Theorien des Comics: Ein Reader [1. Aufl.] 9783839411476

Mit der aktuellen Popularität von Comicverfilmungen sind Comics heute in unserer Kultur präsenter als je zuvor. Gleichze

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German Pages 464 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Einführung
I. INTERMEDIALITÄT
Wenn der Blick ins Bild kommt – Visuelle Techniken der Fokalisierung im Literaturcomic
Literaturadaptionen in Walt Disneys Lustigen Taschenbüchern
Tank Girl, Anodder Oddyssey: Joyce lebt (und stirbt) in der Populärkultur
Comic und Architektur – Faszination und Alptraum der vertikalen Stadt
Comics auf Albumcovern: Überlegungen zu einem intermedialen Phänomen
Die Medienästhetik der Webcomics
II. TECHNIKEN DES ERZÄHLENS
Weird Signs
Stream of Comicness – Chris Wares Erzählen in einem Medium zwischen Massentauglichkeit und Exklusivität
Die Semiotik von C.S. Peirce als theoretisches Rahmenwerk für das Verstehen von Comics
Dies ist keine Bildergeschichte – Über Michel Foucault, René Magritte und George Herrimans Krazy Kat-Comics
Von Experten und Expertinnen übersehen: Das künstlerische Potential des Manga aufgezeigt anhand eines close reading von Kiriko Nananan’s Kuchizuke
Wir sind alle Superhelden! Über die Eigenart des Körpers im Comic – und über die Lust an ihm
III. VISUELLE POLITIK UND GEDÄCHTNISKULTUR
Comic Effects: Postkoloniale politische Mythen in The World of Lily Wong
Bilder für die Massen. Die prekäre Beziehung von Comic und Film und die dunkle Romantik des Neoliberalismus im neueren Comic-Kino
Die Tyrannei der Schmelztiegel-Metapher: Wonder Woman als amerikanisierte Immigrantin
Zeit der Revolution – Revolution der Zeit. Figuren der Zeitlichkeit in Marjane Satrapis Persepolis
»Der Jude mit der roten Badehose«. Jüdische Helden, Stereotypen und Antisemitismus im Trickfilm bis 1945
Das Politische trotz allem. Holocaust-Diskurse im Comic
IV. QUEERE SICHTBARKEITEN UND DISSIDENTE PRAKTIKEN
Zurück in die Zukunft mit Dykes To Watch Out For und Hothead Paisan
Queer-feministische Comics. Produktive Interventionen im Kontext der Do-It-Yourself-Kultur
Happy Homos. Über Tom of Finlands schwule Superhelden
Traumboys, Schlächter und Werwölfe. Zur Visualisierung erotischer Identitäten in pornografischen Comic-Strips für homosexuelle Männer
Homophile Heterosexualität oder: Warum lieben heterosexuelle Frauen japanische Mangas mit scheinbar homosexuellen Inhalten?
Zwischen Fantasie und Alltagsleben – Sexualitäten zwischen Frauen/Mädchen im Manga
Quellennachweise
Autor_ innen
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Theorien des Comics: Ein Reader [1. Aufl.]
 9783839411476

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Barbara Eder, Elisabeth Klar, Ramón Reichert (Hg.) Theorien des Comics

Barbara Eder, Elisabeth Klar, Ramón Reichert (Hg.)

Theorien des Comics Ein Reader

Gefördert mit finanziellen Mitteln der Österreichischen HochschülerInnnenschaft

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Barbara Eder Umschlagabbildung: Hernandez, Jaime: Locas. The Maggie and Hopey stories, Seattle/Washington: Fantagraphics Books 2004 Lektorat: Barbara Eder, Elisabeth Klar, Ramón Reichert Korrektorat: Katrin Herbon, Kathrin Hensellek, Frederik Rettberg Satz: Jörg Burkhard, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1147-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einführung | 9

I. I NTERMEDIALITÄT Wenn der Blick ins Bild kommt – Visuelle Techniken der Fokalisierung im Literaturcomic Christine Hermann | 25

Literaturadaptionen in Walt Disneys Lustigen Taschenbüchern Lucia Marjanovic | 43

Tank Girl, Anodder Oddyssey: Joyce lebt (und stirbt) in der Populärkultur Thomas Vogler | 61

Comic und Architektur – Faszination und Alptraum der vertikalen Stadt Johann N. Schmidt | 89

Comics auf Albumcovern: Überlegungen zu einem intermedialen Phänomen Martina Rosenthal | 109

Die Medienästhetik der Webcomics Ramón Reichert | 121

II. T ECHNIKEN DES E RZÄHLENS Weird Signs Ole Frahm | 143

Stream of Comicness – Chris Wares Erzählen in einem Medium zwischen Massentauglichkeit und Exklusivität Felix Strouhal | 161

Die Semiotik von C.S. Peirce als theoretisches Rahmenwerk für das Verstehen von Comics Anne Magnussen | 171

Dies ist keine Bildergeschichte – Über Michel Foucault, René Magritte und George Herrimans Krazy Kat-Comics Jens Balzer | 187

Von Experten und Expertinnen übersehen: Das künstlerische Potential des Manga aufgezeigt anhand eines close reading von Kiriko Nananan’s Kuchizuke Pascal Lefèvre | 203

Wir sind alle Superhelden! Über die Eigenart des Körpers im Comic – und über die Lust an ihm Elisabeth Klar | 219

III. V ISUELLE P OLITIK UND G EDÄCHTNISKULTUR Comic Effects: Postkoloniale politische Mythen in The World of Lily Wong Randy Kluver | 237

Bilder für die Massen. Die prekäre Beziehung von Comic und Film und die dunkle Romantik des Neoliberalismus im neueren Comic-Kino Georg Seeßlen | 255

Die Tyrannei der Schmelztiegel-Metapher: Wonder Woman als amerikanisierte Immigrantin Matthew J. Smith | 263

Zeit der Revolution – Revolution der Zeit. Figuren der Zeitlichkeit in Marjane Satrapis Persepolis Barbara Eder | 283

»Der Jude mit der roten Badehose«. Jüdische Helden, Stereotypen und Antisemitismus im Trickfilm bis 1945 Florian Schmidlechner | 303

Das Politische trotz allem. Holocaust-Diskurse im Comic Susanne Lummerding | 321

IV. Q UEERE S ICHTBARKEITEN UND DISSIDENTE P RAK TIKEN Zurück in die Zukunft mit Dykes To Watch Out For und Hothead Paisan Kathleen Martindale | 341

Queer-feministische Comics. Produktive Interventionen im Kontext der Do-It-Yourself-Kultur Rosa Reitsamer und Elke Zobl | 365

Happy Homos. Über Tom of Finlands schwule Superhelden Peter Rehberg | 383

Traumboys, Schlächter und Werwölfe. Zur Visualisierung erotischer Identitäten in pornografischen Comic-Strips für homosexuelle Männer Gilad Padva | 401

Homophile Heterosexualität oder: Warum lieben heterosexuelle Frauen japanische Mangas mit scheinbar homosexuellen Inhalten? Mark McLelland | 419

Zwischen Fantasie und Alltagsleben – Sexualitäten zwischen Frauen/Mädchen im Manga Verena Maser | 435

Quellennachweise | 453 Autor_ innen | 455

Einführung

Comic-Wissenschaft existiert nicht – so beginnt der Comic-Theoretiker Ole Frahm seinen Artikel Weird Signs. Mit dieser Polemik provozierte er bereits im Sammelband Comics & Culture (vgl. Magnussen/Christiansen 2000) und später in seiner 2010 erschienenen Monografie Die Sprache des Comics1 (vgl. Frahm 2010). In den letzten Jahrzehnten sind dennoch in unterschiedlichsten Ländern und Sprachen unzählige Anthologien, Monografien und wissenschaftliche Abschlussarbeiten zum Thema entstanden, einschlägige Konferenzen veranstaltet und wissenschaftliche Zeitschriften herausgebracht worden, die Ole Frahms Aussage zu widersprechen scheinen: Der_die Comic-Interessierte mag auf den ersten Blick möglicherweise sogar überfordert von der Menge an Titeln sein, die Informationen und Reflexionen über das Medium versprechen. In diesem Zusammenhang ist vor allem die im Jahr 2000 von Anne Magnussen und HansChristian Christiansen herausgegebene Anthologie Comics & Culture zu erwähnen, die interdisziplinäre Zugänge forciert und theoretisch anspruchsvolle und aktuell gebliebene Artikel vereinigt (vgl. Magnussen/Christiansen 2000). Die Anthologie Ästhetik des Comic, herausgegeben 2002 von Michael Hein, Michael Hüners und Torsten Michaelsen (vgl. Hein/Hüners/Michaelsen 2002), konzentriert sich auf die ästhetischen Aspekte des Mediums, Jan Baetens thematisiert 2001 mit The Graphic Novel die mediale Repräsentation von Gewalt und Trauma unter besonderer Berücksichtigung des Holocausts im Comic (vgl. Baetens 2001) und der Sammelband Comics and Ideology, 2006 herausgegeben von Matthew McAllister, Edward H. Sewell jr. und Ian Gordon, rückt die ideologischen Implikationen von populärkulturellen Comicdarstellungen in den Fokus der Aufmerksamkeit (vgl. McAllister/Sewell/Gordon 2006). Abseits der Vielzahl an akademischen Zugängen sprechen ebenso ComicKünstler_innen verstärkt über das Medium. Diesbezüglich ist vor allem Will Eisners Comics & Sequential Art (vgl. Eisner 2006), Scott McClouds Understanding Comics (vgl. McCloud 1994a), Jochen Gerners Contre la bande dessinée (vgl. Gerner 2008) und Benoît Peeters' Case, Planche, Récit (vgl. Peeters 1998) zu erwähnen. Der Comic-Forscher Andreas Knigge ist unter anderem für seine Monografien Comics – Vom Massenblatt ins multimediale Abenteuer und 50 Klas-

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siker-Comics bekannt (vgl. Knigge 1996; 2004). Von den zahllosen Artikeln und Büchern von Thierry Groensteen zum Thema Comics seien stellvertretend La bande dessinée – Mode d’emploi und sein neuestes Buch Parodies – La bande dessinée au second degré erwähnt (vgl. Groensteen 2008; 2010). Pionierarbeit im Bereich der Mangaforschung leistete Frederik Schodt mit Manga! Manga! und Dreamland Japan (vgl. Schodt 1983; 1996), Thierry Groensteen publizierte 1991 L’Univers des Mangas (vgl. Groensteen 1991) und Jaqueline Berndt veröffentlichte 1995 das Buch Phänomen Manga (vgl. Berndt 1995). Einen großen Einfluss im Bereich der Forschungsarbeiten zu Manga hatte ebenso Sharon Kinsella mit Adult Manga (vgl. Kinsella 2000). Diese Literaturhinweise sind natürlich nur stellvertretend ausgewählt und erheben – gerade was die Mangaforschung betrifft – keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Die unvermeidlichen Lücken der Auflistung verweisen darauf, dass die angeblich nicht existente Comic- wie auch die Mangawissenschaft in einem Ausmaß vorhanden ist, das einen klaren Überblick inmitten einer neuen Unübersichtlichkeit zu erschweren scheint. Unübersichtlich ist die Comicforschung nicht allein aufgrund der Quanität an bisher vorhandenem Material; die wissenschaftliche Rezeption von Comics hat sich in unterschiedlichen Ländern ungleichzeitig entwickelt. Infolgedessen existieren in der Forschung noch nationale Barrieren, während das Medium Comic längst zu einem inter- und transkulturellen Phänomen geworden ist. Es ist möglicherweise aufgefallen, dass in unserer Auflistung nur Titel in drei europäischen Sprachen – Englisch, Deutsch und Französisch – erwähnt worden sind. Diese Selektion ist jedoch weniger das Ergebnis einer strategischen Entscheidung denn vielmehr durch Sprachbarrieren seitens der Herausgeber_innen bedingt. Es bleibt noch viel Übersetzungsarbeit zu leisten. Wenn beispielsweise viele japanische Manga durch inoffizielle Übersetzungen im Web ins Englische übertragen werden, dann sind die Fans, die diese Arbeit leisten, der Scientific Community zweifelsohne ein Stück weit voraus. Die Hybridität der Kunstform Comic spiegelt sich in den gewählten Zugangsweisen wider: Interdisziplinarität scheint eine der Stärken der gegenwärtigen akademischen Comicforschung zu sein. So unterschiedliche Wissenschaftsdisziplinen wie Komparatistik, Medienwissenschaft, Soziologie, Cultural Studies, Gender Studies oder Queer Studies, Geschichte, Romanistik, Skandinavistik, Anglistik oder Japanologie beschäftigen sich mit dem Medium. Die unterschiedlichen disziplinären Hintergründe der Forscher_innen bedingen die Vielfalt an akademischen Ansätzen: Jede Disziplin stellt ihre eigenen Fragen an den Comic und vermag so die blinden Flecken anderer Disziplinen auszugleichen. Wenn die Vernetzung fehlt, kann die Ressource der Interdisziplinarität jedoch nur bedingt genützt werden. Bisher gibt es keine länderübergreifend organisierte Institution, die die national unterschiedlichen Ergebnisse des akademischen Diskurses über den Comic systematisch sammelt, ordnet, übersetzt und öffentlich zugänglich macht. Comic-Forschung ist ein prekäres Unternehmen,

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das stattdessen auf unterschiedliche Länder und Institute aufgesplittert bleibt. Zumeist kann man themenrelevante Publikationen aus unterschiedlichsten Publikationskontexten – Ausstellungskataloge und Literaturzeitschriften ebenso wie einschlägige Anthologien (vgl. Balzer 1998; Balzer 1999; Ito 2007) – nur in privaten Bibliotheken finden. Man mag darüber streiten, ob eine zentralisierende Institution wünschenswert oder notwendig wäre oder mehr Nachteile als Vorteile mit sich bringen würde. In Bibliotheken nach verborgenen Schätzen zu suchen, hat ohne Zweifel auch seine Reize und die Sammelkultur hat unter Comic-Fans eine lange Tradition. In jedem Fall ist es jedoch unumgänglich, dass die unterschiedlichen Institutionen und Forscher_innen miteinander in einen intensiven Dialog treten, der neben sprachlich bedingten auch kulturell determinierte Grenzen überschreitet. Ein wichtiger Schritt dazu wurde 2010 mit der interdisziplinären und internationalen Comics/Manga-Konferenz »Intercultural Crossovers, Transcultural Flows« in Köln getan.2 Wenn nicht darüber hinausgegangen wird, im Sinne eines »Comic plus« die eigenen Methoden auf den Comic zu übertragen, und Forscher_innen aus allen Ecken der Welt und allen Fachrichtungen nicht zumindest temporär eine gemeinsame Sprache finden, um sich über Comics/Manga/Bandes dessinées etc. verständigen zu können, kann die ständige Neuerfindung des wissenschaftlichen Comic-Rades wohl auch im Internet-Zeitalter nicht verhindert werden. Der folgende Sammelband verfolgt keineswegs die Absicht, die Bereiche einer nicht existenten Wissenschaft festzulegen, und möchte auch keine Chronologie oder einen Kanon aufstellen. Die Einteilung in die vier Abschnitte Intermedialität, Techniken des Erzählens, Visuelle Politik und Gedächtniskultur und Queere Sichtbarkeiten und dissidente Praktiken soll stattdessen bewusst machen, dass es unterschiedliche Perspektivierungen des Comics gibt, die miteinander in Dialog treten können, ohne zu einem diffusen Schmelztiegel amalgamiert werden zu müssen. Die Auswahl der Beiträge war von dem Bemühen begleitet, heterogene Zugänge zum Comic zu präsentieren und gleichzeitig den Zusammenhalt und die wechselseitigen Verbindungen nicht aus den Augen zu verlieren. Diese Parallelisierung soll die Durchlässigkeit von Grenzziehungen ebenso gewährleisten wie sie auch jenen Leser_innen eine Orientierung ermöglichen kann, die sich zum ersten Mal auf wissenschaftlichem Weg mit Comics auseinandersetzen. Wir haben uns dafür entschieden, sowohl neue Beiträge aufzunehmen als auch bereits publizierte Artikel erneut abzudrucken. Durch den Mix aus neuen Fragestellungen und der gleichzeitigen Rückkehr zu bestimmten – aus unterschiedlichsten Gründen aktuell gebliebenen – Texten soll ein bereichernder Polylog entstehen. Damit verbunden war eine internationale Ausrichtung des Sammelbandes, welche die Übertragung wichtiger Artikel ins Deutsche nach sich zog. Wir hoffen, damit einen kleinen Beitrag zur internationalen Vernetzung der Comic-Forschung und der Überwindung der nationalen sowie der sprachlichen Barrieren leisten zu können.

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Wenn sich die ersten zwei Abschnitte Intermedialität und Techniken des Erzählens mehr auf die ästhetischen Aspekte des Comics sowie dessen Beziehung zu anderen Kunstformen konzentrieren und die Abschnitte Visuelle Politik und Gedächtniskultur sowie Queere Sichtbarkeiten und dissidente Praktiken den Comic eher in gesellschaftspolitischer Hinsicht analysieren, so geht aus der Auswahl der Artikel dennoch hervor, wie eng die unterschiedlichen Bereiche miteinander verschränkt sind. Ästhetik und Erzählformen sind einerseits von der kulturellen Positionierung der Kunstform abhängig und die Beziehung zwischen Medien und Kunstformen ist immer auch eine des kulturellen und ökonomischen Kapitals. Geht man folglich davon aus, dass eine mediale Form immer auch Ausdruck der ihr zugrunde liegenden Produktionsverhältnisse ist, dann kann die kulturelle Funktion eines Comics nur zureichend analysiert werden, wenn ebenso seine Sprache und seine Ästhetik befragt wird. Die Intermedialität des Comics, um die es uns im ersten Abschnitt von Theorien des Comic gehen wird, konstituiert insofern ein vielschichtiges Thema, als der Comic selbst als hybrides Medium gilt – oder gar nur als Kunstform bezeichnet wird, dem der Status eines eigenständigen Mediums nicht zugebilligt wird. Literaturadaptionen wie etwa die Classics Illustrated dienten vorerst dazu, die sogenannten Schmutz- und Schundhefte symbolisch aufzuwerten (vgl. Jones 2002). Obgleich sie längst nicht mehr aus einem bloßen Legitimationszwang heraus entstehen, sondern in ein wesentlich komplexeres Verhältnis zum Ausgangstext treten, sind Bearbeitungen von literarischen Werken in Comics noch heute häufig. Der Film als ebenfalls stark visuell geprägtes Medium übernimmt gerade in den letzten Jahren immer wieder Motive und Geschichten aus Comics. Das vermeintliche Verwandtschaftsverhältnis zwischen Comic und Film wurde dennoch vielfach in Frage gestellt. Künstler_innen wie zum Beispiel Alan Moore, der absichtlich nicht oder nur schwer verfilmbare Comics wie Promethea oder Watchmen kreiert hat (vgl. Moore 2000; 1999-2005), gelten als Kritiker_innen dieser Annahme. Die Intermedialität des Comics steht einerseits im Zeichen des Versuchs, symbolisches Kapital von anderen Kunstformen zum Zweck der Aufwertung des Mediums zu annektieren, andererseits ist diese bedingt durch die Notwendigkeit, Differenz zu anderen Kunstformen und Medien zu markieren. Nicht zuletzt ist die Frage der Intermedialität auch immer eine der Publikationsbedingungen, der Frage, welchen Trägermediums sich der jeweilige Comic bedient. Anfang des 20. Jahrhunderts sind Comics in Europa und US-Amerika vorwiegend in Tageszeitungen zwischen den aktuellen Nachrichten erschienen. Ebenso sind diese später in Heft- und Buchform publiziert worden sowie auf Musikalben-Covern. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts erscheinen immer mehr Comics im Internet. Die Rahmenbedingungen der Publikation könnten nicht unterschiedlicher sein und wirken auf die Ästhetik der Werke zurück. Die Bei-

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träge in diesem Abschnitt beschäftigen sich mit Fragestellungen zur Intermedialität auch abseits von Konkurrenz und Legitimation. Christine Hermann beschäftigt sich in Wenn der Blick ins Bild kommt – Visuelle Techniken der Fokalisierung im Literaturcomic mit dem niederländischen Comic De avonden: Een beeldverhaal von Dick Matena, der Comic-Version des Romans De avonden. Een winterverhaal von Gerard Reve. Diese Adaption zeichnet sich dadurch aus, den Roman ungekürzt als Text in den Comic zu integrieren. Christine Hermann stellt sich die Frage, welchen Mehrwert eine solche Adaptation hat, ob der Comic mehr oder etwas anderes als der Roman erzählt. Im Mittelpunkt der Analyse stehen die im Literaturcomic angewandten visuellen Techniken der Fokalisation. Lucia Marjanovic gibt in Literaturadaptionen in Walt Disneys Lustigen Taschenbüchern einen Überblick über die Literaturadaptationen in 200 von Walt Disney herausgegebenen Lustigen Taschenbüchern. Sie analysiert den Kontext durch Rückgriff auf literarische Vorlagen wie auch durch Bezugnahme auf die Transformationen, die der Ausgangstext ebenso wie das Entenhausener Universum dadurch erfahren. Besonders einflussreich ist in diesem Fall der Comics-Code des Disney-Universums, der über die Anforderungen der Comics Code Authority hinausgeht und nach einem spezifischen Umgang mit den Vorlagen verlangte. Ursprünglich von Legitimationsbedürfnissen und pädagogischen Motiven geprägt, ermöglicht die Adaptation in weiterer Folge durchaus eine kreative und parodistische Wiederaufnahme sowie interessante Neuinterpretationen. Thomas Vogler analysiert in Tank Girl, Anodder Odyssey: Joyce lebt (und stirbt) in der Populärkultur auf der einen Seite die konfliktreiche Beziehung zwischen der Comic-Serie Tank Girl und ihrer Kommerzialisierung und Verfilmung, auf der anderen Seite die Bezugnahme von Tank Girl: The Odyssey auf Joyces Ulysses und Homers Odyssee. Wenn Ulysses bereits eine Gegen-Erzählung ist, wird Tank Girl: The Odyssey zur Gegen-Erzählung der Gegen-Erzählung, die sich wiederum gegen die Rekuperations-Versuche durch die offizielle Kultur zu wehren hat. Michail Bakhtin dient als theoretischer Rahmengeber für diese scharfe und spannende Analyse. In Comic und Architektur – Faszination und Alptraum der vertikalen Stadt zeichnet Johann N. Schmidt eine vollkommen andere Verbindung zwischen Kunstformen nach, die allerdings ebenso aktuell ist. Architektur spielt in Comics eine bedeutende Rolle, ist der Handlungsraum für die Akteur_innen und bietet diesen zugleich Raum. Die Stadtschluchten, die Geografie von Gotham City – all das ist nicht nur Panel-Hintergrund, sondern Teil der Welt der jeweiligen Geschichte und damit auch ihrer Gesetzmäßigkeiten. Auf der anderen Seite, so zeigt uns Johann N. Schmidt, reflektiert der Comic – wie zum Beispiel in der Serie Les cités obscures von Benôit Peeters und François Schuiten – über zeitgenössische wie auch über utopische Architektur und lässt uns die Doppelgesichtigkeit der vertikalen Turmstadt erkennen, ihr Faszinosum und ihren

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Schrecken. Martina Rosenthal zeigt in Comics auf Alben-Covern: Überlegungen zu einem intermedialen Phänomen, dass intermediale Bezugnahme auch die Zusammenarbeit von Subkulturen bedeuten kann – ein wechselseitiger Dialog, der unter anderem durch die persönlichen Beziehungen der jeweiligen Künstler_innen bestimmt ist. Die Veränderung der Publikations- und Arbeitsbedingungen, die sich infolge der intermedialen Zusammenarbeit ergibt, wirkt auch auf die Gestaltung der Comics zurück und führt zur Revision gängiger Annahmen und Definitionen des Mediums. Ramón Reichert analysiert in Die Medienästhetik der Webcomics das stetig an Relevanz gewinnende Phänomen der im Internet publizierten Comics. Dabei unterscheidet er zwischen Webcomics, die in ihren Darstellungsformen den Traditionslinien des Druckmediums folgen, multimedialen und interaktiven Comics, kollaborativ verfertigten Comics und medienreflexiven Webcomics, in denen die hinter grafischen Benutzeroberflächen versteckten Programmcodes explizit sichtbar gemacht und als künstlerisches Gestaltungsmaterial für performative Prozesse verwendet werden. Die Rolle der Leser_innen reicht dabei von reinen Point-und-Click-Aktivitäten bis zur bewussten Mitarbeit und Mitgestaltung der Geschichten und zeigt damit auch die asymmetrischen Machtverhältnisse der Kommunikation im Medium Webcomic auf. Der Abschnitt Techniken des Erzählens konzentriert sich auf die ästhetischen Aspekte des Comics. Wie bereits angedeutet worden ist, ist nicht nur die ComicForschung an der Erforschung von Erzählformen interessiert, sondern auch die Comic-Künstler_innen selbst. Zwei der bekanntesten einschlägigen Werke, Understanding Comics von Scott McCloud und Comics & Sequential Art von Will Eisner, sind von Comic-Künstlern geschrieben worden. Der Diskurs zu den ästhetischen und narrativen Möglichkeiten des Comics dient nicht zuletzt dazu, dieselben erst zu entwickeln: Dadurch entsteht ein Zielpublikum, das Vergnügen an formal anspruchsvollen Comics hat. Das Entstehen dieser neuen Leser_innenschaft zeigt sich insbesondere an Projekten wie Oubapo (Ouvroir de la bande dessinée potentielle), einem an der literarischen Avantgarde-Bewegung Oulipo (Ouvroir de la littérature potentielle) ausgerichteten Projekt des Verlags Association (vgl. Oubapo 2000). Der Diskurs um Comic-Ästhetik ist ebenso wie der Diskurs um seine Intermedialität im Lichte des gesellschaftlichen Ansehens zu betrachten, das der Comic genießt. Diesen als Kunstform zu etablieren, setzt die Abgrenzung gegenüber anderen Kunstformen voraus und dient auch dazu, eine Leser_innenschaft für formal experimentellere Werke anzusprechen. Während das Sprechen über das Erzählen im Comic denselben erst als Kunstform kreiert, stellt sich gleichzeitig die Frage, was wir über Comics aussagen können, wenn wir noch nie zuvor darüber reflektiert haben, wie wir zu unserem eigentlichen Leseeindruck kommen. Von der Idee ausgehend, dass der Comic international für jede_n verständlich ist, ist die Versuchung groß, ihn auf jene Botschaften zu reduzieren, die tatsächlich für beinahe jede_n ver-

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ständlich sind. Wenn in der deutschen Ausgabe von McClouds Bestseller vom »richtigen« Lesen des Comics die Rede ist (vgl. McCloud 1994b), sollte dennoch rückgefragt werden, warum wir etwas wie lesen und wo wir uns möglicherweise verlesen haben könnten. Dass Comic-Zeichen wesentlich vieldeutiger und problematischer sind als auf den ersten Blick ersichtlich, sollen die Beiträge in Techniken des Erzählens aufzeigen. Letztlich sind die inhaltlichen oder politischen Aspekte des Comics nie von seinen formalen Aspekten zu trennen. Aussagen über die (politische) Botschaft derselben, die ohne Rekurs auf die Techniken der Vermittlung dieser Aussagen auskommen, mögen immer problematisch und damit anfechtbar bleiben. Ole Frahms Artikel Weird Signs steht am Anfang des Abschnitts über das Erzählen im Comic und eröffnet gewissermaßen die weird science, der wir uns in diesem Sammelband verschrieben haben. Der Text ist in seiner Kritik an Scott McCloud und seiner präzisen Aufschlüsselung der parodistischen Ästhetik des Comics ein Grundlagentext, der ein neues Verstehen und Lesen des Mediums über den Begriff der strukturellen Parodie ermöglicht. Felix Strouhal zeigt in Stream of Comicness – Chris Wares Erzählen in einem Medium zwischen Massentauglichkeit und Exklusivität anhand des akademisch stark rezipierten Avantgarde-Comics Jimmy Corrigan – The Smartest Kid on Earth von Chris Ware, wie schnell die Allgemeinverständlichkeit des Comics an Grenzen stoßen kann. Chris Ware gehört zu jenen Autor_innen, die am Meta-Diskurs über die Ästhetik des Comics selbst teilhaben. Felix Strouhal analysiert, wie Ware mit seinem eigenen künstlerischen Schaffen eine Position innerhalb der Geschichte eines Mediums markiert, das gerade in seiner Ästhetik im Spannungsfeld zwischen Massentauglichkeit und dem Wunsch nach künstlerischer Anerkennung steht. Anne Magnussens Artikel Die Semiotik von C.S. Peirce als theoretisches Rahmenwerk für das Verstehen von Comics bietet in seiner Diskussion um die Narrativität einen Überblick über unterschiedliche Definitionen des Comics sowie die Vorteile und Nachteile dieser Definitionen, und zeigt ihre Kontext-Abhängigkeit sowie ihr Provisorum auf. Die semiotische Neuinterpretation des ComicZeichens anhand der Triade von C.S. Peirce, die der Bild-Text-Dichotomie entkommt und die Hybridität des Mediums bis ins einzelne Zeichen fortschreibt, macht Anne Magnussens Artikel ebenfalls zu einem Grundlagentext. Jens Balzer beschäftigt sich in Dies ist keine Bildergeschichte – Über Michel Foucault, René Magritte und George Herrimans Krazy Kat-Comics mit der BildText-Verbindung im Medium Comic. Ausgehend vom Begriff der ästhetischen Modernität im Anschluss an Michel Foucault und Gilles Deleuze zeigt Balzer, wie auf der einen Seite Kandinsky, Klee und Magritte die Identität der Signifikant-Signifikat-Relation der klassischen Ästhetik aufbrechen und wie dies auf der anderen Seite der Comic Krazy Kat von George Herriman tut. Der Comic ist für Jens Balzer eine Kunstform, in der die Relation zwischen Referent und

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Zeichen unbequem wird: Das Scheitern der Repräsentation führt zugleich zur Dezentrierung von Subjekt und Semiologie. Pascal Lefèvre analysiert in Von Experten und Expertinnen übersehen – Das künstlerische Potential des Manga aufgezeigt anhand eines Close Reading von Kiriko Nananan’s Kuchizuke den formal auffälligen Manga Kuchizuke von Kiriko Nananan. Er beschreibt wie es dem Comic gelingt, trotz der Vermittlung von extrem wenig Information eine Wirkung bei dem_r Rezipient_in zu erzielen. Sein close reading demonstriert, wie über eine genaue Analyse des Zusammenspiels aller Comic-Zeichen das Lesen und die Interpretation von Kuchizuke präzisiert und bereichert werden kann. Elisabeth Klar beschäftigt sich in Wir sind alle Superhelden! Über die Eigenart des Körpers im Comic – und über die Lust an ihm die über- und außernatürlichen Eigenarten des Körpers im Comic, der anderen Regeln gehorcht als in der Literatur oder im Film. Ausgehend von Ole Frahms Begriff der parodistischen Ästhetik im Comic und Judith Butler’s gender parody zeigt sie, wie der Comic-Körper auf dem Raum der Seite als über eine eigene Existenz und Materialität verfügend betrachtet werden kann und seine Identität im Wechselspiel zwischen Reiteration und Variation in jedem Panel neu kreiert. Lange Zeit wurden Comics als Unterhaltungsformate angesehen und konnten dementsprechend als minderwertiges Vehikel der Populärkultur abgetan werden. Als jedoch im Jahr 1992 Art Spiegelmans Graphic Novel Maus. A Survivor’s Tale mit dem renommierten Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde, hielt man den Comic auch in der breiten Öffentlichkeit als geeignetes Format zur Überlieferung von Erinnerungsgeschichte und politischer Bildung. Diese neue Bewertung hat die historische Verwurzelung der Comics in der medialen Formatierung von gesellschaftlichen Deutungsmustern, Erinnerungskonstruktionen und Geschichtspolitiken in den Hintergrund gedrängt. Das Kapitel Visuelle Politik und Gedächtniskultur versucht, die konstruktive Eigenleistung der Comic Culture für die Etablierung einer politischen Bildproduktion zu rekonstruieren. In diesem Zusammenhang wird einerseits die historische Dimension der Comics als immaterielle Waffe in den politischen Diskursen untersucht, andererseits wird der durch diese in Gang gebrachte Konstruktionsprozess von Geschichtsbildern mit einer Auswahl richtungsweisender Texte zur Diskussion gestellt. Seit ihren Anfängen haben Comics in der Vermittlung politischer Information eine wesentliche Rolle gespielt. Bildergeschichten wurden in vielfältiger Weise zur Veranschaulichung komplexer Inhalte eingesetzt und sollten abstrakte Ideen verlebendigen. Seit ihrer modernen Konzeption als Graphic Novel haben politische Comics ihre Abgrenzung zum Abbildbarkeitsglauben hervorgehoben und in unterschiedlichen Zusammenhängen auf ihren subjektiv ausgerichteten Wahrnehmungsraum verwiesen. Vor diesem Hintergrund versteht sich das Genre der politischen Graphic Novel nicht als ein direkter Spiegel von Wirklichkeit, sondern versucht demgegenüber eine kritisch-reflektierende Dis-

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tanz zum Dargestellten aufzubauen. Mit der breiten Anerkennung der autobiografischen Graphic Novel als erinnerungskulturelles Erzählformat hat sich auch die Macht der medialen Bilderproduktion verschoben und Comics treten heute mit dem Anspruch an, nicht nur hegemoniale Geschichtsnarrative und politischen Mainstream neu zu verhandeln, sondern auch ihren politischen Möglichkeitssinn zu hinterfragen und dementsprechende gedächtniskulturelle Bedingungen zu markieren. Randy Kluvier beschäftigt sich in dem von Ulrike Keller übersetzten Aufsatz Comic Effects: Postkoloniale politische Mythen in The World of Lily Wong mit dem legendären Hong Kong Comic The World of Lily Wong, das über mehrere Jahre hinweg ein beliebtes Feature von Hong Kong’s führender englischsprachiger Zeitung, der South China Morning Post, war. In seiner Analyse unterstreicht er den populärkulturellen Stellenwert des Comic-Strips für die Herausbildung einer formatspezifischen politischen Kommunikation. Lily Wong galt als eines der einflussreichsten Medien der politischen Meinungsbildung und karikierte regelmäßig sowohl britische als auch chinesische Beamt_innen. In ihrer Funktion als sublimierte und sublimierende Comic-Story eroberte sich Lily Wong mehr Freiraum als andere Medien und konnte daher die sozialen und politischen Normerwartungen einer historisch gegebenen Massenkultur mit den Stilmitteln visueller Ironie expliziter benennen und reflektieren. Georg Seeßlen widmet sich in seinem Essay Bilder für die Massen. Die prekäre Beziehung von Comic und Film und die dunkle Romantik des Neoliberalismus im neueren Comic-Kino den medialen Transformationen von Bilderzählungen an der Schnittstelle von Comic, Film und Computerspiel. In diesem Zusammenhang geht er von der Kernthese aus, dass Comics in ihrer historischen Tradierung immer auch als visuelle Dispositive kollektiver Identitäts- und Konsensbildung fungiert haben. Vor diesem Hintergrund versteht er Comics als ein Zusammenspiel eines heterogenen Medienverbunds, der darauf abzielt, einen kollektiv verbindlichen Wahrnehmungsraum zu generieren, um eine bestimmte hegemoniale Diskursformation wie etwa die neoliberale Gouvernementalität durchzusetzen. Matthew J. Smith untersucht in dem von Ulrike Keller übersetzten Aufsatz Die Tyrannei der Schmelztiegel-Metapher: Wonder Woman als amerikanisierte Immigrantin die Repräsentations- und Identitätspolitik der ersten Comic-Superheldin der US-amerikanischen Populärkultur. In seiner intensiven Auseinandersetzung mit den Gründungsmythologien der liberaldemokratischen Gesellschaftsordnung, für welche die USA die Leadership-Rolle beansprucht, untersucht er den gedächtniskulturellen Stellenwert der Pop-Ikone Wonder Woman, die einerseits das Ringen um den Erhalt ihrer eigenen ethnischen Identität kommuniziert und andererseits für die gleichzeitige Anpassung an das Leben in einer neuen Kultur einsteht. Seiner Ansicht nach leisten Comics wie Wonder Woman die Förderung konservativer Werte und legitimieren somit spezifische Erwartungshaltungen des Mainstreams gegenüber dem Rollenverhalten von Migrant_innen.

