familien befreien wollen. Unmittelbar nach Erreichen der Volljährigkeit gab sie den ethnisch markierten Vornamen auf und tat mit der Annahme des Namens Penny einen Schritt hin zur Emanzipation.27 Ein weiteres Zeichen ihrer vollen Akkulturation war dann ihre Perfektionierung im Englischen und ihre Entscheidung, für mehrere Jahre als Englischlehrerin nach Europa zu gehen und später nach Afrika, was für ihre eigene weitere Entwicklung folgenreich war. Ein drittes Beispiel für die Konsequenzen der Akzeptanz des Multikulturalismus bietet die Lebenserfahrung der bereits erwähnten Janice Kulyk, verehelichte Keefer, die rund eine Generation nach Petrone (1953) geboren wurde und ähnliche Konflikte in ihrer eigenen Familie erlebte. Ihre Mutter war mit ihrer Großmutter in den 1930er Jahren dem im Jahrzehnt zuvor aus Galizien nach Kanada ausgewanderten Großvater gefolgt und hatte einen anderen Ukrainer, dessen Familie bereits länger in Kanada heimisch gewesen war, geheiratet. Für Janice Kulyk war die Beibehaltung ihres ethnischen Erbes und der Sprache ihrer Eltern keinesfalls selbstverständlich. Im Gegenteil: Die politische Situation im Zeitalter Joseph McCarthys legte es auch in Kanada nahe, als Sprecher eines dem Russischen eng verwandten Idioms nicht in Misskredit zu geraten. So hat die Familie auch in den eigenen vier Wänden den Gebrauch des Ukrainischen aufgegeben. Dass dadurch die Kommunikation mit den geliebten mütterlichen Großeltern sehr erschwert wurde, war ein folgenreiches Faktum, denn die unterbliebene sprachliche Praxis ließ sich später nicht mehr nachholen. In dem hybriden autobiographischen Werk Honey and Ashes (1998) hat sich Keefer lange nach dem Einstellungswandel der kanadischen Gesellschaft auf der Basis ihrer vielen Gespräche mit Verwandten und 25 Port Arthur wurde inzwischen mit Fort William zu Thunder Bay vereinigt. 26 Vgl. ihre späten autobiographischen Bücher Breaking the Mould (1995) und Embracing Serafina (2000). 27 Vgl. PETRONE, 2000, S. 145f.

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des Studiums von Dokumenten eingehend in die Vorgeschichte der Emigration ihrer Familie vertieft. Sie schildert ihren Versuch, in der heutigen Ukraine an der Stätte der Kindheit ihrer Mutter und Tante Reste jener in der Phantasie lebendigen ‚alten Heimat‘ aufzufinden. Trotz ihres vorangegangenen weitgehenden Bruchs mit ihrem ethnischen Erbe hat sie für sich selbst später in Anspruch genommen, dass sie auf beiden Kontinenten Heimatrecht habe, auch wenn ihr ‚Lokalaugenschein‘ in Staromischyna sehr bedrückend und fast ergebnislos war.28 Ihr Bekenntnis zu einer transkulturellen Identität scheint nur vor dem Hintergrund der durch die kanadische Gesetzgebung zum Thema des Multikulturalismus geforderten und geförderten Anerkennung verständlich. Was Charles Taylor in seinen vielzitierten Ausführungen über „The Politics of Recognition“ (1992) mit Bezug auf die kollektiven Ansprüche von ethnischen und kulturellen Gruppen, die in ihrer Existenz scheinbar oder wirklich bedroht sind, gesagt hat, nämlich dass die Majorität gegenüber der Gruppe und den Einzelnen zu Respekt und Anerkennung verpflichtet sei, findet in dieser Gesetzgebung seinen Ausdruck.29 Freilich haben ethnische Gruppen auch selbst zu Problemen beigetragen, da sie das eigene Erbe durch die Wahl eines Partners aus derselben ethnischen Gruppe zu wahren trachteten. So opponierte die Familie Kulyk gegen die Eheschließung von Janice’ Tante Vira mit einem Kanadier irischer Abstammung und verzögerte diese über fast ein ganzes Jahrzehnt, obwohl Vira inzwischen eine anerkannte Kinderärztin war. Die aus der ‚Alten Welt‘ importierten Spannungen zwischen verschiedenen ethnischen bzw. nationalen Gruppen haben in anderen kanadischen Texten ihren Niederschlag gefunden. Dies belegt eine bekannte Erzählung des aus Wien stammenden jüdisch-kanadischen Autors und akademischen Lehrers Henry Kreisel (1922-1991) mit dem Titel „The Almost Meeting“ (1981). Der Einspruch des Vaters der jungen Helena, der keinen Schwiegersohn aus einer ethnischen bzw. konfessionellen Gruppe akzeptieren will, mit der in Europa große Kon28 KEEFER, 1998, S. 271-292. 29 Vgl. TAYLOR, 1992. Dass diesem Prinzip zuvor in der kanadischen Gesellschaft nicht entsprochen wurde, illustrieren die außerordentlichen Schwierigkeiten von Keefers Großeltern bzw. ihrer Mutter und Tante, die aus der Geringschätzung für ‚Bohunks‘ resultierten (vgl. KEEFER, 1998, S. 121123 und S. 130-149).

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flikte ausgetragen wurden,30 ruiniert die Ehe des jungen Paares, und trotz der Geburt einer Tochter und eines Sohnes zerbricht die Beziehung von Lukas und Helena. Die Tochter kehrt schließlich in das Haus der Eltern zurück, während Helenas Sohn ohne Vater aufwächst und später auf der vergeblichen Suche nach diesem durch ganz Amerika zieht. Die alten Vorurteile haben so das Miteinander der beiden Gruppen selbst in der ‚Neuen Welt‘ erschwert und eine transkulturelle Bindung unmöglich gemacht. Janice Kulyk Keefer hat entgegen den Erwartungen ihrer Familie ihren Ehemann außerhalb der eigenen Ethnie gefunden und durch ihre Studienwahl und ihre Berufslaufbahn die Hoffnungen ihrer Mutter enttäuscht.31 Sie studierte in England und wurde akademische Lehrerin, erforschte erfolgreich die anglophone Literatur der Maritimen Provinzen32 und begann eine Laufbahn als Erzählerin. In einer Art Gewissenserforschung hat sie in ihrer Fiktion jedoch mit ihr selbst verwandte Figuren Versäumnisse eingestehen lassen, die in ihrem Leben Entsprechungen haben. Keefer hat so in der Erzählung „Prodigals“ aus der Sammlung Travelling Ladies (1990) mit einer Anspielung auf die Figur des verlorenen Sohnes eigene Erfahrung verarbeitet.33 Sie hat Anna, ihrem Alter Ego, persönliche Träume zugeschrieben, von denen sie später in Honey and Ashes berichtet.34 In der Erzählung hat sich die als Englischlehrerin in Europa, aber auch auf anderen Kontinenten tätige Anna abrupt aus der liebevollen, aber sie einengenden Fürsorge ihrer Familie gelöst und keine Verbindung gehalten. Deshalb kann sie nicht zeitgerecht erreicht und zum Krankenbett der geliebten Großmutter zurückgerufen werden, sondern trifft erst nach deren Tod im leer stehenden Haus der Großeltern ein. Nur in einem Traum kann sie den ersehnten Abschied von der Großmutter erleben. Es ist kein Zufall, dass sich die gereifte Autorin in den 1990er Jahren mehrmals mit Nachdruck zur Kulturpolitik Kanadas bekannt und die inzwischen in die Gesetzgebung aufgenommene Anerkennung bis

30 31 32 33 34

KREISEL, 2004, S. 1-12. Vgl. KEEFER, 1998, S. 143. Vgl. DIES., 1987. Vgl. DIES., 1990, S. 237-258. Vgl. EBD., S. 257f. und DIES., 1998, S. 15.

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dato marginalisierter Gruppen gewürdigt hat.35 Die von Charles Taylor formulierte Maxime von der Anerkennung minoritärer Eigenart ist nach Überzeugung Keefers die Voraussetzung für die Inspiration von zuvor schweigenden Angehörigen ethnisch-kultureller Gruppen. Nun ergreifen sie das Wort und stimmen in den polyvokalen Chor kanadischer Erzähler ein, der in einen „polylogue“ mündet und zu einer wesentlichen Bereicherung der Kultur des Landes führt. Keefer präferiert den Begriff des transculturalism gegenüber dem Konzept des multiculturalism, das bloß das Nebeneinander ethnischer Gruppen suggeriert, während der erstere Begriff für sie ein bereicherndes Aufeinander-Zugehen der Ansässigen und der Neukanadier impliziert. Weniger explizit in ihren theoretischen Äußerungen als Keefer war Penny Petrone, die über ihre Tätigkeit als Lehrerin in Afrika Interesse an ihr fremden Zivilisationen fand und die verbreitete Geringschätzung des Reichtums dieser Kulturen in den damals gerade ihre Unabhängigkeit erlangenden kolonialen Ländern bedauerte. Diese Erfahrung hat ihr einen Zugang zu den indigenen Kulturen ihres eigenen Landes eröffnet und sie zu einer Pionierin bei der Erforschung und Sammlung von Texten der Inuit und First Nations werden lassen. Sie hat diese durch wichtige Anthologien einem breiteren Publikum erschlossen,36 wurde indirekt aber auch zum Respekt gegenüber ihrem eigenen, lange verleugneten kalabrischen Erbe inspiriert. Erst im Alter von rund 70 Jahren war sie selbst dazu bereit, sich mit dem elterlichen Erbe in Kalabrien zu versöhnen, wie der Titel ihrer zweiten Autobiographie Embracing Serafina (2000) signalisiert. Einen solchen Umweg hatten die Angehörigen der zweiten Welle von Zuwanderern, etwa aus Südasien, nicht nötig.37 Sie haben sich – wie oben ausgeführt wurde – in ihren erfolgreichen Erzählwerken nicht nur zu ihrer Herkunft bekannt, sondern häufig Erinnerungen an ihre Heimat literarisch verwertet oder sogar das Geschehen ganz in diese verlegt. Es ist erstaunlich, welch großes Interesse etwa Rohinton Mistry in Kanada an den politischen Entwicklungen in Indien wecken konnte. Die Selbstverständlichkeit, mit der er und andere Autoren als kanadi35 Vgl. ihre Essays „From Mosaic to Kaleidoscope“ (1991), „Coming Across Bones. Historiographic Ethnofiction“ (1995) und „From Dialogue to Polylogue“ (1996). 36 Vgl. PETRONE, 1984; DIES., 1990; DIES., 1992. 37 Vgl. besonders TEN KORTENAAR, 2009, S. 556-579.

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sche Schriftsteller betrachtet werden, obwohl sie ganz andere Lebensräume darstellen, wird von Kommentatoren als Beweis für den Eintritt der anglokanadischen Literatur in eine postnationale Phase gedeutet.38 Wohl spielt in den Erzähltexten dieser Autoren wiederholt auch die Migration eine Rolle; der Akzent liegt aber nicht auf Akkulturationsproblemen und der Erfahrung auf kanadischem Boden. Die Erzählung „Swimming Lessons“ in Mistrys Sammlung Tales from Firozsha Baag etwa entwirft einen Kontrast zwischen dem Apartmenthaus, in dem der junge Kersi im Großraum Toronto lebt, und dem Wohnblock in Mumbai, in dem er seine Kindheit und Jugend verbrachte. Kersis dort gebliebene Eltern erwarten in seinen Briefen Konkretes über seine Lebenssituation in Kanada, erfahren zu ihrem Erstaunen jedoch mehr über seine Erinnerungen an Mumbai. Der anschaulich dargestellten Situation in Indien gilt in anderen Texten von Mistry dann die ganze Aufmerksamkeit. Es wäre jedoch verfehlt, anzunehmen, dass für Migranten in der kanadischen Gesellschaft, die als Schriftsteller hervorgetreten sind, alle Probleme gelöst sind bzw. dass sie alle einer Meinung hinsichtlich des Erfolges der Politik des Multikulturalismus seien. Es gibt unter ihnen prominente Stimmen, die nachdrücklich gegen die hingebungsvolle Pflege des ethnischen Erbes der Zuwanderer auftreten und stattdessen für deren volle Integration in die Zielgesellschaft plädieren. Neil Bissoondath, ein Verwandter des angesehenen, ebenso aus der Karibik stammenden V. S. Naipaul, hat sich in diesem Sinne in Selling Illusions (1994) geäußert. In einer neuen Fassung seines Buches von 2002 hat Bissoondath den Multikulturalismus wiederum als eine „heilige Kuh“ bezeichnet.39 Er bezieht sich in seiner Polemik auf seine prägende Erfahrung in Trinidad, wo nach dem Ende der Kolonialzeit die Trennung der Ethnien bestehen blieb. Dieses von ihm erlebte bloße Nebeneinander – hier Afrikaner, dort Abkömmlinge indischer Zuwanderer – möchte er in seiner neuen Heimat Kanada nicht wiederholt sehen. Deshalb plädiert er für eine volle Integration, bei der jedoch die Erinnerung an die frühere Heimat nicht aufgegeben werden müsse. Indirekt nähert er sich dadurch doch etwas dem Modell der Transkulturalität an. Ob in dieser dezidierten Meinung noch genug Platz für die Bewahrung eige38 Vgl. DAVEY, 1993. 39 Vgl. BISSOONDATH, 2002, S. 5.

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ner Traditionen bleibt, wie sie das transkulturelle Modell impliziert, lässt sich freilich nicht eindeutig sagen. Der Rückblick in die Vorgeschichte zeigt ferner, dass in den „lifewritings“ ostasiatischer Kanadier die Überwindung von Stereotypen und die Aufgabe von Vorurteilen durch die Mehrheitsbevölkerung noch nicht lange zurückliegt. Die Erfahrungen von Fred Wah, der selbst nur durch einen Großelternteil, also nur zu 25 Prozent, aus der chinesischen Ethnie stammt, belegen dies anschaulich. Der avantgardistische Dichter und Essayist hat pointiert in seinem ‚Biotextʻ Diamond Grill (1996) in dem Porträt einer Lehrerin, die auf seiner chinesischen Identität insistiert, jenen absurden, inhärenten Hang zur ethnischen Kategorisierung bloßgestellt.40 Mit besonderer Verve hat er in dem titelliefernden Restaurant seines Vaters die Grenzen zwischen den ethnischen Räumen – einerseits die von chinesisch-kanadischem Personal betriebene Küche, andererseits der öffentliche Speisesaal – abgesteckt. Im kulinarischen Angebot des Hauses, das jene Barriere überwindet, hat er die Hybridität angesprochen, die ihm omnipräsent erscheint und Teil der modernen Globalisierung ist. Angesichts der Erfahrung in seiner eigenen Familiengeschichte, in der eine Großmutter mütterlicherseits ihre Tochter verstieß, weil sie sich mit einem Chinesen eingelassen und diesen geheiratet hatte, bekennt sich Wah dezidiert zu seinem auf Hybridität basierenden Transkulturalismuskonzept. Gerade die chinesischen Kanadier, die seit der Reform der Einwanderungsgesetze durch Zuwanderung aus Hongkong in die Ballungszentren Vancouver und Toronto eine dramatische zahlenmäßige Verstärkung erfahren haben, hatten früher unter der restriktiven Gesetzgebung stark zu leiden.41 In vielen literarischen Zeugnissen, etwa in Wayson Choys Paper Shadows (1999), wird wie bei europäischen Zugewanderten die Spannung zwischen den Generationen fassbar. Der junge Wayson Choy, als Kleinkind von seiner Adoptivmutter mit der chinesischen Oper vertraut gemacht, wird selbst rasch von Westernfilmen angezogen. Wie die oben erwähnten italienisch-kanadischen oder ukrainischkanadischen Jugendlichen stürzt ihn dies in eine unlösbare Spannung 40 WAH, 2004, S. 53. 41 Vgl. die seit 1885 geltende Head Tax, deren prohibitive Höhe den Zuzug von Chinesinnen verhinderte, so dass in den Chinatowns vor allem Junggesellen lebten.

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mit seiner Familie, da ihm die anglophone Populärkultur viel besser gefällt als seine eigene ethnische Kultur. Er lernt auch nie richtig Chinesisch.42 Besonders lange und schmerzlich haben die Angehörigen der in der Zeit des Zweiten Weltkriegs schwer heimgesuchten japanisch-kanadischen Ethnie, die an der Küste von British Columbia wohnten, großes Unrecht ertragen müssen. Trotz ihrer Bürgerrechte mussten sie als Nisei und Sansei, die also bereits zur zweiten bzw. dritten Generation ihrer Ethnie in Kanada zählten, in den Jahren nach Pearl Harbor in Anhaltelagern und dann in den Prärieprovinzen Kanadas ihr Leben fristen. Ohne Entschädigungen für die Konfiszierung ihres Vermögens hatten sie das schwere an ihnen begangene Unrecht bis in die 1980er Jahre zu verkraften. Erst nach der berührenden literarischen Gestaltung ihrer kollektiven Erfahrung in Joy Kogawas Obasan (1981) kam es allmählich zur Aufarbeitung und zum Ende dieser skandalösen Diskriminierung.43 Dem japanischen Erbe verpflichtete Kanadier wie Roy Miki haben nachdrücklich Wiedergutmachung gefordert und zuletzt erreicht, dass im Parlament offiziell altes Unrecht eingestanden und dann eine Pauschalentschädigung geleistet wurde.44 So ist schließlich ein Abbau von scheinbar unüberwindbaren Barrieren erfolgt, was ein fruchtbares Miteinander ethnischer Gruppen fördern und kreatives Potential freisetzen konnte, das in literarischen Texten seinen Niederschlag findet. Schließlich sei noch kurz auf den Beitrag einer Autorin verwiesen, die aus dem karibischen Raum zugewandert ist und – wie viele Migranten, die vor allem in Großstädte zogen – in Toronto eine neue Heimat gefunden hat. Ungeachtet ihrer Befassung mit der Bürde des kolonialen Erbes hat Dionne Brand in What We All Long For (2005) die engen Beziehungen zwischen Kindern von Zuwanderern aus Südostasien, der Karibik und Italien im Großraum von Toronto dargestellt.45 Sie hat auch deren problemreiches Verhältnis zu ihren Eltern illustriert, die sich 42 CHOY, 2000, S. 41-56 und S. 80-87. 43 Kogawa hat die Diskussion innerhalb der japanisch-kanadischen Ethnie durch die Fortsetzung von Obasan in Itsuka (1992) weitergeführt, wobei dieser Roman inzwischen in revidierter Form als Emily Kato (2005) erschienen ist. 44 Vgl. die entsprechende Erklärung von Premier Brian Mulroney im Parlament am 22.09.1988. 45 Vgl. u. a. BRAND, 1996 und DIES., 1999.

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mit einer Integration in eine kleinbürgerliche, scheinbar ethnisch authentische Existenz zufriedengeben und, wie etwa Tuyens vietnamesische Eltern, statt als ausgebildeter Ingenieur bzw. als kompetente Medizinerin tätig zu sein, ein südostasiatisches Restaurant führen. Von dieser Selbstbeschränkung distanzieren sich ihre Kinder und führen ein konfliktgeladenes, aber selbstbewusstes Leben in der Bohème. Dabei kommt es zur Vermischung ethnischer Gebräuche, was etwa bei der Zubereitung von Speisen durch Oku sichtbar wird und im Alltag eine konkrete Dimension des Transkulturalitätskonzepts zu verwirklichen scheint.46 Es fällt dabei auf, dass Repräsentanten der früher dominierenden Schicht – von den Britischen Inseln stammende Kanadier – in diesem Roman kaum eine Rolle spielen. Die ganze Aufmerksamkeit gilt den z. T. turbulenten Beziehungen und den tragischen Konflikten von Vertretern der visible minorities. Im Kulturbetrieb in Kanada haben diese Stimmen – ungeachtet der anhaltenden Prominenz von Erzählerinnen wie Margaret Atwood oder Alice Munro – inzwischen ganz wesentlichen Anteil am vielfältigen Konzert in der literarischen Szene. Ganz selbstverständlich bringen diese Aktanten in transkultureller Interaktion ihre eigene individuelle und kollektive Erfahrung in die Fiktion ein. Akademische Repräsentanten, die selbst von europäischen Einwanderern abstammen, haben in Anthologien die daraus resultierende Vielfalt im künstlerischen Leben abgebildet.47 Über zwei Jahrzehnte lang ist der von Mary Louise Pratt aufgegriffene Terminus „autoethnography“ wiederholt herangezogen worden, um den in autobiographischen Texten enthaltenen Dialog von Wortführern zunächst marginalisierter Gruppen mit hegemonialen Kräften zu bezeichnen. Nun scheint manchen Kritikern dieser Begriff für das literarische Schaffen vieler Wortkünstler unter den Migranten nicht mehr so notwendig zu sein. So können Eleanor Ty und Christl Verduyn in einem Sammelband von Essays (2008) einen bedeutenden Fortschritt registrieren und ihrem Buch über das Schaffen von ‚neuen‘ Kanadiern aus Asien den Titel Asian Canadian Writing beyond Autoethnography geben. Die darin debattierte Frage markiert einen gewissen Abschluss für jenen langen Prozess, der durch die eingangs be46 Vgl. die Analyse der „Spatial Politics of Informal Urban Citizenship“ in diesem Roman durch TAVARES/BROSSEAU, 2013. 47 Vgl. KAMBOURELI, 1996.

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schriebene Reform der Einwanderungsgesetze und die offizielle Aufnahme des Multikulturalismuskonzepts in die Gesetzgebung Kanadas eingeleitet wurde. Multikulturalität und – noch weitergehend – Transkulturalität erscheinen damit als hervorstechende Merkmale der anglophonen kanadischen Literatur der Gegenwart.

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Neue Deutsche Welle Über die Produktivität transkultureller Missverständnisse

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BARBARA HORNBERGER „sprich fremde sprachen im eigenen land.“ (Fehlfarben)

In einem globalen Markt ist auch die Zirkulation kultureller Waren potentiell global. Nicht nur Popmusik oder Kinofilme, auch Fernsehformate wie z. B. Wer wird Millionär, Deutschland sucht den Superstar, Ich bin ein Star, holt mich hier raus oder die DVDs hochgelobter amerikanischer ‚Qualitätsserien‘ werden international verkauft. Sie sind Teil einer internationalen Unterhaltungsbranche, in der US-amerikanische Produkte einen wesentlichen Anteil stellen, die aber auch Formate und Genres aus anderen Ländern verbreitet, adaptiert und absorbiert – wie am Beispiel von Bollywood zu sehen ist. Die nichtnationale (hierzulande: nichtdeutsche) Herkunft eines Artefakts ist im Rezeptionsvorgang unterschiedlich stark präsent: Beim amerikanischen, englischen oder französischen Popsong wird dies dem deutschen Hörer meist durch die Songsprache deutlich – auch wenn der Eindruck täuschen kann, denn nicht wenige deutsche Bands singen englisch. Doch auch damit enthält der jeweilige Song einen Verweis auf das längst integrierte Fremde. Im Kino wird nur bei genauerem Hinse1

Dieser Aufsatz basiert im Wesentlichen auf zwei Kapiteln meiner Dissertation zur Neuen Deutschen Welle (vgl. HORNBERGER, 2011).

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Barbara Hornberger

hen klar, dass die synchronisierte Sprache den Mundbewegungen der Protagonisten nicht immer entspricht; die optisch-akustische Verschiebung korreliert mit der sprachlich-kulturellen. Bei TV-Formaten dagegen wird die nichtnationale Herkunft in der Regel nicht mehr im Artefakt selbst, sondern nur noch über begleitende Quellen deutlich, da die repräsentierenden Gesichter von Moderatoren und Kandidaten ebenso wie ihre Sprache deutsch sind. Für die Rezeption ist die Herkunft allerdings auch nicht wesentlich. Zwar wird, gerade unter Fans, das Ansehen von Filmen oder Serien auf DVD oder im Internetstream in Originalsprache als nahezu philologische Pflicht verfochten – doch jeder Film und jede Serie ist auch in der synchronisierten Fassung verständlich und in der Lage, Rezipienten zu begeistern und zu binden. Bei den meisten Artefakten wird die Herkunft kaum mitrezipiert. Den Zuschauern ist es egal, dass z. B. die Telenovelas, die in den letzten Jahren auch im deutschen Fernsehen als adaptierte Formate große Erfolge feierten, ihren globalen Siegeszug im vorrevolutionären Kuba begannen, um dann über Brasilien und Mexiko, Südund Osteuropa auch Westeuropa und die USA zu erreichen. Sie wissen vermutlich nicht, dass in lateinamerikanischen Telenovelas nicht selten gesellschaftlich relevante Themen wie Gesundheitsaufklärung, Emanzipation, Korruption usw. verhandelt werden. Wenn sie verfolgen, wie Bianca in Bianca – Wege zum Glück (ZDF, 2004-2005) Leben und Liebe zu retten versucht, sind ihnen die historischen und kulturellen Hintergründe des Genres gleichgültig. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass die Vorbilder nicht bekannt sind und daher die Veränderungen in den deutschen Versionen nicht sichtbar werden. Zwar wurde die brasilianische und weltweit erfolgreichste Telenovela Die Sklavin Isaura 1986-1987 auch in Deutschland mit Erfolg gesendet, allerdings war dies ein Einzelfall.2 Erst mit Bianca – Wege zum Glück wurde das Genre 2004 im deutschen Fernsehen etabliert – aber eben, wie auch die Kritik einwendet, in einer deutschen Version, die die gesellschaftsrelevanten Implikationen weitgehend außen vor lässt und sich eher wie eine dramaturgisch variierte Daily 2

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Die Telenovela basiert auf dem gleichnamigen Roman des brasilianischen Autors Bernardo Guimarães aus dem Jahre 1875. Das Antisklaverei-Buch ist in Brasilien Schullektüre und wurde mehrfach verfilmt, zuerst als Stummfilm im Jahre 1929, dann als Spielfilm 1949 und zuletzt als eine Neuauflage der Serie im Jahre 2004.

Neue Deutsche Welle

Soap verhält. Denn, wie der Chef der Produktionsfirma Grundy-UFA, Rainer Wemcken, anmerkt: „Wenn eine Telenovela richtig Quote bringen soll, muss sie Made in Germany sein.“3 Wenn ein Artefakt wie die deutsche Telenovela jedoch ganz „Made in Germany“ ist, wird gar nicht mehr bemerkt, dass dahinter ein Importvorgang steht. Die Unterschiede zwischen Original und Adaption kann nur wahrnehmen, wer auch beides, Original und Adaption, kennt und daher vergleichen kann. Denn das adaptierte Artefakt selbst legt diesen Unterschied nicht offen. Ein kultureller Transfer wird also erst im Vergleich wahrnehmbar oder aber dann, wenn dieser Transfer in das Artefakt selbst als ästhetische Differenzqualität eingeschrieben ist. Tatsächlich lässt sich nur in letzterem Fall von einem echten Kulturtransfer sprechen. Hierbei handelt es sich weder um Nachahmung noch um Assimilation, sondern um einen Prozess, in dem sich ein neuer Stil, ein neues Format oder Genre herausbildet, in dem der Vorgang des Transfers als Qualität der Differenz sichtbar bleibt. Insofern kann der Kulturtransfer im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie4 als Übersetzung oder Bedeutungsverschiebung begriffen werden. Am Beispiel der Neuen Deutsche Welle (NDW) soll hier ein solcher Kulturtransfer in seinen verschiedenen Phasen beschrieben werden. Der erste Schritt besteht im Transfer unterschiedlicher kultureller Strömungen in den englischen Punk; der zweite besteht in der sprachlichen und kulturellen Übersetzung des englischen Punk nach Deutschland. In einem dritten Schritt wandelt sich der deutsche Punk in einen neuen Stil, womit die Übersetzung einer zumindest als proletarisch verstandenen englischen Jugendkultur in eine deutsche Jugendkultur der Mittelschicht,5 nämlich die Neue Deutsche Welle, einhergeht. Durch diesen Transfer entsteht also etwas Neues, und dieses Neue modifiziert nicht nur das Importierte, sondern stellt außerdem eine Distanz zur eigenen Kultur her.

3 4 5

Zit. n. VAN RINSUM, 2013. Vgl. LATOUR, 2007. Der englische Punk wird in Deutschland häufig als Arbeiter-Subkultur aufgefasst. Tatsächlich sind zwar Einflüsse aus den Subkulturen der Arbeiterjugendlichen im Punk vorhanden, genauso finden sich aber auch Einflüsse aus den künstlerischen Avantgarden und den britischen Art Schools. Die beteiligten Akteure stammen aus sehr unterschiedlichen Milieus.

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A u s g a n g s p u n k t. D e u t s c h la n d a ls Im p o r t la n d Was populäre Musik betrifft, ist das Exportland BRD ein Importeur.6 Aus den USA wird der Rock’n’Roll importiert, aus Großbritannien der Beat. In Westdeutschland hat die englische und amerikanische Pop- und Rock-Musik jahrzehntelang eine nahezu unangefochtene Vormachtstellung, auch wenn sich einzelne Künstler (Udo Lindenberg) und Strömungen (Krautrock) dem entgegenstellen. Sie beherrscht die Charts und den Geschmack so sehr, dass sich deutsche Bands in erster Linie bemühen, möglichst undeutsch, möglichst international zu klingen. Ihnen geht es nicht um eine kreative Adaption, sondern darum, eine möglichst echt klingende Kopie zu produzieren. So entspricht das Selbstbild vieler deutscher Popmusiker und Bands etwa dem der Scorpions: „Die Entwicklungen haben sich nun mal in England und Amerika abgespielt. Die Deutschen haben das irgendwie ignoriert und geglaubt, irgend etwas eigenes [sic!] machen zu können. […] Und was kommt dabei heraus? Dummes Zeug!“7 Die deutschen Musiker nehmen sich, wie Heinz Rudolf Kunze es formuliert, als „Besatzerkinder“ wahr, sie akzeptieren die Orientierung am angloamerikanischen Leitbild als Folge der deutschen Geschichte: „Wir sind halt nicht nur militärisch, sondern auch kulturell Besatzerkinder. Wir sind aufgewachsen mit angloamerikanischer Musik. Das haben wir gehört, seitdem wir hören und das will auch wieder raus, wenn wir selber was machen.“8 Es gibt keine brauchbare eigene Tradition,9 die man fortsetzen möchte; auf die deutschsprachige Tradition des Schlagers und der Volksmusik will man sich nicht beziehen, weil damit Sentimentalität und Kitsch verbunden werden und weil sie mit der Kulturpolitik des Dritten Reichs und mit der Spießigkeit der Nachkriegszeit assoziiert wird. Klaus Farin etwa bemerkt: 6 7 8 9

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Ich spreche hier nur von der Bundesrepublik, da westliche PopmusikImporte in der DDR der Staatsräson widersprachen und daher zumindest offiziell kaum stattfanden. Rudolf Schenker, zit. n. SCHRÖDER, 1980, S. 39. Zit. n. WAGNER, 1999, S. 158. Die Kulturpolitik der Nationalsozialisten und der Zweite Weltkrieg haben Deutschland in den entscheidenden Jahren von der popmusikalischen Entwicklung abgekoppelt, die in den USA Jazz und Blues etablierte und RockʼnʼRoll hervorbrachte. Diese Entwicklung ist nicht nachzuholen, es kann lediglich an das bereits Entwickelte angeschlossen werden.

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„Rockmusik mit deutschen Texten! Eine Revolution, […] einfach unvorstellbar: Deutsche Sprache bedeutete Schlager und ‚Volksmusik‘, Dieter Thomas Heck und bierselig schunkelnde Ewiggestrige. Deutschsprachige Musik bedeutete eine kaum erträgliche Gesinnung und schrecklich alt sein.“10 Das Verwenden der eigenen Sprache steht unter Peinlichkeitsverdacht, so Max Goldt: Als ich neulich mit dem Bassisten der deutschen, aber [bis 1989] englisch singenden Gruppe Element of Crime über dieses Thema sprach, meinte er, er sei nun mal mit englischsprachiger Musik großgeworden, das seien nun mal seine Roots, und ihm persönlich würde es unnatürlich vorkommen, in deutsch zu singen. Das sehe ich ein. Aber sollte man nicht zugeben, daß es auch viel einfacher ist, englisch zu singen, da das Abstraktionsmittel Fremdsprache dem Selbstentblößungscharakter persönlicher Gefühlsäußerungen das Schmerzhafte nimmt? Man singt wie durch Milchglas. Das Gefühlsbekenntnis wird nur als anonymes Schema wahrgenommen, für das Autor und Interpret nicht haftbar gemacht werden können. Wenn einer singt, er sei ‚lonely‘, kann er auf die inhaltlichen Traditionen des Blues verweisen. Wer jedoch den Satz ‚Ich bin einsam‘ singt, muß mit Reaktionen rechnen wie jemand, der vergessen hat, die Toilettentür zu verriegeln.11

Bis in die 1970er Jahre hinein ist in der westdeutschen Popmusik das Nebeneinander von importierter Musik und ihrer Nachahmung, also von ‚Original und Fälschung‘, die Regel, die von den Ausnahmen lediglich bestätigt wird. Der Wunsch nach Internationalität führt dazu, dass mitunter nicht mehr nur die Songtexte selbst englisch sind, sondern auch die Ansagen auf Konzerten: „Are you ready, friends?“12 Solche Bemühungen führen teilweise zu durchaus bizarren Ergebnissen, die gerade den zu vermeidenden Eindruck des Provinziellen unfreiwillig noch verstärken: „Und viele Musiker aus Uelzen oder Bielefeld entblöden sich nicht, ihrem Publikum mitzuteilen: ‚Frrrom aua 10 FARIN, 1998, S. 9. 11 GOLDT, 1993, S. 76. Max Goldt, heute als Autor von Kolumnen bekannt, war in den 1980er Jahren die eine Hälfte des NDW-Duos Foyer des Arts. 12 Mit dieser Aussage bei einem Auftritt in der Hamburger Musikkneipe Logo wird 1977 die Sängerin Jutta Weinhold von der Zeitschrift Stern zitiert (vgl. HASSENKAMP, 1977, S. 36).

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nju Elpie bring we nau a Song witsch is kollt ‚Enschantet ätwäntschas frrrom se Junivörs‘, ssänk ju.‘“13 Anspruch und Wirklichkeit fallen hier deutlich auseinander. Diese Vorbehalte gegen die deutsche Sprache werden auch im Punk nicht gleich und nicht vollständig abgebaut. „Übersetz doch mal unseren Titel ‚No horizon‘ in ‚Kein Horizont‘, das geht irgendwie nicht“, meint die Hamburger Band Mundgeruch,14 und die Hannoveraner Punkband Rotzkotz schreibt auf dem Beiblatt zu ihrer ersten LP: „Fragt euch nich, warum wir englisch singen. Hört doch gleich lieber marschmusik. Kloppsköppe.“15

D e r T r a n s f e r k u ltu r e lle r S tr ö m u n g e n in d e n englischen Punk Der Punk, der in den Jahren 1976 und 1977 in Großbritannien zu einer breit wahrgenommenen Jugendkultur wird und über den medialen Weg nach Deutschland kommt, ist bereits selbst eine Mischung aus ganz unterschiedlichen Einflüssen: Er greift auf die amerikanische Punkkultur zurück, die 1975 im CBGB’s in New York City einen ersten Kulminationspunkt findet,16 als eine experimentelle Szene, die Lyrik und (Beat-)Literatur, Jazz und Bildende Kunst mit einschließt. Er integriert, wie Greil Marcus in seinem Buch Lipstick Traces (1992) nachzeichnet, Ideen und Strategien diverser europäischer Avantgarden von Futurismus bis Situationismus. Er wird – wie auch andere britische Popmusik – von den britischen Art Schools mitgeprägt.17 Und obwohl er sich radikal gegen die Vorgängergenerationen und ihre Musik wendet, verweist er ebenso radikal auf die Wurzeln des Rock’n’Roll und verarbei13 14 15 16

LEITNER, 1980, S. 153. Zit. n. HILSBERG, 1978, S. 23. Zit. n. DERS., 1979, S. 64. Das CBGB’s, 1973 gegründet, war der berühmteste Punk-Club der USA. Er gilt als Keimzelle des Punk. Berühmte Künstler wie Patti Smith, die Ramones, Blondie, Suicide oder Talking Head begannen hier ihre Karrieren. Als Vorläufer des amerikanischen Punk gelten u. a. Velvet Underground, The Stooges und The New York Dolls. 17 Punk- bzw. New Wave-Bands, bei denen dieser Einfluss besonders deutlich wird, sind z. B. Joy Division, Magazine, Pere Ubu, Cabaret Voltaire oder The Pop Group.

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tet Einflüsse früherer englischer Popstile wie etwa Beat und Glamrock. Der englische Punk besitzt in den von Malcom McLaren gecasteten und geschickt vermarkteten Sex Pistols einen identifizierbaren Startschuss und ein mediales Aushängeschild. Er besitzt aber ebenso eine subkulturelle Szene mit entsprechenden Orten und Bands. Er ist nichts ganz und gar Neues, kein authentisches Initialereignis, sondern ein Ergebnis unterschiedlicher kultureller Einflüsse. Punk kann als ein Netzwerk von Aktanten begriffen werden und dieses Netzwerk ist heterogen, eine changierende, vielseitige und z. T. widersprüchliche Jugendkultur, in der proletarische Subkultur, künstlerische Ambition und kulturindustrielles Kalkül perfekt zusammenkommen.

Sprachlicher und kultureller Transfer des englischen Punk nach Deutschland Diese Jugendkultur, insbesondere ihre Musik, kommt also zunächst nach Deutschland wie andere angloamerikanische Musikstile auch – als Import und als Kopiervorlage. Die schrille neue Musikmode aus England bietet genau die richtige und höchst attraktive Mischung aus buntem Auftreten, jugendlicher Abweichung und Provokation sowie sozialer Aktualität. Tatsächlich geschieht zunächst das Gleiche wie mit Rock’n’Roll und Beat: Deutsche Jugendliche üben sich als Musiker und als Fans in der Nachahmung der medialen Vorbilder. Dabei entstehen neue Bands, neue Szene-Orte, eine eigene Subkultur mit eigenen Festivals und Informationskanälen (Fanzines). Was jedoch zunächst nicht entsteht, ist eine ästhetisch eigenständige Musik. Denn die deutschen Punk-Bands und ihre Fans bemühen sich zu Beginn eher um eine möglichst originalgetreue Adaption des englischen Punk. Der Mittagspause- und Fehlfarben-Sänger Peter Hein etwa wählt sein Band-Pseudonym „Janie Jones“ nach einem Song der britischen Punkband The Clash und erweist ihnen damit seine Reverenz. Er entwirft außerdem mit Büroklammern, Rasierklingen und Kinderbrillen einen Look, der seiner medial geprägten Vorstellung von Punk entspricht. Solche Entscheidungen für ein Auftreten als Punk sind nicht soziokulturell determiniert, sondern ästhetische Selbstentwürfe und stilistische Rollenspiele: „Punk zu werden war eine völlig bewußte

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Entscheidung. Ich habe ein Bild im New Musical Express gesehen […].“18 Solch bewusste Aneignungen, das Spiel mit Vorbildern und Identitätsentwürfen, führen daher auch zu einem mehr und mehr reflexiven Umgang mit dem Import. Zudem findet und schafft Punk andere Voraussetzungen als die Vorgängerkulturen: Erstens hat das Verhältnis der westdeutschen Jugendlichen zu Amerika, das in den 1950er Jahren noch überwiegend positiv war, ab Mitte der 1960er Jahre gelitten. Im Zuge der Radikalisierung der deutschen Studentenproteste und ihrer Selbstverortung in einem allgemeinen politischen Kontext (mit den Themen Vietnam, Persien, Ost-West-Konflikt) bilden sich antiamerikanische Tendenzen, die wenigstens in Teilen auch die Fixierung auf den amerikanischen Standard in der populären Kultur in Frage stellen – besonders dann, wenn die Produkte dieser populären Kultur als kulturindustrielle Waren auftreten. Zweitens, und damit zusammenhängend, haben sich erste Bands und Künstler etabliert, die nicht mehr nur den amerikanischen und britischen Vorbildern folgen – sei es Udo Lindenberg mit seinem deutschen Szene-Jargon, seien es Kraftwerk oder Tangerine Dream mit ihrem experimentellen Sound. Drittens setzt der Punk gewissermaßen die ganze Popmusik wieder ‚auf Anfang‘, indem er mit billigem Equipment und drei Akkorden auskommt: „This is a chord, this is another, this is a third, now form a band!“ lautet die Aufforderung im Londoner Fanzine Sideburns.19 Viertens ist mit dieser Simplizität, der Do-ityourself-Kultur des Punk, die Idee eines unmittelbaren Ausdrucks der eigenen Welterfahrung verknüpft. Die Jugendlichen bekommen mit Punk nicht einfach einen gebrauchsfertigen Soundtrack für ihr Leben und ihre Unzufriedenheit, sondern eine Möglichkeit, ein Instrument, mit dem sie selbst spielen, mit dem sie ihr Leben beschreiben und im Sinne eines Lebensstils auch gestalten können. Das führt dazu, dass immer mehr deutsche Punkbands deutsche Texte schreiben: „Und ich kann auch nicht singen I’m cruising down the highway, wenn ich die Rothenbaumchaussee runterfahre. Also versuche ich, mir gemäße Ausdrucksformen in Musik und Texten

18 Peter Hein, zit. n. TEIPEL, 2001, S. 36. 19 Vgl. SAVAGE, 1992, S. 280f.

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zu finden.“20 Die (formen-)sprachliche Entwicklung folgt den inhaltlichen Ansprüchen: Das Beschreiben der eigenen Realität fordert den Einsatz der eigenen Sprache. Erstmals seit den 1950er Jahren wird die deutsche Sprache damit wieder zu einem zentralen ästhetischen Mittel in der deutschen Popmusik. Deutsche Texte werden sogar zum Standard. Mit dem normativen Einsatz der deutschen Sprache demonstrieren die NDW-Bands ein neues Selbstbewusstsein. Sie erobern sich und ihren Hörern die Sprache und damit kulturelles Terrain zurück und setzen so eine deutliche popkulturelle Zäsur, wie Ralf Dörper, Bandmitglied bei S.Y.P.H. und die Krupps, betont: „Aber […] bei all diesen Sachen ging es vor allem um dieses Moment, dass du was Deutsches machst. Das war schon eine bewusst deutsche Musikbewegung.“21

V o m d e u ts c h e n P u n k z u r N D W Die Etablierung der deutschen Sprache als Popsprache ist der erste wichtige Schritt in dem Übersetzungsprozess, der aus der Importkultur Punk die Neue Deutsche Welle hervorgehen lässt. Die deutschen Texte sind für die Entwicklung der NDW konstitutiv, dies ist zugleich ihr Ursprung wie auch ihr historisches Verdienst: „Das war wichtig, dass das in Deutsch war – dass zu so einer progressiven Musik plötzlich Deutsch möglich war. Die Engländer und Amerikaner hatten bis dahin das Monopol auf moderne Musik. Und deutsche Jugendliche hatten keine andere Wahl, als Englisch zu hören. Wir waren der Bruch einer Vorherrschaft. Das wurde verlangt. Danach haben sich die Leute gesehnt.“22 Mit der Verwendung deutscher Texte wird der importierten Musik etwas Neues, Eigenes hinzugefügt.

20 Karl-Heinz Schott, zit. n. HILSBERG, 1978, S. 23. Schott, Mitglied der deutschen Band Jackets, die ihren Musikstil als New Wave bezeichnet, bildete ab 1972 zusammen mit Inga Rumpf und Jean-Jacques Kravetz die deutsche Rockband Atlantis. Alle drei spielten davor bei der Band Frumpy und waren davor Teil der City Preachers. Die genannten Bands arbeiteten alle mit englischen Texten, weswegen dieser Sinneswandel Schotts durchaus bemerkenswert erscheint. 21 Zit. n. TEIPEL, 2001, S. 177. 22 Robert Görl, Schlagzeuger von DAF, zit. n. EBD.

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Die Sprache allein erschafft jedoch noch keinen neuen Musikstil. Zunächst ist der deutschsprachige Punk nur die Aneignung einer Form. Damit aus ihm mit der NDW etwas Neues entstehen kann, braucht es einen weiteren Transfer, den Transfer der Idee. Diese Idee, dass Musik mit einfachen Mitteln den Ausdruck der eigenen Erfahrungswelt ermöglicht, führt nämlich nicht nur zu deutschen Texten, sondern mittelbar auch zu einem stilistischen Wandel. Dies hat zunächst vor allem damit zu tun, dass die Texte durch ihre Verständlichkeit ein größeres Gewicht erhalten. Fast 30 Jahre lang war die jugendkulturelle, popmusikalische Prägung deutscher Jugendlicher ausschließlich von außen gekommen, d. h. die deutschen Jugendlichen waren – popmusikalisch gesehen – sprachlos. Jetzt entwickeln sie ihre eigene Popsprache, die es ihnen erlaubt, das Erlebte und Gesehene adäquat umzusetzen, sich verständlich zu machen. Dies zeigt eine andere Auffassung von Kommunikation zwischen Musikern und Fans, die nun deutlicher als inhaltliche Kommunikation gedacht wird. Die Emanzipation des Deutschen als Songsprache ist nämlich auch eine Emanzipation des Hörers, hat doch die Verständlichkeit zur Folge, dass die Texte überprüfbar und kritisierbar werden und daher in ihrem kulturellen Gebrauchswert steigen. Damit steigt aber auch der ästhetische und inhaltliche Anspruch, der an sie gestellt wird. Die Texte sind zugleich Medium und ästhetisches Produkt. So entwickelt sich ein eigener Textstil: Eigenarten und Qualitäten der deutschen Sprache, Sprachmelodie, Grammatik, Diktion und Intonation werden ästhetisch pointiert eingesetzt. Charakteristisch für die Texte der frühen NDW sind vor allem parolenartige, verknappte Sätze, der Verzicht auf Adjektive und ein nüchterner Sprachduktus. Die Artikulation der eigenen Lebensumstände und Erfahrungen führt hingegen nicht nur zur deutschen Sprache, sondern auch zu deutschen Themen. Deutschland und das Deutsche sind erstmals das vorherrschende Sujet eines deutschen Popstils. Wie in den politischen und kulturellen Rebellionen der Vorgängergeneration wird dieses Deutsche mit Songs wie „Keine Heimat“ von Ideal23 oder „Ein Jahr (es geht vor-

23 „Der Mann aus Übersee / die Amis kommen / ins deutsche Disneyland / […] / wer ist unser Präsident / Der Mann aus Übersee / die Amis kommen / du bist die Micky Maus / der Mann aus Übersee / die Amis kommen / oder kommen die Russen? // Keine Heimat / Wer schützt mich vor Amerika […]?“ (aus dem Album Bi Nuu, 1982).

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an)“ von Fehlfarben24 einerseits gesucht und in der Abgrenzung gegen das Amerikanische bestimmt. Andererseits fragt die NDW nach den traditionellen Wurzeln der deutschen Kultur jenseits von Goethe und Schiller, Bach und Wagner, aber auch jenseits von jeder mehr oder weniger authentischen Volkstümlichkeit. Dies ist der zweite Schritt auf dem Weg zu einem neuen Stil: Die NDW-Bands beziehen sich ausdrücklich auf deutsche Traditionen von Unterhaltungskultur, insbesondere der 1920er, 1930er und 1950er Jahre: „Wir wollten bewusst an diese Zeit anbinden, bevor die ganze deutsche Kultur von den Nazis kaputt gemacht wurde. Wir haben uns bewusst diese 20er-JahreÄsthetik zusammengesucht.“25 Selbst der lange Zeit geschmähte Schlager wird in seiner Bedeutung als einzige durchgängige Form deutscher populärer Musik neu wahrgenommen und erhält als historisch aufschlussreiches Kulturgut ungeahnte Beachtung. Weil sie Popmusik nicht mehr nur als eine ahistorische Abfolge von Trends auffassen, sondern als eine Form von Alltagsgeschichte, haben die NDW-Gruppen anders als viele deutschsprachige Bands der frühen 1970er Jahre keinerlei Scheu, sich dieser Gattung – Inbegriff des Banalen und Alltäglichen – zuzuwenden, was sich in diversen Coverversionen niederschlägt.26 Die Entdeckung des sprachlich und kulturell Deutschen als thematisches und stilistisches Zentrum der NDW speist sich also nicht nur aus der Abgrenzung gegenüber dem Fremden, sondern auch aus einem neuen pophistorischen Bewusstsein. Der Anspruch, dass Musik die eigene Welterfahrung formulieren soll, führt über die Renaissance der eigenen Sprache und Kultur in der 24 „[…] berge explodieren schuld hat der präsident / es geht voran. / graue b-film helden regieren bald die welt / es geht voran […]“ (aus dem Album Monarchie und Alltag, 1980). 25 Bettina Köster, zit. n. TEIPEL, 2001, S. 279. 26 Extrabreit singt den alten Hans-Albers-Schlager „Flieger, grüß mir die Sonne“ aus dem Jahr 1932 (Ihre größten Erfolge), Abwärts nehmen „Bel Ami“ (1939) in einer Punk-Version auf (AmokKoma), DAF spielt in einer verstörend destruktiven Version den Filmschlager „Die fesche Lola“ (Die Kleinen und die Bösen) aus dem UFA-Film Der Blaue Engel (1930) und Hubert Kah zitiert den Refrain des ebenfalls aus den 1920er Jahren stammenden Richard-Tauber-Titels „Schöner Gigolo“ (1929) in „Gigolo“ (Meine Höhepunkte). Mittagspause spielt Drafi Deutschers Beat-Titel „Marmor, Stein und Eisen bricht“ (1965) nach (Punk macht dicken Arsch) und Ideal covert den 1960er-Jahre-Schlager „Männer gibt es wie Sand am Meer“ (Nora Nova, 1963) auf der B-Seite ihrer ersten Single (1980).

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Popmusik hinaus auch zur Setzung eigener Themen. Dies erweist sich als deutlich provokanter als etwa der ironische Rückgriff auf die Schlagerkultur. Denn mit der frühen NDW artikuliert eine Gruppe von Jugendlichen, die mehr und mehr repräsentativen Charakter annimmt, auf unmissverständliche Art ein erschreckend düsteres und freudloses Bild von der Republik. Die Musiker und Fans sind in ihrer Attitüde zwar nicht so aggressiv wie die Punks, sie sehen ordentlich, ja geradezu adrett aus mit ihren klassischen Fassonschnitt-Frisuren, z. T. tragen sie sogar Anzüge und schmale Krawatten. Aber sie erheben Ansprüche. Punk ließ sich noch als lästige und deviante, immerhin aber von außen kommende Modeerscheinung abtun, dessen stilistische Zeichen man nicht deuten konnte und dessen englische Texte man nicht verstehen musste. Die NDW-Bands hingegen machen deutlich – durch die deutschen Texte also verständlich –, dass sie Deutschland als ihre Heimat begreifen und darin einen Platz und eine Deutungsmacht, also Teilhabe an dieser Gesellschaft einfordern. Aus diesem Grund ist die NDW, obwohl sie auf Utopien und Ideologien weitgehend verzichtete, auch als eine politische Subkultur verstanden worden: Der vorherrschende Eindruck aller Beteiligten dieses frühen Stadiums der neuen deutschen Welle – erste Platten von Mittagspause, DAF, Hans-a-Plast, S.Y.P.H. – war, daß es nun auf eine neue Art möglich geworden war, von der unmittelbaren, politischen Realität zu sprechen. Eine Chiffre für diesen neuen Zugang zur (politischen) Realität war auch die neuartige Verwendung deutscher Texte, die deutsche Sprache im Rock-Song.27

Der Begriff Heimat, der bis dahin dem Bereich der Volksmusik zugeordnet wurde, wird in der NDW aufgegriffen und neu definiert. Die NDW hat mehrere Zentren – vor allem Düsseldorf, Hamburg, Berlin und Hannover –, die sich auch stilistisch und ideologisch unterscheiden. Die NDW bezieht sich auf diese verschiedenen Szenen als kulturelle Umgebung und prägt sie ihrerseits. Man legt Wert auf die lokale Besonderheit der Bands; die Bindung an einen Ort, an eine bestimmte Szene, bedeutet Erkennbarkeit, künstlerische Identität. Statt sich wei-

27 DIEDERICHSEN, 1999, S. 135.

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terhin für ihre Herkunft aus dem pop-provinziellen Deutschland zu genieren, machen die NDW-Künstler nun ihre Herkunft nicht nur zum Thema, sondern sogar zum Trumpf. Songs wie „Berlin“ (Ideal, 1980), „Wissenswertes über Erlangen“ (Foyer des Arts, 1982) oder „Skandal im Sperrbezirk“ (Spider Murphy Gang, 1981) können dafür als Beispiele dienen. Die regionalen Szenen sind Einheiten oder Assoziationen, die auf unterschiedliche Arten, in verschiedenen Geschwindigkeiten und mit jeweils unterschiedlichen Aktanten (Musiker, Kritiker, Clubs, Labels, Fanzines etc.) die Übersetzung von Punk in einen neuen Stil vorantreiben und die in einem Netzwerk eng miteinander verbunden sind.

T r a n s f e r d e s e n g lis c h e n P u n k in e in e d e u t s c h e M it t e l s c h i c h t k u l t u r Nicht jeder nimmt diese Adaption und Transformation von Punk als kreativen Vorgang wahr. Vielmehr wird die deutsche Version häufig als verkürzt und unvollständig beanstandet. Ausgerechnet denjenigen, die sonst den angloamerikanischen Einfluss auf die deutsche Kultur eher beklagen, ist der deutsche Punk nicht britisch, nicht ‚original‘ genug: Die massenmediale Vermittlung bietet gewissermaßen einen Überbau ohne die dazugehörige Basis. Dies macht, im Falle des Fehlens des inneren sozialen Zusammenhangs, erklärlich, warum exportierte Subkulturen von Arbeiterjugendlichen im Importland z. B. als bloße Stilvariationen zu einem mittelschichtspezifischen Phänomen werden können.28

Aus einer „authentischen Arbeiter-Subkultur“, die „sichtbarer Ausdruck einer Protesthaltung ist“, werde, so der Vorwurf, durch die mediale Vermittlung ein entleertes Konsumgut, stilistischer „Selbstzweck“ für gutsituierte Jugendliche.29 Zentral für diese Argumentation ist die Annahme einer sozialen Determination von Punk. Der englische Punk wird als „authentische“ Subkultur der Arbeiterklasse gesehen, während der deutsche Punk lediglich als modische Freizeitgestaltung für Mittelstandsjugendliche aufgefasst wird: „Einen rein proletarischen Ursprung 28 LINDNER, 1981, S. 190. 29 EBD., S. 191.

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des deutschen Punk, im Gegensatz zu England, gibt es nicht“, schreibt Winfried Longerich 1989 in seiner Arbeit zur NDW.30 Darum stellt der Punk in Deutschland für viele, wie z. B. auch für Lindner, einen Widerspruch dar, weil ihrer Ansicht nach „zum Punk essentiell die sozialen Zustände und die Erfahrung dieser Zustände dazugehören“.31 Die Annahme, dass sich Punk hierzulande in ein reines, gewissermaßen entleertes Mittelschichtphänomen verwandelt habe, sitzt aber nicht nur der Legende vom „proletarischen Punk“ auf, sondern legt zudem eine Auffassung von Authentizität zugrunde, die kulturelle Produkte mit ihren lokalen soziokulturellen Bedingungen identifiziert. Doch erst eine Entkopplung der kulturellen Produkte von ihrer Herkunft ermöglicht die Entstehung einer neuen Kultur. Indem sich die Jugendlichen den Punk auf diese Weise aneignen, wirkt die aufnehmende deutsche Kultur auf das importierte Kulturprodukt Punk zurück und verändert es. Das Lokale wirkt zurück auf das Globale, aus dem Fremden wird das Eigene.

D ie P r o d u k t iv it ä t d e s M is s v e r s t ä n d n is s e s Weil kulturelle Produkte immer abhängig von ihrem kulturellen, gesellschaftlichen und historischen Kontext hergestellt und rezipiert werden, hinterlässt ihr Transfer Lücken und verursacht Teil- und Missverständnisse. Die Übertragung kann niemals vollständig und deckungsgleich sein, weil sich durch einen neuen Kontext auch neue Bedeutungsspielräume ergeben. Und je pointierter Produkte auf die nationalen Gegebenheiten ihrer Entstehungsorte zugeschnitten sind, desto höher sind die beim Import entstehenden Reibungsverluste und Bedeutungsverschiebungen, die auch für global verbreitete Kulturprodukte lokal sehr unterschiedliche Rezeptionen ermöglichen: Weltweit verbreitete Kulturprodukte nivellieren Unterschiede, verschärfen sie aber auch. Michael Jackson bedeutet nicht überall dasselbe. Das gilt noch viel mehr bei den zugespitzten Semantiken von politisch codierten Kulturprodukten.32 30 LONGERICH, 1989, S. 50. 31 LINDNER, 1978, S. 12. 32 DIEDERICHSEN, 1993, S. 166.

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Es sind gerade die mit dem Import des Punk einhergehenden Miss- und Teilverständnisse, die den Grundstein für die NDW bilden, wie Stender erläutert: „Andererseits hat gerade dieses Unverständnis/Mißverständnis der englischen Szene häufig den Effekt, daß Phänomene, die insbesondere aus der Londoner Clubszene entstehen, größere und ungleich länger andauernde Wirkungen auf dem Festland hervorrufen.“33 Ein Transfer ist mit dem Verlust an semantischer Eindeutigkeit verbunden. Beim Import von populären Kunstwerken, die ja als polyseme Artefakte ohnehin über ein vielfältiges Bedeutungspotential verfügen, kommt es daher häufig zu abweichenden Rezeptionsweisen, die dann als Missverständnisse, als Fehler oder als ‚Fake‘ kritisiert werden. Was dabei übersehen wird, ist, dass die spielerische Adaption, die, inspiriert von den Massenmedien, von den deutschen Punks vollzogen wird, die durch den Transfer entstandenen Lücken mit eigenen lokalen und kulturellen Versatzstücken auffüllt. Man weicht – teils absichtlich, teils unabsichtlich – von einer bloßen Reproduktion des Punk immer weiter ab. So will die Band Mittagspause Punk spielen und wird dabei zu einer der ersten NDW-Bands, wie Sänger Peter Hein sich erinnert: Aber Mittagspause hat sich ja anders als gedacht angehört. Wir waren nie gut genug, um so zu klingen wie unsere Vorbilder. Wir fanden etwas gut – und wenn wir es gespielt haben, war es etwas völlig anderes. Und außer uns hat ja keiner gewusst, was das eigentlich sein sollte. Mittagspause galt als das eigenständigste Ding in Deutschland – wahrscheinlich, weil es das Nachgemachteste überhaupt war. 34

Die beim Kulturtransfer entstandenen Missverständnisse erweisen sich somit als höchst produktiv: Man glaubt Punk zu spielen. „Aber es war kein Punk, sondern irgendwas anderes“, sagt Frank Fenstermacher, Mitglied der Nachfolgeband Fehlfarben.35 So kommt es zu der eigentümlichen Situation, dass sich, noch während der deutsche Punk als bloße Kostümierung kritisiert wird, exakt in den Zentren dieser manieristischen Nachahmung erstmals eine eigenständige popmusikalische

33 STENDER, 1980, S. 22. 34 Zit. n. TEIPEL, 2001, S. 202. 35 Zit. n. EBD., S. 135.

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Jugendkultur in Deutschland zu bilden beginnt. So erläutert Moritz R® von Der Plan: Da entstand eine ganz eigene Szene. Bisher war man nur Fan von englischen oder amerikanischen Platten – obwohl man die kulturelle Entwicklung, die zu diesen Platten geführt hatte, gar nicht mitgekriegt hatte. […] Und jetzt passierte was Eigenes. Man konnte wirklich mitkriegen, wie die Dinge, über die man im Hof mit Leuten redete, ein paar Tage später als Text auf der Bühne wieder auftauchten. Man hat mitgekriegt, daß kulturelle Entwicklung genau so passiert.36

D iffe re n z . S p rich frem d e S p rach en im e ig e n e n L a n d So wie die NDW durch Modifikation und Interpretation zum importierten Punk eine Differenz schafft, so nimmt sie auch zur eigenen Kultur eine distanzierte Haltung ein. Daher ist das Aufgreifen deutscher Themen in der NDW auch kein restaurativer, traditionalistischer oder konservativer, sondern ein mit Brüchen durchsetzter Vorgang. Gerade weil Deutschland wieder als Heimat begriffen wird, wird die Differenz zu dieser Heimat, ihrer Gesellschaft und ihren Lebensentwürfen spürbar und beschreibbar. Die Beziehung der NDW-Künstler zu ihrer Herkunft ist von einer prinzipiellen emotionalen Fremdheit geprägt. Darin zeigen sich zwar inhaltlich noch die Spuren der system- und gesellschaftskritischen Haltung des deutschen Punk, doch die NDW wählt für deren Ausdruck textlich wie musikalisch andere stilistische Mittel. Die ungebremste Aggressivität des Punk ersetzt sie durch Sarkasmus; statt standardisierte Feindbilder aufzugreifen, sucht sie nach neuen treffenden Begrifflichkeiten und Erzählweisen. So werden bei S.Y.P.H. aus den „Spießern“ 1979 „Lachleute & Nettmenschen“: Lachleute & Nettmenschen um mich herum, Lachleute & Nettmenschen um mich herum. Sie essen, trinken und kichern dumm. 36 Zit. n. EBD., S. 130.

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Neue Deutsche Welle Lachleute & Nettmenschen um mich herum. Fassade, Fassade, alles nur Fassade, Glück und Marlboro für jeden, Ich kann es nicht mehr sehn. Ich kann es nicht mehr sehn. (S.Y.P.H., „Lachleute & Nettmenschen“)

Ein Leben nach der Norm erscheint tödlich: „Heute Norm, morgen Tod“ (S.Y.P.H., 1979). Während bei S.Y.P.H. die Punk-Attitüde des Spießer-Hasses noch deutlich spürbar ist, entwirft die Band Der Plan 1980 mit ihrem Minidrama „Hans und Gabi“ eine Art BRD-Psychogramm. Sie schildert in einer Mischung aus Empathie und gnadenloser Nüchternheit den schier ausweglosen Kreislauf eines vorgezeichneten Kleinbürgerlebens: Hans liebt Gabi sehr, sie wollen heiraten, am besten gleich. Gabi liebt Hans sehr, sie wollen heiraten, und zwar sofort. Gabi kriegt von Hans ein Kind, es ist ein Mädchen und wird wunderschön. Gabi kriegt noch ein Kind, es ist ein Junge, und wird furchtbar schlau. Hans arbeitet von früh bis spät, Gabi bemuttert die Kinder zu Haus. Abends fällt Hans erschöpft ins Bett, nun ist die Gabi zu ihm wirklich nett. So ʼne Familie, der gehtʼs wirklich gut, man tut, was man kann, man kann, was man tut. So ʼne Familie, die macht wirklich Spaß, doch Achtung, Obacht, Vorsicht, es ändert sich was. Hans liebt Gabi sehr, doch er muß erst mal zur Bundeswehr.

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Barbara Hornberger Gabi liebt inzwischen Kurt Martin, Hans hat nun wirklich die schlechteren Karten. Aus Wut über seinen Verlust wird Hans Generalfeldmarschall, und als er im nächsten Krieg mit seinen Truppen in [sic!] Nachbarland einmarschiert, denkt er sich lauter gemeine Vernichtungsaktionen gegen den Feind aus. Ach Gabi, Gabi, warum hast du mich verlassen? (Der Plan, „Hans und Gabi“)

Der Plan erzählt die Geschichte einer Ehe vom hoffnungsfrohen Beginn über den stupiden Alltag bis hin zum unausweichlichen Ende. Der von Störgeräuschen geprägte Sound konterkariert die vorgestellte Kleinbürgeridylle, das elektronische Pfeifen und Rauschen weist akustisch auf die Brüchigkeit dieser heilen Welt hin. Hans und Gabi erscheinen kaum als Menschen, sondern wirken wie aufgezogene Puppen, die eine Geschichte aufführen. Und diese ist nicht nur die Geschichte eines persönlichen, sondern auch eines strukturellen Scheiterns. Mit Hans und Gabi, darauf weisen bereits die beiden Allerweltsnamen der titelgebenden Figuren hin, wird ein ganzes BRD-Lebenskonzept als zwangsläufig scheiternd vorgeführt. Der enge Bezug zur Realität schlägt sich vor allem in den frühen Songs der NDW nieder, aber nicht nur in der Abwehr vermeintlich spießiger Lebensentwürfe, sondern auch in einem Aufgreifen der bedrückenden politischen Situation der späten 1970er Jahre, die u. a. von wirtschaftlicher Rezession und Terrorismus bestimmt wird. Mit genauem und kühlem Blick greifen die NDW-Bands die allgegenwärtige Beklemmung auf, die sich nach dem ‚heißen Herbst‘ in Deutschland breitmacht. Die Überwachungsstrategien der Staatsmacht provozieren auch in den NDW-Szenen ideologische Gegenreaktionen, befördert durch die simple Tatsache, dass der Höhepunkt des RAF-Terrors und die Entstehung des deutschen Punk bzw. der NDW zeitlich zusammenfallen: zwei Bewegungen, die sich nachdrücklich nicht mit den gegenwärtigen Umständen einverstanden erklären und sich – im Fall der RAF real, im Fall der NDW nur symbolisch – außerhalb der Gesellschaft bewegen. So zumindest nimmt Harry Rag, Gitarrist und Sänger der Band S.Y.P.H., es wahr: „Das war eine parallele Entwicklung. […] Und so verstand es sich von selbst, dass jeder von uns mit der RAF sympa-

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thisierte. Zumindest ideell. Das heißt nicht, dass wir Morde gut fanden. Aber wir fanden bestimmt auch keine Arbeitgeberpräsidenten gut.“37 Das Verhältnis zur RAF ist kein ernsthaft politisches, sondern eher ein ‚ideologischer Flirt‘. Die RAF wird zu einer Chiffre für Revolte und Aufstand auf der einen und zu einem Synonym für staatliche Übergriffe auf der anderen Seite. Die NDW-Texte beziehen sich in ihrer Grundthematik immer wieder auf diese Situation und die daraus erwachsende Stimmung. Hans-a-Plast z. B. beschreibt 1979 in dem Song „Rank Xerox“ die mit Fahndungsplakaten betriebene „Treibjagd“ – „Ein Kreuz für jeden, denʼs erwischt“ – und fragt: „Was tun, wennʼs brennt?“. Die Band Abwärts thematisiert in ihrem Album AmokKoma (1980) den überwachenden „Computerstaat“, Extrabreit die allgegenwärtige Polizei („Polizisten“, 1981) und Mittagspause den „langen Weg nach Derendorf“ (1979). Der letzte Titel ist besonders interessant, weil er von einem Detail bundesdeutscher Realität ausgeht, das den Zeitgenossen präsenter sein dürfte als heutigen Rezipienten: Am 6. September 1978 wird in einem Restaurant in Düsseldorf-Derendorf der RAF-Terrorist Willy Peter Stoll von Polizisten erschossen. Der Songtitel weist aber nicht nur auf dieses Ereignis hin, das im unmittelbaren regionalen Umfeld der Band stattfindet, sondern auch – „der lange Weg“ – auf eine Ereignisgeschichte: Das Zentrum des Songs ist nicht der einzelne erschossene Terrorist, nicht die RAF, sondern die Schilderung einer Gesellschaft zwischen Angst und Denunziation, eine ausgesprochen zugespitzte Version des bundesrepublikanischen Klimas: sie werden gejagt durch die ganze republik jeder pantoffelheld erklärt ihnen den krieg es war ein langer weg nach derendorf er ist noch nicht zu ende auch wenn es mancher hofft sie sind nur eine handvoll und sie wissen wohin da hätte selbst ein james bond wenig sinn ohrläppchen angewachsen adamsapfel ausgeprägt

37 Zit. n. TEIPEL, 2001, S. 74.

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Barbara Hornberger einen schritt mehr und du wirst umgesägt. (Mittagspause, „Der lange Weg nach Derendorf“)

Die selbstgerechte Lust an der Verfolgung lässt den braven Bürger nach physischen Kennzeichen des Terroristen suchen („ohrläppchen angewachsen adamsapfel ausgeprägt“), die in ihrer Willkürlichkeit gleichzeitig lächerlich und beängstigend sind. Das ganze Land jagt eine „handvoll“ revolutionärer Krimineller, jeder einzelne Bürger wird zum Ermächtigten des Staates. Seine Jagdlust ist mehr als das lästige, aber harmlose Moralisieren und Herabsetzen Andersdenkender, es wird zu einer demokratiegefährdenden Haltung. Die eigentliche Gefahr der RAF geht also in diesem Song nicht (nur) von ihren Terrorakten aus, sondern von der destabilisierenden, entdemokratisierenden Wirkung, die sie auf Staat und Gesellschaft hat. Das übertriebene Sicherheitsdenken führt letztlich zur Erosion jedweder Sicherheit. Doch das Scheitern betrifft am Ende beide Seiten. Den eigentlich Verfolgten ist zwar nicht beizukommen: „da hätte selbst ein james bond wenig sinn.“ Aber das revolutionäre Projekt zerbricht dennoch, weil sich seine Ziele in einer pervertierten Form erfüllen – „Alle Macht dem Volk“, das bedeutet eben nicht mehr Revolution und Freiheit für alle, sondern: „jeder pantoffelheld erklärt ihnen den krieg.“ Der Song illustriert in seiner spröden und verkürzten Erzählweise, dass der Terror der RAF und die Verfolgung als ‚gefährlich‘ erscheinender Außenseiter durch Staat und Gesellschaft sich gegenseitig bedingen und intensivieren. Die Sympathie, die die frühe NDW für die Terroristen und ihr Projekt zu haben scheint, ist nicht als Einverständnis mit ihren Zielen und Methoden, sondern als Solidaritätsgestus aufzufassen, der aus einer historischen Verwandtschaft erwächst. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Thema Deutschland kann als Suche nach einem neuen Begriff von Heimat verstanden werden, der nicht mehr bewahrend-traditionalistisch, sondern kritisch gefasst wird. Die Emanzipation von der angloamerikanischen Dominanz im Pop hat keineswegs die Schaffung und Bewahrung einer deutschen Identität zum Ziel, die ohnehin nur eine „bürgerliche Illusion“38 dar38 DIEDERICHSEN, 1993, S. 83.

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stellt. Stattdessen erschafft die NDW etwas Neues, eine Art „BRDRealismus“ oder „BRD-Identität“,39 die die Zuwendung ebenso wie die Distanz zum Deutschen enthält, und zwar auf eine offene und vieldeutige Weise. Mit der Entdeckung der Heimat nimmt man auch das Recht in Anspruch, diese in Frage zu stellen und zu verändern. Gerade in der Thematisierung des Deutschen kommt die Differenz zum Ausdruck. So wird die deutsche Sprache bei der Band Fehlfarben 1980 zur „fremden sprache im eigenen land“: wo ist die grenze wie weit kann ich gehen verschweige die wahrheit ich will sie nicht sehen. schneid dir die haare bevor du verpennst. wechsle die freunde wie andre das hemd. richtig ist nur was man erzählt. benutze einzig was dir gefällt. bau dir ein bild wie es dir passt sonst ist an der spitze für dich kein platz. wenn die wirklichkeit dich überholt, hast du keine freunde mehr nicht mal alkohol. du stehst in der fremde deine welt stürzt ein. das ist das ende du bleibst allein. bild dir ein du bist lotse und hältst das steuer. mitten im ozean spielst du mit dem feuer. sprich fremde sprachen im eigenen land. zerstreu die zweifel an deinem verstand. wenn die wirklichkeit dich überholt, hast du keine freunde mehr nicht mal alkohol. du stehst in der fremde deine welt stürzt ein. das ist das ende du bleibst allein. wenn die wirklichkeit dich überholt, hast du keine freunde mehr nicht mal alkohol. du stehst in der fremde deine welt stürzt ein. das ist das ende du bleibst allein. (Fehlfarben, „Gottseidank nicht in England“)

39 DERS., 1999, S. 135.

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In dem Song von Fehlfarben werden Wirklichkeitserfahrung und Artikulation von Differenz zum Drama. Die Grenze, von der hier gesungen wird, kann durchaus als eine existentielle verstanden werden. Hier geht es nicht um eine vorübergehende Irritation, die mit Freunden oder Alkohol zu beheben oder wenigstens auszuhalten wäre, sondern um eine prinzipielle Fremdheit, um ein ‚In-die-Welt-geworfen-Sein‘. Gleichzeitig wahrt der Text durchgängig eine Ambivalenz zwischen dem Beklagen und dem Feiern dieser Situation. Denn der Verlust von Sicherheit bietet auch Chancen: Der Realität und dem damit verbundenen Gefühl der Verlorenheit kann in einem Gegenentwurf mit der Schaffung eigener Bilder begegnet werden: „richtig ist nur was man erzählt“ bzw. „bau dir ein bild wie es dir passt.“ „[F]remde sprachen im eigenen land“ zu sprechen, scheint eine, vielleicht die einzige Möglichkeit zu sein, seine Nichtidentität zu markieren. Die Erfahrung von Realität wird von den NDW-Künstlern – und damit stehen sie stellvertretend für ihre Generation – häufig als entfremdend wahrgenommen. Sie fühlen sich in ihrer Umwelt nicht vollständig beheimatet, erleben sich nicht als selbstverständlichen Teil der Gesellschaft, sondern blicken aus der Position eines Beobachters auf sie. Darauf reagieren sie künstlerisch mit einer strategischen Konstruktion von Wirklichkeit. Ihre scheinbar neutralen, abstrakten Beschreibungen sind Ausschnitte, Zuspitzungen, Modelle, die eher einem Gefühl von subjektiv erlebter Wirklichkeit Ausdruck verleihen als Realität objektiv zu spiegeln. Ihre Songs fungieren nicht (nur) als Beschreibung, sondern auch als Gestus der Selbstvergewisserung; das Erzählen der subjektiven Realität bringt diese erst hervor. Das Deutsche als ‚fremde‘ Sprache ermöglicht es, gleichzeitig beheimatet und fremd, drinnen und draußen zu sein. NDW-Musik ist sowohl Pop als auch Politik, sowohl Spiel als auch Ernst und deckt sich auf diese Weise mit den Wirklichkeitserfahrungen und -ansprüchen deutscher Jugendlicher, deren Erleben von Differenz, gelegentlich auch Dissidenz, in den Songs einen adäquaten ästhetischen Ausdruck findet. Insbesondere durch ihren Gestus der Distanz sowohl gegenüber der Import- als auch gegenüber der Heimatkultur kann die NDW sich zur ersten eigenständigen deutschen Popmusikbewegung entwickeln. Was üblicherweise von außen als Kritik an den deutschen Punk herangetragen wird – dass er nur eine importierte, überdies in Deutschland falsch verstandene Kultur sei –, nutzt die NDW als kreatives Potential. Gerade

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weil sie sich nicht eigenständig, sondern in der Verarbeitung einer Importkultur entwickelt hat, kann sie einer Fiktion von ‚deutscher Identität‘ entgehen. Der Deutschpunk, am Original verhaftet, bleibt dagegen eine importierte, fremde Kultur. Die NDW jedoch, die sich das Fremde aneignet und das Eigene zugleich als Eigenes wie auch als Fremdes wahrnimmt, ist etwas Neues, das sich stilistisch sowohl vom englischen Punk als auch von der bisherigen deutschsprachigen Musik unterscheidet und gerade dadurch zu einem Bestandteil deutscher populärer Kultur wird.

F a z it Mit der Transformation des Punk in eine eigene, neue Kultur gibt die NDW auch eine Antwort auf die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Import und Authentizität. Die fortdauernde Globalisierung, die Trennung von Geographie und Kommunikation und der Austausch kultureller Güter führen dazu, dass kulturelle Produkte immer mehr von ihrer lokalen Gebundenheit befreit werden. Punk kann überall in der westlichen Welt stattfinden. Anhand der Entwicklung der NDW wird aber deutlich, dass nicht nur das Lokale vom Weltgeschehen bestimmt wird, sondern dass wiederum dieses Weltgeschehen an den unterschiedlichen Orten unterschiedlich wirksam und zu etwas Eigenem verarbeitet wird. Der Import des englischen Punk nach Deutschland erscheint zunächst wie eine Assimilation und Entfremdung. Die Modifizierung des Importierten aber bedeutet einen emanzipatorischen Gebrauch des Neuen im lokalen Kontext und dadurch schließlich eine Stärkung des Regionalen. Das Ergebnis ist ein Kulturprodukt, das zu beidem, dem Globalen wie dem Lokalen, Distanz wahrt und gerade dadurch beides miteinander versöhnt. Weder entfremdet noch national identisch ist die NDW in der Lage, eine neue Form von kultureller Heimat zu schaffen. Dies widerspricht einer deterministischen Vorstellung von Kultur, die das Lokale als zentrale Quelle von kultureller Identität auffasst, deren Authentizität nur gewahrt werden kann, wenn sie durch den Kontakt mit dem Globalen nicht beeinträchtigt wird. Es sind aber gerade die Loslösung des Punk von seinen vielfältigen amerikanischen, englischen und kontinentalen Ursprüngen und sein abweichender, produktiv miss-

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verständlicher Gebrauch im deutschen Kontext, die aus der importierten, ‚geborgten‘ Kultur Punk den neuen Stil NDW hervorgehen lassen. Die NDW behauptet nicht die Existenz einer proletarischen PunkKultur in der BRD mitsamt einer möglichst mimetischen Nachahmung des importierten Lebens- und Musikstils. Sie nutzt die Hinwendung zur deutschen Sprache und Kultur aber auch nicht für eine nationale oder gar patriotische Identifizierung. Die NDW-Künstler schaffen nicht nur zum importierten Kulturprodukt Punk, sondern auch zu ihrer eigenen Heimat Distanz, dokumentieren nicht nur eine Differenz gegenüber dem Fremden, sondern auch eine Fremdheit gegenüber dem Eigenen. Damit vermögen sie das herzustellen, was man eine ‚authentische Qualität‘ nennen könnte, wenn man David Morley folgt, der unter Bezugnahme auf David Miller vorschlägt, „‚Authentizitätʻ eher a posteriori als a priori [zu] definieren, eher als eine Angelegenheit lokaler Wirkungen denn als eine lokaler Ursprünge“.40 Durch den Gestus der Distanz sowohl gegenüber der Import- als auch gegenüber der Heimatkultur kann sich die NDW zur ersten eigenständigen deutschen Popmusikbewegung entwickeln. Sie bildet nicht nur, quasi zufällig, aus einem Import den ersten wirklich subkulturellen Popmusikstil Deutschlands aus. Sie macht durch diese doppelte Differenz außerdem aus einem kulturellen Import einen kulturellen Transfer mit eigenem ästhetischen und inhaltlichen Wert.

L it e r a t u r DIEDERICHSEN, DIEDRICH, Freiheit macht arm. Das Leben nach Rock’n’Roll 1990-93, Köln 1993. DERS., Der lange Weg nach Mitte. Der Sound und die Stadt, Köln 1999. FARIN, KLAUS, Jugendkulturen zwischen Kommerz und Politik, Bad Tölz 1998. GOLDT, MAX, Schmerzforscherin jagt Kranken in schlechtes Konzert, in: Quitten für die Menschen zwischen Emden und Zittau. Aus Onkel Max’ Kulturtagebuch, hg. von MAX GOLDT, Zürich 1993, S. 7378.

40 MORLEY, 1997, S. 22.

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GUIMARÃES, BERNARDO, Die Sklavin Isaura, München 1992 [1875]. HASSENKAMP, SUSANNE, Die Ladys haben Bock auf Rock, in: Stern 47 (1977), S. 30-36. HILSBERG, ALFRED, Krautpunk. Rodenkirchen Is Burning, in: SOUNDS 3 (1978), S. 20-24. DERS., Rotzkotz. Pop Rivets, Sammelrezension, in: SOUNDS 9 (1979), S. 64. HORNBERGER, BARBARA, Geschichte wird gemacht. Die Neue Deutsche Welle. Eine Epoche deutschsprachiger Popmusik, Würzburg 2011. LATOUR, BRUNO, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt am Main 2007 [2005]. LEITNER, OLAF, Rock von draußen mit Sprache von drinnen. Zehn Jahre Texte in deutsch, in: Rock Session 4 (1980), S. 153-163. LINDNER, ROLF, Hg., Punk Rock, Frankfurt am Main 1978. DERS., Jugendkultur und Subkultur als soziologische Konzepte, Nachwort zu: MIKE BRAKE, Soziologie der jugendlichen Subkulturen. Eine Einführung, hg. von ROLF LINDNER, Frankfurt am Main 1981, S. 172-193. LONGERICH, WINFRIED, Da Da Da. Zur Standortbestimmung der Neuen Deutschen Welle, Pfaffenweiler 1989. MARCUS, GREIL, Lipstick Traces. Von Dada bis Punk. Kulturelle Avantgarden und ihre Wege aus dem 20. Jahrhundert, Hamburg 1992. MORLEY, DAVID, Where the Global Meets the Local. Aufzeichnungen aus dem Wohnzimmer, in: Montage/av 1 (1997), S. 5-35. SAVAGE, JON, England’s Dreaming. Anarchy, Sex Pistols, Punk Rock, and Beyond, New York 1992. SCHRÖDER, RAINER M., Rock Made in Germany. Die Entwicklung der deutschen Rockmusik, München 1980. STENDER, JOACHIM, SOUNDS-Diskurs. Musik zwischen Anpassung und Überwindung, in: SOUNDS 11 (1980), S. 44-46. TEIPEL, JÜRGEN, Verschwende Deine Jugend. Ein Doku-Roman über den deutschen Punk und New Wave, Frankfurt am Main 2001. VAN RINSUM, HERBERT, Newsroom Werben und Verkaufen. Grundy UFA entwickelt Telenovela für den Spätabend. Freizügigere Film-

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szenen werden damit möglich, http://www.presseportal.de/pm/ 6755/821277/grundy-ufa-entwickelt-telenovela-fuer-den-spaetabend -freizuegigere-filmszenen-werden-damit-moeglich, 30.03.2013. WAGNER, PETER, Pop 2000. 50 Jahre Popmusik und Jugendkultur in Deutschland. Das Begleitbuch zur 12-teiligen Sendereihe des WDR in Co-Produktion mit den Dritten Programmen der ARD, Hamburg 1999.

Tonträger ABWÄRTS, AmokKoma. LP. Zickzack, 1980. DAF, Die Kleinen und die Bösen. LP. Telefunken, 1980. EXTRABREIT, Ihre größten Erfolge. LP. Reflektor, 1980. DIES., Welch ein Land, was für Männer. LP. Reflektor, 1981. FEHLFARBEN, Monarchie und Alltag. LP. EMI, 1980. FOYER DES ARTS, Wissenswertes über Erlangen. Single. WEA, 1982. HANS-A-PLAST, Hans-a-Plast. LP. Lava Records, 1979. HUBERT KAH, Meine Höhepunkte. LP. Polydor, 1982. IDEAL, Männer gibt es wie Sand am Meer/Blaue Augen. Single. IC, 1980. DIES., Ideal. LP. IC, 1980. DIES., Bi nuu. LP. WEA, 1982. MITTAGSPAUSE, Mittagspause. Doppel-EP. Pure Freude, 1979. DIES., Punk macht dicken Arsch. LP. Rondo Flot 2, 1981. DER PLAN, Geri Reig. LP. Atatak, 1980. SPIDER MURPHY GANG, Dolce Vita. LP. EMI, 1981. S.Y.P.H., S.Y.P.H. LP. Pure Freude, 1979.

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Amerikanisierung, Glokalisierung, Branding EuroDisney, 1992 FLORIAN FREITAG In den kulturwissenschaftlichen Themenparkstudien nimmt das Konzept des Branding eine immer wichtigere Rolle ein. In seinem Buch Theme Park etwa bezeichnet Scott A. Lukas Entwicklungen rund um Markennamen als „the most significant transformation of the theme park [in the contemporary world]“,1 und in The Immersive Worlds Handbook widmet Lukas ein ganzes Kapitel dem Thema „The Brand and the Senses“.2 Auch die dritte, überarbeitete Auflage von Mark Gottdieners einflussreicher Studie The Theming of America wird sich verstärkt mit Fragen des Branding im Zusammenhang mit Themenorten befassen.3 Im Rahmen ihres Unterhaltungsangebots greifen Themenparks in unterschiedlichen Kontexten auf bekannte Markennamen zurück – etwa beim Sponsoring einzelner Attraktionen, Restaurants, Shops oder Services durch bestimmte Unternehmen, beim Waren- und Speiseangebot in den Restaurants und Shops des Parks4 oder auf der 1 2 3 4

LUKAS, 2008, S. 172. DERS., 2013, S. 177-204. E-Mail von Mark Gottdiener an den Autor dieses Beitrags vom 02.01. 2013. Der Themenpark Disney California Adventure in Kalifornien z. B. bot bei seiner Eröffnung im Jahr 2001 den Besuchern ein McDonald’s-Restaurant („Burger Invasion“) sowie einen von der Robert Mondavi Winery geführten Themenkomplex namens „Golden Wine Vinery“ (vgl. WEISS, 2013b und DERS., 2013a). Im Juni 2012 eröffnete der Park das „Fiddler, Fifer and

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Ebene der thematischen Gestaltung.5 Zweifelsohne die bedeutendste Rolle spielt jedoch, so Lukas, die Etablierung bestimmter Themenparks wie Disneyland oder Universal Studios als Marken an sich.6 Solche Themenparks stellen in diesem Sinne „brandscapes“ dar, Orte also, an denen eine Marke sinnlich erlebbar wird.7 Unterhaltungskonzerne wie The Walt Disney Company oder NBCUniversal haben an verschiedenen Orten auf verschiedenen Kontinenten Themenparks mit ähnlichen Elementen und unter nur leicht abgewandelten Namen eröffnet, um durch den hohen Bekanntheitsgrad ihrer Marken möglichst viele Besucher anzulocken. Diese Expansionsstrategie, die im Wesentlichen dem strukturellen Nachteil der Standortgebundenheit von Themenparks Rechnung trägt, ist jedoch, wie Lukas richtig anmerkt, auch untrennbar mit Prozessen transkultureller Dynamiken verknüpft: Of course brand images, even when created in the hospitable spaces of theme parks, are not universal. Like all products of the mind, they are conditioned by culture and are thus products of the culture. When theme parks are translated they must produce the branded space in a way that is acceptable to the patrons of the new culture.8

Die Übertragung einer Themenpark-Marke wie Disneyland oder Universal Studios in eine neue, andere Kultur setzt jedoch nicht nur seitens des Themenpark-Betreibers ein aktives, sorgfältiges Anpassen der Themenpark-Marke an die kulturellen Eigenheiten des neuen Standorts bei gleichzeitiger Wahrung der Marke und ihrer Kerninhalte voraus. Ebenso gilt es aus transkultureller Perspektive zu beachten, dass Themenparks und andere kulturelle Produkte – insbesondere industriell gefertigte Erzeugnisse der Massen- oder Populärkultur – in verschiedenen Kulturen unterschiedlich aufgenommen werden: „Studies of the adapta-

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Practical Café and Bakery“, in dem Produkte der Starbucks-Kette verkauft werden. Sowohl am Gebäude selbst als auch auf den Produktverpackungen findet sich prominent das Logo bzw. der Name der Kette. Dies trifft insbesondere im Fall von Remediatisierungen zu, wenn etwa Franchises aus anderen Medien wie Back to the Future, The Simpsons oder jüngst Harry Potter als Themenpark-Attraktionen adaptiert werden. LUKAS, 2008, S. 196. Vgl. KLINGMANN, 2007. LUKAS, 2008, S. 196.

EuroDisney, 1992

tions of Disney theme parks to non-western nations […] have shown that contrary to notions of American cultural imperialism, Disney theme parks may actually be examples of the ‚active appropriation‘ of Disney.“9 Älteren Modellen transkultureller Prozesse wie etwa dem kulturellen Imperialismus stellt Lukas hier alternative Konzeptionen wie Adaptation, kulturelle Translation und Aneignung gegenüber. Er folgt damit einer Entwicklung in den Kulturwissenschaften, der zufolge Konzeptionen zeitgenössischer transkultureller Dynamiken als Amerikanisierung oder Kulturimperialismus als unzutreffend und zu simplistisch verworfen wurden. Noch 2002 ging Margaret J. King etwa davon aus, dass Themenparks vor allem aufgrund ihrer inhärenten „Amerikanität“ in andere Kulturen exportiert würden: So far, [the theme park] appears to be a uniquely American form as a major export. […] When the parks are imported, it is for their Americanness, which is a matter of values as well as the images that carry them. As defined here, the form does not seem to fill a need in other cultures to showcase their own values, but is used as a vehicle for American ideals.10

Winfried Fluck jedoch bemerkt in einem Beitrag zur Amerikanisierung deutscher Kultur: The recognition that cultural material is never simply absorbed as a model of behavior but is reappropriated in different contexts for different needs and purposes is, I think, the bottom-line consensus at which the Americanization debate has arrived. […] „[A]udiences are more active and critical, their responses more complex and reflective, and their cultural values more resistant to manipulation and ‚invasion‘ than many critical media theorists have assumed.“ The cultural imperialism thesis

9 EBD., S. 197f. 10 KING, 2002, S. 11. Wie das Beispiel des im Jahr 2000 eröffneten spanischen Themenparks Terra mítica zeigt (vgl. CARLA/FREITAG, 2014), transportieren Themenparks jedoch sehr wohl nicht nur amerikanische Werte und nationale Selbstkonstruktionen.

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Florian Freitag has thus been replaced by models of negotiation, hybridization, and creolization.11

Im Folgenden werde ich am Beispiel des EuroDisney-Themenparks in Paris untersuchen, auf welche Konzepte von transkulturellen Dynamiken die an dieser Übertragung der Themenpark-Marke Disneyland in die französische bzw. europäische Kultur beteiligten Akteure – Parkdesigner, Presseabteilung der Walt Disney Company, die französische Presse, die französische Regierung und Kulturkritiker – rekurrierten. Dabei werde ich mich vor allem auf die Zeit vor der Eröffnung des Parks im Jahr 1992 konzentrieren, um die Positionen der französischen Regierung bei den Verhandlungen über das Projekt, die Reaktionen der französischen Presse und anderer öffentlicher Stimmen auf die Ankündigung des Parks, die Strategien der Parkdesigner selbst und die Analyse des Parks durch Kulturkritiker zu beleuchten. Ich interessiere mich somit weniger für den Umgang der Besucher mit dem Park und die Reaktionen der Parkleitung auf das Besucherverhalten nach der Eröffnung. Vielmehr möchte ich zeigen, dass sich einerseits Disneys Parkdesigner, Pressestrategen und Wissenschaftler vor allem auf bestimmte Formen von Modellen wie Hybridisierung, Kreolisierung oder Glokalisierung stützten, für öffentliche Kritiker des Projekts sowie für die Unterhändler der französischen Regierung andererseits Modelle von Amerikanisierung und Kulturimperialismus eine wesentliche Rolle spielten. Es wird somit deutlich, dass, auch wenn Kulturtheoretiker letztere Modelle in der Zwischenzeit weitestgehend verworfen haben mögen, sie dennoch einen wesentlichen Faktor in der EuroDisneyDebatte vor 1992 darstellten. Gleichzeitig wird sich zeigen, dass die in den kulturkritischen Analysen des Parkdesigns verwendeten alternativen Modelle der Bedeutung des Branding stärker Rechnung tragen müssen, als dies bislang der Fall gewesen ist.

11 FLUCK, 2005, S. 21f. Joseph M. Chan datiert diesen Paradigmenwechsel auf die Mitte der 1980er Jahre (vgl. CHAN, 2002, S. 226).

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Ein Stück Amerika in Frankreich In seiner 1993 – und damit lediglich ein Jahr nach der Eröffnung von EuroDisney am 12. April 1992 – erschienenen Studie zur Rezeption amerikanischer Kultur in Frankreich in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, Seducing the French. The Dilemma of Americanization, charakterisiert Richard Kuisel das kulturelle Klima in den 1980er Jahren in Frankreich folgendermaßen: By the end of the 1980s only traces of what once seemed like hereditary Gallic anti-Americanism survived. The political, ideological, social, and economic bases of the phenomenon had eroded. What remained was essentially the cultural danger, even though that was much diminished. And the mood of France was decidedly pro-American.12

Die von Kuisel identifizierten Restbestände von kulturellem Antiamerikanismus im Frankreich der späten 1980er Jahre machten sich jedoch in öffentlichen Reaktionen auf die Ankündigung und die Eröffnung von EuroDisney in Marne-la-Vallée bei Paris umso stärker bemerkbar. Zahlreiche bekannte französische Persönlichkeiten, insbesondere Intellektuelle, brachten in öffentlichen Stellungnahmen, so Alan Bryman, einen „Gallic horror at the arrival of Euro Disneyland“ zum Ausdruck.13 Zu den berühmtesten Beispielen zählt zweifelsfrei die Charakterisierung EuroDisneys als ein „Chernobyl culturel“ durch die Theaterdirektorin Ariane Mnouchkine,14 doch es lassen sich weitere, z. T. noch extremere Beispiele nennen. So sprach der Philosoph André ComteSponville etwa von einer „invasion de la sous-culture américaine“ („Invasion der amerikanischen Subkultur“) und der Essayist Alain Finkielkraut von einer „colonisation de la culture française par la culture américaine“ („Kolonisierung der französischen durch die amerikanische Kultur“).15 In einem Flugblatt der Initiative „Collectif contre l’Euro-

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KUISEL, 1993, S. 226. BRYMAN, 1999, S. 31. Zit. n. KORFF, 1994, S. 208. Zit. n. EBD., S. 208 und S. 213.

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disneyland“ hieß es schließlich: „L’Europe ne sera pas un satellite américain!“ („Europa wird kein amerikanischer Satellit!“).16 Wie Andrew Lainsbury in seiner Geschichte von EuroDisney anmerkt, betonten viele Kommentatoren, dass ihre Ablehnung keineswegs auf einem wie auch immer gearteten Antiamerikanismus gründete, sondern vielmehr auf „a general distaste for mass-produced simulations of reality“.17 Was die Kritiker einer potentiellen Amerikanisierung der französischen Kultur und die Gegner massen- bzw. populärkultureller Erzeugnisse dagegen einte, war eine Konzeptionalisierung kultureller Produkte als monolithische Objekte, deren inhärentes Wesen sich auch durch den Transfer in einen neuen kulturellen Kontext und durch seine Rezeption in der neuen Umgebung nicht verändern würde. Sie teilten damit eine Vorstellung vom französischen bzw. europäischen Publikum als Rezipienten, die der Vorzugslesart folgen und die durch die Objekte vermittelte ‚Nachricht‘ genau so dekodieren, wie sie kodiert wurde.18 Die Kritiker gingen somit von Modellen transkultureller Dynamiken aus, die allgemein mit den Schlagwörtern Amerikanisierung, Globalisierung oder Kulturimperialismus beschrieben werden können. Diese zumeist negativ besetzten Begriffe bezeichnen generell einen Prozess der Homogenisierung kultureller Praktiken auf globaler Ebene, im Verlaufe dessen sich lokale Kulturen schrittweise einem normativen kulturellen System anpassen. Kulturwandel und transkulturelle Dynamiken werden hier jedoch weniger als Prozess der Veränderung als vielmehr als Prozess der Verdrängung analysiert. Wichtig ist dabei die Unterscheidung zwischen kulturellen Zentren einerseits und kulturellen Randgebieten oder Peripherien andererseits: Es wird angenommen, dass die Homogenisierung von einem mächtigen Zentrum ausgeht, dem sich die schwächeren Peripherien anzupassen haben. Besonders aus dem Blickwinkel der Peripherien stellt sich Globalisierung damit als ein 16 Zit. n. EBD., S. 208. Zahlreiche weitere Beispiele finden sich bei KORFF, 1994 sowie RIDING, 1992. 17 LAINSBURY, 2000, S. 35. Beide Tendenzen verbanden sich jedoch auch häufig, da Massen- bzw. Populärkultur per se als amerikanisch identifiziert wurde. So beschrieb z. B. der Schriftsteller Jean Cau EuroDisney als „a horror made of cardboard, plastic and appalling colors, a construction of hardened chewing gum and idiotic folklore taken straight out of comic books written for obese Americans“ (zit. n. ORVELL, 1993, S. 240). 18 Vgl. HALL, 1980, S. 136f.

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unaufhaltsamer, unausweichlicher Prozess dar, bei dem kulturelle Praktiken des Zentrums lokale kulturelle Praktiken unwiderruflich verdrängen und geradezu zerstören; aus globaler Sicht kommt es dabei zu einem unwiederbringlichen Verlust an Vielfalt kultureller Praktiken. Die Begriffe Globalisierung, kultureller Imperialismus und Amerikanisierung betonen dabei unterschiedliche Aspekte dieses Prozesses: Globalisierung benennt schlicht die Reichweite dieses Kulturwandels – er erfolgt global. Der Begriff Kulturimperialismus dagegen zieht Parallelen zwischen politisch-militärischen Prozessen wie Kolonialismus oder Imperialismus und Kulturwandel und betont das Machtgefälle zwischen kulturellem Zentrum und kultureller Peripherie. Der Begriff der Amerikanisierung schließlich identifiziert explizit Amerika, oder vielmehr die Vereinigten Staaten von Amerika, als das kulturelle Zentrum, von dem aus sich kulturelle Praktiken unaufhaltsam in die Welt verbreiten. Doch nicht nur französische Intellektuelle und Aktivisten rekurrierten auf Globalisierungs-, Kulturimperialismus- und Amerikanisierungsdiskurse, sondern auch die französische Regierung. Rechtliche Grundlage des EuroDisney-Projekts war ein Abkommen zwischen der Walt Disney Company und der französischen Regierung, das „Agreement on the Creation and the Operation of EuroDisneyland in France“, das am 24. März 1987 vom damaligen Geschäftsführer und Vorstandsvorsitzenden der Walt Disney Company, Michael Eisner, und vom damaligen Premierminister Frankreichs, Jacques Chirac, unterzeichnet wurde. Der Wirtschaftswissenschaftler Geoffrey Fink, der das Dokument und die intensiven Verhandlungen, die der Unterzeichnung vorausgingen, analysiert hat,19 kommt zu dem Schluss, dass sich die Unterhändler der Regierung in den Verhandlungen weniger von wirtschaftlichen als vielmehr von kulturellen Gesichtspunkten und Prioritäten leiten ließen: Given the amount of money at issue [...], the French government directed what appeared to be an inordinate amount of attention to the cultural component of the talks. While Disney received tremendous concessions in other areas, it was an object of amusement to certain observers that the same government that willingly granted the project a nearly

19 Vgl. FINK, 2000.

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Florian Freitag US$1 billion loan would expend efforts discussing what Snow White should be called in French.20

Selbstverständlich hatte Frankreich ein Interesse daran, seinen Konkurrenten um das EuroDisney-Projekt, Spanien – mit dem die Walt Disney Company ebenfalls verhandelte –, zu schlagen, um mit EuroDisney einen finanzkräftigen Investor für die wirtschaftlich stagnierende Region der Ile-de-France zu gewinnen. Immerhin versprach man sich von dem Projekt die Schaffung von nicht weniger als 20.000 Arbeitsplätzen innerhalb von zwei Dekaden nach der Eröffnung des Parks. Um den Zuschlag zu erhalten, waren die französischen Unterhändler zu außerordentlichen finanziellen Zugeständnissen bereit: Die immensen Kosten für den Bau des Parks und des angrenzenden Hotel- und Unterhaltungskomplexes sollten im Wesentlichen durch den Verkauf von Aktien sowie durch Kredite eines Konsortiums französischer Banken und des französischen Staates gedeckt werden. Die Walt Disney Company dagegen sollte lediglich vier Prozent des notwendigen Kapitals beisteuern, erhielt dafür jedoch eine 49-prozentige Anteilseignerschaft an der EuroDisney S.C.A., dem Besitzer und Betreiber des Komplexes.21 Im Kontext kultureller Aspekte des Projekts im Allgemeinen und der Gestaltung des EuroDisney-Themenparks im Speziellen stellten die französischen Unterhändler dafür im Gegenzug detaillierte Anforderungen, die ebenfalls im „Agreement“ festgeschrieben wurden: So wurde nicht nur der Gebrauch der französischen Sprache und der französischen Namen von Disney-Charakteren im Bereich des Komplexes reglementiert, das „Agreement“ sah ebenfalls vor, dass es im Park wenigstens eine Attraktion geben würde, die sich mit europäischer Kultur befassen sollte.22 Eine solche Verhandlungsstrategie wird nur dann 20 EBD., S. 58. 21 Vgl. EBD., S. 44. 22 Vgl. EBD., S. 46. Dieser Klausel des „Agreements“ trugen die Parkdesigner mit der Attraktion „Le Visionarium“ Rechnung, einem Kino, in dem auf kreisrund angeordneten Leinwänden der Film From Time to Time gezeigt wurde. Angelehnt an H. G. Wells’ Science-Fiction-Novelle The Time Machine (1895) erzählte dieser Film unter der Regie von Jeff Blyth und unter der Mitwirkung bekannter europäischer Schauspieler wie Michel Piccoli, Gérard Depardieu, Jeremy Irons und Franco Nero die Geschichte einer Zeitreise durch die europäische Geschichte (vgl. FERRANDIS, 1992, S. 104f.). Das „Visionarium“ wurde als „The Timekeeper“ auch in die Dis-

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erklärbar, wenn man davon ausgeht, dass die französische Regierung den Pariser Disney-Park als einen drohenden Fall von kultureller Globalisierung oder Amerikanisierung betrachtete, und dass die Vermeidung eines solchen Exports amerikanischer Kultur nach Paris für die französischen Unterhändler einen mindestens ebenso wichtigen Punkt darstellte wie rein finanzielle Interessen. Ähnlich wie intellektuelle Kritiker und Aktivisten ging die französische Regierung davon aus, dass ein massen- oder populärkulturelles Produkt wie EuroDisney ohne Veränderungen in seinem Wesen und seiner Wirkung in einen fremden kulturellen Kontext exportiert werden könne und versuchte daher durch die Regelungen zum Inhalt des Themenparks gezielt, einem drohenden Prozess der Globalisierung oder Amerikanisierung Einhalt zu gebieten: Nicht Frankreich sollte amerikanisiert, sondern Disneyland europäisiert werden.

Ein Stück Europa kehrt nach Hause In öffentlichen Statements und in der Werbekampagne für EuroDisney reagierte die Walt Disney Company auf unterschiedliche Weise auf solche Konzeptionalisierungen des Projekts als einen Fall von Globalisierung, Kulturimperialismus oder Amerikanisierung. Disneys Reaktion auf die negativen Kommentare von Intellektuellen und Aktivisten war insofern interessant, da – vielleicht wenig überraschend – kein Versuch unternommen wurde, eine differenziertere Betrachtung der den Kritiken zugrunde liegenden Modelle transkultureller Dynamiken anzumahnen. Stattdessen versuchte Disney in öffentlichen Statements, der Debatte den Nährboden zu entziehen, indem man betonte, dass es sich bei EuroDisney weder um ein amerikanisches kulturelles Produkt noch um ein kulturelles Produkt an sich handele, sondern vielmehr um ein an keine spezifische Kultur gebundenes wirtschaftliches Unternehmen. „It’s not America, it’s just Disney“, ließ die Walt Disney Company mit Bezug auf EuroDisney verlautbaren.23 Und auch wenn der damalige Generalneylands in Florida und Japan exportiert, 2004 jedoch in Paris geschlossen. Zur Rolle von Filmen und filmischen Verfahren in Disney-Themenparks vgl. FREITAG, im Erscheinen. 23 Zit. n. KUISEL, 1993, S. 229.

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bevollmächtigte des Parks, Robert Fitzpatrick, sich in einem Interview mit Le Monde am Wochenende der Eröffnung des Parks für eine Öffnung des Kulturbegriffs hin zur Massen- und Populärkultur aussprach,24 versuchte das Unternehmen primär, den Park als „ein Projekt der leisure industry“ zu positionieren und „keinesfalls [als] eine klassische kulturelle Institution, d. h. eine Institution, die beabsichtige, mit den klassischen Kultureinrichtungen, insbesondere des nahen Paris, in Konkurrenz zu treten“.25 Vor allem die Selbstidentifikation als wirtschaftlicher Betrieb, zu der sich die Walt Disney Company angesichts der Kommentare zu den potentiellen kulturellen Auswirkungen ihres Projekts offenbar genötigt fühlte, stellte einen radikalen Bruch mit der früheren Kommunikations- und Identitätspolitik des Konzerns dar: [Walt Disney] was regularly depicted as uninterested in business affairs and personal wealth, and in so doing, he and the organization came to be seen as a place of fantasy and imagination rather than operating in the realm of business and financial considerations. The Eisner-Wells era is associated with a restoration of this sense of kids having fun. Meanwhile, the theme parks heavily disguise their commercial intent.26

Mit der Betonung ihrer primär wirtschaftlichen – statt kulturellen – Ziele versuchte sich die Walt Disney Company zwar einerseits dem Vorwurf des Kulturimperialismus zu erwehren, gab jedoch gleichzeitig die Selbstkonzeption als Institution auf, der vor allem daran gelegen war, Menschen zu unterhalten und nicht etwa einen Gewinn zu erwirtschaften. Ganz anders stellte sich hingegen Disneys Reaktion in an die breitere Öffentlichkeit gerichteten Kommentaren und insbesondere in Werbemitteln wie dem in mehreren europäischen Sprachen veröffentlichten EuroDisney Resort Paris Führer (1992) und der live und zur besten Sendezeit im amerikanischen und europäischen TV ausgestrahlten, ca. zweistündigen Eröffnungsgala mit zahlreichen internationalen Stargästen am 11. April 1992 dar. Hier unterstrich Disney vor allem die europäischen Elemente des Parks und betonte immer wieder, dass der Park 24 Vgl. KORFF, 1994, S. 213f. 25 EBD., S. 212. 26 BRYMAN, 1995, S. 182.

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sowohl in seiner thematischen Gestaltung, im Hinblick auf das operative Geschäft und auch in seiner Materialität ein durch und durch europäisches Produkt sei. So heißt es etwa im EuroDisney Führer unter der Überschrift „Das europäische Disneyland“: Wie auch bei allen anderen Parks war das Disney-Know-How bestimmend für den Entwurf des Euro Disneyland Parks. Seine Verwirklichung jedoch ist das Arbeitsergebnis von Teams aus verschiedenen Ländern. Die Raddampfer wurden in Frankreich gebaut, in Deutschland entstanden zahlreiche Spezialeffekte, und die Fahrzeuge für einige Attraktionen wurden in Italien montiert…27

Disney argumentiert hier, dass der Park von Europäern gebaut worden und somit als europäisch anzusehen sei. Dementsprechend wurde während der TV-Gala ein kurzer Clip gezeigt, in dem u. a. italienische, französische, britische und deutsche Arbeiter bei der Entstehung des Parks gefilmt wurden und in ihrer jeweiligen Landessprache das Bauprojekt und die internationale Arbeitsatmosphäre kommentierten. Sie unterstrichen allesamt, dass EuroDisney das gemeinschaftliche Ergebnis eines paneuropäischen Teams darstelle – ein Park gebaut von Europäern, für Europäer. Dass es sich bei den ausgewählten Arbeitern just um Vertreter derjenigen Länder handelte, die zu den bevölkerungsreichsten Europas und damit zu den Hauptmärkten von EuroDisney zählten, scheint kein Zufall zu sein. Auch in Bezug auf das operative Geschäft betont der EuroDisney Führer, dass der Park ganz und gar auf die Bedürfnisse europäischer Besucher zugeschnitten sei und bezieht sich dabei vor allem auf die Tatsache, dass im Park und in den Hotels mehrere Sprachen gesprochen werden.28 Schließlich betonten der EuroDisney Führer wie auch die Fernsehshow anlässlich der Parkeröffnung auch die spezifisch europäische thematische Ausrichtung des Pariser Disneylands. Hier wurde vor allem das Motiv der ‚Rückkehr Disneys zu seinen europäischen Wurzeln‘ bemüht – in mehrfachem Sinne. So heißt es etwa im EuroDisney Führer:

27 FERRANDIS, 1992, S. 17. 28 Vgl. EBD., S. 46.

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In der Fernsehshow wurde ein kurzer Clip gezeigt (vgl. Abb. 1), in dem der Neffe von Walt Disney neben dem Ortsschild von Isigny-sur-Mer gefilmt wurde und erzählt, wie sehr er sich freue, dass mit EuroDisney seine Familie nun zu ihren Wurzeln zurückfinde.

Abbildung 1: Grand Opening of EuroDisney (1992) EuroDisney wurde somit nicht nur von Europäern gebaut und auf europäische Besucherbedürfnisse abgestimmt, sondern letztlich stammt auch die Idee zu diesem Park von einem Europäer, dessen Familie lediglich einige Generationen lang in Nordamerika weilte. Das Motiv der Rückkehr wurde aber nicht nur in Bezug auf die Biographie Walt Disneys, sondern auch in Bezug auf die Produkte der Walt Disney Company und hier insbesondere auf die Zeichentrickfilme bemüht. Die Parkbroschüre merkt hierzu an, übrigens gleich im Anschluss an die zuletzt zitierte Passage: „Die Figuren der Märchen Dornröschen, Schneewittchen und die sieben Zwerge, Aschenputtel oder Pinocchio, die in den 29 EBD., S. 16.

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Verfilmungen von Walt Disney Kinder aus fünf Kontinenten verzauberten, entstammen der Feder europäischer Dichter. Nun sind sie wieder auf heimatlichem Boden.“30 Passend hierzu wurde im Rahmen der TV-Gala wiederum ein Clip gezeigt, der aus Ausschnitten aus jenen Disney-Zeichentrickfilmen bestand, die auf spezifisch europäischen Vorlagen beruhen – wobei diese Ausschnitte jedoch nicht mit dem originalen, amerikanischen Ton unterlegt wurden, sondern jeweils mit der dem Ursprungsland der Vorlage korrespondierenden Synchronisation. Der Ausschnitt aus dem Film Pinocchio (1940) wurde daher auf Italienisch gezeigt, der Ausschnitt aus Snow White and the Seven Dwarfs (1937) auf Deutsch.31 Wenn die Broschüre eingangs auch von einem „Export“ des Disney-ThemenparkKonzeptes nach Europa spricht,32 so wird im Folgenden somit und ebenso wie in der TV-Gala immer wieder der europäische Charakter von EuroDisney betont, sowohl in Bezug auf die Entstehung des Parks wie auch im Hinblick auf das operative Geschäft und die thematische Gestaltung. Auch diese Strategie seitens der Walt Disney Company ist nur vor dem Hintergrund der Amerikanisierungs- bzw. KulturimperialismusDebatte zu verstehen, die vor der Eröffnung des Parks um das Projekt EuroDisney kreiste. Denn wollte Disney mithilfe der Betonung des europäischen Charakters von EuroDisney auch primär die Vorwürfe von Kulturimperialismus widerlegen, so musste man gleichzeitig in Kauf nehmen, dass eine solche Identifizierung dem Grundgedanken des Projekts widersprach. Ziel und Sinn der globalen Expansionsstrategie der Walt Disney Company und ihrer Themenparks bestanden ja vor allem darin, an verschiedenen Orten ein möglichst ähnliches Produkt anzubieten, um dadurch den strukturellen Nachteil der Standortgebun30 EBD., 1992, S. 16f. 31 Das Motiv der Rückkehr wurde auch von Brad Prager, Michael Richardson und Stacy Warren in ihren Analysen von EuroDisney bemüht, allerdings in einem anderen Zusammenhang: Prager und Richardson zufolge reflektieren Disneys Themenparks strukturell und ideologisch die ursprünglich europäischen Konzepte der Aufklärung und des Kapitalismus, die nun in Form von EuroDisney wieder nach Europa zurückkehrten (vgl. PRAGER/ RICHARDSON, 1997, S. 204). Warren dagegen sieht EuroDisney als Projekt einer Kolonialmacht, mit dem der kolonialistische Impuls an seinen Ursprungsort Europa zurückkehre (vgl. WARREN, 1999, S. 113 und S. 123). 32 FERRANDIS, 1992, S. 16.

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denheit von Themenparks auszugleichen: Wer Disneyland besuchen wollte und wem die Reise nach Nordamerika bzw. Japan bislang zu weit und/oder zu teuer war, sollte nun dennoch die Gelegenheit dazu erhalten, und zwar näher an seinem Zuhause. Das Publikum stellte also, unabhängig vom geographischen Standort des Parks, bestimmte Erwartungen an einen Disney-Themenpark, und zu große Veränderungen am Produkt selbst hätten diese Erwartungen enttäuschen und insofern der Marke ‚Disneyland‘ Schaden zufügen können.

‚D is n e y la n d ‘ a ls M a r k e . T o k y o D is n e y la n d u n d M a g ic K in g d o m Im Falle des 1982 eröffneten Tokyo Disneylands hatte sich die Walt Disney Company im Wesentlichen dazu entschieden, in Tokio eine nahezu identische Kopie des Magic Kingdom von Walt Disney World in Florida zu errichten.33 Für bestimmte, besonders exponierte und ikonische Bauwerke auf dem Parkgelände wie etwa das Schloss im Zentrum des Parks wurden die Baupläne aus Florida, wie ein einfacher Abgleich zeigt, schlicht und einfach kopiert. In lediglich einem visuell stark hervortretenden Punkt unterschied sich Tokyo Disneyland bei seiner Eröffnung von seinem amerikanischen Schwesterpark: Angesichts des feuchteren und kühleren Klimas in Tokio hatte man sich dazu entschlossen, bestimmte Bereiche des Parks mit einer gläsernen Überdachung zu versehen. Abgesehen davon jedoch war es für Besucher zumindest auf den ersten Blick oft nahezu unmöglich festzustellen, ob sie sich gerade im Magic Kingdom in Florida oder im Tokyo Disneyland in Japan befanden. Am prägnantesten drückte sich diese Strategie des schlichten Kopierens wohl in der Namensgebung aus: Tokyo Disneyland war genau das – ein nach Tokio verfrachtetes oder exportiertes Disneyland. Zwar haben mehrere Kritiker, allen voran Aviad E. Raz in seiner detailreichen Studie zu Tokyo Disneyland, Riding the Black Ship (1999), eingewandt, dass es im Fall von Tokyo Disneyland nicht angebracht 33 Vgl. hierzu etwa BRYMAN, 1995, S. 75; LAINSBURY, 2000, S. 50; FINK, 2000, S. 37.

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sei, von einem schlichten Export eines massenkulturellen Produkts von den USA nach Japan auszugehen. So bemerkt etwa Mitsushiro Yoshimoto: „[T]he slight differences between the ‚original‘ Disneyland and Tokyo Disneyland, no matter how minor they might be, make the traditional discourse of cultural imperialism inadequate for explaining the specificity of Tokyo Disneyland.“34 Die von Yoshimoto genannten Beispiele – die gläserne Überdachung von Main Street sowie deren Umbenennung in „World Bazaar“ – sind jedoch nur z. T. auf kulturelle Faktoren zurückzuführen und im Falle der Umbenennung auch visuell nicht sonderlich prominent. Raz’ Studie geht ebenfalls davon aus, dass es sich bei Tokyo Disneyland nicht um einen Fall von Amerikanisierung bzw. Kulturimperialismus handelt, begründet dies jedoch vor allem mit dem Umgang der japanischen Gäste mit dem Park: „On the face of it, this may seem to be a case study in cultural imperialism. My main argument is, however, that [Tokyo Disneyland] reveals the opposite – namely, the active appropriation of Disney by the Japanese.“35 Es ist zutreffend, dass Beobachtungen einer „active appropriation“ seitens der Besucher eine Analyse von Tokyo Disneyland als amerikanisierend und kulturimperialistisch mit Blick auf das Gesamtbestehen des Parks wenig fruchtbar erscheinen lassen, doch sagt dies wenig über die Parkplanung und -gestaltung an sich aus. Disneys Strategie des Kopierens war jedoch auch mehr als nur der Versuch, den Wünschen der japanischen Projektbeteiligten entgegenzukommen, eine möglichst authentische Disneyland-Erfahrung zu produzieren.36 Selbstverständlich bot diese Strategie zum einen finanzielle Vorteile für die Walt Disney Company – die Planungs- und Entwicklungskosten für Tokyo Disneyland konnten relativ gering gehalten werden, da man auf die Pläne für die existierenden amerikanischen Parks zurückgreifen konnte. Zum anderen jedoch hatte man bei der Eröffnung des Magic Kingdom in Florida 1971 die Erfahrung gemacht, dass man die Erwartungen der Besucher an die Marke ‚Disneyland‘ nicht dadurch enttäuschen durfte, indem man das Modell zu sehr abänderte. 34 YOSHIMOTO, 1994, S. 193. 35 RAZ, 1999, S. 3. Ähnlich rezeptionsorientierte Analysen des 2005 eröffneten Hong Kong Disneylands bieten CHOI, 2013 und FUNG/LEE, 2009. 36 Vgl. BRYMAN, 1995, S. 75; FINK, 2000, S. 37.

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Disney hatte bei der Planung des Magic Kingdom etwa gänzlich auf eine Kopie des beliebten Fahrgeschäfts „Pirates of the Caribbean“ verzichtet und wollte stattdessen eine – technisch ähnliche, thematisch jedoch eher am amerikanischen Westen denn an karibischen Piraten orientierte – Attraktion namens „Western River Expedition“ bauen.37 Nach zahlreichen Besucherprotesten entschloss man sich jedoch bereits 1973, die Pläne für diese neue Attraktion aufzugeben und stattdessen eine verkürzte Version des Disneyland-Originals im Magic Kingdom zu errichten. Disney musste damit eingestehen, die Erwartungen der Besucher des neuen Parks an die Marke ‚Disneyland‘, zu denen das Vorhandensein eines „Pirates“-Fahrgeschäfts offensichtlich zählte, falsch eingeschätzt zu haben. Es erscheint daher nur folgerichtig, wenn Disney im Falle von Tokyo Disneyland weitestgehend auf eine Kopie des Originals setzte, um ähnliche Erfahrungen in Japan zu vermeiden.

G lo k a lis ie r u n g u n d B r a n d in g – E u r o D is n e y Im Falle von EuroDisney galt es wiederum und zum einen, die Erwartungen der Besucher an die Marke ‚Disneyland‘ nicht zu enttäuschen und ihnen im EuroDisney eine authentische Disneyland-Erfahrung zu bieten. Gleichzeitig mussten die Parkplaner jedoch der virulenten Amerikanisierungs- und Kulturimperialismus-Debatte um den Pariser Park Rechnung tragen sowie angesichts der im „Agreement“ festgelegten Anforderungen an eine zumindest begrenzte, spezifisch europäische thematische Ausrichtung des Parks auf eine schlichte Kopie oder einen Export der amerikanischen Parks nach Europa verzichten. Statt eines Disneylands in Europa galt es, ein europäisches Disneyland zu entwerfen – ein EuroDisney. Die Designer entschieden sich folglich für eine Strategie, die in global operierenden Unternehmen und in der kulturwissenschaftlichen Forschung wahlweise als antizipatorische Lokalisierung, Glokalisierung, Hybridisierung oder Kreolisierung bezeichnet wird. Die Begriffe Lokalisierung, Glokalisierung, Hybridisierung und Kreolisierung beschreiben zunächst ein theoretisches Modell, das als Alternative oder

37 Vgl. N. N., 2013.

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besser als Verfeinerung der Globalisierungs- oder Amerikanisierungstheorie angesehen werden kann. Grundgedanke dieses Modells ist, ähnlich wie bei Globalisierung oder Amerikanisierung, dass transkulturelle Dynamiken von einem kulturellen Zentrum ausgehen. Im Modell der Glokalisierung, Hybridisierung oder Kreolisierung führt dies jedoch nicht zu einer absoluten Homogenisierung kultureller Prozesse. Denn, so die Annahme, kulturelle Prozesse verbreiten sich in der Peripherie in unterschiedlichem Maße und auf unterschiedliche Weisen. Kulturelle Formen und Praktiken passen sich bis zu einem gewissen Punkt an lokale Gegebenheiten an. Modelle von Lokalisierung, Glokalisierung etc. gehen somit davon aus, dass kulturelle Formen und Praktiken aus dem Zentrum die Kultur der Peripherie nicht unbedingt verdrängen, sondern sich anpassen und in lokale kulturelle Systeme einfügen. Die unterschiedlichen Begriffe Glokalisierung, Hybridisierung und Kreolisierung tragen diesem Gedanken auf unterschiedliche Art und Weise Rechnung: Die Wortschöpfung Glokalisierung etwa verbindet die Begriffe Globalisierung und lokal zu dem Begriff Glokalisierung;38 die Begriffe Hybridisierung und Kreolisierung greifen metaphorisch auf Biologie und Sprachwissenschaft zurück, um die Anpassung kultureller Praktiken des Zentrums an lokale Gegebenheiten zu beschreiben.39 Aus Glokalisierung, Hybridisierung oder Kreolisierung hervorgegangene kulturelle Formen oder Praktiken sind also in diesem Sinne aus Kulturkontaktsituationen hervorgegangene kulturelle Mischformen. Es gilt dabei jedoch zu beachten, dass etwa global operierende Unternehmen Glokalisierungsphänomene auch antizipieren können. Was sie exportieren, sind keine reinen Kulturformen oder -praxen, sondern von vorneherein als Mischform konzipierte Kulturprodukte. Begriffe wie „globale Lokalisierung“40 oder „anticipatory localization“41 beschreiben somit Prozesse, in denen firms adapt […] to local conditions in anticipation of how they are likely to be received. Thus, when entering a new market, based on their knowledge of local conditions and customs, a service firm anticipates

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Vgl. ROBERTSON, 1995; GROSSBERG, 2005. Vgl. TOMLINSON, 1999, S. 144; HANNERZ, 1988, S. 16. BECK, 1997, S. 86. BRYMAN, 2004, S. 162.

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Florian Freitag the likely receptiveness to its services and how they are to be delivered by fine-tuning them to the host culture.42

Für Fredric Jameson stellen Phänomene antizipatorischer Lokalisierung ein herausragendes Kennzeichen des Postfordismus dar. In The Seeds of Time argumentiert Jameson, dass sich der Fordismus dadurch auszeichne, dass zentral hergestellte Produkte in aller Welt vermarktet wurden, während der Postfordismus seine Produkte an individuelle (lokale bzw. regionale) Märkte anpasse.43 Eben diese Strategie wandten die Designer Disneys im Falle des Pariser Parks an, um nicht etwa – analog zu Tokyo Disneyland – ein ‚Paris Disneyland‘ oder ein ‚Europe Disneyland‘ zu gestalten, sondern eine Mischform, die sich weder zu weit vom Original entfernte noch Glokalisierungseffekte unbeachtet ließ – eben ein ‚EuroDisney‘. In kulturkritischen Analysen des Pariser Disney-Parks wurde den Bemühungen der Parkdesigner um eine antizipatorische Glokalisierung allenfalls ein bescheidener Erfolg beigemessen. Kulturhistoriker wie Richard Pells, Alan Bryman und zuletzt Christian Renaut und Richard Kuisel bemängeln einhellig, dass EuroDisney zumindest bei seiner Eröffnung 1992 zu wenig ‚Euro‘ enthalten habe.44 Pells etwa hat argumentiert, dass Disney einen Park erschaffen habe, „that was identical in its layout and landmarks to Disneyland and Walt Disney World“.45 Ähnlich hat Bryman festgestellt: „Anticipatory localization was not a prominent feature of the park.“46 Renaut schreibt: „It is true that the Disney Imagineers back in Glendale, California, tried to devise new attractions which 42 EBD. 43 Vgl. JAMESON, 1994, S. 204. Für Jameson ergibt sich hieraus das Problem, das nur noch schwerlich über die Authentizität lokaler bzw. regionaler Kulturen geurteilt werden könne (EBD.), ein Problem, das im Kontext von Themenparks – die etwa unter dem Stichwort „Distory“ (FJELLMAN, 1992, S. 59) immer wieder für die mangelnde Authentizität insbesondere ihrer Inszenierungen historischer Kulturen und Epochen kritisiert worden sind – besondere Brisanz erlangt. 44 Einige Forscher behaupten, dass Disney seine Produkte generell nicht glokalisiere (vgl. etwa PHILLIPS, 2001, S. 45 und FUNG/LEE, 2009, S. 197f.) bzw. dass Themenparks generell nicht auf ihre Standorte referierten (vgl. PHILIPS, 1999, S. 92). 45 PELLS, 1997, S. 309. 46 BRYMAN, 2004, S. 164.

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could glorify the old European legends and books. But [...] the whole thing eventually boiled down to a few details here and there.“47 Und in seinem 2012 veröffentlichten Buch The French Way. How France Embraced and Rejected American Values and Power fragt Richard Kuisel: „What concessions did Disney management make to Europeans in its Magic Kingdom?“ und kommt zu dem Ergebnis: „There were many, but all were minor and did little to ‚Europeanize‘ the site. [...] [T]he park remained a fantasized version of America.“48 Verglichen mit einigen der neuartigen und durchaus gewagten Konzepte, die von den Designern in der Frühphase der Planung für EuroDisney vorgeschlagen wurden,49 wirken die im EuroDisney letztlich realisierten Pläne in der Tat eher konservativ und sind in einigen Fällen, wie Pells richtig bemerkt hat, mehr oder weniger identisch mit denen der amerikanischen und japanischen Parks. Letztlich sind jedoch die Aussagen Pells’, Brymans, Renauts und Kuisels dahingehend zu qualifizieren, dass sie zum einen die Rolle der Marke ‚Disneyland‘ bei der Planung von EuroDisney nicht hoch genug einschätzen und zum anderen übergehen, dass Disney für das Pariser Projekt nicht das Grundkonzept von Disneyland generell überarbeitete, sondern einzelne Elemente dieses Grundkonzeptes mithilfe unterschiedlicher Strategien an die lokale kulturelle Umgebung anzupassen versuchte. Um den europäischen Besuchern eine möglichst authentische Disneyland-Erfahrung zu bieten und die Marke ‚Disneyland‘ nicht zu sehr zu verfälschen, behielt Disney elementare Bestandteile von Disneyland – vom Grundaufbau des Parks bis hin zu einzelnen Formelementen wie etwa Attraktionen und Restaurants – bei, verwendete aber gleichzeitig mehrere unterschiedliche Strategien der antizipatorischen Glokalisierung, um diese Elemente in den europäischen kulturellen Kontext einzubetten. Im Folgenden werde ich versuchen, dies an den Beispielen des Parklayouts sowie der Themengebiete Adventureland, Fantasyland und Discoveryland genauer aufzuzeigen.