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Vor dem Hintergrund der breiten Rezeption von Art Spiegelmans Graphic Novel Maus haben seit den 1990er Jahren autobiografische Graphic Novels einen virtuellen Gedenkort in kollektiven Erinnerungs- und Aushandlungsprozessen einnehmen können. Persepolis ist der Titel einer der ersten Comic-Veröffentlichungen von Migrant_innen aus nicht-europäischen Herkunftsländern. Die Autorin dieser autobiografischen Graphic Novel ist Marjane Satrapi, die ihr subjektives Erleben von Zeitgeschichte in der Zeit vor und nach der Islamischen Revolution 1978/79 sowie der Zeit als Migrantin im Wien der 1980er Jahre ansiedelt. Barbara Eder untersucht in Zeit der Revolution – Revolution der Zeit. Figuren der Zeitlichkeit in Marjane Satrapis Persepolis die politischen Implikationen der sprachlichen und bildlichen Erinnerungsspuren der Autorin und versucht dabei, die im Comic neu vermessenen Erinnerungsorte auf hegemoniale Geschichtsmodelle des frühen 20. und späten 19. Jahrhunderts zu beziehen. Obwohl jüdische Stereotype durch Trickfilmserien wie Die Simpsons oder South Park in der jüngsten Gegenwart wieder aufgegriffen und popularisiert wurden, sind sie in der Geschichtsschreibung des Trickfilms bisher wenig erforscht worden. Der Aufsatz »Der Jude mit der roten Badehose«. Jüdische Helden, Stereotypen und Antisemitismus im Trickfilm bis 1945 von Florian Schmidlechner thematisiert im historischen Überblick die Medialisierung jüdischer Stereotype ausgehend vom Produktionskontext der US-amerikanischen Trickfilm-Studios. In seiner Untersuchung führt er den Nachweis, dass bereits die Animationsfilme des frühen Kinos mit einer Vielzahl antisemitischer Feindbildkonstruktionen operieren, die mit anderen Stereotypen minoritärer Dequalifizierung (u.a. indianische, asiatische, homosexuelle und misogyne Hate-Motivik) überlagert wurden und schließlich von der nationalsozialistischen Propaganda übernommen und weiterentwickelt wurden. Im Zentrum von Susanne Lummerdings Text Das Politische trotz allem. Holocaust-Diskurse im Comic steht die theoretische Auseinandersetzung mit dem Animationsfilm Waltz with Bashir (2008) des israelischen Filmregisseurs Ari Folman. Sie analysiert die Involviertheit der autobiografischen Hauptfigur der Erzählung, des Regisseurs Ari, vor dem zeithistorischen Hintergrund des ersten Libanonkrieges. In diesem Kontext problematisiert sie die medienspezifischen Bedingungen der Möglichkeit von Repräsentation und geht dabei davon aus, dass Animationen und Comics die grundlegende Unmöglichkeit reflektieren, politische Identität als »eindeutig« und »widerspruchsfrei« zu erfassen und zu fixieren. Vor diesem Hintergrund argumentiert sie dafür, dass die gezeichnete Repräsentation die gängigen Formen naturalisierender Ästhetik und entsprechender Rezeptionsweisen subvertiert und letztlich in Frage stellt. Medialität ist für sie politisch, weil sie die radikale Bedingtheit des Politischen markieren kann, während ihrer Ansicht nach die Politik nur ein Versuch sein kann, diese Bedingtheit durch temporäre Repräsentationen auf den Begriff zu bringen. Das Subversive des politischen Comics bestünde folglich darin, die Unmöglichkeit

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einer abschließenden und eindeutigen Aussage über Realität und letztlich über das Politische per se sicht- und sagbar zu machen. Das Medium Comic generiert bestimmte Weisen von sozialer Sichtbarkeit, die gesellschaftlich minorisierten Akteur_innen zu einer Selbstrepräsentation abseits der verzerrenden Bilder dominanter Medienformationen in den Zwischenräumen und Lücken einer Comic-Subkultur verhelfen kann. Aus diesem Grund beschäftigt sich der letzte Teil des vorliegenden Buches mit Queeren Sichtbarkeiten und dissidenten Praktiken im Comic. Wenn im Rahmen des dazugehörigen Kapitels von queer die Rede ist, dann umfasst diese Begrifflichkeit nicht allein Aspekte einer Kritik an heterosexuellen Paarbildungsnarrativen und Erzählformen, sondern stets auch ein Aufbrechen des Geschlechterdualismus im Bereich der Produktion, Konsumption und Repräsentation von Comics. Indem innerhalb der ausgewählten Texte Geschlecht nicht etwa als Ursache, sondern vielmehr als Effekt einer repräsentationspolitischen Praxis begriffen wird, findet nahezu zwangsläufig eine Denaturalisierung von binären Geschlechterkategorien statt. Dennoch stellt sich im Zusammenhang mit der Herstellung von queeren Sichtbarkeiten die Frage nach der »Körperlichkeit« der Darstellungen – auch, weil diese nicht ohne Einfluss auf lesBiSchwule Subkulturen und die dem Gender-Mainstream entgegengesetzten Bewegungen wie etwa den Rriot-Grrls geblieben sind. Auf derartige Aspekte bezogene Studien beginnen mit Angela McRobbies Untersuchungen zu den Geschlechterrollen in den Romantic Fictions des comicähnliche Züge aufweisenden FotoromanFormats in den britischen Magazinen Jackie und Just Seventeen und enden mit Analysen der Leser_innen-Briefe einer lesbischen und schwulen Fangemeinde, deren Mitglieder die zumeist nur latent angedeutete Homosexualität von Held_innenfiguren in Heftserien wie Alpha Flight und Flash zum Anlass eines Queer Readings der gesamten Serie nehmen (vgl. McRobbie 1991: 135-188, Sewell 2006: 251-274, Franklin 2006: 221-250). Expliziter werden die Coming Outs im Comic erst mit Andy Lippincotts Outing in der Cartoon-Serie Doonesbury sowie der Ausgabe Nummer 137 von Green Lantern in den späten 1990er Jahren (vgl. Palmer-Mehta/Hay 2005: 390). Mit ihrer Weigerung fortzusetzen, was eine naturalisierende Ästhetik an Vorbildern im Hinblick auf rassifizierende Darstellungen und binäre GenderRollen hinterließ, bewirkte die queere Comic-Zine-Kultur der 1980er Jahre einen weitgehenden Bruch. Die Tatsache, dass insbesondere der Bereich der Independent Comics von den Produktionsbedingungen und Vertriebsstrukturen der handelsüblichen Heft-Comics inhaltlich und ökonomisch relativ unabhängig ist, ermöglichte die Entwicklung eines eigenständigen Darstellungsrepertoires. Insbesondere die gegenwärtige Popularisierung des Comic-Genres der autobiografischen Graphic Novel geht mit einer Feminisierung im Bereich der Produktion und Distribution von Comics einher. Die jüdische Comic-Pionierin Diane Noomin, die mit ihrer Bad Girl Art eine feministische Form der Aneig-

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nung eines traditionell androzentrischen Genres seit den 1980er Jahren forciert, erklärt den Umstand, dass Frauen bevorzugt das Genre der Comic-Autobiografie wählen, unter anderem aus der Kompromisslosigkeit mit der darin abseits von Genre-Zwängen erzählt werden kann (vgl. Noomin 1992: 7f.). Im Gegensatz zur »objektivierenden« Tendenz dokumentarischen Abbildens ermöglicht die grafische, auf Strich- und Linienführung beschränkte zeichnerische Abstraktion im Comic das Spiel mit Identitäten und Masken. Im Fall der Sans Papiers, deren Erzählungen Alfred Chauvel und Michael Le Galli (2007) unter dem Titel Paroles Sans Papiers herausgegeben haben, geht fotografisch generierte Visibilität, die personale Identifikationen zulässt, mit dem erhöhten Risiko nationalstaatlicher Repression einher. Das vermeintliche »Schweigen« der im Comic sukzessive sichtbar werdenden Subalternisierten kann im Rahmen bildbasierter Repräsentationssysteme anders denn als Negativität oder Absenz verbucht werden: Die »stillen« Sprachen des Comics sind keineswegs gleichbedeutend mit einem Mangel an Sprachvermögen, sondern vielmehr ein eigenständiger Modus des Sichtbar- und Hörbar-Werdens: Nicht identifizierbar, aber doch erkennbar zu sein, ermöglicht eine Form von Sichtbarkeit im Zwischenraum von Sichtbarem und Unsichtbarem. Im Rahmen der Möglichkeiten des Mediums Comic kann eine Person durch eine persona ersetzt werden, Fantasie und Imaginationsfähigkeit werden im Kontrast zur Trägheit des Realitätsgebots angeregt. Die von Deleuze und Guattari prolongierte Strategie der Auflösung des Paradigmas der »Gesichtlichkeit« wird durch die Geste des Zeichnens beträchtlich vorangetrieben (vgl. Deleuze/Guattari 1990: 435f.). Ebenso wenig unterliegen die Körper des Comics, die in der Bewegung auf Künftiges sich konstituieren, einer Logik der Identität: Durch die Zwischenräume und Lücken der Panel-Anordnung entkommen diese scheinbar den Zonen der Signifikanz. Mit Kahleen Martindales kulturtheoretischen Ausführungen zur Konstruktion lesbischer Identitäten in Alison Bechdels Dykes To Watch Out For und Diane DiMassas Hothead Paisan liegt ein Text vor, der den Avantgarde-Charakter der queeren Klassiker am Grad der »formalen« Abweichung der Darstellung vom postmodernen Pastiche-Charakter bemisst. Das pessimistische Resümee, das Martindale gegen Ende Zurück in die Zukunft mit Dykes to Watch Out For und Hothead Paisan dazu veranlasst, beiden Comic-Serien ihren avantgardistischen Impetus abzusprechen, soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass die darin verhandelten Themen die Entwicklung eines queeren Community-Bewusstseins maßgeblich vorangetrieben haben und die Figuren Identifikationen auf Ebene des Alltagslebens für Lesben, Frauen und Trans*Personen bis heute ermöglichen. In Kontrast dazu rekonzeptualisieren Rosa Reitsamer und Elke Zobl in Queer-feministische Comics. Produktive Interventionen im Kontext der Do-It-Yourself-Kultur die Praxis der Comic-Produktion bewusst als Form des Aktivismus,

E INFÜHRUNG

der abseits des sozialen Zusammenhangs einer feministisch-queeren Do-ItYourself-Kultur (DIY) undenkbar wäre. Die soziale Positionierung der von den Autor_innen interviewten Comic-Zeichner_innen betrachten diese als Ressource der Selbstermächtigung. Im Sinne von Antke Engels »VerUneindeutigung von Geschlecht und Sexualität« eröffnen die analysierten Comics queere Perspektiven im Hinblick auf eine Veränderung im Umgang mit dominanten Repräsentationen von Geschlecht, Sexualität und Rasse. Mit Happy Homos – Über Tom of Finlands schwule Superhelden wirft Peter Rehberg eine Lesart von Tom of Finlands Darstellungen schwuler Männlichkeiten auf, die in ihrem Changieren zwischen phallischer Machtbehauptung und masochistischer Pose der durch die Pornoästhetik ihrer Zeit transportierten Repräsentationen ein sichtbares Zeichen entgegenzusetzen vermochten. Zu nicht unwesentlichen Anteilen waren selbige durch den ersten schwulen Pornostar der 1970er Jahre, Peter Berlin, beeinflusst. Das Insistieren auf Leo Bersanis Konzept der Sameness, das im Rahmen von Tom of Finlands Darstellungen zum dominanten Begehrensprinzip wird, subvertiert einen auf die Reinstitutionalisierung heterosexueller Differenzierungen abzielenden Paarbildungsmodus ebenso wie die Vorstellung von einer monogam strukturierten sexuellen Dyade. Im scheinbar differenzlosen Raum von Tom of Finlands Clones wird jener Selbstverlust endlich denkbar, der sexuelle Prozesse ohne Subjekt und Identität inauguriert. Einen von reflexiv gebrochenen Machtasymmetrien durchzogenen Raum gleichgeschlechtlichen Begehrens eröffnet Gilad Padvas Interpretation von Jon Macys Tail, der in Traumboys, Schlächter und Werwölfe. Zur Visualisierung erotischer Identitäten in pornografischen Comic-Strips für homosexuelle Männer eine Begehrensform rehabilitiert, die Gayle S. Rubin zu Beginn der 1980er noch als gesellschaftlich verfemteste Form sexuellen Handelns bezeichnet hat: Die Vehemenz, mit der (Homo-)Sexualitäten »zwischen« den Generationen unter Strafe gestellt worden waren, wurde lediglich durch die Kriminalisierung von S/M-Praktiken übertroffen. Tail veranlasst Padva nicht nur zur Kritik an Freuds homophobem Mythos des Wolfsmannes, sondern auch zum Queering psychoanalytischer Denkkategorien. Die Erzählung endet mit einer Traumsequenz im geschlechtlich entgrenzten Raum eines transsexuellen outer space, in dem erogene Zonen experimentell hergestellt und damit jenseits von Herkunftsgeschlechtern neu verhandelt werden. Einen Ausblick auf die interkulturellen Varianten der Schaulust gibt Mark McLelland mit seinem Text Homophile Heterosexualität oder: Warum lieben heterosexuelle Frauen japanische Mangas mit scheinbar homosexuellen Inhalten?, der erstmals in deutscher Übersetzung von Laura Fuchs-Eisner vorliegt. Der Autor beantwortet die Frage nach der Popularität japanischer boy-love-Genres unter heterosexuellen Frauen unter Rückgriff auf geschlechtertheoretische Überlegungen. Die Aspekte von Begehren und Identifikation werden im Rahmen von Prozessen des Sehens gleichermaßen berücksichtigt. Mark McLelland zufolge

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reicht es gerade nicht aus, die Begeisterung japanischer Frauen für bonking boys allein durch die sexistischen Mechanismen der japanischen Kultur zu erklären. Vielmehr geht mit dem Wachsen der weiblichen Fangemeinde auch eine Demokratisierung des männlich konnotierten Privilegs Blick einher: Nicht anders als andersrum genießen nunmehr auch heterosexuelle Frauen Comic-Erzählungen zweier Männer, die miteinander Sex haben. Abschließend wendet sich Verena Maser mit ihren Ausführungen in Zwischen Fantasie und Alltagsleben – Sexualitäten zwischen Frauen/Mädchen im Manga den schriftbildlich kolportierten Sexualitäts- und Liebesvorstellungen in den drei unterschiedlichen Genres von ero-, shôjo- und yuri-Manga zu. Die Abwesenheit lesbischer Begehrensformationen im best-selling-Genre des ero-Mangas steht im Kontrast zur Vorsichtigkeit, mit der die Autor_innen von shôjo-Mangas über die Andeutungen von Verliebtheit zwischen Mädchen/Frauen hinausgehen. Während im shôjo, das sich an Frauen und Mädchen richtet, erotische Aufmerksamkeiten zwischen Partnerinnen nur am Rande Erwähnung finden, fehlt es weitgehend an japanischen Comics, die lesbische Identität explizit ins Zentrum des Erzählens rücken. Dennoch werden populäre Serien oftmals von Fans so uminterpretiert, dass aus dem lesbischen Subtext eine explizite Darstellung wird. Beim Slashen schreiben Fans die vorgefundenen Geschichten um. Wir möchten allen Autoren und Autorinnen für ihre Beiträge danken, sowie den Übersetzerinnen Laura Fuchs-Eisner und Ulrike Keller. Ebenso möchten wir der Österreichischen Hochschülerschaft für ihre finanzielle Unterstützung unseren Dank aussprechen.

A NMERKUNGEN 1 | »There is no science of comics. There are no university departments where such a science has been developed in a systematic way. To consider comics a subject worthy of academic interest or theoretical consideration appears to beg some serious effort of legitimation.« Anne Magnussen/Hans-Christian Christiansen (Hg.) (2000): Comics & Culture. Analytical and Theoretical Approaches to Comics, Copenhagen: Museum Tusculanum Press, S. 177. »Comic-Wissenschaft existiert nicht. Obwohl Comics als Teil der Kultur des 20. Jahrhunderts zunehmend akzeptiert sind, wird ihnen keineswegs ein gleichberechtigter Platz neben Literatur, bildender Kunst oder sogar Film eingeräumt. Gelegentlich scheint es, als stehe die Beschäftigung mit Comics unter einem besonderen Rechtfertigungszwang.« Ole Frahm (2010): Die Sprache des Comics, Hamburg: Philo Fine Arts, S. 31. 2 | Intercultural Crossovers, Transcultural Flows: Comics/Manga. 30.09.-02.10.2010, Cologne. Organisiert von Jaqueline Berndt, Franziska Ehmcke, Bettina Kümmerling-Meibauer und Steffi Richter. Kooperation des Kyoto Seika University International Manga Research Center, The Center for Intercultural and Transcultural Studies, University of

E INFÜHRUNG Cologne und der Japan Foundation. Online unter: http://imrc.jp/conference/ (Letzter Zugriff: 16.12.10).

L ITER ATUR Baetens, Jan (Hg.) (2001): The Graphic Novel, Leuven: Leuven University Press. Balzer, Jens (1999): »Ungleichzeitige Gegenwart. Über das Erzählen im Comic«. In: Gasser, Christian (Hg.), Mutanten. Die deutschsprachige Comic-Avantgarde der 90er Jahre. Katalog zur Ausstellung des NRW-Forum Kultur und Wirtschaft Düsseldorf, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz, S. 19-23. — (1998): »Differenz und Wiederholung. Von Tintin zu den Oubapoten«. In: Schreibheft 51, Essen: Rigodon-Verlag, S. 175-177. Berndt, Jaqueline (1995): Phänomen Manga. Comic-Kultur in Japan, Berlin: Edition q. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1990): »Das Jahr Null – Gesichtlichkeit«. In: Bohn, Volker (Hg.), Bildlichkeit. Internationale Beiträge zur Poetik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 430-467. Eisner, Will (2006): Comics & Sequential Art. Principles and Practice of the World’s Most Popular Art Form, Paramus, NJ: Poorhouse Press. Franklin, Morris E. III (2006): »Coming Out in Comic Books: Letter Columns, Readers, and Gay and Lesbian Characters«. In: McAllister, Matthew/Sewell, Edward H./Gordon, Jan (Hg.), Comics & Ideology, New York: Peter Lang, S. 221-250. Frahm, Ole (2010): Die Sprache des Comics, Hamburg: Philo Fine Arts. Gerner, Jochen (2008): Contre la bande dessinée. Choses lues et entendues, Paris: Association. Groensteen, Thierry (2010): Parodies. La bande dessinée au second degré, Paris: Skira/Flammarion. — (2008): La Bande dessinée mode d’emploi, Bruxelles: Les Impressions nouvelles. — (1991): L’univers des mangas. Une introduction à la bande dessinée japonaise, Paris: Casterman. Hein, Michael/Hüners, Michael/Michaelsen, Torsten (Hg.) (2002): Ästhetik des Comic, Berlin: Schmidt. Intercultural Crossovers, Transcultural Flows: Comics/Manga. 30.09.-02.10.2010, Cologne. Organisiert von Jaqueline Berndt, Franziska Ehmcke, Bettina Kümmerling-Meibauer und Steffi Richter. Kooperation des Kyoto Seika University International Manga Research Center, The Center for Intercultural and Transcultural Studies, University of Cologne und der Japan Foundation. Online unter: http://imrc.jp/conference/ (Letzter Zugriff: 16.12.10).

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Wenn der Blick ins Bild kommt Visuelle Techniken der Fokalisierung im Literaturcomic 1 Christine Hermann

»Es ist gesehen worden« (Reve 1988: 382)

Die Literaturwissenschaft hat sich den spezifischen narrativen Techniken des Comics nur zögerlich zugewandt, während pädagogische, linguistische oder kulturwissenschaftliche Fragestellungen durchaus schon länger untersucht wurden. In den letzten 20 Jahren sind Comics jedoch zunehmend zu einem Forschungsgegenstand der Literaturwissenschaft geworden. Nicht zuletzt die Comicadaptationen von literarischen Werken trugen dazu bei, dass Literaturwissenschaftler_innen dem Comic größere Aufmerksamkeit schenkten. So etwa die Reihe Classics Illustrated, die Comicversion von A la recherche du temps perdu von Stéphane Heuet, oder Gemma Bovery, eine (freie) Bearbeitung von Flauberts Emma Bovary durch Posy Simmonds. Im niederländischen Sprachraum ist hier an erster Stelle Dick Matena zu nennen, der Comicversionen von De Avonden [Die Abende] von Gerard Reve, A Christmas Carol von Charles Dickens, Kort Amerikaans von Jan Wolkers, Kaas [Käse] und Het Dwaallicht [Das Irrlicht] von Willem Elsschot anfertigte – und dies jeweils unter Einbeziehung des vollständigen Romantextes. Sein erster Literaturcomic, De Avonden, soll in diesem Beitrag im Mittelpunkt stehen. Als Dick Matena 2003 mit De avonden. Een beeldverhaal den ersten Teil seiner Comicversion von Gerard Reve’s Roman De avonden. Een winterverhaal publizierte, war seine Entscheidung, den Romantext ungekürzt in die Comicfassung zu übernehmen, ein Novum. Matena sagt: »Soviel ich weiß, wurde noch niemals zuvor ein kompletter Roman zu einem Comic umgearbeitet« (Dick Matena zit.n. Wijndelts 2002).2 Inzwischen hat sich dies geändert: So hat zum Beispiel Arnel in seiner Comicadaptation von Racines Phèdre von 2006 den gesamten Text aufgenommen,3 und auch die Shakespeare Comic Books, die seit 2003 erscheinen, geben Shakespeares Dramen unter Beibehaltung des vollständigen Originaltextes in Comicform wieder.

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»Stripversion De Avonden bietet neuen Zugang zu literarischem Werk«, titelte die Stichting Beeldverhaal Nederland (vgl. Stichting Beeldverhaal Nederland 2004/07). Das Stripelmagazine hingegen stellte die Frage: »Ehrenbezeugung oder Bedrohung« (Cumps 2008). In diesem Beispiel einer intermedialen Transformation sind die zwei zu vergleichenden Medien nicht Bild und Text, sondern ›Roman‹ und ›Comicfassung‹, denn es geht um einen Vergleich des Romans mit einer Comicadaptation, in der der Romantext integral aufgenommen ist. Welchen Mehrwert hat eine Comicfassung in einem solchen Fall? Erzählt der Comic dasselbe wie der Roman? Oder erzählt der Comic ›mehr‹ – da eine Adaption immer zugleich eine Interpretation der literarischen Vorlage ist? Und wenn ja, ist das eine Bereicherung oder ein Verlust? Von diesen Fragen geht meine Untersuchung aus. Es soll hier die visuelle im Vergleich zur textuellen Narrativität analysiert und illustriert werden. Im Besonderen sollen die visuellen Techniken der Fokalisierung im Comic untersucht werden, gilt doch der Roman Die Abende als ein Musterbeispiel einer personalen Erzählsituation.

1. D ER R OMAN Ende 1947 publizierte Reve seinen ersten Roman, De Avonden, in dem er die letzten zehn Tage des Jahres 1946 aus der Perspektive des jungen Büroangestellten Frits van Egters beschreibt. Wie im Titel angedeutet, werden nur die Abende (und die Sonntage) erzählt. Und diese Abende sind geprägt von Monotonie, Langeweile und mangelnder Nähe. Der Inhalt ist schnell erzählt: Frits isst mit den Eltern zu Abend, besucht dann Freund_innen, mit denen er skurrile Geschichten über Todesfälle, Krankheiten und Kahlköpfigkeit austauscht, kehrt nach Hause zurück und geht zu Bett. Fast jeder Tag endet mit einem Albtraum. Die Zeit zu Hause verbringt er mit Selbstgesprächen und Betrachtungen seiner selbst im Spiegel. Ein Abend verläuft trostloser als der andere, auch der Silvesterabend, mit dem das Buch endet. Die erste Generation der Rezensent_innen sah darin vor allem ein Zeitdokument, »die Stimme einer Generation« (Romein-Verschoor [1947] 1989: 34), in dem das Lebensgefühl der desillusionierten, aller Ideale beraubten Nachkriegsjugend in Worte gefasst und die bedrückende Atmosphäre der Nachkriegszeit eindringlich geschildert wurde. Andere Kritiker_innen reagierten abweisend und beurteilten das Werk als »trübselig« (Bomans [1947] 1989: 73), sterbenslangweilig (vgl. Schuur [1947] 1989: 66), oder nannten es »grau, zynisch und vollkommen negativ« (Bomans [1947] 1989: 73). In den 1960er Jahren verschob sich der Fokus in der Rezeption dann von den soziologischen Aspekten auf die Psychologie der Hauptperson (vgl. Raat 1989). Der Roman gilt als einer der großen ›Klassiker‹ der niederländischen Literatur und Reve gehört heute zu den ›Großen Drei‹ im Kanon der niederländischen Literatur nach dem Zweiten

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Weltkrieg. Auch heute noch wird der Roman vielfach als ein Referenzwerk in Rezensionen und literaturwissenschaftlichen Erörterungen angeführt.

2. D ER C OMIC 2003 wurde der Roman von Dick Matena, einem der bedeutendsten niederländischen Comiczeichner_innen, als Comic adaptiert. Dabei wurde der Romantext weder bearbeitet noch gekürzt, sondern vollständig und unverändert aus dem Roman in den Comic übernommen.4 Warum hat Matena sich diese ›Einschränkung‹ auferlegt? In einem Interview mit dem Stripelmagazine meint er, er habe so großen Respekt gegenüber dem Originaltext eines Romans und halte ihn sogar für »heilig«, dass er nichts davon weglassen und nichts hinzufügen wolle. Schon die kleinste Änderung sei für ihn »Blasphemie«. Demgemäß hat er auch bei den Comicversionen von A Christmas Carol, Kort Amerikaans und Kaas den kompletten Romantext aufgenommen (sein Wunschtraum wäre es, Ulysses von James Joyce als Comic zu bearbeiten). Dabei ist es, nach eigener Aussage, sein Ziel, dem Originalautor und -text zu dienen, den er so getreu wie möglich in Bilder übersetzen möchte (vgl. Stripelmagazine/Matena 2008). Matenas Projekt hat viel Staub aufgewirbelt. Die Meinungen über den Erfolg dieses Projektes gehen auseinander: »Ein gelungenes Projekt«, meint Wilfried Poelmans in seiner Rezension (Poelmans 2003: 619). Louis van Dievel beurteilt die Comicadaptation als »Meisterwerk« und als einen »Meilenstein in der niederländischsprachigen Comicgeschichte« (Van Dievel 2005: 546; 548). Matena erhielt für De Avonden den »Bronzen Adhemar 2003« (den offiziellen flämischen Staatspreis für Comics) zuerkannt. Der – bereits von Krankheit gezeichnete – Autor des Romans, Gerard Reve, dem Matena die ersten beiden Probeseiten noch zeigen konnte, fand sie »prächtig«, wie Matena in einem Interview in Vrij Nederland erzählt (Dick Matena zit.n. Wijndelts 2002). Aber nicht alle stimmen in diesen Lobeschor ein. Laut Danny Koningstein »fügen die Bilder beinahe nichts zum Originaltext hinzu« (Koningstein 2003). Auch Gert Meesters stößt in seinem Aufsatz in dasselbe Horn: Die Comicversion sei lediglich »eine reich illustrierte Ausgabe des Romans« (Meesters 2003: 527), die Bilder dienen nur als Ergänzung, lautet sein Urteil. Dieselbe Meinung vertritt Hans van Soest in seiner Rezension in StripSter (vgl. Van Soest 2003). Paradoxerweise scheint selbst der Verlag De Bezige Bij auf seiner Website in der Ankündigung des Comics diese Meinung zu vertreten und die Bildgeschichte auf eine Kulisse reduzieren zu wollen: »Matena versieht die Geschichte mit einer atemberaubenden Kulisse« (De Bezige Bij 2010). Durch die Aufnahme des integralen Textes habe Matena verabsäumt, von den »unleugbaren Trümpfen, die dieses Medium bietet«, Gebrauch zu machen, meint Meesters (Mees-

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ters 2003: 527); und Wilfred Takken betrachtet die Verwendung des integralen Textes als einen »großen Irrtum« (Takken 2003).

3. F OK ALISIERUNG Handelt es sich aber wirklich nur um eine reich illustrierte Version des Romans? Oder fügen die Bilder eine weitere Dimension, eine bedeutungserweiternde Komponente hinzu? Erzählt der Comic dasselbe oder mehr (oder gar weniger)? Mit welchen narrativen Mitteln erzählt der Comic die Geschichte, die im Roman erzählt wird? Um diese Fragen zu beantworten, sollen die visuellen narrativen Techniken des Comics im Vergleich zum Roman analysiert und ihre Funktionen untersucht werden. Der Roman Die Abende gilt als ein Musterbeispiel für eine personale Erzählsituation, eine Erzählstruktur, die das Geschehen aus der Perspektive einer selbst beteiligten Figur (und damit subjektiv und fragmentarisch) schildert. Der_die Erzähler_in tritt hinter die Figur zurück und erzählt, was diese sieht und erlebt. Die Geschichte wird vorwiegend aus der Innenperspektive dieser Reflektorfigur erzählt, Einblicke in die Gedanken- und Gefühlswelt anderer Figuren bleiben dem_r Leser_in verschlossen. Er_sie kann nur aufgrund der beschriebenen Verhaltensweisen auf die zugrunde liegenden Emotionen schließen. Im vorliegenden Roman fungiert Frits als Fokalisator: Alles wird aus seiner Sicht erzählt. Der_die Leser_in erfährt nichts, was Frits nicht weiß oder sehen kann. Dafür wird er_sie mit allen seinen Gedanken vertraut gemacht. Wir erfahren als Leser_in, wie er seine Umwelt, seine Eltern und Freund_innen, und sich selbst wahrnimmt, erlebt und beurteilt. Die Bewusstseinswiedergabe im Comic erfolgt nun aber nicht allein durch sprachliche Mittel, sondern auch mittels visueller Techniken. Im Folgenden werde ich mich auf die visuellen Techniken der Fokalisierung konzentrieren. Im Comic wird sowohl abgebildet, was die Fokalisatorfigur sieht (perzeptuelle Fokalisation), als auch wie sie dies erlebt und was sie denkt (psychologische Fokalisation). Innere und äußere Bilder sind in der Darstellung jedoch nicht zu unterscheiden – Träume, Erinnerungen und Erzählungen wirken genauso ›real‹ wie die homodiegetischen Ereignisse. Man könnte nun denken, dass es die wichtigste Funktion visueller narrativer Techniken im Comic sei, etwas abzubilden. Doch – paradoxerweise – haben die visuellen Erzähltechniken in der Comicversion von De Avonden nicht nur die Funktion, etwas abzubilden, sondern auch, die großen Themen des Romans (Monotonie, Langeweile, Einsamkeit) gerade dadurch zu evozieren, dass sie nicht abgebildet werden. Eben weil sie nicht im Bild gezeigt werden, wird spürbar, worum es geht. Emotionen werden dem_r Betrachter_in nicht gezeigt, sondern ›in‹ dem_r Betrachter_in geweckt. Und dies entspricht den Erzähltechniken im Roman. Auch im Romantext werden Langeweile und Ein-

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samkeit nämlich nicht benannt, aber gerade dadurch fühlbar. Lassen wir nun kurz Reve selbst zu Wort kommen. Er sagt über die Darstellbarkeit der Einsamkeit: »Die elementarsten menschlichen Leiden, wie zum Beispiel Einsamkeit, Hunger, Durst, Geilheit, Heimweh, können nicht direkt so beschrieben werden, dass sie den Leser wirklich berühren. Man kann sie nur durch eine Aufeinanderstapelung der richtigen Attribute wachrufen.« Genau das tut Matena in den Comiczeichnungen. Reve weiter: »Es ist dann manchmal viel besser, das Wort ›Einsamkeit‹ oder ›einsam‹ überhaupt nicht zu nennen, sondern einfach das Zimmer, den Lichteinfall, den Geruch, die Aussicht, die hinterlassenen Toffeepapierchen oder Obstschalen, die Möbel, die Lampen, auf die richtige Weise zu beschreiben. Die Attribute gemeinsam beschwören dann die Einsamkeit wie von selbst herauf, ohne dass der Leser auch nur einen Augenblick an das Wort denkt, und mit einer viel dauerhafteren und eindringlicheren Wirkung.« (Reve 1998: 643f.)

Kris Pint betont dann auch in seiner Rezension, dass die Kraft des Romans gerade im Implizitlassen des eigentlichen Kerns der Erzählung liege. Der Roman drehe sich um etwas, das »im ganzen Werk ungesagt bleibt« (Pint 2003). Da der_die Leser_in keine Erklärung bekomme und die Komplexe der Hauptperson nicht benannt werden, könne er_sie seine_ihre eigenen hineinprojizieren. Bei einer Transformation (Verfilmung, Comicadaptation) sei es dann auch wichtig, dass man nicht zu viel sagen will – wie es in der Verfilmung von Rudolf van den Berg (1989) geschehen sei, in der vor allem »der verdrängte sexuelle Aspekt deutlicher zum Ausdruck« komme und der_die Zuschauer_in seine_ihre eigenen Assoziationen nicht mehr einbringen müsse. Die Comicadaptation von Matena hingegen beurteilt Pint eher positiv und weist lobend auf dessen »ingeniöse Verwendung der comictechnischen Möglichkeiten« (Pint 2003) hin. Wie Matena diese »comictechnischen« Möglichkeiten anwendet, um das ›Nicht-Gesagte‹ des Romans auch im Comic ›nicht abzubilden‹ und gerade dadurch zu suggerieren, werde ich anhand einiger Beispiele zeigen. Es soll deutlich werden, wie Matena in dieser Bilderzählung mit visuellen Techniken etwas ›abwesend‹ sein lässt und dadurch bestimmte Gemütszustände suggeriert. Was sind die visuellen Techniken, um etwas ins Bild zu bringen, ohne es abzubilden? Wie können Gemütszustände ausgedrückt werden, ohne sie direkt abzubilden? Für die Analyse sollen hier die visuellen Techniken des Nichtabbildens und die Rolle des Blicks für die Fokalisation untersucht werden. Die Techniken zur Fokalisierung im Comic ähneln zum Teil jenen des Films. Auch im Comic bestimmen die Wahl von Einstellungsgrößen, Festlegung von Kamerapositionen und Bildausschnitt, Montage etc. die perspektivische Präsentation der Geschichte.

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4. V ISUELLE TECHNIKEN DER F OK ALISATION Bewusstseinsinhalte werden im Comic nicht nur in sprachlicher Form, sondern auch nonverbal wiedergegeben. Auch das nicht-versprachlichte Innenleben (Gefühle, Stimmungen) tritt in Form von Bildern und Darstellungstechniken in Erscheinung (muss aber von dem_r Betrachter_in entsprechend interpretiert werden). Die Fokalisation wird also nicht nur durch die Motivwahl, sondern mehr noch durch die Art der Darstellung deutlich.

4.1 Fokalisation durch formale Gestaltungselemente Die Empfindungen der Hauptperson kommen im Comic im Layout und in der Farbgebung zum Ausdruck. Vor allem die Eintönigkeit des Lebens und die daraus resultierende Langeweile werden aus der Bild- und Seitengestaltung sowie der Farbwahl deutlich: Schriftart und -größe sind im ganzen Comic einheitlich. Während Schriftgröße und -stärke in Comics normalerweise Lautstärke und Tonfall bzw. emotionale Färbung symbolisieren, findet man in De Avonden keine fett gedruckten oder größeren Buchstaben, die eine unterschiedliche Intonation oder Lautstärke andeuten würden, keine Rufzeichen, keinerlei Abweichung der Buchstaben von der Standardform und -größe, alles ist gleichförmig und einheitlich, es gibt keine emotionalen Höhepunkte (und dies passt durchaus zur Grundstimmung des Romans). Auch die Sprechblasen sind alle gleich gestaltet und verwenden die gleiche Schriftart und -größe wie die Textblöcke. Dieses auffallende Regelmaß verleiht den Seiten einen monotonen Eindruck. Die geschriebene Sprache wird damit auch zum visuellen Bedeutungsträger, der Text erhält hier also auch eine Bildfunktion. Matena hat den Comic bewusst schwarzweiß gestaltet, oder genauer gesagt in Grautönen. Er übersetzt die farblose Welt von Frits van Egters in monochrome Bilder. Alles erscheint wie ein düsterer Tag, diffus und grau in grau. In Rezensionen wurde die Atmosphäre des Romans immer wieder als »grau« bezeichnet. So lesen wir auf der Rückenklappe: »Über allem liegt ein grauer Schleier der Melancholie« (Reve 2003); Kees Fens spricht von den verschiedenen Grau-Schattierungen der Abende: »Die Tage und vor allem die Abende ähneln einander sehr: sie sind alle grau, aber in verschiedenen Nuancen« (Fens [1972] 1989: 273); Stuiveling spricht vom »grauen, farblosen Stoff, aus dem dieses Werk modelliert ist« (Stuiveling [1948] 1989: 102); Bordewijk vergleicht das Buch mit einer »endlosen Reihe grauer Fresken« (Bordewijk [1947] 1989: 62). In der Comicfassung wird das wörtlich genommen und der Roman in grauen Bildern wiedergegeben. Dies wurde in der Kritik wiederholt hervorgehoben: »Reve in vier Grautönen«, betitelt Rondeltap seine Rezension über die Comicadaptation (Rondeltap 2004), und van Dievel gibt seiner Besprechung den Titel »Unzählige Schattierungen von grau« (Van Dievel 2005).5 Die Farbwahl ist hier

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also ein Mittel, um die Eintönigkeit und Farblosigkeit des Daseins fühlbar zu machen. Die Fokalisierung kann auch durch die Panelform unterstrichen werden. Durch Variation der Größe und Form kann ein Panel narrative Qualität gewinnen. So verstärkt ein schmales und hohes Panel den Eindruck der schmalen Gasse, die die Hauptperson durchwandert, gleichzeitig weist diese Panelform aber auch auf die Beklemmung der Person hin: Sie ist eingesperrt in den engen, schmalen Rahmen. Die Panelform bezieht sich hier also auf das Erleben und die Wahrnehmung des_r Fokalisator_in. Auch die visuelle Abbildung von Träumen, Wunschträumen, Erinnerungen oder erzählten Begebenheiten bringen ins Bild, was sich im Bewusstsein des_r Fokalisator_in abspielt. Hier könnte die Umrandung den Inhalt des Panels semantisch verändern und zum Beispiel verschiedene Realitätsebenen deutlich machen, etwa durch eine wolkige Panelumrandung erkennen lassen, dass es sich um einen Traum oder um eine Erinnerung handelt.6 In De Avonden ist jedoch aus der Panelform nicht ersichtlich, ob es sich um ›reale‹ Ereignisse der Handlung oder um Erinnerungen, Träume oder Wunschvorstellungen handelt – innere Bilder werden nicht als solche gekennzeichnet, Realität und Möglichkeit treffen in der Bildwelt aufeinander und sind formal nicht zu unterscheiden Es geht um die (subjektive) Wirklichkeit der Reflektorfigur, deren Realitätsebene (Träume, Erinnerungen, Fantasievorstellungen, erzählte Geschichten oder Comicwirklichkeit) der_die Leser_in aus dem Kontext, anhand der vorhergehenden und nachfolgenden Panels sowie anhand des Textes interpretieren muss. Im Textblock wird nämlich sehr wohl die Grenze zwischen Traum und Wachsein markiert: Wendungen wie »er schlief ein« zeigen den Beginn des Traumes an, das Ende wird durch Wendungen wie »schwitzend wurde er wach« (Reve/Matena 2007: 41) kenntlich gemacht. Die Unterscheidung zwischen Realität und Fiktion wird also nur im Text, nicht im Bild gemacht.7 Auffallend ist auch, dass alle Panels klare und durchgängige Konturlinien aufweisen. Während in vielen Comics die Rahmen zeitweise aufgebrochen oder miteinander verbunden werden, ist dies hier nie der Fall. Die Figuren bleiben immer in ihrem Frame, sie bleiben ›im Rahmen‹, bleiben gefangen in ihren Rollen. Der Frame wird hier gleichsam zum Symbol für die Mauern, die die Figuren um sich herum aufgerichtet haben. Das innere Erleben einer bedrückenden und beengenden Atmosphäre wird dadurch ins Bild übertragen.

4.2 Fokalisation auf Panelebene Das Bewusstsein der Personen äußert sich nicht nur im inneren Monolog (in Form von Gedankenblasen), sondern auch durch die Festlegung des Bildausschnitts durch Kameraperspektive und Einstellungsgröße. Auf diese Weise wird eine subjektiv gefärbte Wahrnehmung wiedergegeben.

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Im Comic ist es ähnlich wie im Film die ›Kameraperspektive‹, die den Blickwinkel des_r Betrachter_in und damit die Fokalisierung bestimmt. Relativ häufig sind Abweichungen von der Normalsicht festzustellen: Panels sind in Untersicht oder Aufsicht gegeben, die in dem_r Betrachter_in bestimmte Gemütszustände hervorrufen. Die Froschperspektive (extreme Untersicht) hat besonders bei Albträumen die Funktion, in dem_r Betrachter_in ein Gefühl der Unterlegenheit und Machtlosigkeit zu erwecken. Die dargestellte Szene wirkt überwältigend und Furcht erweckend, die Bedrohlichkeit des_r Gegner_in wird betont und dadurch Angst fühlbar gemacht (denn Angst hat keine Worte). Der_ die Betrachter_in blickt und fühlt mit Frits, er_sie folgt der Wahrnehmung der Hauptperson und deren Wahrnehmungsfilter. Eisner spricht in diesem Zusammenhang von einem »involvement of the reader« (Eisner 1985: 89). Die Aufsicht hingegen (im extremen Fall die Vogelperspektive) stellt den_die Betrachter_in außerhalb des Geschehens und macht die Unterlegenheit und Hilflosigkeit der Hauptperson spürbar (der_die Betrachter_in blickt ›auf‹ Frits herab). Entsprechend der personalen Erzählsituation im Roman nehmen wir nur wahr, was Frits sieht, und dies gefiltert durch seine Wahrnehmung. Und doch sehen wir mehr als er: nämlich auch ihn selbst. Oft sehen wir ihn dabei von hinten. Die Rückenansicht trägt wiederum dazu bei, dass wir die Perspektive von Frits übernehmen. Wir schauen ihm über die Schulter, und blicken mit ihm mit. Die Einstellungsgröße bestimmt den Bildausschnitt und ist ein wichtiges Mittel bildlichen Erzählens. Im vorliegenden Comic ist der_die Betrachter_in zumeist nahe bis sehr nahe am Geschehen, es gibt fast keine Totalen (die der Perspektive eines_r auktorialen Erzähler_in entsprechen würden), kaum Halbtotalen, aber viele – teils extreme – Nahaufnahmen und Close-ups, die einerseits die wichtige Rolle des Blicks und des genauen Beobachtens für die Hauptperson deutlich machen, denn auch Frits konzentriert sich in seiner Beobachtung auf Details, die er ausführlich kommentiert. Andererseits geht es dabei vor allem um Detailaufnahmen von Teilen des Gesichts, die einzeln und damit fragmentiert ins Bild kommen. Der Zusammenhang mit dem Körper, der Blick aufs Ganze geht verloren. Nasen, Ohren und Augen scheinen ebenso isoliert zu sein wie die Hauptperson; jeder Körperteil ist ›vereinzelt‹ und auf sich allein gestellt. Frits’ Aufmerksamkeit konzentriert sich dabei vor allem auf eher ›unappetitliche‹ Körperteile: Warzen, Pickel, der Naseninhalt und der im Spiegel betrachtete Anus werden ausführlich beschrieben und im Comic panelfüllend zur Darstellung gebracht. Besonders prominent ins Bild treten aber auch die Augen, wodurch einmal mehr die Bedeutung des Blicks deutlich wird. Die Konzentration auf Details führt zu einer Fragmentierung der Wahrnehmung, die eine Fragmentierung des Sinns und der früher vielleicht vorhandenen (oder nicht hinterfragten) Gemeinschaften impliziert. Frits führt immer wieder Selbstgespräche – »um die Stille zu durchbrechen«, wie Fens meint (Fens 1965: 79). Im Comic wird diese Isoliertheit und

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Abbildung 1: Detailaufnahme der Augen (Reve/Matena 2007: 329)

Vereinzelung in der Panelgestaltung ausgedrückt. Pro Panel kommt fast immer nur eine einzige Sprechblase vor (oder seltener zwei, die dann aber von derselben Person stammen). Jede_r spricht für sich, es kommt nicht zu einem echten Gespräch, sondern nur zu einer Aufeinanderfolge von Monologen. Jede_r bleibt Abbildung 2: Die Mutter von Frits (Reve/Matena 2007: 11)

in seinem_ihrem Schutzwall, seinem_ihrem Panelframe – der Panelrahmen symbolisiert damit die Mauern, die jede Figur um sich gezogen hat. Was an den Personen im Comic vor allem auffällt, sind die fehlenden Emotionen. Ihre Mimik ist starr. Auf den Gesichtern steht nichts zu lesen außer Ver-

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schlossenheit und Abweisung, sie wirken seltsam unbewegt und maskenhaft. Der Gesichtsausdruck bleibt immer gleich, Emotionen sind nur in den Traumszenen gestattet. Die Monotonie spiegelt sich also auch in der Mimik der Personen. So erscheint etwa das Gesicht der Mutter immer auf dieselbe Art: schablonenhaft, ausdruckslos, verschlossen, mit zusammengepressten Lippen, nie schleicht sich ein Lächeln auf ihre Lippen. Sie scheint in ihrer erstarrten Mimik wie gefangen, ein Zugang zu ihrem Inneren ist (aus der Perspektive von Frits) nicht möglich. Tränen werden fast nie gezeigt. Sie werden wohl im Text erwähnt, aber erscheinen, ungeachtet Matenas Vorliebe für Close-ups, nicht im Bild. Im Textblock unter der Abbildung lesen wir: »er fühlte die Tränen aufsteigen« – doch der_die Leser_in bekommt nur seinen Rücken zu sehen. Die Tränen werden der Vorstellungskraft des_r Leser_in überlassen. In einer anderen Szene drückt die Mutter (aus dem Textblock erfahren wir: schluchzend) ihr Gesicht ins Kissen und versteckt so ihre Tränen. Bei Frits müssen wir bis Seite 311 warten, bevor seine Tränen ins Bild kommen (dann allerdings in Großaufnahme). Matena verzichtet also darauf, durch Mimik Gemütszustände zu zeigen, doch auch die fehlende Mimik hat eine Wirkung, denn: »Man kann nicht nicht Abbildung 3: Interaktion zwischen den Figuren (Reve/Matena 2007: 320)

kommunizieren«, wie Paul Watzlawick es formulierte (Watzlawick/Beavin/Jackson [1969] 2007: 90). Durch die fehlende Mimik kommt die Isolierung der Personen und ihre Distanz zueinander ›sprechend‹ zum Ausdruck. Dieser Mangel an Kommunikation und an Nähe wurde schon bei den isolierten Sprechblasen angesprochen. Aber auch in der nonverbalen Kommunikation mangelt es an Kontakt zwischen den Personen: Es gibt kaum Körperkontakt, kaum Blickkon-

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takt. Die Personen berühren einander fast nie, sieht man vom formellen Händedruck zur Begrüßung ab – und sie sehen einander auch nicht an. In dieser Hinsicht ist die große Zahl der Rückenansichten ebenso auffallend: Die Personen kehren einander selbst im Gespräch den Rücken zu; nur äußerst selten kann es vorkommen, dass sie einander direkt ansehen. Meist fehlt jeder Blickkontakt. Und kommt es einmal zu einem Blickkontakt, dann sehen die Personen einander nicht auf selber Höhe an. Stattdessen schaut eine auf die andere hinunter oder zu ihr auf. Oft liegt dies in der Handlung begründet (jemand steht am oberen Ende einer Treppe oder sitzt auf einem Stuhl), doch scheint es trotzdem eine unverhältnismäßig oft vorkommende Perspektive zu sein.