47 RENAUT, 2011, S. 128. 48 KUISEL, 2012, S. 165. 49 Vgl. die Skizzen und Zeichnungen in GHEZ, 2002.

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Abbildung 2a: Parkplan von Disneyland (Kalifornien, 1988)

Abbildung 2b: Parkplan von EuroDisney (1992) Ein Vergleich eines Parkplans von Disneyland (Kalifornien) aus dem Jahr 1988, als sich EuroDisney in der letzten Planungsphase und kurz vor Baubeginn befand (vgl. Abb. 2a), und einer Karte von EuroDisney aus dem Jahr 1992, als der Park eröffnet wurde (vgl. Abb. 2b), legt auf den ersten Blick keine wesentlichen Veränderungen im Parklayout

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nahe: Beide Parks sind gemäß dem „Magic Wand Pattern“ strukturiert,50 der Haupteingang wird durch eine von Geschäften und Restaurants gesäumte Allee mit dem Zentrum des Parks und dem Schloss verbunden, von dem aus sich verschiedene Themenbereiche gleich Speichen eines Rads abspreizen. Gleichzeitig wurde die Allee jedoch von ‚Main Street‘ in ‚Main Street, USA‘ und ‚Tomorrowland‘ in ‚Discoveryland‘ umbenannt, die kleineren Themenbereiche Bear Country und New Orleans Square sind beide von der Karte verschwunden und Frontierland und Adventureland haben die Plätze getauscht. Ein Vergleich der beiden Karten liefert folglich ein ambivalentes Bild: Während einige Bereiche des kalifornischen Parks, die sich vor allem auf regionale Mythen der USA beziehen (Bear Country auf den ländlichen Süden der USA, New Orleans Square auf die SüdstaatenMetropole in Louisiana), komplett verschwanden, wurde im EuroDisney generell der amerikanische Charakter anderer Bereiche stärker betont. So wurde aus ‚Main Street‘ etwa ‚Main Street, USA‘, und durch die veränderte Platzierung von Adventureland und Frontierland wurde in der südwestlichen Ecke des Pariser Themenparks ein Gebiet geschaffen, dass sich thematisch explizit mit den USA beschäftigt, wohingegen sich die nordöstliche Ecke mit Adventureland, Fantasyland und Discoveryland weniger auf die USA zu beziehen scheint. Und diese drei Themengebiete sind es auch, an denen sich Disneys unterschiedliche Strategien antizipatorischer Glokalisierung besonders gut beobachten lassen.51 Kritiker haben oft argumentiert, dass sich die amerikanischen Adventurelands unterschwellig mit Themen wie Kontrolle und Eroberung der Natur bzw. Kolonialismus befassen. Mark Gottdiener etwa hat in seiner analytischen Verbindung einzelner Themenbereiche Disneylands mit spezifischen Formen des Kapitalismus das Adventureland mit Kolonialismus assoziiert,52 während der Anthropologe Stephen Fjellman das Adventureland im Magic Kingdom (Florida) als „the cartoon history of colonialism and Empire“ bezeichnet hat.53 In der Tat beziehen sich die amerikanischen Adventurelands in ihrer thematischen Gestaltung auf geographische Gebiete, die die 50 Vgl. MITRASINOVIC, 2006, S. 127. 51 Eine ausführliche Analyse der Translation von Frontierland in den europäischen Kontext findet sich bei LAINSBURY, 2000, S. 57-59. 52 Vgl. GOTTDIENER, 1982. 53 FJELLMAN, 1992, S. 225.

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USA in der Entstehungszeit von Disneyland und Magic Kingdom, also ab dem Beginn des Kalten Krieges, als Teil ihrer politisch-ideologischen Einflusssphäre sahen, insbesondere Südamerika und die Karibik. Von der Attraktion „Pirates of the Caribbean“ bis hin zum lateinamerikanischen Setting der „Jungle Cruise“-Bootsfahrt greifen die Adventurelands Themen aus diesen geographischen Gebieten auf, so dass man sie als eine Themenpark-Aufbereitung der Monroedoktrin ansehen könnte. Im Pariser Park wurden Kernelemente der US-Adventurelands wie die „Pirates of the Caribbean“ samt eingebettetem Restaurant, das „Swiss Family Treehouse“ und das exotische Setting generell beibehalten. Wie Konzeptskizzen zeigen, sollte EuroDisney auch eine Version der „Jungle Cruise“-Bootsfahrt erhalten, die jedoch aus Witterungsgründen nie realisiert wurde.54 Die Besucher von EuroDisney sollten auf diese bekannten Klassiker der amerikanischen Parks nicht verzichten müssen. Der grundlegende Geist von Kolonialismus und Imperialismus wurde im Pariser Adventureland ebenfalls beibehalten, jedoch in einen neuen, spezifisch europäischen Kontext versetzt. Wie bereits Fjellman, Smoodin und Warren angemerkt haben,55 wurden die lateinamerikanischen und karibischen Settings in den amerikanischen Adventurelands im EuroDisney durch die Landschaften einiger ehemaliger afrikanischer und asiatischer Kolonien Frankreichs und Großbritanniens ersetzt. Die tropische Gestaltung des Eingangs des kalifornischen Adventurelands etwa wich einer stilisierten maghrebinischen Wüstenburg inklusive eines Basars am Eingang zum Adventureland von EuroDisney. Daran anschließend sind im hinteren Teil des Themenbereichs bestimmte Teilbereiche Zentralafrika (das Gebiet rund um das Restaurant „Aux épices enchantées“) und Indien (das Gebiet zwischen „Adventure Isle“ und dem „Explorer’s Club Restaurant“) gewidmet. Das „Explorer’s Club Restaurant“ ist ein besonders interessantes Fallbeispiel: Passend zu der im Kolonialstil gehaltenen Architektur des Gebäudes wurden exotische Speisen serviert, während im Hintergrund eine Figur namens Doctor Livingstone die Gäste unterhielt.56 Diese Figur referierte auf den schottischen Entdecker David Livingstone, der 54 Vgl. LITTAYE, 2013. 55 FJELLMAN, 1992, S. 225; SMOODIN, 1994, S. 15f.; WARREN, 1999, S. 116. 56 Vgl. die Beschreibung des Restaurants in FERRANDIS, 1992, S. 84.

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im 19. Jahrhundert Expeditionen an die Mündungen des Nils und des Sambesis in Zentralafrika unternahm. Das „Explorer’s Club“ war jedoch eines derjenigen Restaurants, das kurz nach der Eröffnung des Parks von einem Restaurant mit Tischbedienung in ein Schnellrestaurant umgestaltet wurde. Disney hatte fälschlicherweise angenommen, dass die europäischen Besucher von EuroDisney auch im Themenpark nicht auf ausgiebige Mahlzeiten verzichten würden und hatte deshalb insgesamt sechs Restaurants mit Tischbedienung im Park eröffnet, doppelt so viele wie im kalifornischen Disneyland. Dieser Versuch der antizipatorischen Glokalisierung scheiterte jedoch, da die Mehrzahl der Restaurants nur schlecht frequentiert wurde. Im Zuge des Umbaus des „Explorer’s Club“ in ein Schnellrestaurant wurde auch die Figur des Doctor Livingstone entfernt und das Restaurant in „Colonel Hathi’s Pizza Outpost“ umbenannt. Colonel Hathi ist eine Figur aus Disneys 1967 veröffentlichtem Zeichentrickfilm The Jungle Book, eine Adaption der 1894 unter eben diesem Titel publizierten, in Indien angesiedelten Erzählungen des britischen Autors Rudyard Kipling. Während also das Menü des Restaurants geändert wurde, wurde die thematische Referenz auf den britischen Kolonialismus beibehalten und lediglich von Afrika nach Indien verlagert. In der Umgestaltung des „Explorer’s Club Restaurant“ verbinden sich so Intermedialität, Transkulturalität und Glokalisierung, wenn sich das Grundthema des britischen Kolonialismus gleichermaßen durch die Medien Literatur, Film und Themenpark zieht und sich zwischen Großbritannien, Afrika und Indien einerseits und zwischen Großbritannien, den USA und Paris andererseits bewegt. Durch die Beibehaltung der Verbindung von politischem Kolonialismus und kulturellem Exotismus und durch die gleichzeitige thematische Verschiebung von einem spezifisch amerikanischen Imperialismus des 20. Jahrhunderts zu einem europäischen Kolonialismus des 19. Jahrhunderts versuchten die Parkdesigner somit im Pariser Adventureland den Anforderungen des Branding und der antizipatorischen Glokalisierung gleichzeitig Rechnung zu tragen. Anders im Pariser Fantasyland: Die amerikanischen Fantasylands warten mit einer Reihe von Themenfahrten auf, die auf verschiedenen Zeichentrickfilmen von Disney basieren, so z. B. „Mad Tea Party“ (Alice in Wonderland, 1951) oder „Peter Pan’s Flight“ (Peter Pan, 1953). Auf den ersten Blick erscheint das Fantasyland im EuroDisney

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hinsichtlich des Angebots an Attraktionen wie auch der visuellen Gestaltung der Gebäude wie eine mehr oder weniger originalgetreue Kopie der amerikanischen Vorbilder. Den einzigen Versuch einer antizipatorischen Glokalisierung scheint „Alice’s Curious Labyrinth“ darzustellen, ein Irrgarten, der sich thematisch an den Film Alice in Wonderland anlehnt und gleichermaßen, wie im EuroDisney Führer betont wird, in der europäischen „Tradition der Labyrinthgärten“ steht.57 Bei genauerem Hinsehen jedoch zeigt sich, dass die einzelnen Disney-Zeichentrickfilmen gewidmeten Fahrgeschäfte und Restaurants für das Pariser Fantasyland neu angeordnet wurden, und zwar auf der Grundlage der europäischen Nationalstaaten, aus denen die Literaturvorlagen für die einzelnen Filme stammen. Wie Didier Ghez bemerkt: „The Imagineers also thought it was important to honor the countries of Europe that have provided the backdrop for many Disney films. As you stroll through Fantasyland, you will find yourself in Germany, Italy, England, France, Holland, and Belgium.“58 „Alice’s Curious Labyrinth“ bildet zusammen mit „Peter Pan’s Flight“, „Toad Hall Restaurant“, „Mad Hatter’s Tea Cups“ und „March Hare Refreshments“ einen Unterthemenbereich in der nordwestlichen Ecke von Fantasyland, dessen Attraktionen und Restaurants sich allesamt auf Disney-Filme beziehen, die auf britischen Literaturvorlagen beruhen. „Peter Pan’s Flight“ etwa rekurriert auf den Film Peter Pan (1953), der wiederum auf dem Theaterstück Peter Pan; Or, The Boy Who Wouldn’t Grow Up des schottischen Autors James M. Barrie aus dem Jahr 1904 basiert. „Alice’s Curious Labyrinth“, „Mad Hatter’s Tea Cups“ und „March Hare Refreshments“ referieren auf den Film Alice in Wonderland (1951), der wiederum auf den 1865 und 1871 erschienenen Romanen Alice’s Adventures in Wonderland und Through the Looking-Glass des englischen Autors Lewis Carroll fußt. „Toad Hall Restaurant“ schließlich basiert auf dem Zeichentrickfilm The Adventures of Ichabod and Mister Toad von 1949, eine Adaption des Romans The Wind in Willows, der 1908 von dem Schotten Kenneth Grahame veröffentlicht wurde. Attraktionen, Shops und Restaurants, die auf diesen drei Filmen fußen, finden sich wohlgemerkt auch im kalifornischen Fantasyland. Im Gegensatz zum Pariser Park befinden sich diese Elemente aber nicht gebündelt an 57 EBD., S. 15. 58 GHEZ, 2002, S. 181.

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einem Ort, sondern sind scheinbar wahllos über den gesamten Themenbereich verteilt (vgl. Abb. 3a und 3b).

Abbildung 3a: Parkplan von Disneyland (Kalifornien, 1988; Ausschnitt)

Abbildung 3b: Parkplan von EuroDisney (1992; Ausschnitt) Der britische Subthemenbereich des Pariser Fantasylands ist sicherlich der prominenteste, doch lassen sich auch französische, italienische und deutsche Gebiete ausmachen. Im Fall von Fantasyland bestand Disneys Strategie folglich in einer Neuanordnung existierender Attraktionen und

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Restaurants nach europäischen Nationalstaaten bzw. -literaturen, wodurch wiederum versucht wurde, dem Branding und der Glokalisierung gleichermaßen gerecht zu werden. Im Fall von Discoveryland schließlich – Renaut zufolge der einzige Themenbereich, in dem ein „European ‚plus‘“ überhaupt sichtbar werde59 – wurde wiederum eine andere Strategie verwendet, um den amerikanischen Tomorrowlands zumindest teilweise eine europäische Note zu verleihen, ohne die Erwartungen der Besucher an die Marke ‚Disneyland‘ zu enttäuschen. Disneys Darstellung der Zukunft in Tomorrowland sind von der Forschung immer wieder als eine hypertechnisierte und korporatisierte Fortsetzung der Gegenwart (ohne Änderungen sozialer und politischer Strukturen) bezeichnet worden.60 In der Tat bestand das kalifornische Tomorrowland bei seiner Eröffnung aus wenig mehr als einer Ansammlung von Ausstellungen bekannter amerikanischer Industriekonzerne. Alan Bryman etwa argumentiert, dass auf diese Weise die Zukunftsvorstellungen der Besucher mit bestimmten Konzernen und deren Produktneuheiten statt mit utopischen Experimenten und Erfindungen verknüpft wurden.61 Tomorrowland zufolge, so Bryman, liegt die Zukunft der Menschheit fest in der Hand amerikanischer Großkonzerne: „The corporation is depicted as gradually improving our position, as recognizing and overcoming the problems of the recent past, and as working on our behalf for the future.“62 Im Pariser Discoveryland hingegen finden sich statt amerikanischem Korporatismus Attraktionen und Fahrgeschäfte, die sich an die Werke europäischer Erfinder und Science-Fiction-Autoren der Renaissance und des 19. Jahrhunderts anlehnen. Wie auch im Pariser Fantasyland waren die Parkdesigner hier darum bemüht, die verschiedenen Nationen Europas gleichermaßen zu repräsentieren. So basiert das Design des Karussells „Orbitron – Machines volantes“ auf den Planetenmodellen des Italieners Leonardo da Vinci, der Film From Time to Time basiert auf der 1895 veröffentlichten Science-Fiction-Novelle The Time Machine des britischen Autors H. G. Wells und ein Zitat des französischen Autors

59 60 61 62

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RENAUT, 2011, S. 133. Vgl. PRAGER/RICHARDSON, 1997, S. 211-213. BRYMAN, 1995, S. 134f. EBD., S. 145.

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Jules Verne ziert eine Säule am Eingang zum Discoveryland.63 Im Pariser Discoveryland wurden somit die gegenwärtigen Zukunftsvorstellungen amerikanischer Konzerne aus dem kalifornischen Tomorrowland durch die vergangenen Zukunftsvisionen europäischer Künstler und Visionäre ersetzt. Dieser Neuansatz hatte für Disney einen entscheidenden ästhetischen und wirtschaftlichen Vorteil: Im Zuge des Paradigmenwechsels von Tomorrowland zu Discoveryland wurde die architektonische Gestaltung dieses Themenbereichs komplett neu konzipiert. Die modernen, vornehmlich in weiß gehaltenen Gebäude Tomorrowlands wurden durch einen Mix aus Jugendstil, Art déco und Steampunk ersetzt, der in Verbindung mit Neon- und Laserbeleuchtung sowie der SyntheziserHintergrundmusik des Komponisten David Tolley dem Themenbereich eine gleichzeitig nostalgische und futuristische Atmosphäre vermitteln sollte. Die Parkdesigner versuchten damit ein Problem zu lösen, dass das kalifornische Tomorrowland seit seiner Eröffnung 1955 plagte: Es wirkte zu keinem Zeitpunkt wirklich futuristisch, sondern vielmehr gegenwärtig, mehr wie ein ‚Todayland‘ als ein Tomorrowland. Die zahlreichen, teilweise kompletten Umgestaltungen des Themenbereichs im Laufe der Jahre hatten nicht verhindern können, dass die Ästhetik der Gegenwart die Zukunft immer wieder einholte. Im Kapitel zu „Designs of the Future“ ihres Buchs Building a Dream. The Art of Disney Architecture beschreibt die Architekturkritikerin Beth Dunlop das Problem folgendermaßen: When the future took concrete expression, it seemed to lose its poetry and instead become commonplace, yielding structures little differentiated from the thousands of anonymous office buildings and warehouses that line America’s cities and suburbs. „We’d gotten locked into the idea that the future was white stucco and gleaming glass“ [said Tony Baxter, head designer of EuroDisney].64

63 Mit den 1994 bzw. 1995 eröffneten Attraktionen „Space Mountain – De la terre à la lune“ und „Les Mystères du Nautilus“ fanden Jules Verne und speziell seine Romane De la terre à la lune (1865) und Vingt mille lieues sous les mers (1869/1870) eine noch prominentere Repräsentanz im Discoveryland. 64 DUNLOP, 1996, S. 140.

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Discoveryland versprach mit seinem Konzept einer Retro-Zukunft eine dauerhafte Lösung eines ästhetischen und kostspieligen Problems und gleichzeitig eine Möglichkeit, das amerikanische Tomorrowland zu europäisieren, ohne auf markenprägende Attraktionen wie „Space Mountain“ verzichten zu müssen. In der Tat erachteten die Parkdesigner das Experiment Discoveryland als so erfolgreich, dass sein Konzept auch für die Gestaltung der amerikanischen Tomorrowlands wegweisend wurde. Nur wenige Jahre nach der Eröffnung von EuroDisney wurden die amerikanischen Tomorrowlands erneut komplett umgestaltet, diesmal jedoch tauschten sich die Rollen und der Pariser Park diente als Vorbild: Aus der kulturellen Peripherie des Disneyland-Universums war plötzlich ein Zentrum geworden.

F a z it Wie die vorangegangenen Beispiele gezeigt haben, sind die Bemühungen der Designer von EuroDisney um eine antizipatorische Glokalisierung des Parks weniger, wie von Kritikern wie Pells, Bryman und Kuisel behauptet, als vernachlässigbar oder gar gescheitert anzusehen. Vielmehr waren sie gleichermaßen von Versuchen bestimmt, den Disneyland-Themenpark einem neuen kulturellen Kontext anzupassen, sowie von Bemühungen um eine Wahrung der Markenidentität von Disneyland. Mit jeweils unterschiedlichen Strategien der Lokalisierung für das Gesamtlayout des Parks sowie für die einzelnen Themenbereiche Adventureland, Fantasyland und Discoveryland strebten die Designer danach, ein EuroDisney zu schaffen, keine nach Paris verfrachtete Kopie von Disneyland, sondern eine kulturelle Mischform von Disneyland und Europa. Sie setzten damit zu einem Zeitpunkt auf Konzeptionalisierungen transkultureller Dynamiken als (antizipatorische) Lokalisierung, Glokalisierung, Hybridisierung oder Kreolisierung, als die öffentliche und kulturkritische Debatte um EuroDisney, insbesondere in den Aussagen französischer Intellektueller und Aktivisten, aber auch der Marketingabteilung Disneys und der Unterhändler der französischen Regierung, noch stark von Amerikanisierungs-, Globalisierungs-, bzw. Kulturimperialismus-Diskursen geprägt war. Befürchteten Kritiker und Gegner des EuroDisney-Projekts, dass mit dem Komplex ein Stück

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Amerika nach Europa kommen und das Departement Seine-et-Marne damit zum 51. amerikanischen Bundesstaat werden würde,65 so waren sich die Parkdesigner offenbar der Tatsache bewusst, dass kulturelle – auch massenkulturelle – Erzeugnisse nicht unverändert in einen neuen kulturellen Kontext exportiert werden können, sondern unweigerlich auf eine spezifisch lokale Art und Weise rezipiert werden, und dass solche Prozesse auch bis zu einem gewissen Grade antizipiert werden können. Gleichzeitig wussten die Parkgestalter jedoch auch um die Bedeutung der Markenidentität von Disneyland im Speziellen und Themenparks im Allgemeinen, lange bevor die kulturwissenschaftliche Themenparkforschung die Rolle von Branding in Themenparks und Themenwelten aufgriff. Nur so ist zu erklären, dass bei der antizipatorischen Glokalisierung von EuroDisney Entscheidungen fielen, die oftmals als zu zaghaft gewertet wurden. Selbstverständlich konnten die Parkdesigner zum Zeitpunkt des Baus und der Eröffnung des Parks die Reaktionen des Publikums auf den Park sowie die in der Folge notwendigen Maßnahmen responsiver Glokalisierung von EuroDisney nur teilweise voraussagen. In der Tat zeigte sich bald nach der Eröffnung des Parks, dass die europäischen Besucher ihn in vielerlei Hinsicht auf andere Weise nutzten als von Disney projektiert. Hierzu zählt das bereits erwähnte Überangebot an Restaurants mit Tischbedienung im Park ebenso wie der Besucheransturm während der Sommermonate, was z. T. zu Kapazitätsengpässen führte und bereits 1993 den Bau neuer Attraktionen nach sich zog. Insgesamt jedoch bezogen sich responsive Glokalisierungsmaßnahmen im EuroDisney – auch aus finanziellen Gründen – weniger auf die Parkgestaltung, die ohnehin nur in begrenztem Maß zu verändern war, als vielmehr auf das operative Geschäft, die Preisstrukturierung, das Angebot an saisonalen Events sowie im Jahr 1994 die offizielle Änderung des Namens von EuroDisney zu Disneyland Paris – ein Name, der durch seine Betonung der Marke und des Standorts bereits darauf hindeutete, dass Glokalisierung und Branding im Vergleich zu Amerikanisierung und Globalisierung in der Zukunft an Bedeutung gewinnen würden.

65 Vgl. KORFF, 1994, S. 209.

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Transkulturalität als ‚Klein-Werden‘ durch Reise, Migration und Translation Zé do Rocks Fom winde ferfeelt/O erói sem nem um agá

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CORNELIA SIEBER T r a n s k u ltu r a litä t u n d T r a n s la t io n „Heutige Kulturen sind aufs stärkste miteinander verbunden und verflochten“, stellt Wolfgang Welsch in seinem Beitrag „Transkulturalität. Zwischen Globalisierung und Partikularismus“ fest.2 Der Philosoph kritisiert damit die traditionelle Vorstellung von Kulturen, die mit der Idee territorialer Abgrenzbarkeit und Unterscheidbarkeit verknüpft ist. Erstens beherbergten moderne Kulturen eine Vielzahl von Lebensentwürfen, die sich vertikal (z. B. zwischen Arbeitermilieu und Alternativszene) und horizontal (z. B. zwischen heterosexuellen und schwulen und lesbischen Vorstellungen) voneinander unterschieden, so dass der-

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Der Beitrag geht zurück auf einen Vortrag im Rahmen der von Susana Kampff Lages, Johannes Kretschmer und Mónica Savedra (Universidade Federal Fluminense, Niterói) geleiteten translationswissenschaftlichen Sektion „Sprachen und Kulturen im Kontakt. Reise, Migration und Übersetzung“ des 10. Deutschen Lusitanistentages im September 2013 in Hamburg. WELSCH, 1999, S. 51.

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artige moderne Kulturen „multikulturell in sich“ seien.3 Zweitens erscheine die „ethnische Fundierung“ jenes Kulturbegriffs,4 wonach Kulturen mit der „territorialen und sprachlichen Ausdehnung eines Volkes deckungsgleich sein sollten“,5 kaum mehr haltbar. Und drittens berge die Vorstellung von der Unterschiedlichkeit und Abgrenzbarkeit von Kulturen die Gefahr in sich, Exklusionsreflexe gegen ‚Fremdes‘ sowie innere Reinheitsgebote gar gewaltsam durchzusetzen. Stattdessen gelte es, mit der Vorstellung von Transkulturalität anzuerkennen, dass „Lebensformen […] nicht mehr an den Grenzen der Nationalkulturen“ enden.6 „Diese neuen Verflechtungen“, so hebt Welsch hervor, „sind eine Folge von Migrationsprozessen sowie von weltweiten Verkehrsund Kommunikationssystemen und ökonomischen Verflechtungen und Abhängigkeiten.“7 In diesem Sinne rücken in den Kulturwissenschaften unter dem Begriff der Transkulturalität Austauschprozesse zwischen verschieden kulturell geprägten Akteuren in das Zentrum des Interesses. Fragen nach den spezifischen Charakteristika von bestimmten Kulturen werden abgelöst durch solche, die sich mit den Möglichkeiten und Fähigkeiten von Kulturen beschäftigen, mit Andersheit und Differenz umzugehen und dabei neue Sinnzusammenhänge und Relationen herzustellen. Der Blick ist dementsprechend immer mehr auf kulturelle Translationsprozesse gerichtet. Diese Vorstellung von Translation als einem Phänomen, das mithin alle betrifft, da durch den Kontakt mit Neuem, Fremdem auch das ‚Eigene‘ ständig neu übersetzt – und dabei hinterfragt – wird, entspricht der Beschreibung hybrider Kulturen, wie sie der argentinische, in Mexiko lebende Stadtanthropologe Néstor García Canclini vornimmt. In seinem 1990 erschienenen Werk Culturas híbridas (‚Hybride Kulturen‘) wird die Hybridität als das Prinzip herausgestellt, durch das Kulturen lebensfähig bleiben. Hybridität wird als die Fähigkeit beschrieben, Ideen aus anderen Zusammenhängen oder aus einer anderen Kultur zu übersetzen und dabei abzuwandeln und anzupassen, um sie in den aufnehmenden kulturellen Kontext einfügen zu können. Gleichzeitig wird wiederum auch dieser aufnehmende kulturel3 4 5 6 7

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EBD., S. 47. EBD., S. 48. EBD. EBD., S. 51. EBD.

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le Kontext durch die neu eingeführte Idee verändert, so dass Kultur als ein dynamischer Austausch- und Übersetzungsprozess begriffen wird. „Importieren, übersetzen, das Eigene herstellen“, in Prozessen von „Deterritorialisierung und Reterritorialisierung“, so beschreibt García Canclini die Funktionsweise lebendiger Kulturen.8 Damit ist die beständige Übersetzungsleistung in den Mittelpunkt kulturellen Ausdrucks gerückt. Kultur wird als Prozess verstanden, bei dem es unabschließbar darum geht, Veränderungen und stets neue Unterschiede zwischen vielfältigen Positionen zu reflektieren, in Austausch zu treten und Handlungsmöglichkeiten zu erweitern. Der Kulturtheoretiker Homi Bhabha hat dafür die Vorstellung eines „Verständnisses des Neuen als eines aufrührerischen Aktes kultureller Übersetzung“ und der Übersetzung als „Verhandlung widersprüchlicher antagonistischer Momente“ geprägt.9 Der deutsch-chilenische Kulturwissenschaftler Alfonso de Toro hat dies mit „Aushandeln der Andersheit“ bzw. „Aushandeln der Differenz“ noch präziser benannt.10 Kultur und der kulturelle Übersetzungsprozess zeichnen sich also dadurch aus, dass sie unterschiedliche oder unterschiedlich wahrgenommene Aspekte ausdrücken, sich darüber austauschen und Veränderungen, auch in Bezug auf die eigene Position, zulassen. Kulturelle Übersetzung ist dabei eine partielle Translation; es geht nicht darum, dass am Ende nur noch ein universeller Ausdruck mit stets gleicher Bedeutung vorhanden wäre, sondern um ein stets wieder neues InsVerhältnis-Setzen von Unterschieden in einer produktiven Spannung. In diesem Sinne wäre Kultur sozusagen die erlernte und anerzogene Kunst, mit Differenz umzugehen und sie zu nutzen – statt angesichts von Unterschieden reflexartig in Abschottung, Ausgrenzung und Gewalt zu verfallen.

8 GARCIA CANCLINI, 1990, S. 73 und S. 303. 9 BHABHA, 2011, S. 10 und S. 39. 10 TORO, 2002, S. 20 und S. 32. Das „Aushandeln kultureller Differenzen“ beschreibt Toro dabei als dynamischen Prozess: „Es handelt sich nicht um Aufhebung oder Assimilation. Unter Aushandeln kann der Akt der Öffnung gegenüber dem Anderen bei gleichzeitigem Sich-dem-AnderenAussetzen verstanden werden, was ein höchst komplexer und keineswegs spannungsfreier Akt ist“ (EBD.).

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R e is e u n d M ig r a tio n Wenn auch schon allein die kommunikativen Vernetzungen und der Austausch von Waren und Techniken in der globalisierten Welt für einen beständigen Prozess der kulturellen Übersetzung von ‚Fremdem‘ in eigene Sinnzusammenhänge sorgen, so sind es doch insbesondere die mobilen Menschen, die als Reisende und Migranten ihre Ideen und Vorstellungen in neue Kontexte mitbringen, welche Transkulturalität zu einem entscheidenden Merkmal und Translation zu einer herausragenden Kulturtechnik unserer Zeit machen. Der Ethnologe James Clifford hat in seinem Werk Routes. Travel and Translation in the Late Twentieth Century (1997) die enge Verbindung zwischen Reisen und Übersetzen herausgestellt. In seiner Darstellung bilden die Fortbewegung und das Übersetzen die typischen Formen des menschlichen Alltags im späten 20. Jahrhundert. Situationen des Verweilens („dwelling“) beschreibt er demgegenüber als Zustände einer statischen Ordnung, in denen die Schauplätze und Verhältnisse der Übersetzung minimiert sind: „The sites and relations of translation are minimized. When the field is a dwelling, a home away from home where one speaks the language and has a kind of vernacular competence, the cosmopolitan intermediaries – and complex, often political, negotiations involved – tend to disappear.“11 Ähnlich betrachtet Salman Rushdie in seiner Essaysammlung Imaginary Homelands nicht die Sesshaftigkeit, sondern den Migranten als die zentrale oder bestimmende Figur des 20. Jahrhunderts12 und zieht ebenfalls eine enge Verbindung zur Übersetzung, wenn er die Migranten als „borne-across humans“ und als „translated men“ bezeichnet.13 Er schreibt: „The word translation comes, etymologically, from the Latin for ‚bearing across‘. Having been borne across the world, we are translated men.“14 Und weiter: [T]he very word metaphor, with its roots in the Greek words for bearing across, describes a sort of migration, the migration of ideas into images. 11 12 13 14

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CLIFFORD, 1997, S. 23. Vgl. RUSHDIE, 1992, S. 277. EBD., S. 278 und S. 17. EBD., S. 17.

Transkulturalität und Translation Migrants – borne-across humans – are metaphorical beings in their very essence; and migration, seen as a metaphor, is everywhere around us. We all cross frontiers; in that sense, we are all migrant peoples.15

Das „Hinübergetragen-Werden“ sieht Rushdie dabei weniger als Suche nach einem bloßen neuen Ort zum Heimisch-Werden, und die Übersetzung weniger als Recherche nach einer gegebenen Entsprechung in dem neuen Kontext an, sondern er betrachtet Metapher und Translation als Möglichkeiten, neue Ideen zum Ausdruck zu bringen und die eigenen Denkmuster zu hinterfragen. Dies wird besonders deutlich, wenn er den Migranten als neue Ausdrucksform und neue Art, Mensch zu sein, beschreibt: And this is what makes migrants such important figures: because roots, language and social norms have been three of the most important parts of the definition of what it is to be a human being. The migrant, denied all three, is obligated to find new ways of describing himself, new ways of being human.16

D a s ‚K le in - W e r d e n ‘ d e r S p r a c h e in Z é d o R o c k s F o m w in d e fe r fe e lt/O e r ó i s e m n e m um agá Reise- und Migrantenerzählungen sind, wie Rushdie schreibt, die prägenden Ausdrucksformen unserer Zeit, und das Übersetzen stellt einen ihrer essentiellen Bestandteile dar. Diese Erzählungen sind sprachliche Auseinandersetzungen, sie sind ein Versuch, Ideen in Bilder zu übersetzen. Es ist ein „bearing across“, ein „Hinübertragen“, wenn Erfahrungen, die in der Fremde gemacht wurden, in den Bildern der eigenen Sprache ausgedrückt oder wenn die eigenen prägenden Erfahrungen in der fremden Sprache sichtbar gemacht werden. Wie weit die Erfahrung außerhalb des eigenen Sprachkontextes auf den Ausdruck in der Sprache einwirken kann, sieht man besonders gut an einem Klassiker der 15 EBD., S. 278f. 16 EBD., S. 277f.

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portugiesischen Reiseliteratur, der 1614 veröffentlichten Peregrinação von Fernão Mendes Pinto. In seinem Vorwort zu Mendes Pintos höchst ungewöhnlicher „Pilgerreise“ bemerkt der Herausgeber des Werkes, Adolfo Casais Monteiro, in Bezug auf den sprachlichen Stil des Autors, der eigentlich dessen Erudition und Gelehrsamkeit ausweisen sollte: „é de crer que os ventos de todos os quadrantes lhe varreram do estilo as presunções a alardeá-la“ („es scheint, dass die Winde aller vier Himmelsrichtungen ihm den Dünkel, mit ihr zu prahlen, aus dem Stil weggefegt haben“).17 Monteiros Metapher von den Winden, die den Sprachdünkel im fremden Sprach- und Kulturraum wegwehen, kann auch als launiger intertextueller Bezug auf Zé do Rocks autobiographischen Reisebericht Fom winde ferfeelt (1995) betrachtet werden, mit dem Letzterer im deutschsprachigen Gebiet Bekanntheit erlangte. Zé do Rock wurde 1956 in der südbrasilianischen Metropole Porto Alegre geboren, in der sich seit dem 19. Jahrhundert viele deutsche, polnische und italienische Auswanderer angesiedelt hatten. Sein Buch hat der Autor in deutscher Sprache verfasst, allerdings in einer von ihm kreierten Schriftvariante, die das Schriftbild als phonetisches Abbild dem gesprochenen Wort unterwirft und die Regeln des Schriftsystems abschafft. Zé do Rock nennt dieses Verfahren eine „links-shreibreform“ und das Ergebnis „ultradoitsh“. Damit schreibt er sich in die zum Zeitpunkt des Erscheinens seines Buches im deutschen Sprachraum geführte Diskussion um die Reformierung der Rechtschreibregeln der deutschen Sprache ein und setzt schon aufgrund seiner Herkunft ein Fragezeichen hinter die Vorstellung eines ‚deutschen Sprachraums‘, zu dem das ferne Porto Alegre im Süden Brasiliens trotz seiner deutschen Einflüsse kaum zählt. Seine „links-shreibreform“ schlug er in einem Moment vor, als die Diskussion gerade dabei war, sich von einer Erörterung unter Fachleuten zu einer gesellschaftlichen Debatte zu wandeln. Ab 1987 beratschlagten Expertengremien in der BRD, der DDR, in Österreich und in der Schweiz über Vereinfachungen in der deutschen Orthographie. Ein Vorschlag des nach der Wende eingesetzten Internationalen Arbeitskreises von 1992 erlangte öffentliche Aufmerksamkeit, weil er die Kleinschreibung vorsah. Er konnte jedoch nicht durchgesetzt werden, 17 MONTEIRO, 1998, S. 752.

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und so wurde von der deutschen Kultusministerkonferenz 1995 und durch die Wiener Absichtserklärung von 1996 für die Länder mit deutschsprachigen Bevölkerungsanteilen beschlossen, ab 1998 eine gegenüber den ursprünglichen Überlegungen wenig weitreichende Reform mit einer Übergangsphase bis 2005 einzuführen. Daraufhin gab es zwischen 1996 und 2006 Proteste aller Art, und die Auseinandersetzung wurde heftig und emotional geführt. Zur Frankfurter Buchmesse 1996 unterzeichneten 100 Schriftsteller und Wissenschaftler eine Erklärung zum Stopp der Reform, Verwaltungsgerichte wurden angerufen und urteilten unterschiedlich. 1998 erklärte das Bundesverfassungsgericht die Einführung der Neuregelungen für rechtmäßig, in Bayern und Schleswig-Holstein waren jedoch eine Bürgerinitiative bzw. ein Bürgerentscheid gegen die Neuregelung erfolgreich. 2004 veröffentlichten große Verlage wie der Axel-Springer-Verlag eine Erklärung, zur alten Rechtschreibung zurückkehren zu wollen, wogegen die Tageszeitung taz aus Protest eine Ausgabe in Kleinschreibung herausbrachte. 2006 endlich führten die von dem zwei Jahre zuvor eingesetzten Rat für deutsche Rechtschreibung nochmals überarbeiteten Regeln zu einer allgemeinen Akzeptanz der nunmehr gültigen Rechtschreibregeln.18 In der portugiesischsprachigen Welt war mit der Unterzeichnung des Acordo Ortográfico im Jahr 1990 etwa gleichzeitig eine Bestrebung zur Reformierung der Rechtschreibregeln zu beobachten, die jedoch in diesem Fall nicht in erster Linie der Vereinfachung, sondern vielmehr der Vereinheitlichung der brasilianischen Orthographie und der in anderen Ländern gültigen, am europäischen Portugiesisch ausgerichteten Norm diente. Auch in dieser Debatte wurde und wird deutlich, wie sehr die Sprache und ihr schriftliches Erscheinungsbild von ihren Sprechern und Schreibern als wesentlicher Ausdruck des ‚Eigenen‘ und als zentrales Element der kulturellen Wurzeln betrachtet werden. Der „ultradoitsh“-Vorschlag, den Zé do Rock in Fom winde ferfeelt vorlegt, ist demgegenüber radikal. Der Autor hat keine Schwierigkeiten damit, die tiefsten etymologischen Wurzeln auszureißen. Stattdessen spielt er mit der mündlichen Sprache, die gegenüber der regelhaften Rechtschreibung als erlerntem und normiertem Code bevorzugt wird. Die 1995 geltenden Rechtschreibregeln empfindet Zé do Rock als Maß18 Vgl. hierzu die einleitenden Kapitel bei OSTERWINTER, 2011.

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regelung, er ruft zum zivilen Ungehorsam dagegen auf19 und erklärt das Vorgehen bei seiner Reformierung: „Am Anfang werden die Rundherum-Schikanen wie Zeichensetzung und Silbentrennung behandelt, danach die Buchstaben selbst – zuerst die dringenden, dann die weniger dringenden Fälle.“20 Seine Reform sollte sich von 1995 bis 2012 erstrecken, in jedem Jahr sollten zwei Vereinfachungsregeln eingeführt werden. Es handelt sich also durchaus ebenfalls um eine zwar augenzwinkernde, aber dennoch langfristige, genau geplante und festgelegte Rechtschreibreform, bei der etwaige zwischenzeitliche sprachliche Dynamiken nicht mit eingerechnet werden. Die Reform wäre als ein langer, genau gesteuerter Übersetzungsprozess innerhalb der deutschen Sprache zu begreifen, an dessen Ende den Worten ein verbindlich vereinfachtes Schriftbild zugewiesen wäre. Diese Reform der Schrift allein würde zwar viele der damals bestehenden Regeln amputieren und die Sprecher der Sprache aufwerten, allerdings würde wohl eher nur viel subtrahiert, denn das Erbe der deutschen Schriftkultur umfasst neben den etymologischen Wurzeln auch die Schrift als Raum der Theorie, Abstraktion, Philosophie, Theologie und Poesie. Der tatsächliche Gewinn an Flexibilität, Spontanität, Absorptionsfähigkeit und Reflexion in diesem neuen Schriftraum ergibt sich erst durch die Positionierung des Autors als Reisender und als Migrant. Der 17-Jahres-Plan zur Vereinfachung der deutschen Rechtschreibung wird durch die Bewegung des erlebenden und des erzählenden Ichs durchkreuzt und die Sprache dynamisch und lebendig gehalten. Durch den Grenzen überquerenden „translated man“ geht, wie Rushdie es formulierte, bei der Übersetzung, in diesem Falle in ein einfacheres Schriftbild, nicht nur etwas verloren, sondern es kann auch etwas gewonnen werden: „It is normally supposed that something always gets lost in translation; I cling, obstinately, to the notion that something can also be gained.“21 Mehr als die Recht- oder ‚links‘-Schreibung der Worte stellt der Umgang Zé do Rocks mit den sprachlichen Ausdrucksformen des Erzählens einen dynamischen Gewinn dar: In seinen autobiographischen Reisebeschreibungen oszilliert das erzählende Ich und lässt sich auf keine gängige Zuschreibung festlegen. Zé do Rock verrät 19 ROCK, 1997a, S. 11. 20 EBD. 21 RUSHDIE, 1992, S. 17.

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uns in dem Werk weder seinen richtigen Namen noch erfahren wir, ob er als deutscher Muttersprachler zu betrachten ist – und gerade Letzteres wäre kein unwesentlicher Aspekt für die Einschätzung seines orthographischen Regelwerks. Zu Beginn des Textes reiht er sich in die autobiographische Tradition ein, indem er von seiner familiären Herkunft und seiner Geburt berichtet: „Da es sehr langweilig ist, ein Buch nur über Sprache zu schreiben und erst recht zu lesen, kriegst du meine Autobiographie im Doppelpack.“22 Dann stellt Zé do Rock seine erste Änderung vor, die Abschaffung des „Großschreibzwangs“, und fährt unter Anwendung dieser Neuregelung fort: „ich bin in Porto Alegre, hauptstadt des bundesstaates Rio Grande do Sul (hiugrantzuu ausgesprochen), in der südlichsten ecke von Brasilien geboren.“ Diese eindeutige Verortung in Brasilien wird aber durch den folgenden Zusatz sogleich gebrochen: „manche leute im norden Brasiliens glauben, es sei ein teil Deutschlands.“23 Das genaue Verhältnis des Autors zum Deutschen bleibt damit ungewiss. Schon zuvor erfahren wir, dass der Urgroßvater aus Litauen kam und eine Pastorenstelle „in einem winzigen Nest im Süden Brasiliens“ annahm.24 Aber bereits bei dessen Schwiegertochter, also Zé do Rocks Großmutter, beginnt das Spiel mit der Mehrdeutigkeit: „Die Oma war zwar Brasilianerin, konnte aber bestenfalls danke schön auf brasilianisch sagen. Ihr Mädchenname war Schmidtke, ein sehr beliebter Indianername.“25 Mit dieser Volte bleibt für die Leser offen, ob der deutsche Einfluss durch Oma Schmidtke in die Familie des Autors kam, ob ihre Familie aus Deutschland stammte und etwa Patronage-Beziehungen zu Indigenen aufbaute, die dann den Namen übernahmen, und ob Deutsch nun als Muttersprache im Hause fungierte. Denn man könnte den Satz auch so deuten, dass die Großmutter eine Indigene war und statt Portugiesisch Deutsch im Hause der litauischstämmigen Pastorenfamilie im deutsch geprägten Südbrasilien erlernte. Neben dem Stilmittel der Ellipse rekurriert Zé do Rock in seinem aus der Position eines Taxifahrers in München erzählten Reisebericht auch oft auf die Suspense und auf die Durchbrechung der Chronologie, 22 23 24 25

ROCK, 1997a, S. 9. EBD., S. 10. EBD., S. 7. EBD.

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um jeder Festlegung auf bestimmte Kategorien zu entgehen. Die Schilderung erfolgt in einem mündlichen, anekdotischen Stil mit assoziativen Verknüpfungen zwischen verschiedenen Vergangenheitsebenen. In seinen Geschichten schweift er etwa immer wieder ab, um neue Rechtschreibregeln zu erläutern oder sich seinen Erlebnissen mit Fahrgästen zu widmen. Nach den so mehrfach durchbrochenen Schilderungen vieler Reisen durch Brasilien und den amerikanischen Doppelkontinent, die die ersten 100 Seiten des Buches einnehmen, bleibt Zé do Rock dann, seiner Erzählung nach zu urteilen, eher zufällig auf einer Europareise mit seinem Bruder und dessen Frau in Deutschland hängen. Er berichtet von den Schwierigkeiten, eine Arbeitsstelle zu finden, da er keine Aufenthaltsgenehmigung, sondern nur einen Studentenausweis hat, der ihm von Freunden des Bruders an der Computerabteilung der Universität Köln ausgestellt wurde.26 In diesem Moment wird aus dem Reisenden praktisch ein illegaler Migrant in Deutschland, der Hilfsarbeiten aller Art annimmt. Der Status der deutschen Sprache bleibt auch weiterhin ungeklärt und changiert zwischen häuslich genutzter Muttersprache oder doch eher nur einem allgemeinen deutschsprachigen Umfeld in Porto Alegre. Seine kurze Erklärung lässt wieder beide Schlüsse zu: „mein deutsch hat etliche mängel. es is gut für den hausgebrauch, ich weiss wi ma tisch, stul, messer, gabel sagt, vil mer nich.“27 Die Ankunft in Deutschland nach den jahrelangen Reisen durch die Welt stellt jedenfalls keinen gerichteten Zielpunkt der Erzählung dar und sie bildet auch nicht deren Endpunkt. Für Zé do Rock wird Deutschland zunächst einmal ein längerer Aufenthaltsort und dann der Ort, an den er von seinen weiteren Reisen zurückkehrt. Sobald er genug Geld hat, wird der Migrant wieder zum Reisenden und unternimmt von Deutschland aus ausgedehnte Touren nach Südeuropa und Afrika. Auch sein „ultradoitsh“ nimmt er mit auf die Reise. Als phonetische Schrift wird es dabei stark vom Klang der Sprachen der Reiseländer beeinflusst und weicht dann von den Vereinfachungsregeln auf der Grundlage der deutschen Aussprache ab. Es wird von den anderen phonetischen Codes, die klar dominieren, ‚geschluckt‘.

26 Vgl. EBD., S. 108. 27 EBD., S. 107f.

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D a s ‚S c h lu c k e n ‘ d e r d e u t s c h e n S p r a c h e a ls transkultureller Ausdruck Dieses Vorgehen der Einverleibung, des Schluckens, die Zé do Rock anhand seines klanglich je nach den lokal gesprochenen Sprachen seiner Reiseländer umgeformten „ultradoitsh“ anschaulich macht, verweist auf eine als typisch brasilianisch wahrgenommene Kulturtechnik, die der kulturellen Anthropophagie. Sie gilt bis heute als eines der wichtigsten in Lateinamerika entstandenen Konzepte kultureller Übersetzung, die sich gegen Abschottung und eifersüchtige Reinhaltung von Kulturen wenden. Sie ist als postkolonial zu verstehen, auch wenn Oswald de Andrades Manifesto Antropófago von 1928 lange vor dem wissenschaftlichen Konzept der Postkolonialität, das sich ab Ende der 1970er Jahre herausbildete, entstand. Dieser Text ist im Stile eines avantgardistischen Manifests verfasst. Inhaltlich stehen im Manifesto Antropófago neben der Provokation der Leser und der impliziten theoretischen Reflexion allerdings nicht – wie für die Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts in Europa üblich – die Innovation, das Neue, der Bruch und die Abgrenzung vom Bisherigen im Vordergrund, sondern das Verschlingen des Fremden und der anderen Kultur, so dass diese in ihrer Qualität als ‚Anderes‘ aufgelöst und in den eigenen Körper aufgenommen werden. Andrade greift hier den Topos der Anthropophagie auf, die stereotype Bezichtigung der Europäer, derzufolge verschiedene indigene Stämme der Neuen Welt Menschenfresser gewesen seien, womit die Europäer die Versklavung und Ausrottung der Indios rechtfertigten und die koloniale Unterdrückung als ihr Zivilisierungsprojekt für die Neue Welt legitimierten. Der brasilianische Intellektuelle Oswald de Andrade deutet diese alte koloniale Projektion um und gestaltet darauf basierend ein neues Konzept kulturellen Übersetzens. Nach diesem wehrt man sich am besten gegen Kolonialisierungsversuche, gegen die angebliche Zivilisierung durch fremde Vorstellungen und Normen, nicht indem man sie bekämpft und sich von ihnen abschottet, sondern indem man sie verschlingt und sie sich einverleibt. Dabei lösen sich die alten Einheiten von Eigenem und Fremdem auf und es entsteht etwas Neues – allerdings nicht, wie in der westlichen Vorstellung der Moderne, als innovatives Neues, sondern als ein gestärktes ‚Eigenes‘ durch die Po-

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tenzierung, Überlagerung, das Ineinanderschieben der bisher getrennten Einheiten von Eigenem und Fremdem, so dass man hier auch schon von Hybridität sprechen kann. Dies zeigen beispielhaft einige Zeilen des Manifests. Es beginnt mit der Proklamation: Só a Antropofagia nos une. Socialmente. Economicamente. Filosoficamente. / Única lei do mundo. / Expressão mascarada de todos os individualismos, de todos os coletivismos. De todas as religiões. / De todos os tratados de paz. // Tupi, or not tupi that is the question. // […] Só podemos atender ao mundo orecular. Tínhamos a justiça codificação da vingança. A ciência codificação da Magia. Antropofagia. A transformação permanente do Tabu em totem.28 (Nur die Anthropophagie eint uns. Sozial. Ökonomisch. Philosophisch. / Einzig[artig]es Gesetz der Welt. / Maskierter Ausdruck aller Individualismen, aller Kollektivismen. Aller Religionen. / Aller Friedensverträge. // Tupi, or not tupi that is the question. // […] Wir können nur die orekulare Welt beachten. Wir hatten die Gerechtigkeit Kodifizierung der Rache. Die Wissenschaft Kodifizierung der Magie. Anthropophagie. Die permanente Transformation des Tabus in Totem.)

Bereits die erste Zeile ist zweideutig. Was ist mit der Aussage „Nur die Anthropophagie eint uns“ gemeint? Einerseits lässt sich hier das Verschlingen des Anderen im übertragenen Sinne so deuten, dass es als eine Gemeinsamkeit aller gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, philosophischen, ideologischen, religiösen und politischen Systeme anzusehen ist, die alle danach trachten, sich auf Kosten anderer Organisationsformen und Denkweisen auszubreiten. Bei dieser Lesart wären wir alle Anthropophagen, Verschlinger anderer menschlicher Seinsweisen, und der zivilisatorische Anspruch des Westens gegenüber den zu kolonisierenden ‚Wilden‘ wäre hinfällig. Andererseits wird aber auch auf eine primäre Logik des Kannibalismus angespielt: Das Verspeisen ist der Moment der Vereinigung mit dem Anderen. 28 ANDRADE, 2014.

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In der nächsten Proklamation folgt die klangspielerische Einverleibung Shakespeares, der seit der späten Aufklärung und der Romantik in Europa als Inbegriff des schöpferischen Genies verehrt wurde, das aus sich heraus etwas völlig Neues hervorbringt. Hier wird in dem ansonsten komplett übernommenen Zitat durch zwei kleine lautliche Veränderungen von ‚to be‘ zu „Tupi“ der Sinn potenziert und so ambivalent: Handelt es sich um eine abgewandelte Aussprache in Anlehnung an die in Brasilien bekannte Bezeichnung der Tupi-Sprachen und -Kulturen? Oder reflektieren die angeblich menschenfressenden Tupi-Indianer nun, geläutert durch den Druck der westlichen Zivilisierung, wie Hamlet über Sinn und Unsinn von Blutrache? Oder ist die Frage hier nicht mehr ‚sein oder nicht sein‘, sondern ‚fressen oder nicht‘ – und dann vielleicht verhungern? Hier wird deutlich, dass die Anthropophagie als Konzept kulturellen Übersetzens von einer völligen Transformation der ursprünglichen Struktur und des ursprünglichen Sinns ausgeht. Zugleich bringt die Anthropophagie eine unhintergehbare Polyphonie hervor. Die „orekulare“ Welt im nächsten Absatz ist eine vieldeutige Wortneuschöpfung mit lautlichen Anspielungen auf eine orakelhafte (‚oracular‘), heilige (‚aureolar‘) Welt als Gegensatz zur europäischaufklärerischen Vorstellung von der Welt als rational erkennbare. Gleichzeitig handelt es sich aber auch um eine aurikulare Welt, eine, die durch das mündliche Erzählen und Hören verständlich gemacht wird. Nicht zuletzt findet sich auch die Anspielung auf aurícula, die Herzkammer, das Herz als ein zentrales Organ menschlichen Lebens und in den Vorstellungen von Menschenfressern gleichzeitig ein wichtiges Organ des Anthropophagie-Kultes. Das kulturelle Übersetzen wird so durch die Sinnpotenzierung zu einem Machtinstrument derjenigen, die sich gegen Homogenisierungsversuche, Disziplinierung und Normierung zur Wehr setzen, gegen die Unterwerfung unter dominierende Systeme und Ideologien, die sich als universal ausgeben. Homi Bhabha führt später hierfür den Begriff der „mimicry“ ein, einer doppelten Bewegung zwischen ‚mimetischer Imitation‘ und mockery, einem Sich-lustig-Machen über die Autorität. Andrade sieht sowohl die fremden Ideen als auch die eigenen Strukturen – des Denkens, der Syntax – durch die kulturelle Anthropophagie beständig transformiert, und bei dieser anthropophagischen Transformation des Eigenen und des Fremden bildet der menschliche Körper,

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der die Ideen verschlingt und verdaut, den zentralen Transformationsraum. Das Andrade’sche Anthropophagie-Konzept wurde u. a. von dem Prager deutsch-jüdischen Philosophen Vilém Flusser weiterentwickelt, der nach 1939 über 30 Jahre in Brasilien lebte. Er beschrieb in den 1960er Jahren die Hin- und Herübersetzung der eigenen Gedanken als die Methode seiner Philosophie, bei der sich der Gedanke selbst verschlinge.29 In seiner Kommunikologie, die auf Vorlesungsmanuskripten der 1960er bis 1980er Jahre beruht, nimmt er den Gedanken des Verschlingens unter dem Stichwort „Übersetzen“ auf und schreibt: Wenn ich aus dem Englischen ins Französische übersetze, so handelt es sich um eine völlig andere Entscheidung, als wenn ich aus dem Französischen ins Englische übersetze. […] Im ersten Fall versuche ich den englischen Code in den französischen hineinzuzwingen, im zweiten, dank des englischen den französischen zu schlucken. […] Bei der Rückübersetzung dreht sich das ursprüngliche Verhältnis der beiden Codes um; der Objektcode wird nun zum Metacode. Mit anderen Worten: Nachdem der französische Code einen Teil der Kompetenz des englischen verschluckt hat, wird er seinerseits vom englischen verschluckt, und zwar sozusagen mit dem englischen im Bauch. Und wenn auch dieser Vorgang nicht unendlich lang hin und her laufen kann, ohne redundant zu werden, so ist er doch wiederholbar. Und dabei bereichern die beiden Codes einander immer mehr, ohne dabei einander näher zu rücken. Man kann also bei der Rückübersetzung weder von positiver noch negativer Dialektik sprechen, sondern eher von einer Bewegung des Zweifels.30

„ultradoitsh“ auf Reisen Vor dem Hintergrund der Bedeutung des Anthropophagie-Konzepts für die brasilianische Kultur kann man die Einverleibung von Zé do Rocks „ultradoitsh“ durch die Sprachen der durchreisten Länder durchaus als ein transkulturelles Element des Umgangs mit der Sprache verstehen. 29 FLUSSER, 2014, S. 3. 30 FLUSSER, 2008, S. 341-343.

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Zé do Rock schickt der Episode über seine Südafrikareise voraus: „hier wird sich ultradoitsh mit afrikaans vermischen, einer der sprachen suidafrikas, die sowieso eine art ultra-hollandisch is. Ich werd nur die ultradoitsh-eigenschaften benützen die mit afrikaans vereinbar sind.“31 In der Reiseschilderung heißt es dann: die leichteste europeische sprache wird in Afrika gesprochen und, ironie von die schicksaal, heist afrikaans. […] die erste groosstadt ouf my strekke is Pretoria, die houptstadt. es geeb grad ‘n straassefest und ma füül sich plötzlich wie in Deutschland, die straassefest is abgesperr, negers darf da nuur rein, wenn sie in ‘n wurstbude oder ‘n kiosk angestel sind.32

Das „ultradoitsh“ wird hier entgegen der selbst aufgestellten Rechtschreibvereinfachungsregeln insbesondere auf die doppelten Vokale des Afrikaans hin gedehnt. Der Leser wird zum lesenden Hörer und durch den fremden Klang wird ihm der andere Ort näher gebracht. Er wird an die Peripherie der deutschen Sprache versetzt; gleichzeitig findet eine Dezentrierung und Verfremdung der deutschen Sprache statt, die eine aktive Rezeptionsleistung erfordert. Bei der Anstrengung, das Geschriebene und Gesagte zu verstehen, sind auch die Vergleiche und Assoziationen zu Deutschland insofern wenig hilfreich und erklärend, als sie gerade das Befremden unterstreichen: Deutsche Leser betrachten die Apartheitspolitik in Südafrika als etwas mit jenem fernen Land Verbundenes, als etwas Fremdes, das nichts mit der Situation in Deutschland zu tun hat. Erst die Darstellung Zé do Rocks führt die Leser nicht nur in einer Verstehensanstrengung an den Rand der deutschen Sprache, sondern auch an die kulturelle Randperspektive des Migranten. Als Reisender in Südafrika ist Zé do Rock als ‚Weißer‘ nicht selbst von der Apartheitskultur betroffen. In Deutschland hat er jedoch aufgrund seiner fehlenden Papiere Erfahrungen der Ausgrenzung gemacht, die ihn sensibilisiert haben und an die er sich bei der Aussperrung der Schwarzen vom Straßenfest in Pretoria erinnert, so dass er sich dort plötzlich wie in Deutschland fühlt. Mit diesem peripheren Blick macht Zé do Rock den Lesern auch die fremde 31 ROCK, 1997a, S. 201. 32 EBD., S. 201f.

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Seite der eigenen Kultur bewusst, die Seite der Ausgrenzung und Abwertung des Anderen. Ungewohnte Perspektiven vermittelt Zé do Rock auch, wenn er typisch deutsche Stereotypen fremdzuschreibt. In seinem Kapitel zu Italien heißt es: „il pisa-turm is aine enttoisciung. de turm stet scif. in Brasil virde ma di turm soforto felle und aine neuo, moderno turm baue. aber di italiana sind vol zu faule.“33 Die ‚typisch‘ deutsche Nörgelei an der mangelhaften Bauweise wird enteignet und auf einmal als brasilianisch ausgegeben. Derartige Stereotyp-Enteignungen dienen ebenso dazu, das deutsche Selbstverständnis zu erschüttern, wie der Vergleich mit dem südafrikanischen Apartheitsregime. Denn mit der Krittelei an südländischem Schlendrian und Schluderei hatte sich die bundesdeutsche Generation des Wirtschaftswunders nach dem Zweiten Weltkrieg ihr positives Selbstbild als ‚fleißige Arbeiter‘ und als Meister präziser Ingenieurskunst aufgebaut. Italien spielte eine wichtige Rolle, da sich die deutschen Arbeiter besonders gern im Italienurlaub erholten; dies wurde zu einem Statussymbol für die wohlhabende Arbeiterschicht. Zugleich war Italien 1955 das erste Land, mit dem die BRD ein Gastarbeiteranwerbeabkommen schloss, infolgedessen zahlreiche italienische Arbeiter niedrigqualifizierte Arbeiten in der deutschen Industrieproduktion übernahmen. Die Hierarchie und das Wohlstandsgefälle zwischen den deutschen und italienischen Arbeitern wurden als Indiz für den deutschen Fleiß und die deutsche Präzision gedeutet, und erst jetzt wird in Deutschland begonnen, an dem „ebenso beliebten wie hartnäckigen Gründungsmythos“ des deutschen Wirtschaftswunders zu kratzen.34 33 EBD., S. 117. 34 SCHLANSTEIN, 2013. Vgl. dazu die am 15.07.2013 in der ARD ausgestrahlte WDR-Reportage von Christoph Weber „Unser Wirtschaftswunder. Die wahre Geschichte“. Demnach haben die Westdeutschen nicht mehr gearbeitet als die Menschen anderer Nationen. Stattdessen spielte es eine große Rolle, dass die Industrieanlagen, in denen die Kriegsproduktion lief, im Zweiten Weltkrieg weniger zerstört worden waren, als es die Trümmerbilder der „Wochenschau“ vermuten ließen. Viele Anlagen konnten ohne übermäßigen Aufwand auf zivile Produktion umgestellt werden. Auch das Management-Know-how einer schnellen Massenproduktion konnte aus der Kriegsproduktion übernommen werden, wie am Beispiel des Generaldirektors von Volkswagen, Heinrich Nordhoff, gezeigt wurde. Er hatte zu Albert Speers „Kindergarten“ gehört, der jungen Ingenieursgeneration, die Hitlers Rüstungsminister um sich versammelt hatte und die gelernt hatte, wie Stückzahlen durch gesteigerte Effizienz erhöht werden konnten. Hinzu

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Wenn nun Zé do Rock nicht Deutschland, sondern Brasilien als das Land nennt, in dem der Schiefe Turm von Pisa sofort durch einen geraden und modernen ersetzt würde, erschüttert er das deutsche Selbstverständnis. Als brasilianischer Migrant in Deutschland müsste er wissen, dass die Attribute Fleiß und Präzision Deutschland und nicht Brasilien zustehen. Was versteht er unter Brasilien? Ist der Süden Brasiliens, aus dem er stammt, vielleicht deutscher als deutsch und meint er diesen? Oder ist das deutsche Brasilienbild, das das Land mit Samba und Lebensfreude statt mit deutschem Fleiß und Präzision assoziiert, so falsch? Ist Deutschland gar zurückgefallen und neben dem modernen Brasilien nicht mehr erwähnenswert? Zé do Rock führt die deutschen Leser an die Grenzen des Verstehens, er zeigt ihnen die Randbereiche ihrer Sprache, die auf das Phonetische reduziert wird und im Einflussbereich anderer Sprachen zu deren Klanglichkeit und Rhythmus hin gedehnt wird. Er zeigt ihnen gleichzeitig die Randbereiche ihrer Kultur, indem er aus der peripheren Perspektive des Migranten berichtet. Er schreibt das deutsche Selbstverständnis an den Rand, indem er ihm typische Zuschreibungen entzieht. Er führt die deutschen Leser aber auch an die Randbereiche ihrer Schriftkonventionen, zum einen mit seinen „ultradoitsh“-Regeln und zum anderen auch mit der Form seiner Autobiographie, die wesentliche westliche Traditionen untergräbt. So findet sich weder eine chronologische und zielgerichtete Entwicklung noch eine abnehmende Distanz zwischen erlebendem und erzählendem Ich mit dem Fortschreiten der Zeit, ferner keine Strukturierung durch besondere Erweckungsmomente, und Lejeunes „autobiographischer Pakt“35 wird regelrecht aufs Korn genommen. Der gute Name, das öffentliche Ansehen, mit dem durch die Namensgleichheit von Autor, Erzähler und Hauptfigur laut Lejeunes Modell für das Gesagte gebürgt wird, bleibt hier hinter dem Künstlernamen Zé do Rock unsichtbar, und erzählt wird, so will es der Künstler augenzwinkernd, die Autobiographie eines Taxifahrers.

kamen eine gezielte Anwerbung ostdeutscher Ingenieure und die strategische Überlegung des Kalten Krieges, laut der eine wohlhabende Bundesrepublik der westlichen Welt gut zu Gesicht stand. Dafür wurden Länder wie Griechenland von den Alliierten dazu gedrängt, auf deutsche Reparationszahlungen zu verzichten. 35 LEJEUNE, 1975.

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Diese Art, mit der deutschen Sprache und ihrer Schrift, mit ihren Regeln und Traditionen umzugehen, indem alle etablierten Konventionen subtrahiert und amputiert werden, erweist sich als das, was Gilles Deleuze und Félix Guattari als „klein werden“ und als „kleine Literatur“ bezeichnet haben. In ihrem Werk Kafka. Für eine kleine Literatur (1976) untersuchen sie die Chancen und das Potential, die sich aus einem solchen kleinen Gebrauch der Sprache ergeben, und unterstreichen: „Wenn sich der Schreibende am Rand oder außerhalb seiner Gemeinschaft befindet, so setzt ihn das umso mehr in die Lage, eine mögliche andere Gemeinschaft auszudrücken, die Mittel für ein anderes Bewußtsein und eine andere Sensibilität zu schaffen.“36 Diese Idee einer Hinterfragung von etablierten Normen sowie des Erdenkens, Erdichtens und Erfühlens anderer Möglichkeiten des Zusammenlebens und des Umgangs miteinander vom Rande der Gemeinschaft aus finden wir umgedeutet und ausgeweitet bei Salman Rushdie wieder. Wie die Menschen an der Peripherie einer Kultur befinden sich auch die Migranten in einer untergeordneten Position gegenüber den etablierten Normen und Werten. Wie oben zitiert, sieht Rushdie den Migranten, der an dem Ort, an dem er sich befindet, nicht zu Hause ist, in der Position, kulturelle Normen zu hinterfragen – die der ansässigen Kultur ebenso wie die seiner eigenen Kultur und die Vorstellung insgesamt von getrennten Kulturen, die sich in festen Kategorien essentiell unterscheiden. Der Migrant, der gezwungen ist, neue Wege zu finden, um sich zu beschreiben und sich als Mensch zu verstehen, benötigt dazu die Fähigkeit, seine Position zu wechseln, in anderen Kontexten zurechtzukommen, seine Sichtweise und Erfahrung immer wieder in Bilder zu verwandeln, die den anderen verständlich werden. Diese Fähigkeiten findet man bereits in der „ultradoitshen“ Reiseund Migrantenerzählung von Zé do Rock. An seiner Übersetzung seines autobiographischen Reiseberichts ins „brazileis“ – wiederum eine vom Autor selbst entwickelte vereinfachte phonetische Schrift, hier jedoch auf der Grundlage der brasilianischen Aussprache des Portugiesischen – sieht man eine Fortführung dieser Bewegung.

36 DELEUZE/GUATTARI, 1976, S. 26.

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Zé do Rocks Übersetzung aus dem „ u l t r a d o it s h “ i n s „ b r a z i l e i s “ Zé do Rocks Übersetzung von Fom winde ferfeelt wurde 1997, zwei Jahre nach der Veröffentlichung des Originals, in Porto Alegre vom Verlag L&PM herausgegeben und erschien unter dem Titel O erói sem nem um agá („Der Held ohne jegliches Ha“).37 Zé do Rock hat seine Erzählung selbst in den anderen Kontext seiner, wie er es nennt, „Grundsprache“, das brasilianische Portugiesisch, übersetzt. Für ihn war es wichtig, dass diese Übersetzung keine einbürgernde, sondern eine verfremdende bleibt, wie man in seinem Interview mit der brasilianischen Germanistin, Translatologin, Kafka-Übersetzerin und Benjamin-Spezialistin Susana Kampff Lages erkennen kann.38 Auf die Frage, welche seine Sprache und welches sein Heimatland sei („Qual é a sua língua e qual é a sua pátria?“), antwortet er in seinem „ultradoitsh“: Mit der heimat is es so eine sache. Erstmal bin ich ein mensh, aba wenn man mich nach meina nationalität fragt, natürlich brasiliana. Ich bin in Brasilien geboren, aufgewaxen, und leben tu ich in der welt. […] Also könnt ich eigentlich sagen, das meine landsmänner die auslända sind und meine heimat das ausland is.39

Man kann in dem Text auf „brazileis“ dennoch wesentlich mehr Bezüge zur brasilianischen Kultur wiedererkennen, als dies bei dem Werk auf „ultradoitsh“ der Fall ist. Schon durch den Titel spielt Zé do Rock auf den großen Roman des brasilianischen Modernismus, Mário de Andrades Macunaíma, o herói sem nenhum caráter („Macunaíma, der Held ohne jeden Charakter“, 1928), an und schreibt sein Werk damit in den Kontext der damaligen Aufwertung der „unreinen Rede“ („fala mansa, muito nova, muito!“; „sanfte, ganz, ganz neue Rede!“) zur Charakteristik einer eigenständig brasilianischen Modernismusbewegung 37 Seinem „brazileis“ fällt gleich im Titel das im Portugiesischen nicht gesprochene ‚h‘ zum Opfer. Aus herói („Held“) wird erói, „ein Held ohne Ha“. Aus nenhum („kein“) wird nem um, auch hier wird der stumme Buchstabe gestrichen, dabei entstehen eine Lücke bzw. zwei getrennte Worte. 38 Vgl. KAFKA, 2003 und LAGES, 2002. 39 ALT/LAGES, 2014.

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ein,40 zu der auch Oswald de Andrades bereits erwähntes und im gleichen Jahr erschienenes Manifesto Antropófago zählt. In Mário de Andrades Roman Macunaíma wurde das Portugiesische mit repetitiven Rhythmen und regionalen, indianischen und afrikanischen volkstümlichen Ausdrücken durchsetzt, so dass ein ‚kleines‘, satirisches Bild der Sprache der ehemaligen portugiesischen Kolonialherren entstand. Dies führt Zé do Rock nun fort, indem er für die Grundsprache, sein gesprochenes Portugiesisch aus dem Süden Brasiliens, ein Schriftbild ohne die Rechtschreibregeln des geschriebenen Portugiesisch entwickelt. Auf den Reisen wird diese phonetische Schriftsprache dann wiederum auf die Klanglichkeit der vor Ort gesprochenen Sprachen hin ausgedehnt. Auch die Form der Erzählung, die in der „ultradoitshen“ Fassung durch die Klassifikation als Autobiographie eine satirische Herausforderung an die Leser darstellt, ist im intertextuellen Bezug zu Macunaíma sehr viel mehr als Weiterführung zu verstehen. In der Erzählung ist die unabgeschlossene und freie „Rhapsodie-Form“, auf die Mário de Andrade in seinem Werk verweist, zu erkennen – diesmal aber nicht, wie in dem Roman über den brasilianischen (Anti-)Helden Macunaíma, von einem Papagei erzählt, sondern, wie im Untertitel von Zé do Rocks Werk zu lesen ist, „por ele mesmo“ („vom ihm selbst“). Die Art des Übersetzens ist ein partielles Übersetzen, ein Wiedererzählen, ein auf den anderen Rezipienten eingestimmtes Erzählen der Anekdoten in anderen Worten, wobei es auch zu leichten Sinnverschiebungen kommt. Wie beim mündlichen Wiedererzählen und wie beim Prozess des Rückübersetzens, wie ihn Flusser in seinen oben zitierten Ausführungen beschreibt, scheinen sich die Geschichten mit jedem Mal ein wenig mehr anzureichern, so dass der Sinn nicht endgültig festgeschrieben wird, wie dies im normierten Raum der Schriftkultur eigentlich der Fall ist. Die Geschichten migrieren und reisen auch beim Wiedererzählen in der Grundsprache weiter. Hier, wo das Verwirrspiel mit dem Status der deutschen Sprache für den Autor nicht mehr die Bedeutung hat, die ihm in der „ultradoitshen“ Erzählung zukam, wird z. B. klarer, dass Oma Schmidtke tatsächlich die deutschen Wurzeln mit in die Familie gebracht hat. Die Ellipse, in der der Name Schmidtke als sehr beliebter Indianername bezeichnet 40 ANDRADE, 1988, S. 168.

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wurde, und durch die die deutschen Leser im Unklaren blieben, wird nun aufgelöst. Zugleich jedoch werden neue humoristische Bilder für den brasilianischen Kontext angeheftet: „Minha avó era brasileira, mas em português ela só sabia dizer obrigada, e só quando era obrigada. O nome de solteira dela era Schmidtke, o que em tupi-guarani quer dizer ,Dança-com-antasʻ“ („Meine Großmutter war Brasilianerin, aber auf Portugiesisch konnte sie nur danke [wörtlich: ich bin verpflichtet] sagen, und dies auch nur, wenn man sie dazu verpflichtete. Ihr Mädchenname war Schmidtke, was in der Tupi-Guarani-Sprache so viel bedeutet wie ‚Tanz-mit-Tapiren‘ [bzw., übertragen, ‚Tanz-mit-Deppen‘]“).41 Auch in der Episode über den Schiefen Turm von Pisa wird beim übersetzenden Wiedererzählen der Sinn leicht verschoben. Nicht mehr die Fremdzuschreibung der Deutschlandstereotype an die Brasilianer steht nun im Mittelpunkt, wenn es heißt, dass man in Brasilien schnell einen neuen, modernen Turm gebaut hätte, sondern vielmehr die Ironie, die sich durch die Zuschreibung der Faulheit an die Italiener ergibt: la tuorre di pisa è una dezepzzione. la tuorre sta tuorta. se fuosse nel brasile, la gente accabava con ella e fazzia una nuova, moderninha, con vidro fumè. ma parezze que gli italiani sono preguizzosi demais per isso. ma la gente fala molto della miseria italiana. tudo mentira. gli italiani viveno melhore que gli inglesi, e tene mais autopiste que l’inglaterra, la francia e la spagna junti.42 (Der Turm von Pisa ist eine Enttäuschung. Der Turm ist schief. Wenn das Brasilien wäre, würden die Leute Schluss mit ihm machen und einen neuen bauen, schön modern, mit Rauchglas. Aber es scheint, dass die Italiener dazu zu faul sind. Aber die Leute sprechen viel von der italienischen Misere. Alles Lüge. Die Italiener leben besser als die Engländer und haben mehr Autobahnen als England, Frankreich und Spanien zusammen.)

Vor dem Hintergrund des intertextuellen Spiels mit Macunaíma ist die Zuschreibung der „preguiça“, der Faulheit, an die Italiener und die Aussage, dass es ihnen trotzdem gut gehe, eine ironische Fremdzu41 ROCK, 1997b, S. 4. Da das 1997 erschienene Werk auf „brazileis“ vergriffen ist, beziehen sich die Seitenangaben auf das Manuskript, das mir der Autor freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. 42 EBD., S. 89.

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schreibung ausgerechnet von Macunaímas einzig durchgängigem Charakterzug weg von den Brasilianern und hin zu den Italienern – denn wenn den „Helden ohne jeden Charakter“ eines auszeichnet, dann sein Ausruf „Ai! que preguiça!“ („Ach, was für eine Faulheit!“), mit dem Mário de Andrade seinen (Anti-)Helden einführt: Já na meninice fez coisas de sarapantar. De primeiro passou mais de seis anos não falando. Si o incitavam a falar exclamava: – Ai! que preguiça!43 (Schon in der Kindheit tat er höchst verwunderliche Dinge. Zunächst verbrachte er mehr als sechs Jahre ohne zu sprechen. Wenn er dazu angespornt wurde zu sprechen, rief er aus: Ach, was für eine Faulheit!)

An diesen Ausschnitten kann man die Translationsstrategien Zé do Rocks besonders gut erkennen. Beim Übersetzen seiner kulturellen Erfahrungen in Sprachbilder haftet er seine Erzählung an Diskurse an, die um die Modernisierung der Schriftsprache kreisen. Für die „ultradoitshe“ Variante war dies der Kontext der damals kontrovers diskutierten Rechtschreibreform. Für das „brazileis“ bot sich ihm die „fala mansa, muito nova, muito“ von Mário de Andrade an. Zé do Rock schreibt somit seine persönlichen Erfahrungen als Reisender und Migrant in diese jeweiligen ortsgebundenen Diskurse ein, intensiviert das ‚KleinWerden‘ der Sprache durch ein auf das Phonetische reduziertes Schriftbild und schickt sie auf Reisen. Dort verändert sie sich, und mit dem Wiedererzählen in der anderen Sprache ändern sich zugleich auch die Reiseschilderungen. Bei ihnen wird mit Fremdzuschreibungen und Enteignungen der Stereotypen der Kultur der jeweiligen Leser insbesondere die Relation der Ausgangskultur mit dem Reiseland neu verhandelt.44 Dabei dehnt Zé do Rock die anthropophagische Idee der Einverleibung und des Schluckens seiner Schriftkreation durch die Sprachen der bereisten Länder hin zu dem aktuelleren Konzept von kultureller Hy43 ANDRADE, 1988, S. 5. 44 Den Begriff der Relation stellt der brasilianische Translatologe Mauricio Mendonça Cardozo in den Mittelpunkt seines Translationskonzepts, wie er am Campus Germersheim der JGU Mainz im Juni 2013 in seinem Gastvortrag „Translation und das gegenwärtige Denken über die Relation mit dem Anderen“ im Rahmen meiner Vorlesung zu translationsrelevanten kulturwissenschaftlichen Konzepten darlegte (vgl. CARDOZO, 2013).

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bridität, wie es von Néstor García Canclini vertreten wird. Gegenüber dem brasilianischen Anthropophagiekonzept Oswald de Andrades (wie auch gegenüber Homi Bhabhas postkolonialem Hybriditätskonzept, das sich mit den asymmetrischen kolonialen Machtverhältnissen auseinandersetzt) steht bei dem Hybriditätsansatz García Canclinis die Idee von lebendigen Kulturen im Vordergrund, die sich, wie oben beschrieben, durch partielle Übersetzungen fremder Ideen in die eigenen Kontexte beständig bereichern und dynamisch weiterentwickeln. Diese hybriden Kulturen leben vom Austausch mit anderen Kulturen und weniger davon, dass eine Kultur von einer anderen gänzlich verschlungen und einverleibt wird, so dass sinnbildlich letztlich nur eine Kultur gestärkt zurückbleiben kann.

Z é d o R o c k s t r a n s k u l t u r e l l e s S p i e l m it d e m ‚E ig e n e n ‘ u n d ‚F r e m d e n ‘ In diesem Sinne hybridisiert Zé do Rock mit seinen phonetischen Schriftkompositionen und ihren klanglichen Ausweitungen hinein in die Sprachen der bereisten Länder auch seine brasilianische anthropophagische Technik mit der italienischen Tradition der makkaronischen Dichtung und der pikaresken Schreibweise, die von der spanischen Literatur ausgehend zu einer wichtigen literarischen Form wurde.45 In der Hybridisierung sind die verschiedenen Stilformen noch zu erkennen und treten je nach Betrachtungswinkel hervor. Auf diese Weise vervielfältigt Zé do Rock das transkulturelle Spiel mit den Vorstellungen und Traditionen von ‚Eigenem‘ und ‚Fremdem‘. Während in der makkaronischen Dichtung durch die Übertragung der phonologischen und morphologischen Verfahren einer Sprache auf eine andere meist ein komischer Effekt erzielt wird, steht in der pikaresken Tradition der Held aus den unteren sozialen Schichten im Mittelpunkt, der in fingierter auto45 Interessanterweise entwickelten sich die makkaronische Dichtung in Italien und der pikareske Schreibstil in Spanien ebenfalls im 16. Jahrhundert und damit gleichzeitig zu der Herausbildung des Kannibalismusstereotyps, das in Reiseberichten wie dem des Florentiners Amerigo Vespucci, Mundus Novus (1502), verbreitet wurde und auf das sich wiederum Oswald de Andrade 1928 für sein anthropophagisches Kulturkonzept bezog.

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biographischer Form episodenhaft sein Reiseleben aus der Perspektive des sesshaft gewordenen Angekommenen schildert. Die sprachliche Ironie ergibt sich im pikaresken Genre aus einer Brechung von hohen literarischen Formen und Ausdrücken, die die Erudition des Autors verraten, durch eine bauernschlaue Umnutzung und Uminterpretation, die er seinem erlebenden und erzählenden Ich in den Mund legt. Aus der Perspektive des Untergebenen und gesellschaftlich Randständigen, die der Picaro innehat, wird so an sozialen Zuständen auf satirische Weise Kritik geübt. Eine hybride Verschränkung makkaronischer Komik, pikaresker Satire und anthropophagischer Einverleibung, die die Vorstellung vom ‚Eigenen‘ und ‚Fremden‘ irritiert, ist beispielhaft in dem oben erwähnten „ultradoitshen“ Absatz über den Schiefen Turm von Pisa zu finden. In der Mischung aus „ultradoitsh“ mit Italienisch („il pisa-turm“) und Portugiesisch („Brasil“, [it. hieße das Land Brasile]) ist sowohl die makkaronische Übertragung von sprachlichen Strukturen in eine andere Sprache sichtbar als auch das anthropophagische Verschlingen und Verdauen des „ultradoitshen“ im italienischen Kontext. Der pikareskironische Umgang mit hoher Kultur wird in der Brechung sichtbar, den Schiefen Turm von Pisa nicht als eines der großen architektonischen Wahrzeichen Italiens anzuerkennen, sondern seine Schieflage einfach und respektlos als Mangel zu werten. Dieser Mangel würde, so die Behauptung, die zur nochmaligen Brechung für die deutschen Leser führt, nicht in deren perfektionistischer Kultur, sondern in der brasilianischen sofort behoben. So ist der komische aneignende Effekt durch das Spiel mit den fremden klanglichen und Wortbildungsverfahren in der ‚eigenen‘ Sprache zwar gegeben, aber zugleich auch die Verfremdung durch den ironischen Bruch mit anerkannten Werten und durch das anthropophagische Verschlucken des „ultradoitshen“, dessen Regeln Zé do Rock ja gerade erst im Kontext anderer Sprachräume festlegt.46 In der Übersetzung ins „brazileis“ steht dann mit dem Spiel um die Weitergabe des Faulenzertopos an die Italiener die komische und ironische Abwertung des prestigeträchtigen Bauwerks, das heute Teil des UNESCO-Weltkulturerbes ist, und die ebenso komische und ironische 46 Für den Hinweis auf die Verfahren der Komik in der makkaronischen Dichtung danke ich Rainer Kohlmayer.

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Darstellung der Moderne als radikaler Bruch mit der Tradition im Mittelpunkt. Die Evokation einer völligen Geschichtsvergessenheit bildet die Pointe. Dabei sind auch hier die beschriebenen makkaronischen und pikaresken sowie die anthropophagischen Verfahren des Verschluckens des „brazileis“ im italienischen Sprachraum sichtbar. In der Anspielung auf Macunaímas „preguiça“, und damit auf die brasilianische modernistische Bewegung der 1920er und 1930er Jahre, und der Beschreibung einer radikalen Modernität liegt dann wiederum eine Ambivalenz. Während die künstlerische modernistische Bewegung, zu deren Protagonisten Mário de Andrade und Oswald de Andrade zählten, eben nicht den radikalen Bruch mit der – ‚fremden‘, kolonialen europäischen – Tradition wählte, sondern die ‚eigene‘, ‚unreine‘ bzw. vom Anthropophagie-Topos geprägte Kultur durch deren Umdeutung aufwertete, gab es in den 1950er und 1960er Jahren einen politischen Willen zur radikalen Modernisierung Brasiliens. Insbesondere der Wahlslogan des Präsidenten Juscelino Kubitschek (1956-1961) „Cinquenta anos em cinco“ („50 Jahre Fortschritt in fünf Jahren“) und das architektonische Projekt, die weit abgelegene neue Hauptstadt Brasília nach einem ‚Plano Piloto‘, vom Reißbrett, innerhalb von vier Jahren so auszubauen, dass sie 1960 eingeweiht werden konnte, zeugen von diesem politischen Willen. Das reichhaltige und vielfältige kulturelle Erbe wurde dabei ebenso wenig in die Modernisierungsüberlegungen einbezogen wie die sozialen Kosten, die sich insbesondere durch die Vernachlässigung des nordöstlichen Hinterlands in den Modernisierungsplänen ergaben. Die Anspielungen auf die italienische Tradition und einen brasilianischen Modernisierungsreflex, verbunden mit der Fremdzuschreibung der Faulheit an die Italiener ist demnach wiederum auch eine mehrdeutige Aussage und eine auf den brasilianischen Kontext zugeschnittene Hinterfragung des ‚Eigenen‘ und ‚Fremden‘. Mit seiner derartig dynamischen, von Relation und Austausch im Plural geprägten Vorstellung von Kultur wird auch die von Zé do Rock in dem oben erwähnten Interview angekündigte Translation seiner Erlebnisse ins „zenglish“, „franzé“ und „ultra-espanhol“ keine Wiederholung des Gesagten in anderer Sprache darstellen, sondern jeweils eine neue, transkulturelle Erzählung.

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Idiome von Zentrum und Peripherie Transkulturalität in einer asiatischen Grenzregion GUIDO SPRENGER Im Titel eines bekannten Aufsatzes zur Transkulturalität charakterisiert Wolfgang Welsch den Begriff als „the puzzling form of cultures today“.1 Damit bindet er Transkulturalität an eine spezifische historische Epoche und greift eine häufig geteilte Meinung auf: Früher waren die Kulturen isoliert und kohärent, heute, unter Bedingungen der Globalisierung, der Migration und der Postmoderne, vermischen sie sich, deuten einander im Dialog und verlieren ihren klaren Umriss. Bei näherer Betrachtung gerät diese Einschätzung jedoch in den Verdacht einer typischen Selbstüberschätzung der (Post-)Moderne, die als Neuerfindung für sich reklamiert, was historisch und kulturell übergreifend betrachtet eigentlich immer selbstverständlich war. Ich möchte daher in diesem Beitrag einige transkulturelle Kommunikationsformen untersuchen, die nicht modern, d. h. nicht unter Bedingungen von Nationalstaat, moderner Marktwirtschaft oder Individualismus entstanden sind. Die überwiegende Mehrzahl der Gemeinwesen hat Nachbarn, mit denen sie im Austausch steht, die sich aber in ihren Kommunikationsformen von der eigenen Gruppe unterscheiden. Bereits zwischen Nachbardörfern gibt es zahlreiche Unterschiede, die Gegenstand der lokalen Reflexion sind. Kultur kann hier also als Differenz der Kommunikationsgewohnheiten erfahrbar werden, aber das macht sie nicht zu einer 1

WELSCH, 1999.

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geheimnisvollen Kraft, die Grenzen diktiert und zuverlässig Kohärenz stiftet. Das Modell der isolierten Gesellschaft, das der klassischen Ethnologie zugrunde liegt, war immer schon irreführend, insoweit man es mit einer umfassenden Darstellung der Wirklichkeit verwechselt. Dieses Modell ermöglicht es zwar, mittels einer Reduktion der Datenkomplexität funktionale und strukturale Zusammenhänge zu erkennen, die anderenfalls unerkannt blieben; es hat also einen gewissen analytischen Wert. Doch wäre es falsch, dieses Modell zu naturalisieren. Erst dann nämlich gerät es zu nahe an sein politisches Korrelat, den Nationalismus, der versucht, die Begrenztheit und Einheitlichkeit des Staatsvolks zur Natur zu erklären. Ebenso irreführend wäre es jedoch, die Existenz von Grenzen oder die Notwendigkeit einer gewissen Kohärenz von Begriffssystemen und kulturellen Repräsentationen zu Zwecken der Kommunikation zu leugnen. Konzepte von Grenzen, Gruppen und Kohärenzen sind dabei nicht nur methodische Hilfestellungen zum Modellbau oder theoretische Axiome, sondern korrespondieren auch mit den Daten: Menschen ordnen Handeln, Kommunikationen und Personen oft, indem sie Gruppen, Zugehörigkeiten und Identitäten klassifizieren. Nach welchen Maßgaben diese Zuordnungen erfolgen, für welche Kommunikationskontexte Grenzen und Identitäten gelten und für welche nicht, das sind hingegen Fragen, die sich nur spezifisch, gewissermaßen lokal, beantworten lassen. Wenn wir kulturelle Konfigurationen und ihre Grenzen beobachten können, dann haben wir es mit Artefakten zu tun, die selbst aus einem Prozess entstanden sind, in dem kulturelle Unterschiede definiert und unterschiedlich gewichtet werden. Wo die Unterschiede den vermuteten Gemeinsamkeiten untergeordnet werden, erschließt die Wertung Identitätspotentiale; wo sie hingegen den Gemeinsamkeiten übergeordnet werden, kommt Alterität zustande. Kulturelle Gruppen und Kategorien werden gebildet, indem Differenzen verarbeitet und bewertet werden. Daher ist die Entstehung kultureller Grenzen selbst ein transkultureller Prozess, und nicht ein Naturzustand, den die Transkulturalität überwinden muss. Man kann also heuristisch von Gruppen, Gesellschaften oder Kulturen sprechen, aber nur mit der Einschränkung, dass es sich hierbei um historisch kontingente Formationen handelt, die sich aus einem Prozess von Differenzierung, reflektierter Differenzerfahrung und spezifischen

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Ideen von der Ordnung der Kommunikation gebildet haben. Es ergeben sich also folgende Fragen: Wie werden aus kulturellen Differenzen kulturelle Grenzen – nicht als Funktion der Isolation, sondern als Folge von Interaktionen, die zu Differenzierungsprozessen führen? Wie werden diese Unterschiede in lokalen Begriffen konzipiert und somit als Ausgangspunkt des Kommunizierens verwendet? Welche spezifische Form wird diesen Unterschieden gegeben? Bei solchen Formen der Grenzziehung und des Differenzierens handelt es sich wiederum um Kommunikationsordnungen. Nicht nur muss innerhalb einer sich selbst als solche definierenden Gruppe bzw. kulturellen Kategorie kommuniziert werden, wo die Grenzen verlaufen, wie diese beschaffen sind und wann sie beachtet werden sollten. Vielmehr muss die gleiche Kommunikationsleistung über die Grenze hinweg erbracht werden: Erstens ist eine Gruppe nur durch erfolgreiches Kommunizieren ihrer Abgrenzung begrenzt, und zweitens bedarf es zweier Parteien, um Unterschiede zu stabilisieren. Das bedeutet, dass Formen der Grenzziehung bei Gruppen, die miteinander in Kontakt stehen, ähnlich sein können – zumindest erleichtert das die Kommunikation der Begrenzung. Gruppenbildungen lassen sich also auf der Basis ihrer Grenzformen vergleichen, da diese Grenzen selbst transkulturell lesbar sein müssen.

L u h m a n n in Z o m ia Diese Probleme sollen an Beispielen aus einer Region erläutert werden, die bereits seit über einem halben Jahrhundert Anlass für Theorien über kulturelle Identität geboten hat.2 Die Hochlandregion, die sich vom Süden Vietnams nach Norden zieht und von dort zum Westen hin Laos, Thailand und Burma von China und Indien abgrenzt, wird in der neueren Literatur mal als „Southeast Asian Massif“,3 mal als „Zomia“ bezeichnet.4 Insbesondere durch James Scotts The Art of Not Being Governed (2009) erlangte der zweite Terminus Bekanntheit. In diesem umstrittenen Werk charakterisiert Scott die Hochlandregion in Begrif2 3 4

Vgl. z. B. LEACH, 1954; LEHMAN, 1967. Vgl. MICHAUD, 2006. Vgl. VAN SCHENDEL, 2004.

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fen, die als Generalisierungen in der Forschung durchaus gängig sind, verweist jedoch auch auf Widersprüche, die im Folgenden Ausgangspunkt der Analyse sein sollen. Zomia zeichnet sich demnach durch die Abwesenheit von zentralisierten Staaten aus. Die Grundlage der Gemeinwesen in dieser kulturell und sprachlich höchst diversen Region bilden autonome Dorfgemeinschaften, welche überwiegend Trockenreis im Brandrodungsfeldbau anbauen. Die Gesellschaften sind nur geringfügig oder gar nicht stratifiziert, ihr rituelles Leben und ihre kosmologischen Konzepte beziehen sich auf Geister, Ahnen und unpersönliche, aber manipulierbare Kräfte. Die Religionen der umliegenden zentralisierten Staaten, insbesondere der Buddhismus, wurden nur begrenzt übernommen; stattdessen finden sich Weltreligionen, die den Hochlandbewohnern Gelegenheit boten, sich vom Tiefland abzugrenzen, wie das z. B. beim Christentum in Myanmar der Fall ist. Scott zufolge sind diese sozialen Formen durchaus nicht als Überbleibsel einer vorstaatlichen Periode zu verstehen, sondern als Ausdifferenzierung einer antistaatlichen Lebensweise, die sich der Autorität eines Zentrums, den Kriegen, Steuern, Frondiensten und Rekrutierungen des Staates, entzieht. Insofern das Hochland ein Gegenbild des Staates darstellt, ist auch diese vermeintlich archaische Lebensweise als Form von Transkulturalität zu lesen, aber eine, die weit konfliktträchtiger ist als Welschs Vision sich friedlich austauschender Nachbarn. Der Eindruck einer grundlegend transkulturellen Situation wird noch verstärkt durch eine Beobachtung, die Scott nur unzureichend in sein Modell eingliedern kann: Viele Hochlandgesellschaften übernehmen selektiv Repräsentationen des Staates – auch solche, welche an Zentralisierung und Schichtung geknüpft sind. Diese Übernahmen sind mehr als bloß Ornament, sondern haben durchaus Konsequenzen für die Sozialstruktur. Der scharfe Kontrast zwischen Hochland und Tiefland, den Scott postuliert, verringert sich also, wenn man die graduellen Übergänge der Repräsentationen und Strukturelemente betrachtet.5 In Bezug auf unsere Fragestellung stoßen wir also auf folgenden Widerspruch: Einerseits grenzen sich die Gemeinwesen des Hochlands systematisch und mehr oder weniger bewusst von den Staaten des Tieflands – und untereinander – ab; andererseits integrieren sie Elemente 5

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Vgl. JONSSON, 2012.

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von Staaten und Nachbargruppen, um damit sowohl das Leben innerhalb ihrer Gemeinwesen als auch die Kommunikation zwischen ihnen zu gestalten.6 Zur Auflösung dieses Widerspruches werde ich Begrifflichkeiten aus Niklas Luhmanns Theorie autopoietischer sozialer Systeme verwenden,7 ein Ansatz, der für nichtstaatliche Gesellschaften bisher kaum herangezogen worden ist.8 In mehrfacher Hinsicht ist er hier jedoch angemessen:







6 7 8 9 10 11 12

Luhmann zufolge bestehen soziale Systeme nicht aus Personen, sondern aus Kommunikationen.9 Bereits seit vielen Jahrzehnten ist bekannt, dass ethnische Identitäten in Zomia eine große Flexibilität zeigen: Eine Person kann sich je nach Kontext unterschiedlichen Kulturen oder Gesellschaften zuordnen und so mal die eine, mal die andere ethnische Identität annehmen.10 Frederic K. Lehman (1967) gelangte daher zu dem Schluss, dass kulturelle Identität in dieser Region eher einer Rolle gleicht, die sich je nach Kompetenz auch wechseln lässt.11 Luhmanns Ansatz vermag hier die Annahme kategorialer Verschwommenheit durch eine Ordnung von Kommunikationen zu ersetzen. Diese Kommunikationen werden in einem autopoietischen System mit Hilfe einer systemspezifischen Semantik reproduziert. Im Unterschied zu Luhmann, der „Kultur“ auf einen „Themenvorrat“ einschränkt,12 identifiziere ich diese systemspezifische Semantik mit Kultur. Anstoß für die Reproduktion der Kommunikationen, d. h. der Systemelemente, ist das Erscheinen von Ereignissen in der Umwelt des Systems als Information auf dessen Horizont. Die Information bietet Anlass, die jeweilige Systemsemantik einzusetzen, um das System durch ihm immanente Operationen, d. h. neue Kommunikationen, zu reproduzieren. Das System speist sich also aus der Umwelt, Vgl. SPRENGER, 2010. Vgl. LUHMANN, 1984. Vgl. GERSHON, 2005; SOMMER, 1999. Vgl. LUHMANN, 1984, S. 192 und S. 289. Vgl. LEACH, 1954. Vgl. LEHMAN, 1967. LUHMANN, 1984, S. 224; vgl. auch EBD., S. 248f.

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wobei niemals Elemente der Umwelt in das System übernommen werden können, wohl aber das Deuten dieser Elemente das Fortdauern des Systems ermöglicht.13 Übertragen auf die hier zu analysierende Situation bedeutet dies: Die Systeme, die primär Dörfer sind, welche sich eventuell mit größeren Systemen (Ethnien) identifizieren, reproduzieren ihre sozialen Strukturen im Wesentlichen dadurch, dass sie Elemente von Nachbarsystemen – im vorliegenden Falle von Staaten – wahrnehmen und weiterverarbeiten. Die Systeme sind insofern operativ geschlossen, als sich die Kommunikationen, aus denen sie bestehen, aufeinander beziehen. Zugleich sind sie aber offen, da sie gewissermaßen von der externen Information leben. Mit jeder Systemoperation wird zugleich die Grenze zwischen System und Umwelt mitreproduziert. Das heißt, dass jede Kommunikation eine Möglichkeit für Anschlusskommunikationen bietet, und die Art des Anschlusses bzw. die Möglichkeiten, die nicht gewählt werden (können), bestimmen die Position der Kommunikation im System. Die Nichtwahl bestimmter Anschlusskommunikationen verweist auf die Systemgrenze.14 Angewendet auf die sozialen Strukturen in Zomia bedeutet dies: Auch die Grenzen gehören zur Sozialstruktur, und ebenso wie diese auf der fortdauernden Reproduktion von Beziehungen mit Hilfe kultureller Semantiken beruht, so muss auch die Grenze als Aspekt der Sozialstruktur stets mitreproduziert werden.15

Richten wir nun die Aufmerksamkeit auf die Form, in der dieser Unterschied zwischen Innen und Außen, System und Umwelt, semantisch gefasst wird.16 Für das südostasiatische Hochland zumindest lässt sich sagen, dass diese Grenze durchaus Teil der Selbstbeschreibungen der Systeme ist. Sie lässt sich nicht nur in der Systemoperation beobachten, sondern wird mit Hilfe von Handlungen, Ritualen, Mythen und Vorstellungen stets aufs Neue in eine Form gebracht. So behandeln die Ursprungsmythen vieler Hochlandgesellschaften weniger die Entstehung 13 14 15 16

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Vgl. EBD., S. 103f. Vgl. EBD., S. 243-245; DERS., 1997, S. 597. Vgl. DERS., 1984, S. 269f. Vgl. DERS., 1997, S. 611.

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der Welt als vielmehr den Ursprung der ethnischen Unterscheidungen. Solche Erzählungen sind insofern von Bedeutung, als sie dazu beitragen, Differenzen jenseits der Dorfebene, deren Existenz durchaus nicht selbstverständlich ist – eben ‚ethnische‘ Differenzen – zu stabilisieren. In Ermangelung staatlicher und sonstiger Institutionen, die Personen, Territorien und Kommunikationen autoritär ordnen könnten, gibt es keinen Grund, warum ethnische Grenzen überhaupt – jenseits der schlichten Wahrnehmung kultureller Unterschiede – stabil sein sollten. Tatsächlich stellten frühe Beobachter wie John Shakespear fest, dass bereits geringfügige Konflikte dazu führen konnten, ethnische Kategorien zu differenzieren.17 Erst seit dem Erstarken des National- und Territorialstaates, der ethnische Identität zensusmäßig erfasst, Territorien zuweist etc., also nach dem Zweiten Weltkrieg und z. T. noch später, sind solche Zuschreibungen verbindlicher geworden und erfordern daher auch neue Verarbeitungsformen. Daneben erweisen sich die älteren Differenzierungsformen, auf die ich mich hier hauptsächlich beziehe, als durchaus beharrlich.

Z e n tr e n u n d P e r ip h e r ie n Wenn also Systemgrenzen kontingent sind, stellt sich die Frage, wie Grenzen und Unterschiede verfasst werden. Dafür existieren gewisse semantische Ressourcen, die oft eine größere Stabilität aufweisen als andere kulturelle Formen. Die Stabilität bezieht sich hier weniger auf die Institutionen, die mit Hilfe der Semantik reproduziert werden, z. B. eine konkrete Grenze um eine Gruppe von Personen. Gemeint ist vielmehr die Beständigkeit, mit der Grenzen produzierende Kommunikationspraktiken über längere Zeit und größere geographische Räume hinweg transportiert und variiert werden. Die Übertragungsfähigkeit der semantischen Ressourcen über kulturelle Unterschiede hinweg ergibt sich daraus, dass sie selbst es sind, welche die Existenz solcher Unterschiede erst thematisieren und stabilisieren. Es verwundert daher nicht, dass verschiedene Hochlandgesellschaften kulturelle und soziale Unterschiede in vergleichbaren Idiomen be-

17 Vgl. SHAKESPEAR, 1912, S. 8.

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schreiben, und überdies noch in solchen, die sie mit den historischen Staaten des Tieflands teilen. Mit Idiomen sind hier nicht allein Sprachformen gemeint, sondern vielmehr konventionalisierte Praktiken der Kommunikation und Reproduktion, darunter Mythen und Rituale. In Zomia lassen sich z. B. regional unterschiedliche Kommunikationsformen beobachten, insbesondere zwischen seiner nördlichen, nach China gerichteten und der nach Südostasien gewandten Seite. Der chinesische Staat zeichnete sich dabei historisch durch eine vereinheitlichte Schrift, starke Zentralisierung, Berufsbeamtentum, Meritokratie und einen standardisierten Verwaltungsapparat aus, der schrittweise in die Peripherien ausgedehnt wurde.18 Die Gemeinwesen Südostasiens hingegen werden oft als „galaktisch“ beschrieben.19 Der König bzw. Fürst im Zentrum beherrscht unmittelbar nur das Umland seiner Hauptstadt; die angrenzenden Provinzen werden idealerweise von engen Verwandten beherrscht, die entfernteren von Vasallen. Der Herrschaftsbereich ist dabei nicht territorial bestimmt, sondern beruht auf der Loyalität untergeordneter Fürsten, die wiederum auf die Ergebenheit ihrer eigenen Provinzherrscher und Dorfführer angewiesen sind. Auf jeder Ebene ist es theoretisch möglich, dass sich ein Unterzentrum vom übergeordneten löst, oder dass grenznahe Unterzentren ihre Zugehörigkeit wechseln. Dies korrespondiert mit einem Konzept, demzufolge sich Macht – politisch wie kosmologisch – im Zentrum ballt und zur Peripherie hin ähnlich wie das Licht einer Kerze ausdünnt.20 Es soll nun gezeigt werden, dass kommunikationspraktische Formen der Grenzziehung und der Kategorisierung sozialer Unterschiede die Trennung von Tiefland- und Hochlandgesellschaften überbrücken, gerade weil diese Trennung ihr Thema ist. Dabei gehe ich nicht von der konventionellen kulturhistorischen Annahme aus, dass die Hochlandgesellschaften kulturelle Züge vom Tiefland übernommen haben, gewissermaßen als Zeugnis der kulturellen Überlegenheit der Tieflandstaaten oder als Vorboten einer ‚Zivilisierung‘ des Hochlands, welche dann erst im Rahmen der Globalisierung zur Vollendung gekommen wäre. Stattdessen soll lediglich gesagt werden, was der Beobachtung zugänglich 18 Vgl. z. B. FISKESJÖ, 1999; HERMAN, 1997. 19 TAMBIAH, 1985. 20 Vgl. HEINE-GELDERN, 1963; THONGCHAI, 1994; TURTON, 2000.

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ist: Praktiken der Grenzziehung, der Integration des Äußeren in das Innere unter Berücksichtigung des Unterschiedes zwischen Innen und Außen und zwischen Eigenem und Fremdem werden von Tiefland und Hochland, von Staaten und nichtstaatlichen Formationen geteilt. Das erleichtert die Kommunikation, kann aber, wie zu zeigen sein wird, zugleich die Unterschiede stabilisieren: In dieser Ausdifferenzierung verschiedener Lesarten liegt die transkulturelle Leistung der Idiome von Grenzziehung und Fremdverarbeitung. Wenn also im Folgenden von der ‚Geomantik der Hmong‘ oder dem ‚Umbinden der Handgelenke bei den Rmeet‘ die Rede ist, bedeutet das zweierlei: zum einen, dass die so bezeichneten Praktiken eine etwas andere Bedeutung haben, je nachdem, ob sie unter Hmong oder Chinesen bzw. unter Rmeet oder Lao praktiziert werden; zum anderen, dass die Daten von Personen oder in Siedlungen aufgenommen wurden, die sich selbst mit Ethnonymen wie Hmong oder Rmeet bezeichnen. Nicht gemeint ist hingegen, dass diese Praktiken einen charakteristischen Bestandteil der Hmong- oder Rmeet-Kultur darstellen und für alle Personen und Gruppen, die sich so nennen, die gleiche, verbindliche Bedeutung besitzen. In Anbetracht einer kulturellen Varianz, die teilweise in der Staatsferne der Betreffenden begründet ist, ist eine solche Einheitlichkeit nicht zu erwarten. Eine Form der Differenzierung, welche in Zomia immer wieder zur Anwendung kommt, ist die von Zentrum und Peripherie.21 Anhand von vier Beispielen sollen nun einzelne Aspekte dieser Form aufgezeigt werden:



Die Zentrum-Peripherie-Form der Grenzziehung ist nicht allein auf staatliche Zentren und Peripherien im Hochland beschränkt. Es handelt sich um ein mobiles Idiom, das jeweils an verschiedene Kontexte angeglichen werden kann (vgl. die Räumlichkeit bei den Akha, Thailand).

21 Damit ist weniger die Form der Systemdifferenzierung von Zentrum und Peripherie gemeint, die Luhmann thematisiert (vgl. LUHMANN, 1997, S. 662-677), sondern die Form, in der Systemdifferenzierungen semantisch, d. h. im lokalen kulturellen Kontext, gefasst werden.

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• • •

Die Idiome zentralstaatlicher Mächte können von Peripherien aufgegriffen werden, um ihre eigene Distinktion zu betonen (vgl. die Dokumente der Yao, China). Solche Idiome gliedern sowohl die externen wie auch die internen Beziehungen (vgl. die Geomantik der Hmong, China, Laos, Thailand). Die Idiome können transkulturell verschieden gelesen werden – was von beiden Seiten für verständlich und gleichartig gehalten wird, kann tatsächlich in dem jeweiligen System unterschiedliche Anschlussfähigkeit besitzen. So kommt es zu strukturierten Missverständnissen, die die Kommunikation eher fördern als behindern (vgl. das Handumbinden bei den Rmeet, Laos).

Macht und Raum bei den Akha Die Art, wie in Zomia der soziale Raum gegliedert wird, zeigt besonders gut, wie die kulturelle Semantik eines sozialen Systems eingesetzt wird, um Umwelt zu prozessieren. Die Produktion des Sozialen wird dabei als Zentrum definiert, welches seine Existenz zugleich einer steten Interaktion mit den Peripherien verdankt, die es als Information verarbeitet. Die Dichotomie von Zentrum und Peripherie wird dabei gestaffelt in verschiedenen Kontexten eingesetzt: Was zum Zentrum gehört, wenn die Referenz das Dorf ist, mag als Peripherie erscheinen, wenn der Haushalt als Zentrum gesetzt wird. Ein Beispiel dafür bietet Deborah Tookers exzellente Analyse der Akha in Thailand, entstanden auf der Basis von Daten, die sie in den 1980er Jahren gesammelt hat.22 Die Akha sprechen eine tibeto-burmesische Sprache und haben sich vor 700 bis 800 Jahren von den Hani in China abgespalten. Seither sind sie nach Burma, Thailand und Laos migriert.23 Dabei hat sich in vielfältigen Kontakten mit dem chinesischen Reich, den Fürstentümern des südostasiatischen Tieflands sowie mit anderen Hochlandbewohnern eine deutlich markierte Akha-Identität herausgebildet.24 22 Vgl. TOOKER, 1996; DIES., 2012. 23 Vgl. ALTING VON GEUSAU, 2000, S. 141. 24 Vgl. DERS., 1983.

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In einem erst 1982 von Immigranten aus Burma gegründeten Dorf im Norden Thailands fand Tooker das „galaktische“ Prinzip der Tieflandfürstentümer wieder, aber auf der Ebene des Haushalts und des Dorfes. Die Dorfbewohner stammen aus der Region der Shan-Staaten, die nach ähnlichen Prinzipien organisiert sind wie die Tieflandzentren in Thailand oder Laos.25 Zentrum und Peripherie repräsentieren dabei den Gegensatz von Ordnung und Unordnung, wobei die Einhaltung der Ordnung es erlaubt, die Kraft der Fruchtbarkeit und des Lebens zu kanalisieren.26 Dabei repräsentiert das Haus des rituellen Anführers des Dorfes, des dzoema, das Zentrum. Dieser Mann wird mit dem ‚Innenʻ und dem Zentralisieren der kosmologischen Wirkmacht assoziiert, zumal er sich so oft wie möglich innerhalb der Dorfgrenzen aufhalten sollte.27 Sein Haus wurde bei der Dorfgründung, angefangen mit dem zentralen Hauspfosten, als erstes errichtet. Darauf folgten die anderen Dorfbewohner nach demselben Muster. Das Dorf ist also nach dem Prinzip der zentrierten Macht angelegt, die ins Außen abstrahlt und ihre Umgebung schrittweise in die von ihr repräsentierte Ordnung mit einbezieht. Bei der Durchführung von Ritualen, die sich auf das Dorfganze beziehen, hat das Haus des dzoema Vorrang. Die jährlichen Fruchtbarkeitsrituale etwa führt er als Erster durch, ebenso holt er als Erster Wasser aus der sakralisierten Quelle nahe des Dorfes, er beginnt mit dem Aufhacken der Felder und mit der Ernte. Erst danach führen die anderen Häuser, jedes für sich, die gleichen Handlungen durch, als ginge die von den Ritualen im Haus des dzoema ausgelöste Kraft vom Zentrum in die Peripherie über. Solche „Streuungsrituale“ werden ergänzt durch „Ansammlungsrituale“, bei denen die Dorfbewohner das Haus des dzoema unterstützen.28 Dieses Muster korrespondiert mit den Ritualen, die zu den Aufgaben des thailändischen Königs gehören, insbesondere das jährliche Erstpflügen. Dieses wird zuerst von einem königlichen Minister in Bangkok durchgeführt und dann von entsprechenden Amtsinhabern auf den Ebenen der Provinz, des Distrikts und des Dorfes wiederholt.29 25 26 27 28 29

Vgl. DERS., 2000, S. 126; TOOKER, 1996, S. 332. Vgl. TOOKER, 1996, S. 328. Vgl. LEWIS, 1969, S. 120, zit. n. TOOKER, 1996, S. 332. Vgl. TOOKER, 1996, S. 333f. Vgl. WALES, 1992, S. 256-258; vgl. TOOKER, 1996, S. 342f.

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Ganz im Sinne des „galaktischen“ Gemeinwesens wird hier die kosmologische Ordnung, die sich in der Fruchtbarkeit der Felder manifestiert, vom Zentrum in die Peripherie gestreut. Diese Staffelung erreicht in den Akha-Dörfern eine noch niedrigere Ebene, die des Haushalts. Im hinteren Teil jedes Wohnhauses, im Schlafbereich der Familie, befindet sich in der Mitte der Rückwand ein ‚Ahnenpfosten‘ mit einem Schrein für die patrilinearen Vorfahren der Familie. Weiter vorne, also entfernt von diesem Zentrum, können in einem abgesenkten Bereich Gäste empfangen werden, und außerhalb der Wände liegt eine Veranda.30 An allen diesen Orten finden rituelle Akte statt, die sich auf den zentralen oder peripheren Charakter der jeweils darin angesprochenen Geister beziehen. Es sind die väterlichen Vorfahren, welche die Gesundheit der Hausbewohner und den Wohlstand des Hauses gewährleisten. Die Peripherien des Haushalts bzw. das Außen sind hingegen mit schädlichen Geistern und einem gefährlichen Abfluss der Fruchtbarkeitskraft assoziiert, die es durch Rituale abzuwehren gilt. Das Idiom von Zentrum und Peripherie nimmt hier also die Form von Ritualen an, welche die lebensspendende kosmische Kraft bündeln und dabei sowohl die Personen wie auch das Dorf als virtuelle Ganzheiten, d. h. kohärent und begrenzt, erscheinen lassen.31 Aus der Perspektive des Hauses kann jedoch auch das Dorfzentrum, also der dzoema, durchaus mit gefährlichen Einflüssen assoziiert werden. Die Akha kennen mehrere Formen von Krankheit, die unabsichtlich durch den Einfluss des rituellen Dorfoberhauptes ausgelöst werden.32 Dies korrespondiert mit der Vorstellung, der Einfluss der politischen Zentren im Tiefland könne für das Dorf schädigend sein.33 Der Beziehung von Zentrum und Peripherie unterliegt eine Spannung, die sich insbesondere in den Fürstentümern und Königreichen des Tieflands äußert, wie sie bis ins frühe 20. Jahrhundert bestanden. In einigen Kontexten beziehen die Satelliten ihre Ordnung und fruchtbarkeitsspendende Kraft vom Zentrum. Da sie aber dieselbe Struktur aufweisen und sich über dieselbe Bündelung von Kraft reproduzieren, besteht unablässig die Gefahr, dass sie sich vom Zentrum lösen, um 30 31 32 33

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Vgl. TOOKER, 1996, S. 338f. Vgl. SPRENGER, 2008. Vgl. TOOKER, 1996, S. 340-342. Vgl. EBD., S. 336.

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selbst ein Zentrum zu bilden, mit zusätzlichen Peripherien in Form von Dörfern oder einzelnen Haushalten. Was politisch als Umsturz erscheinen mag, ist strukturell gesehen eine Verlagerung des Schwerpunkts oder, besser noch, eine Umgewichtung von Kontexten: Der untergeordnete Kontext, in dem der Satellit schon zuvor sein eigenes Zentrum war – in dem er Macht über seine eigenen Satelliten ausübte und diese mit rituell produzierter Lebenskraft versorgte –, wird nun zum dominanten. Für die Gemeinwesen des Tieflands hat Stanley J. Tambiah diese Oszillation untersucht.34 Sein Schwerpunkt lag dabei auf den ökonomischen und politischen Kräfteverhältnissen, doch die semantische und kosmologische Dimension darf nicht unterschlagen werden. Für diese lässt sich konstatieren: Das Idiom von Zentrum und Peripherie ist nicht automatisch an eine Hierarchie von Macht, Reichtum oder zivilisatorischem Glanz gebunden. Aus Sicht der Akha ist nämlich der thailändische Staat ebenso Peripherie wie der rituelle Dorfführer aus der Sicht der Haushalte. Diese Sicht wird über die rituelle Regelung der Kraftflüsse konstruiert. Die Spannung, die sich in der politischen Geschichte der Tieflandfürstentümer niederschlägt, lässt sich vermutlich in kleinerer Fassung auch in den Akha-Dörfern finden: Das von Tooker untersuchte Dorf setzte sich aus Flüchtlingen aus Burma zusammen, die sich als Haushalte von ihren Ursprungsdörfern getrennt hatten. Als das Dorf in den 1990er Jahren zunehmend in globale Beziehungsnetze und den Nationalstaat eingegliedert wurde, spaltete es sich in eine Reihe kosmologisch definierter, virtueller Unterdörfer – einige behielten verschiedene Formen der Akha-Rituale bei, während andere zu verschiedenen christlichen Konfessionen konvertierten oder das Ritualsystem der benachbarten Lahu übernahmen.35 Die semantische Bedingung für diese Aufspaltung war die multiple Zuschreibung von Zentren und Peripherien.

A n a r c h is t e n v o n K a is e r s G n a d e n – d ie Y a o Eine andere Lesart der Zentrum-Peripherie-Beziehung findet sich bei den Yao bzw. Mien, einer Kategorie von Hmong-Mien-Sprechern, die 34 TAMBIAH, 1985. 35 Vgl. TOOKER, 2004.

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ebenfalls aus dem Süden Chinas nach Südostasien eingewandert sind. Während die Zentrum-Peripherie-Beziehung der Akha so gestaltet ist, dass sie sich als transkulturelles Kommunikationsmittel mit den „galaktischen“ Gemeinwesen des Tieflands eignet, ist die Form, in der die Yao den Unterschied zwischen sich und ihrer ethnisch-kulturellen Umwelt konzipieren, von der Nachbarschaft zum chinesischen Kaiserreich geprägt. Dies geht mit einer Umkehrung der Zentrum-Peripherie-Beziehung einher. Während in Ritualen und Mythen der Akha ihre eigene Zentralität artikuliert wird, situieren sich die Yao über Mythen und Dokumente an der Peripherie Chinas.36 Das zentrale identitätsstiftende Schriftstück der Yao wird als „König Pings Freibrief“ oder „Erlaubnis zur Überquerung der Berge“ bezeichnet. Zahlreiche Versionen dieses auf Chinesisch verfassten Textes existieren unter den Yao und werden insbesondere von angesehenen Familien verwahrt. Darin werden den Yao spezifische Privilegien zuerkannt, die sie weitgehend unabhängig von der chinesischen Oberherrschaft machen: Sie dürfen in den Bergen Brandrodungsfeldbau betreiben – eine Technik, die aufgrund der damit verbundenen Mobilität den meisten modernen wie vormodernen Staaten ein Dorn im Auge ist –, müssen weder Frondienste leisten noch Steuern zahlen und sind nicht verpflichtet, kaiserlichen Beamten Respekt zu zollen. Auf der anderen Seite ist ihnen die Heirat mit Chinesen verboten. Der Ursprung dieser Sonderrechte wird mit einem Mythos begründet: Kaiser Ping versprach dem, der den Rebellengeneral Gao besiegte, die Hand seiner Tochter. Pan Hu, der ‚Drachenhund‘, übernahm diese Aufgabe. Die zwölf Kinder, die er später mit der Tochter des Kaisers zeugte, wurden die Ahnen der zwölf Yao-Clans, die aufgrund ihrer Abstammung die besagten Sonderrechte erhielten.37 Ob „König Pings Freibrief“ tatsächlich auf einem kaiserlichen Erlass beruht, ist fraglich. Weder konnte der mythische König identifiziert werden, noch vermochte die Forschung ein entsprechendes Dokument in chinesischen Archiven zu lokalisieren. Chinesische Forscher wie Yu Huang vermuten, dass die Tang-Zeit für einen solchen Erlass von Minderheitenrechten ein günstiges soziales Klima bot,38 doch ter Haar leitet 36 Vgl. LEMOINE, 1982. 37 Vgl. HUANG, 1991; CUSHMAN, 1970, Anhang II, S. 13-29. 38 HUANG, 1991.

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aus formalen und sprachlichen Eigenheiten der Texte ab,39 dass sie die Yao selbst verfasst haben. Auf diese Weise konnten sie demonstrieren, dass sie chinesisch waren, ohne deshalb ethnische Chinesen (Han) sein zu müssen.40 Das Dokument gab ein glaubwürdiges Mittel ab, um die Tatsache der kulturellen Eigenheit der Yao über die Grenze zwischen ihnen und den lokalen chinesischen Beamten hinweg zu kommunizieren – und dieses Medium wirkte aufgrund des hohen Ansehens Chinas selbst dann noch, als die Yao nach Südostasien einwanderten.41 Dabei griffen sie inhaltlich auf einen Mythos zurück, der auch in chinesischen Quellen als Ursprung einiger südlicher ‚Barbaren‘ verzeichnet ist, und zwar seit dem 3. Jahrhundert n. Chr.42 Ob der Mythos vom Hundeahnen zuerst von Han-Chinesen oder von Nicht-Han im Süden erzählt wurde, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Doch indem sich die Yao der Gegenwart mit diesem Mythos identifizieren, pflegen sie ein transkulturelles Kommunikationsmittel, mit dem sie sich historisch am Rand, aber immer noch innerhalb des Wirkungskreises des chinesischen Staates platzieren. Das Zentrum ist in dieser Konstellation der chinesische Kaiserhof und somit die Quelle autoritativer Formen. Das gilt selbst für die Definition der Menschlichkeit, denn der Mythos definiert vollständige Menschlichkeit als Han-chinesisch, während die Yao Abkömmlinge eines loyalen Hundes sind: zugehörig dem Hof, doch nicht der Menschheit. Mit Mitteln der Gleichheit kommunizieren die Yao so ihre Unterschiedlichkeit. Dokument und Mythos fungieren als Relaispunkte, an denen die Autorität des chinesischen Kaisers systemadäquat umgerechnet wird: von direkter Machtausübung zur Legitimierung von Herrschaftsfreiheit. Die Yao nutzen die Formensprache herrschaftlicher Autorität, um auszudrücken, dass sie dieser Herrschaft nicht unterstehen. Der Mythos sorgt hier für eine eigentümliche Umkehrung: Dem loyalen Nichtmenschen wird das Privileg zugestanden, illoyale Menschen hervorzubringen.

39 TER HAAR, 1998. 40 Vgl. EBD., S. 5. 41 Vgl. ALBERTS, 2006, S. 183, Fn. 453; JONSSON, 2005, S. 27. 42 Vgl. ALBERTS, 2006, S. 50-52; TER HAAR, 1998, S. 6.

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D ie G e o m a n t ik d e r H m o n g Die bisherigen Beispiele haben gezeigt, wie die Zentrum-PeripherieBeziehung genutzt werden kann, um ethnische Identität zu produzieren – eine Identität, die erst im Laufe einer Geschichte von Interaktionen und Migrationen zustande kommt. Dabei wurden Modelle von Unterschieden und Grenzen entwickelt, die sowohl von den jeweiligen Hochlandbewohnern wie ihren Nachbarn im Tiefland verstanden werden können. Obwohl die Akha ein Idiom der Differenz mit den Thai teilen und dasselbe für die Yao und die Chinesen gilt, setzen sie diese Idiome dazu ein, um eine Distanz zu den jeweiligen politischen Zentren zu wahren. Die folgenden zwei Beispiele zeigen eine umgekehrte Konstellation, und zwar erneut sowohl im chinesischen wie im südostasiatischen Kontext. Die Geomantik der Hmong etabliert diese nicht nur selbst als potentielles Zentrum, sondern verortet sie auf dieselbe Weise in ihrer geographischen Umgebung wie die Chinesen. Auch die Rmeet setzen das Segensritual des Handumbindens so ein, dass eine direkte, inklusive Kommunikation mit dem Tiefland ermöglicht wird, zugleich aber darin die Zentralität und Spezifizität der Rmeet-Dorfgesellschaften zum Ausdruck kommt. Wie die Yao sprechen die Hmong eine Hmong-Mien-Sprache und siedeln mehrheitlich im Süden Chinas. Von dort haben sie sich ebenfalls ab dem 19. Jahrhundert nach Laos, Vietnam und später Thailand ausgebreitet.43 Dort sammelten Nicolas Tapp und Christian Postert Daten, auf denen die folgenden Ausführungen beruhen. Wie die Yao definieren auch die Hmong ihren Ursprung in Bezug auf die Chinesen, doch thematisiert ihr Ursprungsmythos Benachteiligung und Ausgrenzung. Überdies nimmt er direkten Bezug auf die Praxis der Geomantik, die in China als feng shui bezeichnet wird und primär dazu dient, Gräber und Häuser so in der Landschaft zu situieren, dass sie in optimaler Weise von unsichtbaren Kräfteflüssen profitieren. Berge, Wasserläufe und Himmelsrichtungen werden von chinesischen Geomantik-Meistern auf subtile und komplexe Weise gedeutet, um den Nachfahren eines Begrabenen oder den Bewohnern eines Hauses Gesundheit, Wohlstand

43 Vgl. CULAS, 2000; CULAS/MICHAUD, 2004.

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und Macht zu verschaffen.44 Eine sehr ähnliche Technik setzen die Hmong ein, um die in die Landschaft eingebetteten „Drachenvenen“ zu deuten.45 Diese bestimmen nicht nur Macht und Glück der Nachfahren der Begrabenen, sie ermöglichen auch weitere soziale Differenzierungen: Jede Drachenvene hat ihre Charakteristika, und ein Armer sollte nicht auf einer Drachenvene leben, die zu einem Reichen passt, ein Ehrlicher nicht auf einer, die einem Dieb angemessen ist usw.46 Der zugrunde liegende Mythos, von dem nicht bekannt ist, ob er auch, wie bei den Yao, Chinesen vertraut ist, erzählt Folgendes: Die Nachkommen zweier Brüder konkurrierten um das optimale Begräbnis, durch das derjenige Tote, dem als Erstem das Genick bräche, zum König im Himmel aufstiege und seine Nachkommen daher zu irdischen Königen würden. Die beiden Brüder wurden nebeneinander begraben, der reichere Ältere mit einem Stück Gold unter dem Nacken, der ärmere Jüngere mit einem Stein. Als die Kinder des Älteren bemerkten, dass dem Jüngeren das Genick zuerst brechen würde, tauschten sie Stein gegen Gold. Darauf brach dem Älteren das Genick zuerst, und seine Nachfahren wurden die Chinesen, während aus den Nachfahren des Jüngeren, die sich enttäuscht und betrogen von ihren Cousins trennten, die Hmong entstanden.47 Das Mittel, durch das die Konkurrenz der zwei Abstammungslinien ausgedrückt wird, ist das von Chinesen wie Hmong gleichermaßen verstandene Prinzip der Geomantik. Inwieweit die Hmong die Geomantik von den Chinesen übernommen haben, ist ungeklärt. Gewiss ist das chinesische feng shui sehr viel differenzierter als das Lesen der Drachenvenen der Hmong, jedoch korrespondiert dies mit dem weit höheren Maß an funktionaler Differenzierung und Arbeitsteilung bei den Chinesen: Ein Hmong könnte kaum als Geomantik-Meister seinen Lebensunterhalt bestreiten, da Hmong-Haushalte traditionell auf der Subsistenzwirtschaft beruhen und es keine hohe und regelmäßige Bezahlung für rituelle Dienstleistungen gibt. Auch die Verwendung chinesischer Namen für Territorialgeister, die sich bei den Hmong findet, unterstützt die These einer Übernahme, ebenso wie der hohe Wert, den 44 45 46 47

Vgl. BRUUN, 1995; FEUCHTWANG, 1974. Vgl. POSTERT, 2003, S. 60. Vgl. EBD., S. 70 und S. 76. Vgl. TAPP, 1989, S. 159f.

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die Hmong chinesischem geomantischem Wissen beimessen.48 Jedoch hat Tapp die konkurrierende These aufgestellt, dass die Geomantik in einem transkulturellen Nexus in Südchina entstand, an dem sowohl Chinesen wie Hmong bzw. Miao beteiligt waren, zu einem Zeitpunkt, der vor der Etablierung einer anerkannten kulturellen Grenze zwischen den Gruppen lag.49 Konkrete Beweise für diese These führt Tapp zwar nicht an, doch ist es andererseits unwahrscheinlich, dass solche Einflüsse überhaupt Spuren in der sinozentrischen Geschichtsschreibung der Chinesen hinterlassen hätten. Auffallend ist jedoch, dass sich Geomantik vorzüglich für Gruppen eignet, die unentwegt migrieren. Dies ist bei den Hmong der Fall, teils aufgrund des Brandrodungsfeldbaus, der die jährliche Anlage neuer Felder erfordert, teils aufgrund der Konflikte mit dem chinesischen Staat. Diese äußern sich u. a. in millenaristischen Bewegungen, mit denen die Hmong das Königreich zurückzuerlangen versuchen, aus dem die Chinesen sie in mythischer Vergangenheit vertrieben haben.50 Im Rahmen solcher Migrationen ermöglicht es die Geomantik, mit Hilfe eines Satzes flexibler Regeln jede neue geographische Umgebung zu deuten und vertraut zu machen. Kein Ort wird als einziges Heimatland oder als exklusive Quelle von Identität und kosmologischer Kraft essentialisiert. Das entspricht der Praktik der Hmong, ihre Nostalgie auf den jeweils vorangegangenen Migrationsort zu richten.51 Geomantik als eine Technik, die jeden beliebigen Raum kosmologisch erschließt, passt besser zur mobilen Lebensweise der Hmong als zu den sesshafteren Chinesen. Dies korrespondiert im Übrigen mit der Selbstkonzeption der Hmong als Bergvolk: Überall, wo sie sind, sind die „Hmong-Berge“.52 Zugleich liefert die Geomantik eine Erklärung für die interne Differenzierung der Gesellschaft. Hier ist ein weiterer Ursprungsmythos von Belang, eine Version des in Zomia sehr verbreiteten Mythos von der Urflut. Diese Flut überlebt lediglich ein Geschwisterpaar, das danach durch eine unnatürliche Geburt (z. B. eines kopf- und gliederlosen Fleischklumpens, der später zerteilt wird) sämtliche Ethnien der Welt hervorbringt. Auch diese Erzählung ist ein transkulturelles Kommuni48 49 50 51 52

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Vgl. POSTERT, 2003, S. 69 und S. 77. Vgl. TAPP, 1986. Vgl. POSTERT, 2004; CULAS, 2004. Vgl. TAPP, 2010; TOMFORDE, 2006, S. 145. TOMFORDE, 2006, S. 160.

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kationsmedium, da sie von zahlreichen Hochlandbewohnern geteilt wird,53 und das mag erklären, warum die Hmong vermeintlich widersprüchliche Ursprungsmythen erzählen: Der zuvor genannte über die konkurrierenden Brüder bildet einen Rahmen für die Beziehungen zu den Chinesen, während der Flutmythos eine Kommunikationsgrundlage mit benachbarten Hochlandbewohnern bildet. Dennoch zeichnet sich die Hmong-Version der Fluterzählung auch durch implizite Verweise auf die Geomantik aus. Zu Beginn, heißt es, war die Welt flach. Dann wurde sie überschwemmt, doch damit das Wasser ablaufen konnte, erschuf der Donner Berge und Täler.54 Geomantisch gesehen ist eine flache Welt bedeutungslos, und eine Unterscheidung von Armen und Reichen, Mächtigen und Untertanen etc. ist unmöglich. Die Entstehung der Berge bildet damit nicht nur die Bedingung für die Identität der Hmong als Bergvolk, sondern auch für ihre interne Differenzierung. Der Donner wird dabei mit dem Norden assoziiert, d. h. mit China und mit dem Prinzip von Macht und Hierarchie.55 Im Unterschied jedoch zum Modell von „König Pings Freibrief“ der Mien, bei dem die Autorität stets im chinesischen Reich verankert ist, bietet die Geomantik die Möglichkeit einer Umkehrung der Verhältnisse: Das optimale Begräbnis würde aus den Nachkommen Könige, und damit den Chinesen gleichgestellte Hmong, machen. Das Lesen der Drachenvenen beinhaltet also das Potential, das Zentrum absolut – und nicht nur, wie bei den Akha, relativ – zu verschieben. Zugleich wird dabei die Kontinuität mit chinesischen kulturellen Repräsentationen betont: Das wertvollste geomantische Wissen stammt aus China. Explizit wird also die Geomantik nicht genutzt, um die Autonomie der Hmong zu betonen, so wie dies „König Pings Freibrief“ oder die Rituale der Akha tun. Doch diese Kontinuität kann täuschen, wie der folgende Abschnitt zeigt.