4.3 Fokalisation auf Ebene der Panelsequenz Die Montage (Kombination und Aufeinanderfolge der Panels) lädt die Bilderfolge mit Bedeutung auf und kreiert Leerstellen, die der_die Leser_in/Betrachter_in auffüllen muss.8 Die zwischen den Panels (im gutter)9 ablaufenden Ereignisse werden von dem_r Leser_in ergänzt. In Studien zu Reves Roman wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass Sexualität darin kein Thema ist (vgl. Blaman [1947] 1989: 42). Sexuelle Wünsche bleiben unbewusst, kommen aber in Abbildung 4: Traumsymbolik (Reve/Matena 2007: 39)

den Träumen symbolisch zum Ausdruck – man vergleiche dazu die Analysen von J. Van Zweden (vgl. Van Zweden [1976] 1989: 312-330) und Chris De Zoeten (vgl. De Zoeten 2003), in denen die Träume sexuell gedeutet werden. In der Comicfassung werden die Träume in ähnlicher Weise interpretiert – die sexuellen Assoziationen der Traumszenen treten im Comic viel stärker (im wahrsten Sinn des Wortes) in den Vordergrund. So folgt auf eine Szene, in der sich Frits nackt im Spiegel betrachtet, auf der nächsten Seite ein Traum, in dem die Wurzeln eines Baumes eine eigenartige Form haben, die wohl nicht zufällig eine gewisse Ähnlichkeit mit dem männlichen Geschlechtsorgan aufweist. Durch die mit Hilfe der Montage erzeugte räumliche Nachbarschaft der Panels wird die Assoziation nahegelegt, dass sie sich auch in der Bildsprache aufeinander beziehen. Die Comicfassung suggeriert also eine bestimmte Interpretation des Traumes. Während im Roman die sexuellen Wünsche und Gedanken von Frits nicht vor-

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kommen, werden im Bild durch die visuelle Ähnlichkeit Zusammenhänge suggeriert. Doch ist es noch immer der_die Leser_in, der_die den Zusammenhang legt und die Panels in Verbindung bringt.

5. W O DER C OMIC ÜBER DEN R OMAN HINAUSGEHT Die bisher genannten Techniken beziehen sich auf die Ebene der graphischen Gestaltung und auf Frits als Fokalisator. Aspekte der Monotonie, Langeweile, Einsamkeit und mangelnden Nähe kommen auch im Roman mit anderen medienspezifischen Mitteln zum Ausdruck. Doch Fokalisation im Comic geht hier über die Romanfigur hinaus und beschränkt sich nicht darauf, das Geschehen lediglich aus der Sicht der Hauptperson zu zeigen, also die Fokalisierung des Romantextes zu übernehmen und mit visuellen Mitteln den Text zu wiederhoAbbildung 5: Autor und Comicfigur (Reve/Matena 2007: 15; Reve 1988)

len und zu verstärken. Der Comic bezieht durch visuelle Strategien auch den Autor und den_die Leser_in mit ein. Im Folgenden möchte ich mich nun mit jenen Elementen befassen, in denen nicht nur die subjektive Sicht der Hauptperson dargestellt wird, sondern der Autor und der_die Leser_in durch visuelle Strategien mit ins Spiel kommen. Zuerst möchte ich mich dem Autor zuwenden, und dafür auf das äußere Erscheinungsbild der Personen im Comic eingehen: Während der Roman das Aussehen der Personen offenlässt, ist dies in einem visuellen Medium (Comic oder Film) nicht möglich. Dort werden die Personen durch ihr Äußeres cha-

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rakterisiert, durch Kleidung und Frisur, Gesichtsausdruck, Körperhaltung. Es wurde wiederholt in Rezensionen darauf hingewiesen, dass der Protagonist im Comic dem Autor des Romans zum Verwechseln ähnlich sieht: Die Comicfigur wurde auch tatsächlich nach einem Porträtfoto des jungen Reve modelliert. Hier ist also der Romanautor selbst ins Bild gekommen. Matena gibt in einem Interview an, dass er damit den autobiographischen Charakter des Romans ins Bild bringen wollte (vgl. Rondeltap 2004). Der_die Betrachter_in des Comics soll also zusammen mit Frits zugleich Reve sehen. Vater, Mutter und Bruder sind übrigens ebenfalls der Familie Reve nachempfunden. Aber nicht nur der Autor wird zum Mitspieler, sondern auch der_die Leser_in – und zwar im Zusammenhang mit der Darstellung des Blicks.

6. D IE V ERDOPPELUNG DES B LICKS Während der Blick im Roman ›beschrieben‹ wird, wird im Comic auch ›gesehen‹. Wir blicken als Leser_innen nicht nur auf Frits, wir blicken durch seine Augen mit ihm mit. Dieser Perspektivenwechsel vollzieht sich im gutter zwischen den Frames. Der_die Leser_in und damit gleichzeitig auch Betrachter_in des Comics wechselt ständig die Position, ohne sich dessen bewusst zu sein. Dem Roman hingegen wirft Sierksma Eindimensionalität vor: dadurch werde es dem_r Leser_in unmöglich gemacht, »sich zugleich in die Personen hineinzuversetzen und sie vor sich zu sehen« (Sierksma [1948] 1989: 155). Frits betont: »Ich muss genau zusehen.« (Reve 1988: 10) Präzise beobachten und in Worte fassen, das heißt für ihn, die Wirklichkeit in den Griff zu bekommen, die Welt um sich herum kontrollieren zu können, beherrschbar zu machen. Dabei beobachtet Frits nicht nur seine Mitmenschen, sondern auch sich selbst. Sei es, dass er sich im Spiegel betrachtet und nach ersten Anzeichen des Alters sucht, sei es in seinen gedanklichen Reflexionen über sein Leben und seinen Tagesablauf. Das Motiv des Spiegels macht diese ständige Verdoppelung des Blicks sichtbar. Im Spiegel ist Frits Subjekt und Objekt zugleich: Er beobachtet sich selbst beim Beobachten. In einem Panel steht Frits zwischen zwei Spiegeln und betrachtet die Reflexion der Reflexion. Das Word ›Reflexion‹ hat hier eine doppelte Bedeutung (widerspiegeln und nachdenken): Einerseits wird sein Bild im Spiegel reflektiert, andererseits reflektiert er über sich selbst. Er bewertet sich stets selbst, ebenso wie die anderen. Reflexionen im Spiegel und gedankliche Reflexionen über sich selbst gehen dabei Hand in Hand. Der_die Betrachter_in des Comics sieht Frits dreifach: Er_sie sieht ihn vor dem Spiegel stehen, sieht sein Spiegelbild und im Spiegel zusätzlich die Spiegelung des zweiten Spiegels. Dieser gleichzeitige Blick ›mit‹ und ›auf‹ Frits ist nur im Bild möglich. Diese Verdoppelung der Perspektive funktioniert auch in vertikaler Richtung, wenn

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Frits sich auf den Spiegel stellt, um sich von unten zu besehen. Also eine Art Vogel- und Froschperspektive zugleich, wobei der Blick des_r Betrachters_in von unten nach oben und von oben nach unten wandert. Im Comic beobachtet Frits nicht nur andere und sich selbst, er wird auch von dem_r Leser_in betrachtet. Der Blick der Hauptperson wird damit im Blick des_r Leser_in gespiegelt. Und auch der Blick des_r Leser_in ist ein doppelter: er_sie blickt auf Frits und mit ihm mit. Diese doppelte Perspektive des_r Leser_in hat hier noch eine weitere Funktion, denn Frits ist auf der Suche nach seiner Identität. Um sich seiner Existenz zu vergewissern, braucht er den Blick eines_r anderen – er existiert nur, wenn er gesehen wird. Van Zweden weist darauf hin, dass der Spiegel den Zweck habe, »die Unsichtbarkeit und Einsamkeit aufzuheben« (vgl. Van Zweden [1976] 1989: 329). Der Spiegel gibt Frits jedoch keine Antwort, er kann sich selbst nicht erkennen, denn es kommt nur sein eigener Blick zurück. Sein Begehren, ›gesehen‹ zu werden (oder wie Lacan sagen würde: sein Begehren nach dem Anderen), findet erst im Comic Erfüllung: hier wird er von dem_r Leser_in angeblickt. So wird der oft zitierte vorletzte Satz des Romans Wirklichkeit: »Es ist gesehen worden […], es ist nicht unbemerkt geblieben« (Reve 1988: 382) und findet Bestätigung, fast möchte man sagen ›Erfüllung‹, im Comic. Mit diesem Satz findet Frits Ruhe, es ist nicht umsonst, jemand nimmt von ihm Notiz, nimmt ihn wahr, sieht ihn an und bestätigt damit seine Existenz. »Ich lebe«, sagt Frits am Ende des Romans.

7. Z USAMMENFASSUNG Was ist der Mehrwert einer Comicadaptation, in die der komplette Romantext übernommen wird? Der personalen Erzählsituation des Romans entsprechen visuelle Fokalisationstechniken im Comic. Das Ungesagte des Romans (Monotonie, Langeweile, Einsamkeit), das (nach Reve) nur durch die richtigen Attribute suggeriert werden kann, wird auch im Comic nicht abgebildet, sondern durch Techniken der Bildkomposition, Kameraposition, Einstellungsgröße, Montage, Farbwahl, im Layout, durch fehlende Mimik und fehlenden Körperkontakt, evoziert. Doch das Bild bestätigt, wiederholt und ergänzt nicht nur die Botschaft des Textes, sondern fügt auch ein Mehr an Bedeutung hinzu. Denn im Roman wird das Sehen beschrieben, die Wahrnehmung in Worte gefasst und kommentiert, während im Comic das Sehen gezeigt wird. Der_die Leser_in des Comics blickt mit Frits zusammen auf die Welt und hat auch Frits selbst im Blick, während im Roman die Perspektive der betrachtenden und kommentierenden Hauptperson den Blickwinkel des_r Leser_in bestimmt. Es konnte jedoch auch gezeigt werden, dass die Fokalisation im Comic über die Romanfigur hinausgeht. Sowohl der Romanautor als auch der_die Leser_in werden miteinbezogen: der Autor, da die Hauptperson die Gesichtszüge des

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jungen Reve trägt, und der_die Leser_in, da er_sie durch den verdoppelten Blick zu einem_r Mitspieler_in wird und durch seine_ihre Rezeption Antwort gibt auf den Text. Während der Roman den Blick beschreibt, kann der Comic das Sehen zeigen, mehr noch, er verlangt es von dem_r Rezipient_in. So wird der_ die Leser_in zum_r Betrachter_in. Der Blick wird nicht nur beschrieben, nicht nur gezeigt, sondern verkörpert durch den_die Leser_in, der_die den Comic betrachtet und damit eine Rolle in der Geschichte übernimmt. Der_die Leser_in wird als Betrachter_in auch Teilnehmer_in am Geschehen, und erfüllt damit das Begehren der Hauptperson, gesehen zu werden.

A NMERKUNGEN 1 | Dieser Beitrag basiert auf einem Vortrag beim »17e Colloquium Neerlandicum«, 23.29. 08. 2009, Universität Utrecht. 2 | Niederländische Zitate jeweils in eigener Übersetzung. 3 | Wobei Monika Schmitz-Emans jedoch in den Zeichnungen eine ›ironische Distanz‹ zum klassischen Text erkennt. Monika Schmitz-Emans (2009): »Literatur-Comics zwischen Adaptation und kreativer Transformation«. In: Ditschke, Stephan/Kroucheva, Katerina/Stein, Daniel (Hg.), Comics. Zur Geschichte und Theorie eines populärkulturellen Mediums, Bielefeld: transcript, S. 284. 4 | Man kann diese Vorgabe, die er sich setzte, als eine Einschränkung im Sinne des oulipotischen Gedankens verstehen, wie er von OuBaPo – Ouvroir de la Bande dessinée potentielle – vertreten wird. Vgl. O.A.: Oubapo-America. Online unter: www.tomhart. net/oubapo (Letzter Zugriff: 14.09.2010). 5 | Daneben verleiht diese Farbwahl dem Werk zugleich auch eine Art Dokumentcharakter: Wie Jos Joosten in seiner Rezension des Romans feststellte, ist »[u]nser Bild von den 50er Jahren […] düster und schwarzweiß«. Jos Joosten (2008): »›Dat is nu een intellektueel‹. Mythevorming rond Reves De avonden«. In: Jos Joosten, Misbaar. Hoe literatuur literatuur wordt, Nijmegen: Vantilt, S. 128. Der Comic erinnert vielleicht auch an die Schwarzweißfotographie (und das Schwarzweißfernsehen) aus jener Zeit. 6 | Zu den Funktionen des Rahmens vgl. Thierry Groensteen (1999): Système de la bande dessinée, Paris: Presses Universitaires de France, S. 49-68. 7 | Auf die Art, wie Trauminhalte im Roman erzählt werden, geht auch Fokke Sierksma in seiner Rezension ein, wertet diese aber als Nachteil; er sieht Reves Wiedergabe von Trauminhalten als einen »Konstruktionsfehler«: Da der Autor Alltagswirklichkeit und Traumwirklichkeit im selben berichtenden Tonfall nebeneinander stelle, fehle jeglicher sinnvolle innerliche Zusammenhang. Vgl. Sierksma, Fokke ([1948] 1989): »Absolutie van een konijn«. In: G.F.H. Raat (Hg.), Over De avonden. De eerste roman van Gerard Reve. Kritieken, artikelen en interviews, Schoorl: Conserve, S. 154. 8 | Das nennt McCloud ›closure‹. Vgl. McCloud, Scott (1994): Understanding Comics. The Invisible Art, New York: Harper Perennial, S. 67.

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C HRISTINE H ERMANN 9 | Als gutter (Rinnstein) bezeichnet McCloud die comicspezifische Leerstelle, die den Übergang zwischen den Panels markiert. Vgl. ebd., S. 60.

L ITER ATUR Blaman, Anna ([1947] 1989): »Het platvloerse leven«. In: G.F.H. Raat (Hg.), Over De avonden. De eerste roman van Gerard Reve. Kritieken, artikelen en interviews, Schoorl: Conserve, S. 39-42. Bomans, Godfried ([1947] 1989): »Een schrikbarend boek«. In: G.F.H. Raat (Hg.), Over De avonden. De eerste roman van Gerard Reve. Kritieken, artikelen en interviews, Schoorl: Conserve, S. 72-75. Bordewijk, F. ([1947] 1989): »Gewone dingen in een ongewone sfeer«. In: G.F.H. Raat (Hg.), Over De avonden. De eerste roman van Gerard Reve. Kritieken, artikelen en interviews, Schoorl: Conserve, S. 60-63. Cumps, Jan (2008): »Van Elsschot tot Matena. Van Kaas tot kunst«. In: Stripelmagazine 04.06.2008. Online unter: http://www.stripelmagazine.be/pivot/ entry.php?id=2313 (Letzter Zugriff: 14.06.2008). De Bezige Bij (Hg.) (2010): De Bezige Bij. Online unter: www.debezigebij.nl (Letzter Zugriff: 14.09.2010). Van Dievel, Louis (2005): »Ontelbare schakeringen van grijs. Over de strips van Dick Matena«. In: Ons Erfdeel 4, S. 538-548. Eisner, Will (1985): Comics & Sequential Art, Tamarac: Poorhouse. Fens, Kees ([1972] 1989): »Vijfentwintig jaar ›De avonden‹«. In: G.F.H. Raat (Hg.), Over De avonden. De eerste roman van Gerard Reve. Kritieken, artikelen en interviews, Schoorl: Conserve, S. 272-275. — (1965): »Uren, dagen, jaar«. In: Merlyn maart 1965, S. 77-87. Groensteen, Thierry (1999): Système de la bande dessinée, Paris: Presses Universitaires de France. Joosten, Jos (2008): »›Dat is nu een intellektueel‹. Mythevorming rond Reves De avonden«. In: Jos Joosten, Misbaar. Hoe literatuur literatuur wordt, Nijmegen: Vantilt, S. 123-137. Koningstein, Danny (2003): »Gerard Reve – Dick Matena: De Avonden«. In: StripSter 01.04.2003. Online unter: http://www.stripster.be/etalage/Matena/ Avondenrecensie.htm (Letzter Zugriff: 14.09.2010). Meesters, Gert (2003): »De lat-relatie tussen strip en literatuur. Over de ›verstripping‹ van literaire werken«. In: Ons Erfdeel 4, S. 523-530. McCloud, Scott (1994): Understanding Comics. The Invisible Art, New York: Harper Perennial. O.A. (2010): Oubapo-America. Online unter: www.tomhart.net/oubapo (Letzter Zugriff: 14.09.2010).

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Stuiveling, G. ([1948] 1989): »Van boek tot boek«. In: G.F.H. Raat (Hg.), Over De avonden. De eerste roman van Gerard Reve. Kritieken, artikelen en interviews, Schoorl: Conserve, S. 102-106. Takken, Wilfred (2003): »Eerbied voor De Avonden«. In: NRC Handelsblad, 14.03.2003. Online unter: http://www.nrc.nl/dossiers/gerard_reve/ recensies/article1617682.ece/Eerbied_voor_De_Avonden (Letzter Zugriff: 01.09.2009). Watzlawick, Paul/Beavin, Janet/Jackson, Don D. ([1969] 2007): Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien, Bern: Huber. Wijndelts, Ward (2002): »Dick Matena tekent een stripversie van ›De avonden‹«. In: NRC Handelsblad, 02.09.2002. Online unter: http://www.nrc. nl/dossiers/gerard_reve/nieuws/article1572040.ece/Dick_Matena_tekent_ een_stripversie_van_%60De_avonden (Letzter Zugriff: 01.09.2009). De Zoeten, Chris (2003): Ander water. Een herlezing van Gerard Reves De avonden, Leiden: Stichting Neerlandistiek Leiden. Van Zweden, J. ([1976] 1989): »De dromen van Frits van Egters«. In: G.F.H. Raat (Hg.), Over De avonden. De eerste roman van Gerard Reve. Kritieken, artikelen en interviews, Schoorl: Conserve, S. 312-330.

Literaturadaptionen in Walt Disneys Lustigen Taschenbüchern Lucia Marjanovic

Seit das Genre der Literaturadaptionen mit Disney-Figuren im Jahre 1949 vom italienischen Autor Guido Martina mit der Geschichte L’inferno di Topolino begründet wurde, sind Literaturadaptionen ein nicht zu vernachlässigender Bestandteil der hauptsächlich aus Italien stammenden Comic-Geschichten, die auf Deutsch im Lustigen Taschenbuch erscheinen. Der vorliegende Artikel beschränkt sich auf die ersten 215 Lustigen Taschenbücher. In diesen kann man sehr häufig Literaturadaptionen finden, durchschnittlich in fast jedem zweiten Band eine, insgesamt 95. Bezüge zur Literatur finden auf vielfältige Weise Eingang in Disney-Comics: Von Schatzsuchen, die auf Abenteuerromanen basieren, über Zeitreisen, bei denen geklärt wird, wie sich eine aus einem Roman bekannte Geschichte in Wahrheit zugetragen hat, beziehungsweise was den_die Autor_in zu seinem_ihrem Werk inspiriert hat, bis hin zu mehr oder weniger werktreuen Adaptionen, in denen eine Romanhandlung oder ein Theaterstück mit DisneyFiguren erzählt wird. Manchmal wird das Originalwerk dabei parodiert, in anderen Fällen dient es als Vorlage für Abenteuer, die die Disney-Figuren in ihrer gewohnten Umgebung und Gegenwart erleben, ohne sich der literarischen Vorlage bewusst zu sein. Das Disney-Universum eignet sich schon allein durch seine Vielfältigkeit für eine Reihe von verschiedenen Geschichten. Einerseits sind bereits viele unterschiedliche Rollen vorhanden: Detektiv (Micky), etwas beschränkter aber liebenswerter Freund (Goofy), reicher und geiziger Erbonkel (Dagobert Duck), Oma mit Bauernhof (Oma Duck), Erfinder (Daniel Düsentrieb), Universalgelehrter (Primus von Quack), Glückspilz (Gustav Gans), eifersüchtige Freundin (Daisy), Kriminelle (Panzerknacker, Kater Karlo, Schwarzes Phantom etc.), schlaue Kinder (Tick, Trick und Track), skrupelloser Geschäftsmann und Konkurrent (Klaas Klever). Andererseits sind manche Figuren sehr vielfältig einsetzbar. Man nehme nur Donald – in seiner langjährigen Karriere und seinen unzähligen Geschichten hat er schon so unterschiedliche Rollen wie Pechvogel, Onkel, Abenteurer,

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Reporter, Geheimagent, Superheld (als Phantomias) oder eifersüchtiger Liebhaber verkörpert. Bei Literaturadaptionen bietet es sich oft an, diese bestehenden Rollen einfach auf die entsprechende Geschichte umzulegen. So gibt es zahlreiche adaptierte Liebesgeschichten mit Donald und Daisy als Protagonisten, oft mit Gustav als Rivalen – u.a. Die Leiden des jungen Ganthers (vgl. LTB 194),1 Der Traum vom Großen Onkel (vgl. LTB 181), oder auch mit Micky und Minni in Die Verlobten (vgl. LTB 151). Als böser Onkel bietet sich natürlich Onkel Dagobert an, und diese Rolle verkörpert er in zahlreichen Adaptionen: Der Traum vom Großen Onkel (vgl. LTB 181), Die Topfkomödie (vgl. LTB 116), Donald und die Räuber (vgl. LTB 200), Krieg und Frieden (vgl. LTB 122) et cetera. Räuber_innen und andere Kriminelle werden oft von den Panzerknackern (Paradebeispiel: Donald und die Räuber in LTB 200) oder Kater Karlo und Konsorten verkörpert. Auffallend dabei ist, dass von den insgesamt 95 Geschichten gerade einmal 18 mit Figuren aus dem Maus-Universum besetzt sind. Die Gründe dafür dürften einerseits sein, dass Donald als der Charakter mit den meisten menschlichen Schwächen bei den Lesern und Leserinnen wesentlich beliebter ist, andererseits, dass die Enten (schon aufgrund ihres erweiterten Figurenarsenals) vielfältiger einsetzbar sind. Literaturadaptionen mit Disney-Figuren unterscheiden sich erheblich von normalen Comic-Adaptionen. Denn auch wenn sich die Geschichten eindeutig an eine literarische Vorlage anlehnen, sind sie immer noch Disney-Comics, die auch als solche funktionieren, d.h. sich in das bestehende Disney-Universum einfügen müssen. Daher sind oft mehr oder weniger starke Anpassungen nötig, sowohl von Seiten der Comics als auch von Seiten der Literaturvorlage. Wenn die Situation es erfordert, sind die Disney-Figuren schon einmal in ungewohnten Rollen zu sehen wie zum Beispiel Micky als Schürzenjäger in Die gefürchtetste Klinge des Landes (vgl. LTB 143), Goofy als Detektiv in Rätsel um Dick Goof (vgl. LTB 177) oder als schlauer Diener in Scapins Streiche (vgl. LTB 213), Klarabella als Opernsängerin in Das Gespenst in der Oper (vgl. LTB 121), Kater Karlo und Trudi als Wirtsleute, noch dazu in einer Duck-Geschichte in Das Geheimnis der Silberleuchter (vgl. LTB 143). Allerdings haben nicht alle Figuren Disney-Vorbilder, wie etwa Muff Potter in Mick Sawyer (vgl. LTB 153) oder Inspektor Javert (vgl. LTB 143), da es nicht immer passende Darsteller_innen gibt. Wesentlich weitreichender sind allerdings die Maßnahmen, die unternommen werden, um das literarische Werk an das durch seine Tradition geprägte Disney-Universum anzupassen. Wo es sich anbietet, werden Handlungselemente eben durch Disney-typische ersetzt. Einerseits betrifft dies Figurenkonstellationen: So wird in Das Geheimnis der Silberleuchter (vgl. LTB 143) der Straßenjunge Gavroche von einem von Donalds Neffen dargestellt, da diese aber normalerweise nur zu dritt auftreten, kommen in der Geschichte eben »Gavroche und seine Brüder« vor. Ganz ähnlich beim Gespenst von Canterville: Aus den schrecklichen Zwillingen werden Drillinge, wobei sie interessanterweise

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als »Tick, Trick und Track in der Rolle der schrecklichen Zwillinge« vorgestellt werden (vgl. LTB 155: 238; Wilde 1959). Vater-Sohn-Beziehungen werden oft zu Onkel-Neffen-Beziehungen. Ebenso weisen die Protagonisten und Protagonistinnen in Literaturadaptionen fast immer vertraute Charakterzüge ihrer Darsteller_innen auf, auch wenn sich diese vom Charakter der Protagonisten und Protagonistinnen im Original unterscheiden. So ist Donald in vielen seiner Rollen jähzornig, ein Pechvogel und überschätzt sich gerne, Onkel Dagobert ist immer geizig und streng, die Neffen sind immer klug etc. Manchmal passt das ganz gut zu den Rollen, häufig ist aber der Charakter des Darstellers oder der Darstellerin stärker präsent als jener der dargestellten Figur. Darüber hinaus werden gerne vertraute Objekte eingebracht wie Onkel Dagoberts Glückstaler, der das Medaillon in Abenteuer im Comicland (vgl. LTB 186), der Adaption der Unendlichen Geschichte von Michael Ende, ersetzt. Doch manchmal hat die Einarbeitung von Disney-spezifischen Elementen auch größere Auswirkungen auf die Handlung zur Folge wie in der Geschichte Celsius 154 aus LTB 243, wo nicht Bücher, sondern Musik verboten ist. Und zwar aus folgendem Grund, wie der Diktator »Der Erhabene Onkel« (Onkel Dagobert) berichtet: »In meiner Jugend liebte ich sie [die Musik]! Aber dann ist da was passiert – eine furchtbare Sache! […] Es geschah vor langer, langer Zeit! Mein erster Geldschrank war gerade voll! Er hatte einen Schließmechanismus, der nicht auf Zahlen, sondern auf Musik reagierte! Aber genau das war mein Verhängnis! Ich pfiff die eingängige Melodie oft unbewußt vor mich hin! Was ein paar jugendliche Gauner herausfanden und ausnutzten… …um mich auszurauben! Als ich den Diebstahl bemerkte, brach eine Welt für mich zusammen! Ich entwickelte eine tiefe Abneigung gegen jede Art von Musik… …die zu einem totalen Musikverbot führte, als ich an die Macht kam!« (LTB 243: 149-151)

Die Idee mit dem musikalischen Schließmechanismus ist nicht neu. BarksKenner_innen werden sich an Das Münstermännchen (The Phantom of Notre Duck) erinnern. Somit steht die Geschichte in bester Barks-Tradition, passt gut in den Disney-Kosmos, entfernt sich aber nicht unwesentlich von der Vorlage. Denn in Fahrenheit 451 heißt es ausdrücklich, das Bücherverbot sei keine Verordnung von oben gewesen, sondern mit der Zeit durch Massenkultur und Massenmedien entstanden (vgl. Bradbury 1981). Große Auswirkungen haben die Anpassungen an die Richtlinien des ComicCodes, denen Disney-Comics traditionell unterliegen. Dieser betrifft vor allem die Darstellung von Gewalt und Sexualität. Letzteres geht so weit, dass es (zumindest was die Hauptfiguren angeht) traditionell keine Ehe und keine ElternKind-Beziehungen gibt, sondern nur Verlobte sowie Neffen und Nichten. In den Literaturadaptionen hingegen ist dieser Grundsatz oft etwas gelockert. Am Ende einer Liebesgeschichte wird gelegentlich geheiratet, manchmal gibt es sogar Kin-

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der wie zum Beispiel in Das Geheimnis der Silberleuchter (vgl. LTB 143). Der häufigere Fall ist allerdings, dass die Geschichte mit der Aussicht auf Hochzeit endet. Etwas rigoroser wird allerdings mit der Gewalt verfahren. Traditionell kommen zwar Aspekte des Todes in Disney-Comics vor (zum Beispiel in Form von verstorbenen Verwandten, die Testamente hinterlassen haben, menschlichen Skeletten auf einsamen Inseln oder auch in Form von Mordversuchen seitens der Verbrecher_innen, die aber prinzipiell nie glücken), allerdings wird das Sterben selbst nie gezeigt. Religion, Politik, Militär etc. sind nur in eingeschränkter Form präsent. Außerdem wird es nicht gerne gesehen, wenn Held_innen rauchen oder etwas anderes tun, das als jugendgefährdend oder unmoralisch angesehen wird.2 Da die Weltliteratur aber natürlich nicht ohne diese Elemente auskommt, müssen sich die Autoren und Autorinnen der Adaptionen Verschiedenes einfallen lassen, um eine Darstellung davon zu vermeiden. Wenn diese Tatsachen nicht weiter für die Handlung relevant sind, können sie beliebig abgeändert werden, was allerdings zu mitunter sehr kreativen Lösungen führt: In der MickSawyer-Geschichte begeht Joe Kater keinen Mord, sondern einen Einbruch (vgl. LTB 153); der berühmte Blutfleck des Gespensts von Canterville besteht aus Tomatensoße (vgl. LTB 155); im Namen der Mimose sterben die Leute nicht, sondern verschwinden nur und tauchen später wieder auf (vgl. LTB 142); der Deserteur in Vom Winde verweht wird nur bewusstlos geschlagen und den Behörden übergeben anstatt umgebracht zu werden (vgl. LTB 117); der fechtende Marquis in der Adaption von Scaramouche tötet seine Gegner nicht, sondern schneidet ihnen die Hosenträger durch (vgl. LTB 143); der Traum vom Großen Onkel, der der Handlung von George Orwells 1984 nachempfunden ist, endet nicht mit der Verinnerlichung des Systems, sondern mit dem Aufstand des Volkes (vgl. LTB 181; Orwell 1983). Um das Militär auszusparen, wird einmal ein heimkehrender Soldat zu einem harmlosen Junker auf Wanderschaft (vgl. Das Hexenlicht, LTB 201). Eben jener Soldat schlägt im Original (Das Feuerzeug von Hans Christian Andersen) einer Hexe den Kopf ab, um das Feuerzeug behalten zu können. Da sich der Held eines Disney-Comics natürlich nicht so brutal und unmoralisch verhalten kann, spielt sich diese Szene etwas anders ab: Der Junker (dargestellt von Donald) hat das Feuerzeug verlegt (was sehr gut zu Donalds schusseliger Art passt), woraufhin die Hexe wütend wird und sich durch einen misslungenen Zauberspruch selbst außer Gefecht setzt. Kurz darauf findet der Junker das Feuerzeug wieder und setzt seinen Weg damit fort. Rauchen spielt in diesem Märchen eine wichtige Rolle, da der Soldat damit das Feuerzeug betätigen und auf diese Weise Rettung herbeirufen kann. Es passt aber nicht zu den heutigen Vorstellungen von Jugendschutz, dass der Held raucht, der noch dazu die wichtigste Identifikationsfigur ist. Des Junkers letzter Wunsch, vor der drohenden Hinrichtung eine Pfeife zu rauchen, bleibt aus handlungstechnischen Gründen trotzdem erhalten. Allerdings betont der Junker unmittelbar darauf, dass er Nichtraucher sei.

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Abgesehen davon drängt sich manchmal der Eindruck auf, dass den ComicLesern und -Leserinnen das Bangen um ihre Held_innen erspart bleiben soll. Das ist zum Beispiel der Fall, als sich Mick Sawyer und Minni Thatcher, gemäß ihren Romanvorbildern, in einer Höhle verirren. Im Roman finden Tom und Becky erst nach drei Tagen den Weg ins Freie, im Comic jedoch noch am selben Tag (vgl. Twain 1994). Während im Roman die Erzählung inzwischen zu den vor Sorge verzweifelten Angehörigen wechselt und die Leser_innen ebenso wenig wie diese von Toms und Beckys Schicksal wissen, begleitet die Narration Mick und Minni im Comic zuerst aus der Höhle heraus, dann erst sieht man über drei Panels die sich sorgenden Tanten (die ja eigentlich noch keinen Grund zur Sorge haben). Noch auf derselben Seite können sie Mick und Minni wieder in die Arme schließen. Ein anderes Beispiel, bei dem die Leser_innen ursprünglich über das Schicksal des Helden nicht nur in Ungewissheit gelassen, sondern sogar getäuscht werden, findet sich in Jules Vernes Roman Der Kurier des Zaren, in welchem der Kurier Michael Strogoff mit einem glühenden Säbel geblendet werden soll. Erst am Ende des Romans erfährt man, dass die Blendung nicht funktioniert hat, weil Strogoff angesichts seines Schicksals Tränen in den Augen hatte, die eine schützende Dunstschicht bildeten (vgl. Verne 1993). In der Adaption von LTB 17 gibt Michael Mausoff die gleiche Erklärung, nur dass er, statt zu weinen, über einen Witz lacht (was dem Ernst der Lage nicht angemessen ist und daher die Situation harmloser erscheinen lässt als sie tatsächlich ist), und die Leser_innen unmittelbar danach erfahren, dass der Kurier noch sehen kann. In der Parodie von LTB 211 wird die Szene überhaupt ins Lächerliche gezogen: Kurier Donaldoff zieht eine Sonnenbrille nach der anderen aus der Tasche und lenkt seine Bewacher schließlich mit Zaubertricks ab. All diese Änderungen haben zwar beträchtliche Auswirkungen auf den Charakter der Adaption, der dadurch oft komödiantisch wird, allerdings wird die Handlung dadurch eher unbeeinträchtigt gelassen. Manchmal aber werden große Teile der Handlung gänzlich umgeschrieben. Das Ende von Die Leiden des jungen Ganthers weicht stark von der Vorlage ab. Möglicherweise ist es von Thomas Manns Lotte in Weimar inspiriert, denn Ganther bringt sich im Gegensatz zu Werther natürlich nicht um, sondern schreibt stattdessen seine Geschichte auf, die sich zum Bestseller entwickelt. Ganther wird also zum erfolgreichen Autor. Jahre später schaut er einmal nach, was aus seiner angebeteten Daisylotte geworden ist. Diese hat sich inzwischen zur Xanthippe entwickelt und bedroht ihren Mann Gustalbert mit dem Nudelwalker. Dieses Ende könnte man auch als ironische Stellungnahme sehen, dass es sich nicht lohnt, sich wegen einer unglücklichen Jugendliebe umzubringen (wie es in der Literatur eben häufig geschieht), weil man sowieso nicht weiß, was daraus geworden wäre. Von Andersens Märchen Das Feuerzeug wird im Comic nicht nur das Ende verändert, sondern ein ganzer Handlungsstrang hinzugefügt. Denn der Schluss

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des Märchens ist sehr brutal. Die durch das Feuerzeug herbeigerufenen Hunde werfen Richter, König und Königin in die Luft, »sodaß sie niederfielen und sich ganz in Stücke zerschlugen« (Andersen 1863: 143). Seltsam mutet es an, dass die Prinzessin trotz dieser brutalen Tat an ihren Eltern den Soldaten, der die Hunde herbeigerufen hat, heiratet. Daher wurde in der Adaption dieser Schluss nicht nur abgeschwächt, sondern gänzlich anders dargestellt. Diese Umgestaltung betrifft die ganze Geschichte. Es wird ein eigener Handlungsstrang hinzugefügt, der einen bösen Hexenmeister zeigt, der ein Intrigenspiel treibt, indem er das Feuerzeug entwendet hat, das hier das Symbol der königlichen Macht ist. Eben jener Hexenmeister bedroht am Schluss die Prinzessin. Der Junker rettet diese und gibt dem König sein Feuerzeug zurück, woraufhin dieser ihn zum Ritter schlägt und ihm seine Tochter zur Frau gibt. Etwas anders gelagert ist die Situation, wenn innerhalb einer Geschichte (oft in der Rahmengeschichte) jemand ein echtes literarisches Werk vorstellt und dessen Handlung nacherzählt, denn an dieser kann man natürlich nichts verändern. Im Fall von Der Mohr von Venedig (vgl. LTB 47), in dem Primus von Quack Donald die Geschichte von Othello erzählt, wird das gewaltsame Ende einfach nicht erwähnt. Vor dem Mord bricht Primus ab, weil ihm der Schluss der Geschichte gerade nicht einfalle. Glaubwürdig ist das sicherlich nicht, da gerade der gewaltsame Schluss der berühmteste Moment von Othello ist. Ähnlich verhält es sich mit der Geschichte von Micky Jekyll und Mister Mike (vgl. LTB 212), in der Professor Marlin Goofy kurz den Inhalt von Stevensons Dr. Jekyll und Mr. Hyde wiedergibt. Bevor allerdings der Mord zur Sprache kommt, beendet Professor Marlin die Erzählung mit dem Hinweis, Goofy solle doch das Buch lesen, er wolle ihm nicht die Spannung verderben. In anderen Geschichten hingegen kommt das Thema Mord unverblümt zur Sprache. Bei der Hamlet-Adaption klären die Neffen in der Rahmengeschichte Donald darüber auf: »Neffe: Hamlet war ein dänischer Prinz, der ein bißchen durchgedreht hat, weil sein Vater vom Bruder, ich meine, von seinem Onkel, umgebracht wurde! Um den Tod seines Vaters zu rächen, erdolchte er den Vater seiner Verlobten, die sich dann ertränkte! Dann hat er noch den Sohn vom Vater des toten Mädchens umgebracht, während der Bruder des ermordeten Königs, also der Onkel, zusammen mit der Frau, also seiner ehemaligen Schwägerin, an Gift starb.« (LTB 58: 20-21)

Allerdings ist an dieser Stelle klar, dass es sich dabei um die Nacherzählung eines literarischen Werks handelt, das sich außerhalb der Diegese befindet. Somit gibt es innerhalb der Disney-Geschichte keinen Tod. In der Hamlet-Adaption selber (die ein Traum Donalds ist), gibt es den Tod nur in Form des kürzlich (an Überfressen) verstorbenen Onkels von Donald/Hamlet – verstorbene (Erb-) Onkel sind eine der wenigen Formen des Todes, die traditionell im Disney-Kosmos vorkommen. Selbst der Geist wird später als verkleideter Mensch enttarnt.

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Trotz all dieser Kompromisse, die die Literaturadaptionen an das bestehende Disney-Universum anpassen, stehen diese aber auch außerhalb des gewohnten Disney-Kosmos. Die Protagonisten und Protagonistinnen schlüpfen in fremde Rollen. Sie tragen Kostüme (bzw. andere Kleidung) und andere Namen, meist mehr oder weniger kreative Mischungen aus den Namen der Darsteller_innen und denen der Protagonisten und Protagonistinnen der Literaturadaptionen: Mick Sawyer, Dodysseus, Dolliver bzw. Duckulliver,3 Ganther, Daisylotte, Gustalbert, Jean Dagojean, Donald de Donaldac, Sandonald bzw. Sandodan,4 Michael Abbildung 6: Vorstellung des Figurenpersonals (LTB 155: 238)

Mausoff et cetera. Diese Mischversionen der Namen sind einerseits oft amüsant, andererseits spiegeln sie die uneindeutige Position der Literaturadaption zwischen der Literaturvorlage und der traditionellen Disney-Geschichte wider. Häufig besteht die erste Seite der Geschichte aus einem ganzseitigen splash panel, in dem die Figuren als »die Personen und ihre Darsteller« präsentiert werden (vgl. LTB 155: 238). Besonders deutlich wird dieses Rollenspiel, wenn die Literaturadaption (in einer Rahmengeschichte) als Theateraufführung oder als Filmdreh präsentiert wird. Rahmengeschichten bieten als Form der Einleitung gewisse Vorteile. Sie sind immer in der Gegenwart und gewohnten Umgebung

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der Protagonisten und Protagonistinnen angesiedelt. Diese spielen Theater oder drehen einen Film, oder aber ein_e Protagonist_in liest ein Buch und identifiziert sich so sehr mit der Hauptperson, dass er_sie die Geschichte sozusagen selber durchlebt, manchmal auch im Traum. Ein anderes Mal wiederum erzählt jemand eine Geschichte nach. Die Leser_innen entdecken also sozusagen gemeinsam mit den Comic-Helden und -Heldinnen das literarische Werk. Meist ist dieser Held Donald, der das beste Identifikationspotential bietet. Außerdem bietet die Rahmengeschichte die Möglichkeit, bis zu einem gewissen Maß über das thematisierte Werk zu reflektieren. Häufig wird Hintergrundwissen über das adaptierte Werk bzw. dessen Autor_in untergebracht. Dies erfolgt meistens, indem ein_e Protagonist_in seine_ihre Zuhörer_innen informiert. So zum Beispiel in der Geschichte Das zerstreute Gespenst, die Teil der Reihe Die Erzählungen des Edgar Allan Maus ist. Die Information, die Micky seinen Neffen über den Schriftsteller gibt, bezieht sich zwar auf dessen DisneyÄquivalent, trifft aber auch auf den realen Autor Poe zu: »Edgar Allan Maus hat immer in der Ichform geschrieben. Vermutlich wollte er, daß seine Leser Abbildung 7: Donald Duck als Goethe-Leser (LTB 194: 99)

glauben, er habe alles selbst erlebt, was er in seinen Geschichten erzählte!« (LTB 207: 108). In vielen Geschichten ist das Bemühen auffällig, diese Informationen amüsant zu verpacken wie zum Beispiel in Die Leiden des jungen Ganthers. In ebenjener Geschichte schimpft Onkel Donald mit den Neffen, weil diese spielen statt zu lernen, woraufhin sie ihrem Onkel vorwerfen, er selbst lese doch auch nie. Das kann Donald natürlich nicht auf sich sitzen lassen, greift ins Bücherregal und erwischt Die Leiden des jungen Werthers.