53 Vgl. DANG NGHIEM VAN, 1993; PROSCHAN, 2001; SPRENGER, 2006, S. 6467. 54 Vgl. MOTTIN, 1980, S. 27-35. 55 Vgl. POSTERT, 2003, S. 74.

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D a s U m b in d e n d e r H ä n d e b e i d e n R m e e t In ganz Laos, aber auch in Thailand, wird Segen gewährt, indem dem Adressaten eines Rituals Fäden um das Handgelenk geknotet werden. Diese Fäden sind in der Regel weiß, aber in bestimmten Kontexten erscheinen auch andere Farben, z. B. Orange als die Farbe der Roben buddhistischer Mönche – Letzteres insbesondere bei den Lao, der dominanten und staatsbildenden Ethnie des Landes. Diese Rituale finden zu verschiedenen Anlässen statt, welche mit Übergängen assoziiert sind: die Heilung von Krankheiten, der Beginn einer Reise oder die Wiederkehr davon, Geburten, Hochzeiten usw. Das Umbinden der Handgelenke bildet jeweils nur einen Teil dieser meist weit komplexeren Rituale. Dabei werden oft nicht nur die Personen, die unmittelbar den Anlass für das Ritual geben, sondern auch ihre Familienmitglieder und andere Anwesende, denen die Teilnehmer Gutes wünschen wollen, einbezogen. Segen wird also informell und expansiv als ordnungs- und lebensstiftender Akt gestreut. Das Umbinden der Handgelenke bezieht sich in der Regel auf einen nichtkörperlichen, unsichtbaren Aspekt der Person, der mit ‚Seele‘ nur irreführend bezeichnet wäre. Dieser ist flüchtig und kann sich unter bestimmten Bedingungen vom Körper lösen; vorübergehende Abwesenheit löst Krankheiten aus, ständige Abwesenheit den Tod. Es sind aber nur die allgemeinsten Grundlagen, die von den verschiedenen Ethnien in Laos geteilt werden – und obwohl es oft angenommen wird, ist nicht erwiesen, dass jede Gruppe das Ritual auf die gleiche Weise praktiziert. Nicht nur relativ rezent zugewanderte Gruppen wie die Yao oder Hmong haben das Ritual nur in Ansätzen oder gar nicht übernommen. Auch bei den Jru‘, einer größeren Ethnie im Süden, scheint das Ritual lediglich als ‚Brauch der Lao‘ bekannt zu sein und wird ausdrücklich nur in von diesen entlehnten Ritualen durchgeführt. 56 Zu den Gruppen, die das Ritual regulär praktizieren, gehören die Rmeet (Lamet). Etwa 20.000 Personen werden in Laos zu dieser Mon56 Soweit nicht anders gekennzeichnet, stammen die folgenden Daten aus meinen eigenen Feldforschungen. Seit 2000 habe ich ca. zwei Jahre bei den Rmeet im Distrikt Nalae, Provinz Luang Nam Tha, sowie in der Provinz Bokaeo, und ca. drei Monate bei den Jru‘ (Loven) im Distrikt Paksong, Provinz Champassak, geforscht.

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Khmer-sprachigen Gruppe gerechnet; im Gegensatz zu den bisher genannten Ethnien gibt es keine Hinweise auf eine Migration in der Vergangenheit. Bei den Rmeet bezieht sich das Ritual auf eine klpu genannte Komponente der Person, die im Schlaf mit Geistern kommuniziert, was als Traum wahrgenommen wird, und sich nach dem Tod in den Totengeist verwandelt. Die Anlässe entsprechen den oben gelisteten; wie auch bei den Lao des Tieflands sprechen diejenigen, welche die Fäden knüpfen, Segenswünsche aus, die teils konventionell, teils improvisiert sind. Dabei hebt der Adressat die jeweils nicht bebundene Hand zu einer Geste des Respekts. Das Ritual bindet das klpu an den Körper und sorgt so für die Integrität der Person und ihre Gesundheit in Zeiten von Übergang und Krise.57 Damit stärken die Ritualteilnehmer die Beziehungen, die der Adressat mit ihnen, den lebenden Menschen, unterhält. Beziehungen zu den Totengeistern und denen von Wald und Landschaft werden dagegen verhindert. Die Durchführung des Rituals kommt einer Sozialisierung gleich, der Ausdehnung einer Körper und klpu verknüpfenden Ordnung auf den Adressaten, der an den Rand des Sozialen zu rücken droht. In dieser Hinsicht gleicht das Händeumbinden den rituellen Praktiken der Akha: Es definiert die auf das Dorf konzentrierte Sozialität der Lebenden und etabliert dieses gewissermaßen als Zentrum. Dies wird besonders deutlich, wenn das Ritual für hochgeschätzte Besucher wie Beamte, Ärzte oder Entwicklungshelfer durchgeführt wird. Diese werden nach den Worten der Rmeet wie Waisenkinder behandelt, die allein im Wald sind – kurz, wie Menschen, denen es an Sozialität gebricht, selbst wenn die Gemeinten aus den Städten des Tieflands oder aus Europa kommen. Das Handgelenkumbinden macht sie zu ‚Kindern der Rmeet‘, die terminologisch wie reguläre Verwandte angesprochen werden. Wiederum erscheint das Dorf als ein sozialisierendes Zentrum und alles außerhalb des Dorfes als Peripherie, auf die die kosmologische Ordnung des Zentrums ausgedehnt werden kann. Doch die Transkulturalität dieser Konstruktion von Ordnung geht noch weiter: Während sowohl die Besucher – insbesondere Lao aus dem Tiefland – wie auch die Rmeet gleichermaßen überzeugt sind, das 57 Vgl. IZIKOWITZ, 1941.

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gleiche, vertraute Ritual durchzuführen, weichen seine Deutungen signifikant voneinander ab. Zwar ist das für sich genommen bei Ritualen nicht ungewöhnlich – verschiedene Akteure vermögen dasselbe Ritual unterschiedlich zu deuten –, doch in vielerlei Hinsicht verlaufen die Deutungsdivergenzen in diesem Fall entlang ethnischer Grenzen; oder besser: Die Divergenz der Deutungen gehört zu jenen Faktoren, die die Grenze reproduzieren und stabilisieren. Das gilt insbesondere für zwei Aspekte. Den Rmeet zufolge hat jeder Mensch nur ein klpu.58 Die Lao hingegen beziehen das Ritual auf die 32 khwan, eine andere Form von Lebenskraft, die sich nicht mit klpu deckt. Khwan ist nicht personalisiert und existiert nicht als Totengeist fort, wenn auch einige Quellen seinen Fortbestand nach dem Tod konstatieren. Derjenige Aspekt der Person, der gemäß buddhistischen Vorstellungen nach dem Tod in Himmel oder Hölle eingeht, wird vinyan genannt. Khwan dagegen ist eher als konzentrierte und spezifizierte Lebenskraft zu denken.59 Khwan weist auch Ähnlichkeiten mit dem Rmeet-Begriff pääm auf, der ebenfalls mit dem Atem assoziiert wird, am ehesten aber als ‚lebendige Bewegung‘ beschrieben werden kann. Pääm kann sich aber nicht temporär vom Körper lösen und ist auch nicht zählbar. Der zweite Aspekt bezieht sich auf das Ritual selbst. Bei größeren und bedeutenderen Ritualen des Handgelenkumbindens wird bei den Rmeet ein Huhn oder Schwein geschlachtet und das Blut dabei auf die Knie und Schienbeine der Adressaten geträufelt. Dadurch, wie auch mit dem anschließend zubereiteten Fleisch und Reis, wird klpu ebenfalls verspeist und somit zum Verweilen im Körper veranlasst. Sind die Adressaten jedoch keine Rmeet, sondern buddhistische Lao, wird auf diesen Teil des Rituals gern verzichtet, wie überhaupt die blutigen Aspekte von Ritualen für Geister, die im Wesentlichen denselben Vorstellungen folgen, vor den Lao verborgen werden. In diesem Zusammenhang neigen Rmeet dazu, ihre Rituale als ‚beschämend‘ zu betrachten.60 Hier zeigt sich nicht nur, dass das klpu der Rmeet anders verfasst ist als das khwan der Lao, das durch Blutgaben nicht beeinflusst werden kann. 58 Izikowitz, der in den 1930er Jahren bei den Rmeet forschte, spricht von zweien, eine Diskrepanz, die sich bislang nicht erklären lässt (vgl. IZIKOWITZ, 1979). 59 Vgl. MAYOURY, 1990; ANUMAN RAJADHON, 1962. 60 Vgl. SPRENGER, 2009.

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Auch ist die Bedeutung des Handgelenkumbindens durch andere begleitende Akte bestimmt. Dabei ist es gerade diese Divergenz – auf der einen Seite Buddhismus, auf der anderen Opfer –, die die Rmeet zu einer Beschreibung der kulturellen Grenze nutzen: Am Unterschied der Rituale reflektieren sie ihre Andersartigkeit von den Lao und ihre Beziehung zu ihnen. Dabei fassten meine Informanten das Handgelenkumbinden durchaus nicht als Entlehnung auf, sondern als mit den Lao geteilten Brauch. In der Rhetorik wurde also, wie bei der Geomantik der Hmong, die Kontinuität betont. Die Praxis jedoch zeigt, was ich ein ‚strukturiertes Missverständnis‘ nennen möchte. Dabei besteht zwischen den missverstehenden Parteien durchaus ein Konsens darüber, dass man sich einer gemeinsamen Ausdrucksweise bedient, in diesem Fall eines rituellen Aktes. Beide Seiten, so kann man vermuten, sind der Ansicht, ihre Bedeutungsräume zu teilen und ein Ritual durchzuführen, das die gesamte Nation von Laos vereint. Dass dieses Ritual letztlich unterschiedliche Anschlüsse an die jeweiligen rituellen Systeme aufweist und daher streng genommen nicht dasselbe ist, wird dabei weitgehend ignoriert: Zur Kommunikation genügt es, den Akt zu dekontextualisieren, seine Bedeutungsdimensionen zu reduzieren und ihn so zu einem transkulturellen Kommunikationsmittel zu machen. Diese Reduktion, das Ignorieren bedeutungsstiftender Verknüpfungen, ist ein wesentlicher Faktor in der Sicherstellung der Kommunikation im transkulturellen Feld.

S c h lu s s Die vorangegangene Diskussion sollte weniger als Vergleich verschiedener Kulturen verstanden werden, sondern vielmehr als Vergleich verschiedener Ausprägungen desselben Beziehungstyps, der in verschiedenen kulturellen Kontexten unterschiedliche Gestalt annimmt. Dabei sind einige Variablen erkennbar: Die Zentrum-Peripherie-Beziehung, mit der Gemeinwesen des Hochlands ihre Außenbeziehungen und Grenzen konzipieren, wird durch unterschiedliche semantische Mittel verwirklicht, je nachdem, ob sie sich in der Kommunikation mit China oder den Fürstentümern Südostasiens entwickelt hat. Ebenso macht es einen Unterschied, ob damit Kontinuität mit den einflussrei-

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chen Nachbarn betont wird, wie das bei der Geomantik der Hmong oder dem Handgelenkumbinden der Rmeet der Fall ist, oder das Medium eingesetzt wird, um sich von der Umgebung abzugrenzen, wie etwa bei den Räumlichkeitsvorstellungen der Akha oder den Yao-Manuskripten. Jedoch können sich Inklusion und Exklusion nie gegenseitig ausschließen: Immer geht es darum, mit Hilfe einer gemeinsamen Ausdrucksweise Unterschiede zu pflegen. Der Ursprungsmythos der Hmong betont die Diskontinuität, ebenso wie die Form des chinesischen Dokuments den Yao dem Ausdruck von Kontinuität mit dem Staat dient. Damit etablieren die Hochlandgesellschaften Medien transkultureller Kommunikation, mit denen sie sich für die benachbarten historischen Staaten sichtbar machen konnten und z. T. noch können. Zugleich stellen diese kulturellen Repräsentationen Relaispunkte dar, mit denen Ereignisse außerhalb der lokalen sozialen und rituellen Systeme intern verarbeitet werden können. Somit werden sie zu Mitteln, um mit den Grenzen des Systems zugleich dessen konstitutive Beziehungen zu reproduzieren. Daher erweisen sich diese Repräsentationen als außerordentlich beständig, auch dann, wenn eine Gruppe aus China nach Südostasien wandert oder Fürstentümer durch Nationalstaaten ersetzt werden. Doch dazu gesellen sich in der Gegenwart weitere Kommunikationsmedien, die dem modernen Nationalstaat gemäß sind – dazu zählt die Folklorisierung der kulturellen Differenz in Form von Tänzen und Festivals.61 Die variablen Fassungen der Zentrum-Peripherie-Beziehung dienen dabei als Idiome eines Übersetzungsmechanismus, der Grenzen etabliert und zugleich für alle Seiten prozessierbar macht.

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Transkulturelle Dynamiken im TV Theoretische Perspektiven und Anwendungsfelder am Beispiel von Fernsehserien CHRISTOPH VATTER Das Fernsehen stellt immer noch das am weitesten verbreitete Massenmedium in den Industriegesellschaften dar – keine andere kulturelle Praxis wird von nahezu der gesamten Bevölkerung über alle Altersgruppen und soziale Schichten hinweg geteilt, selbst wenn sich durch neue Nutzungsgewohnheiten und Medienangebote, insbesondere im Zusammenhang mit dem Internet, ein Rückgang dieser Dominanz abzeichnet, vor allem bei den jüngeren Generationen. Die Vitalität des Mediums Fernsehen zeigt sich z. B. in aktuellen Fernsehserien, einer Gattung, die wie kaum eine andere für transkulturelle Dynamiken in diesem Bereich steht und die sowohl beim Publikum große Popularität genießt als auch von Kritikern als qualitativ hochwertig und künstlerisch innovativ gelobt wird – manche Beobachter schreiben Serien gar das größte kreative Potential der narrativen filmischen Genres zu, die auch dem Kinofilm den Rang ablaufen würden.1 In TV-Serien werden gesellschaftliche Fragen und Problemfelder verhandelt; in ihnen finden sich selbstreflexive Ansätze über das Medium, und auch der Medienwandel der letzten Jahrzehnte spiegelt sich darin wider.2

1 2

Vgl. ESQUENAZI, 2010. Vgl. BEIL u. a., 2012.

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Außerdem kristallisieren sich in Fernsehserien aktuelle medien- und kulturwissenschaftliche Fragestellungen wie die des Einflusses neuer Akteure und neuer Nutzungsgewohnheiten sowie Fragen nach dem transkulturellen Potential des Mediums und der interkulturellen Kommunikation. Denn unter den Produzenten aktueller Erfolgsserien finden sich zunehmend auch Anbieter von Streaming-Diensten wie z. B. die Plattform Netflix, die die Politthriller-Serie House of Cards (2013) mit Kevin Spacey zunächst über das Internet ausstrahlte, ehe sie auch von traditionellen Fernsehsendern übernommen wurde. Die weltweite Verbreitung und Popularität dieser qualitativ hochwertigen Produktionen, wie z. B. jene der US-amerikanischen Bezahlsender HBO und Showtime, die seit Anfang der 1990er Jahre für Innovation und Erfindungsreichtum in diesem Bereich stehen, werfen Fragen nach den Faktoren für den internationalen und transkulturellen Erfolg von Fernsehserien und der Rezeptionssituation in anderen Kulturen auf.3 Im Folgenden sollen daher zunächst theoretische und methodische Überlegungen zum Verhältnis zwischen Kultur und der Analyse von Medien, insbesondere dem Fernsehen, angestellt werden. Aktuelle Tendenzen in der medien- und kommunikationswissenschaftlichen Forschung sollen diskutiert und der Ansatz der interkulturellen Medienanalyse vorgestellt werden. Im nächsten Schritt stehen Fragen nach der interkulturellen Vermittlerrolle des Mediums Fernsehen sowie nach den Dynamiken zwischen transkulturellem Potential und kulturspezifischlokalen Aneignungsprozessen im Zentrum der Überlegungen. Als Beispiele dienen die Berichterstattung über andere Kulturen sowie die Vampir-Serie True Blood und ihre interkulturelle Rezeption in Deutschland. Anknüpfend an letzteres Beispiel soll schließlich exemplarisch anhand von aktuellen Fernsehserien aus Nordamerika und Europa illustriert werden, wie im Medium Fernsehen die Themen Multikulturalismus, Integration und interkulturelle Kommunikation in verschiedenen kulturellen Kontexten auf jeweils spezifische Art und Weise aufgegriffen und verhandelt werden.

3

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Friedrich Krotz verweist auf die grundsätzliche Kulturspezifik der Rezeption von Fernsehprogrammen und zeigt die Komplexität der Untersuchung interkultureller Rezeptionsprozesse auf (vgl. KROTZ, 2002).

Transkulturelle Dynamiken im TV

A n s ä tz e z u r E r fo r s c h u n g tra n s k u ltu r e lle r M e d ie n k o m m u n ik a tio n u n d in te r k u ltu r e lle Medienanalyse Seit etwas mehr als zehn Jahren, und damit etwas später als in den Literatur- und Kulturwissenschaften, die insbesondere postkoloniale Strömungen früher aufgenommen haben, hat sich in den Medien- und Kommunikationswissenschaften im deutschsprachigen Raum ein zunehmend an Kontur gewinnendes Forschungsfeld zur grenzüberschreitenden Medienkommunikation etabliert. Dieses lässt sich mit Hartmut Wessler und Stefanie Averbeck-Lietz hinsichtlich des Bezugs auf Grenzen bzw. deren Überschreitung und Überwindung sowie hinsichtlich der inter- bzw. transkulturellen oder -nationalen Dimension beschreiben:4 Forschungsfeld Grenzüberschreitende Kommunikation Grenzgebundenheit

Grenzüberschreitung

Nationale Kommunikation

Internationale/ interkulturelle Kommunikation

Grenzüberschreitung & Grenzüberwindung Transnationale/ transkulturelle Kommunikation

Tabelle 1: Perspektiven auf Medienkommunikation unter den Bedingungen der Globalisierung5 Während eine nationalstaatliche Perspektive grundsätzlich davon ausgeht, dass die Medienkommunikation durch nationale bzw. kulturelle Grenzen determiniert und beschränkt wird, zielt das Präfix ‚inter-‘ in erster Linie auf die (kommunikativen) Beziehungen zwischen Kulturen ab,6 ganz im Sinne eines engeren Verständnisses von interkultureller 4 5 6

Vgl. WESSLER/AVERBECK-LIETZ, 2012; WESSLER/BRÜGGEMANN, 2012. WESSLER/AVERBECK-LIETZ, 2012, S. 9. In der angloamerikanischen interkulturellen Forschung hat sich hier die Unterscheidung zwischen „inter-cultural“ und „cross-cultural“ durchge-

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Kommunikation, bei dem insbesondere die Face-to-face-Kommunikation im Zentrum der Forschung steht. Nach einem erweiterten Verständnis von interkultureller Kommunikation rücken neben dieser interpersonalen Dimension auch deren mediale und mediatisierte Formen in den Fokus, d. h. die Darstellung interkultureller Kommunikationsprozesse in verschiedenen Medien wie Radio, Film, Fernsehen oder auch dem Internet.7 Eine internationale/interkulturelle Perspektive unterstreicht also die Verbindungen zwischen Ländern bzw. Kulturen und überschreitet demnach Grenzen. Transnationale/transkulturelle Kommunikation beschreibt darauf aufbauend mediale Kommunikation, die gleichsam quer zu Grenzen verläuft und diese transzendiert. Mit dem Begriff der „Grenzüberwindung“ verweisen die Autoren auf einen so neu entstehenden Kommunikationsraum, in dem die Wirkmacht staatlicher und kultureller Grenzen gegenüber anderen Vernetzungen an Bedeutung verliert.8 Die Konzepte „transnational“ und „transkulturell“, die in der obigen Darstellung parallel angeführt werden, können in erster Linie durch eine jeweils spezifische, damit verbundene Perspektive unterschieden werden:9 Während eine transnational orientierte Forschung über einen begrenzten (nationalstaatlichen) Rahmen hinausgehende, medial vermittelte Kommunikationsräume in den Fokus nimmt, orientiert sich eine transkulturelle Perspektive maßgeblich an Akteuren der Medienkommunikation.10 Weiterhin sind in disziplinärer Hinsicht transkulturelle Ansätze eher in den Literatur- und Kulturwissenschaften zu verorten, die sich insbesondere auch auf postkoloniale Perspektiven und die einschlägige Theoriebildung beziehen, während sich der Begriff transnational tendenziell eher in politik- und sozialwissetzt, wobei erstere Perspektive konkrete interkulturelle Interaktionssituationen wie Geschäftsverhandlungen oder auch Alltagsgespräche zwischen Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft in den Fokus nimmt, während „cross-cultural“ vor allem kulturvergleichende Studien wie die breit rezipierte und bis heute nachwirkende Untersuchung der Ausprägung verschiedener „Kulturdimensionen“ durch Geert Hofstede seit Anfang der 1970er Jahre (vgl. HOFSTEDE, 2001) bezeichnet. Vgl. zur Unterscheidung zwischen diesen Ansätzen auch LEWIS, 1999 und MÜLLER-JACQUIER, 2004. 7 LÜSEBRINK, 2012, S. 8. 8 Vgl. WESSLER/AVERBECK-LIETZ, 2012, S. 8. 9 Beide Termini werden in einschlägigen Publikationen aber häufig auch synonym verwendet. 10 Vgl. WESSLER/AVERBECK-LIETZ, 2012, S. 10.

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Transkulturelle Dynamiken im TV

senschaftlichen Arbeiten findet. Andreas Hepp unterstreicht in diesem Zusammenhang den mit Transkulturalität verbundenen dynamischen und offenen (entgrenzten) Kulturbegriff,11 der sich mit Wolfgang Welsch wie folgt beschreiben lässt: „‚Transkulturalität‘ will beides anzeigen: dass wir uns heute jenseits der klassischen Kulturverfassung befinden; und dass die neuen Kultur- bzw. Lebensformen durch diese alten Formationen wie selbstverständlich hindurchgehen.“12 Im Kontext von Medien lässt sich das Konzept der Transkulturalität als einen infolge der Globalisierung sehr einfachen, Kulturen übergreifenden Zugang zu Medienangeboten an den verschiedensten Orten der Welt begreifen, die so als „nationenübergreifende Kristallisationsmaterialien von kulturellen Identitäten“ bereitstehen.13 Kultur und kulturelle Identitäten können, so Hepp, folglich als von einem festen Territorium entkoppelt gesehen werden, so dass kulturelle Zugehörigkeiten und Identitäten in einem Zusammen- und Wechselspiel zwischen lokaler Verankerung und Deterritorialisierung gedacht werden müssen.14 Während die skizzierten kommunikationswissenschaftlichen Ansätze der transkulturellen (Hepp) bzw. grenzüberschreitenden Medienkommunikation (Wessler/Averbeck-Lietz) in erster Linie Entwicklungen in den Medienstrukturen, -nutzungsformen und -öffentlichkeiten betrachten, erscheint für die Untersuchung der medialen Repräsentation von Inter- und Transkulturalität die Perspektive der interkulturellen Medienanalyse als produktiv. Bereits 2003 skizzierten Hans-Jürgen Lüsebrink und Klaus Peter Walter die Konturen einer solchen Forschungsperspektive aus der Sicht einer kultur- und medienwissenschaftlich ausgerichteten interkulturellen Romanistik: „Interkulturelle Medienanalyse zielt auf die Erforschung von Phänomenen und Prozessen des Kulturtransfers, der Kulturmischung und des kulturellen Synkretismus in unterschiedlichen Kommunikationsmedien, von den Printmedien über audio-visuelle Medien bis zum Hörfunk und zur Werbung.“15 Die Autoren unterstreichen dabei die Verschränkung und wechselseitige Abhängigkeit interkultureller und komparatistischer Fragestellungen bzw. Untersuchungsperspektiven: Während eine komparatistische Perspekti11 12 13 14 15

Vgl. HEPP, 2004; DERS., 2012. WELSCH, 1992, S. 5. HEPP, 2004, S. 116. Vgl. EBD. LÜSEBRINK/WALTER, 2003, S. 9.

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ve nicht unbedingt eine Beziehung zwischen den Vergleichsgegenständen voraussetzt, impliziert eine interkulturelle Herangehensweise in der Regel stets auch den Vergleich, beispielsweise bei der Analyse von Phänomenen des Kulturtransfers wie im Fall interkultureller Adaptionen von Programmformaten im Fernsehen.16 Als Gegenstands- und Untersuchungsbereiche einer interkulturellen Medienanalyse lassen sich insbesondere anführen:





• •

Interkulturelle Transferprozesse, auch in historischer Perspektive. Hier könnte in Bezug auf das Fernsehen die Übertragung und interkulturelle Adaption von Formaten wie der Spielshow Who Wants to Be a Millonaire? (seit 1998 in über 100 Länder verkauft) oder auch des Idol-Formats, das in über 40 Ländern lizenziert wurde und dessen deutsche Version Deutschland sucht den Superstar seit 2002 produziert wird, analysiert werden. Interkulturelle Vermittlungsinstanzen und -figuren, die Aktanten transkultureller Medienkommunikation, zu denen im Bereich des Fernsehens beispielsweise Auslandskorrespondenten, aber auch Sendungen wie Nachrichten oder Auslandsmagazine gehören. Interkulturelle Wahrnehmungsmuster, die insbesondere die Rolle der Medien für die Verbreitung und Prägung von Fremdbildern in den Fokus rücken. Die Interkulturalität von Mediendiskursen und -wirklichkeiten.17

Gemäß der philologischen Fachtradition, aus der heraus der Ansatz der interkulturellen Medienanalyse entwickelt wurde, spielt demnach die (hermeneutische) Analyse von Medieninhalten, vor allem auch fiktionaler Gattungen, eine verhältnismäßig größere Rolle als in vielen kommunikationswissenschaftlichen Arbeiten sozialwissenschaftlicher Prägung. Für die in diesem Aufsatz behandelten Zusammenhänge ist in erster Linie der in der interkulturellen Medienanalyse berücksichtigte Bereich von Inszenierungs- und Darstellungsformen interkultureller

16 Zum komplexen Verhältnis zwischen vergleichenden Ansätzen und der Analyse von Transferprozessen vgl. SCHMELING u. a., 2013; in Bezug auf interkulturelle Formatadaption im Fernsehen vgl. auch ausführlich DIDIER, 2014. 17 Vgl. LÜSEBRINK/WALTER, 2003.

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Transkulturelle Dynamiken im TV

Kommunikation bzw. mediatisierter interkultureller Kommunikation relevant.

‚F e n s te r z u r W e lt‘ u n d in te r k u ltu r e lle R e z e p tio n s p r o z e s s e . Z u m tra n s k u ltu r e lle n Potential des Fernsehens Seit seinen Anfängen hat sich das Fernsehen als Medium mit transkulturellem Potential und dem Anspruch, Einblicke in andere Realitäten, fremde Welten und andere Kulturen zu vermitteln, positioniert. Davon zeugt beispielsweise die Metapher des Fernsehers als ‚Fenster zur Welt‘, das es ermöglicht, ‚die Welt als Gast im Wohnzimmer‘ zu empfangen.18 Bereits in den Anfängen des Mediums wurden Ereignisse gleichsam auf einer weltweiten Bühne präsentiert, die kulturübergreifende Teilhabe möglich machte – die elfstündige Live-Übertragung der Krönung Elisabeths I. am 2. Juni 1952 gehört zu den ersten dieser Phänomene, sportliche Ereignisse wie Fußballweltmeisterschaften oder Olympische Spiele wären hier ebenso anzuführen wie die weltweite Rezeption der Terroranschläge des 11. September 2001, die maßgeblich über die Fernsehbilder erfolgte und dadurch auch zu einem Medienereignis wurde. Diesen Beispielen für eine transnationale Ausstrahlung und das transkulturell-verbindende Potential grenzüberschreitender und -überwindender Medienkommunikation im Fernsehen stehen aber auch kulturspezifische Rezeptionsbedingungen und Aneignungsformen der Programminhalte gegenüber,19 wie sich beispielsweise am letztgenannten Fall des 11. September 2001 zeigen lässt.20 Auch auf der Produktionsseite sind Fernsehsendungen und -formate vielfach stark von nationalstaatlichen Bedingungen geprägt, z. B. durch den Einfluss von nationalen rechtlichen Bestimmungen wie dem Sen18 Nicht unerwähnt bleiben soll die Gegenposition, nach der Fernsehen auch kritisch als Ersatz für die Begegnung mit realen Welten gesehen werden kann. 19 Vgl. hierzu auch die Forschungen zur „active audience theory“, die produktive Aneignungsprozesse seitens der Zuschauer ins Zentrum rückt (vgl. MCANANY/LA PASTINA, 2010; ROHN, 2010, S. 54-57). 20 Vgl. SCHMIDTGALL, 2014.

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deauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Demnach werden Fernsehprogramme häufig als „Formen materialisierter Kultur“,21 als kulturelle Artefakte, angesehen, die Spuren ihrer Herkunft in sich tragen. Fernsehserien können so mit David Morley als „Spiegel von Identitätsund Zugehörigkeitsvorstellungen“ betrachtet werden.22 Die Medienkommunikation, insbesondere das Fernsehen, beruht also zum einen auf territorialen Strukturen und kulturellen Gewohnheiten der Zuschauer, zum anderen aber auch auf einem von transkulturellen und transnationalen Dynamiken geprägten Markt. So entstehen Fernsehformate und Sendungen in einem bestimmten kulturellen Kontext, eventuell auch mit dem kommerziellen Anspruch, einen internationalen Markt zu bedienen, und treffen dann wiederum auf spezifische, kulturell geprägte Rezeptionsbedingungen und Nutzungsgewohnheiten. Die interkulturellen Adaptionen von Spielshows wie Who Wants to Be a Millionaire? in über 100 Ländern zeigen etwa, dass diese eben trotz strenger Vorgaben und Richtlinien für die Übernahme des Formats keine Eins-zu-einsÜbertragungen im Sinne von Übersetzungen, sondern vielmehr Ergebnis eines Transfer- und Anpassungsprozesses sind.23 Sowohl auf der Rezeptions- als auch auf der Produktionsseite von Fernsehprogrammen lassen sich demnach kulturspezifische Einflüsse verorten. Im Folgenden soll nun nach der Rolle des Fernsehens als interkultureller Vermittler gefragt werden. Zunächst wird hierzu eine vergleichende Untersuchung der Fernsehprogramme über andere Kulturen in drei europäischen Ländern vorgestellt; als zweites Beispiel wird die erfolgreiche US-amerikanische Fernsehserie True Blood (seit 2008) und ihre Rezeption in Deutschland diskutiert.

F r e m d w a h r n e h m u n g u n d K u ltu r v e r m ittlu n g im M e d iu m F e r n s e h e n In ihrer breit angelegten Analyse der Präsenz fremder Kulturen im deutschen, französischen und britischen Fernsehen zeigt Sonja Kretzschmar anhand von Nachrichten, Dokumentationen, Features und 21 DIDIER, 2014, S. 148. 22 Zit. n. EBD. 23 Vgl. zu diesem Themenkomplex MORAN, 2009.

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Transkulturelle Dynamiken im TV

Auslandsmagazinen einerseits internationale Tendenzen wie das abnehmende Interesse an fundierter journalistischer Auslandsberichterstattung und die vergleichsweise geringe Repräsentation sowie die Stereotypisierung und Kriminalisierung von Angehörigen ethnischer Minderheiten auf, kann aber in der Analyse des Programmangebots auch maßgebliche Unterschiede zwischen den betrachteten Ländern herausarbeiten.24 Dazu gehört beispielsweise eine größere Programmvielfalt und Kreativität bezüglich der Präsenz fremder Kulturen im französischen und britischen Fernsehen, die in erster Linie auf die engen Verbindungen mit den ehemaligen Kolonien dieser Länder und das damit verknüpfte Bewusstsein für die kulturelle Vielfalt der Bevölkerung zurückzuführen sind.25 Das deutsche Fernsehen dagegen beschränkte sich im Untersuchungszeitraum Kretzschmars vor allem auf dokumentarische Darstellungsformen mit einer geringeren Bandbreite von Sendungstypen und -formaten.26 Schwerpunkte bezüglich der Präsenz anderer Länder lassen sich beispielsweise in Bezug auf den afrikanischen Kontinent ausmachen. Während in Frankreich 19,3 Prozent der ausgestrahlten Dokumentationen afrikanische Länder behandelten, berichteten in Deutschland lediglich 10,6 Prozent über diesen Kontinent, wohingegen ein deutlicher Schwerpunkt mit 37,4 Prozent auf Europa lag – in Frankreich bezogen sich lediglich 20,7 Prozent der untersuchten Sendungen auf andere europäische Länder.27 Auf Seiten der Rezeption brachte die Studie außerdem zu Tage, dass beispielsweise britische Fernsehzuschauer tendenziell mehr Dokumentationen über fremde Kulturen einschalteten als deutsche oder französische. 24 Vgl. KRETZSCHMAR, 2002. 25 Kretzschmar merkt in diesem Zusammenhang an, dass zum Zeitpunkt der Untersuchung nur in Großbritannien aktiv an einer stärkeren Beteiligung von Angehörigen kultureller Minderheiten an der Programmgestaltung – im Sinne eines Diversity-Managements – gearbeitet wurde (vgl. EBD., S. 337). Aus heutiger Sicht ist von einem deutlich größeren Bewusstsein für die Notwendigkeit kultureller Vielfalt auf Produktions-, Rezeptions- und Repräsentationsebene auszugehen. Vgl. hierzu auch SCHOWALTER/VATTER, 2013, S. 171-176. 26 Weitere Ergebnisse betreffen z. B. Genres, Programmplätze oder regionale Schwerpunkte der Sendungen. 27 Vgl. KRETZSCHMAR, 2002, S. 223-227. Für Großbritannien ließ sich dagegen eine sehr geringe Präsenz (8,4%) europäischer Länder feststellen; stattdessen zeichnete sich ein deutlicher Asien-Schwerpunkt (40,7%) ab (vgl. EBD., S. 226f.).

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Die vorgestellte Analyse zeigt, dass der (europäische) Fernsehzuschauer insgesamt nur in relativ geringem Ausmaß und, je nach Land, auf sehr verschiedene Art und Weise über andere Kulturen informiert wird – und diese auch quantitativ sehr unterschiedlich vertreten sein können. Neuere Studien bestätigen außerdem eine häufig problembezogene, negative Tendenz in der Darstellung kultureller Minderheiten im Fernsehen,28 auch wenn ein Fokus auf Unterhaltungssendungen hier einen weniger negativen Befund ergeben mag, wie manche Wissenschaftler vermuten.29 Darüber hinaus ist anzumerken, dass die in Sendungen über andere Kulturen eingenommene Perspektive in erster Linie die eines Vertreters – in den meisten Fällen eines Journalisten oder Korrespondenten – aus der Heimatkultur ist. Authentische Stimmen aus anderen Kulturen kommen im Fernsehen dagegen nur selten zu Wort. Dies ist sicherlich auch für fiktionale Formate wie Spiel- und Fernsehfilme oder -serien gültig, unter denen nur selten Produktionen aus anderen Ländern im Fernsehprogramm zu finden sind. Die rezeptionsseitige Randstellung von Sendern wie arte, die auch dafür eine Plattform bieten, bestätigt diese Tendenz. Um interkulturelles Lernen und Verständigung zu fördern, wäre aber die Auseinandersetzung mit kulturellen Produkten aus anderen Kulturen unbedingt wünschenswert, auch wenn deren Konsum sicherlich mit mehr Aufwand und Anstrengung verknüpft sein mag. Eine große Ausnahme der skizzierten mangelnden Präsenz ausländischer Produktionen im Zusammenhang mit fiktionalen Fernsehsendungen stellen europäische Koproduktionen und natürlich vor allem die USA dar, deren mediale Produktionen allgegenwärtig sind und die häufig auch auf eine transnationale Vermarktungsmöglichkeit hin produziert werden. Als Erklärungsfaktoren kultureller Art für den Erfolg US-amerikanischer audiovisueller Produktionen finden sich in der einschlägigen Literatur einerseits Annahmen über die kulturelle Nähe und/oder Universalität des Gezeigten, andererseits auch Lesarten, die eine kulturelle Hegemonie und ideologische Beeinflussung mit der weltweiten Verbreitung der US-amerikanischen Fernsehkultur verknüp-

28 Vgl. BONFADELLI, 2007. 29 Vgl. GEIßLER, 2010, S. 11f.

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fen.30 Diesen Ansätzen, die in erster Linie den Fokus auf das Produkt als Aktant auf einem transkulturellen Terrain legen, stehen Überlegungen gegenüber, die – wie oben ausgeführt – die (interkulturelle) Rezeption eines Programms als kreative Leistung des Zuschauers begreifen. Am Beispiel der Vampir-Serie True Blood, die seit 2008 vom USamerikanischen Sender HBO produziert und in weit über 20 Ländern ausgestrahlt wird, soll im Folgenden aufgezeigt werden, wie einerseits spezifische gesellschaftliche und kulturelle Diskurse der USA in der Serie eingeschrieben sind und wie andererseits diese Diskurse die Rezeption der Serie in Deutschland maßgeblich beeinflusst haben.

Amerikanische Vampire in Europa. In t e r k u lt u r e lle R e z e p t io n s p r o z e s s e a m B e is p ie l v o n T r u e B lo o d True Blood stammt von dem Autor Alan Ball, der bereits für die erfolgreiche HBO-Serie Six Feet Under (2001-2005) verantwortlich war. Er setzte den Stoff, der auf der Buchserie The Southern Vampire Mysteries (seit 2001) von Charlaine Harris beruht, für das Fernsehen um. Ausgangspunkt der Handlung ist die gelungene Synthetisierung menschlichen Bluts (vermarktet unter der titelgebenden Marke ‚True Blood‘), die dazu führt, dass Vampire nicht mehr darauf angewiesen sind, Menschen zu beißen, und daher auch nicht länger ein Leben im Verborgenen führen müssen. Die Probleme des Zusammenlebens von Menschen und Vampiren, von denen nicht alle Teil der menschlichen Gesellschaft werden wollen, stehen im Zentrum der Serie. Verhandelt werden damit Themen wie der Umgang mit Diversität und die Anerkennung von Minderheiten und ihrer Rechte, aber auch die Inszenierung von Subkulturen und Alterität als gleichzeitig faszinierend und abstoßend nimmt großen Raum ein. Diese Fremdwahrnehmungsmuster kristallisieren sich in True Blood vor allem an der Anziehungskraft der Erotik, Sexualität und Freizügigkeit sowie der ungezügelten Triebhaftigkeit eines Teils 30 Vgl. hierzu vertiefend auch die Überlegungen zur Exportierbarkeit von Fernsehprogrammen und die Vorstellung der damit verknüpften theoretischen Konzepte bei DIDIER, 2014.

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der Vampire. Ort der Handlung ist das fiktive Städtchen Bon Temps in den Sümpfen Louisianas. Vor diesem Hintergrund entfaltet sich die zentrale Liebesgeschichte der Serie zwischen dem Vampir Bill Compton und Sookie Stackhouse, einer Kellnerin mit telepathischen Fähigkeiten. Die Liebesgeschichte zwischen einem männlichen Vampir und einer jungen Frau als Sinnbild einer unmöglichen, weil sozialen Konventionen widersprechenden, aber potentiell ewigen, den Tod überdauernden und reinen Liebe ist auch in zahlreichen anderen populärkulturellen Darstellungen des Vampirstoffs insbesondere der letzten Jahre Kern der Handlung.31 Dagegen zeichnet sich True Blood nicht nur durch eine explizitere Darstellung von Gewalt und Sexualität aus, sondern auch dadurch, dass die Vampire zwar als Chiffre für das ‚Andere‘, Fremde stehen, dem man mit Faszination und Begehren oder aber mit Aggression und Abscheu begegnet, aber darüber hinaus als Minderheit inszeniert werden, an deren Beispiel aktuelle gesellschaftliche Probleme verhandelt werden. Denn die Parallelen zur Anerkennung der Gleichberechtigung von Homosexuellen und auch der Bürgerrechtsbewegung in den Südstaaten der USA – der Schauplatz in Louisiana ist hier besonders bedeutsam – sind offensichtlich. Themen wie Ausgrenzung und Diskriminierung, Vorurteile und die Anerkennung von Minderheitenrechten, die Ablehnung gemischter Ehen oder auch widerstreitende Positionen innerhalb der Minderheit über die Form der Teilhabe und Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft sind zwar in den meisten westlichen Gesellschaften universell anschlussfähig (so finden sich etwa viele Positionen aus der Serie auch in aktuellen öffentlichen Debatten wie um die sogenannte ‚Homo-Ehe‘ wieder); ihre spezifischen Inszenierungsformen sind aber fest im US-amerikanischen Kontext verhaftet, wie beispielsweise zahlreiche wortwörtliche Parallelen zur LGBTQBewegung zeigen. So parodiert z. B. der Slogan „God Hates Fangs“ (wörtlich: „Gott verabscheut Vampirzähne“), der im Vorspann zur Serie als Anschlag auf einem Kirchenportal zu sehen ist, die homophobe Westboro Baptist Church, eine hate group, die für den homophoben Spruch „God Hates Fags“ („Gott verabscheut Schwule“) bekannt ist 31 Exemplarisch können hier die erfolgreichen Verfilmungen der TwilightRomanserie (2005-2008) von Stephenie Meyer oder auch die Fernsehserie Vampire Diaries (seit 2009) genannt werden.

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und auf die in True Blood mit der „Marlboro Baptist Church“ angespielt wird. Auch die Organisationsformen der Bürgerrechtsbewegungen, ihre Protestformen, Diskurse und Medien sind fest in einer amerikanischen Tradition verhaftet und verweisen auf die Bürgerrechtsbewegung der späten 1950er und 1960er Jahre bzw. die LGBTQ-Bewegung.32 Ein Blick auf die Rezeption von True Blood in der deutschen Presse legt vor allem zwei Argumentationslinien offen: Einerseits betonen die meisten Kritiker eine Neuorientierung im Vampir-Genre, die nach den eher moralischen, konservative Werte zelebrierenden filmischen und literarischen Werken für ein Teenager-Publikum wieder an die ursprüngliche Tradition von Bram Stokers Dracula (1897) anknüpft und Vampire als Metapher für das gefährlich Andere, das Ungehemmte, Verdrängte und Triebhafte inszeniert.33 Andererseits verweisen die meisten Rezensenten aber auch auf die in der Serie verhandelten gesellschaftlichen Probleme und deren Verortung im US-amerikanischen Kontext. Ulrike Klode charakterisiert True Blood in ihrer Kritik beispielsweise als krasse[n] Gegenentwurf zu Vampir-Geschichten, wie sie seit einigen Jahren den Buch-, Fernseh- und Kinomarkt überschwemmen. „Twilight“ oder „Vampire Diaries“ – das steht für Enthaltsamkeit, Sehnsucht und Sterilität. „True Blood“ ist von der ersten Minute an schwitzig, dreckig und aufgeladen – jede Szene wirkt gefährlich, wirkt, als könnte jeden Moment etwas hervorbrechen. Sei es, dass Gewalt ausbricht. Sei

32 Auch die erste Begegnung zwischen Sookie Stackhouse und Bill Compton in der ersten Folge der ersten Staffel der Serie kann in diesem Kontext interpretiert werden: Compton betritt offensichtlich als erster Vampir überhaupt die Bar von Bon Temps, worauf die anderen Gäste zwischen Faszination und Abneigung oszillieren, aber hauptsächlich negativ reagieren. Eine Assoziation mit der Erschließung bisher Weißen vorbehaltener öffentlicher Räume durch Schwarze liegt nahe. 33 Vgl. z. B. die folgenden Zitate: „Keine verliebten Blutsauger wie in ‚Twilight‘, sondern deftig und heftig – aber dennoch kein Trash“ (SCHOCK, 2011); „Doch mit keuschem Händchenhalten nach dem Motto ‚Kein Biss vor der Ehe‘, wie es etwa das populäre Teenager-Märchen ‚Twilight‘ propagiert, hat das explizite Erwachsenenprogramm wenig gemein“ (KLEINGERS, 2009); in der FAZ grenzt Daniel Haas True Blood ebenfalls von anderen Bearbeitungen des Stoffes ab (vgl. HAAS, 2011).

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Christoph Vatter es, dass die Figuren voller Verlangen übereinander herfallen. Sei es, dass etwas Übernatürliches zum Vorschein kommt.34

Der Verweis auf die besonders drastische Darstellung von Gewalt und Sexualität findet sich auch bei Daniel Haas in der FAZ: „True Blood“ ist die Blutsauger-Erzählung für Erwachsene, eine Pinup-Version vampirromantischer Klischees. „Garantiert ohne Triebverzicht“ müsste das Label heißen, mit dem der amerikanische Sender HBO die Reihe zu Markte trägt. Was wir immer schon von Vampiren wussten, aber nie zu bebildern wagten: Mit „True Blood“ kommt es auf die Mattscheibe.35

Ähnlich äußert sich weiterhin Thomas Kleingers für den Spiegel: In Bild und Wort so offensiv, wie es das amerikanische Pay-TV eben erlaubt, betonen schon die ersten beiden Folgen der Serie das traditionell erotische Moment des Vampirismus. Auch sonst entpuppt sich das Fleckchen Bon Temps als ein schwüles Sündenbabel, in dem neben der Ekstase stets der Tod lauert.36

Ein besonderes Anliegen der deutschen Kritik scheint über die Abgrenzung der Serie von anderen populären Bearbeitungen als ‚Erwachsenenversion‘ des Vampir-Themas hinaus die Verortung von True Blood in der US-amerikanischen Kultur und Gesellschaft, insbesondere der des Schauplatzes Louisiana in den Südstaaten. Dieses Bestreben findet sich bereits in der Pressemappe des Senders RTL2, der die Ausstrahlung im deutschen Free-TV verantwortete. Darin preist er das gesellschaftskritische Potential der Serie mit folgenden Worten an: „Außer Spannung und Erotik bietet ‚True Blood‘ auch einen scharfen Blick auf die Gesellschaft in den USA und in der ganzen Welt.“37 Die meisten Rezensionen in der deutschen Presse greifen jedoch nicht lediglich diese PR-Vorlage auf, sondern bemühen sich ausführlich 34 35 36 37

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KLODE, 2011. HAAS, 2011. KLEINGERS, 2009. RTL2, 2011.

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darum, ihren Lesern die Bezüge zum kulturellen Kontext der Serie zu verdeutlichen. So betont Daniel Haas in der FAZ: „[Solche Gestalten] gehören nach Louisiana, in den tiefsten Süden Amerikas. Hier, wo sich Rassismus und Bigotterie, historische Nostalgie und politische Reaktion zu einem Kulturgemisch zusammenschließen.“38 Arne Willander in der Welt verortet die Vampir-Serie gleich in der kulturellen und literarischen Tradition der Südstaaten: In der Hitze des amerikanischen Südens sieden die schwülen Tragödien von Tennessee Williams und die raffinierten Ränkespiele von Truman Capote, der Kitsch von ,,Vom Winde verweht“ – ebenso wie Harper Lees bürgerlicher Ermutigungsroman ,,Wer die Nachtigall stört“ oder Cormac McCarthys finstere Menschheitsparabeln. Der Blues kommt von dort, der Hillbilly, der Zydeco: lauter Musik, die unmittelbar aus dem Gefühl entsteht, immer unmittelbar, niemals wohltemperiert. Es blühen die Neurosen – und fast immer handeln die Literatur, die Filme und die Lieder über diese mystische Landschaft unterhalb des Bibelgürtels von Geschlecht und Rasse, von Nationalstolz und Traumata. Gegenüber dem Norden haben die Südstaaten seit dem Sezessionskrieg einen veritablen Minderwertigkeitskomplex – und treten doch umso dröhnender auf.39

Das aktive Bestreben, True Blood als kulturelles Artefakt der USA, insbesondere des amerikanischen Südens, zu interpretieren, wird in einem Interview der Spiegel-Journalistin Nina Rehfeld mit Drehbuchautor Alan Ball besonders deutlich. Rehfeld unterstreicht den Handlungsort der Serie in einer amerikanischen Kleinstadt in den Südstaaten und versucht, autobiographische Bezüge zur Herkunft des Autors aufzuzeigen, der in den Südstaaten aufgewachsen ist. Dieser weist den Zusammenhang jedoch zurück und antwortet auf die erneute Nachfrage nach entsprechenden Parallelen eher zurückhaltend und universalisierend: Wenn man allerdings den Kampf der Vampire um ihre Assimilation in die Mainstream-Gesellschaft zeigt, gibt es bestimmt Parallelen zu den derzeitigen Bestrebungen von Schwulen und Lesben. Und zu denen der 38 HAAS, 2011. 39 WILLANDER, 2011.

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Christoph Vatter schwarzen Bevölkerung vor 50 Jahren. Und zu denen der Frauen vor 100 Jahren.40

Diese Positionierung der Serie zwischen einer expliziten Darstellung von Sex und Gewalt einerseits und der Widerspiegelung der kulturellen und gesellschaftlichen Realität der amerikanischen Südstaaten zieht sich wie ein roter Faden durch die Rezeption in der deutschen Presse. Die zitierten Beispiele für intertextuelle und intermediale Bezüge erlauben somit eine Einordnung in doppelter Perspektive: Erstens stellen die Kritiker die Serie wie erwähnt in die Tradition zahlreicher anderer filmischer und literarischer Bearbeitungen des Vampir-Stoffes. Hierbei wird sowohl die europäische Tradition als auch die jüngere, vor allem US-amerikanische ‚entschärfte‘ Lesart mit ihren dominant populärkulturellen Bezugnahmen, z. B. in der Twilight-Serie, aufgegriffen. Zweitens aber erfolgt in der deutschen Presse auch die intermediale Einordnung von True Blood in die kulturelle und literarische Tradition der USA und ihre explizite Verortung im gesellschaftlichen und kulturellen Kontext. Es lassen sich folglich sowohl Tendenzen einer transkulturellen Wahrnehmung der Serie als auch gleichzeitig deren lokal-regionale Verankerung im nationalen Bezugsrahmen der USA bzw. der Südstaaten feststellen. Zieht man zum Vergleich die Pressestimmen zu True Blood aus anderen europäischen Ländern wie z. B. Frankreich heran, fällt dagegen auf, dass Verweise auf eine gesellschaftliche Realität der USA völlig fehlen und die Kritiker stattdessen in erster Linie auf Figurenkonstellationen und Handlungsverläufe eingehen.41

40 REHFELD, 2011. 41 Vgl. beispielsweise COLOMBANI, 2009; SERY, 2010 und DIES., 2011. Eine ähnliche Konstellation in der Rezeption US-amerikanischer Medien arbeitet auch SCHMIDTGALL, 2014 am Beispiel von fiktionalen Darstellungen der Attentate vom 11.09.2001 heraus; auch hier zeigt sich eine deutliche Tendenz zur Verortung im soziokulturellen und politischen Kontext der USA seitens der deutschen Presse.

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M e d ia t i s i e r t e i n t e r k u lt u r e l l e K o m m u n i k a t i o n . M u l t i k u lt u r e l l e F e r n s e h s e r i e n a u s D e u ts c h la n d und Québec Nachdem die bisherigen Ausführungen vor allem auf die Rolle des Fernsehens für Fremdwahrnehmung und damit interkulturelle Rezeptions- und Transferprozesse eingegangen sind, soll im Folgenden die vierte von Lüsebrink und Walter genannte Dimension interkultureller Medienanalyse im Zentrum stehen, nämlich die Analyse der Interkulturalität von Mediendiskursen und Medienwirklichkeiten am Beispiel der Repräsentation interkultureller Kommunikation in fiktionalen Formaten wie TV-Serien. Fast zeitgleich kamen in Deutschland und in Kanada Fernsehserien ins Programm, die sich explizit den Fragen von Integration und Zusammenleben in einer multikulturellen Gesellschaft widmen: Erstmals 2005 strahlte Télé-Québec Pure Laine von Martin Forget aus, ab 2006 zeigte die ARD im Vorabendprogramm die Serie Türkisch für Anfänger von Bora Dağtekin. Das zentrale Thema der Serien stellen die interkulturellen Herausforderungen in von kultureller Vielfalt geprägten Gemeinschaften dar. Als Komödien inszenieren beide Serien mit Lust den Schock der Kulturen und interkulturelle Missverständnisse, so dass sie als genuin interkulturelle Formate charakterisiert werden können.42 Die Analyse der Darstellung interkultureller Kommunikations-, Interaktions- und Fremdwahrnehmungsprozesse zeigt, dass die Interkulturalität der Mediendiskurse in diesen beiden Serien von den jeweiligen Kontexten des Umgangs mit kultureller Vielfalt in der deutschen bzw. québecer Gesellschaft sowie den damit verknüpften politischen und gesellschaftlichen Diskursen deutlich gekennzeichnet ist.

C u ltu r e c l a s h in T ü r k i s c h f ü r A n f ä n g e r Die in der öffentlich-rechtlichen ARD ausgestrahlte Serie Türkisch für Anfänger (3 Staffeln, 2005-2008), die in ca. 70 Länder verkauft wurde, 42 Die folgenden Ausführungen bauen in einigen Punkten auf Überlegungen in SCHOWALTER/VATTER, 2013 auf.

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schildert aus Sicht der 16-jährigen Lena (Josefine Preuß) und vor dem Hintergrund des Erwachsenwerdens der Protagonistin die Schwierigkeiten des alltäglichen, häufig chaotischen Zusammenlebens in einer deutsch-türkischen Patchworkfamilie. Ausgangspunkt ist die Ankündigung Doris Schneiders (Anna Stieblich), der bislang alleinerziehenden Mutter Lenas und ihres jüngeren Bruders, dass sie und ihr Freund, der türkischstämmige Kommissar Metin Öztürk (Adnan Maral), mit dessen beiden Kindern Cem (Elyas M’Barek) und Yağmur (Pegah Ferydoni), zusammenziehen möchten. Die Serie begleitet die Familie SchneiderÖztürk bei ihrer Erprobung des multikulturellen Miteinanders mit vier pubertierenden Kindern mit Lust an der Inszenierung der damit verbundenen Missverständnisse und des Zusammenpralls der Kulturen – ganz im Sinne einer filmischen Culture-clash-Comedy. Im Laufe der verschiedenen Folgen wächst die Familie trotz aller Gegensätzlichkeiten und Unterschiede immer mehr zusammen, nicht zuletzt durch die sich abzeichnende Liebesbeziehung zwischen der Protagonistin Lena und ihrem Halbbruder Cem. Das Modell des Schocks der Kulturen ist bereits im Vorspann der Serie, in dem nach und nach alle Familienmitglieder präsentiert werden, angelegt: Photos, Filmausschnitte und der Name der jeweiligen Figur werden in einem Split-screen-Design vor einem graphischem Hintergrund mit der dynamischen Titelmusik präsentiert. Dabei dient insbesondere die Farbgestaltung einer eindeutigen Zuschreibung der kulturellen Identität der Protagonisten. Bei der Vorstellung Metins und seiner Kinder dominieren Rot und Weiß, die türkischen Nationalfarben; außerdem werden Halbmond und Stern als graphische Elemente verwendet. Der deutsche Teil der Familie wird dagegen vor einem vornehmlich schwarz-rot-goldenen Farbschema präsentiert – die Farben der jeweils anderen Kultur werden immer nur sehr dezent angedeutet. Nach dieser Familiengalerie endet der Vorspann mit zwei Standbildern: zunächst einem Gruppenbild aller Familienmitglieder vor einem ‚deutschen‘ Farbhintergrund, das vom Titellogo der Sendung in einem roten Halbmond abgelöst wird, ehe die Handlung der Folge beginnt. Die letzten beiden Bilder suggerieren eine deutsche Perspektive auf die türkische Kultur – wie auch der Titel, der offensichtlich an einen Sprachkurs erinnert.

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Die starke Kontrastierung der deutschen und der türkischen bzw. der deutsch-türkischen Kultur spitzt sich in der These der Inkompatibilität des multikulturellen Zusammenlebens zu, die die Ausgangshypothese der Serie bildet. Dieses scheinbar unmögliche Miteinander kann am Beispiel der ersten Folge illustriert werden, in der beide Familien erstmals in einem chinesischen Restaurant zusammentreffen. Sowohl bildlich als auch akustisch und sprachlich werden Deutsche und Türken als klar voneinander abgegrenzte Gruppen dargestellt. Die Ankunft Metins, Cems und Yağmurs wird von orientalischer Musik untermalt; am Tisch sitzen sie sich gegenüber – optisch deutlich durch den Tisch und die Dekoration voneinander getrennt. Die Ankündigung des Zusammenziehens erfolgt separat auf Deutsch und Türkisch für die jeweiligen Teilfamilien. Die Inszenierung als diametrale Gegensätze wird auf komische Art und Weise durch Lenas beständige Anstrengungen, die (in ihren Augen unerträglich harmonische) Situation zu beenden, gebrochen. Doch als ihr die unaufhaltsamen Konsequenzen der drohenden Bildung einer deutsch-türkischen Großfamilie bewusst werden, wählt sie die offene Konfrontation und erklärt damit ihre Verweigerung. Dieser Ausgangskonflikt in Türkisch für Anfänger wird im Laufe der Handlung auf die gleiche Art und Weise aufgelöst wie in Culture-clashKinokomödien: Im Laufe des Zusammenlebens im gemeinsamen Haus wachsen die Schneider-Öztürks immer stärker zusammen, vor allem aufgrund universeller Werte wie der Liebe zwischen den Eltern sowie Lena und Cem, und lernen, alle Hindernisse und gegenseitigen Vorurteile zu überwinden. Der ‚Türkischkurs für Anfänger‘ dient so dem deutschen Fernsehpublikum als Beispiel für das friedvolle und harmonische Miteinander der Kulturen – und scheint damit als Antwort auf die vielfach herbeigeschworene Krise des Multikulturalismus in Deutschland lesbar zu sein.43

43 So beispielsweise auch in der französischen Rezeption, in der häufig Bezug auf das von Bundeskanzlerin Merkel 2010 verkündete Scheitern von „Multikulti“ genommen wird (vgl. BENYAHIA-KOUIDER, 2006).

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T r a n s k u ltu r e lle S p ie g e lu n g e n in P u re lain e Der Ausgangspunkt der québecer Serie Pure laine stellt sich dem geradezu diametral entgegengesetzt dar: Der Vorspann erzählt mit animierten Bildern die Immigrationsgeschichte des Protagonisten Dominique (Didier Lucien), eines Haitianers, der mit dem Verlassen der sonnigen Karibik auch seinen ‚Afro-Look‘ verliert, um im eisig kalten Kanada anzukommen, wo ihn die Québecerin Chantal (Macha Limonchik) im wahrsten Sinne des Wortes mit einem Lasso ‚einfängt‘. Mit der Adoption ihrer Tochter Ming (Mélodie Lapierre) aus China ist die Familie komplett und findet sich am Ende des Vorspanns im aus bunter Wolle ([Pure] laine) gestrickten, gemeinsamen Haus wieder, das – wie die Gestaltung in Form der Nationalflagge deutlich macht – für Québec steht. Dargestellt wird aber keineswegs die traditionelle Fahne der Provinz, in der Katholizismus und französische Wurzeln durch die blaue Grundfarbe mit weißem Kreuz und Schwertlilie (fleur-de-lys) symbolisiert werden. Vielmehr steht die kunterbunte Fahne der Fernsehserie für ein modernes, von kultureller Vielfalt geprägtes Québec. Dominiques Familie wird so als ‚typisch québecisch‘ repräsentiert – der Titel Pure laine, ein québecer Ausdruck für Québécois de souche (‚ursprünglich aus Québec‘), und seine bildliche Umsetzung im Vorspann unterstreichen dies deutlich – und steht damit für ein weltoffenes, multikulturelles Selbstbild der kanadischen Provinz. Pure laine setzt also an der Stelle an, an der Türkisch für Anfänger endet. Gleichzeitig stehen der Titel der Serie und die damit bezeichnete multikulturelle Familie in einem Spannungsfeld, das die gängige Erwartungshaltung des Zuschauers produktiv ‚enttäuscht‘. Denn die Erlebnisse der Familie in Québec, besonders in der Metropole Montreal, zeigen, dass die vermeintliche Offenheit der québecer Gesellschaft und das friedvolle Miteinander der Kulturen immer wieder an ihre Grenzen stoßen und dass das, was im Innern der Familie zu funktionieren scheint, auf der Ebene der Gesellschaft keineswegs selbstverständlich ist. Denn ganz in der Tradition des Außenstehenden, dessen Perspektive aufzudecken vermag, was aus der Innensicht verborgen bleibt, gelingt es Dominique durch seine scheinbar naive Weltsicht und sein beharrliches Hinterfragen des offiziellen Diskurses, ein umso deutlicheres Bild des multikulturellen Alltags in Québec zu zeichnen. Dominique inter-

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pretiert seine Erlebnisse und Begegnungen immer wieder neu, oft auch in überraschender Art und Weise, und beantwortet durch seine Geschichten und Anekdoten die verschiedenen Fragen, die in Zwischentiteln der Serie aufgeworfen werden: -

Qu’est-ce que l’exotisme? Qu’est-ce que la discrimination? Les Québécois seront-ils assimilés un jour? Que signifie politiquement correct? Qu’est-ce que l’âme slave? Qu’est-ce qu’une ethnie? Que signifie tam-di-de-lam-tam-di-de-li-de-lam? Que signifie l’expression ‚attache ta tuque‘? Si ce pays n’est pas un pays, est-il par autant l’hiver? Qu’est-ce qu’une minorité dans une province où la majorité est une minorité à l’échelle d’un pays dont la majorité se retrouve en minorité dans la province en question? - Pourquoi les Québécois font-ils toujours le même référendum? - Do you speak white?44 (Was ist Exotismus? Was ist Diskriminierung? Werden die Québecer eines Tages assimiliert sein? Was ist die slawische Seele? Was ist eine Ethnie? Was bedeutet tam-di-de-lam-tam-di-de-li-de-lam? Was bedeutet der Ausdruck ‚attache ta tuque‘ [„mach deine Mütze fest“]? Wenn dieses Land kein Land ist, ist es dann trotzdem wie der Winter? Was ist eine Minderheit in einer Provinz, wo die Mehrheit eine Minderheit auf der Ebene des Landes ist, in dem die Mehrheit wiederum in der fraglichen Provinz eine Minderheit ist? Warum machen die Québecer immer das gleiche Referendum? Do you speak white?)