L ITERATURADAPTIONEN IN W ALT D ISNEYS L USTIGEN T ASCHENBÜCHERN »Donald: Goethe? Wer soll das sein? Nie gehört! Neffe: Was liest du denn da? Zeig mal, Onkel Donald! Donald: Ein höchst interessantes Buch! Das hat Herr Goethe geschrieben, wißt ihr? Neffe: Seit wann begeisterst du dich für französische Schriftsteller? Donald: Die waren schon immer meine ganze Leidenschaft! Neffe: Ach ja? Neffe: Wirklich zu schade, daß Goethe ein … Neffe: … deutscher Dichter war! Donald: Schluck!« (LTB 194: 99)

Der Witz lässt Donald im deutschen Sprachraum natürlich noch unwissender aussehen als im italienischen. Nachdem Donald also blamiert ist, macht er sich an die Lektüre: »Na ja, egal, ob deutscher oder französischer Schriftsteller… schreiben konnte er jedenfalls, dieser Goethe! Eine ganz schön aufregende Story! Die ist ja spannender als jeder Fernsehkrimi! Auch wenn man kein einziges Bild sieht!« (LTB 194: 100). In dieser und auch in einigen anderen Geschichten informieren nicht die Erwachsenen die Kinder, sondern umgekehrt. Abgesehen davon, dass Tick, Trick und Track in vielen Geschichten generell gebildeter als ihr Onkel sind, wird dadurch eventuell den kindlichen und jugendlichen Leser_ innen vermittelt, dass Literatur nicht unbedingt nur für Erwachsene, sondern auch für Kinder (bzw. in den meisten Fällen wohl eher Jugendliche) interessant sein kann. Außerdem wird in mehreren Geschichten betont, dass Lesen interessanter sei als Fernsehen bzw. wird die Qualität der zeitlosen Klassiker den kurzlebigen Fernsehkrimis gegenübergestellt. Allerdings sind sich wohl auch Disney-Autoren und -Autorinnen der Tatsache bewusst, dass Jugendliche klassische Literatur, die sie in der Schule lesen müssen, nicht unbedingt spannend finden, wie in der Rahmengeschichte zur Topfkomödie dargestellt: »Onkel Dagobert: Was macht ihr denn für lange Gesichter? Neffe: Die ganze Schule ist echt ein Mist! Neffe: Und Übersetzungen sind das Letzte! Neffe: Ausgerechnet die ›Aulularia‹ müssen wir lesen! Onkel Dagobert: Seit wann stotterst du? Sag’s noch mal ganz langsam! Neffe: Ich stottere nicht! So heißt eine antike Komödie! Neffe: Auf Deutsch heißt das ›Topfkomödie‹! Blöd ist nur, daß wir’s in Latein lesen müssen! Neffe: Der berühmte Plautus hat sie geschrieben!« (LTB 116: 169)

Jedoch finden die Kinder eine Methode, wie sie sich die Lektüre schmackhaft machen können: »Stellen wir uns die Geschichte doch so vor, als würden die Ducks mitspielen! Vielleicht fällt uns dann das Lernen leichter!« (LTB 116: 171).

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Die Methode funktioniert, wobei man sich natürlich fragen könnte, inwieweit das Übersetzen – Plautus gilt immerhin als einer der schwierigsten lateinischen Autoren – dadurch vereinfacht wird. Wie dem auch sei, jedenfalls haben die Leser_innen aus der Geschichte gelernt, was die Aulularia ist, und können sich freuen, dass das offenbar auch nicht alle Erwachsenen wissen. Rahmengeschichten bieten außerdem die Möglichkeit, die Abweichungen vom Original zu erklären, zum Beispiel indem die Literaturadaption zum Traum, zu einer Erzählung, zu einem Theaterstück oder der Vorstellung eines_r Protagonist_in erklärt wird – bei diesen Varianten ist es nicht weiter verwunderlich, dass sich manches anders abspielt als in der Literaturvorlage. Wenn die Rahmengeschichte allerdings eine (Nach-)Erzählung darstellt, bietet sich die Möglichkeit, die Abweichungen nicht nur zu erklären, sondern auch zu kommentieren. Oft geschieht dies, indem die Zuhörenden dem_r Erzähler_in vorwerfen, dass sich im Roman einiges aber ganz anders abspiele – wie zum Beispiel in der Geschichte Der Mann mit der eisernen Maske. Daisy antwortet auf Gustavs Vorwurf dem Erzähler Donald gegenüber wie folgt: »Aber es war zumindest eine sehr romantische Geschichte! Und Phantasie zählt mehr als alles Glück!« (LTB 140: 142). Manchmal entsteht durch einen solchen Kommentar auch eine zusätzliche Verständnisebene wie in der Geschichte Das Geheimnis der Silberleuchter. In deren Rahmenhandlung erzählt Onkel Dagobert die Geschichte von seinem Vorfahren Jean Dagojean, dessen Schicksal einst Victor Hugo inspiriert habe. Am Ende der Erzählung kommentiert Donald: »Ich hab’ grad in dem Roman geblättert! Onkel Dagobert hat da einiges durcheinandergebracht!«, darauf Onkel Dagobert: »Na ja, äh… vielleicht hat Victor Hugo ein bißchen übertrieben?« (LTB 143: 110). Zumindest für die Leser und Leserinnen, die sich außerhalb der Diegese befinden, ist diese Bemerkung ironisch. Die Vermutung liegt nahe, dass Onkel Dagobert sich die Geschichte ausgedacht hat, um die Kinder zu unterhalten. Innerhalb der Disney-Welt wäre es allerdings genauso möglich, dass die Geschichte der Wahrheit entspricht, und Victor Hugo sich davon zu einem Roman inspirieren ließ. Die Situation bleibt zweideutig. Außerdem bietet die Rahmengeschichte die Möglichkeit, darauf zu verweisen, dass man aus literarischen Werken Lehren ziehen kann, die für das eigene Leben relevant sind. Meist zeigt sich dies am Beispiel von Onkel Dagobert. In Der Traum vom Großen Onkel (vgl. LTB 181) bemerken Tick, Trick und Track, wie despotisch Onkel Dagobert seine Angestellten behandelt. Daraufhin geben sie ihm den Roman 1984 von George Orwell zu lesen. Onkel Dagobert liest den Roman, schläft kurz vor dem Schluss ein und träumt sich selber in die Rolle des »Großen Onkels«. Als er am nächsten Tag aufwacht, verbessert er die Bedingungen für seine Angestellten drastisch. Ähnlich verhält es sich in der Geschichte Das Geheimnis der Silberleuchter, in der Onkel Dagobert vor einem Finanzbeamten auf der Flucht ist, der ihm eine zusätzliche Steuer von fünf Talern abknöpfen will. Dagobert jammert, er werde wohl genauso elend enden wie sein französischer Vorfahr

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Jean Dagojean, der sein halbes Leben auf der Flucht verbracht hat – umsonst, wie sich im Laufe der folgenden Erzählung herausstellt, da der ihn verfolgende Polizist ihm nur seine Amnestie mitteilen wollte. Onkel Dagobert beschließt also, die Sondersteuer doch zu bezahlen. »Gute Nacht, Kinder, ich zahle, obwohl ich mir danach wie der Elendste der Elenden vorkommen werde!« (LTB 143: 110). Bei all diesem Bemühen um Informationsvermittlung und den vielen Lehren, die man aus den Geschichten ziehen kann, drängt sich die Frage nach den hinter den Literaturadaptionen stehenden pädagogischen Absichten auf. In diesem Zusammenhang ist ein Blick auf die erste italienische Literaturadaption, Abbildung 8: Die heut’ge Zeit hat ihre eignen Verse (Disney 2001: 312)

Mickys Inferno von 1949 interessant (vgl. Disney 2001). Am Ende der Geschichte taucht Dante auf und klagt Autor und Zeichner der Comicgeschichte an, weil diese seine Verse missbraucht haben. Begütigend schreitet Micky ein, verteidigt die Comicautoren, die nur sicherstellen wollten, dass Dantes Werk auch heute noch gelesen werde, und präsentiert eine Schar von der Geschichte begeisterter Kinder. Dante zeigt sich einsichtig: »Die heut’ge Zeit hat ihre eignen Verse!«. Es bleibt also festzuhalten, dass zumindest hinter einigen Adaptionen der Wunsch steht, den Lesern und Leserinnen das Original näherzubringen. Bei anderen Adaptionen allerdings scheinen vor allem Parodie und Komik im Vordergrund

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zu stehen. Ob nun beabsichtigt oder nicht, fest steht jedenfalls, dass man durch die Comic-Adaptionen von vielen literarischen Werken einen ersten Eindruck bekommen kann. Tafel 1: Literaturadaptionen in Walt Disneys Lustigen Taschenbüchern 1-2155 Adaptionen ohne Parodie LTB Titel Nr.

Original

Autor_in

Rahmen

17

Micky als Kurier des Zaren

Der Kurier des Zaren Jules Verne

Traum

18

Ritter Donald de Donaldac

Cyrano de Bergerac

Edmond Rostand

Traum

18

Donald als venezianischer Bäckerlehrling

Il fornaretto di Venezia

Francesco dall’Ongaro

Erzählung

116

Die Topfkomödie

Aulularia (Goldtopfkomödie)

Plautus

Vorstellung

117

Die Ducks… vom Winde verweht

Vom Winde verweht

Margaret Mitchell

Erzählung

119

Die Abenteuer von Il Millione Marco Polo

Marco Polo

Drehbuch

119

Dollivers Reisen

Gullivers Reisen

Jonathan Swift

kein

139

Der Krieg der Welten

Der Krieg der Welten H. G. Wells

143

Das Geheimnis der Die Elenden Silberleuchter

Victor Hugo

Erzählung

143

Die gefürchtetste Klinge des Landes

Scaramouche

Rafael Sabatini

kein

151

Die Verlobten

Die Verlobten

Alessandro Manzoni

kein

153

Die Abenteuer des Mick Sawyer

Die Abenteuer des Tom Sawyer

Mark Twain

kein

181

Der Traum vom Großen Onkel

1984

George Orwell

Traum

193

Der geteilte Visconte

Der geteilte Visconte

Italo Calvino Theater

200 Donald und die Räuber

Die Räuber

Friedrich Schiller

208 Zorro in Los Enteles

Zorro

Johnston Mc- kein Cully

kein

Theater

L ITERATURADAPTIONEN IN W ALT D ISNEYS L USTIGEN T ASCHENBÜCHERN

209 Es ist wichtig, Ernst zu sein

Die Wichtigkeit, Ernst zu sein

213

Die Schelmenstreiche Molière Scapins

Scapins Streiche

Oscar Wilde

Theater Theater

Parodien 16

Donald Baba

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Ali Baba und die vierzig Räuber (Geschichten aus 1001 Nacht)

unbekannt (Antoine Galland)

kein

Donald, Prinz von Hamlet Duckenmark

William Shakespeare

Traum

58

El Cid Pampeador

Cantar del mío Cid

unbekannt

kein

60

Donald und die drei Musketiere

Die drei Musketiere

Alexandre Dumas

kein

66

Reingold

Rheingold

Richard Wagner

kein

88

Alte Liebe rostet nicht

Die Verlobten

Alessandro Manzoni

kein

88

Die schöne Francesca

Inferno, 5. Gesang

Dante

kein

88

Carmen Olé

Carmen

Georges Bizet

kein

88

Holde Aida

Aida

Antonio Ghislanzoni

kein

88

Die Perle von Labuan

Sandokan – der Tiger von Malaysia

Emilio Salgari

Erzählung

122

Krieg und Frieden Krieg und Frieden

Leo Tolstoi

kein

140

Der Mann mit der Der Mann mit der eisernen Maske eisernen Maske

Alexandre Dumas

Erzählung

141

Der Tiger von Masalia

Sandokan – der Tiger von Malaysia

Emilio Salgari

kein

148

Der Magische Ring

Der Ring der Nibelungen

Richard Wagner

kein

155

Das Gespenst von Canterville

Das Gespenst von Canterville

Oscar Wilde

kein

187

Der Held der Pharaonen

Aida

Antonio Ghislanzoni

kein

191

Arm und Reich

Miseria e Nobiltà

Eduardo Scarpetta

Theater

194

Die Leiden des jungen Ganthers

Die Leiden des jungen Werther

J. W. v. Goethe Traum

55

56

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201

Das Hexenlicht

Das Feuerzeug

H. C. Andersen

kein

206

Turmbau zu Babelhausen

Turmbau zu Babel

Altes Testament

kein

207

Das zerstreute Gespenst

unbekannt

Edgar Allan Poe

Erzählung

207

Die Irrfahrten des Dodysseus

Die Odyssee

Homer

kein

211

Donaldoff, Kurier des Zaren

Der Kurier des Zaren

Jules Verne

kein

212

Der matschige Pfeil

Der schwarze Pfeil

R. L. Stevenson

kein

213

Die Verlorene Welt

Die Verlorene Welt

Arthur Conan Doyle

kein

Nachbildungen Die handelnden Personen erleben eine Geschichte, die starke Ähnlichkeiten mit der Handlung eines literarischen Werks aufweist, meistens ohne sich der Vorlage bewusst zu sein. 4

Das Märchen von Donald Aschenputtel

Aschenputtel

Charles Perrault

16

Reise um die Welt in 8 Tagen

In 80 Tagen um die Welt

Jules Verne

18

Donald im Spukschlößchen

Le Capitaine Fracasse

Théophile Gautier

18

Die Befreiung Entenhausens

Das befreite Jerusalem

Torquato Tasso

22

Aus dem Leben Traugott Taugerichs

Le roman d’un jeune homme pauvre

Octave Feuillet

55

Donald als Löwenbändiger

Tartarin de Tarascon

Alphonse Daudet

55

Der Schatz des Grafen von Monte Christo

Der Graf von Monte Christo

Alexandre Dumas

60

Don Quichotte

Don Quijote

Miguel de Cervantes

74

Die Legende von Donald Robin Hood Hood

Legende

77

Donald in geheimer Mission

James Bond: Goldfinger

Ian Fleming

97

Der Hinterhalt in der Sierra

Der Schatz der Sierra Madre

B. Traven

L ITERATURADAPTIONEN IN W ALT D ISNEYS L USTIGEN T ASCHENBÜCHERN

121

Das Gespenst in der Oper

Phantom der Oper

Gaston Leroux

123

Mit 80 Talern um die Welt

In 80 Tagen um die Welt

Jules Verne

142

Im Namen der Mimose

Der Name der Rose

Umberto Eco

145

Agent 007: Die Affäre Goldelizius

James Bond: Goldfinger

Ian Fleming

166 Das Pendel des Ekol

Das Foucaultsche Pendel

Umberto Eco

186 Abenteuer im Comicland

Die unendliche Geschichte

Michael Ende

Geschichten nach Motiven literarischer Werke 4

Onkel Dagoberts Arche Noah

Altes Testament

Altes Testament

8

Donald und der »Fliegende Schotte«

Der Fliegende Holländer

Richard Wagner

66

Die Reistafel

Ilias

Homer

67

Micky auf den Spuren der Indianer

Moby Dick

Herman Melville

132

Die Ritter der Tafelrunde

Artussage

Legende

138

Die fantastische Welt von Ot

Der Zauberer von Oz

Luman Frank Baum

141

Tarzonald und das Molken-Per

Tarzan

Edgar Rice Burroughs

173

Die Verwandlung des Gregor Ducksa

Die Verwandlung

Franz Kafka

Personen geraten in die Geschichte hinein Der_die Protagonist_in gerät mittels Zeitreise in eine Geschichte hinein, die sich an ein literarisches Werk anlehnt. 23

Donald fährt aus der Haut

Der rasende Roland

Ludovico Ariosto

88

Der Traum vom schwarzen Korsaren

Jolanda, la figlia del Corsaro Nero

Emilio Salgari

57

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Wahre Geschichten Durch Zeitreise finden die handelnden Personen heraus, wie sich eine Geschichte wirklich abgespielt bzw. was den_die Autor_in inspiriert hat. 121

Der Schatz des Priamos

Ilias

Homer

175

Das Geheimnis der Nautilus

20000 Meilen unter dem Meeresspiegel

Jules Verne

177

Rätsel um Dick Goof

Dick Tracy

Chester Gould

Parallelen Die handelnden Personen setzen sich mit einem literarischen Werk auseinander und erleben selbst etwas Ähnliches. 47

Der Mohr von Venedig

Othello

William Shakespeare

66

Baron Donald Münchhausen

Baron Münchhausen

Gottfried August Bürger

212

Der seltsame Fall des Micky Jekyll und des Mister Mike

Der seltsame Fall des Doktor Jekyll und Mister Hyde

Robert Louis Stevenson

Fortführung von Geschichten 10

Donald in Aladins Grotte

Aladin und die Wunderlampe (Geschichten aus 1001 Nacht)

unbekannt (Antoine Galland)

32

Auf den Spuren der alten Griechen

Deukalion und Pyrrha (Metamorphosen)

Ovid

33

Der Schatz des Odysseus

Odyssee

Homer

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Im Kielwasser der schönen Leokadia

Voyages Très-Extraordinaires de Saturnin Farandoul

Albert Robida

81

Duck Dorado – Der Goldkönig

Der König vom goldenen Wildbach

John Ruskin

110

Auf Robinson Crusoes Spuren

Robinson Crusoe

Daniel Defoe

119

Die Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Jules Verne

138

König Bubanassars Arche

Altes Testament

Altes Testament

König Midas (Metamorphosen)

Ovid

166 Auf König Midas’ Spuren

L ITERATURADAPTIONEN IN W ALT D ISNEYS L USTIGEN T ASCHENBÜCHERN

A NMERKUNGEN 1 | In der von Walt Disney herausgegebenen Reihe der Lustigen Taschenbücher wird die Autorschaft der einzelnen Geschichten nicht angegeben, auch sind die Bände wesentlich einfacher über die fortlaufende Nummerierung als über die Jahreszahl ihres Erscheinens zu identifizieren. Deshalb werden sie im Folgenden mit der Abkürzung LTB für Lustige Taschenbücher und der Bandanzahl zitiert werden. 2 | Für einen guten Überblick über Besonderheiten und Geschichte des Comic-Codes siehe Amy Kiste Nyberg (1998): Seal of Approval. The History of the Comics Code, Mississippi: University Press of Mississippi. 3 | In der Übersetzung von LTB 119 wurde »Papergulliver« mit »Dolliver«, in der Paperback Edition 3 mit »Duckulliver« wiedergegeben (vgl. LTB 119; Disney 2001). 4 | Sandopaper heißt in LTB 88 »Sandodan«, in einer anderen Geschichte in LTB 141 »Sandonald« (vgl. LTB 88; LTB 141). 5 | Die Tabelle ist mithilfe der folgenden Quellen sowie der entsprechenden LTB-Ausgaben selbst zusammengestellt worden: Ehapa (Hg.) (2010): Walt Disney’s Lustiges Taschenbuch. Online unter: www.lustiges-taschenbuch.de (Letzter Zugriff: 22.02.2010). Glasstetter, Bernd (Hg.) (2010): Disney-Comic-Forum. Online unter: www.comicforum. de/forumdisplay.php?f=42 (Letzter Zugriff: 22.03.2010). O.A. (2010): Inducks. Worldwide database about Disney comics. Online unter: http://coa.inducks.org (Letzter Zugriff: 22.03.2010). O.A. (2010): Duckipedia. Online unter: www.duckipedia.de (Letzter Zugriff: 22.03.2010). Peters, Christian/Spitz, Carsten (Hg.) (2010): LTB-Online. Die Fanseite zum Lustigen Taschenbuch. Online unter: www.ltb-online.de (Letzter Zugriff: 22.03.2010). Restel, Christoph/Vögele, Patrick (2010): www.lustige-taschenbuecher. de. Online unter: www.lustige-taschenbuecher.de (Letzter Zugriff: 22.03.2010).

L ITER ATUR Andersen, Hans Christian (1863): »Das Feuerzeug«. In: Hans Christian Andersen, Sämmtliche Märchen, Leipzig: Teubner, S. 135-144. Bradbury, Ray (1981): Fahrenheit 451. Aus dem Amerikanischen von Fritz Güttinger, Zürich: Diogenes. Disney, Walt (2001): Die göttliche Entenkomödie und andere Streifzüge durch die Weltliteratur. Walt Disney Paperback Edition 3, Stuttgart. — (1967-1995): Lustige Taschenbücher. Band 1-215, Stuttgart: Ehapa. Ehapa (Hg.) (2010): Walt Disney’s Lustiges Taschenbuch. Online unter: www.lustiges-taschenbuch.de (Letzter Zugriff: 22.02.2010). Glasstetter, Bernd (Hg.) (2010): Disney-Comic-Forum. Online unter: www.comicforum.de/forumdisplay.php?f=42 (Letzter Zugriff: 22.03.2010). Nyberg, Amy Kiste (1998): Seal of Approval. The History of the Comics Code, Mississippi: University Press of Mississippi.

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O.A. (2010): Inducks. World-wide database about Disney comics. Online unter: http://coa.inducks.org (Letzter Zugriff: 22.03.2010). O.A. (2010): Duckipedia. Online unter: www.duckipedia.de (Letzter Zugriff: 22.03.2010). Orwell, George (1983): 1984. Aus dem Englischen von Kurt Wagenseil, Zürich: Diogenes. Peters, Christian/Spitz, Carsten (Hg.) (2010): LTB-Online. Die Fanseite zum Lustigen Taschenbuch. Online unter: www.ltb-online.de (Letzter Zugriff: 22.03.2010). Restel, Christoph/Vögele, Patrick (2010): www.lustige-taschenbuecher.de. Online unter: www.lustige-taschenbuecher.de (Letzter Zugriff: 22.03.2010). Twain, Mark (1994): The adventures of Tom Sawyer, London: Penguin Books. Verne, Jules (1993): Der Kurier des Zaren. Aus dem Französischen von Gisela Geisler, Würzburg: Arena. Wilde, Oscar (1959): Das Gespenst von Canterville. Aus dem Englischen von Maria Bamberger, Wien: Verlag für Jugend und Volk.

Tank Girl, Anodder Oddyssey Joyce lebt (und stirbt) in der Populärkultur 1 Thomas Vogler

»›Ulysses‹ erobert die Liste der besten Werke dieses Jahrhunderts [...] dieses wuchernde, schwierige aber in seiner Originalität einzigartige Meisterwerk von James Joyce ist von einer Jury aus Gelehrten und Schriftstellern zum schönsten englischsprachigen Roman dieses Jahrhunderts gewählt worden.«2 Paul Lewis, The New York Times (20.07.1998) »Die Ausrichtung nach unten kennzeichnet auch alle Formen volkstümlich-festlicher Belustigung und den grotesken Realismus. ›Nach unten‹, ›mit der Innenseite nach außen‹, ›Kopf über‹ – mit diesen Bewegungen ließen sie sich beschreiben. Sie werfen um, drehen herum, kehren das Oberste zuunterst, setzen den Hintern an die Stelle des Gesichts, und dies alles sowohl im räumlichen als auch im metaphorischen Sinn.« Michail Bakhtin, Rabelais und seine Welt (Bakhtin 1998: 415)

Joyces Ulysses ist bekannterweise ein komischer Roman, der Schlüsselelemente aus Homers Odyssee in seinen formalen Aufbau integriert. T. S. Eliot nannte dies 1923 in seiner berühmten Kritik des Romans eine »mythische Methode« und bezeichnete sie als eine spezifisch moderne Weise, dem Chaos des zeitgenössischen Lebens eine Form und Gestalt zu geben – wobei er sie gleichzeitig von der üblichen literarischen Praxis des Hinzufügens von »Anspielungen« unterschied. Letztere stellt eine Form der Bereicherung für ein Werk dar, das aber auch ohne diese problemlos existieren könnte (vgl. Eliot 1975: 177). Sowohl Joyce als auch Eliot haben in einem Ausmaß mit Anspielungen gearbeitet, ohne das kein aussagekräftiges und kohärentes Werk übrig bleiben würde – womit sie die Gegenüberstellung von Werk und Anspielung oder auch von Text und Anhang zum Einsturz brachten. Doch nun, am anderen Ende desselben Jahrhunderts, erfüllt sich die Vorhersage Eliots, nach der diese Methode »nach Joyce noch andere werden fortsetzen müssen«,3 zum zweiten Mal. Wie Ulysses und

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The Waste Land wird auch der Comic Tank Girl: The Odyssey [Abkürzung: TGO] durch eine Parallelsetzung von Zeitgenössischem und Antikem strukturiert. Allerdings ist diesmal der Kontext eher postmodern als modern, und Joyce selbst ist Teil der Vorzeit geworden, die nunmehr zum freien Gebrauch zur Verfügung steht. Wenn Joyce der Autor ist, der in der Moderne die Unterscheidung zwischen »Hoher Kunst« und Populärkunst am stärksten angefochten hat, nur um schließlich an die Spitze des literarischen Kanons des 20. Jahrhunderts zu avancieren, dann ist es nur gerecht, diese Grenzziehung unter Rückgriff auf Joyces Werk erneut in Frage zu stellen. Diesmal kommt die Dekonstruktion allerdings von »unten«: Eine der populärsten internationalen Comic-Serien des 20. Jahrhunderts führt in einer vierteiligen Serie seine Titelheldin namens Tank Girl mit Joyce und Homer zusammen.4 Ebenfalls bemerkenswert sind der Witz und das Geschick, mit dem das Projekt ausgeführt wurde, insbesondere auf der verbalen Ebene, die in ihrem polysemen Spiel mit der polytropen Heldin beizeiten durchaus joyceanisch ist. Tank Girl war 19 Jahre alt, als sie am 15. Januar 1988 in einer heruntergekommenen Pension in Worthington geboren wurde, einem pittoresken Dorf an Englands Südküste, in das sich überalterte Pensionist_innen zum Sterben hinbegeben. Ihre Eltern Jamie Hewlett und Alan Martin erzählen, dass sie große Mengen an billigem Bier bei dem Versuch konsumiert hatten, für die Erstlingsausgabe eines neuen Magazins etwas radikal Anderes zu erfinden. In einer Donnerstagnacht um circa drei Uhr früh kam ihnen letztendlich die Idee für einen weiblichen Charakter, eine Aggro-Skinhead-Frau aus Australien (also von »down under« insexueller, geografischer, nationaler, politischer, sozioökonomischer und kultureller Hinsicht). Tank Girl wurde gerade rechtzeitig zur Veröffentlichung der ersten Ausgabe eines passenderweise mit »Deadline« betitelten Magazins geboren. Dieses ist von Steve Dillon und Brett Ewins kreiert worden, um ein Forum für neue Comic-Talente zu schaffen und das Wilde, Verrückte und bis dato nicht Veröffentlichungswürdige zu publizieren – Tank Girl erfüllte ihre Wünsche in allen Bereichen.5 Ihre Geburt fand etwa ein Jahr nach jenem Fotoshooting statt, bei dem sich die britische Premierministerin Margaret Thatcher in einem Panzer abbilden ließ. Der Beginn der Serie kollidierte zudem mit dem bedeutsamen Zeitpunkt forcierter Einschränkung der Pressefreiheit in der Ära Thatchers in Großbritannien.6 Im Zusammenhang mit diesen Maßnahmen ist sowohl die Produktion von Tony Harrisons v. für BBC4 zu sehen (in der der Dichter in die Rolle eines Graffiti sprayenden, zotigen Skinheads schlüpft) (vgl. Harrison 1989) als auch die Erfindung von Tank Girl, die als Hybrid aus Hochkultur und Populärkultur die politischen Versuche zur Einschränkung kultureller Produktion herausfordert. Der Comic wurde sofort ein Erfolg und verbreitete sich wie eine neue Welle des britischen Imperialismus über Spanien, Italien, Deutschland, Skandinavien, Argentinien, Brasilien, Japan und die USA. Als sich Tank-Girl-T-Shirts

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immer stärker verbreiteten – eines der Motive war für eine Demonstration gegen die homophobe Gesetzgebung Thatchers, insbesondere die Klausel 28, entworfen worden – kaufte Wrangler Jeans die Rechte von Tank Girl für ihre individualistisch-anarchistisch angelegte Image-Werbekampagne von 1991. Hewlett und Martin publizierten daraufhin zwei Serien, in denen in (Pseudo-) Plots Wrangler-Jeans beworben wurden: »Wenn du einmal gemerkt hast, wie toll es ist, eine Wranglers zu tragen, dann wirst du auch merken wie toll alles andere ist… Löse dieses Rätsel selbst, Mann, ich mach mich mal wieder auf den Weg, nur ich und meine Wranglers.« (Hewlett/Martin [1993] 2002: o.P.).7 Die Punk-Mode-Designerin Vivienne Westwood ließ das Supermodel Sarah Stockbridge als »Tank Girl« auftreten, was zur weiteren Verbreitung des Looks in den Magazinen Elle, Time Out, Select, The Face und auch Vogue führte. Im Letzteren wurde der Einfluss Stockbridges auf die »Bad Girl Fashion« (rasierter Schädel, Piercings, Tattoos) der frühen 1990er Jahre hervorgehoben. Gleichzeitig stylten sich die Mitglieder der Girl-Band Fuzzbox für Werbefotos als Tank Girl, und verbreiteten dadurch den Jugendkult noch weiter. In ihrem kurzen Leben hat Tank Girl schon einige Entwicklungsschritte vollzogen. Ganz zu Beginn ist sie eine Pilotin in Australien, die für eine obskure australische Organisation arbeitet und für diese eine Reihe zusammenhangloser Missionen ausführt. Während einer dieser Missionen – Tank Girl bekommt den dringenden Auftrag, einem alternden australischen Präsidenten einen Beutel für dessen künstlichen Darmausgang zu überbringen – wird sie auf dem Weg von einem liebestollen Monster angegriffen. Die Verzögerung in der Ausführung des Auftrags hat zur Folge, dass der Präsident während einer bedeutenden internationalen Handelskonferenz einen »Haufen in seine Hosen ablädt« (Hewlett/Martin [1991] 2002: o.P.). Tank Girl wird zur Kriminellen erklärt: Es wird ein Kopfgeld von einer Million Dollar auf sie ausgesetzt. Tank Girl zieht sich mit ihren Freund_innen ins australische Hinterland zurück, um dort zu leben, mit Ninjas und Monstern zu kämpfen und mit ihrem guten Freund und bevorzugten Sexualpartner, dem sprechenden Känguru Booga, eine gute Zeit zu verbringen. 1989 kommt es zu einer dramatischen Wende, als Tank Girl gegen ihren Willen nach London übersiedelt wird, um dort heftig zu postmodernisieren. An dieser Stelle kündigen Hewlett und Martin dem Comic ihre Loyalität auf: Alles, was einer »Serie« noch ähneln könnte, verschwindet. Die Geschichten hängen nicht mehr zusammen. Sie hören mittendrin einfach auf, driften ab, verschieben sich manchmal und werden in der Mitte umgeschrieben, die narrative Schließung fehlt. Dafür gibt es wahllose Spin-offs mit Sub Girl, Jet Girl und Booga, die jede_r hin und wieder ihren eigenen Strip bekommen. Die belanglosen aber verspielten Titel reichen von Jet Gurl [sic!] in: Hairy Pussy zu Fucked Up Afro Zombie Babes From Nowhere. Jack Kerouac gesellt sich in Blue Helmet 1 und 2 dazu (vgl. Hewlett/Martin [1993] 2002).

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Die nächste wichtige Stufe in Tank Girls Karriere ist ihr Auftritt im Kino. Hewlett und Martin standen dieser Idee zunächst kritisch gegenüber – Jamie bezeichnete den Entwurf dieser Tank-Girl-Version als einen »Rambo mit Titten« – aber sie gaben schlussendlich doch nach. TANK GIRL (USA 1995) wurde vom 21. Juni bis zum 15. Oktober 1994 gedreht, die ersten zehn Tage in der White Sand Desert in New Mexico und der Rest in einer verlassenen Mine in der Nähe von Tucson, Arizona. Er kam am 31. März 1995 in den USA und am 16. Juni 1995 in Großbritannien in die Kinos und ist banal, stumpfsinnig und einfallslos. In der Eingangsszene des Films reitet eine einsame Gestalt (die sich als Tank Girl entpuppt) auf einem Wasserbüffel durch die Wüste. Diese Szene wird in TGO2 karikiert: Einer der männlichen Gefolgsleute Tank Girls, O’Why, liefert einer Horde gigantischer kannibalistischer Filmproduzenten (den Lestrygonians, die von Lester Gonadian angeführt werden) einen movie pitch:8 »Aus der Dunkelheit…eine sanft hügelige Wüstenlandschaft… jungfräulicher Sand, möglichkeitsschwanger… /und aus der Ferne … kommt uns ein Reiter entgegen… Ein Reiter. Das gefällt mir. Ein Reiter… ein dunkler Fremder…rittlings, kaum zu glauben, auf einem struppigen Wasserbüffel…/ein Reiter, in seltsame Tracht gehüllt – Ein dystopischer Pastiche, geborgen aus den Ruinen einer untergegangenen Zivilisation./Der Reiter nimmt seine Maske ab… und offenbart sich uns… als Frau./Ein gebleichter blonder Haarschopf, raffinierte Augen, einen Ausdruck auf den Lippen, der zwischen Schelmenhaftigkeit und tiefer sexueller Devianz zittert… Hey, ist das ein Haufen Scheiße oder ein Haufen Dreck, ich kann mich nicht entscheiden… das Pitch-Treffen ist vorbei, Verlierer. Warte! Es wird besser! Es wird besser! Nicht in diesem Leben, nein. AIEEEEEE!« 9 (Hewlett/Martin/Milligan [1995] 2002: o.P.)

Die TGO-Serie wurde nach dem Kinofilm produziert und setzte damit an einem besonderen Moment in der Geschichte der Heldin an. Sie reflektiert eine Krise oder einen Wendepunkt im Zusammenhang mit der gegenkulturellen Ausrichtung des Comics. Nach dem scheinbar totalen Ausverkauf versuchte sie etwas Authentizität wiederzuerlangen. Das Thema der medialen Ausschlachtung stellt einen großen Teil der Nebenhandlung: Während Tank Girls Abwesenheit in Australien/Ithaca machen Werber in Gestalt von Medienvertretern Booga den Hof, welcher seinerseits zum Penelope/Molly-Charakter wird. Die Kernfrage lautet: Wird er sich an die Vergnügungsindustrie verkaufen und eine eigene Karriere starten, oder wird er seine liebenswürdige und schwache Persönlichkeit behalten und Tank Girl immerzu treu bleiben? Der Anführer seiner Werber ist ein großkotziger Anzugträger aus Hollywood namens Tony the Blazer. Die-

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sem widersteht Booga mit mehreren Kunstgriffen, etwa mit Hilfe der Ausrede »ein paar Näharbeiten erledigen zu müssen« (ebd.).10 Tank Girl wird von ihrer Mutter als »Miss Super-Star lah-di-dah« verspottet, und von den »Sirenen« als »diese australische Faulenzerin über die sie einen Film gemacht haben« bezeichnet (ebd.).11 Am Anfang von TGO ist Tank Girl übergewichtig und nicht gerade in Form, da sie unter der Kontrolle der »Götter der Korpulenz« steht. Als sie bemerkt, Abbildung 9: Tank Girl erschießt den allwissenden modernistischen Erzähler (Hewlett/Martin/Milligan [1995] 2002: o.P.)

dass sie nicht mehr in ihren Panzer hineinpasst, ist sie »geometrisch ein wenig peinlich berührt« (ebd.).12 In einem inneren Monolog reflektiert sie die Ursachen: »Wenn ich so zurückschaue, fällt mir erst auf, dass mir der weltweite Ruhm nicht nur zu Kopf, sondern auch zu Bauch gestiegen ist… Bei der Tour zum Film meines Lebens hat alles begonnen, falsch zu laufen… aber wie lange stecke ich hier schon auf dieser Calypso-Party fest? Wie lang hab ich ihre idiotischen Texte angehört und gemeinsam mit Keanu Reeves und Julia Roberts in mich hineingefuttert?« (Ebd.)13 Ein Erzähler aus dem Off deutet an, dass ihr Gewicht etwas mit ihren Essgewohnheiten zu tun haben könnte: »Tank Girl isst genüsslich die inneren Organe von Tieren und Geflügel und auch alles andere, das man ihr vorsetzt/Eingeweide, Leber, Nieren, Hirn rutschen ihren Verdauungstrakt hinab, als ob es kein Morgen gäbe.« (Ebd.)14 Sie antwortet in wahrer

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Tank-Girl-Manier: »Hey, du stellst mich dar wie eine echte Gammlerin… das ist meine Geschichte, und ich will sie erzählen./Hey, ich rede mit dir, du verdammte dreckige modernistische allwissende Stimme,« (ebd.)15 und sie sprengt eine Schattengestalt in die Luft, die ausgesprochen an James Joyce erinnert. TANK GIRL (USA 1995) ist tatsächlich nicht besonders gelungen, wenn es in dem Film auch ein paar gute Momente gibt. Film und Comic unterscheiden sich jedoch dahingehend, dass der Film zu einer »realistischen« Erzählweise tendiert, die durch die Spezialeffekte verstärkt wird, und damit dem FantasieModus eines Comics oder Animationsfilms entgegengesetzt ist. Der Film ist dem Comic insofern treu, als er ihn zum Leben erweckt und am Bildschirm verwirklicht, indem er also vorgibt, dass die Charaktere tatsächlich existierten. Aber dieser Erfolg steht auch im Zeichen einer Verfehlung: dem Verlust des Fantasie-Effekts. Das Ergebnis ist eine Verwischung von Genres und Medien – die gleiche Art von Verwirrung, die selbst zum Inhalt tragikomischer Werke wie Don Quijote von Miguel de Cervantes oder Madame Bovary von Gustave Flaubert wurde. Ich möchte nicht nahelegen, vor den Regeln der Genres in die Knie zu gehen, aber was auch immer in postmoderner Promiskuität gewonnen werden kann, geht unvermeidbar mit Verlusten einher.16 Es gibt eine Reihe von scheinbar völlig wahllosen Szenen im Tank-GirlFilm, in denen kurze comicartig animierte Einschübe auftauchen, die durch ihre plumpe Kontrastwirkung den »Realismus« der filmischen Repräsentation nur noch verstärken. Das, was eigentlich ein Comic ist, soll aussehen, als wäre es ein Film. Gleichzeitig werden wiederum »echte« Menschen und Dinge dazu gebracht, sich wie in einem Cartoon zu verhalten. Das genuine Wesen von Comics – dieses teilen sie mit Animationsfilmen, der Commedia dell’arte, SatyrSpielen und ähnlichen Genres – besteht darin, dass sie in ihrer Darstellung nie ein zureichendes Maß an Realismus zu erreichen versuchen. Im letzten Jahrzehnt haben Kinofilme jedoch zunehmend versucht, diese Unterscheidung aufzubrechen, indem sie uns immer wieder unangemessen realistische Comics und Fantasien vorgelegt haben. Die mediale Kartografie eines Filmes wie WHO FRAMED ROGER RABBIT (USA 1988) betont die Differenz, indem er mit visuellen Mitteln deutlich zwischen »Toon Town« (der Welt der Comic-Charaktere) und der »echten« Welt trennt. Der Film TANK GIRL (USA 1995) spielt ebenfalls mit diesem Unterschied zwischen Comic-Repräsentation und realistischer Nachahmung, versucht aber diesen Umstand zu überwinden, indem er einen gefilmten Comic mit cartoonhaften Menschen anstelle von animierten Simulationen einsetzt. Während Booga im Comic eine der Fantasie entsprungene Verkörperung eines sprechenden Kängurus ist, sind die »Rippers« im Film bloß Menschen mit falschen Ohren, Schnauzen und Schwänzen. Im klassischen griechischen Theater wurden Satyre durch einen eigenen Auftritt geehrt: Wir wissen mittlerweile, dass die berühmten Trilogien griechischer Tragödienschreiber_innen in Wahrheit Tetralogien waren, wobei das vierte