Die Beispiele zeigen, dass die Fragen, die in Pure laine durch die Erlebnisse Dominiques beantwortet werden, einerseits Begriffe und Problemfelder betreffen, die wie „exotisme“, „discrimination“, „politiquement correct“ etc. mit den Herausforderungen einer multikulturellen Gesellschaft eng verknüpft sind. Andererseits bezieht sich der weitaus größere Anteil auf Québec, seine Geschichte, Kultur und Sprache, beispielsweise durch intermediale Bezüge auf Gilles Vignaults berühmtes 44 Pure Laine, Staffel 1, Zwischentitel

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Lied „Mon pays“ (1965) oder Michèle Lalondes bekanntes Gedicht „Speak White“ (1968), die beide fest im kollektiven Gedächtnis der Provinz verankert sind. Diese affirmativen Elemente der kulturellen Identität Québecs werden in Pure laine in Fragen umgewandelt, so dass sich die scheinbare Erkundung der ethnischen Gruppen in die Suche nach der Antwort auf die Frage nach dem Wandel der québecer Identität im Kontext der kulturellen Vielfalt umkehrt. Dieses Prinzip herrscht auch in den einzelnen Episoden der Serie vor. Exemplarisch sei hier auf die Folge „Quel est le secret de Fatima?“ („Was ist das Geheimnis von Fatima?“; Staffel 1, Folge 4) verwiesen. Die Anspielung des Titels auf das Geheimnis um die Prophezeiung im Zusammenhang mit der Marienerscheinung im portugiesischen Fatima 1917 ist hier sowohl in einem übertragenen als auch in einem wörtlichen Sinn zu verstehen. Der Titel bezieht sich zunächst auf das sogenannte „dritte Geheimnis“ von Fatima, das einen unmittelbaren Bezug zu Québec aufweist. Denn Papst Pius XII. habe, als er den Inhalt der Weissagung erfuhr, laut der Legende spontan „Pauvre Canada!“ („Armes Kanada!“) oder auch „Pauvre Québec!“ ausgerufen, was den Volksglauben in der streng katholisch geprägten Provinz zu wilden Spekulationen über das drohende Schicksal veranlasste – die Enthüllung des Inhalts durch Johannes Paul II. im Jahr 2000 wies jedoch keinerlei Bezug zu dem nordamerikanischen Land auf. In Pure laine lässt sich der Titel in Anbetracht der Handlung der Folge auf die Essentialisierung und Kulturalisierung von Migranten durch die québecer Protagonisten anwenden. Im wortwörtlichen Sinn bezieht sich „Quel est le secret de Fatima?“ nämlich auf die portugiesischstämmige Putzfrau Fatima, die zu den Hauptfiguren der Folge gehört. Chantal ist voller Stolz, dass sie mit Fatima eine portugiesische Putzfrau engagieren konnte – denn diese seien nur sehr selten verfügbar und genössen den Ruf, ihre Aufgabe am besten zu erledigen. Als Fatima das erste Mal ihre Arbeit im Haushalt Dominiques aufnimmt, kehrt dieser überraschend nach Hause zurück und findet sie statt bei der Arbeit faul auf dem Sofa liegend, Chips essend, beim Fernsehen. Dominique stellt sie zur Rede und erfährt, dass die Québecer so sehr von der Qualität der Arbeit portugiesischer Putzfrauen überzeugt seien, dass sie gar nicht mehr putzen brauche und die Arbeitgeber dennoch zufrieden seien. Die stereotypen Vorstellungen über die vermeintlichen Qualitäten einer

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Portugiesin werden also gleichsam zur selbsterfüllenden Prophezeiung – zum Schaden der Québecer: „Pauvre Québec!“ Diese Form der Kulturalisierung reduziert Migranten, wie hier Fatima, auf die scheinbare Essenz ihrer Kultur – oder vielmehr der stereotypen Vorstellung von dieser – und verurteilt sie so dazu, den vermeintlichen Regeln ihrer Kultur zu folgen. Damit wird der Blick auf andere Dimensionen von Diversität verstellt und die Betroffenen werden gleichsam zu Gefangenen einer rigiden kulturellen Identität, so dass Ungleichheiten reproduziert und individuelle Entwicklungsmöglichkeiten in der Gesellschaft eingeschränkt werden, wie auch im folgenden Beispiel deutlich wird. Denn Dominique nutzt die Gelegenheit, um das Thema anhand der Geschichte eines Restaurant-Besuchs mit seiner Frau Chantal und ihrer besten Freundin Nicole weiter zu erläutern. Die Auswahl des China-Restaurants erfolgt nach dem Kriterium, dass dort, wo viele Chinesen unter den Gästen sind, das Essen auch am besten sei. Dominique bezweifelt diese Überlegung der beiden Québecerinnen: Nicole: Vous avez remarqué, j’espère? Dominique: Quoi? Chantal: Ben, c’est plein de Chinois. […] Dominique: C’est un restaurant chinois. Chantal: Mais oui. Mais un restaurant chinois où il y a plein de Chinois, c’est un bon restaurant chinois. Dominique: Ah bon? Nicole: Ben oui! C’est une garantie d’authenticité, tu sais. C’est que les Chinois eux-mêmes y vont.45 (Nicole: Ihr habt’s bemerkt, oder? Dominique: Was? Chantal: Dass hier lauter Chinesen sind. [...] Dominique: Es ist ein chinesisches Restaurant. Chantal: Ja, klar. Aber ein chinesisches Restaurant, in dem viele Chinesen sind, ist ein gutes chinesisches Restaurant. Dominique: Ach ja? Nicole: Natürlich! Das ist eine Garantie für die Authentizität, weißt du. Weil die Chinesen selbst dort essen gehen.)

Die Erwartungshaltung Nicoles und Chantals wird deutlich: Chinesen, die in einem chinesischen Restaurant essen, bürgen für die Authentizität 45 Pure Laine, Staffel 1, Folge 4, 00:05:01-00:05:28.

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und damit auch die Qualität der Speisen. Dominique zweifelt an dieser kulturalisierenden Logik und fühlt sich bestätigt, als er beobachtet, dass nicht alle augenscheinlichen ‚Chinesen‘ an den anderen Tischen problemlos mit Essstäbchen umgehen können. Als dann Chantal und Nicole gemeinsam zur Toilette gehen und damit keine Québécois de souche mehr im Raum sind, löst sich das Rätsel: Ein Kellner schaltet von der asiatischen Musik auf Pop um; die Gäste legen erleichtert die Stäbchen beiseite, um mit Löffeln weiter zu essen, und Dominique beginnt folgenden Dialog mit dem Kellner: Dominique: C’est bon! J’ai compris! Vous pouvez arrêter votre comédie! A part notre table, tous les clients ici, c’est des figurants, vrai ou faux? […] C’est parce que ça met les Québécois en confiance, c’est ça? Garçon: Tu peux-tu garder le secret, s’il vous plaît? On a des familles à faire vivre. Dominique: N’empêche que… Garçon: Regarde. Moi, tout ce que je connais de l’extrême Orient, c’est Brossard. Ok? Tu penses pas que je suis tanné de faire semblant? En plus, il y a la toune! On n’est plus capable, personne! […] C’est toujours la même. En plus, elle joue dans les restaurants vietnamiens, aussi.46 (Dominique: Das reicht! Ich hab’s kapiert! Ihr könnt mit dem Theater aufhören! Außer unserem Tisch sind alle anderen Kunden hier Statisten, richtig oder falsch? [...] Ihr macht das, weil das den Québecern Vertrauen gibt, oder? Kellner: Kannst du das Geheimnis bitte für dich behalten? Wir müssen unsere Familien ernähren. Dominique: Aber... Kellner: Schau mal. Alles, was ich vom fernen Osten kenne, ist Brossard. Ok? Glaubst du nicht, dass es mir auch damit reicht, so zu tun als ob? Außerdem ist es dieses Lied! Wir halten das nicht mehr aus. Keiner von uns! [...] Es ist immer das gleiche Lied. Auch in den vietnamesischen Restaurants wird es immer gespielt.)

Alle anwesenden Asiaten im Raum stellen sich als Statisten heraus, die lediglich angeheuert wurden, um die Erwartungshaltung der Québecer und deren Vorstellung von Authentizität zu bestätigen. Gleichzeitig wird diese Falle der Kulturalisierung von Migrantenidentitäten offenge46 Pure Laine, Staffel 1, Folge 4, 00:06:44-00:07:35.

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legt: Denn der Kellner, der mit deutlichem québecer Akzent von sich sagt, nie weiter im Osten gewesen zu sein als im Montrealer Vorort Brossard, und der auch gar kein Chinesisch versteht, sieht sich gezwungen, den stereotypen Vorstellungen zu entsprechen, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Die Absurdität und Komik der Situation wird nochmals unterstrichen, als die Stimmung der Szene sofort wieder mit der entsprechenden Musik ins ‚typisch Chinesische‘ kippt, sobald Chantal und Nicole wieder den Raum betreten. Die Trennung zwischen beiden Welten und die Unkenntnis migrantischer Lebensrealitäten seitens der vermeintlich multikulturell aufgeschlossenen Mehrheitsbevölkerung werden offensichtlich. Der zitierte Ausschnitt zeigt, wie in Pure laine scheinbare Gewissheiten über Immigration, Integration und Interkulturalität dekonstruiert und in Frage gestellt werden. Stereotype werden mit Humor gegen den Strich gebürstet und aus den in der Exposition der Szenen angekündigten Einsichten über ‚Portugiesen‘ und ‚Chinesen‘ wird eine Lektion über Québec und die Québecer sowie deren stereotype Vorstellungen über das multikulturelle Zusammenleben. Die Serie knüpft damit an Diskurse über Multikulturalität und Interkulturalität in Kanada und Québec an. Die Umsetzung einer Politik des Multikulturalismus auf föderaler Ebene des Landes bzw. der Ansatz des Interkulturalismus,47 der als québecer Reaktion auf die kanadische Sicht die besondere Rolle des Französischen unterstreicht, geht mit der Einsicht in die Notwendigkeit einer beständigen Hinterfragung und Diskussion des Umgangs mit kultureller Diversität und der Modi des Zusammenlebens einher.48 Ebenso befasst sich auch Pure laine weniger mit der Inszenierung des Zusammenpralls scheinbar rigider kultureller Gegensätze, sondern lotet das dynamische Wechselspiel ständiger identitärer Rekalibrierungen im Miteinander der Kulturen aus. Der Fokus liegt dabei nicht auf einem einseitigen Blick auf die sogenannten communautés éthniques (‚ethnischen Gruppen‘), sondern auf die sich ergebenden Konsequenzen für die (eigene) kulturelle Identität der Québecer. 47 Vgl. BOUCHARD, 2012. 48 Vgl. beispielsweise die Debatten um das umstrittene Projekt einer Wertecharta (charté des valeurs) in Québec seit dem Herbst 2013 oder die mit zahlreichen öffentlichen Anhörungen verbundene Arbeit der BouchardTaylor-Kommission 2007-2008. Vgl. BOUCHARD/TAYLOR, 2008; BORIESSAWALA, 2009.

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F a z it Das Medium Fernsehen und insbesondere auch das Genre der Fernsehserien sind von transkulturellen Dynamiken sowohl auf der Seite der Produktion, die zunehmend von transnationalen Marktbedingungen geprägt ist, als auch auf der Seite der Medieninhalte geprägt. Die analysierten Beispiele grenzüberschreitender und grenzüberwindender Medienkommunikation konnten Tendenzen der interkulturellen Vermittlerrolle des Fernsehens aufzeigen. Gleichzeitig konnte in der Analyse der Rezeption der Vampir-Serie True Blood in der deutschen Presse auch herausgearbeitet werden, dass diese Vermittlung in einem Umfeld komplexer interkultureller Transfer- und Rezeptionsprozesse zu verorten ist. Schließlich ergab sich aus der Betrachtung der beiden explizit als multikulturell konzipierten Fernsehserien Türkisch für Anfänger und Pure laine eine vom jeweiligen kulturellen Kontext geprägte Repräsentation von kultureller Vielfalt in Deutschland und Québec. Auf deutscher Seite ist die Darstellung dabei von der Erprobung des interkulturellen Zusammenlebens und dem Willen zur Überwindung kultureller Unterschiede durch universelle Werte geprägt – allerdings um den Preis der Konstruktion starrer Gegensätze zwischen ‚deutschen‘ und ‚türkischen‘ kulturellen Identitäten. Pure laine setzt dagegen an der Komplexität multipler Zugehörigkeiten und transkultureller Konstellationen an und hinterfragt die scheinbaren Gewissheiten in einer von kultureller Diversität geprägten Gesellschaft. Die Fernsehserie erkundet so die transkulturellen Dynamiken identitärer Zuschreibungen, die mit den Mitteln des Mediums verhandelt werden.

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Christoph Vatter

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Bodytalk Grenzziehungen und Transkulturalität im Sport ANTJE DRESEN E in le itu n g Wer Gesellschaften mitsamt ihren Entwicklungen und wechselnden Akteurskonstellationen deutend verstehen und ursächlich erklären möchte, muss möglichst tragfähige analytische Schablonen entwickeln und passende Terminologien finden. Der Begriff ‚Transkulturalität‘ scheint besonders geeignet, die modernen soziokulturellen Dynamiken in verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen zu beschreiben. Denn Transkulturalität im Sinne von Welsch verweist auf die Vielfalt möglicher Identitäten, Lebensformen und ineinander verwobener Kulturen, welche die heutige pluralistische Gesellschaft kennzeichnet.1 Damit grenzt diese phänomenologische Darstellung an soziologische Gesellschaftsbegriffe wie z. B. den der „[m]ultikulturellen Gesellschaft“, der häufig mit medial-öffentlichen Diskussionen über Integration und Interkulturalität verknüpft wird.2 Insbesondere im Sport florieren Debatten, Konzepte und vor allem Projekte zu den Themen Inklusion, Integration oder Migration. Sie werden etwa nationenübergreifend als „[n]eue Horizonte für interkulturelle Bildung“ deklariert und mit Inhal-

1 2

Vgl. WELSCH, 1995, S. 39-44. RADTKE, 2000.

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Antje Dresen

ten gefüllt.3 Doch Transkulturalität ist mehr als „Sport für alle in einer multikulturellen Gesellschaft“,4 wenngleich eine genauere Spezifizierung bislang unterblieb. Weder auf der programmatischen noch auf der sportwissenschaftlichen Ebene wird von Transkulturalität gesprochen. Dabei ist unklar, ob es sich schlichtweg um ein Forschungsdesiderat handelt oder um fehlende transkulturelle Prozesse, die folglich auch nicht phänomenologisch und terminologisch gerahmt werden können. Das Ziel dieses Beitrags soll deshalb sein, Spuren von Transkulturalität im gesellschaftlichen Subsystem Sport aufzudecken und zu ergründen. Aus einer sportsoziologischen Sicht wird also gefragt, wo sich transkulturelle Dynamiken im Sport empirisch beobachten lassen und wie diese gesamtgesellschaftlich eingeordnet werden können. Auf diesem explorativen Weg wird im Folgenden zunächst eine differenzierungstheoretische Folie zu Transkulturalität konstruiert. Mit dieser analytischen Schablone wird der Sport sodann zum einen als gesellschaftliches Teilsystem in seinen strukturellen und soziokulturellen Besonderheiten beschrieben. Zum anderen wird er im Wechselverhältnis zu den Facetten einer transkulturellen Gesellschaft betrachtet, um sodann seine Rolle als Gegen- bzw. Entsprechungsmodell resümierend zu skizzieren.

D iffe r e n z ie r u n g s th e o r ie u n d T r a n s k u ltu r a litä t als Gesellschaftsbegriff Die Sozial- und Kulturwissenschaften stehen kontinuierlich vor der Aufgabe, ihren Forschungsgegenstand möglichst präzise zu benennen und phänomenologisch zu umreißen. Auf makrotheoretischer Ebene gibt es deshalb mehr oder weniger treffende Versuche, die moderne Gesellschaft als „Weltgesellschaft“,5 „[p]ostindustrielle Gesellschaft“,6 „[i]ndividualisierte Gesellschaft“,7 „Risikogesellschaft“8 usw. zu be3 4 5 6 7 8

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GIEß-STÜBER/BLECKING, 2008. GIEß-STÜBER, 2008a. RICHTER, 2000. EICKELPASCH/RADEMACHER, 2000. SCHROER, 2000. BECK, 1986.

Transkulturalität im Sport

schreiben. Dabei zeigen sich jene Gesellschaftsanalysen als besonders fruchtbar, die neben ihrer Diagnostik zugleich eine theoretische Perspektive liefern. Angesichts der Ausrichtung des vorliegenden Bandes auf transkulturelle Aktanten, Prozesse und Theorien bietet sich eine soziologisch-analytische Verbindung zwischen der „[f]unktional differenzierten Gesellschaft“9 bzw. den „Theorien gesellschaftlicher Differenzierung“10 und der empirischen Beobachtung bzw. theoretischen Konzeption von „Transkulturalität“11 nach Welsch an. Funktional ausdifferenzierte Gesellschaften wie die unsere sind im Gegensatz zu vormodernen, archaischen Gesellschaften feingliedrig arbeitsteilig organisiert, um Konkurrenz zu beschränken und gesellschaftliche Ordnung zu ermöglichen. Dabei zerfallen moderne Gesellschaftsformen in verschiedene Teilsysteme wie „Wirtschaft, Politik, Recht, Militär, Wissenschaft, Kunst, Massenmedien, Erziehung, Gesundheit, Sport, Familie, Intimbeziehungen“.12 Diese Sinnsysteme kommunizieren über spezielle binäre Codes und bilden Leitdifferenzen aus, die handlungsorientierend wirken. Dabei sind sie stets an ihrer Selbsterhaltung interessiert und liefern damit zugleich einen funktionalen Beitrag zur arbeitsteiligen Organisation der Gesamtgesellschaft. Die Wirtschaft organisiert sich etwa um die Zahlungsfähigkeit als binären Code; Haben oder Nicht-Haben bilden dazu die System-Umwelt-Differenz. Wer also zahlungsfähig ist und damit nach der Logik ‚wirtschaftlich‘ handelt, ist in das entsprechende System ‚Wirtschaft‘ inkludiert, wer nicht, bleibt von diesem System ausgeschlossen. Wer nach wissenschaftlicher Logik nach Erkenntnisgewinn strebt und ‚wahre‘ Ergebnisse produziert, findet sich als Rollenträger im System ‚Wissenschaft‘ wieder. Wer wissenschaftliche Prinzipien missachtet und ‚unwahre‘ Behauptungen aufstellt, ist gemäß der entsprechenden Leitdifferenz ‚wahr/unwahr‘ kein systemisches Element, sondern für die Wissenschaft Teil der Umwelt. Nun mögen sich diese abstrakten Vorstellungen auf den ersten Blick als gänzlich ungeeignet für Analysen kultureller Prozesse erweisen. Doch die diesem Gesellschaftsbegriff zugeordneten funktionalen Diffe9 10 11 12

KNEER/NOLLMANN, 2000. SCHIMANK, 2007. WELSCH, 1995. SCHIMANK, 2007, S. 141.

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renzierungs- bzw. Systemtheorien bringen zum einen über ihre Gegenstandsbeschreibung ein äußerst tragfähiges Ordnungsmuster mit sich.13 Damit sind Differenzierungstheoretiker häufig in der Lage, unsere hochkomplexe Gesellschaft, notwendigerweise komplexitätsreduzierend, zu deuten. Zum anderen zeichnen sich besonders funktionale Differenzierungstheorien dadurch aus, dass sie Gesellschaften als Kommunikationszusammenhänge begreifen. Und um genau diese geht es bei soziokulturellen Dynamiken in den verschiedenen Sozialbereichen wie z. B. im Sport. Kommunikationen werden dabei typischerweise zu sozialen Rahmungen in Beziehung gesetzt, in denen sich Akteure bzw. Aktanten schließlich vernetzen, abgrenzen, agieren und kooperieren – also wechselseitig orientiert handeln. Im Sport kann diese Form körperlicher Kommunikation als „Bodytalk“ bezeichnet werden.14 Diese Ausrichtung auf das Kommunikationspanorama Sport soll in der anstehenden Analyse mit den kulturellen Vorstellungen von Welsch perspektivisch verwoben werden.15 Welsch beschreibt die „Verfasstheit heutiger Kulturen“ über eine Vielfalt möglicher Identitäten und grenzüberschreitender Konturen und wendet sich damit von traditionellen, eindimensionalen Kulturbegriffen ab.16 Er stellt fest: „Moderne Gesellschaften sind in sich so hochgradig differenziert, dass von einer Einheitlichkeit der Lebensformen nicht mehr die Rede sein kann.“17 Sie zeichneten sich vielmehr durch Transkulturalität aus,18 die er zugleich als wissenschaftliches Konzept benennt, „um den aktuellen binnenkulturellen Differenzierungen gerecht zu werden“.19

13 Vgl. SCHIMANK, 2007; LUHMANN, 1975 und DERS., 1987. 14 Der Begriff ‚Bodytalk‘ entstammt ursprünglich einem Buchtitel von Andrea Hauner und Elke Reichart (vgl. HAUNER/REICHART, 2004). Dort ist er allerdings anders konnotiert als im Kontext dieses Beitrags. Die Autoren beziehen sich vornehmlich auf den Kult um Körper und Schönheit, während in der vorliegenden Abhandlung die interaktionistische Komponente im Vordergrund steht. 15 Vgl. WELSCH, 1995. 16 EBD., S. 39. 17 EBD. 18 EBD. 19 EBD. Ebenso wie die „[f]unktional differenzierte Gesellschaft“ als Forschungsgegenstand und die entsprechende differenzierungstheoretische Perspektive ist Transkulturalität also gleichzeitig empirische Dynamik und Theoriekonstrukt.

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Transkulturalität im Sport

Es geht Welsch demzufolge darum, „Kulturen jenseits des Gegensatzes von Eigenkultur und Fremdkultur zu denken“ und sich so sowohl von dem Konzept der Interkulturalität als auch dem der Multikulturalität zu verabschieden.20 Erstes Modell gehe durch seine fälschlicherweise inselartigen Vorstellungen von Kultur per se von strukturellen Kommunikationsunfähigkeiten und schwierigen Koexistenzen der Kulturen aus. Das zweite Konstrukt beziehe die gleiche Vorstellung dann irreführend auf separierte Kulturen innerhalb einer Gesellschaft.21 Welsch möchte dagegen Grenzüberschreitungen von und innerhalb von Kommunikationspanoramen unterstrichen wissen. Diese machten die Vielzahl möglicher Identitäten erst möglich. Die Verflechtungen von Kulturen als Folge von Migrationsprozessen seien das wesentliche transkulturelle Merkmal.22 Dies zeige sich sodann auf der Mikroebene der Akteure als „kulturelle Mischlinge“.23 Finden sich nun diese Vorstellungen von kulturellen Entgrenzungen und pluralistischer Identitätsarbeit auch im Sport? Oder besteht die Funktion dieses sozialen Teilsystems gerade darin, bewusst begrenzend und somit handlungsorientierend zu wirken? Auf der Spurensuche nach transkulturellen Dynamiken wird das gesellschaftliche Subsystem Sport im Folgenden in seinen klassischen Ausprägungen umschrieben.

D e r ‚h a r t e K e r n ‘ d e s S p o r t s . S t r u k t u r e le m e n t e u n d L e ito r ie n tie r u n g e n Zum zentralen Bestandteil sportlichen Handelns zählt das Prinzip des Leistens, das über Kommunikation seinen Ausdruck findet. So fungiert der Sport als „eine soziale Institution, in der Kommunikation körperlicher Leistungen stattfindet“.24 Die Präsentation von Leistungen ist gleichsam typisch für den Sport. In keinem anderen Lebensbereich werden Leistungen so offensichtlich und unmittelbar geschaffen. Sie sind 20 21 22 23

EBD., S. 40. Vgl. EBD. Vgl. EBD., S. 42f. EBD., S. 43. In Anlehnung an Wittgenstein (1984) stellt Welsch fest, dass die transkulturelle Übergangsfähigkeit zwischen verschiedenen Lebensformen schließlich Identität ausmache (vgl. EBD.). 24 WEIß, 1999, S. 179.

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meistens eindeutig feststellbar und für Außenstehende sofort nachvollziehbar. Leistungen im Sport werden infolgedessen resonanzfähig und kommunizierbar.25 Sowohl für den Breiten- als auch für den Leistungssport gilt so: „Sportliche Aktivitäten lassen sich generell als Handeln in leistungsthematischen Situationen kennzeichnen.“26 Differenzierungstheoretisch gesprochen werden nun diese Leistungen über einen spezifischen Code kommuniziert, der sich an Sieg und Niederlage bzw. Leistung und Nicht-Leistung bemisst. Sämtliche systeminternen Operationen richten sich an dieser Leitdifferenz des Gewinnens oder Verlierens aus: Aus diesem Grund „strukturiert zum Beispiel insbesondere der Spitzensport seine Kommunikationen auch nicht beliebig, sondern operiert unter einem binären Code – dem von Sieg und Niederlage oder, übersetzt in die Leitsemantik des Systems, dem von überlegener/unterlegener Leistung“.27 Weil sich diese Leistungen nun durch ihre prinzipielle Messbarkeit auszeichnen und mit der Idee der Gleichheit der Startchancen verknüpft sind, erfolgt eine sofortige und jedem einsichtige Hierarchisierung der Leistungsergebnisse – mit der Folge einer „augenblicklichen Verschwisterungschance von Leistung und Erfolg“.28 Dabei enthält der Erfolg einen außergewöhnlichen Knappheitsstatus, da Leistungsvergleiche im Rahmen von Konkurrenzsituationen stattfinden, in denen es nur um Gewinnen oder Verlieren geht. Die Athleten sind dazu angehalten, sich ständig mit ihren Kontrahenten zu messen und sich stetig zu überbieten, um den sportlichen Sieg anzustreben. Die Leistungen erlangen nur dann Bedeutung, „wenn sie mit denen der anderen verglichen werden. Jeder steht also permanent mit jedem in Konkurrenz“.29 Dieses Knappheitsprinzip macht zugleich das Erlebniskorrelat des Sportcodes aus: die Spannung. Wenn alle Athleten Gewinner sein könnten und zwischen Sieger und Verlierer nicht mehr unterschieden würde, wäre der Sport uninteressant. Erst die starke Selektionspraxis durch das Hervorbringen einer strikten Rangordnung der beteiligten

25 26 27 28 29

290

Vgl. KUHLMANN, 2003, S. 191f. EBD., S. 192. BETTE, 1999, S. 36. MATTHIESEN, 1995, S. 174. DE WACHTER, 2004, S. 260.

Transkulturalität im Sport

Akteure macht den Hochleistungssport für Athleten und Zuschauer so spannend.30 Den Modus, wie die Auseinandersetzung um Sieg und Niederlage zu erfolgen hat, stellen als normative Orientierungen die Regeln der Sportarten. Hier geht es um Programme, die das ‚Sollen‘ der Akteure festlegen. So geben Regeln im Sport vor allem den rechtlichen Rahmen für das Handeln der Akteure vor und klären, auf welche Weise gewonnen werden darf, welche Handlungen beim Versuch zu gewinnen erlaubt oder verboten sind und wie die vom Regelwerk abweichenden Handlungen bestraft werden.31 Diese normative Rahmung durch Regeln wird schließlich durch einen sie stützenden ‚Wertehimmel‘ überhöht. Sieger und Verlierer werden nur dann geachtet, wenn sie sich an die Spielregeln halten. Moralische Entrüstung und soziale Ächtung von Devianten sind dahingegen die Antwort des Leistungssports auf die Verletzung selbstgesetzter Normen.32 Oftmals wird in diesem moralischen Sinne auf die Ideen von Pierre de Coubertin als Urheber der olympischen Bewegung verwiesen. Dabei wird er als Diskursivitätsbegründer des Sports bezeichnet. Er sah beim Sport die der Moderne entsprechenden Eigenschaften wie Selbstbestimmung, Dynamik und Mobilität gefördert. Dabei sprach Coubertin dem Sport eine heilende Kraft auf die physisch, psychisch und moralisch degenerierte Gesellschaft zu. Seine leitenden Grundsätze des Sportbegriffs als symbolisch überhöhende Elemente beziehen sich so auf eine auf individueller Leistung beruhende Gerechtigkeit, auf formale Chancengleichheit, Affektkontrolle und Fairness, auf das Konkurrenzprinzip, das Moment von Risiko und Zufall, auf das Prinzip der Überwindung von Widerstand gegen sich selbst, der natürlichen Umwelt und des Gegners sowie auf das Prinzip der Leistungsprogressivität und -maximierung.33 Gemäß den bisherigen Ausführungen zählen somit der Leistungscode, das Knappheitsprinzip innerhalb von Konkurrenzverhältnissen, die Spannung, die normative Komponente als Regeln und ihre Überhöhung durch einen sporttypischen Wertehimmel zu den bedeutsamsten 30 31 32 33

Vgl. DRESEN, 2010, S. 197-199. Vgl. CACHAY/THIEL, 2000, S. 156f. Vgl. BETTE/SCHIMANK, 2006, S. 46; DRESEN, 2010, S. 199. Vgl. GAMPER, 2000, S. 49-52.

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Strukturkomponenten des Sports. In ihnen repräsentieren sich die sporttypischen Sinnbezüge „für ein komplexes Arrangement von Leistungsbewertungen, Leistungsmessungen, Notierungen, Vergleichen, Fortschritten und Rückschritten“.34 Aus diesem traditionellen Sportverständnis lässt sich herauslesen, dass sich der ‚harte Kern‘ des Sports als relativ stabil erweist. Damit könnte man den Sport auch als äußerst konservativ beschreiben, weil er durch klare Leitdifferenzen systemisch regelt, was sportlich ist und was nicht, und wer nach sportlichen Logiken agiert und wer nicht. Gerade daraus erklärt sich, dass der Begriff der Transkulturalität sowohl auf der programmatischen als auch der sportwissenschaftlichen Ebene bislang keinen fruchtbaren Boden gefunden hat. Hier liegt noch ein mehr oder weniger eindimensionales Verständnis von Sport vor, das sich mit Welschs Kulturkritik nicht vereinbaren lässt. Dabei sind die von Welsch kritisierten Konzepte von Interkulturalität und Multikulturalität im Sport besonders stark. Sie setzen eben das voraus, was Welsch für eine veraltete Vorstellung von Kultur hält: territoriale, über die verschiedenen Sportarten sowie Vereins- und Verbandsstrukturen operierende Abgrenzungen nach innen und außen. Eben darum werden im Sport Interkulturalität und Multikulturalität vielfach mit Identitätsfragen verknüpft. Fremdheit ist Erfahrung und Erkenntnisprinzip, das es über den Sport zu überwinden gilt.35 Und gerade deshalb wird in pädagogischer Hinsicht der Umgang mit Fremdheit im und durch Sport vor allem in den sozialen Settings Schule und Verein eingeübt.36 Der Sport versucht, den von Welsch angeführten kulturellen Mischidentitäten etwas Orientierendes entgegenzusetzen: Im Sport ist man jemand, nicht irgendjemand.37 Hier geht man in der Anonymität der Masse nicht unter. Auch ist man nicht Träger mehr oder weniger konform gehender Rollen wie z. B. Mutter, Partnerin, Wissenschaftlerin und Freundin oder Vater, Ehemann, Bankkaufmann und Freund. Im 34 LUHMANN, 1997, S. 228. Im Bereich des Spitzensports ist dieser strukturelle Kern gesellschaftlich eng mit dem Publikum, der Wirtschaft, den Medien, der Politik und der Wissenschaft verflochten. Die Rolle des Publikums findet sich im Kontext dieser Analyse in den Ausführungen zu den Fankulturen wieder. 35 Vgl. BRÖSKAMP, 2008, S. 226. 36 Vgl. GIEß-STÜBER, 2008b und GRAMESPACHER, 2008. 37 Vgl. WELSCH, 1995, S. 43.

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Transkulturalität im Sport

Sport zählt lediglich ‚auf dem Platz‘. Die soziale oder ethnische Herkunft ist angesichts des Gleichheitspostulats nachrangig. Während des Spiels zählt für das Team nicht, wie erfolgreich man etwa im Beruf oder ob jemand Katholikin oder Muslima ist. Im Sport zählen allein die Leistungen z. B. als Stürmer, Torwart usw. Dies kann angesichts mangelnder Rollenkonflikte durchaus kognitiv entlastend sein. Die Deutsche Sportjugend (DSJ) unterstützt zahlreiche Projekte und Kampagnen wie „Sport verbindet uns“ und „Starke Mädchen – starke Jungen – gemeinsam stark“,38 die gerade Kindern und Jugendlichen über den Sport etwas Orientierendes und Anerkennung Verschaffendes näherbringen wollen. Gewiss zeigen sich hier auch soziale Ungleichheiten, die sich z. B. insbesondere im Zugang zu Bewegungsangeboten und Vereinsstrukturen sowie im Sportengagement ausdrücken. Hier erweist sich exemplarisch die sogenannte ‚meritokratische Triade‘ aus Einkommen, Bildung und Beruf einflussnehmend auf sportartenspezifische Vereinsmitgliedschaften. Aber prinzipiell ist „Sport für alle“ da, wie etwa der StadtSportBund Köln in Kooperation mit der Stadt Köln sowie mit Organisationen aus dem Sport- und Behindertenbereich als Slogan formuliert.39 Typischerweise werden so im organisierten Sport hochformalisierte Verhaltensweisen in Sportmannschaften vermittelt und damit das soziale Miteinander über kulturelle Grenzen oder auch Formen der Behinderung hinaus eingeübt. Aufgrund dieser klaren sportlichen Ab- und Eingrenzungen mit schließlich grenzüberschreitendem Potential können Interkulturalität und Multikulturalität als gewünschtes „miteinander kommunizieren, einander verstehen oder anerkennen [K]önnen“ wachsen.40 Kulturen sind dabei jedoch nicht a priori eng verflochten, sondern spielen in ihren Eigenheiten für den Moment der sportlichen Aktivität als Selbstzweck schlichtweg keine Rolle.41 38 39 40 41

Vgl. NETZWERK SPORTJUGEND, 2012 und DSJ, 2013. Vgl. KÄMPGEN STIFTUNG, 2013. WELSCH, 1995, S. 40. Welsch scheint sich in einem knappen Statement zum Sport anders zu positionieren. Er betont: „In Nationalmannschaften ist die transkulturelle Mischung inzwischen unverkennbar“ (DERS., 2010, S. 44). Aus der Analyse im vorliegenden Beitrag – der Welschs Vorstellungen von Transkulturalität mit Entgrenzungen und Identitätsmischungen zum Ausgangspunkt nimmt – zeigt sich allerdings zuvorderst ein multikulturelles Gefüge.

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Letzteres mag vordergründig nicht für die vermeintlich separierten ethnischen Gruppen im organisierten Sport zutreffen. Hier scheinen gerade kulturelle Eigenheiten bedeutsam zu sein. So hat sich über die Plattform des Deutschen Olympischen Sportbunds (DOSB) als Dachorganisation des organisierten Sports in Deutschland eine Debatte um die sogenannten ‚eigenethnischen Vereine‘ entflammt. Sie kreist um die Frage, ob solche Vereine die Integration fördern oder nicht. Der DOSB informiert im Zuge seines lang etablierten Programms „Integration durch Sport“ auf seiner Homepage, der ursprüngliche Zweck dieser ersten, von Gastarbeitern gegründeten ethnischen Vereine sei vor allem gewesen, eine Anlaufstelle für Neuankömmlinge zu sein. Auch heute biete sich für die jeweiligen Angehörigen einer Nation ein kulturell vertrauter Raum, in dem sie frei von Lern- und Anpassungsdruck erste Kontakte knüpfen können. Und gerade deshalb seien viele Sport- und Kulturvereine, die sich aus ethnischen Organisationen gebildet haben, wichtige Instrumente für die Begegnung und Verständigung zwischen Bevölkerungsgruppen. Wenig Austausch führe dagegen zu Ghettoisierung und Separation.42 Trotz dieser kulturorientierten Integrationsdebatte entscheiden nicht primär ethnische Besonderheiten und erst recht keine Mischidentitäten über einen Turnierverlauf und sportliche Erfolge. Der Wille des Aufeinander-Zugehens ist prägend für integrative Prozesse. Im Bereich des organisierten Sports handelt es sich um sportspezifische, formalisierte und vereinstypische Grenzziehungen, die ein vertrautes Zuhause geben und schließlich inter- bzw. multikulturelle Züge tragen können. Transkulturalität ist demgegenüber hier nachrangig einzuordnen. Nun besteht der Sport jedoch nicht nur aus einem strukturellen, ‚harten Kern‘, sondern wird sozusagen durch eine ‚weiche Schale‘ gerahmt. Um die athletenzentrierte, innersportliche Ausrichtung auf Leistungsorientierung kreisen Akteurskonstellationen als Umwelten, die am Sport partizipieren. Auf der Suche nach Transkulturalität werden im Folgenden die Besonderheiten solcher Fankulturen betrachtet.

42 Vgl. DOSB, 2014b.

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Transkulturalität im Sport

D ie ‚w e ic h e S c h a le ‘ d e s S p o rts . In te r a k tiv e F a n k u ltu r e n So, wie der Körper seitens der Athleten im (Hoch-)Leistungssport aktiv eingesetzt wird, ist er auch passiv als wahrnehmbare Instanz ein Thema. Der Sportzuschauer erlebt das leistungssportliche Handeln in seiner sichtbaren Symbolik unmittelbar. „Im Gegensatz zur Kompliziertheit und Intransparenz beispielsweise politischer, wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Prozesse ist der Sport aufgrund seines Körper- und Personenbezugs auf eine erfrischend andere Weise lesbar und verstehbar.“43 Die soziale Kommunizierbarkeit des Sports über körperliche Leistungen bezieht sich also nicht nur auf die Aktiven, sondern gleichermaßen auf das Sportpublikum. „Eigenschaften der Realität des Sports, wie Anschaulichkeit, Durchschaubarkeit, Redlichkeit und Exaktheit, sorgen für dessen absolute Transparenz.“44 Diese „Darstellung und Präsentation körperlicher Leistungen“ regt schließlich die „Kommunikation der kommunizierten wettkampfbezogenen körperlichen Leistung“ an.45 Auf der einen Seite stehen LiveVeranstaltungen, die z. B. als Stadionerlebnis direkt in einer Art Faceto-face-Beziehung konsumiert werden. Auf der anderen Seite zeigt sich die Sportberichterstattung als mediale Darstellungsform im Fernsehen, in den Printmedien, im Radio und im Internet. Für diese Vermittlungsformen, live und medial, sind insbesondere die (oftmals vereinsnahen) Sportveranstalter und die Journalisten zuständig.46 Beide Partizipationsformen bedingen sich und laufen auf ein Ziel hinaus: „Dass das Publikum die Steigerung von Rekorden und die Kommunikation der Kommunikation Wettkampf erleben kann.“47 Hierbei erlangt die Heldenverehrung als eine besondere Beziehung zwischen Sportzuschauer und Athlet bzw. Mannschaft Bedeutung. Dieser Kontakt erweist sich als intim und ausschließlich: „Meinen Helden habe ich für mich, niemand kommt mir dazwischen.“48 Dabei sind emo43 44 45 46 47 48

BETTE, 1999, S. 125. WEIß, 1999, S. 181. CACHAY/THIEL, 2000, S. 146. Vgl. EBD., S. 146f. EBD., S. 147. GEBAUER, 1987, S. 106.

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tionale und sogar körperliche Reaktionen auf die Aktionen des sportlichen Idols die Regel: „Die Nähe zu den Hauptpersonen […] berührt uns; wenn sie uns packt, verlieren wir die Gleichgültigkeit, und wir fühlen uns mit ihnen verbunden.“49 Lenk erkennt darin Züge des antiken Dramas, bei dem die Zuschauer als mitjubelndes, mitleidendes Publikum von ihren eigenen Problemen entlastet werden und emotionale Verbundenheit mit den Mannschaften bzw. Akteuren des Schauspiels zeigen.50 Heldenverehrung oder das Mitleid mit den Verlierern bietet den Zuschauern demzufolge eine hervorragende Möglichkeit zur Identifikation und Projektion. In diesen Mechanismen sieht Weiß gar die Ursache für die Popularität des passiven Sports.51 Die Sportzuschauer freuen sich über Siege, ärgern sich über Niederlagen und können so an spannenden Momenten teilhaben. Sie können ihre Emotionen verbal und körperlich ausdrücken und mit anderen teilen. Dabei kommt es schließlich zu einer wechselseitig empfundenen Zusammengehörigkeit der Sportzuschauer. Sie stehen in „gefühlmäßigem Rapport“ zueinander, was auf den Sport in seiner sozial vermittelnden Wirkung zurückzuführen ist.52 Diese erlaubt eine Anteilnahme mit geringstem Aufwand. Dies ist vor allem bei Live-Veranstaltungen zu beobachten: In Hinblick auf die Millionen Menschen, die Woche für Woche in die Sportstadien strömen, lässt sich [...] ganz allgemein sagen: Das eigentliche Interesse und Wesentliche der Zuschauerrolle im Sport besteht darin, dass die Involvierung des Zuschauers durch ein betont kinästhetisches Verständnis charakterisiert ist, das ihn mit dem aktiven Sport verbindet.53

Lassen sich nun bei diesen Fankulturen mitsamt ihrer Heldenverehrung transkulturelle Dynamiken finden? Dafür spricht vordergründig die einheitsstiftende Symbolik unter Fans. Über kulturelle Grenzen hinaus demonstrieren sie ihre Zugehörigkeit zu einem Verein, einer Mannschaft oder einem Athleten. Insbesondere die sogenannten ‚Ultras‘ beim 49 50 51 52 53

296

EBD. Vgl. LENK, 1997, S. 146f. WEIß, 1999, S. 181-184. EBD., S. 186. EBD., S. 183.

Transkulturalität im Sport

Fußball etwa tun sich hier typologisch als Fangruppierung hervor. Neben den konsum- und erlebnisorientierten Fans zeichnet sie eine extrem hohe Vereinsidentifikation und eine starke Fußballzentrierung aus. Der Fußball wird zum Lebensinhalt.54 Sie tragen die gleichen vereinstypischen Kleidungsstücke und haben eigene Internetauftritte. Diese Fußballanhänger fallen durch häufigen Einsatz von Pyrotechnik im Stadion und durch spezifische, wiedererkennbare und eingängige ‚Schlachtgesänge‘ auf. So singen etwa die Ultras von Werder Bremen zur Melodie von Nenas „99 Luftballons“: „Diese Kurve singt für Dich, aus dem Herzen und der Pflicht, alles für Grün-Weiß zu geben, unser Kampf und unser Leben.“ Häufig sind unter Fankulturen auch tänzerische Elemente oder, wie in Südkorea, ganze Choreographien beobachtbar. Auch der Einsatz von Instrumenten, die aus anderen, z. B. afrikanischen Kulturen für eine Performance vor, während oder nach dem Spiel übernommen werden, ist gängige Praxis. So waren die sogenannten ‚Vuvuzelas‘ als Blasinstrumente vor allem während der Fußballweltmeisterschaft 2010 lautstark in aller Ohren. Dabei kam die Vuvuzela zunächst nur partiell, insbesondere im südafrikanischen Fußball, als rhythmische Begleitung zum Einsatz, hat sich aber nationenübergreifend zum mittlerweile etablierten Fanartikel bei weltweit ausgerichteten Fußballturnieren entwickelt. Was hier passiert, ist allerdings wiederum nur eine Momentaufnahme kulturellen Austauschs.55 Das sportliche Ereignis schweißt die Menschen zusammen, trennt sie aber auch wieder bis zum nächsten Mal. Dabei werden kulturelle Grenzen nicht fundamental aufgehoben. Auch zählt nicht eine von Welsch deklarierte „Vielfalt möglicher Identitäten“ – entweder man ist Schalker oder Borusse oder Bayern-Fan.56 Diese typischen (binnen-)strukturellen Merkmale führen verstärkt dazu, dass sich Subkulturen nach außen hin klar abgrenzen. So werden 54 Vgl. SOMMEREY, 2010, S. 80. 55 Im soziolinguistischen Sinne würde man wohl von „crossing“ (vgl. RAMPTON, 1995) sprechen. Vereinfacht gesagt werden dabei Elemente als Aussagen, Gesten und Rollen situativ aus anderen kulturellen Kontexten übernommen, aber ohne ihre sozialstrukturelle Gegensätzlichkeit bzw. Fremdheit aufzuweichen. Eine entsprechende Arbeitsgruppe „Diskurs – Macht – Wissen. Zur Konstruktionen von Ungleichheit“ gibt es im Zentrum für Sozial- und Kulturwissenschaften (SOCUM) an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. 56 WELSCH, 1995, S. 39.

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gegnerische Mannschaften und Fans ausgebuht, ausgepfiffen und besungen. Die Ultras vom FC Frankfurt geben etwa zum Besten: „Scheiß auf Ultras Nürnberg, Harlekins Berlin, Brescia merda, wer ist schon Rapid Wien? Scheiß auf Straßburg, Footballclowns aus Karlsruhe! Wir sind aus Frankfurt mit Drogen, Hass und Kampfsport!“ Die offensichtlichen Gewaltprobleme in Fußballstadien zeugen weiterhin davon, dass bei Fankulturen häufig ein latentes bis manifestes Aggressionspotential vorliegt. Dieses drückt sich auf verbaler, aber auch auf nonverbaler Ebene aus – durch Drohen mit Fäusten, abfällige Gesten und Gebärden. Bei manchen Ultra-Gruppierungen, den sogenannten ‚Hooltras‘ (einer Mischform zwischen Ultra und Hooligan), sind Schlägereien ein häufig genutztes Mittel zur Durchsetzung von Faninteressen. Für die friedfertigen Fans, Athleten, Schiedsrichter, Sicherheitskräfte und Polizei ist diese körperliche Aggression hochproblematisch, insbesondere wenn Wurfgeschosse, Schlagringe und Messer in doppelter Hinsicht ‚im Spiel‘ sind. Diese Verhaltensweisen sind nicht nur klar auf Abgrenzung, sondern ebenso auf eine Schädigung der sozialen Umwelt ausgerichtet. In Subkulturen der Gewalt ist diese gar „normativ verankert“.57 Demzufolge sind hier erst recht keine transkulturellen Prozesse im Sinne Welschs erkennbar: Fankulturen, friedliche wie gewaltbereite, leben förmlich von der Gegenüberstellung eines ‚Wirʻ und ‚Ihrʻ.58 Bis zu diesem Punkt der Argumentation scheint es, als sei der ausdifferenzierte Sport ein durchaus interkulturelles und multikulturelles, aber kein transkulturelles Gebilde. Wenn er sich jedoch als Mikrokosmos der Gesellschaft versteht und transkulturelle Dynamiken die moderne Gesamtgesellschaft durchziehen, dann müssten sich auch im Sport Spuren dieser Dynamiken finden lassen. Ein gewinnbringender Erkenntnispfad kann letztlich sein, die sportlichen Randbereiche der ‚weichen Schale‘ zu betreten. Und diese spiegeln sich in den jugendlichen Bewegungskulturen wider (vgl. Abb. 1).

57 LAMNEK, 2001, S. 184. 58 Vgl. WELSCH, 1995.

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Transkulturalität im Sport

Abbildung 1: Das gesellschaftliche Subsystem Sport mit ‚hartem Kern‘ und ‚weicher Schale‘

J u g e n d lic h e B e w e g u n g s k u ltu r e n u n d si n n s ti ften d e I d e n t i t ä t s a r b e i t Die Sportsoziologie hat in den letzten Jahren zunehmend erkannt, dass sie für ihre Analysen zum wechselseitigen Verhältnis von Sport und Gesellschaft verstärkt den Körper bzw. Körperlichkeit und Bewegung in den Blick nehmen muss. Gemeint ist damit, dass wir mit einem lernenden Körper im praktischen Austausch mit der sozialen Welt stehen und damit stets nach Selbstgestaltung und Körperformung streben. Aus dieser körpersoziologischen Perspektive öffnet sich der Blick auf transkulturelle Prozesse unter Jugendlichen, und zwar auf Bewegungsfelder, die nur noch in Nuancen den klassischen leistungsbezogenen Sport streifen. Jugendliche Bewegungskulturen liefern durch ihre Repräsentationen als körperliche und symbolische Inszenierungen alternative Sportver-

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ständnisse.59 Ihre Bewegungsformen und Zeichencodes sind wenig automatisiert, und es gibt eine Vielfalt unterschiedlicher Lesarten, Sinnzuschreibungen und Nutzungsoptionen. Beispiele hierfür sind Kiteskiing, Snowboarding, Skateboarding, Streetball usw., die sich allesamt durch ihr innovatives Bewegungspotential und neue Erschließungen von Bewegungsräumen vom traditionellen Sport unterscheiden. Dieses jugendliche Engagement trägt identitätsstiftende Züge: Es beinhaltet Aspekte der Selbstermächtigung, -darstellung und -mediatisierung. Davon zeugt beispielsweise ein Blick auf die Videoplattform YouTube, in der beständig Videos zu neuen Tricks, waghalsigen Aktionen oder ästhetischkompositorischen Aufführungen hochgeladen werden. Gewiss geht es bei dieser jugendlichen Selbstpräsentation vor allem um Möglichkeiten des Unterscheidens von anderen jugendlichen Subkulturen oder gegen nachrückende erwachsene Freizeitsportler. Jugendliche wenden sich in der Adoleszenz typischerweise Gleichgesinnten zu, um sich vom Einfluss der Eltern schrittweise zu distanzieren. Dies macht sich inner- und außersportlich z. B. in provokanten und innovativen Kleidungs- und Verhaltensstilen bemerkbar.60 Aber in diesen Bewegungswelten zeigt sich ein mindestens ebenso hohes Maß an Pluralität, Kreativität und Innovation, das nichts mit Abgrenzung zu tun hat. Es geht um das „Nicht-Universelle des Bewegens“,61 mit dem schließlich eine symbolische und ‚entgrenzte‘ kulturelle Auseinandersetzung mit Körperlichkeit, Kleidung, Industrie, Medien, natürlicher und sozialer Umwelt einhergeht. Hierfür werden z. B. Bewegungselemente aus traditionellen Sportarten neu gemischt oder traditionelle Sportarten um innovative Bewegungsformen angereichert. Dies zeigt sich u. a. im Rollkunstlauf, bei dem Rollschuhlauf und Elemente des Eiskunstlaufs miteinander verschmelzen. Seit mehreren Jahren gibt es eine Rollkunstlauf-Nationalmannschaft, die regelmäßig Meisterschaften absolviert.62 Le Parcours ist weiterhin ein aus Frankreich kommendes Beispiel für 59 60 61 62

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SCHWIER, 2006, S. 321-323. Vgl. HURRELMANN, 2004, S. 32. EICHBERG, 2008, S. 137. Welsch bezeichnet die Entwicklung des Modern Dance durch Kombination europäischer, amerikanischer und asiatischer Elemente als „hohe Kultur der Mischung“ (WELSCH, 2010, S. 45). Auch dies erscheint im Kontext von Bewegungskulturen als passendes Beispiel, wenn auch von Welsch nicht weiter ausgeführt.

Transkulturalität im Sport

eine kreative Ausweitung des Laufens, nämlich über natürliche oder städtische Hindernisse: Mauern und Garagen werden erklettert oder gar Hochhausschluchten übersprungen. Dazu wird u. a. auch in Sporthallen trainiert, wo Sportgeräte und Wände die zu überwindenden Hindernisse stellen. Mit Welsch formuliert, geht es also um jugendspezifische Bewegungsfelder, deren „pragmatische Leistung nicht in Ausgrenzung, sondern in Integration besteht“.63 In besonderer Weise liefern die körperlichen Praxen der Adoleszenten damit nicht vorrangig Divergenzen, sondern Anschlussmöglichkeiten etwa an traditionelle Sportarten, natürliche und urbane Räume, Gleichgesinnte usw. Gerade diese Abkehr von der Uniformierung des traditionellen Sports und die Hinwendung zur Transkulturalität als „Modus der Vielheit“ bringen Dynamik in die praktische und programmatische Ebene des Sports.64 Im Bereich Bewegung scheinen sich jene fluiden Anschlussoptionen an gesamtgesellschaftliche Entwicklungen zu ergeben, von denen Transkulturalität ausströmt und in die zugleich Transkulturalität hineinwirkt.

F a z it. B o d y ta lk im S p o r t a ls G e g e n m o d e ll d e r Gesellschaft In diesem sportsoziologischen Beitrag ist versucht worden, Facetten von Transkulturalität differenzierungstheoretisch zu umreißen und diese mit Blick auf Welschs Kulturkonzept auf den Sport zu übertragen. Hierbei stößt man im ‚harten Kern‘ des Sports auf relativ berechenbare und strukturell festgelegte Konstanten. Die sportlichen Leitdifferenzen des Leistens und seine formalisierten Regeln zur sportlich-körperlichen Kommunikation erweisen sich als relativ stabil und erstrecken sich in genau diesen Besonderheiten auch auf die Unterhaltungsbedürfnisse der sportlichen Beobachter. Gerade diese normative Erwartungssicherheit in Verbindung mit Spannungskomponenten macht das Faszinosum 63 WELSCH, 1995, S. 43. 64 EBD., S. 44. Diese Prozesse sind gleichzeitig erkenntnistheoretischer Auftrag für die sportwissenschaftlichen Disziplinen, nicht nur den ‚harten Kern‘ des Sports, sondern gleichsam auch seine äußeren Ränder zu betrachten.

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Sport aus. Dabei geht es um Abgrenzungen unter Fan- und Sportkulturen, um begrenzten Bodytalk, der identitätsorientierende Funktionen hat. Sportfans zeichnen sich durch ebendiese Mechanismen der Grenzziehung aus, durch ein ‚Wirʻ und ‚Ihrʻ, identitätsstiftende Kleidung, Rituale etc. Transkulturelle Aktanten wie Mischidentitäten und Prozesse der Entgrenzung sind hier völlig nachrangig einzuordnen. Dies ist ein deutlicher Unterschied zu den aktuellen Facetten von Interkulturalität und Multikulturalität, denn diese gehen von gewünschter Verständigung aufgrund von vorhandenen soziokulturellen Grenzen aus. In den Randbereichen des gesellschaftlichen Subsystems Sport finden sich allerdings durchaus transkulturelle Prozesse. Jugendliche agieren in diesem Kontext als Beschleuniger, als Kreative, die durch innovative Formen der Bewegung oder durch Mischkonstrukte von traditionellen Sportarten Entgrenzungen und eine Vielfalt von Identitäten forcieren. Damit brechen sie sozusagen gesamtgesellschaftlich aus und treffen auf das von Welsch tradierte Kulturverständnis von Transkulturalität (vgl. Abb. 2).

Abbildung 2: Trans-, Inter- und Multikulturalität im Sport

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Transkulturalität im Sport

In den fluiden Bereichen zeigt sich der Sport als Entsprechungsmodell der Gesellschaft. Gleichwohl lässt sich aus dieser soziologischen Analyse folgern: Der Sport, mitsamt seinen Kernkomponenten und Partizipierenden, stellt einen gesellschaftlichen Teilbereich dar, in dem Transkulturalität kaum eine Rolle spielt. Folglich wird auch kaum von Transkulturalität gesprochen. Der Sport ist stark strukturell, institutionell und konservativ geprägt und verleiht so Individuen Orientierung. Diese Besonderheit mit Selbstzweck-Charakter beschert ihm knapp 28 Millionen Mitglieder in Sportvereinen in Deutschland.65 Demzufolge lässt sich der Sport in diesem Kontext als gesamtgesellschaftliches Gegenmodell einordnen, in dem mehr als ein Drittel der Gesamtbevölkerung traditionell Sinn sucht, diesen beständig reproduziert und dadurch Identität findet. Angesichts dieser hohen Bedeutung des Sports als Teil einer Kultur und seiner aufgezeigten Charakteristika ist es notwendig, die generelle Abkehr vom traditionellen Kulturbegriff – wie sie Welsch vorschlägt – zu überdenken. Vielfalt und Entgrenzungen durchdringen zahlreiche soziale Teilbereiche, wie über die körperorientierten Bewegungskulturen hinaus dieser Band zeigt. Aber eine ‚versportlichte Gesellschaft‘ lebt eben auch vom Bodytalk als kommunizierte Grenzziehung und ihrer Überwindung.

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Transkulturalität und Transdifferenz im indigenen Kino in Australien und Neuseeland KERSTIN KNOPF Seit sich das indigene Kino in den 1990er Jahren in den sogenannten ‚Siedlernationen‘ Australien, Neuseeland, Kanada und den USA etablierte, hat es sich zu einer konstanten Größe im globalen Filmschaffen entwickelt, wie indigene Filmfestivals wie z. B. Message Sticks in Sydney und ImagineNATIVE in Toronto zeigen. Letzteres präsentiert jedes Jahr im Oktober mehr als 120 neue Kurz-, Dokumentar- und Spielfilme, Radiobeiträge und Musikvideos aus aller Welt. In diesem Beitrag untersuche ich die Konstruktion und Artikulation von Kultur in vier indigenen Spielfilmen aus Australien und Neuseeland. Nach einer Einführung der Konzepte ‚Transkulturalität‘ und ‚Transdifferenz‘ werde ich transkulturelle und transdifferente Merkmale in jeweils zwei neuseeländischen und australischen Beispielen diskutieren: Lee Tamahoris Once Were Warriors (1994), Taika Waititis Boy (2010), Warwick Thorntons Samson & Delilah (2009) und Richard Franklands Stone Bros. (2009).

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T r a n s k u ltu r a litä t u n d T r a n s d if f e r e n z 1 Das klassische Konzept der Einzelkulturen oder ‚Inselkulturen‘ geht hauptsächlich auf Johann Gottfried Herder und Edward B. Tylor zurück.2 Es ist ein homogenisierendes Kulturkonzept, das in den heutigen postmodernen und globalisierten Gesellschaften längst nicht mehr haltbar ist. Es impliziert, dass es ‚authentische‘ Kulturen gibt, dass alle Kulturen starr und innerlich vereinheitlicht sind und sich eindeutig voneinander abgrenzen. Wie wir jedoch wissen, verändern Kulturen sich ständig, haben intrakulturelle identitätsstiftende Unterschiede, wie z. B. Alter, Geschlecht, Klasse, Generation, Ethnizität, Religionszugehörigkeit, Familienstand, Bildungsstand, politische Überzeugung, sexuelle Orientierung und Lebensstile, die alle Subkulturen hervorbringen. Bereits lange vor den europäischen Kolonisierungswellen gab es Kontakte zwischen den Kulturen verschiedener Kontinente, die schon immer Veränderungen der aufeinandertreffenden Kulturen nach sich zogen. So hatten etwa baskische Fischer schon im 16. Jahrhundert Kontakt zu den Micmac an der kanadischen Ostküste, wo sie erst Dorsch fischten und später Wale jagten. So erklärt sich, dass die Sprache der Micmac heute baskische Wörter enthält wie auch Baskisch MicmacBegriffe; weiterhin gibt es baskische Muster in Micmac quillwork.3 Es gab demnach schon gegenseitige kulturelle Einflüsse und intrakulturelle Unterschiede – wenn auch in einem geringeren Maße als heute –, lange bevor es ein Konzept von Kultur gab.4 Auch heute noch wird Kultur grob mit Nationalität und Ethnizität gleichgesetzt, wie z. B. die neuseeländische Kultur und die Kultur der Māori; der erweiterte Kulturbegriff umfasst jedoch auch intrakulturelle Aspekte, die für ein Verständnis von kulturellen Prozessen unumgänglich sind. Diskriminierungspraktiken aufgrund von intra- oder subkulturellen Unterschieden, die nicht unter Rassismus oder Sexismus fallen, können nach Werner Sollors als

1 2 3 4

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Ich danke Helmbrecht Breinig für die konstruktive Kritik an diesem Aufsatz. Vgl. WELSCH, 1994, S. 86-90 sowie TYLOR, zit. n. HEJL, 2001, S. 344. Vgl. BAKKER, 2006. Vgl. auch WELSCH, 1999, S. 199f., der feststellt, dass es auch eine historische Transkulturalität gibt, diese jedoch in Europa situiert. Vgl. auch BREINIG, 2006, S. 76.

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„social sadism“ verstanden werden, wobei dieser Begriff auch Rassismus und Sexismus mit einschließt.5 Ein weiterer Schlüsselaspekt im Verständnis von Kulturen ist die Sicht des Individuums oder der kulturellen Gruppe auf die eigene und alle anderen Kulturen und Subkulturen. Die Abgrenzung der eigenen von einer anderen Kultur produziert die Dichotomie von ‚Selbst‘ und von ‚Anderen‘, nach welcher die Welt verstanden und repräsentiert wird. Es ist durchaus eine Eigenheit des menschlichen Denkens, die eigene (Sub-)Kultur, das ‚Selbst‘, als die legitime, bessere, überlegenere, zivilisiertere oder nur ‚richtigere‘ und maßgebende zu sehen und somit andere (Sub-)Kulturen als illegitim, unterlegen, weniger zivilisiert oder weniger ‚richtig‘ und maßgebend. Dieses Denken, gepaart mit europäischer technischer und militärischer Überlegenheit und der Überzeugung, man habe Gott und das Recht, andere Territorien zu besetzen, auf seiner Seite, führte zur europäischen Kolonisierung der Welt vom 16. bis zum 19. Jahrhundert sowie zu neokolonialen Verhältnissen in den sogenannten ‚Siedlernationen‘, wo die indigene Bevölkerung enteignet und marginalisiert auf Bruchteilen von ehemals traditionellen Gebieten lebt. Der allmähliche Rückgang von Kulturunterschieden hat zur Folge, dass wir heute Kulturen als komplexe, offene, dynamische Systeme von Wissensbeständen, Sinnzuschreibungen und sozialen Praktiken verstehen, die von bestimmten Gruppen geteilt werden, die vernetzt sind, sich überlappen und in ständigem Wandel begriffen sind.6 Sie stehen durch Interaktion und Abgrenzung in Beziehung zu anderen Systemen, die wiederum in der Selbst- und Fremdwahrnehmung und -repräsentation impliziert sind.7 Wolfgang Welschs Konzept der Transkulturalität geht ebenfalls über die Idee der homogenen, separaten Kulturen hinaus und erklärt, dass moderne Kulturen von einer inneren Verschiedenheit und Komplexität geprägt seien, und zwar auf der vertikalen Ebene (Klasse, politische Macht) und auf der horizontalen Ebene (Religion, Alter, Geschlecht, Ethnizität, Familienstand, Bildungsstand, Generation, politische Überzeugung und sexuelle Orientierung). Die einzelnen Kulturen und Subkulturen interagieren miteinander, was Welsch als „cultures’ 5 6 7

SOLLORS, 2002, S. 167. Vgl. BREINIG, 2006, S. 72. Vgl. BREINIG/LÖSCH, 2002, S. 20.

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external networking“ bezeichnet.8 Sie sind durch Hybridisierung charakterisiert; und Merkmale anderer Kulturen sind für jede Kultur Inhalt oder Satelliten: Für jede Kultur sind heute tendenziell alle anderen Kulturen zu Binnengehalten oder Trabanten geworden. [...] Unsere Lebensformen werden heute zunehmend transkulturell. Gleichartige Lebensformen durchziehen verschiedene Kulturen und Nationen quasi unmodifiziert. [...] Ferner dringt Transkulturalität nicht nur auf der Ebene der Kulturen und der Lebensformen, sondern bis in die Identitätsstruktur der Individuen hinein vor.9

Moderne Kulturmuster sind aus Einzelkulturen hervorgegangene Netzwerke von Transkulturen; die Netzwerke sind aus kulturellen Gemeinsamkeiten und Überlappungen generiert, aber auch aus kulturellen Unterschieden und Spezifika: Different groups or individuals which give shape to new transcultural patterns draw upon different sources for this purpose. Hence the transcultural networks will vary already in their inventory, and even more so in their structure […]. The transcultural webs are, in short, woven with different threads, and in a different manner. Therefore, on the level of transculturality, a high degree of cultural manifoldness results again […]. [N]ow the differences no longer come about through a juxtaposition of clearly delineated cultures (like in a mosaic), but result between transcultural networks, which have some things in common while differing in others, showing overlaps and distinctions at the same time.10

Welsch erklärt in einer Fußnote einen wichtigen Aspekt, nämlich dass Transkulturalität, die ein Verschwinden von traditionellen Einzelkulturen beschreibt, immer noch auf Kulturen rekurriere, an welchen sich die Elemente des transkulturellen Netzes kristallisieren. Im kontinuierlichen transkulturellen Prozess gebe es immer Ausgangskulturen, die 8 WELSCH, 1999, S. 197. 9 DERS., 1994, S. 95-97. 10 DERS., 1999, S. 203.