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Stück – das letzte Stück des Tages – ein Satyr-Stück war, das von dem_r selben Dramatiker_in geschrieben wurde und das anstelle des tragischen Chors von alten Männern, Opferträger_innen oder Furien einen Chor aus Satyren präsentierte. Diese waren halb Mensch, halb Tier, ziegenfüßig, pferdeohrig, langschwänzig. Der Satyr ist zudem derb, ständig betrunken und wollüstig. Sein am stärksten hervorstechendes Attribut ist sein riesiger erigierter Phallus, und sein Auftritt, der direkt nach der Tragödie kam, holte die Zuseher_innen wieder auf den Erdboden zurück, zurück von einer metaphysischen Begegnung mit dem Schicksal und den Göttern hin zu einer Offenbarung dessen, was sie mit den Tieren verbindet. Die Präsenz des Satyrs am Ende des tragischen Tages macht den Geist des griechischen Theaters verständlicher, der beides einschließt: Die ehrfurchtsvolle Stille am Ende der tragischen Katharsis kann sofort vom unzüchtigen Schellen des Tambourins eines Satyrs abgelöst werden. Das SatyrSpiel ist obszön, plump, lärmend und aufmüpfig, aber es koexistiert mit der Tragödie, um das Publikum in ein Feiern zu entlassen, das durch kein tragisches Element besiegt werden kann.17 Comics sind ebenfalls ein marginales Genre, aber anders als das Satyr-Spiel teilen sie ihr Publikum nicht mit dem von seriöser Literatur. Bei dem Versuch, diese marginalen Werke zu theoretisieren, können wir bei Mikhail Bakhtin einige hilfreiche Hinweise finden. Diese helfen uns zu verstehen, wie Tank Girl als Produkt des 20. Jahrhunderts alle wesentlichen Merkmale des griechischen Satyr-Stücks inkorporieren kann, die es gleichzeitig mit Werken von Joyce und Rabelais teilt. Wie Michael Holquist schreibt, geht es in Bakhtins Buch über den Karneval zwar einerseits um die »subversive Offenheit des Rabelais’schen Romans, aber das Buch selbst ist ebenfalls auf subversive Weise offen« (Bakhtin 1986: xvi).18 Das für das Werk zentrale Konzept des »grotesken Realismus« ist eine direkte Umkehrung der künstlerischen Werte des sozialen Realismus der 1930er Jahre (ebd.). Bakhtin zufolge war es Rabelais’ Ziel, »das offizielle Bild seiner Epoche und ihrer Ereignisse zu zerstören […] Er mobilisiert alle Mittel der nüchternen volkstümlichen Motive, um aus der Darstellung der unmittelbaren Gegenwart alles Offizielle und die von den Interessen der herrschenden Klassen diktierte, beschränkte Seriosität auszutreiben. Rabelais glaubte seiner Epoche nicht, er übernimmt nicht einfach, was sie über sich selbst sagt und wofür sie sich selbst hält. Er will im Auftrag des ewig wachsenden, unsterblichen Volkes ihren Sinn ermessen.« (Bakhtin 1998: 483)

Bakhtin betont weiters die wichtige Rolle, die das materiell Körperliche bei Rabelais einnimmt. Ausgedrückt wird dieses Prinzip durch die übertriebene Darstellung von Körpern, die mit Essen, Trinken, Ausscheidungen oder sexuellen Aktivitäten beschäftigt sind. Das nennt er »grotesken Realismus« und verteidigt seinen zutiefst positiven Charakter: Der Körper ist im Gegensatz zu eingeschränkteren, spezifisch privateren und selbstgefälligeren Aspekten der

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Existenz universell und betrifft in seiner Darstellung die gesamte Menschheit. Wie schon der Geist von Tank Girls Mutter sagt: »Ich weiß, es kling etwas würdelos… Aber wir werden zwischen Pisse und Scheiße geboren… also haben wir ohnehin wenig, auf das wir stolz sein können, oder?« (Hewlett/Martin/Milligan [1995] 2002: o.P.)19 Das Grundprinzip des grotesken Realismus ist die Herabsetzung von allem, was spirituell, ideell oder abstrakt ist, und das Verschieben des Fokus und der Wertschätzung auf die materielle Ebene, auf die Sphäre der unauflöslichen Einheit von Erde und Körper. Es werden jene Teile des Körpers hervorgehoben, die offen sind und mit der Außenwelt interagieren: der offene Mund, die Genitalien, die Brüste, der Anus, die Nase. Ebenso konzentriert man sich auf den Austausch von Körperinnerem und -äußerem mit all seinen Ausdünstungen, die durch Handlungen der Aufnahme (essen, trinken, sexuelle Vereinigung) und der Absonderung ausagiert werden: Blähungen, Ausscheidung, Urinieren, Ejakulation, Menstruationsblut, Nasensekrete, Schweiß, Tränen. Bakhtin zufolge vertritt Rabelais die Wiedergeburt einer Form grotesker Metaphorik, die in der Mythologie und der archaischen Kunst aller Völker, auch der präklassischen Griechen und Römer, gefunden werden kann. In der Klassik wurde schließlich das Groteske aus der offiziellen und öffentlichen Kunst ausgeschlossen, um in bestimmten »niederen« nichtklassischen Bereichen weiterzuleben und sich dort zu entwickeln. Tony Harrisons Silenus drückt es folgendermaßen aus: »They set up a contest, rigged from the start,/to determine the future of ›high‹ and ›low‹ art. They had it all fixed that Apollo should win/and he ordered my brother to be flayed of his skin.« (Harrison 1990: 125) Bakthin misst der institutionalisierten Sprache in seiner Studie großen Wert bei. Sobald das Konzept des grotesken Körpers aktiviert wird, so schreibt er, werden Schwüre, Flüche und Schimpfwörter ausgesprochen, die reich an Körpermetaphern sind. Das Konzept leistet damit seinen Beitrag zu jener widersprüchlichen Sprachenvielfalt, die Bakhtin »Heteroglossie« nennt und die er mit kultureller Gesundheit assoziiert. Der Heteroglossie setzt er das Monologische entgegen, das meistens von der offiziellen Kultur gefördert wird. Sein Konzept von Dialog und Polyphonie sind eng mit den Konzepten Heteroglossie und Karnevalisierung verbunden. Sie konstituieren sein visionäres Verständnis von (geschriebener, mündlicher oder in Form eines inneren Monologs realisierter) Sprache als Konfliktfeld vielfältiger Sprachvarianten, die vom Literarischen und Poetischen über sämtliche möglichen Fachjargons bis zum Trivialen, zu Gebrauchstexten, Umgangssprachlichem, Obszönem und Primitivem alles abdecken. Das Mittelalter sieht Bakhtin als Ära »monologischer« Kontrolle und Repression – was nicht von ungefähr an die Form offizieller Kultur in der angloamerikanischen Politik erinnert, die in den 1980er Jahren wieder an Kraft gewann. Er argumentiert weiter, dass Rabelais diese Kultur »dialogisiert«, indem er die Gegenstimme des Karnevals erschafft, die die autoritären Äußerungen unterminiert.

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Dabei geht es nicht so sehr um die Ersetzung eines »hohen« kulturellen und literarischen Sprachniveaus durch ein niederes, sondern um die polyphone Vereinigung aller Ebenen. Dies ist auch eines der auffallendsten Merkmale von TGO, wo sich die sprachliche Vielfalt gegenüber früheren Episoden sogar noch verstärkt. TGO bietet ein Sprach-Spektrum von joyceanischer Bandbreite: Dieses reicht vom Esoterischen, Archaischen und Polysyllabischen – »antipodean« [Antipode/Australier_in], »fibrillate« [fibrillieren], »hirsute« [borstig], »incontinence« [Inkontinenz], »phantasmagorical« [phantasmagorisch], »stigmata« [Stigmata], »unfructuous« [unfruchtbar] – bis hin zum Skatologischen und Obszönen: »bugger« [Arschficker], »bullshit« [Scheiße/Unsinn], »crap« [Schrott], »fart« [Furz], »hump« [bumsen], »pecker« [Schwanz], »piss« [Pisse], »prick« [Scheißkerl], »screw« [ficken], »shit« [Scheiße], »tits« [Titten], und »wankers« [Wichser]. Diese Wörter werden nicht einfach beliebig eingestreut, sondern in Verletzung jedweden Kodes der linguistischen Zugehörigkeit humorvoll eingesetzt und oft im gleichen Satz kombiniert: »phantasmagorical piss-up« [phantasmagorisches Besäufnis], »retroussé sniffer« [Stupsnase], »snot-rag of my loins« [Rotzlappen meiner Lenden], »Tank Whore whose turret knows no shame« [Panzerhure, dessen Geschützturm keine Scham kennt], »peerless rectal eructations… farts that bring things back to life« [Unvergleichliches rektales Aufstoßen… Furze, die tote Dinge wieder zum Leben erwecken.]. Zusätzlich zu ein paar fehlerhaften lateinischen Begriffen wie ad altara Dei gibt es auch lenehaneske20 Einsprengsel von Fremdwörtern wie Heimat, ingenué oder retroussé und eine Überfülle an humorvoll schwerfälligen Sätzen: »nonchalantly akimbo pose« [lässige AkimboPose], »post-prandial troyalism« [Postprandialer Troyalismus], »palpably animate« [offensichtlich belebt], »questionable pulchritude« [fragwürdige Schönheit], »ineluctable modality« [unvermeidliche Modalität], »omniscient voice« [allwissende Stimme], und »rocks of oblivion and the whirlpool of culture« [die Felsen des Vergessens und der Whirlpool der Kultur]. Joyces bravouröse Onomatopoetika in Ulysses (Hissss, Pwee, Tschink, Tschunk, Fff, Oo, Rrrrrrsss, Rrpr, Kraa, Kraandl, Prrprr, Pprrpffrrppffff, rrrsssstt awokwokawok) werden in TGO durch eine ähnlich zungenbrecherische Palette an Signifikanten herausgefordert (Aarkk, Bhof, Crunk, Fwoor, Huargkk, Hyauk, Ptew, Riip, Scar-pah, Poaw). Obwohl die grafische Form des Comics in TGO auffällig ausgereizt wird, wirken die Effekte im Vergleich zu den Extravaganzen der früheren London-Periode eher gedämpft. Als wäre es durch Joyce kontaminiert, sind es in TGO stattdessen die Sprache und der Einsatz von Spracheffekten, die die größte Kreativität und Ähnlichkeit mit Joyces Ulysses aufweisen (vgl. Hewlett/Martin/Milligan [1995] 2002: o.P.). Bakhtins Theorie des Karnevals ist auch ein Beispiel für eine »Gegen-Erzählung«. Schriebe ich diesen Artikel für eine Publikation in den USA oder für eine Cultural-Studies-Tagung, müsste ich mich hier in heroischer Rhetorik über kulturelle Oppositionen ergehen. Ich müsste Begriffe wie dominante Konstruktionen und wirkungsvolle Dissidenz ausgehend von kulturell oppositionellen

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Orten, marginalisierte Subversion der Hegemonie, oder gegen-hegemoniale narrative Überschreitungen verwenden. Die meisten meiner Leser_innen hätten sich bereits entschieden – entweder wären sie überzeugt, dass Gegen-Erzählungen universell und unvermeidbar sind oder aber vollkommen unmöglich. Im letzteren Fall würde Adorno genannt werden wie auch die Erb_innen der »Bewusstseinsindustrie«-Theorie. Meine eigene bescheidenere Definition des Begriffs ruht dagegen auf der viel gewöhnlicheren Beobachtung, dass Menschen ihr Verständnis von sich und der Welt über Erzählungen erlangen – Erzählungen, die von Eltern geliefert werden, von Lehrer_innen, Berichterstatter_innen, »Autoritäten« und von all jenen anderen Autor_innen dessen, was wir die Quellen des Common Sense nennen. Wie Hayden White betont, vermitteln uns solche Erzählungen eine Welt, die sich uns nicht bereits kohärent und als Geschichte darbietet – die Konstruktion von narrativen Diskursen dient dem »moralischen Urteil« (White 1990: 38).21 Sie liefern eine Version der Realität, deren Akzeptabilität eher von Konventionen und »narrativen Erforderlichkeiten« geregelt wird denn von empirischer Verifikation und logischen Anforderungen. Auf individueller Ebene werden die Schilderungen der Ereignisse unseres eigenen Lebens schlussendlich in mehr oder weniger kohärente Autobiografien verwandelt, die sich um das drehen, was wir gerne ein Selbst nennen, das mehr oder weniger zielgerichtet in einer sozialen Umwelt handelt. Auch auf kollektiver Ebene werden soziale Realitäten durch Erzählungen verhandelt. Letztendlich wird eine gewisse Anzahl individueller Geschichten in einem Ganzen vereint, das einmal Kultur und einmal Geschichte genannt wird, oder, vager formuliert, Tradition. Gegen-Erzählungen wiederum können von Individuen oder Gruppen verwendet werden, um jene dominante Realität und das dazugehörige Netz von Hypothesen anzufechten oder zu verändern. Gegen-Erzählungen sind nicht notwendigerweise subversiv – sie verdichten sich zu reichhaltigen Heteroglossien narrativer Alternativen. Man denke nur an Batman, der in vielerlei Hinsicht eine Gegen-Erzählung oder auch eine Gegenstück-Erzählung zu Superman ist. Superman ist ein Geschöpf des Tages und des Himmels, dem Sonnengott Apollo verwandt. Batman dagegen ist nachtaktiv, einem Nagetier ähnlich, feminisiert, ein Begleiter Hecates und des Mondes. Auch Innen und Außen werden vertauscht: Superman ist im Kern ein Superheld, spielt aber nach außen den weinerlichen sanften Clark Kent. Batman ist Bruce Wayne und im Kern menschlich. Er muss sich verkleiden, um die Heldenrolle anzunehmen, anstatt sie als sein wahres Selbst zu enthüllen. Dennoch, sowohl Superman und Batman als auch Captain Marvel, Captain America und der ganze Rest dieses mysteriösen maskierten und muskelbepackten wechselhaften Stamms, können als »rekuperierte« Satan-Figuren identifiziert werden, die für Recht und Ordnung sorgen. Robert Hughes geht ihrer Ikonografie im Detail nach und sieht sie als »letztes Aufflackern satanischer Allmacht und luziferianischer Schönheit, wenn auch mit vorspringendem Kiefer« (Hughes 1968:

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281).22 Damit verrichtete also in den späten 1930er Jahren der Anti-Christ, der Wundertäter, in Form von Superman und im Auftrag von J. Edgar Hoover seine Arbeit, und verteidigte die Demokratie in einer Erzählung, die wir eine GegenGegen-Erzählung nennen könnten.23 James Joyces Ulysses ist zweifellos eine der elaboriertesten und intensivsten Gegen-Erzählungen, die jemals in (fast) englischer Sprache geschrieben worden sind. Infolge seiner Aufnahme in den literarischen Kanon der englischsprachigen Literatur gerät indes in Vergessenheit, dass gerade das, was Ulysses Kraft verleiht, der Idee von »HochLiteratur« im Allgemeinen und englischer Sprache und Literatur im Speziellen diametral entgegengesetzt ist. Das Buch funktioniert in vielerlei Hinsicht als ein Akt literarischer Herausforderung des gesamten Komplexes künstlerischer, sozialer und historischer Voraussetzungen und Praktiken. Sein ursprünglicher Wert bemisst sich damit zum Teil an der Art und Weise wie es vorhandene Konventionen, indem es sie herausfordert, transzendiert und Alternativen zu ihnen anbietet. TGO entspricht Ulysses, aber indem es ihm als Gegen-Erzählung wirklich entspricht, spricht es auch gegen seinen Vorgänger. Joyces entdeckte die Figur des Odysseus, als er mit zwölf Jahren Charles Lambs Adventures of Ulysses las. Odysseus inspirierte ihn so sehr, dass er diesen zum Gegenstand eines Schulaufsatzes mit dem Thema »Mein Lieblingsheld« machte. Schon damals war der Fachmann für »Stille, Exil und Gerissenheit«24 scheinbar zum Olyssischen [Ulyssean] hingezogen, das das Oxford Englisch Dictionary als »Odysseus in Geschicklichkeit oder List ähnelnd« definiert.25 Dies antizipiert ein Verdikt, das Joyces erst später aussprechen sollte: Es besteht in der vernichtenden Erkenntnis, dass »die gesamte Struktur des Heldentums eine einzige verdammte Lüge ist und immer schon war« (Joyce/Ellmann 1966: 81).26 Joyces Heldenwahl war tatsächlich eigenartig und vom konventionellen Standpunkt aus gesehen anti-heroisch, bedenkt man, dass die Odyssee als heroische Suche nach Heimat, Herd, Frau, Familie und dem treuen Hund Argus bereits eine anti-heroische Gegen-Erzählung zum Kriegs-Epos Die Ilias war. Bereits im fünften Jahrhundert war Odysseus zur Zielscheibe für einen stinkenden Nachttopf in Aeschylus’ parodistischem Satyr-Stück The Bone Gatherers geworden. Bakhtin hebt hervor: »Die Figur des ›komischen Odysseus‹, eine Parodie seines hohen epischen und tragischen Rufes, war eine der beliebtesten Figuren von Satyr-Stücken, alten dorischen Farcen und prä-aristophanischen Komödien, ebenso wie von einer ganzen Serie kleinerer komischer Epen, parodistischer Reden und Wortwechseln, an denen die Komödie alter Zeiten so reich war (besonders im Süden Italiens und in Sizilien.) Charakteristisch ist hier die besondere Rolle des Motivs der Verrücktheit im ›komischen Odysseus‹: Bekannterweise setzte Odysseus die Narrenkappe eines Clowns auf (pileus) und spannte sein Pferd und seinen Ochsen vor einen Pflug, um Geistesgestörtheit vorzutäuschen und damit eine Beteiligung am Krieg zu vermeiden.« (Bakhtin/Holquist 1981: 54) 27

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Eine typische Gelehrtensicht auf Odysseus als inadäquaten Helden kann man bei L. R. Linds Einleitung zu seiner Übersetzung der Aeneis von Vergil finden: »Odysseus wird von Motiven getrieben, die kaum nobel genannt werden können«. Er »ging unwillig in den Krieg« und zeigt wenig mehr als den Wunsch, »nach viel fruchtlosem Kampf nachhause zurück zu kehren«. Aber nicht einmal hier, so Lind, ist er »mit seinem erklärten Vorhaben sehr ehrlich«. Er kehrt erst »nach zehn Jahren ziellosen Wanderns nach Hause zurück. Diese Wanderungen schließen lange Aufenthalte an Orten mit ein, deren Anziehungskraft sowohl Rachegefühle als auch Heimweh aufzuwiegen scheint. Man kann nicht behaupten, dass Odysseus tatsächlich immer sein Bestes tut. Seine charakteristische und häufige Antwort auf schwierige Situationen ist ›Time out‹: Vor Troja, als Achilles schon begierig ist, sich in die Schlacht zu stürzen, drängt Odysseus dazu, zuerst zu essen und dann erst zu kämpfen […] Odysseus ist keineswegs ein treuer Ehemann, und seine Seitensprünge sind zudem die eines gleichgültigen Lüstlings, der es sich angewöhnt hat, sich die Lust zu nehmen, wo er sie findet.« (Lind/Vergil 1963: ix-x)28

Diese negativen Eigenschaften mögen für Joyce wie auch für Tank Girl viel anziehender gewesen sein als ihr Gegenteil. Man bemerke Linds Abneigung gegenüber Körper-Funktionen –sein idealer Held wäre vermutlich eine Killermaschine, die niemals isst, schläft oder Sex hat. Linds Helden-Wahl liegt ein christliches Deutungsmuster zu Grunde: Bereits Dante hat Pius Aeneus gewählt, um ihn durch Hölle und Fegefeuer zu führen. Lind scheint Odysseus deshalb nicht ausstehen zu können, weil dieser zu viel Spaß hat, und noch dazu die falsche Art von Spaß. Diese Ansicht ist von jener des frühen Christentums nicht allzu weit entfernt, das Bakhtin zufolge das Lachen für verdammenswert erklärt hat. Bakhtin merkt beispielsweise an, dass Tertullian, Cyprian und John Chrysostom gegen antike Spektakel und Theater predigten, insbesondere gegen die Mime sowie deren Scherze und Gelächter. John Chrysostom erklärte, dass Scherze und Gelächter nicht von Gott, sondern vom Teufel geschaffen worden seien. Für den_die gute_n Christ_in angemessen seien nur Ernsthaftigkeit, Reue und das Bedauern der eigenen Sünden. Odysseus’ schlechter Ruf hatte sich tatsächlich schon lange vor der Entstehung des Christentums und seiner Körperfeindlichkeit entwickelt. Obwohl er in Sophokles’ frühem Stück Ajax als das Ideal für menschlichen und zivilisierten Umgang dargestellt wird, wird Odysseus von Ajax selbst und seinen Gefolgsleuten mit Verachtung gestraft. Etwa 40 Jahre später entwirft Sophokles in seiner Philoctetes eine Odysseus-Figur, die näher an Ajax’ Sicht ist: einen machiavellistischen Führer, der mit Schlagfertigkeit und Lügen seine Ziele zu erreichen versucht, einen Feigling und Schurken, und noch dazu einen wenig erfolgreichen, denn seine Mission muss letztendlich durch den göttlichen Herakles vollendet werden. In Euripides’ Hecuba lässt sich das wohl hassenswerteste Portrait

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des Odysseus in der gesamten klassischen Literatur finden – dieser ähnelt hier den skrupellosen Politikern des späten fünften Jahrhunderts vor Christus und verkörpert all die Attribute, die Euripides in der zeitgenössischen politischen Szene verabscheute: Streitsucht, Undankbarkeit, Abgestumpftheit und Chauvinismus. Wie Herakles wurde Odysseus ungefähr zur gleichen Zeit zu einer äußerst populären Figur für griechische Komödienschreiber_innen und auch für bildende Künstler_innen, die viel Vergnügen daran fanden, burleske Visionen seiner Abenteuer darzustellen. Joyce hebt das anti-heroische Potential der Odysseus-Figur noch hervor, indem er aus ihm einen friedfertigen irischen Juden macht, der sich nicht nur weigert, Werber zu töten, sondern auch rücksichtsvoll seinem eigenen Haus fernbleibt, um seiner Frau noch mehr Gelegenheiten zur Untreue zu bieten. Als er dann endlich doch heimkehrt, lehnt er die odyssische Rache und Gewalt gegenüber den Werbern ab (vgl. Joyce [1922] 2008). Im Irland von 1904 aus Odysseus einen Juden zu machen, war in einer Zeit aggressiver Ideologien, in der Imperialismus, Rassismus, Militarismus und Misogynie als die ethischen Orthodoxien des Tages zu säkularen Religionen erhoben wurden, immer noch ein gewagter kreativer Sprung. Und eine Verweiblichung der Figur vorzunehmen (»the new womanly man«, wie Mulligan ihn in Circe nennt, Joyce [1922] 2008: 386), diente nicht nur dazu, den militärischen Imperativ zu verletzen, sondern auch dazu, Odysseus in einer Welt, die Juden gemeinsam mit Frauen, Schwarzen und Orientalen immer deutlicher zu einer Gruppe genetisch inferiorer Wesen zusammenfasste, zu einem noch authentischeren »Juden« zu machen. Tank Girl im Jahr 1988 zu einem_r Gegen-Held_in [counter-hero/ine] werden zu lassen, nur zwei Jahre nachdem Margaret Thatcher für ihr »Tank Girl«-Foto posiert hatte, bedeutet eine ähnliche ideologische Konfrontation. Allerdings genügte es dafür noch nicht, einen weiblich gegenderten Helden einen Panzer fahren zu lassen. Sie musste außerdem jegliche gesellschaftliche Verhaltensregel brechen (egal für welches Gender diese gilt) und sich allen vorgefassten Skripts eines politisch korrekten Feminismus widersetzen; und sie musste in einem Comic auftreten, der mit allen formalen Konventionen brach. Und wenn sich all das immer noch vermarkten lässt, wenn sich sogar die semiotische Überschreitung zu einem begehrbaren Konsumgut oder Konsumstil reduzieren lässt und Tank Girl von einem Film nachgeäfft werden kann, der die Serie auf ein noch kommerzielleres Niveau reduziert, dann müssen härtere Maßnahmen getroffen werden. Vom gängigen wissenschaftlichen Gesichtspunkt her erneuert sich »Hohe Kunst«, indem sie sich dazu herablässt, aus den Quellen niederer Populärkultur zu schöpfen. Sie kommt voran, indem sie »eine wenig wählerische und wechselseitige Befruchtung durch undurchsichtige und populäre Genres zulässt« (Kershner 1989: 166).29 Tank Girls kühne Strategie besteht indes darin, dieses Modell umzukehren und eine gezielte Befruchtung mit bekannten literarischen Meisterwerken zu forcieren. Sie selbst

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ist der Keim, der aus einer derartigen Verbindung hervorgeht und ihr Resultat ist die Inversion in der Inversion. Diese erschwert eine Grenzziehung zwischen Hoch- und Populärkultur umso mehr, als sie jene Formen der Überschreitung verhindert, die an der Aufrechterhaltung der Entgegensetzung von Hoch- und Populärkultur in einer joyceschen Art und Weise Anteil haben. Wenn wir nun zu einer genauen Betrachtung der TGO-Serie übergehen, sollte vorweg betont werden, dass die homersche Odyssee gemeinsam mit Joyces Text als Material für die Parodie und das intertextuelle Spiel verwendet wird. Während Joyce seine Molly einen unendlichen »Text« weben und wieder auftrennen lässt (»Text« von textus, dem Partizip Perfekt von textere, »weben«), hält Booga sich seine Werber vom Leib, indem er vorgibt, noch Näharbeiten erledigen zu müssen (vgl. Joyce [1922] 2008; Hewlett/Martin/Milligan [1995] 2002). Odysseus’ treuer Hund Argus wird zu Tank Girls zahmen Koala, der ebenfalls auf den Namen Argus hört. Tank Girl und ihre Crew besuchen tatsächlich die unterirdische Welt der Toten, und die Sirenen in TGO ähneln eher jenen Homers, die, wie Circe warnt, von verrottenden Knochenhaufen umgeben sind. Aber eine solche »Nähe« ist eher selten und nicht der springende Punkt in einem Werk, in dem die Telemachus-Figur sogar über Stephen Dedalus hinaus extrapoliert wird: Sie wird zu einem humanoiden Fernsehapparat namens Tele, der »nicht gezeugt, sondern aus Teilen alter Fernseher, Computer und angeschwemmter Leichen von Surfer-Boys angefertigt wurde« (vgl. Hewlett/Martin/ Milligan [1995] 2002: o.P.).30 Der Name »Tele« behält das »tele« (»entfernt«) von Telemachus bei und kombiniert es über visuelle Wortspiele mit »tele« in »television« (ihm wird die passende Technologie für das »weit sehen« verpasst) und dem homophonen »make us« [mach uns]: »Es ist immer dasselbe. ›Mach uns dies, mach uns das.‹/Tele ist ununterbrochen zu Boogas Diensten – und jenen seiner widerlichen Freier. Man könnte tatsächlich manchmal glauben, sein wahrer Name sei Telemachu[n]s [Telemakeus].« (Ebd.)31 Das Wortspiel verweist hier geschickt auf das joycesche Thema der »servitude« (Joyce [1922] 2008: 453), das sich in Stephens trotzigem »non serviam« (ebd.: 434) bis zu Blooms Widerhall von Leporellos »non voglio più servir« in Mozarts Don Giovanni finden lässt (vgl. Mozart 1977).32 Ebenso wie die Namensgebung scheinen auch die Abenteuer von Tank Girl eher durch die Effekte einer aleatorischen Polysemie der Signifikanten denn durch strukturelle Analogien zwischen Joyce und Homer ausgelöst zu werden. Der für TGO engagierte Schreiber Peter Milligan ist ein wahrer »Voyeur der Benennung« (»ici le voyeur de son nom, le voyeur en son nom, le voyeur depuis son nom«) und dann am glücklichsten, wenn der Zufall einer auf den Namen bezogenen Ähnlichkeit eine neue Plot-Situation erzeugt, die lediglich trans-nominale Ähnlichkeit mit Joyce oder Homer aufweist.33 Beispielsweise werden die »wandering rocks« [wandernde Felsen] – eine Episode, die bei Homer nicht vorkommt, da Odysseus sich für den anderen Weg entscheidet – in TGO zu den

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Abbildung 10: Telemachus als Mensch-Maschine-Hybrid (Hewlett/ Martin/Milligan [1995] 2002: o.P.)

»wandering Ricks« [wandernden Ricks] – zwillingshaften Figuren, die entfernt an Lewis Carrolls Tweedledum und Tweedledee erinnern. Auch sie kollidieren, aber als Geschwister und nicht als Felsen. Unter den absurdesten Passagen befindet sich die Episode des Aeolus, in der die »Winde« der windigen Stadt Troja, die bei Joyce zur »heißen Luft« des Dubliner Geredes werden, sich in »Furze, die tote Dinge wieder zum Leben erwecken« verwandeln (ebd.).34 Diese »Flatutherapie« oder »Wiederauferstehungswinde« sind das Lebenswerk von Dr. Albert Einstein Olus, der als A. E. Olus bekannt ist. Hier haben wir also das Wort »Aeolus«, mit einer Spur von AE (und AEIOU) zusammen mit »olus«, das auf das lateinische olere [riechen] anspielt (vgl. Hewlett/Martin/Milligan [1995] 2002: o.P.).35 Eumaeus wird hingegen zu Old Eugene Mouse, dem Barkeeper am Swineherd Inn, der Tank Girl und ihre Crew dazu überredet, sich als Charlie Chaplin zu verkleiden (die »Erniedrigung« liegt in der Verkleidung als Film-Landstreicher). »Circe« wird zu »Sir Rupert Sir…auch bekannt als Sir Sir« (ebd.), dem Chef von Swine Television. Er spricht mit australischem Akzent und benutzt seinen Reichtum, um Menschen zu Tieren zu machen. Der Name Tony the Blazer spielt auf Joyces Blazes Boylan an, einen Werber von Booga/Molly/ Penelope – und sein Status als Groß-Produzent macht ihn im zeitgenössischen

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Slang gleichfalls zu einem »suit« [Anzugträger]. »Tony« erinnert an Homers Antinoös, den ersten Rivalen von Odysseus, der durch dessen Bogen stirbt, ebenso wie Tony the Blazer das erste Opfer der Hiebe von Tank Girls Hand wird. Das Finale von TGO unterscheidet sich demnach stark von Joyces friedfertiger Transformation des Odysseus-Stoffes, aber auch von Homer, der seinen Odysseus über mehrere Bücher hinweg geduldigen Erniedrigungen und sorgfältigen Planungen unterwirft, bevor er ihm die Katharsis eines groß angelegten Massakers gestattet. Tank Girl entwickelt ihren Plan unverzüglich: »Ich muss offensichtlich richtig durchtrieben sein. Also hab ich gedacht, Tank könnte eine der Wände wegblasen, und dann könnten wir hinein laufen und alle Möbel anzünden, und die ganze Deko zerhauen und Leute verstümmeln.« (Ebd.)36 Während die extrem grafisch dargestellte Gewalt in Homer einen würdevollen, fast rituellen Charakter hat – »/Schnell dem erschossenen fuhr ein dicker stral [sic!] aus der nase/Dunkeles menschenbluts, und schleunig hinweg mit dem fuße/ Stieß er den tisch anschlagend, und warf zur erde die speisen; daß sich brot und gebratnes besudelten.« (Homer/Voss 1806: 202) – sind ihre aberwitzigen Extreme in TGO eher parodistischer Natur – eine gleichzeitige Hingabe und ein auf den Arm nehmen der Gewalt – als Unterhaltung. Tank Girl selbst (ihr Gesicht ist mit Blut bespritzt, nachdem sie ein klaffendes Loch in die Körpermitte eines Calypso-Sängers geschossen hat) bringt es auf den Punkt, als sie sagt: »Oh Mann, wir haben Glück, dass diese himmelschreiende Gewalt nur eine zwerchfellkitzelnde Parodie ist … sonst würden wir echt Ärger kriegen.« (vgl. Hewlett/Martin/Milligan [1995] 2002: o.P.)37 Viele der »Abenteuer« des Odysseus – wie etwa Nestor, Proteus, Scylla und Charybdis, der Hades – werden in TGO nur indirekt erwähnt, während andere wesentlich umfassender behandelt werden. Eines der semiotisch komplexeren und äußerst interessanten Abenteuer wird im Text als »Island of the Oxen of the Godson,« ausgewiesen – zuerst wird hier also das Wort »Sungod«, mit dem der Sonnengott Helios gemeint ist, umgedreht, und dann die Vater/Sohn-Diade aus THE GODFATHER (USA 1972) verkehrt – eine weitere Anspielung auf einen Kinofilm. Die Insel (möglicherweise Sizilien?) wird von einem Mafioso-»Godson« namens Giorgio kontrolliert, der sie mit »Tieren« beliefert, bei denen es sich in Wahrheit um Menschen in Tierkostümen handelt. Von der schlechten Behandlung von Zirkustieren bestürzt – hier finden sich in den Zeichnungen visuelle Anklänge an Fellinis THE CLOWNS (ITALIEN 1970) – hat er »entschieden, dass sich die Mafia dem vollkommen tierfreien Zirkusgeschäft widmen sollte« (Hewlett/Martin/Milligan [1995] 2002: o.P.).38 Um seine sentimentalen Gefühle für (Zirkus-)Tiere kultivieren zu können, zwingt er Menschen, sich an deren Stelle den Misshandlungen auszusetzen. Während Tank Girl in ihrem Panzer gemeinsam mit O’Madagain einem zweiwöchigen Sex-Marathon abhält, beginnt ihre Crew, die »Tiere« zu essen. Die grotesken Mafiosi-Karikaturen der Film-Charaktere quittieren dies mit Kanonenfeuer. Tank Girl versucht ihre Ka-

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pitulation mithilfe eines weißen Taschentuchs zu signalisieren, das allerdings »über und über mit Blut und Rotz bespritzt« ist, weswegen ihr Dawn mit ihren Rosenfingern39 stattdessen eine »weiße Monatsbinde« anbietet (ebd.). Dies beendet den Kampf tatsächlich, aber nicht weil die Mafiosi die Binde als Zeichen der Kapitulation sehen (das heißt, als ein arbiträres linguistisches Zeichen). Stattdessen lesen sie sie als motiviertes Zeichen in ihrer metonymischen Beziehung zum weiblichen Körper und fliehen in angewiderter Empörung: »Es ist eine Sache, unsere fröhlich in Tierkostümen herumtollenden Kumpel zu schlachten und sie dann zu essen, … aber mit einem dieser Dinger in der Öffentlichkeit herumzuwedeln…!« (Ebd.)40 Es handelt sich um selbstgerechte Verteidiger der Sittlichkeit, die endlose Gewaltakte und Verbrechen zwar erlauben, die Linie jedoch bei Sex ziehen. Nicht alle Adaptionen der einzelnen Episoden sind so gelungen und interessant wie diese. Unter den am wenigsten gelungenen befindet sich die Circe-Episode in TGO 4 (vgl. ebd.). In Joyces Erzählung ist dies die bei weitem längste Passage, und zugleich eine der spektakulärsten und brillantesten Teile des gesamten Buches. Ihre Grundidee ist ein Ort, an dem Menschen durch Verzauberung oder dunkle Leidenschaften in Tiere verwandelt werden und eine phantastische Posse vorführen, in der sie in allen Aspekten von dem abweichen, wie Dubliner_innen sich unter tags verhalten. Da diese Form der Abweichung in TGO bereits die Norm ist, bleibt für den Comic kein »Anderswo« mehr, das eine Differenzierung erlauben würde – dies würde einem Toon Town innerhalb von Toon Town in WHO FRAMED ROGER RABBIT (USA 1988)entsprechen oder einer Nighttown innerhalb des Nighttown in Ulysses (vgl. Joyce [1922] 2008). In TGO wird die Rolle der Götter von Tank Girls toter, aber nichtsdestotrotz sich ständig einmischender Mutter eingenommen, die in kritischen Momenten erscheint. Hoch über dem Horizont aufsteigend wie Goyas Version des Saturn, der seinen Sohn verschlingt, beeinflusst diese den Plot ex machina. Sie ähnelt Stephen Dedalus’ jederzeit für einen Auftritt bereiter Mutter in Ulysses, deren chthonische Anwesenheit hinter den Kulissen Stephen immerzu im Hinterkopf behält. Im Circe-Kapitel erscheint diese endlich: »Stephans Mutter, abgemagert, steigt steif in die Höhe durch des Fußboden, in Lepragrau […] ihr Gesicht ist zerfressen und nasenlos, grün von Graberde […] Aus einem Mundwinkel tropft ein Faden grüner Galle« (Joyce 1956: 590f.). Es stellt sich heraus, dass Tank Girls Mutter (von der an einer Stelle als »Motherfather« [Muttervater] gesprochen wird) Tank Girl und ihre Crew heimsucht, weil sie noch vor ihrem eigenen Mann gestorben ist. Sie will seinen Tod, damit er sich zu ihr in den Hades gesellen muss, wo sie ihn bis in alle Ewigkeit quälen kann. Am Anfang von TGO tötet Tank Girl einen »allwissenden Erzähler« in der Gestalt von James Joyce. Ganz so, als ob sie eine von Harold Blooms oedipalen Abwehrmechanismen wörtlich nehmen würde, tötet Tank Girl ihn, um die Einflussangst zu überwinden. Am Ende trifft sie die Entscheidung, ihren fiktiv »echten« Vater zu töten, um ihre

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Abbildung 11: Tank Girl erschießt ihren Vater (Hewlett/Martin/ Milligan [1995] 2002: o.P.)

Mutter zu besänftigen. Es stellt sich heraus, dass es sich bei diesem um O’Hell handelt (der von Anfang an als einer ihrer »Rekrut_innen« verkleidet war). Kurz bevor sie ihn erschießt, fragt sie ihn: »Warum dich verkleiden und mit uns abhängen?« Er antwortet daraufhin mitleidig: »Ist es nicht offensichtlich? Du bist das einzige anständige Ding, das ich jemals hervorgebracht habe … oder das ich vermutlich jemals hervorbringen werde./Alles Geld und alles Vergnügen in meinem Leben wird immer nur von dir kommen, Tank Girl (BANG!) T-Tank Girl! Deinen eigenen Vater! Den Mann der dich geschaffen hat! Du…du hast mich getötet!« (Hewlett/Martin/Milligan [1995] 2002: o.P.) 41

Was sollen wir mit diesem jämmerlichen Tod anfangen? Sind Hewlett, Martin und Milligan in ein »Portrait des Künstlers als alter Mann« gerutscht, und nehmen den Zeitpunkt vorweg, an dem sie nicht mehr mit der Nachfrage nach ständiger Erneuerung und Varietät mithalten werden können? Oder aber ist es eine Allegorie auf eine Jugendkultur, die der Erwachsenen müde ist, die vergessen haben alleine Spaß zu haben und stattdessen der jüngeren Generation

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am Ärmel hängen? Oder ist es eine spezifischere Allegorie auf jene alternden Kulturkritiker_innen, die von Paul Mann so verheerend beschrieben werden. Diese bieten uns »das kleine Schauspiel alternder in schwarz gekleideter Intellektueller, die in verwesenden Galerien und Clubs herum streichen, wo sie, irgendwann vor der Morgendämmerung, auf den verächtlichen Blick ihrer eigenen Kinder treffen werden, und den Moment fast zu übergehen schaffen, an dem sie ihre widerlichen Berichte produzieren werden, ihre Klumpen kultureller Kritik.« (Mann 1995) 42

Kurz zuvor wird der jugendliche O’Madagain auf eine ähnliche Weise bloßgestellt: Als er in Circe (Sir Sir’s Reich) »auf einem Schweinekotelett ausrutscht«, erweist sich sein ansprechendes Aussehen als Produkt von Chemie und Prothesen. Auch er fleht darum, bei der Crew bleiben zu dürfen, wird aber ohne Zögern rausgeworfen: »Machst du Witze? Du glaubst doch nicht im Ernst dass wir einen fetten, alten, schon fast glatzköpfigen Scheißer wie dich mit uns dabei haben wollen./Tschüss, Verlierer.« (Hewlett/Martin/Milligan [1995] 2002: o.P.)43 Nach all dieser Gewalt und den phantasmagorischen Eskapaden klingt TGO in aller Ruhe im Bett aus, wo Tank Girl Booga ihre Gefühle mitteilt, die »auf dem Weg ein wenig aufgeblüht« seien. Sie schlägt ihm vor, »einen exklusiven Vertrag aufzusetzen, der die Zusammenarbeit sichern soll«. Booga möchte dies »mit einem Fick besiegeln« (ebd.),44 aber Tank Girl ist zu müde und meint, er solle lieber mit sich selbst spielen. Während sie langsam einschläft, folgt er ihrer Aufforderung, mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht, und murmelt: »Ja ich sagte Ja ich werde Ja«. Vermutlich weist das darauf hin, dass er den Vertrag unterzeichnen wird. In Joyces Erzählung wäre dieses Schlussbild sogar noch eine Spur witziger: Da Leopold Bloom mit seinem Kopf am Fußende des Bettes schläft, ist er ein auf den Kopf gestellter Held und Partner wie kein anderer. Aber wenn wir uns in Australien befinden, müsste ohnehin bereits alles auf den Kopf gestellt sein sein, was es zu einem idealen Ort für eine neue Version der Gegen-Erzählung macht. Tank Girl ist ein sehr trendiges Konsumgut unter Jugendlichen und eine nicht-hegemoniale, grenzüberschreitende Erzählung aus der marginalisierten Perspektive ehemaliger Kolonien, die für linke Akademiker_innen und Student_ innen ebenso trendig ist. Ich würde wirklich gerne glauben, dass ein Produkt wie Tank Girl ein modernes Beispiel des bakhtinschen Karnevals ist und dass es Spaß mit ernst gemeinter, progressiver Kulturarbeit verbinden kann. Aber kann ein Comic, der seinen Plot arrangiert, um eine Werbung für Wrangler Jeans darin integrieren zu können, wirklich subversiv sein? Gibt es in der Kulturindustrie, die von Homer über Joyce bis zu Tank Girl reicht, einen Ort für eine wirkungsvolle Gegen-Erzählung oder einen gegenkulturellen Diskurs? Paul Mann beurteilt den Fall mit, wie er es nennt, »brutaler Einfachheit«:

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T HOMAS V OGLER »Jede historische Form von kultureller oder politischer Revolte, von Überschreitung, Widerstand und Flucht haben sich als nichts anderes als systemstablisierend herausgestellt. Das Konzept der Rekuperation ist auf tausende Alibis und Gegen-Tropen gestoßen, aber konstituiert immer noch das, was in den Cultural Studies am ehesten an ein Naturgesetz herankommt. Collage, antimelodische Musik in hohen Frequenzen, Anti-Meisterwerke, romantischer Primitivismus, Betrunkenheit und Drogen, abtrünnige Sexualität, ja sogar die Kritik als solche: Es ist erstaunlich, dass irgendetwas davon noch für radikal befunden wird und gleichzeitig ist es charakteristisch, dass dem so ist. Jedwede Form der Negation ist dem Fortschrittsglauben dialektisch einverleibt worden […] Ich will damit nicht sagen, dass die euphorische Raserei der Punks oder Skinheads das Zeichen von etwas Neuem und Lebendigen sei: Die Energie, die vom dümmlichen Underground ausgeht, ist niemals mehr als ein Zeichen seiner Morbidität. Sie wird als Neuigkeit vermarktet, aber das entspricht nicht ihrer Wahrheit. Sie wird auch niemals den Ausgangspunkt einer Gegen-Macht darstellen: Sie kann weder von irgendeinem Reform-Programm eingespannt werden, noch länger dem heroischen Mythos der Überschreitung dienen. Sie ist bloß ein Symptom der Ordnung selbst.« (Mann 1995) 45

Ich vermute, dass ein Teil des bitteren Zynismus in diesen Anmerkungen die Folge einer leidenschaftlichen Sehnsucht ist, Unrecht zu haben. Dies ist eine Sehnsucht, die ich teile. Aber das wahre »Gegen« [counter] in der Gegen-Kultur [counter-culture] mag sich immer als der Ladentisch [counter] im Geschäft erweisen, auf den man von Zeit zu Zeit sein Geld legt, um immer wieder die miteinander im Grunde identischen Waren zu erstehen. Solange die Verwandlung von Rebellion in Geld eine wesentliche Funktion der Popkultur-Maschinerie und die Kommerzialisierung von Devianz ein zentrales Thema der amerikanischen Kultur ist, kann kein Werk dem mit seiner Vermarktung einhergehenden Warencharakter trotzen und dem unvermeidbaren Mainstreaming von Gegen-Kultur widerstehen.

A NMERKUNGEN 1 | A. d. Hg.: Der Originaltext ist unter dem Titel ›Tank Girl, Anodder Oddyssey: Joyce Lives (and Dies) in Popular Culture‹ in Other Voices, v.1, n.2 (September 1998) erschienen. Vgl. Thomas Vogler (1998): »Tank Girl, Anodder Oddyssey: Joyce Lives (and Dies) in Popular Culture«. In: Other Voices, v.1, n.2. Online unter: http://www.othervoices. org/1.2/tvogler/tankgirl.php (Letzter Zugriff: 01.05.2010). Die Übersetzung aus dem Englischen von Elisabeth Klar erfolgt mit Kürzungen und mit der freundlichen Genehmigung des Autors. A. d. Ü.: Beim Titel handelt es sich um ein Wortspiel mit another odyssey (eine weitere Odyssee) und odder (›verrückter‹ oder ›seltsamer ‹).

T ANK G IRL , A NODDER O DDYSSEY 2 | Originalzitat: »›Ulysses‹ conquers list of century’s top works […] that sprawling, difficult, but uniquely original masterpiece by James Joyce, has been voted the finest English-language novel published this century by a jury of scholars and writers.« 3 | Originalzitat: »a method others must pursue after Joyce«. 4 | Peter Milligan wird im Impressum von Tank Girl: The Odyssey als Texter angegeben, Jamie Hewlett als Zeichner, Nathan Eyring als Kolorist. Annie Parkhouse hat das Lettering übernommen. Die Serie wurde über insgesamt vier Monate hinweg veröffentlicht: Heft Nr. 1 kam im Juni (1995) heraus, Heft Nr. 2 im Juli, Heft Nr. 3 im August und Heft Nr. 4 im September. Referenzen, die sich auf die Serie im Gesamten beziehen, werden im Text durch die Abkürzung TGO gekennzeichnet; bei Referenzen auf bestimmte Hefte folgt der Abkürzung TGO die Heftnummer (TGO 1, 2, 3, oder 4). Die gesamte Serie ist unpaginiert. Vgl. Jamie Hewlett/Alan Martin/Peter Milligan ([1995] 2002): Tank Girl: The Odyssey, London: Titan Books. 5 | Diese Daten habe ich hauptsächlich von einer »unautorisierten Biografie« von Tank Girl. Weitere Information kann man auf der Tank Girl-Webseite finden. Vgl. Bob Rosenberg (1998): »Unauthorized Biography.« Online unter: http://www.dos.qmw.ac.uk/ ~bob/stuff/tg/ (Letzter Zugriff: 01.09.1998). 6 | Das Foto wurde gemacht, als Thatcher britische Truppen in Westdeutschland besuchte. Es wurde in The Story of Britain von Roy Strong und in der Times Literary Supplement vom 20.09.1996 wieder abgedruckt. Vgl. Roy Strong (1997): The Story of Britain, New York: Fromm International; O.A. (1996): Times Literary Supplement, 20.09.1996, S. 9. 7 | Originalzitat: »Once you can perceive how good it is to wear Wranglers, then you can know how good everything else is… Figure the mystery out for yourself Man, I’m going back on the road, just me and my Wranglers.« 8 | A. d. Ü.: Ein movie pitch wird potentiellen Produzent_innen präsentiert, die überredet werden sollen, den entsprechenden Film zu finanzieren. Es ist eine kurze überzeugende Präsentation der Handlung und der wichtigsten Elemente des Filmes. 9 | Originalzitat: »From black … an undulating desert … virgin sand, pregnant with possibilities …/And from the distance … a rider approaches … A rider. I like it. A rider … a dark stranger … astride, would you believe, a shaggy water buffalo …/A rider dressed in strange garb, a dystopian pastiche, salvaged from the ruins of a dead civilization./ The rider removes its face mask … and reveals itself to be … a woman./Bleached blond shocks of hair, ingenious eyes, an expression on the lips that fibrillates between impish fun and profound sexual deviancy … Hey, is this a load of shit or is this a load of crap, I can’t decide… Pitch meeting over, loser. Wait! It gets better! It gets better! Not in this lifetime it don’t. AIEEEEEE!« 10 | Originalzitat: »to do some sewing«. 11 | Originalzitat: »that Aussie slacker chick they made a film about«. 12 | Originalzitat: »a little geometrically embarrassed.« 13 | Originalzitat: »Looking back I realize how world-wide fame has gone to my head as well as to my stomach … Things started to go wrong on the publicity tour for the movie of

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T HOMAS V OGLER my life… But for how long have I been stuck here at this calypso party? Listening to their stupid lyrics and chowing down with Keanu Reeves and Julia Roberts?« 14 | Originalzitat: »Tank Girl eats with relish the inner organs of beasts and fowl and anything else that’s put in front of her/Giblets, livers, kidneys, brains fly down her intestinal tract as though there were no tomorrow«. 15 | Originalzitat: »Hey, you’re making me sound like a slob… This is my story. I want to tell it/Hey, I’m talking to you, you filthy rotten modernist omniscient voice«. 16 | Eine Szene aus BLADERUNNER (USA 1982) bietet sich als Allegorie an, um das Verschwimmen der Unterscheidungen zu beschreiben: Deckard befindet sich in Sebastians Werkstatt, die voller Puppen ist. Er betrachtet eine davon und versucht herauszufinden, ob sie menschlich ist oder nicht. Die Puppen in dieser Szene sind »echte« Puppen und funktionieren auch als Puppen in der fiktiven Realität des Filmes. Dann sehen wir einen echten Menschen (also Schauspieler), der die Rolle eines Replikanten spielt, der wiederum so tut als wäre er ein Mensch, der eine Puppe spielt. Es stellt sich heraus, dass es im Film keinen echten Unterschied zwischen Menschen und Puppen (oder »Replikant_innen«) gibt. Der einzige Unterschied ist vielleicht, dass jene, von denen wir wissen, dass es Replikant_innen sind, menschlicher sind als jene, die wir für Menschen halten. 17 | Tank Girl hat keine »peinliche Erektion«, aber sie hat sehr wohl einen Panzer. Wenn sie rittlings auf dem Geschützrohr der großen Kanone sitzt, wird sie zur überzeugenden Illustration der lacanschen Aussage, dass der Phallus kein Penis ist. Vgl.: Jacques Lacan (1998): Le séminaire, Livre V. Les formations de l’inconscient (1957-1958), Paris: Éditions du Seuil, S. 346. 18 | Originalzitat: »subversive openness of the Rabelaisian novel, but it is also a subversively open book itself«. 19 | Originalzitat: »I know it sounds a little undignified. But… we’re born between piss and shit… so we don’t really have much to be proud about, do we?« 20 | A. d. Ü.: Lenehan ist ein joycescher Charakter, der in „Two Gallants“ im Sammelband The Dubliners auftaucht, sowie auch in Ulysses selbst. Vgl. James Joyce (1950): Dubliners, Rom: Albatross und James Joyce ([1922] 2008): Ulysses. Online unter: http://www.forgottenbooks.org (Letzter Zugriff: 28.04.2011). 21 | »Welcher Wunsch wird erfüllt, welches Begehren befriedigt durch die Phantasievorstellung, reale Ereignisse seien dann richtig, wenn nachgewiesen werden kann, daß sie die formale Kohärenz einer Geschichte aufweisen? Die Rätselhaftigkeit dieses Wunsches, dieses Begehrens vermittelt eine Ahnung von der kulturellen Funktion des erzählenden Diskurses generell, eine Andeutung des psychologischen Impulses, der hinter dem scheinbar universellen Bedürfnis steckt, nicht nur zu erzählen, sonder auch den Ereignissen den Anschein von Narrativität zu verleihen.« Hayden White (1990): Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung. Aus dem Amerikanischen von Margit Smuda, Frankfurt a.M.: Fischer, S. 14. 22 | Originalzitat: »last flicker of Satanic omnipotence and Luciferian, if prognathous, beauty«.

T ANK G IRL , A NODDER O DDYSSEY 23 | In den späten 1980er Jahren, als auch Tank Girl gerade populär geworden war, machte die Figur des Batman eine gegen-erzählerische Verwandlung durch. Der 1989 herausgekommene Film BATMAN (USA 1989) genoss großen Erfolg an den Kinokassen. Beeinflusst durch den immens populären Comic Batman: The Dark Knight Returns (1986) von Frank Miller wurde Batman als Konstrukt dieser neuen Zeit wiedergeboren. Vgl. Miller, Frank/Janson, Klaus/Varley, Lynn/Costanza, John ([1986] 2002): Batman. The Dark Knight Returns, New York: DC Comics. Gotham City wurde in eine postapokalyptische Landschaft à la BLADERUNNER (USA 1982) verwandelt. Dennis O’Neil, der seit 1986 Batman für Marvel Comics herausgibt, meint, dass die Figur »einem Familienvater, einem sympathischen Typen viel näher gewesen ist«, als er die Serie damals übernommen hat: »Er schien ein Liebesleben zu haben und gegenüber Robin eine väterliche Rolle einzunehmen. Meine Version ist da sehr viel gemeiner. Er hat sehr viel mehr Schärfe.« Vgl. Roberta E. Pearson/William Uricchio (Hg.) (1991): The Many Lives of the Batman, New York: Routledge, S. 19. Der »ursprüngliche« Batman, 1939 von Bob Kane und Bill Finger erschaffen, war Filmen stark verpflichtet, wie THE MARK OF ZORRO (USA 1920) und THE BAT WHISPERS (USA 1930). Dahinter muss man aber auch noch andere frühere Einflüsse suchen wie Arthur Conan Doyle’s Figur des Sherlock Holmes oder Edmund Dantes, den»dark avenger« in Alexandre Dumas’ Le Comte de Monte Cristo, der eine so große Wirkung auf den jungen Stephen Dedalus in A Portrait of the Artist as a Young Man von James Joyce hatte. Vgl. Arthur Conan Doyle/Nino Erné (Hrsg.) (1991): Sherlock Holmes. Kriminalerzählungen, Frankfurt/Main: Ullstein, Alexandre Dumas ([1844-1846] 2002): Le Comte de Monte Cristo. Présentation et dossier historique par Claude Aziza, Paris: Omnibus und James Joyce ([1916] 1991): A Portrait of the Artist as a Young Man, New York: Signet Classic. 24 | Originalzitat: »silence, exile and cunning«. 25 | Originalzitat: »resembling Ulysses in craft or deceit«. 26 | Originalzitat: »the whole structure of heroism is, and always was, a damned lie« . 27 | Originalzitat: »[T]he figure of ›comic Odysseus‹, a parodic travesty of his high epic and tragic image, was one of the most popular figures of satyr plays, of ancient Doric farce and pre-Aristophanic comedy, as well as of a whole series of minor comic epics, parodic speeches and disputes in which the comedy of ancient times was so rich (especially in southern Italy and Sicily). Characteristic here is that special role that the motif of madness played in the figure of the ›comic Odysseus‹: Odysseus, as is well known, donned a clown’s fool’s cap (pileus) and harnessed his horse and ox to a plow, pretending to be mad in order to avoid participation in the war.« 28 | Originalzitat: »going home only after ten years of aimless wanderings which include long stays in places whose attractions seem to outweigh both revenge and homesickness. One cannot say that Odysseus is really trying all the time. ›Time out‹ is his frequent and characteristic response to difficult situations; before Troy, when Achilles is eager to go into battle, Odysseus urges that the fighters eat first and fight afterward […] Odysseus is by no means a faithful husband, and his infidelities are, moreover, those of a callous voluptuary who has made a habit of taking his pleasure where he finds it.«

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T HOMAS V OGLER 29 | Originalzitat: »through unfastidious cross-fertilization from obscure and popular genres.« 30 | Originalzitat: »made not begotten, from bits of old televisions, computers, corpses of washed-up surfer boys.« 31 | Originalzitat: »It’s always the same. ›Make us this, ›Make us that.‹/Tele is constantly at Booga’s – and Booga’s foul Suitors‹ – beck and call./In fact, sometimes he could be mistaken for thinking that his name was Telemakeus.« 32 | Die Darstellung des »Tele« schuldet möglicherweise gewisse Aspekte der australischen Überlieferung: Ein Gesetzloser namens Ned Kelly – ein Landjunge des späten 19. Jahrhunderts, der von irischen Sträflingen abstammte – wurde dafür bekannt, die Polizei und die örtlichen Autoritäten erfolgreich herauszufordern und ihnen zu trotzen. Er verwendete dafür eine aus Pflugscharen gemachte Stahlrüstung. Das rechteckige Kopfteil seines Anzugs taucht in den 1960er Jahren in einer Bild-Serie von Sidney Noland auf. Anstelle eines Gesichtes findet sich in der großen Kiste mit den schwarzen Kanten leerer Raum – wie bei einem leeren Fernsehbildschirm. 33 | Für »voyeur of the name« siehe Jacques Derrida (1984): Signéponge/Signsponge, Übersetzt von Richard Rand, New York: Columbia University Press, S. 7. 34 | Originalzitat: »farts that bring dead things back to life«. 35 | Gibt es einen universellen Zusammenhang zwischen wahnsinnigen Wissenschaftlern und Fürzen? THE NUT T Y PROFESSOR (USA 1996), einer der einträglichsten Filme des US-amerikanischen Kinosommers 1996, ist von Louis Menand sehr passend als ein Film beschrieben worden, in dem es hauptsächlich um »nehmen wir uns kein Blatt vor den Mund, meine amerikanischen Kolleg_innen – das Furzen« geht. . THE NUT T Y PROFESSOR (USA 1996) von Eddie Murphy ist ein Remake des 1963 herausgekommenen Filmes von Jerry Lewis. Wenn er auch in Bezug auf Schauspiel und Kameraführung technisch hochwertiger als das Original ist, verwertet er doch dieselben kindischen Scherze wieder. Vgl. Louis Menand (1996): »Hollywood’s Trap.« In: The New York Review, 19.09.1996, S. 4. 36 | Originalzitat: »I’ve obviously got to be really cunning. So I thought we might use Tank to blow one of the walls of the house down, and then we can run in, setting fire to the furniture, smashing ornaments, and mutilating people.« 37 | Originalzitat: »Gee, it’s lucky that this outrageous violence is just a rib-tickling parody … or we’d really be in trouble.« 38 | Originalzitat: »decided that the Mafia should move into the holistic non-animal circus business«. 39 | A. d. Ü.; „Rose-fingered Dawn“ kann als Anspielung auf die griechische Göttin der Dämmerung Eos verstanden werden, die unter anderem bei Sappho mit Rosenarmen beschrieben wird, Vgl. Sappho (1978): Strophen und Verse. Übersetzt von Joachim Schickel, Frankfurt am Main: insel taschenbuch, S. 33. 40 | Originalzitat: »It’s one thing slaughtering our pals who were frolicking around in animal suits, and then eating them … but waving one of those things around in public!«.

T ANK G IRL , A NODDER O DDYSSEY 41 | Originalzitat: »Why disguise yourself and hang around us? Isn’t it obvious? You’re the only decent thing I’ve ever created … or am likely to create./Any money or good times I’m going to have are only ever going to come from you, Tank Girl (BANG!) T-Tank Girl! Your own father! The man who made you! You … you’ve killed me!« 42 | Originalzitat: »the tiny spectacle of aging intellectuals dressing in black to prowl festering galleries and clubs where, sometime before dawn, they will encounter the contemptuous gaze of their own children, and almost manage to elide that event when they finally produce their bilious reports, their chunks of cultural criticism« 43 | Originalzitat: »Are you joking? You don’t think we want a fat old balding shitter like you hanging around us./So long, loser.« 44 | Originalzitate: »bloomed a little along the way«/»an exclusive contract, so we only work together«/»seal it with a screw«. A. d. Ü.: Das Verb »to bloom« kann natürlich als Anspielung auf Joyces Odysseus gelesen werden, Leopold Bloom. 45 | Originalzitat: »Every historical form of cultural and political revolt, transgression, opposition, and escape has turned out to be nothing more than a systemic function. The notion of recuperation has encountered a thousand alibis and counter-tropes but still constitutes the closest thing cultural study has to a natural law. Collage, antimelodic high-decibel music, antimasterpieces, romantic primitivism, drunkenness and drugs, renegade sexuality, criticism itself: it is amazing that a single radical claim can still be made for any of this, and entirely characteristic that it is. Every conceivable form of negation has been dialectically coordinated into the mechanism of progress […] This is not to say that the euphoric frenzy of the punk or skinhead is the sign of something new and vital: the energy released by the stupid underground is never anything more than an effect of its very morbidity. It is marketed as novelty, but that is not its truth. Nor will it ever constitute a base for opposition: it cannot be yoked to any program of reform, nor serve any longer the heroic myth of transgression. It is merely a symptom of order itself.«

L ITER ATUR Bakhtin, Mikhail (1998): Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Übersetzt von Gabriele Leupold, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. — (1986): Rabelais and His World. Übersetzt von Helene Iswolsky, Bloomington: Indiana University Press Bakhtin, Mikhail/Holquist, Michael (Hg.) (1981): The Dialogic Imagination. Übersetzt von Caryl Emerson und Michael Holquist, Austin/London: University of Texas Press. BATMAN (USA 1989, R: Tim Burton) BLADERUNNER (USA 1982, R: Ridley Scott) Derrida, Jacques (1984): Signéponge/Signsponge. Übersetzt von Richard Rand, New York: Columbia University Press.

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Comic und Architektur Faszination und Alptraum der vertikalen Stadt 1 Johann N. Schmidt

1. 1987, Thanksgiving Day in New York. In der vom Kaufhaus Macy’s organisierten Parade schwebt eine mit Helium gefüllte Ballonfigur des Superman über und durch die Straßenschluchten des südlichen Manhattan, wobei die volle Länge seines Körpers gleich über mehrere Häuserfronten reicht (vgl. Noack 1987: 67). Für den_die Betrachter_in begegnen sich dabei – ob bewusst oder unbewusst – zwei Symbole amerikanischer Omnipotenz-Fantasien, deren überdimensionierter Maßstab ebenso fantastisch wie auf fast krude Weise realitätsbezogen ist. Die Wirklichkeit der Wolkenkratzer offenbart sich in ihren surrealen Momenten (ähnlich wie im Videoclip zu »Love Is Strong« mit den megahoch gewachsenen Rolling Stones, vgl. The Rolling Stones 1994), während die Comic-Gestalt des Superman zu einer durchaus realen Gegebenheit amerikanischer Folklore geworden ist. Von hier aus ließe sich trefflich spekulieren über die verwandten Diskurse von Comic und Hochhausarchitektur, also wie sie »gelesen« und »interpretiert« werden müssen. Festzuhalten ist zunächst, dass beide fast zu gleicher Zeit – in den 80er und 90er Jahren des 19. Jahrhunderts – ihre Karriere begannen. Zur Analogie der Wahrnehmungsvoraussetzungen von Comic und Großstadt hat Jonathan Raban in seiner Stadtstudie Soft City eine interessante Beobachtung gemacht. Während uns in traditionalen Umgebungen (z.B. auf dem Lande) die Menschen als Nachbarn von Geburt an bekannt sind, müssen wir in den Metropolen ständig schnelle, vom Unterbewussten gesteuerte Entscheidungen über die vielen Personen treffen, die uns als Fremde gegenübertreten. Wir werden zu Experten und Expertinnen im blitzartigen Erfassen von Zeichen und ihrer Bedeutung – und je klarer die Merkmale ausfallen (ob in Physiognomie, Kleidung, Gang oder Sprache), umso stärker wird befriedigt, was Raban »den städtischen Hunger nach schnellen Wegen der Klassifizierung von Menschen« nennt. Und er fährt fort: »Die bedeu-

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J OHANN N. S CHMIDT

tende urbane visuelle Kunst ist der Cartoon.« (Raban 1975: 29f.) Wie auch bei Straßenzeichen und baulichen Orientierungsmarken sei in ihm dieselbe emblematische Überspitzung, die scharfe Konturierung von Charakteristika und ihre Herleitung aus konventionalisierten Darstellungsfigurationen zu beobachten. Solcherlei Analogien bestimmen auch Umberto Ecos Feststellung, dass die Sprache der Architektur ohne vertiefte Aufmerksamkeit aufgenommen werde, ganz ähnlich der Sprache des Films, des Fernsehens und des Comics. Eco meint dabei in Anlehnung an Walter Benjamin, dass Hingabe, Versenkung und Ehrfurcht vor dem zu interpretierenden Wort zugunsten einer gewissen »Zerstreuung« weiche (Eco 1971: 49). Man könnte es freilich auch positiver fassen: Der Blick gleitet, sucht Orientierung innerhalb eines gestalteten Raums, er bleibt an markanten Zeichen hängen, die von Relevanz sein könnten, er retardiert und wird beschleunigt, nimmt das eine Mal die Oberfläche wahr und konstruiert im nächsten Moment eine mythische Tiefendimension, die immer dann entsteht, wenn historisch differenzierte Bilder in einer zentralen Bildvorstellung zusammengefasst werden. So entstehen z.B. Skylines, deren unterschiedliche und oft nur en passant erfasste Bildelemente sich zu einem Ausdruck für ein ganzes Epochengefühl – etwa das des »Jazz Age« – fügen können. Inwiefern nun kann Hochhausarchitektur etwas ausdrücken, das jenseits ihrer Konstruktion und ihrer Zweckbestimmung liegt? Rem Koolhaas spricht vom Wolkenkratzer als einem »Automonument«, das von den herkömmlichen Konventionen der Symbolik abgeschnitten sei: »Er ist nur er selbst und kann wegen seines gewaltigen Volumens gar nicht umhin, ein Symbol zu sein – freilich ein leeres Symbol, das für Bedeutungen verfügbar ist wie eine Reklamefläche für Werbung. Er ist ein Solipsismus, der allein die Tatsache seiner disproportionalen Existenz feiert, die Schamlosigkeit seines eigenen Entstehungsprozesses.« (Koolhaas 1978: 81f.) Trotz aller Verallgemeinerung ist daran richtig, dass der Wolkenkratzer amerikanischer Provenienz ein sehr viel begrenzteres semiotisches Repertoire bereithält, als wir es in den europäischen Hochhausdiskussionen vorfinden, die stärker an der vorgegebenen Symbolik als an der Tektonik und superlativischen Höhe eines Bauwerks interessiert sind. Dies mag auch ein Grund sein, warum schon in den 1920er Jahren der europäische Wolkenkratzer mehr in Entwürfen und kontroversen Foren stattfand als in der eigentlichen Baugeschichte (vgl. Zimmermann 1988). Der Drang zur Mitteilung scheint bei den amerikanischen Bauwerken in eine größere Balance zu ihrem pragmatischen Funktionieren gebracht – sogar noch ihre Morphologie bestimmt ihr Funktionieren insofern, als ein Gebäude mit einer auffälligen Fassadensignatur einfach leichter zu vermieten ist als eine anonyme Kiste. Genauso richtig ist freilich, dass jeder Hochbau und jedes Bauensemble lesbar ist als Ausdruck von Hierarchien und Machtverhältnissen, als Arena des Konflikts zwischen öffentlichem und privatem Raum, zwischen Schutzzone und Bedrohung, Ordnung und Chaos, Magie und Rationalität, Poesie und Pragmatismus. Dabei handelt

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es sich keineswegs um einander ausschließende, sondern um komplementäre Zeichenpaare, die eine Fülle von Assoziationen parat halten. Die bei Wolkenkratzern häufig anzutreffende Metapher von Hybris und Größenwahn erinnert natürlich an den Turmbau von Babel, die Gigantomanie an die Pyramiden, der sich nach oben verjüngende Solitär an einen Obelisken, der abgestufte Wolkenkratzer an mesopotamische und aztekische Baustile, das Wolkenkratzergebirge an den »enchanted mountain«, wobei die Schluchten auch in der amerikanischen Alltagssprache »Canyons« genannt werden. Am gebräuchlichsten sind freilich die sakralen Vorstellungen einer Himmelskathedrale, eines hochragend gotischen Kirchturms mit steinernen Wappentieren und Wasserspeiern, die etwa beim Chrysler Building als Emblem einer Autofirma figurieren. Das Hochhaus erhebt hier den spirituellen Anspruch einer Vermittlung zwischen Himmel und Erde, es eröffnet gleichsam von seinem breiten irdischen Fundament eine architektonisch bewirkte Transzendenz. Edgar Allan Poe hatte bereits eine Vorahnung davon, als er eine seiner Erzählungen auf das Jahr 2050 verlegte, das Jahr, in dem New York von einem Erdbeben zerstört wird. Archäolog_innen entdecken anschließend, dass neun Zehntel von Manhattan mit kirchenähnlichen Gebäuden bedeckt war: »Man erzählt sich vom Knickerbocker-Stamm [den New Yorker_innen; J.N.S.], dass sie auf eine merkwürdige Weise von einem Bauwahn besessen waren. Sie errichteten, was man im alten Amerika als ›Kirchen‹ bezeichnete – eine Art Pagode, die für die Anbetung zweier Idole eingerichtet war, Idole, die Reichtum und gepflegter Lebensstil hießen.« (Poe [1849] 2009) Spätestens ab 1892, als das Pulitzer Building die im südlichen Manhattan gelegene Trinity Church an Höhe übertraf, übernahmen weltliche Gebäude – wie ein Zeitgenosse feststellte – »für den Kapitalismus das, was Rom für die Kirche darstellte« (o.A. 1907). Die Kodes des Heiligen und des Profanen begannen sich zu überschneiden (vgl. Schmidt 1991: 75f.), zuerst einmal stilistisch, so wenn das Gesimse des Woolworth Building an den Himmel eines Chorgestühls erinnert, die drapierten Querbehänge aus Stein sowie eine Lobby dem Seitenschiff einer Kirche ähneln und der Turm mit seiner krenelierten Krone an den Butterturm der Kathedrale von Rouen gemahnt. Die »Kathedrale des Kommerzes«, wie Pfarrer S. Parkes Cadman den Wolkenkratzer nannte, erweckt eben jene diffuse mythische Dimension, die notwendig ist, um die Dichotomie zwischen Kommerz und Big Business zu überbrücken und in dem_r Betrachter_in Emotionen wie in einem fantastischen Comic auszulösen: »Wenn das Woolworth Building bei Anbruch der Nacht erblickt wird, sobald es in elektrisches Licht getaucht ist, oder aber im klaren Schein des Sommermorgens, wie es spitz in den Raum ragt, gleich den Zinnen in Gottes Paradies, dann erweckt es Gefühle, die gar zu Tränen rühren.« (Leeuwen 1986: 60) Noch besser als das deutsche Wort »Wolkenkratzer« betont allein die Bezeichnung »Skyscraper« das himmelstrebende Moment, das in der Ikonografie auch Energie, Dynamik, Enthusiasmus, Optimismus, Elan und positives Den-

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ken konnotiert, dazu ein sportives Streben nach Rekorden, um der höchste, größte und potenteste zu sein. Wolkenkratzer sind geradezu Modellstudien für Vertikalität oder genauer: einer Eroberung der Vertikalen wie sie selbst ein Frank Lloyd Wright mit seinem Plan eines One Mile Tower mit TeleskopträgerSuperskelett erträumte. Schon Louis Sullivan, Chicagos berühmtester Baumeister im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, hatte gefordert: »Es [das Gebäude, J.N.S.] muß hoch sein – jeder Zoll an ihm muß hoch sein. Die Kraft und Gewalt der Höhe müssen in ihm sein – der Glanz und der Stolz der Begeisterung. Bis ins kleinste muß es stolz und jubelnd sein, muß sich emporrecken in reinem Frohlocken darüber, daß es vom Boden bis zum höchsten Punkt eine Einheit bildet, in der keine einzige Linie von der Richtung abweicht – daß es die frische, unerwartete, ausdrucksvolle Überwindung der nüchternsten, finstersten, abstoßendsten Verhältnisse darstellt.« (Sullivan [1896] 1986: 9)2 Später, in den Großstadt-Dystopien, wie sie auch und vor allem im Comic auftreten, werden eben diese finsteren, abstoßenden Verhältnisse im Bodenbereich wiederkehren.

2. Schon in den Bemerkungen von Sullivan stoßen wir auf eine Morphologie des Wolkenkratzers, die sich die Gestalt des Titanen zu eigen macht und ganz die menschlichen Merkmale von Fuß, Rumpf und Kopf (Basis, Schaft und Krone) aufweist. Nicht zufällig handelt es sich beim englischen »skyscraper« um eine Lehnübertragung des italienischen »grattacielo«, das eine hochgewachsene Person bezeichnet. Die anthropomorphe Gleichsetzung mit einem Hünen wird z.B. deutlich in Lyonel Feiningers Zeichnung eines Riesen (im Comic Out of the Land of Unlimited Opportunity von 1909), dessen Beine wie Zwillingstürme aus dem Rumpf wachsen; nicht zufällig wird Feininger später immer wieder auch Skizzen von Hochhaustürmen entwerfen. Beim berühmten Wettbewerb um den Chicago Tribune Tower legten Heinrich Mossdorf, Hans Hahn und Bruno Busch einen Entwurf vor, der einen Indianer mit Tomahawk zeigte. Hier ist in der Tat Winsor McCay, einer der Pioniere des Comics, nicht fern, in dessen Little Nemo in Slumberland die Stuhlbeine so hoch wie »highrises« wachsen und die Traumwelt eine unbegrenzte Dehnbarkeit zu erlangen scheint, so dass die Panels selbst eine extrem vertikale Dimension einnehmen (vgl. McCay 1993). In seiner anthropomorphen Prägung wird der Wolkenkratzer Teil eines fantastischen Kosmos, der die Verbindung zu unseren Träumen und Ängsten herstellt. In einem Beitrag über die Kluft zwischen Mythos und »rationaler« Geschichtsbetrachtung beschreibt Georg Seeßlen das strukturale Vermögen des Comics, mythische Bild-Räume zu eröffnen, indem er Elemente von Legende, Traum, Vision und Groteske zu einer Zeichenwelt vereint, die vom konkreten historischen Kontext befreit ist (vgl. Seeßlen 1991: 30). Es ist kein Zufall, dass dies auch

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Abbildung 12: Winsor McCay (1993): Little Nemo 1905-1914, Köln: Taschen

auf die Vorstellungen zutrifft, die der Wolkenkratzer im Comic weckt. Denn wie schon festgestellt, gibt es wohl kaum einen anderen Bautypus, bei dem poetische Fantasie und nüchternster Materialismus, Unvernunft und Rationalität so dicht beieinander liegen. Einerseits ist der Wolkenkratzer eine riesige Maschine, in die Hunderte von Berechnungen eingegangen sind und deren Errichtung oft genug mit generalstabsmäßiger Kriegsplanung verglichen wurde. William A. Starrett schrieb in den Pionierjahren der amerikanischen Hochhausarchitektur, Wolkenkratzer seien die positive Antwort auf das resignative »Es geht nicht«: »Warum nicht? Natürlich geht es!« (Starrett 1928: 1). Das ist die eine Seite, die erklärt, warum New York von früh an als »wonder city« und »city of marvels« gerühmt wurde, als »urbs turrita« (Turmstadt), in der ein Empire State Building im Fries seiner Lobby den Rang eines achten Weltwunders beanspruchen konnte. Auf der anderen Seite besteht ein irrationales Gefühl der Gefährdung, das lange vor dem Bombenanschlag auf das World Trade Center existierte, als es noch kaum eine reale Basis hatte. Es erklärt sich aus einer fast permanenten Schattenbildung vor allem im Wall-Street-Bereich, wo die Wolkenkratzer die Straßen regelrecht einschluchten und sie zu unheimlich-düsteren Korridoren machen, aus denen die stickige Luft kaum je entweicht. 1916 trat deshalb eine neue Flächennutzungsordnung in Kraft, die für sehr hohe Bauten vorschrieb, dass sie in Zonen terrassenförmig zurückspringen mussten, um so einen größeren Lichteinfall zu ermöglichen. Diese Rücksprünge (oder »setbacks«) haben die Morphologie der New Yorker Wolkenkratzer dahingehend bestimmt, dass ihnen die Terrassierung in Form eines Stufenbergs das Aussehen

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von präkolumbianischen Treppenanlagen oder babylonischen Hängegärten gab, sie damit die kultische Magie eines heiligen Ortes von überlebensgroßen Dimensionen zugeschrieben bekamen. In vielen Comics sind diese gleichzeitig weit zurück- und weit vorwärtsweisenden Wolkenkratzer Stätten des Heiligen und des Schreckens geblieben. Rem Koolhaas, der Visionär unter den Wolkenkratzertheoretiker_innen, hat Manhattan als eine Art architektonisches Palimpsest beschrieben, auf dessen einzelnen Schichten sich private und kollektive Wünsche überlagern (vgl. Koolhaas 1978: 6ff.). So wie Träume bestehen auch Städte in ihrer emotiven Struktur aus einer Mischung von Sehnsüchten und Ängsten, aus traumhaft geformten Wunsch- und Schreckbildern, wodurch eine ungewöhnlich hohe Dichte affektiver Reizdurchflutung entsteht. Warum die Wolkenkratzerstadt im Comic als Stätte futuristischer Verwahrlosung, ja gar als apokalyptischer Ort fungieren konnte, liegt auf der Hand: Ihr Gefährdungspotential ist schon durch die extrem hohe Ansammlung von Menschen unermesslich; so war einst im Wall-Street-Viertel kaum für ein Drittel der in den Hochbauten Angestellten gleichzeitig Platz auf den umliegenden Straßen. Mangelnder Staudruckausgleich gegen Orkanböen, Erdbeben, verirrte Flugzeuge, Kurzschlüsse mit anschließendem Feuer, Stromausfälle, Explosionen, Bombenanschläge, Streiks im Servicebereich gaben reichlich Stoff für Katastrophenszenarien, die bei solchen Megabauten zumindest unterschwellig permanente Ängste wecken. In einigen Comics haben diese Ängste ihren Niederschlag gefunden: So planen in Hergés L’affaire Tournesol verschwörerische Mächte die Zerstörung der »hochmütigen Gebäude« [ces orgueilleux buildings] (Hergé [1956] 1984: 51), in Martins L’arme absolue bricht angesichts von zerbröckelnden Türmen die Panik aus (vgl. Martin/Chaillet 1982), in Teulé und Vautrins Bloody Mary knickt ein Wolkenkratzer in der Mitte ein (vgl. o.A. 1985: 31; Teulé/Vautrin/Zazou 1983). Das Nebeneinander von hochentwickelter Technik und Verelendung wird jedoch vor allem im Bodenbereich deutlich, meist dunklen, unwirtlichen Windfallen, denen jede Wohnlichkeit ausgetrieben ist und die von kleinen Gauner_ innen, großen Gangster_innen sowie von Obdachlosen, Junkies und Trinker_ innen bevölkert sind. Die Stadt der Zukunft verkehrt die erhoffte Utopie eines Taut und Sullivan in eine Dystopie, eine technologisch unbewältigte Endzeitphase, die von Verfall, Verbrechen und moralischer Verelendung gezeichnet ist. Zumindest einen Vorgeschmack darauf bekommen wir in Batmans Revier Gotham City, einer Nighttown noch am Tage, durch die lauter Fremde schnellen Schrittes eilen, immer auch auf der Flucht vor dem Unerwarteten, das im Chaos lauert. Das verwinkelt Neugotische der Stadtlandschaften mischt sich mit den labyrinthischen Mustern des Art Déco und einem futuristischen Monumentalismus, so dass bereits im Baustil temporale Mehrfachkodierungen sichtbar sind, die erst recht den Eindruck des Grotesken und Unheimlichen hervorrufen. Brigitte Helbling beschreibt die unheilschwangere Atmosphäre von Got-

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ham City: »Den Weg durch die Großstadt diktiert die Paranoia: Im Dunkel der Seitengassen gähnen Hinterhalt und tödliche Fallen, aus schwarzen Eingängen winkt das Verderben.« (Helbling 1995) Erst recht in den neueren Batman-Versionen, die nach Tim Burtons Film und seinen Nachfolger_innen eine regelrechte Konjunktur auslösten, figuriert Gotham City als eine Vision New Yorker Verhältnisse im Endzustand, als sich bereits die gesamte soziale Struktur in Auflösung befindet. Düster und mysteriös auch die in der Moebius-Nachfolge befindlichen Comics noirs von Frank Miller wie z.B. The Dark Knight Returns, angesiedelt in einem New York des 21. Jahrhunderts, in dem Zukunftstechnologie und eine vergangen geglaubte Barbarei dicht beisammen wohnen, als ob die Probleme des ausgehenden 20. Jahrhunderts wie in einem Brennspiegel konzentriert und dann in großflächige mythische Dimensionen projiziert würden (vgl. Miller [1986] 2002). Verstärkt wird die Science-Fiction-Dimension der Superheld_innen-Serien in Kampf um Gotham City von Alan Grant, Bob Kane, John Wagner und Simon Bisley: Hier trifft die Figur des Judge Dredd auf Mutant_innen und Außerirdische (vgl. Kane/Grant/Wagner/Bisley 1998). Die urbane Dystopie wird auch von Gerhard Seyfried mit Space Bastards und Future Subjunkies vertreten, in denen die Städte in Müll versinken und eine schwarze Metaphysik »Comic City« als Metapher für eine buchstäblich verbaute Zukunft erscheinen lässt: Die Hochhäuser sehen aus wie Schraubenschlüssel, Ozonpumpen, umgedrehte Tassen, Minarette oder Kästen mit Pultdächern, während im Straßenbereich Schrott und billige Anmache dominieren, mit Reklameschriften, die den »Megakick« und »Sexchange-While-U-Wait« verheißen (vgl. Seyfried/Ziska: 1991; 1993). Shit City und Kaputt in der City von Matthias Schultheiss und Charles Bukowski heißen die Comics, die schon in ihren Titeln das urbane Desaster beschwören (vgl. Bukowski/Schultheiss 1993). Wenn hier von der Architektur im engeren Sinn zu Problemen der Urbanistik übergegangen wurde, so nicht zuletzt deshalb, weil die Megabauten bereits früh die städtebauliche Infrastruktur vor gewaltige Herausforderungen gestellt haben. Da ist zunächst die Tendenz zur Agglomeration auf engstem Raum. Rem Koolhaas spricht von einer »Kultur der Anhäufung« [culture of congestion], und meint, nichts werde in den Metropolen versucht, um diese Ballung aufzulockern, im Gegenteil: Wie in einem Quantensprung werde sie noch derart intensiviert, dass sie auf geheimnisvolle Weise dunkle poetische Züge annehme (vgl. Koolhaas 1978: 103f.). Wie schon der quasivisionäre Cartoon von Thomas Nast aus dem Jahre 1881 zeigt, existierte bereits früh der Traum von einer mit Hochbauten gesäumten Südspitze Manhattans (vgl. Leeuwen 1986: 35). Man hat für die Bebauungsdichte von Hochhäusern immer wieder als Begründung die Beschaffenheit des Bodens oder die Knappheit der Bebauungsfläche angegeben, was in beiden Fällen jedoch leicht widerlegbar ist (vgl. Schmidt 1991: 25). In Wirklichkeit ziehen sich die Wolkenkratzer durch einen eigenartigen Magnetismus gegenseitig an, rücken gleichsam zusammen, um vom Glamour und Prestige