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transkulturelle Netze hervorbringen; diese Ausgangskulturen jedoch entwickeln sich selbst immer mehr zu transkulturellen Netzen, die dann neue Netze generieren.11 In einem neueren Beitrag reagiert Welsch auf Kritik, derzufolge die kontinuierliche transkulturelle Mischung von Kulturen ein Prozess der Homogenisierung und letztendlich Uniformisierung bedeute. Er argumentiert, dass Kulturunterschiede immer Ausgangspunkt sein würden und es immer intratranskulturelle oder subtranskulturelle Unterschiede neben den generierten Gemeinsamkeiten geben werde: „Cultural difference is the point of departure; commonalities are second-level acquisitions. […] [T]hese supposedly uniform cultures nevertheless exhibit new forms of inner diversity, that the transcultural networks which arise sometimes differ even from one individual to the next. We are thus, both conceptually and emotionally, bound to the concept of difference.“12 Indigene Kulturen in den Siedlernationen sind transkulturell, weil sie sich historisch immer an klimatische und andere externe Bedingungen angepasst, sich mit anderen Kulturen vermischt und sich somit verändert haben. Wie alle anderen zeitgenössischen Kulturen sind sie von inneren vertikalen und horizontalen Differenzen geprägt, die Subkulturen hervorbringen. Am stärksten sind sie jedoch durch Kolonisierung, Christianisierung, eurozentrische Assimilierungspolitiken und das Aufoktroyieren westlicher Moral, Philosophie, Werte, Bildung und Lebensweisen verändert worden. Sie haben Elemente europäischer Kultur (z. B. Schafe, Pferde, Waffen, Küchenutensilien) angenommen wie auch die europäischen Kolonisatoren indigene Elemente in ihre koloniale Kultur integriert haben (z. B. Gemüsesorten, Wissen um Pflanzen- und Tierwelt, medizinisches und topographisches Wissen), die oft zum Überleben notwendig waren. Als Folge ungleicher Machtverhältnisse geriet dieser Transkulturationsprozess aus der Balance und wurde zur Akkulturation.13 Von ihren vorkolonialen Landesgebieten vertrieben und teilweise auf Reservate, Missionsstationen oder in abgelegene Dörfer umgesiedelt, wurden auch die traditionellen Lebensweisen und Sozialstrukturen der indigenen Bevölkerungen verändert, sogar zerstört, 11 EBD., S. 208. 12 DERS., 2009, S. 4. 13 Vgl. BREINIG, 2006, S. 77 sowie DERS., 2007, S. 51-53.

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und der Fortbestand ihres Kulturwissens gefährdet. Die katastrophalen Resultate sind heute oft weitverbreitete Armut und Arbeitslosigkeit, hohe Schulabbrecher- und Selbstmordraten, ein schlechtes Gesundheitsniveau, dysfunktionale Familien geprägt von Gewalt und Missbrauch, Alkohol- und Drogenabhängigkeit sowie generell ein niedriges Selbstwertgefühl. Diese pathologischen Erscheinungen kommen hauptsächlich durch die Enteignungs-, Wohlfahrts- und Assimilierungspolitiken, die Erziehung von Kindern in westlichen Internatsschulen sowie unverarbeitete kollektive Kolonisierungstraumata zustande. Moderne indigene Kulturen verändern sich ständig durch Kontakte, Kollisionen und Vermischungen mit den dominanten westlichen Siedlerkulturen und deren sozialen, politischen, ökonomischen und juristischen Komponenten sowie durch Kontakte mit anderen Kulturen. Wie Helmbrecht Breinig feststellt: „The history of Native American and European interaction since the beginning of contact provides an outstanding example of transculturality as mutual interpenetration of cultures. […] Native Americans have not only retained elements of their cultural heritage but have acquired the whole of Western culture, whether by (forced or voluntary) education, intermarriage, or other sources such as the media.“14 Das Konzept der Transkulturalität mag sehr gut funktionieren, um zeitgenössische indigene Kulturen, deren Komplexität und die Dynamiken der ständigen Veränderungen zu beschreiben. Es gilt jedoch zu bedenken, dass bei der Entwicklung des Konzepts von neuen Kulturidentitäten ausgegangen wurde, die sehr mobil, kosmopolitisch, urban und polyglott sind und oft in Diasporas leben; zumindest legen dies Welschs Beispiele wie V. S. Naipaul und Salman Rushdie nahe.15 Indigene Kulturen, besonders die nordamerikanischen Natives, die Māori und die australischen Aborigines, haben sehr enge Beziehungen zu ihren traditionellen Landesgebieten, die ihnen sowohl physikalisches Überleben wie auch Sicherung ihrer spirituellen Balance bieten. Nach der kolonialen Landenteignung leben sie heute in Reservaten und Dörfern, in Städten nahe ihrer ursprünglichen Landesgebiete oder auch in entfernteren urbanen Ballungsgebieten (auch Metropolen wie New York City, Toronto, Montreal, Los Angeles und Vancouver sind ehe14 BREINIG, 2007, S. 51 und S. 56. 15 Vgl. WELSCH, 1999, S. 198.

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malige Stammesgebiete, deren Einwohnerinnen und Einwohner mittlerweile als urbane Bevölkerung gesehen werden und deren ‚Migration‘ jedoch keine weite Entfernung von traditionellen Gebieten bedeutet). Doch auch trotz der immensen Veränderungen in ihren Kulturen durch den Kontakt mit westlichen Kolonialkulturen ist die Bindung zum traditionellen Land immer noch ein wichtiger Aspekt der indigenen Identität. Indigene Kulturen sind daher meist nicht sehr mobil und nicht in globale Migrationsprozesse involviert; jedoch hat bereits Fernando Ortiz festgestellt, dass Migration (inklusive erzwungener Migration) einen Basisfaktor von Transkulturalität darstellt.16 Indigene Migrationswellen in die Städte gab es verstärkt nach dem Zweiten Weltkrieg, z. T. als Folge von direkten und indirekten Assimilierungspolitiken, die die Urbanisierung der indigenen Bevölkerungen forcierten.17 Und selbst dann zogen die ‚Migrantinnen‘ und ‚Migranten‘ meist in die größeren Städte, die relativ nah an ihren traditionellen Gebieten lagen. Oft unterstreichen sie in gerichtlichen Landrückgabeprozessen und beim Wettbewerb um finanzielle Mittel Kulturtraditionen und traditionelle Lebensformen und -gebiete. Indigene Gruppen betonen immer wieder, dass das schleichende Aussterben von indigenen Sprachen und Lebensweisen sowie von indigenem Wissen und Bewusstsein aufgehalten werden muss. Es gibt Programme, die Sprachen wieder zu fördern, kulturelles Wissen der elders wird auf Film aufgezeichnet, der Stolz auf die indigene Kulturzugehörigkeit und das Wissen um Kulturtraditionen werden von den einzelnen indigenen Gruppen extrem gefördert. Indigene Kulturen und Individuen sind oft eben nicht die polykulturellen 16 Vgl. STEIN, 2009, S. 260. 17 In den USA wurde 1952 das Urban Indian Relocation Program initiiert, mit der Folge, dass die indigene urbane Bevölkerung heute 64% beträgt (vgl. PBS, 2013). Kanadas Regierung verfolgte keine offizielle Urbanisierungspolitik; in den letzten 25 Jahren gab es jedoch eine stetige Migration in die Großstädte, so dass mittlerweile etwa die Hälfte der indigenen Bevölkerung urbanisiert ist (ABORIGINAL AFFAIRS AND NORTHERN DEVELOPMENT CANADA, 2013). In Australien und Neuseeland begann die urban drift mit und vor allem unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, als indigene Australier und Māori in den Städten als Arbeitskräfte gebraucht wurden, so dass heute 31% indigene Australier in Großstädten und 84% Māori in urbanen Gebieten leben (vgl. AUSTRALASIAN INSTITUTE OF JUDICIAL ADMINISTRATION, 2013; AUSTRALIAN BUREAU OF STATISTICS, 2013; TE ARA, 2013).

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Nomaden, von denen Welsch spricht.18 Deshalb ist es bedenklich, das Konzept der Transkulturalität, das auf der Auflösung von Kulturunterschieden und -grenzen basiert, generell auf zeitgenössische indigene Kulturen anzuwenden. Zwar sagt Welsch selbst, dass alle Kulturen durch eine interne Differenzierung gekennzeichnet sind, und vor allem, dass Transkulturalität Tendenzen zu Spezifikation und Eigenheiten zulässt; allerdings geht er auf diese wichtige Aussage nicht weiter ein.19 Und wenn wir Äußerungen zur Transkulturalität betrachten, denen zufolge alle Kulturen seit jeher universelle Determinanten hatten und kulturelle Durchdringungsprozesse stattfanden20 oder in der Ära der Globalisierung alle Kulturen transkulturell sind,21 dann können auch alle indigenen Kulturen als transkulturell gelten. Jedoch ist dieses offene Verständnis des Konzepts nicht tauglich, wenn wir indigene Kulturen in der globalisierten Welt im Vergleich zu anderen postkolonialen Kulturen betrachten. Allein schon dieser Umstand zeigt, dass es noch immer starke Unterschiede zwischen Kulturen in Bezug auf cultural make-up, Lebensmuster und (neo-)koloniale Geschichte und Politik gibt. Daher ist es hilfreich, das Konzept der Transdifferenz, welches 2002 von Helmbrecht Breinig und Klaus Lösch vorgestellt wurde, in die Diskussion einzubringen. Transkulturalität und Transdifferenz sind nicht eindeutig vergleichbar, da sie auf zwei unterschiedlichen Beschreibungsebenen liegen. Während Transkulturalität einen kulturellen Prozess der Mischung und Vernetzung untersucht, benennt Transdifferenz ein allgemeineres, nicht nur kulturelles, sondern auch individualpsychologisches und, im weiteren Sinn, philosophisches (epistemologisches und hermeneutisches) Phänomen, das in vielen Bereichen beobachtbar ist:22 Transdifferente Situationen werden geschaffen durch „die KoPräsenz mehrerer kultureller Affiliations- und Differenzpositionen auf der Individual- wie auf der Kollektivebene“.23 Ebenso wie Verfechter der Transkulturalität sehen Breinig und Lösch das Modell von homoge18 19 20 21 22

Vgl. WELSCH, 1999, S. 202. Vgl. EBD., S. 205. Vgl. SCHULZE-ENGLER, 2009, S. xii. Vgl. MIRZOEFF, zit. n. STEIN, 2009, S. 256. Persönliche Mitteilung von Helmbrecht Breinig an die Autorin dieses Beitrags vom 18.10.2013. 23 BREINIG, 2006, S. 70.

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nen, separierbaren und authentischen Kulturen als überholt und definieren neue Muster der Identitätskonstruktion, die kulturelle Grenzen durchbrechen. Ausgangspunkt dieses Konzepts ist jedoch nicht Transkulturalität und etwa eine Abgrenzung davon; sondern vielmehr das Denken in binären Differenzmodellen, deren Unzulänglichkeiten und Widersprüche erkannt werden müssen, ohne dass diese im Sinne einer Auflösung kultureller Differenzen und kompletter Vermischung von Kulturen überwunden und gelöst werden können. Transdifferenz bezieht sich somit auf Phänomene der gleichzeitigen Präsenz von Differenzen und gegensätzlichen Eigenschaften, von Verbindungen und Elementen, eine Präsenz, die dissonant, spannungsreich und unauflösbar scheint.24 Transdifferenz ist keine Ablösung, sondern eine gleichzeitig wahrgenommene und erfahrene Ergänzung solcher Differenzen und Gegensätze.25 Dieses Konzept sieht kulturelle Differenzen als wichtig für kulturelle Identitätsbildung an, da so die Validität der ursprünglichen Kulturen nicht dekonstruiert wird. Auch diese Ausgangskulturen werden als komplexe, dynamische und offene Kultursysteme verstanden, die intrakulturelle vertikale und horizontale Verschiedenheiten einschließen. Entgegen der in der Transkulturationsdefinition erklärten Reduktion und Elimination von Fremdheit bleibt eine Eigen-fremdDifferenz im Transdifferenzkonzept manifest.26 Transdifferenz „implies a shift of emphasis away from notions of a melange in the direction of a simultaneity of – often conflicting – positions, loyalties, affiliations and participations“.27 Breinig und Lösch schreiben weiter: Transdifference, as we define it, denotes all that which resists or escapes the construction of meaning based on an exclusionary and conclusionary binary model. It does not do away with the original binary logic inscription of difference, but rather causes it to oscillate or suspends it whether for an epiphanic moment or for the duration of a life lived between the affiliational demands of, say, two ethnicities. Thus, the concept of transdifference interrogates the validity of binary constructions of difference without deconstructing them. This means that

24 25 26 27

Vgl. BREINIG/LÖSCH, 2006, S. 105. Vgl. EBD., S. 108. Vgl. BREINIG, 2006, S. 70 und S. 78. BREINIG/LÖSCH, 2002, S. 21.

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Kerstin Knopf difference is simultaneously bracketed and retained as a point of reference.28

Während Transkulturalität den allmählichen Übergang von Ausgangskulturen in transkulturelle Netze beschreibt, betrachtet Transdifferenz ein Weiterbestehen der Ursprungskulturen oder einiger ihrer Elemente als Bezugsbasis als legitim und notwendig. Nach Breinig und Lösch sind Kulturen Bedeutungssysteme mit Palimpsestcharakter, die sich ständig neu reproduzieren. Kulturelle Elemente, die in diesem Prozess ausgeschlossen werden, können jedoch nie ausgelöscht werden, sondern werden bestenfalls durch neu gewählte Elemente überschrieben. So unterdrückte Elemente sind dennoch in Spuren präsent und können wiederhergestellt werden: The reproduction of systems of meaning [is] a palimpsestic process: in the cycles of reproduction the excluded has to be re-inscribed and overwritten again and again in order to ban its destabilising threat. […] To a degree, systems of meaning or cultures do not only carry suppressed seeds of transdifference with them but permanently reproduce moments of transdifference.29

Transdifferenz erachtet kulturelle Differenzen und Unterschiede zwischen self und others bei der Interaktion von Gruppen und Artikulation von (sub-)kulturellen Bedeutungssystemen als notwendig: In the context of cultural, ethnic, and territorial identity construction, transdifference refers to a wide range of phenomena arising from the multiple overlappings and mutual intersections of boundaries between cultures and collective identities, no matter whether these are conceptualised in essentialist or constructivist terms. […] As to the level of individual identity construction, transdifference denotes the mutual overlapping of contradictory aspects of belonging that arise from simultaneously being (or aspiring to be) a member of different groups, that is 28 DIES., 2006, S. 108f. Breinig und Lösch haben 2006 eine überarbeitete Fassung ihres Grundsatzartikels zu Transdifferenz publiziert, in dem auch die Beziehungen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu anderen Kulturkonzepten, vornehmlich Bhabhas „Hybridität“, diskutiert werden. 29 EBD., S. 110.

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Indigenes Kino from situations in which the individual is subject to at least two semantics of inclusion/exclusion. Multiple cultural affiliations, mutually exclusive ascriptions of membership, incompatible loyalty claims by those groups and the individual’s participation in different formations of social interaction employing different semantic registers produce moments of transdifference.30

Widersprüchliche identitätsstiftende Elemente, Spannungen, Differenzen und Ein- und Ausschlussmechanismen produzieren transdifferente Situationen, die nicht zwingend überwunden und gelöst werden können, und die einerseits einschränkend oder gar pathogen oder andererseits förderlich und emanzipierend wirken können.31 Welsch sagt selbst, dass auch transkulturelle Netzwerke von Differenz geprägt sind.32 Die Idee von Differenzen als Ausgangspunkte für Transkulturalität und von ständig neu entstehenden intratranskulturellen Differenzen verbinden doch beide Kulturkonzepte mehr als es oberflächlich scheint. Wie Breinig erklärt, ist das Konzept von Transkulturalität immer zutreffend, wenn wir damit allgemein eine Durchdringung von Kultursystemen benennen. Insofern, so Breinig, schließen sich beide Konzepte nicht wechselseitig aus, sondern ergänzen sich.33 Konkret argumentieren Breinig und Lösch in ihrem Einführungsaufsatz zu Transdifferenz, dass es in Nordamerika Kultursysteme gebe (auch solche, die zwangsumgesiedelt wurden), die ursprüngliche kulturelle Elemente beibehalten haben – wenn auch in modernisierter Form – und auf diese in der Identitätskonstruktion (ein Prozess, der für jedes Individuum in einer [Sub-]Kultur andersartig verlaufen mag) Bezug nehmen: Even if we accept that all cultures are (1) being produced and reproduced through interaction and exchange with other cultures and are (2) subject to internal differentiation and power struggles, it would be shortsighted to ignore the fact that subcultures (such as youth, gay and lesbian cultures) share the cultural register of the dominant culture to a

30 31 32 33

EBD., S. 112 und S. 116. Vgl. EBD., S. 118. Vgl. WELSCH, 2009, S. 4. Vgl. BREINIG, 2006, S. 72 sowie DERS., 2007, S. 47.

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Kerstin Knopf considerably larger extent than colonized indigenous or „transplanted“ cultures (such as Native American and African American cultures), which have been able to retain or to reconstruct at least some elements of their „autochthonous“ cultural register against all pressures to assimilate.34

Weiterhin untersucht Breinig in seinem Artikel „Transculturality and Transdifference“ nach einem Vergleich beider Konzepte35 die Anwendbarkeit von Transkulturalität auf die indigenen Kultursysteme Nordamerikas und stellt – leider unkommentiert – kritisch Welschs Aussage vorab, dass indigene Kulturartikulation simulierenden und ästhetischen Charakter habe: „Authenticity has become folklore, it is ownness simulated for others – to whom the indigene himself or herself belongs. To be sure, there is still a regional-culture rhetoric, but it is largely simulatory and aesthetic; in substance everything is transculturally determined.“36 Dass eine Artikulation von und ein Verlangen nach Authentizität nach unserem Verständnis von sich wandelnden Kulturen nicht zutrifft, ist längst klar. Welschs Aussage ist auch insofern problematisch, als sie in Bezug auf Authentizität und Indigenität schwammig bleibt und z. B. „indigene“ nicht definiert. Wenn er damit eine ‚reine‘ vorkoloniale indigene Kultur bezeichnet, ist seine Aussage durchaus berechtigt. Jegliche nachahmende Performanz ist reine Simulation, gegebenenfalls mit ästhetischem Charakter. Vielleicht hat er hier powwows, sun dances, Reinigungs- und Heilungsrituale im Blick, die jedoch auch schon längst modernisiert sind. Da jedoch auch indigene Kulturen als offene, sich stets verändernde Systeme mit intrakulturellen Unterschieden anzusehen sind, ist die Aussage, gerade sie würden nach Authentizität streben, was sich bestenfalls in Simulationen äußere, etwas vermessen. Wenn der Begriff „indigene“ hingegen allgemein regionale und lokale Kultursysteme bezeichnet, die mehr regionale oder lokale als globale und synthesierende Elemente aufweisen, dann ist die Aussage ebenfalls problematisch. Wenn schließlich mit „indigene“ ein Konstrukt, eine Fiktion in eurozentrischen und auch indigenen Diskur34 BREINIG/LÖSCH, 2002, S. 29. 35 Vgl. Frank Schulze-Englers kritischen Artikel zum Vergleich beider Konzepte (SCHULZE-ENGLER, 2006). 36 WELSCH, 1999, S. 198.

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sen bezeichnet wird, wie schon N. Scott Momaday, Robert Berkhofer, Hartmut Lutz und Daniel Francis aufgezeigt haben,37 ist die Behauptung richtig, jedoch wenig aussagekräftig. Auch Gerald Vizenor entlarvt die heutige postmoderne indigene Identität als Simulation, bettet diese jedoch in den Kontext von neokolonialen Herrschaftsverhältnissen ein und stellt sie als eurozentrisches Konstrukt dar, als Simulation von Indigenität unter Bedingungen der neokolonialen Dominanz und entsprechenden Praktiken in den Siedlergesellschaften, der „manifest manners“: The postindian first person pronoun is a salutation to at least nine simulations of tribal identities in the literature of dominance. The simulations are the practices, conditions, characteristics, and the manifold nature of tribal experiences. […] Native American Indian imagination and the pleasures of language games are disheartened in the manifest manners of documentation and the imposition of cultural representation; tribal testimonies are unheard, and tricksters […] are marooned as obscure moral simulations in translations.38

„Postindian warriors“, so Vizenor, müssen diese „manifest manners“ und indianischen Simulationen dekonstruieren sowie die Verbindung zur empirischen indigenen Präsenz wiederherstellen. Laut Breinig produzieren verschiedenartige, auch gegensätzliche kulturelle Einflüsse (z. B. europäische, intertribale, afrikanische, karibische), unterschiedliche Ein- und Ausschlussmechanismen, verschiedene koloniale und neokoloniale politische Maßnahmen und Geschichtsentwürfe sowie verschiedene kollektive und individuelle Reaktionen auf Einflüsse und Politik eher transdifferente Palimpseste in indigenen Identitäten als transkulturelle Auflösung von kulturellen Grenzen: The phenomenon of concurrent but conflicting affiliations, the simultaneous applicability and nonapplicability of identity components points less in the direction of a transcultural disappearance of borders than in that of transdifference. Transdifference […] does not only apply to a synchronic copresence of discordant affiliations but also to the dia37 Vgl. MOMADAY, 1975; BERKHOFER, 1978; LUTZ, 1985; FRANCIS, 1992. 38 VIZENOR, 1994, S. 59 und S. 76.

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Kerstin Knopf chronic process of identity formation in which one situation of transdifference […] is succeeded and, as it were, overwritten by the next, in a long palimpsestic chain.39

Mit dem oben beschriebenen Verständnis von Kulturen als Palimpseste, in denen das ursprüngliche und nichtgewählte oder verworfene Element niemals gelöscht, sondern ‚nur‘ überschrieben wird, erklärt Breinig das indigene Nordamerika als Palimpsest, „that is not completely transculturated but represents transdifference as an often painful but also often creative condition. […] Native Americans experience not only transculturation but a constant reproduction of transdifference“.40

T r a n s k u ltu r a litä t u n d T r a n s d if f e r e n z im in d ig e n e n K in o Im Folgenden möchte ich zeigen, wie transkulturelle und transdifferente Prozesse und Situationen in indigenen Filmen in Neuseeland und Australien in Erscheinung treten. Wenn indigene Regisseure westliche Filmtechnologie nutzen und Filme drehen, die historische oder zeitgenössische indigene Kultur repräsentieren, dann stellt das bereits einen beginnenden transkulturellen Prozess dar: Zum einen wird eine historisch westliche Ausdrucksform von indigenen (vielleicht transkulturellen) Personen genutzt und mit indigenen (vielleicht transkulturellen oder transdifferenten) Inhalten und mit der Art des indigenen Erzählens verknüpft, zum anderen werden gleichzeitig westliche Filmkonventionen angewandt und durch individuelle indigene Filmstile und -techniken modifiziert.

L e e T a m a h o r i, O n c e W e r e W a r r i o r s ( 1 9 9 4 ) Once Were Warriors des Māori-Regisseurs Lee Tamahori ist ein schockierender Film, der gründlich mit romantischen Klischees über 39 BREINIG, 2007, S. 50. 40 EBD., S. 57f.

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Neuseeland und die Māori aufräumt. Unerbittlich zeigt er die Realität einer Māori-Familie, die sich im Armenghetto am Rande des suburbanen Auckland durchs Leben kämpft. Schonungslos werden Probleme der indigenen Bevölkerung als Folgen der Kolonisierung und des entmündigenden Umgangs der eurozentrischen Gesellschaft gegenüber den Māori thematisiert: extreme Armut, Arbeitslosigkeit, Alkohol- und Drogenmissbrauch, dysfunktionale Familien und erschütternde häusliche Gewalt. Beth und Jake lieben sich, aber durch exzessive Partys und Jakes Brutalität zerstören sie sich gegenseitig und ihre Familie. So wird der älteste Sohn Nig Mitglied einer Gang und Mark (Boogie) ist ein Kleinkrimineller. Nur die 13-jährige Tochter Grace verkörpert Beths Hoffnung auf ein besseres Leben, den Ausbruch aus dem Teufelskreis von Armut, Gewalt und Kriminalität. Sie schreibt Geschichten und kümmert sich um die anderen Kinder. Jake kündigt seinen Job, weil er nur geringfügig weniger Arbeitslosenunterstützung als Lohn bekommt. Er verbringt seine Zeit mit seinen mates in der Bar, trinkt und prügelt sich gelegentlich. Nach einer wilden Party in ihrem Haus schlägt Jake Beth brutal zusammen, und sie ist so entstellt, dass sie am nächsten Tag nicht zu Boogies Gerichtstermin erscheinen kann. Dieser wird daraufhin in einem Heim für schwererziehbare Jungen untergebracht, wo er von einem traditionsbewussten Māori-Sozialarbeiter kulturelle Rituale erlernt. Als während der nächsten Party ein Freund von Jake Grace vergewaltigt, sie sich von den Eltern verstoßen fühlt und sich erhängt, wacht Beth endlich auf, hört auf zu trinken, trennt sich von Jake und geht mit ihren restlichen Kindern zurück auf ihr traditionelles Land, wo Grace beerdigt wird. Der Film beginnt mit einer Totalen einer idyllischen neuseeländischen Landschaft, eine visuelle Allegorie für indigenes Land, das nach und nach von den britischen Besatzern enteignet wurde. Erst wenn die Kamera herauszoomt, werden die Zuschauerinnen und Zuschauer gewahr, dass es sich nur um ein Plakat handelt, das für neuseeländischen Tourismus wirbt und inmitten des lauten, rauen, verarmten und scheinbar hoffnungslosen – eben nicht pastoralen – urbanen Ghettos steht, in dem ein Großteil der landberaubten Māori heute am Rande der Gesellschaft lebt. Dies ist die transkulturelle Realität für viele Māori, die es nicht geschafft haben, angepasster Teil der eurozentrischen Gesellschaft zu werden und die von ihr immer noch als minderwertige und zweit-

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klassige Kultur angesehen werden. Am Anfang zeigt der Film weitere transkulturelle Praktiken und Orte: eine Māori-Hip-Hop-Band, die Māori und afroamerikanische Musiktraditionen verschmilzt, und ein Fitnessstudio im Freien, eine Form dieses Sports, die sich von Kalifornien aus global verbreitet hat. Gleichzeitig sind extremes Muskeltraining und das Bild vom muskulösen, vielleicht sogar hypermaskulinen Mann auch westliche Männlichkeitspraktiken und -konstrukte, die transkulturell geprägt sind. Diese haben längst das Image des traditionellen Kriegers abgelöst, das jedoch teilweise von der Gesellschaft und den Māori selbst auf Māori-Männer projiziert wird und zu einem neokolonialen Stereotyp mutiert. Michaela Moura-Koçoğlu schreibt dazu: Contemporary stereotypes about Māori men frequently reduce their image to an instance of physicality, prowess, and often brutality, manifesting the Māori warrior as a cliché which is a perpetuation of colonial ‚Othering‘ discourses, […] de-contextualizing warriordom by means of reducing the concept to an image of ‚uncivilized‘ savagery and cannibalism.41

„Jake the Muss“ (sein Spitzname) lebt dieses stereotype Kriegerimage in einer pervertierten Form: Sein Alkoholkonsum, seine großspurigen Sprüche, Drohgebärden und die brutale Gewalt im Pub und Zuhause lassen ihn wie einen lächerlichen anachronistischen Abklatsch eines Māori-Kriegers erscheinen. Dass er auf dem Fleischmarkt arbeitet und am Tage seiner Entlassung ein großes Stück rohes Fleisch nach Hause bringt, womit er sich Beths Gunst zu erkaufen sucht, ist weiterhin dem Stereotyp des unzivilisierten Kannibalen zuträglich – ein koloniales Konstrukt selbst, das der Film jedoch nicht unterminiert, sondern dazu einsetzt, um Jakes irregeleitete Nachahmung des Kriegers vorzuführen. Gleichzeitig illustriert der Film, wie neokoloniale Machtverhältnisse und kulturelle Hierarchien in unserer globalisierten und, wie Welsch sagt, transkulturellen Gesellschaft schwächere (Sub-)Kulturen verändert und verletzt haben. Im Gegensatz zu Beth lernt Jake nicht aus den Schicksalsschlägen der Familie; als er herausfindet, warum Grace sich erhängt hat, schlägt er seinen Freund halbtot. Die erneute exzessive Repräsentation von Gewalt hinterlässt ein beklemmendes Gefühl beim 41 MOURA-KOÇOĞLU, 2012, S. 370.

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Publikum, bestenfalls Mitleid für Jake – es gibt keine gerechtfertigte Gewalt, so die Aussage des Films. Auch die Gang, die TOAs,42 verkörpert eine verzerrte Version von Māori-Kriegstraditionen, die ebenso wie Jakes Nachahmung als transdifferentes Palimpsest anzusehen ist, da ursprüngliche Māori-Traditionen mit diesem pervertierten Konzept des Māori-Kriegers überschrieben werden und gleichzeitig als Bezugspunkt dienen; und da die Differenz zu Verhaltensmustern in der angepassten, geordneten, dominanten Gesellschaft ein weiteres Schlüsselelement ist. Die Differenz zum traditionellen Kriegerkonzept generiert eine versteckte, vielleicht nicht verhandelbare Spannung im heutigen mutierten Kriegerkonzept, die ständig Transdifferenz in Breinig und Löschs Sinn produziert. Die Gang dient zwar als Ersatzfamilie, ist jedoch auch eine pervertierte Form der whānau (‚erweiterten Familie‘).43 Nig wird beim Initiationsritual brutal von den Gangmitgliedern zusammengeschlagen; der Zusammenhalt beruht wohl eher auch auf Einschüchterung und Furcht, und die Lebensgrundlage der Gruppe generiert sich aus Kriminalität.44 Auch ihre Tätowierungen, Nachahmungen von traditionellen moko, sollen sie mit einer vorkolonialen starken Kriegernation identifizieren und somit abschreckend und einschüchternd wirken, aber auch vermeintliche Achtung vor Tradition demonstrieren. Dass modernes Tätowieren kein bedeutungsreiches Ritual mehr ist und meist abgewandelte traditionelle Motive verwendet werden, die oft einem westlichen anthropologischen Diskurs entstammen, definiert auch das Tätowieren als transdifferentes Palimpsest, bei dem ursprüngliche mit transformierten Elementen überschrieben werden. Wie bei ihren Vorfahren sollen die Motive Schutz bieten.45 In Alan Duffs gleichnamigem Roman, auf welchem das Drehbuch von Once Were Warriors basiert, ist das von 42 Der polynesische Begriff ‚Toa‘ bedeutet ‚Krieger‘, ‚virile‘ und ‚stud‘ (vgl. RIEMENSCHNEIDER, 2007, S. 142) sowie ‚mutig‘ (vgl. TREAGUS, 2008, S. 189). 43 Vgl. MOURA-KOÇOĞLU, 2012, S. 377. 44 Gangs sind transkulturelle Erscheinungsformen, die auf erste englische Highway-robber- und Straßengangs im 17. Jahrhundert und auf Straßengangs in Nordamerika zurückgehen. Insbesondere im Osten der USA waren ab Anfang des 19. Jahrhunderts Gangs verschiedener Ethnizitäten aktiv, hauptsächlich europäische Immigranten, Afroamerikaner und später Lateinamerikaner (vgl. HOWELL/MOORE, 2010, S. 1f.). 45 Vgl. TREAGUS, 2008, S. 185f.

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Nig gewählte moko das eines Krieger-moko von einer Photographie aus der Kolonialzeit.46 Mandy Treagus erklärt: One of the ways in which the Māori tattoo functioned in former times was a form of living signature […] but, by contrast, Duff’s Nig and his moko cannot be read as a description of life achievements, rank and responsibilities along with family and community links. In fact, it is a copy of another man’s identity, of which he is unworthy. The film steps around this problem of copied moko by utilizing „original“ moko patterns for gang members, designed by Inia Taylor so as to remove affiliations with specific iwi or hapu.47

Zwar ist somit das Problem der medialen Verbreitung von geschützten Tätowierungsmotiven gelöst, doch die inhärente transdifferente Spannung zwischen ursprünglichem Element und transformierter Funktionalisierung bleibt bestehen. Auf der anderen Seite betont der Māori mokoKünstler Gordon Hatfield, dass solche Gangs wichtig für die Aufrechterhaltung der moko-Tradition waren, insbesondere die der Gesichtsmoko, zu einer Zeit als zweifellos durch Assimilierungsdruck wenige Māori moko trugen.48 Ihre mediale Repräsentation durch Tamahori hat sicherlich eine Renaissance der moko initiiert, ist jedoch gleichzeitig eine exotisierende und romantisierende Geste. Auch Grace agiert in transdifferenten Situationen, wenn sie im urbanen Kontext ihren Geschwistern eine Geschichte vorliest, die sie nach traditionellen Mustern selbst geschrieben hat – eine Vermischung von traditionellem und modernem Kulturwissen und Erzählen, von oraler Tradition und traditionellem Lernen und zeitgenössischer Kinderbetreuung. Auch der haka (ein ritueller [Kriegs-]Tanz) als Signifikant der Māori-Kriegerkultur und das taiaha-Ritual (mit einem langen Schlagholz), die Boogie erlernt, das Begrüßungsritual durch Berührung von Stirn und Nase (hongi) und die Trauerfeier für Grace (tangi) im marae (einer Zeremonialstätte)49 sind Māori-Praktiken, die in zeitgenössischen Kontexten stattfinden, aber nicht mit der Auflösung von 46 47 48 49

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Vgl. EBD., S. 188. EBD. Vgl. EBD. Vgl. RIEMENSCHNEIDER, 2007, S. 142 und TREAGUS, 2008, S. 189.

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Māori-Kultur einhergehen, sondern auf der Validität und Wiederbelebung einer veränderten Māori-Kultur bestehen und gleichzeitig jedwede Essentialisierung vermeiden.

T a ik a W a ititi, B o y ( 2 0 1 0 ) Boy von Taika Waititi (Te Whānau-ā-Apanui) ist eine Komödie und Kindergeschichte, die in den 1980er Jahren spielt. Durch Boys kindliche Perspektive auf die Welt der Erwachsenen werden Probleme wie Armut, Kriminalität, Vernachlässigung von Kindern, Marihuanakultur, Tod und Gangs zwar angeschnitten, bleiben jedoch in sicherer Distanz zum Publikum und wirken nicht so ernst und niederschmetternd wie in Once Were Warriors. Die kindliche Perspektive gibt dem Regisseur Waititi auch die Möglichkeit, solche Themen eher humorvoll und selbstironisch zu bearbeiten, oder sie sogar zu parodieren. Boy und sein Bruder Rocky leben nach dem Tod von Boys Mutter bei der Großmutter, zusammen mit einigen Cousins und Cousinen, die ihr wahrscheinlich ebenfalls zur Pflege überlassen wurden. Zu Beginn des Films fährt die Großmutter für eine Woche zu einer Beerdigung nach Wellington, und Boy kümmert sich als Ältester um seine ‚Geschwister‘. Er hat eine blühende Phantasie und stellt sich seinen Vater als Helden vor, der kommen und ihn aus dem abgelegenen Māori-Dorf Waihau Bay abholen wird. Sein Vater Alamein erscheint tatsächlich mit seinen Kumpanen, ist aber aus dem Gefängnis entlassen worden und sucht nach einem Packen Geld, den er auf der Flucht in der Nähe des Hauses vergraben hat. Da die jungen Männer selbst kein Einkommen haben, wohnen sie vorübergehend in der Garage. Boy muss nach einer Weile feststellen, dass sein Vater doch keine Vorbildfigur und eher ein Verlierer ist, der nicht einmal um seine verstorbene Frau trauern kann. Er blamiert sich, als er Boys ‚Schulfeinde‘ einschüchtern will, lässt sich von seiner Mutter am Telefon beschimpfen, wenn er sie um Geld bittet, und der ‚große Schatz‘ stellt sich als lediglich 880 Dollar heraus. Der Vater ist eigentlich selbst ein Kind, das ständig von dem Film E. T. erzählt, Krieg spielt und sich vorstellt, es sei ein japanischer Krieger (vgl. Abb. 1).

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Abbildung 1: Rocky, Boy und Alamein spielen Krieg am Strand Seine Gang ist ein Jammerhaufen, der von einer anderen Gang zusammengeschlagen wird und letztendlich nur nutzlos herumsitzt und Marihuana raucht, welches Boy besorgt. Boy tut alles, um seinem Vater zu gefallen; er imitiert dessen gespielte Coolness und vernachlässigt dabei seine Geschwister und Freunde. Als das Geld von Boys Ziege gefressen wird und seine Gangmitglieder ihn mit dem gerade gestohlenen Marihuana verlassen, ist Alamein äußerst niedergeschlagen und verlässt den dann ebenso am Boden zerstörten Boy, der sich wieder Familienpflichten und Freunden zuwendet. Am Ende trifft Boy seinen Vater und Rocky am Grab seiner Mutter, wo sie gemeinsam trauern. Dieser Film entwirft eine transkulturelle Identität, wenn etwa Boy sich seinen Vater als Mischung aus verschiedenen Helden vorstellt, die aus dem Māori- und aus anderen Kulturkreisen kommen: als Meisterschnitzer, als Tiefseetaucher, als großen Kriegshelden, als Rugbystar, als Michael Jacksons Bruder und als Samurai. Der Film zeigt und parodiert diesen transkulturellen Aktanten in all seinen ‚Rollen‘, entweder in kurzen Szenen mit Boys voiceover oder in Zeitlupen-Szenen, in denen Alamein bei profanen Handlungen in Boys Vorstellung zum Samurai wird, wie etwa wenn er mit einer Machete die Marihuanapflanzen abschneidet, oder wenn sich seine Gang mit einer anderen schlägt – eine Szene, die stark an die 40-minütige Kampfszene in Quen-

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tin Tarantinos Kill Bill I (2003) erinnert. Seine Gang sind die Crazy Horses (benannt nach dem nordamerikanischen indigenen Krieger); ihre Helden sind die Samurais, und Alamein lässt sich als Shogun betiteln. Die Gang ist somit eine transkulturelle Mischung aus britischen, amerikanischen, indigenen, japanischen und Māori-Elementen. Die Repräsentation der Gang wirkt wie ein direkter Bezug zu Once Were Warriors: einerseits als Hommage an den Film, andererseits als Parodie auf dessen moderne Mythisierung von zeitgenössischen Gangs und deren mutierte Nachahmung einer Māori-Kriegerkultur. Nicht nur bestehen die Crazy Horses aus drei Nichtsnutzen, die sich für ihren Lebensunterhalt auf Boy und die Großmutter verlassen, sondern sie sind, ohne jegliche kriegerische Fähigkeiten, auch der Gegenentwurf eines Kriegers. Alamein tätowiert ein Mitglied selbst mit einer Nadel und Tinte (so wie er es im Gefängnis gelernt hat); aber nicht etwa mit einem pseudotraditionellen Motiv, sondern mit einem Pferdekopf, der symbolisch für den Gangnamen steht. Als Boy auch ein Tattoo möchte, bekommt er eine ‚Kindervariante‘ mit einem Filzstift. Somit wird die in Once Were Warriors etablierte Gangkultur und, im weiteren Sinne, die mythisierte Māori-Kriegerkultur humorvoll dekonstruiert. Weiterhin konstruiert der Film eine zeitgenössische Populärkultur der Māori, die ebenfalls aus Texten und Medienprodukten verschiedener Kulturkreise besteht, z. B. aus amerikanischen Fernsehserien wie dem A-Team und Hulk, dem Film E. T. und dem britischen Roman Shogun, über die die Charaktere sprechen. Aufmerksame Zuschauerinnen und Zuschauer entdecken parodierende Filmzitate aus Francis Ford Coppolas Bram Stoker’s Dracula und eben Tarantinos Kill Bill I, die den Film selbst in einer transnationalen und transkulturellen Intermedialität verorten. In diesem Sinn sind auch die wundervollen Zeichentricksequenzen und animierten Collagen zu analysieren, die Rockys Phantasie, magische Kräfte zu besitzen, sowie Boys Vorstellung von seinem Leben in der Stadt mit seinem Vater, großem Haus, Delphinen und Cocktails illustrieren. Am Schluss fügt Waititi eine Tanzszene mit allen Charakteren in einem Studio ein; den Hintergrund bilden MāoriSchnitzereien aus Pappmaché; diese verschmelzen mit dem populären Māori-Song, der Kleidung aus den 1980er Jahren, dem Tanzstil von Michael Jackson und Elementen des haka zu einem transkulturellen Mix jenseits jedweden essentialistischen Māori-Bildes.

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Dennoch zeigt der Film auch transdifferente Palimpseste: Als Vietnamkriegsheld vollführt Alamein einen haka, der seine Feinde einschüchtert; dieses Māori-Element wird zwar anachronistisch, doch in seiner ursprünglichen Funktion verwendet. Er, Alamein, und seine Brüder Faenza, Tunisia und Libya sind nach Schauplätzen des Zweiten Weltkrieges benannt, an denen das berühmte 28. Māori-Bataillon kämpfte.50 Zweifellos honoriert und parodiert der Film das so transformierte Bild des Māori-Kriegers (Alamein ist eher ein Schwächling, der wie ein Kind am Strand Krieg spielt). Mit der Figur des Alamein verarbeitet der Film dieses Bild nicht nur selbstironisch, sondern belächelt auch das pervertierte Rollenkonstrukt, nach dem Jake lebt. Auf der anderen Seite ist der haka längst eine Simulation in Vizenors Sinn geworden, ein traditionelles Ritual, dass von der neuseeländischen Armee, dem nationalen Rugbyteam und von der Tourismusindustrie vereinnahmt, reduziert und institutionalisiert wurde.51 Wie auch Once Were Warriors zeigt Boy den haka ausschließlich von Māori ausgeführt und wehrt sich so diskursiv gegen die einseitige Aneignung durch die Pakeha- (d. h. die weiße) Kultur. Boys Handeln ist nicht nur transkulturell, sondern findet auch in transdifferenten Situationen statt, die er, wie Grace, in kreativer und emanzipierender Weise in Breinigs Sinn nutzt – etwa wenn er in fließendem Māori das Abendmahlgebet spricht, MāoriWörter in englische Sätze einbaut und wenn er wie selbstverständlich seine und die Hände seines Bruders mit Wasser reinigt, als sie den Friedhof verlassen (eine traditionelle Geste). Der Film zeigt transkulturelle und transdifferente Phänomene in der modernen Māori-Kultur; durch seine selbstironische und kindlich entfremdete Verarbeitung von ernsten sozialen sowie historischen und kulturpolitischen Themen ist er eine erfrischende Ergänzung zu Once Were Warriors und dessen kulturtheoretischer Arbeit.

50 Freiwillige Māori kämpften in beiden Weltkriegen und in späteren Kriegen, um mana (Ansehen und Autorität), Stolz auf die eigene Kultur und Geschichte sowie ein positives Selbstbild der Māori wiederherzustellen (vgl. MOURA-KOÇOĞLU, 2012, S. 372f.). 51 EBD., S. 378f.

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W a r w ic k T h o r n to n , S a m s o n & D e lilah ( 2 0 0 9 ) Zwei herausragende australische indigene Filme sind Samson & Delilah von Warwick Thornton (Katej) und Stone Bros. von Richard Frankland (Gunditjamara). Samson & Delilah (vgl. Abb. 2) gewann 2009 die Goldene Kamera in Cannes und zahlreiche weitere internationale Filmpreise. Der Film ist emotional sehr anspruchsvoll, da er die raue Wirklichkeit von indigenen Jugendlichen in abgelegenen Kommunen darstellt, gleichzeitig aber auch ihre Menschlichkeit und Stärken. Im kleinen, halb verfallenen Dorf scheint das Leben stillzustehen, es gibt nichts zu tun, zu sagen oder zu erreichen. Samsons Leben begrenzt sich darauf, Musik zu hören, Benzin zu schnüffeln, die Zeit totzuschlagen und den Groll seines Bruders und dessen Musikband auf sich zu ziehen. Delilah kümmert sich um ihre alte Nana (Großmutter), hilft ihr dabei, Leinwände mit indigenen Mustern zu bemalen, die dann zu enormen Preisen von weißen Galeristen in den Städten verkauft werden. Eine vorsichtige Liebe entwickelt sich zwischen den beiden, die während des gesamten Films nicht miteinander sprechen – ein weiterer Umstand, der den Film so besonders macht. Als Nana stirbt, stehlen beide das Dorfauto und fahren nach Alice Springs, um aus der öden Einsamkeit auszubrechen. Sie wohnen unter einer Autobahnbrücke, stehlen Lebensmittel und Delilah versucht Geld zu verdienen, indem sie wie Nana Leinwände mit traditionellen Motiven bemalt. Doch ihre Versuche, ein Bild zu verkaufen, scheitern kläglich. Sie wird von weißen jungen Männern entführt und vergewaltigt; auch sie verfällt dann dem Benzinschnüffeln und wird, völlig betäubt, von einem Auto überfahren. Samson, der ebenfalls vom Benzin betäubt gar nicht bemerkt, was passiert, glaubt, Delilah sei verschwunden und tot. Als sie aus dem Krankenhaus zurückkommt, bringt sie den nun völlig verwahrlosten und kranken Samson in die alte outstation auf ihrem traditionellen Land, wo sie ihn von seiner Benzinsucht heilen wird. Wie die beiden zuvor besprochenen Māori-Filme zeigt auch Samson & Delilah eine transkulturelle Dimension der Charaktere, die sich unter den Bedingungen des neokolonialen Australiens zurechtfinden müssen. Auch hier muss sich die indigene Bevölkerung auf dem Land mit den Veränderungen in ihrer Kultur durch die Kolonisierung arrangieren und

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Abbildung 2: Samson & Delilah ihr Leben anpassen. Armut, ein Gefühl der Isoliertheit und der Nutzlosigkeit, die Arroganz der dominanten Gesellschaft und die Ausbeutung durch einen transnationalen Kunstmarkt – Delilah sieht in einer Galerie ein Bild von Nana, das 20.000 Dollar kosten soll und wofür sie lediglich 200 Dollar erhielt – gehören ebenso dazu wie billige Ersatzdrogen, z. B. Benzin, die das Wissen um die scheinbar ausweglose Situation für junge Leute zwar betäuben, aber deren Physis und Psyche nur noch weiter zerstören. Gleichzeitig werden sie an den Rand der Gesellschaft gedrängt, sind Bürgerinnen und Bürger zweiten Ranges. So zeigt der Film die beiden, stellvertretend für einen Großteil der indigenen Bevölkerung, in einem abgelegenen heruntergekommenen Dorf und am Rande der Stadt unter einer Brücke lebend. Das dominante Australien ist an ihnen nicht interessiert (keiner kauft Delilahs Bild); niemand spricht mit ihnen – stellvertretend für einen Großteil des dominanten Australiens äußert ein Galeriebesitzer ein kurzes „Not interested“, und eine Kellnerin bittet Delilah, das Café zu verlassen –, und sie sind rassistischer Gewalt ausgesetzt. Die transkulturelle Identität der Charaktere erscheint niederschmetternd und hoffnungslos. So macht Thornton deutlich, dass die 2008 in der offiziellen Entschuldigung von Australiens Premierminister Kevin Rudd an die indigene Bevölkerung versprochenen gleichen Bildungschancen und soziale Gleichberechtigung weit entfernt von der

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gelebten Realität sind. Wie Once Were Warriors eine mutierte Kriegerkultur vorführt, kritisiert Samson & Delilah sehr effektiv eine mutierte Jugendkultur als Folge von neokolonialer Ausgrenzung. Wieder und wieder müssen wir Samson beim Benzinschnüffeln zusehen, was für das Publikum immer unerträglicher wird und emphatische Anteilnahme für und vielleicht sogar Selbstprojektion der vorsätzlichen Selbstzerstörung generiert. Nur so kann der Film zum sozialpolitischen Signal werden. Samson kann als die indigene Variante von Ben Sanderson in Leaving Las Vegas (1995) gesehen werden, mit dem Unterschied jedoch, dass Delilah ihn aus dieser Todesspirale herausholt. Thornton humanisiert die untouchables, „young Aboriginal addicts who are socially marginalised within both their Aboriginal communities and the wider Australian society“ und „avoids moral judgement on addiction“.52 Das Leben der jungen Leute im zeitgenössischen Australien ist jedoch auch stark mit indigenen Elementen verflochten. Wiederholt zeigen die Charaktere, dass sich die moderne Identität und Lebensweise nicht nur transkulturell durch die aufoktroyierte allmähliche Auflösung der indigenen Kultur generiert, sondern gerade auch durch ein ständiges Rekurrieren auf diese. Samson und Delilah kommunizieren in einer alten Zeichensprache, Samson ‚badet‘ in einer selbstgegrabenen Schlammgrube, um seine in Liebe entflammte Seele zu kühlen, und stolziert mit seinem erlegten Känguru auf den Schultern genüsslich durch das Dorf. Delilah kümmert sich um ihre Nana und Nana kichert schelmisch, als sie von der jugendlichen Romanze erfährt; nach alter Tradition erteilt sie Delilah ihren Segen, als sie sicher ist, dass Samson aus einer passenden skin group kommt. Delilah tritt letztendlich in ihre Fußstapfen und malt ähnliche Bilder, die später auch den Lebensunterhalt auf ihrem Land sichern sollen. Die sogenannten dot paintings von sacred dreamings wurden traditionell im Wüstensand gemalt. Beginnend mit der Papunya-Tula-Schule in den 1970er Jahren werden sie heutzutage auf Leinwand und andere Materialien gemalt,53 so dass sie mittlerweile, gemäß einem westlichen Kunstverständnis, tauschbare und transportable Kunstobjekte mit transdifferentem Charakter sind. Auf dem Land der Urahnen versucht Delilah, nach traditioneller Weise zu leben, allerdings mit modernen Veränderungen wie einer Blechhütte 52 DAVIS, 2009. 53 Vgl. BARDON, 2000, S. 208-211.

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mit fließend Wasser, einem Windrad, Konserven und einem Gewehr, mit dem sie Kängurus schießt. Delilah entwickelt sich von einem eher passiven zu einem bewusst handelnden, aktiven Aktanten; wie Grace und Boy nutzt sie teilweise pathogene transdifferente Situationen auf kreative und emanzipierende Weise. Auch die Christianisierung ist Teil eines transkulturellen Prozesses, durch den sich bei Nana und Delilah wahrscheinlich eine synkretische religiöse Identität entwickelt hat. Nana lässt sich jeden Tag in die Kirche fahren und Delilah hängt ein Kreuz in ihrer Hütte auf. Schließlich zeigen auch die Vornamen der Titelhelden und das Zitat der Bibelgeschichte, in der Delilah Samson an die Philister verrät, eine komplett christianisierte oder synkretische religiöse Identität. In dieser indigenen Samson-und-Delilah-Geschichte verrät Delilah Samson jedoch nicht, sondern rettet ihn und hält ihn metaphorisch in ihrem beschützenden Schoß, während beide in vorherigen Szenen sich selbst die Haare schneiden – eine indigene Praxis des Trauerns um eine geliebte Person (Delilah um Nana und Samson um Delilah, die er tot glaubt). Die postkoloniale Geste des Films ist hier die Adaption und ‚Indigenisierung‘ einer westlichen Bibelgeschichte und ihr Einpassen in einen modernen indigenen Kontext. Einige Detailaufnahmen betonen die vielen modernisierten traditionellen Elemente, etwa wenn die Kamera Nanas dot paintings oder die erlegten Kängurus fokussiert, oder wenn wir Delilah und Samson beim Haareschneiden zusehen. Auf Delilahs outstation zeigen einige Kamerauntersichten die rote Erde prominent im Vordergrund und die Charaktere weit dahinter – eine Kameraeinstellung, die suggeriert, dass das Land die beiden jungen Leute aufgenommen hat und sie hier genesen werden. In einem Film mit wenig Dialog tritt der Soundtrack stark in den Vordergrund und wird verwendet, um die Emotionen der Charaktere zu transportieren. In Samson & Delilah ist es ein Mix aus Country und Rockmusik, dem Skanky Reggae der Dorfband, mexikanischen Liebeschansons und einem adaptierten Tom-Waits-Titel.54 Wie die Musik machen auch die minimalen Dialoge, die zu gleichen Teilen in Englisch und Warlpiri geführt werden, den Film zu einem transkulturellen Produkt, das sich trotzdem stark an die traditionelle indigene Kultur anlehnt.

54 YOUNG/SAUNDERS, 2013.

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R ic h a r d F r a n k la n d , S to n e B r o s . ( 2 0 0 9 ) Stone Bros. ist eine Mischung aus Roadmovie und Komödie, die viele zeitgenössische australische Themen humorvoll anschneidet und viele Gemeinsamkeiten mit dem ersten bekannten indigenen Film aus den USA, Smoke Signals (1998) – ebenfalls ein Roadmovie –, aufweist. Nachdem sich für Eddie der große Traum vom Erfolg in der Stadt nicht erfüllt und er obendrein seinen Job als Reiniger im Perth Museum verloren hat, weil sein Cousin Charlie dort Chaos stiftete, beschließt er, in seine Heimatstadt Kalgoorie zurückzukehren; auch weil ihm sein Onkel einen Stein von dort mitgegeben hat, den er wieder auf das traditionelle Land zurückbringen soll. Der Stein ist in einer Jacke, die Charlie, wie in indigenen Kulturen üblich, seinem Cousin Pauly gegeben hat, weil dieser gerade eine brauchte. Charlie begleitet Eddie auf der Reise und bringt als ‚Wegzehrung‘ 186 fertig gerollte Joints mit.55 Ziemlich betäubt erleben sie in Picaro-Manier einige Abenteuer, in denen Frankland ein charmantes und selbstironisches Bild vom indigenen Australien zeichnet und das Verhältnis zwischen indigenem und weißem Australien humorvoll kommentiert. Sie nehmen einen langhaarigen italienischen Rockmusiker mit und halten diesen zunächst für eine ‚schöne Frau‘; sie fliehen panisch vor einer Vogelspinne; Charlie wird verhaftet, als er Pauly im Gefängnis besucht; sie treffen einen anderen Cousin, der inzwischen als Drag Queen Regina auftritt; als uneingeladene Gäste vermasseln sie eine Hochzeitsnacht; und sie müssen Eddies spirituellen Stein zurückholen, der mittlerweile in einem kleinen lokalen Museum gelandet ist, weil Pauly ihn an eine junge blonde Geologin verkauft hat. Wie auch Samson & Delilah begegnet Stone Bros. verzerrten neokolonialen Darstellungen indigener Kulturen mit zeitgenössischen indigenen Charakteren, die sowohl in ländlichen als auch urbanen Kontexten ständig traditionelle Kultur, westlichen Mainstream, neokoloniale Einflüsse und Bedingungen identitätsstiftend verhandeln. Nach Stein praktizieren sie Transkulturalität, indem sie kulturelle Elemente verlieren, andere gewinnen und neue Identitäten produzieren.56 Während der Film 55 Vgl. Pauline Marshs Erörterung der verschiedenen Konnotationen von ‚stone‘ im Film, vor allem sacred stones (obwohl die Männer sie rocks nennen) und being stoned (vgl. MARSH, 2012, S. 31-33). 56 Vgl. STEIN, 2009, S. 263f.

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uns zum Lachen bringt, erzählt er eine wunderbare Geschichte von modernen indigenen Männern jenseits der gängigen politischen und sozialen Klischees. So unterminiert er nostalgische Stereotype der traditionellen indigenen australischen Kultur und Spiritualität, wie sie durch Museen und Bücher wie z. B. Barbara Woods The Dreaming (1991) und Marlo Morgans Mutant Message Down Under (1991) verbreitet werden – und die auch immer öfter von nicht-indigenen Individuen nachgeahmt und angeeignet werden. In der Anfangsszene im Museum zeigen Eddie und Charlie ihre transkulturelle Identität: Sie sind als moderne Aborigines klar von den Bildern ihrer Vorfahren und den traditionellen Ausstellungsstücken abgegrenzt; sie wissen nicht viel von der traditionellen Lebensweise ihrer Vorfahren und machen sich auch ein wenig über sie lustig. Vor einer mannsgroßen Schwarz-WeißPhotographie eines indigenen Vorfahren, der auf seinen Stab gestützt auf einem Bein steht, versucht Eddie, dieselbe stereotype Pose einzunehmen, die das visuelle Klischee des primitiven Aborigine nährt: dunkelhäutig, mystisch, outback und mit einem Lendenschurz bekleidet.57 Eddie, der wenigstens an diesem „cultural stuff“ interessiert ist, wird so fast zum modernen Spiegelbild seines Vorfahren; jedoch bemerkt der unverbesserliche Charlie spöttisch, dass Eddie einen Schrubber als Stab benutzt. Er dekonstruiert so sehr humorvoll diese Pose, oder besser, die westliche und indigene nostalgische Verehrung ‚typisch‘ indigener Posen und ‚authentischer‘ Indigenität, die durch die Arbeit des australischen Photographen Donald Thomson und Filme wie dem Klassiker Walkabout (1971) Verbreitung fanden. Gleichzeitig prangert diese Szene die westliche Museumskultur an, die indigene Lebensweisen exotisiert und mythisiert, sie nur in der Vergangenheit verortet und so eine moderne indigene Identität verneint. Weiterhin kritisiert die Szene die oft einseitige Darstellung der indigenen Urbevölkerungen durch die dominanten Siedlerkulturen. So deklariert Charlie schelmisch: „This place gives me the creeps.“ Als durch seine Ungeschicklichkeit die Porträts von australischen Premierministern wie Dominosteine umfallen und die Katze des Museumsaufsehers unter dem Porträt von John Howard begraben wird, dekonstruiert der Film mit Slapstick-Effekten sehr amüsant die einseitige australische Geschichtsschreibung und politische

57 Vgl. WAITT, zit. n. MARSH, 2012, S. 31.

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Bevormundung und erinnert uns daran, dass beide einer Revision aus indigener Sicht bedürfen. Genauso lächerlich ist es, wenn die Männer schreiend vor einer Vogelspinne im Auto davon laufen und sie so das nun antiquierte Bild des traditionellen Australiers unterminieren, der in und mit der Natur lebt. Charlie bezeichnet Elstern als „skinny-legged bastards“ und beide können keine Kängurus jagen, überfahren aber eines mit dem Auto, das sie dann auch grillen. Charlie macht sich über die spirituellen Fähigkeiten seiner Freundin lustig, erfährt aber dennoch ihre Wirkung – ein praktischer Witz des Films auf Kosten seines Hauptcharakters. Weitere Elemente der transkulturellen australischen Identität sind Cannabis-Konsum und Transvestismus als Ausdruck zweier verschiedener globaler Gegen- oder auch Subkulturen. Charlie und Eddie spielen mit der Idee einer transkulturellen Identität, wenn sie sich dem Rockmusiker Vincent als Ire und Japaner vorstellen – eine absurde Idee, da beide relativ ‚dunkelhäutig‘ erscheinen und nicht das stereotype Aussehen dieser Kulturen haben. Vincent jedoch lacht Charlie aus und sagt drei Mal „You’re black“, als ob er noch nie etwas von politischer Korrektheit und Sensibilität gegenüber kulturellen Identitäten gehört hätte. Auf ähnlich politisch unkorrekte Weise verleiht er auch der Idee der Kulturvermischung Nachdruck, wenn er koreanische Autos mit japanischen verwechselt und bemerkt, dass sie – vermutlich die Autos wie die Kulturen – ohnehin alle gleich wären. Dies alles geschieht wahrscheinlich aus Ignoranz gegenüber Kulturunterschieden und damit verbundenen Problemen, macht aber bezeichnenderweise deutlich, dass ihm Eddie und Charlie, und später Regina, als Menschen wichtig sind und nicht als Vertreter indigener, japanischer oder irischer Kulturen. Genau hier setzt auch die kulturpolitische Arbeit des Films an: Frankland macht sich selbstsicher über ethnische und kulturelle Differenzen lustig; durch Humor werden einerseits die oft konstruierten oder künstlich aufrechterhaltenen Kulturunterschiede bloßgestellt, die zu ökonomischen, sozialen und politischen Ungleichheiten führen, andererseits aber auch eine zwanghafte politische Korrektheit, die wichtige kulturpolitische Arbeit und Aufklärung behindern kann. In gleicher Art verfährt Frankland mit der Drag Queen Regina: Mehrere Szenen rücken sie in den Mittelpunkt und betonen ihre stereotypen Charaktereigenschaften, sie wird aber niemals vorgeführt. Der Film behandelt sie sehr respektvoll und lässt

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sie am Ende mit Vincent ein Paar werden. Vincent verkörpert die Aufhebung von wahrgenommenen Kulturunterschieden und Heteronormativität sowie damit verbundene Diskriminierungspraktiken; er bleibt mit Regina in Australien, was Franklands Überzeugung symbolisiert, dass eine solche offene, tolerante Sichtweise in Australien Fuß fassen wird. Franklands Spott über ‚Rassen‘ und racialization geht noch weiter, wenn Eddie in seinem Traum, viel dunkelhäutiger als er wirklich ist, in einem Supermarkt von weißen Menschen verfolgt, bewundert und geliebt, ja sogar begehrt wird. Eine Mutter will ihm ihre Tochter zur Frau geben und alle zusammen entschuldigen sich bei ihm „on behalf of everyone“ – eine Szene, die Kevin Rudds Entschuldigung bei den indigenen Einwohnerinnen und Einwohnern Australiens zitiert. Die Übertreibung der Entschuldigung in Eddies Traum, der in effektiver Schwarz-Weiß-Komposition gehalten ist, dreht systematische Diskriminierung aufgrund von Kulturunterschieden genüsslich um, impliziert aber auch, dass die angestrebte Gleichberechtigung und der gegenseitige Respekt in Rudds Rede noch nicht erreicht worden sind und dass die Entschuldigung nur auf Regierungsniveau, nicht jedoch auf dem persönlichen Niveau gegenseitiger Kontakte akzeptiert worden ist. Dass Eddie im Traum wie ein geschwärzter Othello in einer billigen Shakespeare-Aufführung aussieht, ist eine weitere intermediale Parodie von racialization und dient als selbstironischer metanarrativer Kommentar zum Film selbst. Auf der narrativen Ebene unterlaufen Eddie und Charlie racialization, wenn sie sich über die Abstufungen ihrer Hautfarbe streiten, die gerade keine Aussagen über ihre kulturelle, traditionelle und spirituelle Identität macht. Sie unterlaufen so die repressive Ansicht, dass dunklere Haut ‚authentische‘ Indigenität bedeute.58 Ein transkultureller Aktant anderer Art ist der Gefängniswärter Mark, ein sogenannter New Ageist, der den indigenen traditionellen Glauben annimmt und über den sich der Film ebenfalls gehörig lustig macht. Seine Figur dient der Karikatur der fanatischen Liebe zu und kulturellen Aneignung von spiritueller indigener Kultur. Mark gehört aber nicht nur zur „wild-big-eagle-dreaming“ skin group, besucht eifrig sogenannte dreaming workshops und ist „close to initiation“, er entlässt 58 Vgl. Pauline Marshs überzeugende Argumentation zu blackness, Identität und Verneinung des primitiven, spirituellen und „authentic black Aborigine“ in Stone Bros. (vgl. MARSH, 2012, S. 36-39).

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auch Eddie aus dem Gefängnis und bezahlt dessen ausstehende Geldstrafen im Tausch gegen Eddies Versuch, mit den Geistern zu reden, die angeblich hinter Mark her sind, weil er mit einer indigenen Frau aus einer unpassenden skin group ein Verhältnis hat. Weder negiert der Film traditionelle indigene Kultur noch macht er sich über sie lustig – vielmehr zeichnet er ein Bild moderner indigener Identitäten, die modifizierte traditionelle Elemente einschließen und doch jenseits von Praktiken der taxidermy und romantischem Preservationismus59 in Museen und ethnographischen Diskursen existieren, jenseits von euphorischer New-Age-Liebe und diskriminierenden romantischen Klischees über indigene Kulturen in westlichen politischen Diskursen und Populärkultur. Am Schluss erscheinen Eddie und Charlie als traditionelle Tänzer mit Vincent und Regina als ihr Manager und hochschwangere Frau im lokalen Museum, um sich Zugang zum spirituellen Stein zu verschaffen, was, ganz nach den Regeln der Komödie, auch gelingt. Diese letzte Szene im Museum könnte, natürlich auch mit gewisser humorvoller Distanz, als Simulation nach Welsch verstanden werden, da sich Charlie und Eddie strategisch ihrer traditionellen Kultur bedienen, sie letztendlich aber nur die Nachahmung von Traditionen in der Form gebuchter Tanzgruppen nachahmen. Im Hinblick auf das Ende des Films, an dem die beiden mit den Steinen heimkehren (im Laufe des Films stellt sich heraus, dass auch Charlie einen Stein hatte), scheinen sie eine Entwicklung zu modernen (transkulturellen) Identitäten zu durchlaufen, in denen indigene Elemente, aber auch kulturelle Differenzen, Spannungen und Gegensätze wieder maßgeblich Teil ihrer Identitätskonstruktion sind; auch wissen sie transdifferente Bedingungen und Situationen im positiven Sinne zu nutzen. Natürlich will der Film vor allem unterhalten und jene Medienbilder von indigenen Australiern unterlaufen, die sie mit Politik, Kriminalität, Armut und ähnlichen Problemen assoziieren. Auf keinen Fall zeigt er eine indigene Erfolgsgeschichte, weil Frankland das Publikum mit indigenen Australiern zum Lachen bringen will, was letztendlich eine kathartische Entspannung und Ablenkung von den allgegenwärtigen soziopolitischen Problemen für beide, indigene und nichtindigene Zuschauerinnen und Zuschauer, bedeutet.