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Abbildung 13: Matthias Schultheiss/Charles Bukowski (1993): Kaputt in der City. Comic-Short-Stories, Hamburg: Carlsen

der jeweils anderen zu profitieren. Diese Art von architektonischem »Herdentrieb« war nicht zuletzt deshalb lange Zeit möglich, weil es ein öffentliches Einwirken im Sinne einer zentralen Stadtplanung zu Beginn des Jahrhunderts noch nicht gab und in einigen Städten der USA bis in die neueste Zeit abgelehnt wurde. An diesem Punkt nun lässt sich der markanteste Unterschied zu europäischen Hochbauten festhalten. Während in den USA gewöhnlich der »grid«, also ein fast quadratisches Straßengitter, etwa gleichgroße »blocks« schafft, die kaum eine privilegierte Achse zulassen, herrschte in den Plänen europäischer Monumentalist_innen der Gedanke einer Stadtkrone, ähnlich dem Dom einer mittelalterlichen Stadt, die repräsentationsartig das Zentrum einnimmt und um die sich – wie die Vasallen um den feudalen Lehnsherren – die restlichen Bauten gruppieren. Das ist der Grund, warum man in den USA von Anfang an die Wolkenkratzer als genuin demokratische Architekturwerke begrüßte; die eigentlichen Beaux-Arts-Repräsentationsbauten für öffentliche Zwecke hatten gewöhnlich eine horizontale Ausrichtung und orientierten sich an den Stilmustern von Tempeln. Wie Wolkenkratzer zu autoritär gehandhabten Apparaturen werden können, bei denen Ordnung und Unterordnung perspektivisch formalisiert erscheinen und die somit auch politische Macht und

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soziale Hierarchien abbilden, all dies ist wohl eher eine europäische Planungsvision von Fritz Langs METROPOLIS (Deutschland 1927) bis hin zu dem von den Nationalsozialist_innen geplanten Gauhaus am Hamburger Elbufer. In den USA bedeutete dagegen Planung eher eine mühsam erwirkte Reaktion auf den Wildwuchs der Städte und ein erstaunlich früh erahntes Verkehrschaos. Nicht zufällig erschienen fast zeitgleich mit dem Erdbeben in San Francisco visionäre Stadtbilder, am bekanntesten wohl King’s View of New York (1908/09) des Grafikers Harry M. Pettit (vgl. King/Pettit 1908-1909). Kolossale Türme mit Dachgärten und ganzen Bahnhöfen werden über Hochbrücken verbunden, Flugzeuge, Ballons und Luftschiffe gleiten über die Straßenschluchten. Überall wird eine funktionstechnische Verbindung und Vernetzung insinuiert, gerade weil die Metropolen immer mehr in Produktions-, Wirtschafts- und Dienstleistungszentren zersplitterten; die traditionelle Straße war dabei nicht mehr Mittelpunkt der Integration. Die Verkehrswege für Fußgänger_innen und Hochbahnen befinden sich nun auf mehreren Terrassen übereinander; wie viele Pläne jener Zeit erscheint auch dieser utopisch und auf skurrile Weise veraltet. Kings New York ist dabei nur die erste einer ganzen Reihe von Stadtvisionen und Zukunftsräumen, so etwa der von Harvey Wiley Corbett, der einen kompletten Plan für die Großstadt entwarf, mit arkadenartigen Walkways, die sich 200 Meter hoch in der Luft aus den Gebäuden schieben, mit auskragenden Rampen und 20-spurigen Superhighways, die den innerstädtischen Verkehr noch mehr beschleunigen sollen – ein neues Venedig schwebte Corbett vor, das an Stelle von Kanälen wortwörtlich »Verkehrsflüsse« als Wegführungen setzte (vgl. Stoller 1995/Ferriss [1929] 1986). Wenn hier eine futuristische Formbestimmtheit vorherrscht, so ist der Terminus durchaus nicht zufällig gewählt, denn es war einer der Parade-Architekt_innen des italienischen Futurismus, Antonio Sant’Elia, der Hochgeschwindigkeitsautobahnen durch das Herz der Stadt, multi-level roadways und gigantische Untertunnelungen projektierte. »Wir müssen«, so Sant’Elia, »unsere moderne Stadt ex novo erfinden und wiedererbauen, so groß, wie es die Notwendigkeiten diktieren, nicht nur wie es die Flächennutzungsordnungen erlauben; sie muß aufsteigen vom Rand eines tumulthaften Abgrunds. Die Straße soll nicht mehr wie ein Türvorleger auf Höhe der Schwellen liegen, sondern viele Etagen in die Erde tauchen, wo sie den Verkehr der Metropole aufnimmt.« (o.A. 1990: 42)3 Die Stadt als Supermaschine zur Regulierung von Strömen und zur Akzeleration des gesamten Lebens, das sich dem Diktat der Maschine fügt: Da werden dann Wolkenkratzer zu Pylonen für Schnellverkehrsstraßen, die auf- und absteigen beziehungsweise in die Gebäude einschneiden; da durchziehen Gleisanlagen für die Hochbahn ganze Wohnbereiche, während die Fußgänger_innen durch ein Gewirr von Stegen, Passagierdecks und Tunnels geschleust werden. All die Entwürfe sind auf eine technologische Beherrschbarkeit der Megastädte abgestellt, zielen aber – wie indirekt auch immer – auf soziale Kontrolle und

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eine erzwungene Angleichung menschlicher Bedürfnisse an die Regulative der Maschinenwelt. Die ideale Stadt ist auf denkwürdige Weise von Menschen entleert, die sich in Autos und Bahnen zu verstecken scheinen. Auf einer Zeichnung von Hugh Ferris steht, ganz in der Manier von Caspar David Friedrich, ein Beobachter auf der im Schatten befindlichen Aussichtsterrasse und bestaunt das urbane Wunder von seinem Außenposten. In der Metropolis herrscht eine Planung, die den totalen Harmoniezwang anstrebt und die den Zufall und das Chaos zugunsten von Regularität und absoluter Situationsanpassung ausschaltet. Dass in der Wirklichkeit New Yorks die Hierarchisierungs- und Ordnungstendenz von Planungsvorgaben doch wieder zurückgenommen oder zumindest gemildert wurden, zeigt die Geschichte des Rockefeller Center, eines Triumphs von Planung unter amerikanischen Vorzeichen. Benjamin Wistar Morris’ Vorschlag für den Metropolitan Square, der Anlage für das spätere Center, sah eine zentrale Achse, Schutzwälle wie für eine »verbotene Stadt« und vier Wolkenkratzer vor, die gleich totemistischen Riesentürmen an den Eckwinkeln aufgestellt werden sollten (vgl. Weisman 1951). Wenn auch so nicht intendiert, ähnelt der Entwurf am meisten jenen späteren Comic-Darstellungen einer totalitären, hermetisch abgeschlossenen Stadt. Eine Vollendung, aber auch – wie man rückwirkend feststellen darf – Überwindung der visionären Stadt finden wir in den Kohlezeichnungen von Hugh Ferriss, expressive Bildstudien mit ebenfalls futuristischen Anklängen, in denen aus einer kaum zu bändigenden Steinmasse eine roh behauene Stadtlandschaft mit zerklüfteten Gebirgen geschnitten wird. Ferriss, der als der amerikanische Piranesi der Wolkenkratzerarchitektur bezeichnet wurde, gibt in seiner Metropolis of Tomorrow eine postromantische Vorstellung der Metropole als einer gigantisch-düsteren Skulpturenserie, unbelebt und menschenfern (vgl. Ferriss [1929] 1986). Utopische Stadtentwürfe waren bis in die späten 1920er Jahre populär, das heißt solange sie in einem gesellschaftlichen Klima entstanden, das auf Wachstum und einen ungebrochenen Wirtschaftsoptimismus ausgerichtet war. Nach der Weltwirtschaftskrise und zu Beginn der Roosevelt-Ära verkehrte sich der Glaube an ihre Realisierbarkeit in eine tiefe Skepsis. Nun traten Wolkenkratzer mehr zur Illustrierung von Science-Fiction-Literatur, den »Wonder Stories« oder »Amazing Stories« auf (vgl. Stommer 1984: 138). Insgesamt jedoch war nicht nur der Bauboom zu Ende – selbst das Empire State Building stand lange halbleer und bekam den Spitznamen Empty State Building –, auch die »cities of the future« hatten ausgedient und waren nur noch Staffage für SF-Comics, in deren fantastische Struktur freilich die Unmöglichkeit, ja auch fehlende Wünschbarkeit solch futuristischer Stadtvisionen bereits eingezeichnet war. In einem einschlägigen Aufsatz zu Architektur und Comics ist von einer »Amerikanisierung der architektonischen Stilelemente« (Lehner 1977: 42) insofern die Rede, als sie einer wiederkehrenden Standardisierung gehorchen und der Geschichte funktional untergeordnet sind. Sie sind meist reiner Hin-

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tergrund, schnell zu produzieren und nicht in allen Panels von durchgehender Stimmigkeit. In anderen Comics werden durch die Morphologie der Architektur ideologische Muster indiziert, wobei die Wolkenkratzer sowohl für »Chaos« (dargestellt als demokratisches Nebeneinander unterschiedlichster Bauwerke) als auch für totalitäre Ordnung (dargestellt an neoklassizistischen Repräsentationsstrukturen) stehen können. Eher neueren Datums sind jene Comics, in denen die Architektur selbst zum Sujet wird, also eine autoreferentielle Reflexion über die Bedingungen des Bauens und von Bauplanung hergestellt wird. Aus ihnen ragt das Werk des Belgiers Schuiten ganz besonders hervor.

3. François Schuiten, geb. 1956, hat das Interesse an Architektur von seinem Vater, selbst Architekt, mitbekommen, einem patriarchalischen Bildungsbürger, der nicht wollte, dass sich sein Sohn den Comics widmete und die Familie auch auf Urlaubsreisen durch gotische Kathedralen führte (vgl. Tempel 1991; Tempel 1990). Unübersehbar beeinflusst vom »Architekten des Comics«, Winsor McCay, aber auch vom magischen Realismus eines Jorge Luis Borges und der barocken Kinosprache eines Orson Welles, schuf Schuiten zusammen mit seinem Szenaristen Benoît Peeters ein Werk, das um die Pole Horizontalität und Vertikalität, natürlich-organisches Leben und Maschinenwelt, Konstruktivismus und Scheitern an der Konstruktion kreist. Nicht zufällig hat man ihn einen »Comic-Baumeister« genannt, denn auch seine Zeichnungen schaffen Raumwelten, die erst les- und interpretierbar gemacht werden müssen. In Les Murailles de Samaris (Die Mauern von Samaris, 1983), dem ersten Teil seiner Trilogie Cités obscures (Die geheimnisvollen Städte), zeigt Schuitens eine Kulissenstadt, die viele Züge des Jugendstils und der Art déco-Architektur aufweist (vgl. Schuiten/Peeters 1988). Die Reverenz an die Vorbilder fällt jedoch zwiespältig aus. Denn einerseits wird noch in Brüsel, einem späteren Comic, der Meister des belgischen Jugendstils, Victor Horta, gewürdigt, den Schuiten verehrt. Andererseits hat man darin auch eine kritische Replik auf den sog. »Fassadismus« sehen wollen, wie er sich in den 1980er Jahren unter der Postmoderne – und durchaus in Anlehnung an den Art déco – herauszubilden begann: falsche flämische Häuser am Brüsseler Carrefour de l’Europe, Attrappen und Kulissen, hauchdünne Backsteinscheiben, die am Beton befestigt wurden. Die Stadt erscheint als einziger trompe l’œil, als Augentäuschung, ähnlich etwa der Lobby im New Yorker Heron Building, das eine Flucht von Fluren innerhalb einer altrömischen Therme simuliert (vgl. Schuiten/Peeters 1993; Schuiten/Peeters 1992). Eine wirklich grundlegende Auseinandersetzung mit Architektur und urbaner Planung findet freilich erst in La Fièvre d’Urbicande [Das Fieber des Stadt-

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planers] statt. Da das Werk derart zentral für unser Thema steht, bedarf es der genaueren Analyse (vgl. Schuiten/Peeters 1987; Schuiten/Peeters 1985). Eugen Robick, Urbitekt, schreibt aus Urbicande eine Eloge an den Ausschuss der Obersten Baubehörde, worin er die derzeit praktizierte Bauweise in höchsten Tönen rühmt und mit Schaudern an das Pittoreske und Extravagante früherer Architektur erinnert – »Gebäude von absurdem Modernismus« (Schuiten/ Peeters 1987: 8), wie er feststellt (und man muss an dieser Stelle erklären, dass »modernistisch« in den 1920er Jahren vor allem den verspielten Art-déco-Stil beschrieb, der in Gegensatz zur Moderne eines Gropius oder Mies gesetzt wurde). »Laßt euch stets von den großen Meistern leiten« (ebd.: 9), lautet die Legende unter zwei Abbildungen, einer Kohlezeichnung von Hugh Ferriss und E. L. Boullées kugelförmigem Projekt zu einem Kenotaph (Leergrab) für Isaak Newton von 1784 (vgl. Boullée 1784). Robicks kunsttotalitäre Vorstellung, »daß sich jede Einzelheit dem Bild als Ganzes zu unterwerfen hat« (Schuiten/Peeters 1987: 8), also kein Raum für freie Imagination, Details und Lücken bleiben dürfe, wird freilich von der Weigerung der Baubehörde desavouiert, eine Brückenverbindung zwischen aristokratischem Südufer (der Stadt der Mächtigen) und plebejischem Nordufer (der Stadt der Schwachen) errichten zu lassen.4 Aus Robicks Worten wird klar, dass im Nordufer noch nicht jene Harmonie und Ordnung eingezogen sind, die in den Bildlegenden beschworen werden: »Beendet den schrecklichen Eindruck des Unsymmetrischen« (ebd.: 10), fordert der Demiurg, oder: »Laßt uns gemeinsam das Urbicande von morgen gestalten!« (ebd.: 13) Ohne die Brücke, so der Weltbaumeister, »zerfällt das ganze Projekt durch seine offene Symmetrie, die sogar ein Kind bemerken muß.« (Ebd.: 21) Der Stadtplaner ist ein Mann des Schreibtischs, der bloßen Theorie, der den Irrglauben kritisiert, er müsse von einer Baustelle zur anderen eilen – dies erinnert nicht von ungefähr an die Anekdote über Mies van der Rohe, wie er bei seiner Ankunft in Chicago kaum aus dem Fenster seines Taxis blickte, da er die Entwürfe der draußen vorbeiziehenden Hochhäuser ja ohnehin schon kannte. Das Südufer von Urbicande ist eine Mischung aus amerikanischem Hochhausbau ohne dessen faszinierende Anarchie und faschistischer Monumentalarchitektur mit Schießscharten, Stufenbergen, steinernen Adleremblemen und festungsartig in den Straßenbereich ragendem Mauerwerk. Im – wie der Vorsitzende bemerkt – »prachtvollsten Gebäude unseres Jahrhunderts« (ebd.: 24), einem Palast-Modell kältester Repräsentationskultur am großen Platz im Zentrum, befindet sich ein riesiger Empfangssaal, der Horizontale und Vertikale in staatsautoritäre Figurenmuster streckt. Robicks Symmetriebedürfnis, sonst gut aufgehoben in Urbicande, stößt auf politische Bedenken der Baubehörde: Jeder weitere Übergang zwischen den Ufern erfordere auf Grund von Unruhen im plebejischen Teil neue Kontrollen, ein Risiko, das man zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht eingehen wolle. In Robicks Welt des absoluten Kalküls bricht nun eine unerwartete Begebenheit ein, die die Geschichte gleich-

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sam dynamisiert. Ein Gitterwürfel auf Robicks Schreibtisch verlängert seine Kanten, die ohne Unterlass wachsen, sich zuerst in seine Bücher hineinfressen und sich schließlich zu einem Gitterwerk von präziser Symmetrie entwickeln. Das »Robick-Gitter«, wie es genannt werden wird, gerät so gigantisch, dass es schließlich Nord- und Südufer – also Chaos und erzwungene Harmonie – verbindet und schließlich das Sozialgefüge zu gefährden beginnt. Die sich selbst produzierende Materie entzieht sich der Kontrolle, schafft verbotene Kontraste und fördert den Austausch, sie dementiert Verbote und künstliche Grenzen. Die Stadt am Nordufer schließlich erweist sich als zwar altmodischer, aber angenehmer Ort, von dem aus Robick und seine Gefährt_innen ganz ähnlich wie Hugh Ferriss’ Betrachter in Caspar-David-Friedrich-Manier auf die von Gitterstäben verdeckte Hochhausstadt blicken. Als nichts mehr hilft, soll Robick wiederum einen kompletten Plan der Stadt erstellen, diesmal jedoch einen, der das Gitter mit einbezieht. Die Unordnung wird gleichsam als konstitutives Element in den Ordnungsplan integriert. Da wächst das Gitter erneut, bis Urbicande einem Trümmerfeld gleicht und der Würfel beginnt, inmitten der Galaxis einen unermesslichen Leerraum auszufüllen. Urbicande wird nur noch von einem winzigen Bruchteil des Gitters erfasst. Da nunmehr die in melancholischer Trance befangene Bevölkerung eine Rekonstruktion des ursprünglichen Gitters wünscht – ein Projekt von wahrhaft titanischen Ausmaßen! – wird Robick damit beauftragt. Doch er erklärt sich für überfordert: »In diesen Verstrebungen zirkulierte der Geist! So etwas kann kein Architekt jemals finden!« (ebd.: 92) Als Urbicande mit unermesslichen Mitteln doch noch ein neues Gitter errichtet, weiß Robick, dass »nur eine wirklich andere Methode zum Erfolg verhelfen« kann (ebd.: 93). Er will nun zum Anfang zurückkehren und das Geheimnis des ersten Würfels lösen: »Der Weg wird lang und steinig sein. Aber ich weiß, eines Tages werde ich ans Ziel gelangen, und dann können wir alle von neuem zu leben beginnen.« (Ebd.: 94) Das Fieber des Stadtplaners ist eine großangelegte Reflexion über Planungsmechanik und organisches Wachstum, über die »ideale Stadt« am Reißbrett, wie sie von Hitlers Baumeister Speer hätte konzipiert werden können, und die Notwendigkeit von »Störquellen« im perfekten Getriebe des menschlichen Regelwerks. Vielleicht – dies ein vorsichtiger Einwand gegen Schuiten – wird dem postmodernen Ressentiment gegen die Seelenlosigkeit der Moderne allzu widerstandslos nachgegeben. Urbicande erscheint letztlich mehr als Alptraum einer konservativ-akademischen Beaux-Arts-Architektur mit Zügen des architektonischen Brutalismus aus den 1930er Jahren denn als Nachbildung von Mies van der Rohes kartesianischem Bauideal. Mit der Idee der Stadtkrone und der Figur des_r genialischen Planer_in, der_die in keinem amerikanischen Architekturbüro Platz hätte, ist es doch ein sehr europäischer Comic, der freilich eine Fülle von Elementen aus den amerikanischen Stadtvisionen zwischen 1900 und 1930 übernimmt.

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In Brüsel (vgl. Schuiten/Peeters 1993: 1992) liefern Schuiten und Peeters vorweg eine kleine Baugeschichte der belgischen Hauptstadt, die durch eine Demarkationslinie zwischen Ober- und Unterstadt in Form einer mitten durch Abbildung 14: Francois Schuiten/Benoit Peeters (1992): Brüsel, Stuttgart: Feest Comics

das Stadtzentrum führenden Eisenbahn gezeichnet ist (vgl. Schuiten/Peeters 1992). Hauptsächliche Instrumente der Urbanisierung – sprich auch: »Brüsselisierung« – waren seit jeher Spitzhacke und Abrissbirne. Die Politiker_innen der 1960er Jahre träumten von einem europäischen New York, weshalb denn auch ein Modernisierungsplan für den nördlichen Stadtteil »Manhattan Project« getauft wurde. Nach einer Reihe von Enteignungen und Skandalen blieb am Schluss ein Riesenareal aus Aushuben, Bauzäunen, Trümmergrundstücken und leer stehenden Häusern übrig. Brüssel, so das Resümee im Vorwort, habe »eigentlich alles, um abstoßend zu wirken« (vgl. Schuiten/Peeters 1993: 10). Und doch gehe »von diesem Chaos, diesem Kitsch, diesen verwickelten Irrtümern ein unleugbarer Charme aus« (ebd.). In Brüsel geht es genau um jene verfehlte Sanierungspolitik, um Begradigung von Einfallstraßen, um perfekte Modelle und Verkehrsstraßen, die mitten durch die Bauwerke führen. Jene, die sich gegen die Pläne wenden, werden als Amateur_innen, Dilettant_innen und politische Provokateur_innen beschimpft. Es entsteht eine eisige Stadtland-

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schaft mit Reminiszenzen an die Monumentalarchitektur von Urbicande. Diesmal gebraucht Schuiten Analogien aus Heilkunde und der Chirurgie, bis ein Gleichnis für eine Architektur entsteht, aus der Tumore und Abszesse entfernt sind und deren vermeintlich untaugliche Organe durch künstliche Prothesen ersetzt werden. Die Schlacken und Fehlentwicklungen der Natur entfernen, lautet die Losung, doch am Schluss bildet auf Grund hastiger Planung die Turmstadt nur noch ein Gewirr aus zerbrochenen Stegen und durcheinandergewürAbbildung 15: Will Eisner (1987): The Building. A New Graphic Novel About the Life and Death of a City Building, o.O.: Kitchen Sink Press

felten Solitären. Die Hauptfigur, ein auf Plastikblumen kaprizierter Monsieur Constantin, verlässt die Stadt und ist für immer sowohl vom Fortschritt als auch vom chronischen Husten geheilt (vgl. Schuiten/Peeters 1992). Will Eisners The Building: A New York Graphic Novel About the Life and Death of a City Building (vgl. Eisner 1987) ist die Chronik eines zehnstöckigen Eckgebäudes, das auffällig Burnhams Flatiron Building in der Fifth Avenue, an der Kreuzung von Broadway und 23rd Street, ähnelt. Indem die Geschichte exemplarische Lebensläufe von fünf Menschen erzählt, die mit dem Gebäude in der einen oder anderen Form in Berührung kommen, entsteht eine Art kollektives

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Gedächtnis, das auch dann nicht ausgelöscht werden kann, als der alte Bau für einen neuen, größeren abgerissen wird. Eisner befreit die Architektur von ihrer Stein gewordenen Leblosigkeit und macht sie zum lebendigen Paradigma der »art of city living«, bei der menschliche Schicksale nur scheinbar unverbunden sind, vielmehr mit schöner Notwendigkeit zusammentreffen. Die Stadt signalisiert hier das glatte Gegenteil der Unbeherrschbarkeit ihrer gesellschaftlichen Sphären: So wird zwar der Untergang des Alten betrauert, doch auch das Neue – zunächst noch anonym und abweisend – wird irgendwann zum Reservoir von rührenden oder komischen Geschichten werden. »Biopolis« ist hier emphatisch gegen »Nekropolis« ausgespielt (vgl. ebd.). In Pierre Christins und Enki Bilals Comic La ville qui n’existait pas [Die Stadt, die es nicht gab] plant Madeleine, eine philanthropische Erbin, eine Idealstadt, um das Los der verelendeten Arbeiter zu erleichtern. Die perfekte Stadt findet schließlich in drei käseglockenartigen Glasstürzen Platz, wo alle Tage Sonntag ist (Bilal/Christin 1996). Doch die Utopie lebt aus der Negation, und wie so oft lassen uns die Comics mit einer Störung beziehungsweise Verstörung zurück, die immer dann entsteht, wenn die mythische Struktur uns zeigt, was es (noch) nicht gibt – und wir nicht wissen, ob wir überhaupt je hoffen sollen, dass die kühnen Architekturvisionen eines Tages realisiert werden. So gestalten die Comics die Doppelgesichtigkeit der vertikalen Stadt – ihr Faszinosum und ihren Schrecken – zum unauflösbaren formalen Prinzip. Mehr ist vermutlich nicht zu erreichen.

A NMERKUNGEN 1 | A. d. Hg.: Johann N. Schmidts Artikel »Comic und Architektur: Faszination und Alptraum der vertikalen Stadt« erschien 1998 in der von Jörg Helbig herausgegebenen Anthologie Intermedialität. Vgl.: Johann N. Schmidt (1998): „Comic und Architektur: Faszination und Alptraum der vertikalen Stadt“. In: Jörg Helbig (Hg.), Intermedialität: Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets, Berlin: Erich Schmidt, S. 230-243. Der Wiederabdruck erfolgt mit der freundlichen Genehmigung des Autors. 2 | Eine ähnliche Apotheose auf die Höhe verfasste Bruno Taut in Frühlicht – Eine Folge für die Verwirklichung des neuen Baugedankens. Vgl. Bruno Taut (Hg.) (1921-1922): Frühlicht. Eine Folge für die Verwirklichung des neuen Baugedankens, 1921-1922, Berlin: Mann. 3 | Vgl. dazu die Entwürfe von Sant’Elia im Katalog des Neuen Berliner Kunstvereins Stadt und Utopie: Modelle idealer Gemeinschaften. Vgl. Neuer Berliner Kunstverein (Hg.) (1982): Stadt und Utopie: Modelle idealer Gemeinschaften, Fröhlich und Kaufmann: Berlin. S. 78f. 4 | Hier scheint es sich um einen Topos in der Comic-Literatur zu handeln. In Enki Bilals Die Geschäfte der Unsterblichen wird das faschistische Groß-Paris von 2023 in ein pri-

C OMIC UND A RCHITEK TUR vilegiertes Zentrum und einen verelendeten Stadtgürtel strikt getrennt. Vgl. Enki Bilal (1995): Die Geschäfte der Unsterblichen, Berlin/Köln: Egmont. In Katsushiro Otomos Akira: Die alte Stadt ist das nach dem Dritten Weltkrieg wiedererbaute Tokio von 2030 in eine alte und eine neue Stadt aufgeteilt. Vgl. Katsuhiro Otomo (1993): Akira. Die alte Stadt, Hamburg: Carlsen.

L ITER ATUR Bilal, Enki/Christin, Pierre (1996): La ville qui n’existait pas, Genève: Les humanoides associés. Bilal, Enki (1995): Die Geschäfte der Unsterblichen, Berlin/Köln: Egmont. Boullée, Etienne-Louis (1784): Cénotaphe de Newton. Dessin. Online unter: http:// visualiseur.bnf.fr/CadresFenetre?O=IFN-7701015&M=tdm (Letzter Zugriff: 02.05.2011) Bukowski, Charles/Schultheiss, Matthias (1993): Kaputt in der City. Comic-ShortStories, Hamburg: Carlsen. Eco, Umberto (1971): »Funktion und Zeichen (Semiologie der Architektur)«. In o.A.: Architektur als Zeichensystem, Konzept I, Tübingen: Wasmuth. Eisner, Will (1987): The Building. A New Graphic Novel About the Life and Death of a City Building, o.O.: Kitchen Sink Press. Ferriss, Hugh ([1929] 1986): The Metropolis of Tomorrow, New York: Princeton Architectural Press. Helbling, Brigitte (1995): »›I Shall Become a Bat.‹ Batman: ewig wiederkehrender Superheld«. In: Neue Zürcher Zeitung, 14.03.1995. Hergé ([1956] 1984): Les aventures de Tintin. L’affaire tournesol, Tournai: Casterman. Neuer Berliner Kunstverein (Hg.) (1982): Stadt und Utopie: Modelle idealer Gemeinschaften, Fröhlich und Kaufmann: Berlin. Kane, Bob/Grant, Alan/Wagner, John/Bisley, Simon (1998): Kampf um Gotham City, Hamburg: Carlsen. King, Moses (Hg.)/Pettit, Harry (1908-1909): King's Views of New York. Four Hundred Illustrations, New York: King. Koolhaas, Rem (1978): Delirious New York. A Retroactive Manifesto for Manhattan, Oxford: Oxford University Press. Lehner, René (1977): »Architektur im Comic«. In: Comixene 16. Leeuwen, Thomas A. P. van (1986): The Skyward Trend of Thought: The Metaphysics of the American Skyscraper, Cambridge: MA. Martin, Jacques/Chaillet, Gilles (1982): L'arme absolue. Les aventures de Lefranc, Tournai: Casterman. McCay, Winsor (1993): Little Nemo 1905-1914, Köln: Taschen. METROPOLIS (Deutschland 1927, R. Fritz Lang)

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Comics auf Albumcovern Überlegungen zu einem intermedialen Phänomen Martina Rosenthal

1. C OMICS UND P OPMUSIK Die möglichen Spielarten einer intermedialen Verbindung zwischen Comics und Popmusik sind wahrscheinlich ebenso vielfältig wie jene zwischen Literatur und Film – wenn auch wesentlich seltener künstlerisch umgesetzt. Die Palette reicht vom Thematisieren von Comics oder deren Helden und Heldinnen in Popsongs (etwa Comic Strip von Serge Gainsbourg und Brigitte Bardot) über biographische Comics (z.B. graphic novels über Johnny Cash, Kurt Cobain) bis hin zu ominösen Comic-Gestalten, die als Alter Egos der Musiker_innen fungieren wie bei Damon Albarns Band Gorillaz. Comics nach Popmusiktexten sind bis auf wenige ambitionierte Projekte noch eine Seltenheit, dafür boomen animierte Musikvideos schon seit den Beatles. Albumcover nun sind das Produkt einer Zusammenarbeit von Musiker_innen und Bildenden Künstler_innen, das aber meistens nicht bewusst als multimedial wahrgenommen wird. Die Graphiken auf den Frontseiten von CDs oder LPs werden eher als ästhetisches Beimittel zur Musik betrachtet denn als eigenständige künstlerische Werke. Ebenso wie der Comic selbst, der zumeist aus miteinander verschränktem Text und Bild besteht, sind aber auch Popmusikalben Hybridformen aus mehreren Künsten: Ein Popmusikalbum wird durch das Albumcover und das beigefügte Booklet zu einem multimedialen Produkt aus Text, Bild und Musik. Der Text spielt in mehrfacher Hinsicht eine Rolle – dazu gehören neben im Booklet abgedruckten Lyrics auch Songtitel, Bandname und Albumtitel. Das Bild beziehungsweise alle visuellen Formen der Repräsentation (Inszenierung, Werbeplakate et cetera) tragen wesentlich zur Popularisierung der Musiker_innen bei und sind darum keinesfalls zu unterschätzen.

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2. »B UCHILLUSTR ATIONEN «? C OMICS Z WISCHEN WERBE WIRKSAMEM GRAPHIC DESIGN UND KÜNSTLERISCHER E IGENWILLIGKEIT Das Albumcover dient nicht, wie viele vermuten, unbedingt in erster Linie als hierarchisch der Musik untergeordneter Werbeträger. Tatsächlich soll es durch seine graphische Form Aufmerksamkeit erregen beziehungsweise erste Schlüsse darüber zulassen, wie sich die dahinter verborgene Musik wohl anhören wird. Die meisten Albumcover werden von gemeinhin weniger bekannten Künstlern und Künstlerinnen und vor allem Graphic Designer_innen entworfen, die das Illustrieren der Werke anderer auf professioneller Basis mit mehr oder weniger künstlerischer Eigenständigkeit betreiben.1 Jedoch ist dies nicht immer der Fall, wie zahlreiche von berühmten Fotograf_innen, Maler_innen oder eben ComicZeichner_innen gestaltete Cover zeigen.2 Plattencover für Popmusikalben sind, denkt man an die Entstehung von speziell designten Albencover in den 1940er Jahren (vgl. Schmitz 1987: 42), eine vergleichsweise noch relativ junge ›Kunstform‹ – aber dennoch eine von hohem Wiedererkennungswert und enormer Verbreitung. Sie sind oftmals stilistisch von ihrer Entstehungszeit geprägt (wie etwa LP-Cover aus den späten 1960er und 1970er Jahren, die bunte schwungvolle Schriftzüge und Symbole aus der Flower-Power-Bewegung aufweisen), sie selbst prägen aber ebenso ihre jeweilige Zeit. Bestimmte Albumcover sind berühmt geworden und wecken – auch unabhängig vom musikalischen Kontext betrachtet – sofort die Assoziation an die Band wie zum Beispiel das Cover der Abbey Road-Platte der Beatles (vgl. The Beatles 1969) oder das Nevermind-Cover von Nirvana (vgl. Nirvana 1991). Cover, die von renommierten Comic-Künstler_innen entworfen wurden, sind eher selten, dafür aber von mehreren Perspektiven betrachtet ein interessantes Phänomen: Zunächst ergeben sich Fragen in Bezug auf die gewählte Form und deren Funktion (warum gerade Comics?), was auch auf Definitionsschwierigkeiten des Mediums Comic zurückzuführen ist. Eine bis heute gültige Definition liefert Will Eisner, wenn er den Comic als »sequential art« bezeichnet (Eisner 2006), ebenso wie Scott McCloud, der Comics als »zu räumlichen Sequenzen angeordnete, bildliche oder andere Zeichen« beschreibt (McCloud 2001: 17). Das Problem besteht nun darin, dass das Plattencover eigentlich, sofern es nicht in Sequenzen unterteilt ist, nur ein Einzelbild darstellt, also nicht der gängigen Definition von Comics entspricht. Dennoch ist ein CD-Cover wie Dookie (vgl. Green Day 1994) von Green Day, das ohne sequenzielle Unterteilungen auskommt, sofort als Referenz auf Comicbooks erkennbar. Dies kann unter Umständen auch darin begründet sein, dass sich innerhalb des Bildes trotzdem zeitliche Vorgänge abspielen, dass also narrative Elemente im Bild enthalten sind. Scott McCloud erklärt in seinem Werk Comics richtig lesen die unterschiedlichen und äußerst komplexen Arten, wie Zeit(-ablauf) im Comic

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Abbildung 16: Green Day: Dookie, Reprise 1994

dargestellt werden kann – dazu gehört auch das Vergehen von Zeit innerhalb des Einzelpanels, das Leser_innen durch die kulturspezifische Leserichtung und durch das Springen zwischen Bild und Sprechblasen wahrnehmen. Es können innerhalb eines Panels also zwei oder mehr Aktionen nacheinander stattfinden, ohne dass der gutter, der Panelspalt, benötigt wird, um die Richtung und Folge des narrativen Ablaufes zu erfassen. Das Panel stellt demnach keinesfalls nur eine bloße ›Momentaufnahme‹, kein zeitloses Einzelbild dar, sondern suggeriert wesentlich kompliziertere zeitliche Vorgänge (vgl. McCloud 2001: 104ff.). Zusätzlich eröffnen sich Fragen, die auf Eigenständigkeit und künstlerischen Anspruch des Mediums rekurrieren. Dient der Comic nur als Illustration einer anderen, ›wertvolleren‹ Kunstform und spiegelt damit die Vorurteile wieder, die Comics als unselbständige, ja nutzlose Kinder- und Schundliteratur abstempeln? Oder nähert er sich, indem er diese Symbiose eingeht, zu stark der Bildenden Kunst an, um noch als eigenständiges, narratives Medium betrachtet werden zu können? In den USA, wo sich der Comic seit den 1940er Jahren und der Entstehung von Superhelden-Comics den Ruf des billigen Wegwerfproduktes ohne künstlerischen Anspruch eingeholt hat, entstand Ende der 1960er Jahre eine rebellische Comic-Subkultur, die sich auch mit den Aufständischen in der Popmu-

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Abbildung 17: Big Brother and the Holding Company (1968): Cheap Thrills, Cover gestaltet von Robert Crumb

sik kurz schalten sollte. Der US-amerikanische Underground-Künstler Robert Crumb, berühmt für Comics wie Fritz The Cat oder Mr. Natural, gestaltete das Cover für das Album Cheap Thrills von Big Brother & The Holding Company, die damalige Band von Janis Joplin. Vor allem die Struktur dieses Front-Bildes ist außergewöhnlich: Das Cover ist in 16 Panels unterteilt, wobei sieben davon für die Songs des Albums stehen: Jeder der sieben Tracks hat sein eigenes Panel. Damit werden sie auf visueller Ebene gewissermaßen kommentiert und interpretiert. Die restlichen neun Panels sind für zusätzliche Informationen zum Album vorgesehen, etwa »Janis Joplin: Vocals«. Die Einzelpanels sind symmetrisch rund um das runde Kernstück Ball and Chain angeordnet, wodurch auch die formale Ebene des Bildes zu einem zusätzlichen Bedeutungsträger wird. Durch die Struktur und die Anordnung der Einzelbilder werden Hierarchien und Parallelitäten zwischen den Songs ausgedrückt: Die Single Ball and Chain steht als Eyecatcher in der Mitte, und die vis-à-vis-Stellung bestimmter Titel suggeriert deren inhaltliche Verwandtschaft. Durch die Transponierung der Songtitel in Einzelpanels, die sich zu einem durchaus narrativen Ganzen fügen, entstehen auch Assoziationen zum Prinzip des Konzeptalbums, bei dem die einzelnen Songs nicht mehr isoliert stehen, sondern gemeinsam mit den ande-

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ren Tracks des Albums ein geschlossenes Narrativ bilden. Das Konzeptalbum sollte in den 1960er und 1970er Jahren immer mehr an Bedeutung gewinnen; zuvor hatte es hauptsächlich Singles und Radiohits gegeben, nun begann man, das Popmusikalbum als Gesamtkunstwerk zu betrachten. Cheap Thrills und das dazugehörige Cover Robert Crumbs können in diesem Kontext also auch als Zeichen einer musikalischen Umstrukturierung, einer popmusiktechnischen Neuerung gelesen werden. Das Crumb-Cover für die Joplin-Platte integriert also neben einer formalen Auseinandersetzung mit dem Comic-Cover (Panelanordnung et cetera) auch politische Aspekte (die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Jugendkultur) und kulturelle Reflexionen (die Entstehung des Konzeptalbums in der Popmusik). Das Comic-Cover war später, ab den späten 1970er Jahren, oft in Verbindung mit dem neu entstandenen Punk zu sehen – allerdings waren es kaum namhafte Zeichner_innen, die den Punk-Alben ihre bildliche Signatur verliehen. Hervorzuheben ist allerdings Raymond Pettibon, ein Zeichner, dessen Metier eigentlich in der Bildenden Kunst angesiedelt ist, der sich aber in seinen Werken immer sehr stark mit Comics und Populärkultur auseinandersetzte. Seine unzähligen, rasch fabrizierten Bilder sind in Schwarz-Weiß gehalten und von der Comic-Ästhetik geprägt – obwohl sie sich nicht zu Bilder-Serien zusammenfügen. Inhaltlich werden Themen aus Alltag, Politik und Popkultur aufgegriffen, die visuell umgesetzt werden – in Form von Bild oder Schrift. Pettibon ist bekannt dafür, Text und Bild oft scheinbar willkürlich zu kombinieren und damit völlig neue Bedeutungen zu schaffen. Er gestaltete Albumcover für die Bands Black Flag (etwa Slip It In von 1984), Sonic Youth (das berühmte Album Goo von 1990), Minutemen u.a (vgl. Black Flag 1984; Sonic Youth 1990). Weiterhin ist anzumerken, dass Pettibon sich zwar auf die Platten, deren Cover er zeichnet, einlässt (auf dem Goo-Cover sind eindeutig zwei der Mitglieder der Band abgebildet), ihnen aber durch seinen individuellen künstlerischen Stil den Charakter der reinen Illustration nimmt. Dem Goo-Cover ist ein Text beigefügt, der offensichtlich weder mit der Band noch mit den Inhalten des Albums in Verbindung steht – das Bild erhält dadurch einen zusätzlichen semantischen Wert und eine narrative Dynamik. Es sind zudem Ähnlichkeiten in der künstlerischen Vorgangsweise und den Thematiken der Musiker_innen und des Bildenden Künstlers festzustellen: Die Bands Black Flag und Sonic Youth etwa stehen dem Kunstbereich nahe, außerdem inkludieren ihre Werke politische Reflexionen ebenso wie populärkulturelle Themen – ein Punkt, der genauso auf die Werke Raymond Pettibons zutrifft. Ein weiterer Comic-Künstler prägte die äußere Erscheinung von Pop in jener Zeit: Charles Burns, der unter anderem für sein Comic Black Hole bekannt ist, war bereits in den 1980er Jahren im (pop-)musikalischen Bereich tätig. Er gestaltete Cover für das Fanzine Sub Pop, das in den späten 1980ern zu dem einflussreichen Label Sub Pop Records3 werden sollte. Einige der ersten Ausga-

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ben des Fanzines wurden in Form von Audio-Kassetten verkauft. Burns kreierte später für das Label Sub Pop Records auch das Plattencover für die Compilation Sub Pop 200 (vgl. Sub Pop Records 1988). Er zeichnet und illustriert heute noch regelmäßig für Zeitschriften wie Time, The Rolling Stone oder The Esquire. Seit 2003 ist er außerdem offizieller Cover-Designer und Illustrator für das USamerikanische Kultur- und Musikmagazin The Believer (vgl. Believer Magazine 2010). Charles Burns’ Interesse an den seelischen Abgründen des Menschen schlägt sich in den Körper-Konzeptionen seiner Figuren nieder: Verzerrte Gesichter, Monströses, unheimliche Krankheiten und Verschmelzungen zwischen Mensch und Tier sind typisch für den Autor. Für seine Comics wählt er vor allem Jugendliche als Charaktere. Deren Adoleszenz, also körperliche wie geistige Entwicklung zu Erwachsenen, geht etwa in Black Hole mit dem Ausbruch einer ominösen Krankheit einher, die den Körper auf unnatürliche Weise mutieren lässt und sich bei jedem_r Betroffenen anders äußert (vgl. Burns 1998). Charles Burns gestaltete das Albumcover für Iggy Pops 1990 erschienenes Album Brick by Brick (vgl. Iggy Pop 1990). Neben dieser Zuneigungsbekundung an die neunte Kunst bewies der Musiker seine Affinität zur Comic-Kultur unter anderem auch im Laufe seiner Filmkarriere. So spielte er in der Verfilmung des ComicKlassikers TANK GIRL (USA 1995) eine Nebenrolle ebenso wie in der ComicAdaption THE CROW – CITY OF ANGELS (USA 1996). Das Cover selbst ist nicht in Einzelpanels unterteilt und somit nicht auf den ersten Blick als ›Comic‹ erkennbar, es zeigt aber Burns’ charakteristischen Stil, der sich vor allem in seinen Figuren manifestiert. Iggy Pop ist zudem bekannt für seine stark körperliche Präsenz bei Bühnenauftritten und für seinen wilden, ekstatischen Tanzstil – eine gewisse Ähnlichkeit der beiden Künstler lässt sich also generell im visuellen Bereich feststellen. Sowohl Iggy Pop in seiner Inszenierung und seinen Texten als auch Charles Burns in seinen Zeichnungen thematisieren vorwiegend den menschlichen Körper und dessen Grenzen beziehungsweise Grenzüberschreitungen in Form von Ekstase und Mutation. Auch in den späten 1990er Jahren und danach werden in den USA Kollaborationen zwischen Comic-Künstler_innen und Popmusiker_innen eingegangen: Adrian Tomine, der mit der Serie Optic Nerve und graphic novels wie Summerblonde oder Sleepwalk bekannt wurde (vgl. Tomine 1994ff.; 1998; 2003), gestaltete außer einem Cover für Weezer oder einem Frontbild für eine Record-Compilation4 Teile des Booklets für das zweite Studioalbum der amerikanischen Indie-Band Eels, das den Titel Electro-Shock-Blues (vgl. Eels 1998) trägt. Die Kooperation des Zeichners und Illustrators5 mit der Band rund um Mark Oliver Everett erscheint passend, da es inhaltlich viele Gemeinsamkeiten in ihren Werken gibt. In Tomines Comics geht es immer wieder um fehlgeschlagene Kommunikation, Außenseiter_innentum und Liebeskummer, und auch in den Texten der Eels werden diese Alltagsproblematiken bevorzugt thematisiert. Das Booklet zu Electro-Shock-Blues enthält noch weitere Beiträge von

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bekannten US-amerikanischen Independant-Comic-Autor_innen, namentlich von Seth, Debbie Dreschler und Joe Matt & Chester Brown. Alle Comics und Cartoons, die das Booklet enthält, illustrieren die Texte und Musik von Mark Oliver Everett, besitzen aber dennoch eine gewisse (narrative) Eigenständigkeit. Tomine, der sporadisch Cover für The New Yorker entwirft, arbeitet außerdem laufend an neuen Projekten im Bereich Popmusik-Illustration; etwa für die Indie-Rock-Band Yo La Tengo, deren Album Compilation Yo La Tengo Is Murdering the Classics (vgl. Yo La Tengo 2006) von einem in vier Panels unterteilten, narrativen Comic-Cover geziert wird.