59 Vgl. TOBING RONY, 1996, S. 123.

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F a z it Die diskutierten Filme zeigen, wie moderne indigene Identität und Kultur in transkulturellen Prozessen und in transdifferenten Situationen konstruiert werden und bestätigen so Kulturtheoretiker wie Welsch, Breinig, Lösch und andere, die Überlappungen zwischen diesen Konzepten feststellen und eindeutige Abgrenzungen zwischen ihnen ausschließen. Die kulturpolitische und dekolonisierende Arbeit der Filme schließt die Darstellung von zeitgenössischen indigenen Existenzen jenseits von Klischees genauso ein wie die teils humorvolle Korrektur von weißer Historiographie, Hegemonial- und Bevormundungspraktiken, Stigmatisierung und Diskriminierung sowie das Vorführen von neokolonialer Marginalisierung und sozialen Bedingungen. Die Filme destabilisieren (neo-)koloniale Repräsentationspraktiken in Museums-, Medien- und politischen Diskursen und stärken somit einen transnationalen dekolonisierten indigenen Filmdiskurs.

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Wagner Goes East Transkulturelle Dimensionen einer deutschen Opernlegende BARBARA MITTLER Die Reaktion eines Berlioz auf die chinesischen Opern, die bei der Weltausstellung 1851 in London aufgeführt wurden, war denkbar ungnädig: „Katzenjammer“ sei das gewesen, so schreibt er.1 Oper sei das nicht, jedenfalls nicht das, was er unter Oper verstehe. Als Antwort auf solche Kritik erinnert der französische Sinologe Louis Laloy in seinem Buch La musique chinoise (1910) daran, dass es ähnliche Reaktionen auch bei Chinesen geben konnte – auf französische Opern: „Wenn ein solcher Tumult ein europäisches Ohr eher überrascht als dass es ihm schmeichelt, so möge man sich an die Worte jenes Chinesen erinnern, der mir beim Verlassen eines unserer Musiktheater sagte: ‚Wenn man es nicht versteht, ist man der Meinung, es enthält zuviel Lärm.‘“ 2 Die Geschichte des Austauschs von Opernkunst zwischen China und Europa hatte gerade erst begonnen, als Laloy dies schrieb. Genau 100 Jahre später, im Herbst 2010, wurde, wieder bei einer Weltausstellung, der Expo in Shanghai, eine Oper aufgeführt: Richard Wagners Ring, vor enthusiastischem Publikum. Umgekehrt findet auch die chinesische Oper inzwischen in Europa begeisterte Anhänger. Alexander Huang, der in Chinese Shakespeares. Two Centuries of Cultural Exchange (2009) chinesische Shakespeare-Opern und deren Erfolge in

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BERLIOZ, 1912, S. 225. LALOY, 1910, S. 115f.

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Barbara Mittler

Europa untersucht, spricht sogar von einer regelrechten „Vernarrtheit“ Europas in die chinesische Oper.3 Dieser Beitrag versucht, den Weg nachzuzeichnen, der zu solchen Neubewertungen geführt hat. In einer Rückschau auf 150 Jahre musikalischen Kontakt zwischen China und Europa fragt er: Wie ist die europäische Oper nach China gelangt und warum? Welche soziopolitischen und -historischen Umstände haben ihren Weg zum Erfolg behindert oder begünstigt? Welche transkulturellen Dynamiken haben sich in diesem Prozess entwickelt und welche Aktanten waren daran beteiligt? Welche Konsequenzen hat dies für globales Opernerfahren? Dieser letzte Punkt wird uns am Ende wieder an den Anfang zurückführen, zu Berlioz und der Frage, wie und ob Oper – sei sie chinesisch, französisch, japanisch oder deutsch – überhaupt irgendwann einmal transkulturell und schließlich auch global verständlich sein kann.

O p e r , M a r k t u n d P o litik . D e r R in g in C h in a Im Herbst 2010 wurde mit Unterstützung der International Association of Wagner Societies Robert Carsens Produktion des Ring aus Köln als Teil des deutschen Beitrags zur Expo 2010 nach Shanghai gebracht. Es war kein ganz einfaches Unterfangen: 250 Sänger, Musiker, Techniker und Bühnenarbeiter, 30 Container mit Requisiten und Zubehör mussten nach China transportiert werden, auf einer Reise, die 21 Tage währte und eine Strecke von 14.000 km überwand.4 Der Opernzyklus wurde zweimal im Shanghai Grand Theatre aufgeführt, die Aufführungen im chinesischen Fernsehen landesweit ausgestrahlt. Elke Heidenreich, die das Kölner Team begleitete, beschreibt diese Superlative in ihrem in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlichten Tagebuch zur Reise,5 und im China-Blog des Orchesters kann man lesen: „Der ‚Ring‘ für ei-

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HUANG, 2009, S. 229. Vgl. [ringatexpo]. Die meisten Internetquellen, die in diesem Beitrag zitiert werden, sind im Digital Archive of Chinese Studies (DACHS) am Institut für Sinologie der Universität Heidelberg (vgl. das Literaturverzeichnis am Ende dieses Beitrags) archiviert. Sie sind dort permanent unter dem angegebenen [kurznamen] abrufbar. Vgl. [ringheidenreich5] und [ringheidenreich6].

Wagner Goes East

ne Milliarde Zuschauer – das will schon etwas heißen…“6 Das schwierige Unternehmen wurde ein großer Erfolg, Eintrittskarten waren schnell nur noch auf dem Schwarzmarkt zu haben.7 Am letzten Tag der Aufführung mussten sogar noch zusätzliche Stühle in den Zuschauerraum getragen werden.8 Das Publikum war so begeistert, dass es nach der letzten Aufführung der Götterdämmerung 20 Minuten ohne Pause applaudierte. Die Reaktionen reichten von „bravo“ bis „unglaublich“ und „unvergesslich“.9 Überall, in der chinesischen Werbung und in den Rezensionen, wurde der Opernzyklus in Superlativen beschrieben – nicht nur wegen der Dimensionen, die der Transport aus Köln hatte.10 Viele der Rezensenten betonten etwa, wie lange Wagner an dieser Oper gearbeitet hatte – ganze 26 Jahre.11 Der Ring wurde auch als „Meilenstein“ der Operngeschichte,12 als „größte Oper in der Geschichte“13 oder einfach als eine „Super-/Hyper-Oper“ bezeichnet.14 Der Begriff des Gesamtkunstwerks wird folgendermaßen erklärt: Hier, wie am Ring deutlich zu sehen, vereine sich das Beste der dramatischen Kunst mit dem Besten der Musik.15 Noch poetischer hieß es bei einem anderen Kritiker: „Wenn die Oper als Genre die Krone der westlichen musikalischen Praxis ist, dann ist Richard Wagners Ring darin das schönste Kronjuwel.“16 Viele hätten es sich wohl nie träumen lassen, den Ring in China aufgeführt zu sehen.17 Der künstlerische Leiter des Shanghai Grand Theatre, Zhang Guoyong, selbst ein bekannter Dirigent, erklärte, dass es sich wohl jeder Dirigent wünsche, einmal eine Wagner-Oper zur

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[ringchinablog]. Vgl. [ringinchina]. Dies schreibt Elke Heidenreich: „Heute ist es so voll, dass noch Stühle dazugestellt werden müssen und die ersten Schwarzmarktkarten kursieren“ [ringheidenreich6]. Chinesische Publikumsreaktionen werden in dieser Nachrichtensendung deutlich: [ringchinesischereportage]. Vgl. [ringoffiziellerbericht] und [ringbericht]. Vgl. [ringberichtseptember] und [ringberichtmärz]. Vgl. [ringvorträge]. Vgl. [ringbericht1]; [ringberichtseptember]; [ringbericht2]. Vgl. [ringbericht1]. Vgl. EBD. [ringchinaberichtseptember]. Vgl. [ringoffiziellerbericht].

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Aufführung zu bringen.18 Dass für ihn mit dem Kölner Ring in Shanghai dieser Traum so schnell und plötzlich wahr geworden war, konnte er kaum fassen.19 Die Aufführung des Ring war für ihn gleichbedeutend mit einem „großen Sieg für die Weltkultur“. Sie mache allen chinesischen Opernliebhabern Hoffnung auf eine immer reichere Opernzukunft.20 Nicht mehr länger erscheine es als ein Ding der Unmöglichkeit, so ein chinesischer Musikwissenschaftler, nun auch erste chinesische Wagner-Produktionen zu wagen.21 Dass das chinesische Publikum so beeindruckt sein würde, hatten nicht alle vorher geglaubt. Gerade der chinesische Solo-Cellist des Kölner Ensembles, Tian Bonian, war recht nervös: Bevor wir hier hergekommen sind, habe ich mir große Sorgen gemacht, ob das Publikum 15 Stunden Wagner durchhält, ob sie damit etwas anfangen können oder ob nach den Aktpausen der Saal halb leer sein würde. Normalerweise applaudieren die Chinesen nur sehr kurz und sehr zurückhaltend. Was wir hier nach der Götterdämmerung erlebt haben, war außergewöhnlich.22

Tian Bonian war sich nicht sicher, ob das chinesische Publikum „so viel Musik“ ertragen werden könne, ob sie einschlafen oder anfangen würden zu telefonieren.23 Auch die Shanghaier Zeitungen, wie die Xinmin Wanbao (‚Abendpost der Neuen Bürger‘), berichteten ausführlich – vielleicht auch als Warnung oder Erinnerung für das Publikum –, dass all dies eben nicht passierte: Das Publikum war durchweg aufmerksam, sie kamen glücklich und bewegt aus den Aufführungen.24 Elke Heidenreich beobachtete: „Viele Chinesen, sehr junge. Es ist still, sie fotografieren zwar, aber sie telefonieren und schwatzen nicht, sie hören gebannt zu.“25 Und schließlich: „Als wir vom Team die Treppe in die Bürokatakomben hinuntergehen, kommen uns die chinesischen Statisten 18 19 20 21 22 23 24 25

346

Vgl. [ringbericht1]. Vgl. EBD. Vgl. [ringbericht2]. Vgl. LIU, 2010, S. 6-9. [ringchinablog1]. EBD. Vgl. SHEN, 2010. [ringheidenreich5].

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entgegen, Tränen in den Augen, und bei jedem von uns verbeugen sie sich und klatschen.“26 Sie schloss daraus: „Nichts, nichts verbindet Menschen so wie die Kultur, vor allem die Musik.“27 Dieser Satz, einige Tage nach dem Ereignis selbst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht, ist jedoch in keinster Weise naiv oder unschuldig, denn ihm folgt der Satz: „Wer erklärt das den Politikern, die immer noch glauben, an der Kultur zuerst sparen zu können?“28 Die politische Botschaft von Heidenreichs Reportagen liest sich auch aus anderen Tagebucheinträgen heraus: Einmal beschwert sie sich über einen buhenden Chinesen (die chinesischen Zeitungen hingegen loben die Buher, denn sie lesen ihr Buhen über einen der stimmlich angegriffenen Sänger als ein offensichtliches Zeichen dafür, dass „die Chinesen Wagner verstehen“, dass sie „ein erfahrenes und gut differenzierendes Publikum“ seien).29 Elke Heidenreich aber schreibt: Jeden Abend donnernder Applaus, nur einer buht immer: bei jedem Sänger, beim Orchester, beim Dirigenten: buh, buh, buh. Der sitzt siebzehn Stunden Musik ab, um persönlich Richard Wagner fertigzumachen. Den knöpf’ ich mir morgen vor und erzähle ihm von der Kölner Stadtverwaltung, die auch nicht begreift, was für ein Weltklasseorchester sie hat, und die in dumpfer Provinzialität das alles hier gar nicht ahnt. Buh, buh. Und dann empfehle ich dem Buhmann und den Kölner Kultur-Ignoranten, doch mal in Schanghai in den schönen Zhuozhengyuan-Park zu gehen, den „Garten des bescheidenen Beamten“, ein bisschen auf’s Gras zu blicken und nachzudenken.30

Worauf es Heidenreich hier ankommt, ist also keineswegs Wagner in China. Statt transkulturelle Dynamiken zu beschreiben, nutzt Heidenreich diese lediglich in ihrer Relevanz für deutsche nationale, ja sogar lokale (Kultur-)Politik. Und dennoch geht es bei Heidenreich und anderswo in der deutschen Berichterstattung zu den Aufführungen auch immer wieder um Wagner in China: Tian Bonian, der Solo-Cellist des Orchesters, der sich 26 27 28 29 30

EBD. EBD. EBD. [ringberichtseptember]. [ringheidenreich6].

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solche Sorgen gemacht hatte, das chinesische Publikum würde Wagner nicht verstehen, erklärt apologetisch: „In China gibt es nur sehr wenige Opernaufführungen. Die meisten Orchester hier können das gar nicht spielen und schon gar nicht Wagner. Den Ring hier in Shanghai zu erleben, war für mich aber auch für das Publikum etwas ganz Besonderes. Viele kennen die Musik von CDs, aber haben noch nie eine Aufführung gesehen.“31 Die vermeintliche Unkenntnis und Unerfahrenheit des chinesischen Publikums wird bei Heidenreich noch weitaus pointierter in den Vordergrund geschrieben: „Und dann, nach einer halben Stunde: Etwa dreißig bis vierzig stehen auf, gehen und kommen nach drei Minuten wieder – sie waren auf der Toilette. Offensichtlich wussten sie nicht: Rheingold, zweieinhalb Stunden, keine Pause.“32 Zwar sind ihre pointiert und witzig formulierten Kommentare offensichtlich für ein bestimmtes Zielpublikum (nämlich deutsche Leser) geschrieben, dennoch ist der herablassende Ton, der hier mitschwingt, nicht zu überhören – so auch, wenn Heidenreich formuliert: „Das chinesische Publikum ist so gebannt, dass es nach jedem Akt fast explodiert, und der Schlussbeifall kommt noch in die letzten Takte hinein – man hält die emotionale Spannung einfach nicht mehr aus. Auf der Bühne klappt alles, um Brünnhilde lodert ein echtes, helles Feuer, ein starker Eindruck. So stark, dass ein junger Chinese mit Herzrasen ins Krankenhaus muss.“33 Es ist zweifelhaft, ob eine solche Herablassung gerechtfertigt ist, denn das Shanghaier Publikum war auf den Ring außerordentlich gut vorbereitet.34 Sie kannten ihn, die Libretti, die Musik, sie hatten die vielen vorbereitenden Vortragsserien besucht,35 und nicht zuletzt hatten sie das Stück möglicherweise auch schon in Peking gehört, wohin 2005 eine Gesamtproduktion des Nürnberger Ring anlässlich des Beijing International Music Festivals gekommen war. Cheryl Studer, die dort bereits 2001 den ersten Akt von Die Walküre mit dem China Philharmonic Orchestra aufgeführt hatte, sang 2005 Sieglinde. Jedes Mal war die Publikumsreaktion enthusiastisch gewesen. Die erste chinesische 31 32 33 34

[ringchinablog1]. [ringheidenreich5]. EBD. Das betont auch die bereits oben erwähnte Reportage (vgl. [ringchinesischereportage]). 35 Vgl. [ringvorträge].

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Ring-Aufführung 2005 in Peking wurde für unvergleichlich gehalten und man lobte auch damals die einzigartige Gelegenheit, diese Oper einmal live zu hören. Und genau wie in Shanghai hatten auch in Peking die Europäer befürchtet, dass das chinesische Publikum sich unpassend benehmen oder, im vielleicht ‚besten Fall‘, einschlafen würde.36 Eine englische Zeitung schreibt entsprechend: Initially, they behaved as if witnessing a performance of Peking Opera, and the auditorium was a lively and distracting place. However, Wagner’s music gradually worked its magic and the emergence of familiar concepts such as family tensions, struggles for power and star-crossed lovers, not to mention dragons and other mythical beasts, soon convinced them that there was much cultural common ground. The fairytale quality of Siegfried in particular found a responsiveness that is rare today amongst Western audiences but certainly applied to audiences of Wagner’s own time.37

Auch in diesen Artikeln wird gefragt, ob die Chinesen die europäische Oper spielen und sie verstehen können. Als 1986 Luciano Pavarotti China besuchte, wurde er in den Meisterklassen, die er unterrichtete (und die vor Tausenden von interessierten Zuhörern in riesigen Konzertsälen stattfanden), Zeuge einer überaus lebendigen Opern- und Gesangsausbildungskultur.38 Sein einziges Bedauern war es, dass die „Hauptstadt der bevölkerungsreichsten Nation der Welt kein adäquates Opernhaus hat“.39 Aber seitdem hat sich viel getan: In den letzten Jahrzehnten sind Dutzende Opernhäuser neu gebaut worden und die europäische Oper ist zum selbstverständlichen Bestandteil des chinesischen Kulturbetriebs geworden. Programme großer Opernhäuser, wie z. B. des National Centre for the Performing Arts (NCPA) in Peking, auch „Ei“ genannt, zeigen das:40 Im August 2011 konnte man hier Aufführungen von Verdis Rigoletto, Donizettis L’elisir d’amore und Puccinis La Bohème besuchen. Die Central Opera Troupe, 1952 in Peking ge36 Vgl. [ringbericht1] sowie [ringbericht4], wo erwähnt wird, dass ein Großteil des Publikums einschlief. 37 [ringreportengland]. 38 Vgl. [pavarottiinchina]. 39 TURNBULL, 2014. 40 Vgl. [ncpa].

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gründet, bringt regelmäßig die großen Klassiker der europäischen Opernkunst zur Aufführung, darunter Madame Butterfly, Carmen, Figaros Hochzeit und Turandot. Gemeinsam mit den ‚Drei Tenören‘ inszenierte sie 2001 eine große Operngala, um die Bewerbung Chinas für die Olympischen Spiele zu unterstützen.41 Aber China hat inzwischen auch seine eigenen ‚Drei Tenöre‘, ja sogar (mindestens) zweimal.42 Obwohl das Land also weiterhin den europäischen ‚Originalen‘ zujubelt, gibt es inzwischen, als Ergebnis interkultureller Begegnungen, auch viele Chinesen, die deren Repertoire singen. Und dies ist die andere Seite der Medaille, die in den Medienberichten ebenso durchscheint: Am 2. Dezember 2010 etwa titelt die New York Times „Go East, Young Diva“ und fragt: „Is China poised to become next opera superpower? Opera once was the pinnacle of European art, but is it dying in the West?“43 Der Artikel beginnt nostalgisch: For four hundred years, no art form has been more closely identified with Western culture than opera. At the heart of every great European city stands an opera house. Over the centuries, it became the center of intellectual and social life: the place where the aristocracy gambled and partied, the rising bourgeoisie conversed, the artistic avant-garde sought inspiration. From Baroque to post-modern, opera librettos mirror the modern history of the West. Yet opera is dying – in the West. The most popular romantic operas – works like „Aïda,“ „Turandot,“ and „Tristan und Isolde“ – can no longer be cast with singers of the high quality lovingly remembered and immortalized in recordings from only a few decades ago. Charismatic artists like Maria Callas, Birgit Nilsson or Ezio Pinza starring in 19thcentury romantic opera is what transformed opera into a universally acclaimed art form – still popular around the world. Just ask anyone who heard Pavarotti sing „Nessun dorma“. These remain the operas audiences want to hear, yet where are the singers?44

41 42 43 44

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Vgl. [dreitenöreverbotenestadt2001]. Vgl. [threedragontenors] und [threetoptenors]. MORAVCSIK, 2010. EBD.

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Die Antwort erscheint im Laufe des Artikels: „Help is on the way! And from an unexpected direction: the East.“45 Wenn auch das Operngeschäft schon lange eine globalisierte Angelegenheit sei und Sänger von Land zu Land und von Opernhaus zu Opernhaus reisten, so seien sie auch immer schon rar und besonders gute Sänger noch viel mehr, so argumentiert der Artikel. In Asien werde schon seit einem Jahrhundert musikalische Ausbildung für europäische Instrumente und Gesang mit harter Disziplin betrieben und das Resultat sei sichtbar: „China is now stocking the world’s orchestras.“46 Auch Opernsänger wie der Bass Hao Jiangtian, der an der Metropolitan Opera in New York als Solist angestellt ist (während die Opernchöre schon lange fast mehrheitlich asiatisch besetzt sind), sind nicht mehr die Ausnahme. Der Artikel schließt mit einer furchtsamen Bemerkung zu der klar zu beobachtenden transkulturellen Dynamik: „Nothing demonstrates the ironies of globalization more clearly than the possibility that the future of opera, the most venerable of Western performing arts, may depend on Asia.“47

Ein Blick in die Geschichte Wo aber beginnt dieser Prozess, wo fängt die Geschichte der europäischen Oper in China an? Wer sind die Akteure, die Mittler und Vermittler, und welche Entwicklungsprozesse setzen sie in Gang? Für Chinesen klang, wie zu Anfang zitiert, die europäische Oper zunächst durchaus noch mehr nach „Lärm“ denn „Musik“. Ihre Reaktionen waren also nicht unbedingt positiver als die von Berlioz, als er eine chinesische Oper hörte. Entsprechend wurde ihnen auch damals nicht ganz ohne Vorbehalte europäische Oper ‚aufgetischt‘. Die westlichen Plattenfirmen jedenfalls, die in China ihre Grammophone verkaufen wollten, warben nicht damit, dass sich darauf Caruso-Aufnahmen hören ließen, sondern erwähnten eher, dass chinesische Opern so hörbar würden (vgl. Abb. 1).48 Massiv wurden chinesische Opernkünstler hofiert und schon früh wurden von EMI und Columbia, den größten Plattenherstellern, die 45 46 47 48

EBD. EBD. EBD. Vgl. MITTLER, 2013.

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Abbildung 1: Chinesische Grammophonwerbung 1908 und 1929 auch in Asien tätig waren, entsprechende Aufnahmen chinesischer Opernkünstler gemacht.49 Nicht zuletzt dieser Druck durch die ausländische Plattenindustrie setzte einen Prozess in Gang, der erheblich zur Blüte der chinesischen Oper und hier vor allem der Peking Oper in den Jahren zwischen 1917 und 1937 beigetragen hat.50 Die Angst vor dem ‚unwissenden Publikum‘, das im Zweifel etwas verdamme, was es doch eigentlich gar nicht kennt, zeigt sich in der Idee – in Ermangelung an Möglichkeiten ein großes Opernhaus nach Shanghai zu bringen –, regelmäßige Aufführungen mit Hilfe von Film und Grammophon zu veranstalten, auch wenn diese Idee nie realisiert wurde. So heißt es 1908 im North China Herald: Apropos the scheme to bring out the Scala Grand Opera Company to Shanghai, and thus for the first time to present classic opera in far Eastern cities, we have been reading of an ingenious enterprise meditated by some Continental firm to play grand opera on the cinematograph, with full accompaniment of gramophones instructed by the best singers and orchestra. […] But in all seriousness it seems extremely doubtful whether such a form of entertainment can prosper, or whether, if it did, it would not be detrimental to the best interests of music. That music generally and opera in particular ought to be popularized, we all agree. 49 Vgl. STEEN, 2006, S. 91f. 50 Vgl. EBD., S. 96; ebenso S. 108, wo geschildert wird, wie wichtig diese Aufnahmen für den kommerziellen Erwerb von einzelnen Kleinunternehmern werden.

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Wagner Goes East But in receiving opera through the medium of cinematograph and gramophone, there is so much danger that our interest might centre in the mere admiration aroused by an extremely wonderful toy.51

Einige europäische Instrumente und Melodien gehörten bereits seit einigen Jahrzehnten zum fast alltäglichen musikalischen Erleben eines urbanen Chinesen: das Harmonium der Missionare, die Blasinstrumente der europäischen Militärkapellen, die auf europäischen Melodien basierenden sogenannten ‚Schullieder‘ (darunter „Frère Jacques“, das mit immer wieder neuen Texten unterlegt wurde und schließlich, Mitte der 1920er Jahre, zur Nationalhymne der Republik avancierte), die in der Reformperiode der frühen Jahre des 20. Jahrhunderts im nun offiziell an den Schulen stattfindenden Musikunterricht regelmäßig gesungen wurden, sowie langsam auch das Klavier als Statussymbol für die Gebildeten.52 Opern allerdings waren kaum bekannt, auch wenn Shanghai seit 1875 regelmäßig von Operntruppen besucht wurde.53 Die Royal Italian Opera Company z. B. kam 1881 zum ersten Mal nach Shanghai; im Repertoire hatte sie eine Mischung aus Il Trovatore, Lucia di Lammermoor, Lucrezia Borgia, Ernani, Crispino e la Comare, La Forza del Destino, La Sonnambula, La Favorita, Martha, La Traviata, Un Ballo in Maschera, Il Barbiere di Siviglia, Norma, Faust und Rigoletto.54 In Ermangelung eines Orchesters wurden alle diese Opern von einem Klavier, einem Harmonium und einer Geige begleitet. Die Chorpartien wurden von lokalen Amateursängern übernommen, manchmal wurden sie auch ganz weggelassen, was das Publikum vor allem dann erzürnte, wenn Opern mit zahlreichen Chorpassagen (etwa Faust) aufgeführt wurden.55 So schrieb die North China Daily News 1881: On Saturday night the Italian Opera Company made their farewell bow to Shanghai, and strange to say, there was only a badly-filled house to take advantage of the last chance of hearing the best operatic Company that has ever visited Shanghai, or is likely to do so.56 51 52 53 54 55 56

N. N., 1908, S. 779f. Vgl. STEEN, 2006, S. 84f. Vgl. HUANG, 1997, S. 14. Vgl EBD., S. 30-33. Vgl EBD., S. 34f. N. N., 1881, o. S.

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Auch aus England waren immer wieder Operntruppen nach Shanghai gekommen, in regelmäßigen Abständen etwa 1876, 1879, 1883, 1885/1886, 1887, 1888 und 1889 (vgl. Abb. 2).57 Ihr Programm war oft etwas leichter als das der italienischen Truppen und enthielt u. a. Offenbach-Lecocq und Gilbert & Sullivan. Und auch sie brachten die Opern mit einer kammermusikalischen Instrumentalbesetzung zur Aufführung.

Abbildung 2: Werbung für Opernaufführungen in Shanghais englischsprachiger Presse (1888) Bei ihrer Rückkehr 1889 war zum ersten Mal die sogenannte ‚Shanghai Band‘ involviert, die sich später zum Shanghai Municipal Orchestra mausern sollte.58 Immer noch waren diese Aufführungen also durchaus ‚intim‘ und viele Ausländer in Shanghai waren beteiligt.59 Mit der

57 Die englische Truppe hatte den Vorteil, dass sie ihre Aufführungen auf Englisch halten konnten, der Lingua franca in Shanghai (vgl. HUANG, 1997, S. 58). 58 Vgl. BICKERS, 2001, S. 835-875 und MELVIN/CAI, 2004. 59 Vgl. HUANG, 1997, S. 131 und S. 154.

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Gründung der Shanghai Operatic Society im Jahr 1905 jedoch begannen schließlich regelmäßige lokale Aufführungen. Bei einer solchen Veranstaltung wurde auch zum ersten Mal Wagner gespielt – genauer gesagt, beim Eröffnungskonzert der Gesellschaft am 9. Dezember 1905, das sich aus verschiedenen Ouvertüren, Chören, Duetten und Arien aus unterschiedlichen Opern zusammensetzte, u. a. Cavalleria Rusticana, Tannhäuser, Faust, Oberon, Lohengrin, und Un Ballo in Maschera. Im Juni 1908, 25 Jahre nach dem Tod Wagners, dirigierte Rudolf Buck (der neue Dirigent der Shanghai Band) ein ganzes Wagner-Konzert zu seiner Erinnerung. Das Programm enthielt sechs Orchesterstücke aus Rienzi, Tannhäuser, Die Meistersinger von Nürnberg und Der Ring der Nibelungen sowie drei Vokalstücke mit der Sopranistin Madame Thue und dem Tenor Hans Jobst. Die reisenden Operntruppen, die Shanghai besuchten, hatten nie versucht, eine Wagner-Oper zu inszenieren, und das Wagner-Orchester erschien zunächst aufgrund seiner Größe und der Kosten auch nicht reisefähig. Zudem waren die Shanghaier Theater nicht wirklich in der Lage, eine Wagner-Oper aufzuführen.60 In Konzerten war Wagner in Shanghai aber immer wieder zu hören. Buck bemühte sich zudem um andere deutsche Opernkomponisten. So brachte er im November 1909 Humperdincks Hänsel und Gretel im Lyceum Theater zur Aufführung, 1911 Leoncavallos I Pagliacci und 1917 Massenets La Navarraise.61 Im Jahre 1915 kam eine weitere italienische Truppe nach Shanghai, zum ersten Mal inklusive Chor und eines 20-köpfigen Orchesters. Verdis Aida und Otello, Ponchiellis La Gioconda, Meyerbeers Les Huguenots, Puccinis Tosca, La Bohème und Madame Butterfly, Mascagnis Cavalleria Rusticana und Carmen kamen zur Aufführung. 1919 brachte die Russian Grand Opera Company dann sogar gleich 83 Künstler mit und führte in einem großen Marathon 23 Opern in sechs Wochen auf, darunter Aida, Faust, Carmen, Lamé, Tosca, Pique Dame, Rigoletto und Madame Butterfly, Boris Godunov, Il Barbiere di Siviglia, The Demon, I Pagliacci, Cavalleria Rusticana, La Traviata, Pearl Fishers, The Jewess & Eugene Onegin, Mignon, Love’s Night, Thais, Roméo et Juliette, The Czar’s Bride und Il Trovatore.

60 Vgl. EBD., S. 155. 61 Vgl. EBD., S. 157.

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Und offensichtlich besuchten inzwischen nicht nur (wenn auch vornehmlich, wie zeitgenössische Photographien zeigen) Ausländer diese Opernabende: Der Daotai (der oberste chinesische Stadtbeamte) von Shanghai nahm erstmals belegt 1896 an der Aufführung einer Opéra comique teil.62 Ein gewisser Bao Luoduo (  erinnert sich, im Alter von 24 Jahren im Januar 1915 am Victoria Theatre seinen ersten Otello von Verdi gesehen zu haben.63 Zwar sehen wir in der Werbesektion des North China Herald häufiger, dass z. B. das Lyceum Theatre alle möglichen Anstrengungen machte, den Ausländern in Shanghai die chinesische Opernkunst näher zu bringen, während umgekehrt in der chinesischsprachigen Shenbao zunächst kaum Werbung für europäische Opernaufführungen zu finden ist. Dass offensichtlich jedoch auch die durchaus mittlerweile mit zahlreichen europäischen Instrumenten musizierenden Chinesen Teil des Shanghaier Opernpublikums waren, lässt sich auch anhand der immer wieder erscheinenden Artikel, die kenntnisreich europäische und chinesische Opernkunst vergleichen, deutlich zeigen (vgl. Abb. 3). 1914 etwa beschwert sich ein Autor in der Shenbao, dass die Ausländer in Shanghai die chinesische Oper nicht ausreichend schätzten.64 Er erklärt die Unterschiede zwischen chinesischer und europäischer Opernkunst und überlegt, beinahe prophetisch, ob und wie die beiden vereint werden könnten. Ein ähnlich wohlinformierter Artikel erscheint 1919.65 Darin wird klar zwischen verschiedenen Operngenres wie z. B. Oper, Opéra comique und Operette differenziert (und all diese Begriffe erscheinen in der jeweiligen passenden Sprache im chinesischen Text). Dies ist auch der erste Artikel, der Richard Wagner erwähnt, mit einer hübschen Beschreibung der Leitmotivtechnik, die erklärt, dass er der Komponist von Melodien sei, die „im Gedächtnis hängen bleiben“.66

62 63 64 65 66

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Vgl. HUANG, 1997, S. 131 und S. 154. N. N., 1927, o. S. N. N., 1914, o. S. N. N., 1919, o. S. In einem weiteren Shenbao-Artikel wird eine Opernaufführung im europäischen Stil beschrieben (vgl. N. N., 1923a). Diesem folgen einige kurze entsprechende Notizen am 03.11.1923 sowie am 05.11.1923; in letzterem Beitrag wird sogar das gesamte Konzertprogramm zitiert. Li Jinhuis Kinderopern, die als erste ‚Hybridopern‘ bezeichnet werden können (die also Elemente aus den europäischen und den chinesischen Theatertraditionen

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Abbildung 3: Werbung in Shanghaier Zeitungen zum Erwerb von europäischen Musikinstrumenten Ab Mitte der 1920er Jahre erscheinen in der Shanghaier chinesischsprachigen Presse regelmäßig Artikel zu Aufführungen europäischer Opern, auch zu Aufführungen außerhalb Shanghais. Viele Artikel, die die deutsche und europäische Opernkunst erklären,67 erinnern in ihrer Detailfreude eher an Enzyklopädie-Einträge als an Nachrichtenmeldungen.68 In all diesen Artikeln fällt auf, dass offensichtlich ein Konkurrenzverhältnis zwischen europäischer und chinesischer Oper ausgespielt wird – transkulturelle Dynamiken sind nicht immer nur friedlich, ja werden oft in einem Spannungsfeld zwischen Überheblichkeit und Selbstkritik oder Unterwürfigkeit ausgehandelt. Interessant ist hier ein aus dem Amerikanischen übersetzter Shenbao-Artikel zur AmerikaTournee des Pekinger Opernsängers Mei Lanfang vom 1. November 1923, der möglicherweise zeigen sollte, wie global akzeptiert die Kunst der chinesischen Oper bereits war. Im zweiten Teil des Artikels geht es miteinander verweben), werden zuerst 1923 diskutiert (vgl. N. N., 1923b); es folgen viele weitere Artikel, u. a. am 09.01.1924. 67 Vgl. z. B. die Artikel in der Shenbao vom 28.11.1923 und vom 10.12.1923. 68 Vgl. N. N., 1923c. Hier wird Wagners Sprechgesang erklärt. Zwei Jahre später wird Wagner wieder als Thema aufgenommen (vgl. N. N., 1925). Hier wird eine Zeitschrift erwähnt, die drei lange Artikel zu Wagner veröffentlicht hat, dann allerdings (und vielleicht auch deswegen) die Produktion eingestellt hat.

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anhand einer Beschreibung der eleganten Bewegungen und Gesten Mei Lanfangs um die ‚zivilisierende Wirkung‘ der chinesischen Oper. Der Artikel schließt, dass, da die Kunst Mei Lanfangs die Amerikaner so beeindruckt hat, auch ihr Respekt vor China angewachsen sei. Dessen weniger sicher scheint sich ein späterer Shenbao-Artikel aus dem Jahr 1935 zu sein, 69 der auf interessante Weise zu einer Reform der chinesischen Oper rät. Sie müsse einen höheren sozialen Status erlangen, die Gesangstechniken müssten nach „wissenschaftlichen Standards“ ( oder kexue, ein Lieblingswort der Zeit) verbessert werden und es sei notwendig, dafür zu sorgen, dass sie in ihrer „ursprünglichen Form“ bewahrt blieben und nicht völlig von europäischen Opernstilelementen überlagert würden. Diese Idee wird in einem Shenbao-Artikel aus dem Jahr 1936 weiterentwickelt.70 Darin wird argumentiert, dass eine Zusammenarbeit zwischen Künstlern, die nur die chinesische Oper kennen, und solchen, die nur mit europäischen Operntraditionen vertraut sind, nötig sei, um zu einer Verbesserung zu führen. Zunehmend vermischten sich nun auch in der lokalen Praxis chinesische und europäische musikalische Aktivitäten. Dabei spielt die Gründung des Shanghaier Konservatoriums 1927 sicherlich keine geringe Rolle. Ab Mitte der 1920er Jahre wurden Kunstkritiken (sowohl zu chinesischer als auch zu europäischer Kunst) zu einem integralen Bestandteil der Shenbao mit einer eigenen Kolume. Zunehmend treten darin nun auch lokale Aufführungen in den Vordergrund, und hier wird immer wieder auf das Benehmen des Publikums Bezug genommen. Anerkennend wird etwa erwähnt, dass das Publikum inzwischen still und andächtig zuzuhören „gelernt hat“.71 Im Jahr 1932 wurde im ein Jahr zuvor eröffneten New Lyceum, das das 1929 abgerissene Lyceum Theatre ersetzte, Boris Godunov vom Shanghai Municipal Orchestra aufgeführt.72 Im Jahr 1937, als das neu gegründete Opernhaus Shanghai eine Saison mit sechs Opern eröffnete – Faust, Eugene Onegin, Boris Godunov, Carmen, La Traviata und Rigoletto –, waren zwei chinesische Sänger mit von der Partie.73 Dies zeigt, dass nun – sechs Jahrzehnte, nachdem europäische Oper zum ersten Mal in Shanghai öffentlich zu 69 70 71 72 73

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Vgl. N. N., 1935. Vgl. N. N., 1936. Vgl. N. N., 1930 sowie ein weiterer Shenbao-Artikel vom 05.08.1946. Vgl. HUANG, 1997, S. 249. EBD., S. 250.

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hören gewesen war – diese Kunstform tatsächlich in China angekommen war (was auch die zunehmende Zahl von Theaterhäusern in Shanghai verdeutlichte). Bislang sind drei der vier zu Beginn dieses Beitrags gestellten Fragen beantwortet worden: Wir haben zunächst gesehen, wie die europäische Oper nach China kam und wer die Aktanten in diesem Prozess waren; weiterhin, dass die Oper zunächst nur in bestimmten Orten verfügbar war und hier vor allem in den Handelshäfen wie Shanghai, wo viele Ausländer zugegen waren; und dass sie dann, auch über den Umweg des Grammophons und dadurch, dass in diesen Städten immer mehr Theater gebaut wurden, langsam auch für eine größere Zahl an Zuhörern und Musikern verfügbar wurde, darunter auch immer mehr Chinesen. Auch nachdem der Sozialismus in China Einzug hielt, wurde die Präsenz des europäischen Opernrepertoires nicht völlig unterbrochen – im Gegenteil: Man kann sogar sagen, dass genau diese Regierung maßgeblich dazu beigetragen hat, die Klänge und Instrumente der europäischen Musik weiterzutradieren und sie einem so breiten Publikum wie niemals zuvor näherzubringen. Die Sozialisten machten sie nämlich zum Medium und Instrumentarium der revolutionären Propagandamusik und ließen dann Syntheseformen wie die „revolutionären Pekingopern“ schaffen, die die Leitmotivtechnik und die Semantik Wagner’scher Operntechniken einerseits und die der Peking-Oper andererseits nutzten, um ihre politische Botschaft möglichst leicht verständlich zu verpacken (vgl. Abb. 4).74 Der Kulturaustausch, der die Pingpong-Diplomatie der 1970er Jahre begleitete, brachte immer mehr europäische Musiker nach China; gleichzeitig strömten ab den 1980er Jahren immer mehr Chinesen zur musikalischen Ausbildung nach Europa. Auch wurde die europäische Oper aufgrund technischer Veränderungen in China immer leichter verfügbar: zunächst auf LP, dann auf Kassette, CD, CD-ROM und DVD und schließlich im Radio und Fernsehen. Somit kann auch die Frage nach den soziopolitischen und -historischen Umständen, die den Weg der europäischen Oper zum Erfolg behindert oder begünstigt haben, beantwortet werden. Hier ist

74 Vgl. MITTLER, 2012, S. 66; S. 68; S. 70-72; S. 85; S. 113.

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Abbildung 4: Modellopern aus der Kulturrevolution, in denen Techniken aus der Peking-Oper zur Untermauerung politischer Aussagen genutzt werden zum einen die Funktion der europäischen Oper in China und wie sie dort verstanden wurde, erläutert worden, indem gezeigt wurde, wie europäische Oper vom chinesischen Publikum auf- und angenommen, umgeschrieben und auch für eigene Zwecke (nicht nur die Olympiabewerbung 2001) benutzt worden ist. Wir haben zum anderen auch unterschiedlichste politische und kommerzielle Motivationen hinter der Aufführung europäischer Opern (wie im Falle des Ring in Shanghai) oder chinesischer Opern (wie im Falle von Mei Lanfang in Amerika oder dem Versuch westlicher Produzenten, mit chinesischer Oper Grammophone zu verkaufen) beleuchtet. Was für Konsequenzen hat dies jedoch für globales Opernerfahren; wann und wie wird denn nun eigentlich Wagner im Speziellen und die europäische Oper im Allgemeinen ‚globalisiert‘? Dies soll im Folgenden erörtert werden.

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O p e r n b e g e g n u n g e n – n a tio n a l, g lo b a l, transkulturell? Im Anschluss an seine Beschreibung chinesischer Opern bei der Weltausstellung 1851 in London als „Katzenjammer“ fuhr Berlioz fort: Was die Stimme der Chinesen betrifft, so war noch nie etwas dermaßen Eigentümliches an mein Ohr gekommen. Stellen Sie sich nasale, gutturale, stöhnende, schauerliche Töne vor, die ich ohne allzu große Übertreibung mit den Tönen vergleichen darf, wie die Hunde von sich geben, wenn sie nach einem langen Schlaf sich recken und gewaltsam gähnen.75

Berlioz redet hier von derselben Opernkunst, die nur ein paar Jahre später Brecht zum Verfremdungseffekt in seinem Epischen Theater inspirieren sollte.76 Werke wie Qu Xiaosongs Life on a String (aufgeführt beim Edinburgh Festival 1999) oder The Test (aufgeführt bei der Münchner Biennale 2004), Guo Wenjings Wolf Cub Village (aufgeführt beim Holland Festival 1994) und sein Night Banquet (aufgeführt am Almeida Theatre in London 1998) oder Tan Duns Marco Polo (aufgeführt bei der Münchner Biennale und beim Holland Festival 1996) und 75 BERLIOZ, 1912, S. 225. 76 In Brechts theoretischem Aufsatz „Bemerkungen über die chinesische Schauspielkunst“ (vgl. BRECHT, 1993), der in der Londoner Zeitschrift Life and Letters To-Day 1936 unter dem Titel „The Fourth Wall of China“ erscheint (vgl. BRECHT, 1936), wird die Passage zu Verfremdungseffekten in der chinesischen Schauspielkunst veröffentlicht. Brecht antwortet hier direkt auf sein Erleben von Mei Lanfangs Aufführungen in Moskau 1935. Jiefei Li kommentiert: „Brecht ist also fasziniert von der ‚zitathaften‘ Darstellungsweise der Rolle in der Schauspielkunst Mei Lanfangs. Siegfried Melchinger kommentiert die Wirkung dieser Begegnung dahingehend, dass Brecht in Mei Lanfangs ‚antiillusionistischer Spielweise‘ eine ‚artistisch bewundernswerte‘, jahrhundertelange Tradition erkenne, die eine Schauspielkunst herausgebildet habe, wie er sie selbst fordere und praktizieren wolle. Mei liefere ‚den Beweis‘, dass das Theater des wissenschaftlichen Zeitalters – wie Brecht es nennt – ‚in sinnvoller Weise und heiter‘ dargeboten werden könne. Die Aufgabe einer ‚Neuformierung der Gesellschaft‘, wie Brecht sie diesem literarischen Genre abverlangt, sei – wie Mei es vorführt – nicht ‚an eine Spielweise ohne Kunst‘ gebunden“ (LI, 2009, S. 9).

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sein The First Emperor (aufgeführt mit Placido Domingo in der Hauptrolle in der Metropolitan Opera in New York 2006) ernten großes Lob. Sie faszinieren ihr Publikum, indem sie Elemente der chinesischen Opernkunst aufgreifen und damit das westliche Operngeschehen mit neuen Gesten, Masken, vor allem aber auch mit bislang ungehörten Klangfarben bereichern. Und so begeistern sie das Publikum – eben doch kein „Katzenjammer“? In einem amerikanischen Radiobericht mit dem Titel „In Search of a Stage. Western Opera Singers Try China“ wurde von einem „I sing Beijing Program“ berichtet, das, finanziert von der chinesischen Regierung, Opernsänger nach China bringt, wo sie moderne chinesische Oper singen lernen.77 Der Initiator dieses Programms ist ein erfolgreicher Bassist an der Metropolitan Opera: der Chinese Tian Haojiang. In typisch aufpeitschender Mediensprache wird in diesem Radiobericht suggeriert, das Blatt habe sich gewendet und die Produktion, ja sogar die Komposition von Opern im ,europäischen‘ Stil sei nicht mehr allein das Privileg der Europäer. Der Kulturboom, der China in den letzten Jahren erfasst hat, ist jedoch an eine bereits über ein Jahrhundert lang währende Geschichte der Musikpraxis gekoppelt, in der Beethovens 9. Symphonie zu einer Melodie geworden ist, die eigentlich – transkulturell und ohne notwendige lokale Verortung – jedem chinesischen Fabrikarbeiter bekannt ist. Die Radiosendung begleitet Tian Haojiang in die Fabrik, in der er einst zur Zeit der Kulturrevolution gearbeitet hatte. Zur Begrüßung singen die Arbeiter das Hauslied der Fabrik – zu eben jener Beethoven-Melodie. Gleichzeitig tritt in Tan Duns Oper Marco Polo ein Sänger aus der südchinesischen Kunqu-Oper (etwa aus dem 14. Jahrhundert) auf, der den Rustichello (also Marco Polos ‚Schreiber‘) spielt und nun beginnt, Kunqu-Techniken wie etwa das rhythmisiert-melodisierte Rezitieren auf den größtenteils englischen Text des Librettos anzuwenden. In einem Dokumentarfilm zu Tan Duns Oper erklärt Zhang Jun, der Kunqu-Sänger: „Those of us who are performing and producing Chinese music all have the same mission, we want to show our Eastern art and transfer our art to the Western world, we want to explain it to the

77 [tianhaojiangradio].

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Western world, we want it to become part of Western mainstream art, but this is of course not so easy.“78 Die Oper Marco Polo nutzt viele ‚nationale‘ musikalische Stereotype sowohl von westlichen als auch von östlichen musikalischen Stilen (sie verwendet sowohl Sitar- und Tabla-Stimmen und tibetische Glocken wie auch Gregorianischen Gesang und chinesische Oper). Dadurch produziert Tan Dun eine Art Metakommentar zum musikalischen Exotismus, der wiederum den Unterschied zwischen einer eindeutig kulturelle Grenzen ziehenden Turandot von Puccini und einem diese Grenzen in transkultureller Dynamik auflösendem Marco Polo von Tan Dun klar aufscheinen lässt. Namen wie Guo Wenjing, Qu Xiaosong und Tan Dun gehören auf europäischen und nordamerikanischen Opernbühnen zunehmend zum musikalischen Alltagsgeschehen. Das westliche Publikum ist, so Mariana Schröder, „enchanted by the rhythmic speech, the haunting melodies, the percussion that violently interrupts the narrative“ in den Werken dieser Komponisten: „[The public] identifies with the emotion, delights in the music and ultimately succumbs to the magic of the spectacle.“79 „Why Does Everyone Need Chinese Opera?“ ist der Titel eines Kapitels in Alexander C. Y. Huangs Studie Chinese Shakespeares. Er meint, wie bereits erwähnt, dass wir von einer „infatuation with Asian visuality“ sprechen müssen und schreibt weiter: Chinese opera Shakespeares seem to cross national boundaries in the global marketplace with ever greater facility and an unprecedented degree of translatability. If film has become the ‚lingua franca of the twentieth century‘, the success of Chinese opera in recent decades is testimony to the rise of Asian visuality in the global scene. 80

Vielleicht sollte dem die offensichtliche, nun bereits einige Jahrzehnte andauernde Faszination mit den Klangwelten der asiatischen Musik hinzugefügt werden.

78 [marcopolodownloadyoutube]. Relevant ist in dieser Analyse die Passage zwischen 02:03 und 03:22. 79 Schröder äußert sich so zu Qu Xiaosongs Life on a String, aufgeführt in Berlin. Vgl. [quxiaosong]. 80 HUANG, 2009, S. 229.

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Mit diesen Reaktionen auf chinesische Oper sind wir wieder da angekommen, wo wir mit Hector Berlioz, der in der chinesischen Oper nichts als „Katzenjammer“ erkennen konnte, begonnen haben, nur unter anderen Vorzeichen. Und auch dem chinesischen Theatergänger, der sich an „zu viel Lärm“ in der europäischen Oper störte, lässt sich ein Gegenüber an die Seite stellen: Dass Puccinis Turandot in Peking aufgeführt wurde, ist eine Sache; dass ein chinesischer Komponist, Hao Weiya, gebeten wurde, dem unvollendeten Werk ein Ende zu komponieren, ist eine ganz andere. In einer immer offeneren audiovisuellen Welt wird es für die Oper keine Götterdämmerung geben, wie es die New York Times krisenhaft insinuiert. Die Veränderungen, die der Oper als Form durch chinesische und europäische Komponisten und Musiker ‚angetan‘ werden, fördern zwar einerseits einen Prozess der Defamiliarisierung derselben; dieser jedoch spielt andererseits eine wichtige Rolle am globalen Markt, „where newness frequently enters as a precious commodity“.81 Die Herausforderung, die die chinesische Oper Wagner und Wagner der chinesischen Oper stellt, wird in Arnoud Noordegraaf’s Oper As Big as the Sky verarbeitet, die eine chinesische Sopranistin, einen finnischen Bariton, chinesische Instrumente wie sheng und Schlagwerk sowie Soundtracks und Videoprojektionen zusammenbringt. Hier treffen chinesische Oper und Zitate aus Wagner-Opern direkt aufeinander, prallen aneinander ab, verschmelzen und werden zu einem neuen Ganzen.82 Der nationalistische Kosmopolitanismus, den die Tradierung von Wagners Werk einst mit sich brachte (mit Wagner Societies auf der ganzen Welt schon zu seinen Lebzeiten), macht nun einem postnationalistischen Transkulturalismus Platz, in dem die europäische und die chinesische Oper nicht mehr als klar voneinander abtrennbare, national zu verordnende sound bites erscheinen. Stattdessen werden sie zu ‚Global-Resonanzen‘, zu Mit- und Wi(e)derklängen, die in Asien und Europa gleichermaßen mit Leichtigkeit und mitreißender Kompetenz betrieben werden.

81 EBD., S. 168. 82 Vgl. [noordegraf1] und [noordegraf2].

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L it e r a t u r BERLIOZ, HECTOR, Musikalische Sitten der Chinesen, in: Literarische Werke. Musikalische Streifzüge, Studien, Vergötterungen, Ausfälle und Kritiken, Bd. 6, Leipzig 1912, S. 225-230. BICKERS, ROBERT, The Greatest Cultural Asset East of Suez. The History and Politics of the Shanghai Municipal Orchestra and Public Band, 1881-1946, in: Ershi shiji de Zhongguo yu shijie (China and the World in the Twentieth Century), Bd. 2, hg. von CHI-HSIUNG CHANG, Taibei 2001, S. 835-875. BRECHT, BERTOLT, Bemerkungen über die chinesische Schauspielkunst, in: Werke, Bd. 22.2, hg. von WERNER HECHT u. a., Berlin 1993 [1935], S. 151-155. DERS., The Fourth Wall of China. An Essay on the Effect of Disillusion in Chinese Theatre, in: Life and Letters To-Day 6 (1936), S. 116123. DACHS, Digital Archive for Chinese Studies, http://www.zo.uni-heidelb erg.de/boa/digital_resources/dachs/, 02.07.2014. HUANG, ALEXANDER C. Y., Chinese Shakespeares. Two Centuries of Cultural Exchange, New York 2009. HUANG, CHUN-ZEN, Traveling Opera Troupes in Shanghai, 1842-1949, Dissertation The Catholic University of America 1997. LALOY, LOUIS, La musique chinoise, Paris 1910. LI, JIEFEI, Theater im internationalen Kontext. Ein Vergleich zwischen dem aristotelischen, dem Stanislawki’schen, dem Brecht’schen epischen Theater und dem traditionellen chinesischen Theater, Dissertation Universität Wien 2009. LIU, XUEFENG, Zhongguo de Wagner Zhiwuo Haiyou Duoyuan? „Zhihuan“ Reyan Shanghai Zhihou Duanxiang, in: Geju 11 (2010), S. 69. MELVIN, SHEILA/CAI, JINDONG, Rhapsody in Red. How Western Classical Music Became Chinese, New York 2004. MITTLER, BARBARA, A Continuous Revolution. Making Sense of Cultural Revolution Culture, Cambridge 2012. DIES., Imagined Communities Divided. Reading Visual Regimes in Shanghai’s Newspaper Advertising (1860s-1910s), in: Visualizing

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China. Moving and Still Images in Historical Narratives, hg. von CHRISTIAN HENRIOT/YEH WEN-HSIN, Leiden 2013, S. 267-377. MORAVCSIK, C. ANDREW, Go East, Young Diva, in: New York Times, (02.12.2010), o. S. N. N., o. T., in: North China Daily News (14.02.1881), o. S. N. N., o. T., in: North China Herald (10.06.1908), S. 779-780. N. N., 歌 劇 改 良 百 話 , in: Shenbao (18.04.1914), o. S. N. N., 泰 西 歌 劇 談 , in: Shenbao (10.03.1919), o. S. N. N.,           ! , in: Shenbao (06. 01.1923a), o. S. N. N., "            , in: Shenbao (12.11. 1923b), o. S. N. N., 德國特約通信—德國人之音樂生活(八)德國樂中之歌劇(下), in: Shenbao (10.12.1923c), o. S. N. N., 國內音樂刊物述評, in: Shenbao (11.9.1925), o. S. N. N., o. T., in: Shenbao (21.07.1927), o. S. N. N., 中西女塾音樂會小誌, in: Shenbao (24.06.1930), o. S. N. N., 張彭春從三個觀點談中國戲劇今後努力方向如下阿概念, in: Shenbao (22.02.1935), o. S. N. N., 國際藝劇社將演蔦蘿夢歌劇,附圖片, in: Shenbao (10.12.1936), o. S. SHEN, CINONG, „Nibelungen de Zhihuan“ Shanliang Dengchang, in: Xinmin Wanbao (19.09.2010), o. S. [: »›  ‹

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A U T O R IN N E N

UND

AUTOREN

FILIPPO CARLA ist Dozent für Alte Geschichte an der University of Exeter. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Wirtschaftsund Sozialgeschichte der römischen, und besonders spätantiken, Welt und in der Untersuchung der verschiedenen Formen und Kontexte der Antikenrezeption in der Kunst, in der Literatur, in Themenparks und im politischen Diskurs. Kontakt: [email protected] KYLIE CRANE ist Juniorprofessorin für Anglophonie am Fachbereich Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf postkolonialer Ökokritik und umfasst laufende Projekte zu den Themen Essen, Visualität sowie material cultures. Kontakt: [email protected] ANTJE DRESEN ist Juniorprofessorin für Sportsoziologie am Institut für Sportwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Analysen sozialer Probleme und abweichenden Verhaltens im Sport wie Doping und Medikamentenmissbrauch. Außerdem forscht sie zu Körper- und Selbstkonzepten, insbesondere mit Blick auf Gesundheit, Kinder und Jugendliche. Kontakt: [email protected] JUTTA ERNST ist Professorin für Amerikanistik (American Studies) am Fachbereich Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Ihre Schwerpunkte in Forschung und Lehre liegen in den Bereichen Kanadistik, nordameri367

Transkulturelle Dynamiken

kanische ethnische Kulturen, Modernismus und Postmodernismus sowie Formen der Translation und des Kulturkontakts. Zur Zeit arbeitet sie an einem Forschungsprojekt mit dem Titel „Shifting Grounds. Cultural Tectonics along the Pacific Rim“. Kontakt: [email protected] FLORIAN FREITAG ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Amerikanistik am Fachbereich Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der amerikanischen Populärkultur des 19. und 20. Jahrhunderts. Derzeit befasst er sich vor allem mit Zeitschriften aus dem 19. Jahrhundert und Themenparks. Kontakt: [email protected] BARBARA HORNBERGER arbeitet als Kulturwissenschaftlerin am Institut für Medien, Theater und Populäre Kultur der Universität Hildesheim, wo sie zu Populärer Kultur forscht und lehrt. Ihre Arbeitsfelder sind populäre Musik, Theorie und Praxis der Populären Kultur und die Kulturgeschichte des Populären; ihr aktueller Forschungsschwerpunkt ist die Didaktik des Populären. Kontakt: [email protected] KERSTIN KNOPF ist Käthe-Kluth-Fellow und Lehrbeauftragte an der Universität Greifswald, wo sie nordamerikanische Literatur, Film und Medien unterrichtet. Sie forscht auf den Gebieten Postkoloniale Studien, Black Atlantic-Studien, Frauen- und Geschlechterstudien, indigene Studien und indigener Film, amerikanische und kanadische Literatur der Romantik und amerikanische Gefängnisliteratur. Kontakt: [email protected] BARBARA MITTLER ist Professorin am Institut für Sinologie der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und leitet das aus dem Exzellenzcluster „Asien und Europa im globalen Kontext“ hervorgegangene Heidelberger Centrum für Transkulturelle Studien (HCTS). Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich der chinesischen Kunst und Kultur und der Verquickung dieser mit der Politik. Kontakt: [email protected]

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Autorinnen und Autoren

MARGIT PETERFY ist Akademische Mitarbeiterin am Anglistischen Seminar der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Nach ihrer Dissertation über William Carlos Williams und ihrer Habilitation über die Fireside Poets in kulturästhetischen Kontexten forscht sie gegenwärtig über Medienwechsel und über performative Praktiken in der amerikanischen Kultur. Kontakt: [email protected] CORNELIA SIEBER ist Professorin für Spanische und Portugiesische Kulturwissenschaft unter Berücksichtigung der Lateinamerikanistik am Fachbereich Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte sind Migration, Transkulturalität, Inter- und Transmedialität sowie die Untersuchung des iberischen und iberoamerikanischen Raums aus postkolonialer und genderwissenschaflicher Perspektive. Kontakt: [email protected] GUIDO SPRENGER ist Professor für Ethnologie an der Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg. Seine Forschungsinteressen sind FestlandSüdostasien, insbesondere Laos, Tausch, Identität und transkulturelle Kommunikation, Sozialstruktur, Kosmologie und Ritual sowie Mensch-Umwelt-Beziehungen. Kontakt: [email protected] CHRISTOPH VATTER ist Juniorprofessor für Interkulturelle Kommunikation in der Fachrichtung Romanistik der Universität des Saarlandes und Mitglied des deutsch-kanadischen DFG-Graduiertenkollegs IRTG Diversity. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen interkulturelle Kommunikation und interkulturelles Lernen, französische Kultur- und Medienwissenschaft, Gedächtnis und Erinnerungskultur, frankophones Kanada. Derzeit befasst er sich mit grenzüberschreitender Medienkommunikation und deutsch-französischen Kulturtransfers in der Populärkultur. Kontakt: [email protected]

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Transkulturelle Dynamiken

WALDEMAR ZACHARASIEWICZ ist emeritierter Professor für Amerikanistik an der Universität Wien und Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Zu seinen Forschungsgebieten zählen die Literatur und Kultur des amerikanischen Südens und die kanadische Erzählliteratur, Imagologie sowie Studien über Ethnizität, Migration und den transatlantischen Kulturaustausch. Kontakt: [email protected]

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A B B IL D U N G S V E R Z E IC H N IS

Historische Quellen, literarische Erzählungen, phantasievolle Konstruktionen. Die vielen Leben der Theodora von Byzanz (FILIPPO CARLA) Abbildung 1: James Lafayette, Photographie von Jennie Churchill als Theodora (1897). Abbildung 2: Theodora-Mosaik, Kirche von S. Vitale, Ravenna. Aus The Yorck Project. 10.000 Meisterwerke der Malerei. DVD-ROM, 2002. Unter GNU Free Documentation License. Abbildung 3: Jean-Joseph Benjamin-Constant, L’impératrice Théodora au Colisée (1887). Private Sammlung/Photo © Christie’s Images/ Bridgeman. Abbildung 4: Félix Nadar, Sarah Bernhardt als Theodora (1882). Abbildung 5: Teodora (1972-1973). Bild: F. Carlà. Abbildung 6: Charles Busch als Theodora und Ken Elliott als Justinian, aus „Theodora, She-Bitch of Byzantium“ (1984). Bild: George Dudley. Abbildung 7: Milo Manara, Bolero, Grumo Nevano 1999. Abbildung 8: Milo Manara, Il pittore e la Modella, Mailand 2002.

Transkulturelle Dynamiken im US-amerikanischen Showbusiness des Gilded Age 1870-1900 (MARGIT PETERFY) Abbildung 1: Authors’ Carnival in Chicago (1879). Aus N. N., The Chicago Authors’ Carnival, in: Frank Leslie’s Illustrated Newspaper (10.05.1879), S. 164.

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Transkulturelle Dynamiken

Abbildung 2: Werbeplakate für Evangeline. New York Public Library, Reference Department, Robinson Locke Collection.

Amerikanisierung, Glokalisierung, Branding. EuroDisney, 1992 (FLORIAN FREITAG) Abbildung 1: AMADO, GILLES/MISCHER, DON, R., Grand Opening of EuroDisney (1992). Screenshot: F. Freitag. Abbildung 2a: Parkplan von Disneyland (Kalifornien, 1988). Bild: F. Freitag. Abbildung 2b: Parkplan von EuroDisney (1992). Bild: F. Freitag. Abbildung 3a: Parkplan von Disneyland (Kalifornien, 1988; Ausschnitt). Bild: F. Freitag. Abbildung 3b: Parkplan von EuroDisney (1992; Ausschnitt). Bild: F. Freitag.

Transkulturelle Dynamiken im TV. Theoretische Perspektiven und Anwendungsfelder am Beispiel von Fernsehserien (CHRISTOPH VATTER) Tabelle 1: Perspektiven auf Medienkommunikation unter den Bedingungen der Globalisierung. Aus WESSLER, HARTMUT/AVERBECKLIETZ, STEFANIE, Grenzüberschreitende Medienkommunikation. Konturen eines Forschungsfeldes im Prozess der Konsolidierung, in: Grenzüberschreitende Medienkommunikation, hg. von HARTMUT WESSLER/STEFANIE AVERBECK-LIETZ, Baden-Baden 2012, S. 9.

Bodytalk. Grenzziehungen und Transkulturalität im Sport (ANTJE DRESEN) Abbildung 1: Das gesellschaftliche Subsystem Sport mit ‚hartem Kern‘ und ‚weicher Schale‘. Graphik: A. Dresen. Abbildung 2: Trans-, Inter- und Multikulturalität im Sport. Graphik: A. Dresen.

Transkulturalität und Transdifferenz im indigenen Kino in Australien und Neuseeland (KERSTIN KNOPF) Abbildung 1: WAITITI, TAIKA, R., Boy (2010). Bild © Taika Waititi, Whenua Films und Unison Films. 372

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 2: THORNTON, WARWICK, R., Samson & Delilah (2009). Bild © Warwick Thornton, Scarlett Pictures und Caama Productions.

Wagner Goes East. Transkulturelle Dimensionen einer deutschen Opernlegende (BARBARA MITTLER) Abbildung 1: Chinesische Grammophonwerbung. Aus Xinwenbao (1908; links); Xiju Yuekan (1929; rechts). Abbildung 2: Werbung für Opernaufführungen im Shanghai Lyceum Theatre. Aus North China Herald (September 1888). Abbildung 3: Werbung in Shanghaier Zeitungen zum Erwerb von europäischen Musikinstrumenten. Aus Xinwenbao (22.09.1908; 23.09. 1908). Abbildung 4: Modellopern aus der Kulturrevolution, in denen Techniken aus der Peking-Oper zur Untermauerung politischer Aussagen genutzt werden. Bilder: B. Mittler.

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Mainzer Historische Kulturwissenschaften Alina Bothe, Dominik Schuh (Hg.) Geschlecht in der Geschichte Integriert oder separiert? Gender als historische Forschungskategorie Oktober 2014, 268 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2567-7

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