3. V ON DER WECHSELSEITIGEN E RHELLUNG DER K ÜNSTE : E IN B LICK NACH F R ANKREICH In Frankreich ist die Comic-Kultur beziehungsweise das Medium der bandes dessinées bekanntlich wesentlich verbreiteter und geschätzter als in den meisten anderen Ländern Europas. Einer der aktuell bestverdienenden französischen Abbildung 18: Dionysos (2003): Whatever the Weather – acoustique, Cover gestaltet von Joann Sfar

Comic-Zeichner_innen dürfte der 1971 in Nice geborene Joann Sfar sein, der mit seiner Reihe Donjon (gemeinsam mit Lewis Trondheim) und der mehrbändigen Serie Le Chat du Rabbin (Die Katze des Rabbiners) auch international Bekanntheit erlangte. Er arbeitete außerdem mit der französischen Rockband Dionysos

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zusammen und gestaltete deren CD-Cover wie etwa die beiden Live-Alben Whatever the Weather – acoustique und Whatever the Weather – electrique (vgl. Dionysos 2003), Monsters in Love (vgl. Dionysos 2005) sowie zuletzt La mécanique du coeur (vgl. Dionysos 2007). Auf den Albumcovern der beiden Live-Alben sind Collagen aus Sfars Comic-Universum und einer Fotografie der Band zu sehen. Die reale Welt wird damit zur Comic-Welt, die realen Menschen werden Teil des Comic-Universums. Sfars Zusammenarbeit mit der Band beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Gestaltung ihrer Album-Cover, sondern wird auch noch auf anderen Ebenen deutlich. Von einem wechselseitigen Einfluss kann man etwa sprechen, betrachtet man Songtitel wie I Love Liou auf Monsters in Love: Liou ist der Name einer der Gestalten Sfars aus dem Comic Le Grand Vampir und hat in diesem Fall als Inspirationsquelle für die Band gedient (vgl. Sfar 2001). In Sfars Werk gibt es außerdem zahlreiche Verweise auf Musik, und in den Texten von Dionysos finden sich weitere Anspielungen auf Comics – wie zum Beispiel im Song Bloody Betty Boop. Neben den von Sfar gestalteten Plattencovern spielen Intermedialität und die Verbindung zwischen Comics und Musik bei Band und Künstler also auch sonst eine zentrale Rolle. Als eine der bedeutendsten künstlerischen Gemeinsamkeiten der Rockband Dionysos und des Zeichners Joann Sfar lässt sich sicherlich Narrativität feststellen: Sowohl Sfar als auch Dionysos erzählen mit ihren jeweiligen künstlerischen Mitteln episodenhafte Geschichten, die sich schlussendlich zu einem Gesamtwerk fügen. Beide integrieren zudem sowohl morbide als auch spielerische Elemente sowie fantastische Figuren und Geschehnisse in ihre jeweiligen Arbeiten. Anders als bei den zuvor genannten Beispielen aus der Popgeschichte findet hier außerdem ein direkter wechselseitiger Austausch statt, indem sich etwa die Musik auch auf die Comics bezieht – somit können beide Medien als gleichgestellt betrachtet werden. Ein neueres Beispiel findet man bei Renauds Doppel-Album Rouge Sang (vgl. Renaud 2006), das nicht nur vom Comic-Künstler Killoffer gestaltet, sondern auch mit einem bibliophilen Hardcover statt der üblichen CD-Hülle versehen wurde. Der französische Rock-Sänger ließ seine CD also in der Verkleidung eines kleinen quadratischen Comic-Albums publizieren und räumte dem noch relativ jungen Zeichner Killoffer viel Platz, also mehrere Seiten, zur Gestaltung ein – wobei sich die rauen Thematiken des Comic-Künstlers, bekannt durch das selbstinspizierende Die 676 Erscheinungen des Killoffers, und diejenigen des seit den 1970er Jahren in Frankreich etablierten Musikers weitestgehend überschneiden. Tatsache ist, dass beide die dunklen Abgründe der menschlichen Seele, vor allem der eigenen, ausloten – und sich gleichzeitig auf das Terrain punkiger Underground-Kultur begeben. In jedem Fall ist beiden die Attitüde des einsamen, pessimistischen Künstlers im kritischen mittleren Alter zu eigen. Killoffer verarbeitet im Booklet einzelne Elemente der Songtexte Renauds zu einer Mischung aus Kriminal- und Liebesgeschichte. Die Figur der jungen Frau, die bereits anfangs in seinem orgiastischen schwarz-weißen

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Zeichengewirr auftaucht, stirbt zuerst durch Amors Pfeil, dient später als Fallschirm, hilft à la Bonnie and Clyde beim Gefängnisausbruch und zieht sich damit durch die Comic-Geschichte wie die Romantik durch Renauds Songtexte. Die entstandene Geschichte kann aber auch ohne weiteres nur für sich gelesen werden – eine Tatsache, die besonders durch das gewählte Format noch hervorgehoben wird. Auf bildlicher Ebene finden sich 24 Einzelgeschichten (jeder der 24 Songtexte wird auf mehreren Seiten ausgebreitet und sorgfältig illustriert) und eine große, fortlaufende Erzählung. Der Comic dient in diesem Falle also zugleich als Illustration der Songtexte als auch als selbstbewusste, eigenständige Kunstform – eine Dualität, die ein weiteres Mal auf die vielfältigen Möglichkeiten des fragmentarisch-sequentiellen Mediums Comic hinweist.

4. U ND WARUM DAS ALLES ? U NDERGROUND UND M AINSTRE AM Warum arbeiten Comic-Zeichner_innen eigentlich mit Popmusiker_innen zusammen? Natürlich steckt auch in den kleinen, quadratischen und nach wie vor vom Aussterben bedrohten Comic-Covern eine (sozial-)politische Komponente. Tatsächlich scheinen Kollaborationen zwischen namhaften Comic-Künstler_innen und Popmusiker_innen immer auch auf den jeweiligen Status der angesprochenen Medien in einer Gesellschaft hinzuweisen beziehungsweise eine durchaus politische Botschaft zu transportieren. Das berühmte Beispiel aus den 1960er Jahren, Robert Crumbs Albumcover für die rebellische Sängerin Janis Joplin, illustriert bereits, wie durch den Zusammenschluss zweier Medien auch eine ganze Jugendkultur gewissermaßen zusammengefasst werden kann. Crumbs Underground-Comics gehörten in den USA ebenso zum Widerstand der Jugend wie Joplins blueslastige Hippie-Hymnen, wenn sie auch eventuell etwas weniger weitreichend waren. Nimmt man als weiteres Beispiel die Punk-Cover aus den späten 1970er Jahren zur Hand, findet sich dieser kontroverse Aspekt von Comics erneut. Die Punk-Bewegung drückte sich neben der Musik und einer Revolution der Mode zugleich in unzähligen Fanzines und eben auch Comics aus. Ein Vorteil des Mediums Comic ist hierbei sicherlich, dass es von jedem_r Erzählwilligen schnell und problemlos genutzt werden kann: Was man braucht, sind nur Papier, Stift und eine gute Idee. Besonders die Punk-Bewegung, die auch in der Musik gegen jede Professionalität oder technisches Können eintrat, machte sich diese Eigenschaft des Comics zunutze, und so fanden sich in den selbstverlegten Magazinen neben diversen anderen DIY (Do It Yourself-)Erzeugnissen auch unzählige Comics. Der Comic wurde demnach, ebenso wie Popmusik, von neu aufkommenden Jugendkulturen als Medium des Protestes instrumentalisiert – auch wenn sich sein Status in der Folge allmählich veränderte. Nicht ganz ohne Grund arbeiteten Black Flag und Sonic Youth in den 1980ern und 1990ern mit Raymond Pettibon, dem Künstler,

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Comic-Reflektierer und Trash-Verarbeiter zusammen. Popmusik entdeckte die Bildende Kunst für sich, und auch der Comic wurde in jenen Jahren durch das Aufkommen der graphic novels ›erwachsen‹. Die Beispiele aus den 1990er und 2000er Jahren zeigen letztendlich eine deutliche Differenz zwischen dem Status des aktuellen Underground-Comic in den USA und der Comic-Kultur in Frankreich. Tatsächlich sind Charles Burns’ und Adrian Tomines graphische Arbeiten wohl etwa ebenso populär wie die späten Alben von Iggy Pop oder die Indie-Musik von den Eels – nämlich eher weniger oder eben nur bei einer bestimmten, subkultur-affinen Schicht, und das trotz Illustrationen für Periodika. Anders verhält sich das in Frankreich, wo bandes dessinées wesentlich mehr zum kulturellen Alltag und zur MainstreamKultur gehören, wo Joann Sfar mittlerweile eine großflächig beworbene ComicAdaption des Le Petit Prince veröffentlicht hat (vgl. Sfar 2008) und Killoffers Zeichnungen auch schon hin und wieder mal die Frontseiten von politischen Zeitschriften zieren. Comic ist hier nicht Ausdruck einer kulturellen Gegenbewegung, sondern bereits etabliertes, vielseitig genutztes künstlerisches Medium – eines von vielen. Über die Bedeutung einer Zusammenarbeit von Popmusiker_innen wie Dionysos mit Joann Sfar oder von Renaud mit Killoffer lässt sich streiten. Sowohl die jeweiligen Musiker als auch die Comic-Zeichner haben eine äußerst angesehene Stellung in der französischen Kulturlandschaft und beeinflussen sich durchaus gegenseitig. Letztendlich könnte man sich dazu entschließen, weder finanzielle Hintergedanken noch revolutionäre Verbreitungsintentionen als Gründe zu sehen, sondern einfach den Spaß am intermedialen künstlerischen Austausch.

A NMERKUNGEN 1 | Dies ist eine Entwicklung, die sich immer stärker durchsetzt, da der Beruf des Graphic Designers oder der Graphic Designerin durch den technischen Fortschritt mehr und mehr an Bedeutung gewinnt. 2 | Nicht zu vergessen ist, dass die CD als Trägermedium durch den Erfolg des Internets und des digitalen Datentransfers nach und nach ausstirbt – produziert wird sie dennoch weiterhin, was auch für die wieder populärer werdenden Vinyl-Platten gilt. Auch im Internet oder für Fan-Artikel wie T-Shirts brauchen Musiker_innen allerdings ein visuelles ›Profil‹ – das Bild ist also weiterhin wesentlicher Bestandteil der Wahrnehmung (und Vermarktung) von Popmusik. 3 | Sub Pop Records beschreibt sich selbst als ein »independant record label, based in Seattle, Washington« und war eines der einflussreichsten Labels für die Grunge-Bewegung in den 1990er Jahren. Vgl.Sub Pop Records. Online unter: http://www.subpop. com/ (Letzter Zugriff: 19.10.2010).

C OMICS AUF A LBUMCOVERN 4 | Eine Liste von Record Cover, die von Tomine gestaltet wurden, ist auf der Homepage des Comic-Verlages Drawn & Quarterly einzusehen. Vgl.: Drawn & Quarterly. Online unter: http://www.drawnandquarterly.com/artPreviewList.php?item=a3e6d3e024d115 (Letzter Zugriff: 19.10.2010). 5 | Für Illustrationen des Künstlers siehe auch seine offizielle Homepage. Vgl.: Tomine, Adrian. Online unter: http://adrian-tomine.com/Illustrations.html (Letzter Zugriff: 19.10.2010).

L ITER ATUR Allmusic-Guide. Online unter: www.allmusic.com (Letzter Zugriff: 19.10.2010). Believer Magazine. Online unter: www.believermag.com/ (Letzter Zugriff: 19.10.2010). Big Brother and the Holding Company (1968): Cheap Thrills, Columbia. Black Flag (1984): Slip It In, SST. Burns, Charles (1998): Black Hole, Berlin: Reprodukt. Dimery, Robert (2005): 1001 Albums you must hear before you die, London: Quintet Publishing Limited. Dionysos. Online unter: www.dionyweb.com/site/index.php (Letzter Zugriff: 19.10.2010). Dionysos (2007): La mécanique du coeur, Barclay. — (2005): Monsters in Love, Trema. — (2003): Whatever the Weather – acoustique, Tréma. Drate, Spencer (Hg.) (2002): 45 rpm. A Visual history of the seven-inch record, New York: Princeton Architectural Press. Drawn & Quarterly. Online unter: www.drawnandquarterly.com (Letzter Zugriff: 19.10.2010). Eels (1998): Electro-Shock-Blues, Geffen Records. Eisner, Will (2006): Comics & Sequential Art. Principles and Practices of the World’s Most Popular Art Form, Paramus NJ: Poorhouse Press. Gorillaz (2005): Demon Days, Parlophone/Virgin. Green Day (1994): Dookie, Reprise. Iggy Pop. Online unter: www.iggypop.com/ (Letzter Zugriff: 19.10.2010). Iggy Pop (1990): Brick by Brick, Virgin. Joann Sfar. Online unter: www.pastis.org/joann/ (Letzter Zugriff: 19.10.2010). McCloud, Scott (2001): Comics richtig lesen, Hamburg: Carlsen. Nirvana (1991): Nevermind, Geffen Records. Ochs, Michael ([1996] 2005): 1000 Record-Cover, London/Paris: Taschen. Renaud (2006): Rouge Sang, EMI. Schmitz, Martina (1987): Album Cover. Geschichte und Ästhetik einer Schallplattenverpackung in den USA nach 1940, München: scaneg.

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Sfar, Joann (2001): Le Grand Vampir, tome 1. Cupidon s’en fout, Paris: Delcourt. — (2008): Le Petit Prince, Paris: Gallimard. Sonic Youth (1990): Goo, DGC. Sub Pop Records. Online unter: www.subpop.com/ (Letzter Zugriff: 19.10.2010). Sub Pop Records (1988): Sub pop 200, Sub Pop Records. TANK GIRL (USA 1995, R. Rachel Talalay) The Beatles (1969): Abbey Road, Capitol. THE CROW – CITY OF ANGELS (USA 1996, R. Tim Pope) Tomine, Adrian (2003): Summerblonde, Montreal: Drawn and Quarterly. — (1998): Sleepwalk, Montreal: Drawn and Quarterly. — (1994ff.): Optic Nerve, Montreal: Drawn and Quarterly. Tomine, Adrian. Online unter: http://adrian-tomine.com/ (Letzter Zugriff: 19.10.2010). Yo La Tengo (2006): Yo La Tengo Is Murdering the Classics, Factory Records.

Die Medienästhetik der Webcomics Ramón Reichert

Webcomics bezeichnen ein Comicformat, das ausschließlich oder zumindest an erster Stelle im Internet veröffentlicht wird. Sie sind das Produkt technischer Medienumbrüche von analogen zu digitalen Medien und kultureller Praktiken im Feld der Internetkommunikation. Digitale Bildgebungsverfahren, Computernetze und Soziale Medien im Web 2.0 haben nicht nur die technischen Rahmenbedingungen der Verbreitung von Comics verändert, sondern beeinflussen maßgeblich die Produktions-, Darstellungs- und Rezeptionsästhetik von Comics. Computer- und netzbasierte Comics können als Mischformate verstanden werden, da sie sich an der Schnittstelle unterschiedlicher Medien, Technologien und Praktiken situieren und gleichermaßen an der analogen und der digitalen Medienkultur partizipieren. Insofern bilden sie weder ein einheitliches noch ein radikal neues Genre. Daher können Webcomics eher als eine Hybridbildung aus bereits bekannten Genres, Formaten und Medien gesehen werden. Comics, die primär für den Druck produziert und erst im Nachhinein im Internet publiziert werden, nutzen das Internet bloß als einen zusätzlichen Vertriebsweg und schaffen keinen ästhetischen Mehrwert, der über das Druckmedium hinausgehen würde. Da aber die Übergänge zwischen den unterschiedlichen Medienkulturen ohnehin fließend sind, sind Comics im Netz immer auch Medien der Umformung. Demgemäß nutzen sie spezifische Darstellungsformen, die sie den Traditionslinien der Druckmedien und deren Repräsentationen und Praktiken entnehmen. Sie vernetzen und transformieren Nutzungsformen und Inhalte wie sie aus den Bereichen der klassischen Informationsmedien, also der Zeitungen, Bücher, Karten, Plakate oder Flugblätter, bekannt sind. Mit ihrer Anknüpfung an die Konventionen der Buchkultur und der Druckgrafik etablieren sie eine Migration der Erzählstile und ihrer visuellen Kommunikation. Webcomics entwickeln aber auch einen ästhetischen Eigensinn, der sie als spezifisch computerbasierte Kunstform ausweist. In diesem Sinne nutzen sie die neuen Möglichkeiten des intermedialen Erzählens und erkunden die gestalterischen Möglichkeiten bei der Verwendung von multimedialem Hypertext.

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Hypertextcomics zielen auf die Überwindung der Linearität in der Bilderfolge und der Narration. Die avancierten Comics im Netz nutzen die elektronischen Hypertextmedien, um Leser_innen eine kreativere Rolle im Rezeptionsprozess zu ermöglichen, und erschließen sich damit eines der wesentlichen Ziele der künstlerischen Moderne (vgl. Buckingham 2008). Die im kollaborativen Prozess entstandenen Webcomics stehen in Bezug zu künstlerischen Praktiken wie der Performance Art, der es um eine situationsbezogene und handlungsbetonte Kunstpraxis geht und die damit das Kunstwerk als Endprodukt und Warenform in Frage stellt (vgl. Causey 2006: 17f.). Schließlich entstehen im Produktions- und Rezeptionskontext von computer- und netzbasierten Comics auch medienreflexive Praktiken, die den multimedialen Oberflächen der Bedienungssoftware kritisch gegenüberstehen. Sie machen die hinter den grafischen Benutzerschnittstellen versteckten Programmcodes und -texte explizit sichtbar und benutzen sie als künstlerisches Gestaltungsmaterial für performative Prozesse. Im Unterschied zu den Printcomics steht bei diesen experimentell angelegten Comics nicht unbedingt das Werk oder das Endprodukt im Zentrum, sondern der Aushandlungsprozess, der von Webprojekten angeregt wird. Um die Bandbreite der Webcomics als Schauplätze kultureller Zirkulation und ästhetischer Konflikte zu erfassen, soll hier auf ihre relevanten Ausprägungen näher eingegangen werden: (1) Traditionelle Webcomics bieten Anschlüsse an herkömmliche Erzählweisen und kulturelle Stabilisierungssysteme. Sie tradieren die ästhetischen Konstellationen, welche die Rezeptionsöffentlichkeit als tradierenswert anerkennt (vgl. exemplarisch Kurtz 2008). Oberflächlich gesehen sind Webcomics nichts anderes als Printprodukte, die im Internet publiziert werden. Diese Sichtweise vertritt auch die überwiegende Anzahl der an ihrer Herstellung Beteiligten, die sich vorrangig an der Schrift- und Buchkultur orientieren und die vernetzten Medien hauptsächlich als zusätzliches Distributionsmedium nutzen. (2) Interaktive Webcomics gehen einen entscheidenden Schritt weiter. Sie verändern das Erscheinungsbild der Comics und verfügen über Merkmale ästhetischer Eigenständigkeit. Mit ihrer Interaktion und Vernetzung auf multimedialen Plattformen verändern sie das theoretische Paradigma von Comics als Medium und stellen dessen sequentielle Ästhetik sowie seine visuelle Kommunikation auf neue Grundlagen. Dabei nutzen sie Stilmittel, welche die computerbasierten Medien zur Verfügung stellen und bedienen sich der hypermedialen1 oder hypertextuellen2 Gestaltungsverfahren wie sie auch in der Netzliteratur zum Einsatz kommen und dort stilprägend geworden sind. (3) Kollaborative Webcomics entstehen aus gemeinschaftlicher Beteiligung und nutzen die Strukturen vernetzter Medien. Sie können aber nicht alleine aus den technologischen Interaktionsmöglichkeiten abgeleitet werden. Denn die im kollaborativen Schaffensprozess entstandenen Comics erzählen ihre Geschichten nicht nur anders, sondern stellen die traditionellen Strukturen und Funk-

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tionen der Comicproduktion weitgehend in Frage. Kollaborative Comicprojekte kritisieren traditionelle Konzepte der Autor_innenschaft und grenzen sich auch von der Arbeitsteilung industrieller Comicproduktionen ab. (4) Medienreflexive Webcomics ermöglichen eine Reflexion von Software. In Anlehnung an die Projekte der Generative Art und der Software Art machen medienreflexive Comics die aus der Bildschirmästhetik ausgeblendete Softwarearchitektur zur Struktur und Form narrativer Beteiligungsprozesse. Sie betrachten Software nicht als etwas, das hinter die Bild- und Textoberflächen der Comicgeschichte zurücktreten soll, sondern lenken die Aufmerksamkeit auf den Programmcode und rücken ihn in den Vordergrund.

TR ADITIONELLE W EBCOMICS IM I NTERNE T Traditionelle Webcomics nutzen das Internet vorrangig als Datenspeicher und Medienarchiv. Bevor Comics gespeichert und archiviert werden können, müssen sie aus traditionellen Medienkontexten in vernetzte Medien übertragen werden. Die Frage ist, ob die Übertragungen der Comics in netzbasierte Anwendungen zu einer veränderten Darstellungsästhetik führen. In diesem Zusammenhang kommunizieren traditionelle Webcomics eine eingeschränkte Erwartung an die künstlerischen Möglichkeiten von Computer und Internet. Indem sie die repräsentative Ordnung der interaktionsarmen Buchkultur weitgehend tradieren, übernehmen sie mehr oder weniger stillschweigend die klassische Konzeption von aktiver Autor- und passiver Leserschaft (vgl. Hartling 2009: 89ff.). Die weitgehende Anlehnung an das Medium Buch hat dazu geführt, dass primär im Internet publizierte Comics bei erfolgreicher Nachfrage auch in Druck erscheinen (vgl. Bryant/Daly 2006). Andererseits hat die Nutzung des Internets als niedrigschwelliges Archiv dazu beigetragen, dass Comics heute unentgeltlich in einer frei zugänglichen Universalbibliothek verfügbar gemacht werden konnten. Doch am traditionellen Erscheinungsbild der Comics ändert sich nur wenig. Für sie wird lediglich ein neues Archiv, ein kostengünstiger Speicher bereit gestellt. Diese althergebrachte Publikationspraxis ist kein Einzelfall und beschränkt sich nicht nur auf Comicformate. Christiane Heibach konstatiert in ihrer Untersuchung der Netzliteratur die Dominanz traditionalistischer Hyperfictions und kommt zu folgendem Resümee: »Der Kern der Problematik der ›traditionellen‹ Hyperfictions auf Diskette oder CD-ROM liegt v.a. darin, dass sie sich noch sehr stark an der Printliteratur orientieren. Die Textsegmente simulieren nichts anderes als die gute alte Buchseite, Bildmaterial steht isoliert neben dem Text, die Links werden meist zur Verbindung der verschiedenen textuellen Ebenen oder Erzählperspektiven benutzt, die zwar gegenüber der Printliteratur eine Komplexitätserhöhung der Strukturen zur Folge haben, aber keine Revolution in

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R AMÓN R EICHERT bezug auf den traditionellen Narrativitätsbegriff nach sich ziehen und schon gar nicht den Hypertext als Rhizom umsetzen.« (Heibach 2003: 221)

Dieser von Heibach an der elektronischen Literatur festgemachte Traditionalismus der digitalen Medienkultur ist auch auf die Webpräsenz von Comics übertragbar und soll im Folgenden an einigen aussagekräftigen Beispielen veranschaulicht werden. Charly Parkers Webcomic Argon Zark! (Parker 1995ff.) gilt als eines der frühesten Projekte, den Comic mit den digitalen Techniken neu zu erfinden und wird bis heute in regelmäßigen Abständen im Netz publiziert (Campbell 2006: 11). Argon Zark! ist ein Hybridformat zwischen den Darstellungskonventionen der Buchkultur und den neueren Animationstechniken von Multimedia-Applikationen. Die narrative Organisation des Comics ist durchgehend konservativ und orientiert sich an der chronologischen Ordnung der SeiAbbildung 19: Charly Parker, Argon Zark! (www.zark.com)

tenfolge von Druckmedien. Mit der Maus kann von einer Seite auf die nächste Seite geklickt werden. Die Leser_innen sitzen vor dem Computer und können die Bildsequenzen in zwei Richtungen durchblättern. Mit dem Mauszeiger können sie auch über die einzelnen Panels gleiten und Animationsgrafiken nach dem Trigger-Prinzip aktivieren. Die Platzierung von Auslösern (trigger), die in eine Skriptsequenz eingebunden sind, haben digitale Graphic Novels wie Argon Zark! vom Computerspiel übernommen. Der Trigger ist schließlich mit einem Skript verknüpft, das selbsttätig im Einzelbild einer Comicsequenz Animationen, Geräusch-, Sprach- oder Klangeffekte ausführen kann. Webcomics wie Kevin & Kell (Holbrook 1995ff.), der seit dem 3. September 1995 online ist und seither täglich erscheint, besitzen zwar eine traditionelle Pa-

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nelaufteilung, nutzen aber das Internet vorrangig in seiner Archivierungsfunktion. So können die Fans von Kevin & Kell den gesamten Archivbestand überblicken, der kalendarisch angeordnet ist. Diese Präsentationstechnik von Comics im Netz ist auch bei vielen anderen Comics vorherrschend und dominiert generell die Online-Publikation von Comics. Die Webpräsenz populärer Comics wie das Furry-Webcomic Sabrina Online (Schwartz 1996ff.) des US-amerikanischen Cartoonisten Eric W. Schwartz, das von Dave Cheung herausgegebene Webcomic Chugworth Academy (Cheung 2003ff.) und Sinfest (Ishida 2000ff.), das vom japanisch-amerikanischen Künstler Tatsuya Ishida publiziert wird, oder das von Steve Bryant seit 2002 publizierte Onlinecomic Athena Voltaire (Bryant 2002ff.) und schließlich Ctrl+Alt+Del, einem seit 2002 publizierten Webcomic von Tim Buckley (Buckley 2002ff.), verläuft durchgehend nach demselben Muster. Netzbasierte Kommunikationstechnologien fließen kaum oder gar nicht in die Gestaltung der Comics ein. Der oft einzige Unterschied zur gedruckten Fassung besteht darin, die Leserichtung nicht von links nach rechts, sondern von oben nach unten zu organisieren. Nur die paratextuelle Rahmung des eigentlichen Comics nutzt die Softwareapplikationen des Internets, beschränkt sich aber im Wesentlichen auf die Speicher-, Archivierungs- und Adressierungsfunktionen des Netzmediums. Diese netzspezifischen Funktionen bleiben jedoch ohne Rückwirkung auf die Comicästhetik, die der Abhängigkeit gegenüber der traditionellen Buchkultur und der konventionellen Comicerzählungen geschuldet bleibt. Die überwiegende Mehrzahl der im Netz publizierten Comics beschränkt sich also auf die Nutzung der Kommunikationsstrukturen und Verbreitungsmechanismen der digitalen Netzwerke und verwendet das Internet hauptsächlich als ein zusätzliches Distributionsmedium. Wie zahlreiche andere Printprodukte auch haben Comics im Internet sowohl neue Produktions- als auch neue Rezeptionsmöglichkeiten eröffnet. Was sind die Vorteile des Publizierens im Netz? Die Kosten sind geringer, die Reichweite ist ungleich höher als bei einer Printproduktion, der Kreis der Adressat_innen erweitert sich und die Zugangsschwellen werden gesenkt. Insgesamt fördert das Internet und die sozialen Medien des Web 2.0 die Demokratisierung der Comicproduktion, die breitenwirksam an der Fan Art und der Do-It-Yourself-Culture partizipieren kann. Dementsprechend erhöht sich für Webcomics die Möglichkeit des Experimentierens. Dieses experimentellere Artwork zeigt sich an der intensiven Verwendung von Fotocollagen, Videosequenzen und 3D-Figuren. Ein weiterer Vorteil für Comicautor_innen ergibt sich durch die Interaktivität des Internets. So können die Autor_innen der im Netz publizierten Comics mit ihrer Community mit Hilfe von Blogs, Comments, Newsfeeds, Subskribent_innen, Foren und Gästebüchern in Kontakt treten.

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M ULTIMEDIALE W EBCOMICS Comics sind in den Multimedia-Anwendungen3 des World Wide Web auf vielfältige Weise präsent (vgl. Schuiten/Peeters 1998). Der Computer und das Internet stellen technologische Interaktionsmöglichkeiten zur Verfügung, die von multimedial orientierten Comicprojekten zur Realisierung von interaktionsintensiven und synästhetischen Projekten genutzt werden (vgl. Ryan 2004: 329f.). Multimediale Comics bestehen aus mehrdimensionalen digitalen Medien wie Text, Grafik, Fotografie, Audio, Video, Animation oder auch Virtual Reality Modellen. Die Autor_innen von Webcomics arbeiten mit Teilanimationen und mitunter auch mit Ton. Damit einhergehend verändert sich auch die medienspezifische Ästhetik der Comics, aus der sich Besonderheiten neuer digitaler Erzählformen entwickeln können. Kooperative Organisationsformen, inter- und hypermediale Erzählformen sowie die interaktive Einbindung des Publikums etablieren produktive Strukturen von virtuellen Gemeinschaften. Mit ihrer multimedialen und interaktiven Anreicherung stellen Webcomics z.B. die starren Prinzipien der Panelaufteilung in Frage. Da im Unterschied zu westlichen Comics die japanischen Mangas offenere Panelstrukturen aufweisen, besteht zwischen interaktiven Comics und Mangas eine bestimmte Nähe. Auch in dieser Hinsicht können bisher feststehende Definitionen des Comics auf neue Weise problematisiert werden. In der Einführung zu ihrem Buch Webcomics vertreten Steven Withrow und John Barber die Ansicht, dass Comics in ihrer Webpräsenz immer auch die klassischen grafischen Grundsätze der Printcomics tradieren würden und fassen zusammen: »Our theory of webcomics is that there exists a continuum of artistic, communicative, and/or narrative works that are bonded (though by no means bounded) by the following two properties: 1. Delivery and presentation through a digital medium or a network of digital electronic media 2. Incorporation of the graphic design principles of spatial and/ or sequential juxtaposition, word-picture interdependence, and/or closure.« (Withrow/ Barber 2005: 10)

Dieser Versuch einer Genredefinition reduziert die Phänomenologie der Comics im Netz auf den traditionalistischen Ansatz und kann folglich keine Theorie des Webcomics als eigenständige Kunstform entwickeln. In seinem Essay Defining Comics? entwickelt Aaron Meskin eine differenziertere Sichtweise und untersucht den Hyperlink als strukturelles und ästhetisches Gestaltungsmittel von Comics im Internet. Er kommt zum Schluss, dass die interaktiven Erzählformen der Webcomics den definitorischen Rahmen von Comics künftig sprengen werden:

D IE M EDIENÄSTHETIK DER W EBCOMICS »Since it is not at all obvious that all comics must be essentially ordered, the sequence condition is questionable. Various imagined cases and the example of some webcomics suggest that the sequence condition might be jettisoned. Finally, we may raise a question about the juxtaposition condition. Must comics be spatially juxtaposed? What about comics with hyperlinked frames? McCloud explicitly wants to exclude these from the category of comics, but this move seems to be largely driven by his prior commitment to the spatial juxtaposition condition.« (Meskin 2007: 375)

Hier anknüpfend kann die Frage gestellt werden, ob und inwiefern die interaktiven Prozeduren zur Herausbildung einer ästhetischen Neuordnung des Genres führen. Mittlerweile manifestieren sich erste Versuche, die Webcomics in eine Richtung weiterzuentwickeln, die man im Sinne der informatischen Hypertextforschung als Spatial Hypertext bezeichnen könnte. Dabei handelt es sich um eine digitale Visualisierungstechnologie, die es ermöglicht, nach festgelegten Kriterien die fundamentalen Zeichenregister der digitalen Comicerzählung auf unterschiedlichste Art und Weise anzuordnen und eigenständig miteinander zu verknüpfen. Bevor auf diese Fragestellung näher eingegangen wird, soll zunächst die technologische Infrastruktur beschrieben werden, welche die Grundvoraussetzung für den Prozess der Herstellung und der Nutzung von Comics im Internet bildet. Das Internet ermöglicht auf der technischen Grundlage gesteigerter Rechnerkapazitäten und proprietär integrierter Entwicklungsumgebungen wie dem Softwareprogramm Flash (Adobe Flash, ehemals Macromedia Flash) die Erstellung von multimedialen Comics. Die resultierenden Dateien liegen im SWF-Format (Shockwave Flash) vor, einem auf Vektorgrafiken basierenden Grafik- und Animationsformat. Um die Videos oder Sounddateien der Comics über das Internet zu streamen, wird bei Flash-Anwendungen RTMP (Real Time Messaging Protocol) benutzt. Neu sind nicht nur Flash-Animationen und Interaktivität, neu ist in diesem Zusammenhang auch, dass die technologischen Interaktionsmöglichkeiten eine neuartige Schnittstelle von Multimedia-Applikationen und Geschichtenerzählen eröffnet. Diese interaktive Komponente macht Leser_innen zu Erzähler_innen und überlagert Produktion und Rezeption. Damit urgieren multimedial ausgerichtete Comics den Unterschied zwischen den klassischen Erzählformen der auktorialen und experimentellen Comics, die dem Publikum z.B. die Wahlmöglichkeit über den Fort- und Ausgang einer Geschichte überlassen. Multimediale Comics bestehen aber nicht nur aus einer Summation von Bild, Ton und Text, sondern implementieren explizit Prozeduren der Non-Linearität, die aus den technologischen Interaktionsmöglichkeiten resultieren. Zum Abrufen der Geschichten braucht das Webpublikum, im Gegensatz zum Comic als Druckmedium, technische Geräte. Deswegen zählen Webcomics zu den Tertiärmedien, da bei der Produktion und Rezeption ein Einsatz von tech-

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nischen Geräten erfolgen muss. Von diesem technischen Setup ausgehend hybridisieren Webcomics bestimmte Grenzen und Aspekte der Rezeptionsästhetik. Die interaktive Einflussnahme und Auswahl ermöglicht dem Webpublikum eine vielschichtige Rezeption. So kann man computer- und netzbasierte Comics sowohl als statuarisches Medium als auch als transitorisches Medium konsumieren. Denn streckenweise ist die Nutzung der Webcomics zeitlich begrenzt, da Dauer und Geschwindigkeit des Lesevorgangs teilweise vom Medium vorgegeben werden. Erzählungen, die das prozedurale Moment rechnergestützter Benutzeroberflächen verwenden, nennt die Medientheoretikerin Janet Murray »Interactive Fiction«. Sie lassen bei User_innen den Eindruck der Navigation durch einen Datenraum entstehen und bieten ihnen einen Spannungsbogen zwischen Erzählung und Handlungsfreiheit. Die interaktive Navigation durch den digitalen Storyspace erfolgt vermittels standardisierter Tastatureingaben oder Mausklicks. Die Möglichkeit des Navigierens lässt diese Räume wirklicher erscheinen als in jeder anderen medialen Form, weil das Navigieren im Raum der Erzählung Wirklichkeit verleiht. Navigation durch grafische oder textuelle Räume wird somit in der digitalen Comicerzählung ein sinn- und bedeutungstragendes Element. Das Navigieren durch den erzählerischen Raum des Webcomics erhöht die Fähigkeiten (agency), den Verlauf der Handlung zu beeinflussen. Agency wird durch Prozeduralität und Partizipation ermöglicht und bezeichnet im Allgemeinen den Grad der Möglichkeit, die Erzählhandlung selbständig zu gestalten. Ein Comic als Druckmedium hat praktisch keine Agency, da die Leser_innen kaum oder gar nicht in die Anordnung oder Abfolge der Panels intervenieren können. Durch die »Interactive Fiction« der digitalen Comicformate wird es hingegen möglich, die einzelnen Erzählsituationen und den Plot mit Agency aufzuladen. Der interaktive Comic NAWLZ wurde vom australischen Künstler Stu Campbell konzipiert (Campbell 2008ff.) und kann als ein Musterbeispiel für das interaktive Erzählen im Hyperlinksystem gesehen werden. Um die Geschichte des Protagonisten Harley Chambers, der in einer futuristischen Stadt namens Nawlz lebt, lesen zu können, müssen die User_innen sich Panel für Panel vorarbeiten, indem sie einen Hyperlink am Ende jeder Sprechblase anklicken. Dieser an der grafischen Benutzeroberfläche angesiedelte Interaktivismus legt es nahe, das vorherrschende Referenzmedium von multimedialen Comics im Bereich der Computerspiele zu suchen (vgl. Darley 2000). Im Web 2.0 boomen heute sogenannte Spritecomics, die aus Hintergründen von Computerspielen hergestellt sind. Die den Spritecomics zu Grunde liegenden Grafiken werden Screenshots entnommen, die im laufenden Computerspiel angefertigt werden. Diese Screenshots bilden in der Folge den Hintergrund von Comicer-

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Abbildung 20/21: Stu Campbell, NAWLZ (www.nawlz.com)

zählungen, werden zu neuen Szenerien arrangiert und mit Sprechblasen und Animationen verknüpft (vgl. Books LLC 2010a, 2010b). Die populären Adventure Games haben die Entwicklung von MultimediaAnwendung entscheidend forciert und können als eine Frühform des Digital Storytelling gesehen werden (Woletz 2007: 159-169). Frühe Text-Adventures (Adventure, 1972, von William Crowther und Don Woods) und Grafik-Adventures (Mystery House, 1980, von Ken und Roberta Williams) stellen einen Prototyp der Multimedia-Applikationen dar und haben die Interaktionsmöglichkeiten auf den Heimcomputern stil- und genreprägend vorweggenommen. In Anlehnung an das Adventure-Genre haben die Rezipient_innen von interaktiven Graphic

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Novels unterschiedliche Rätselaufgaben zu lösen, Gegenstände oder Hinweise aufzufinden, mit anderen Figuren Kontakt aufzunehmen und damit die im Vordergrund stehende Handlung zu entwickeln. Diese Form der interaktiven Beteiligung charakterisiert multimediale Comics, bei denen wie im Adventure Game nicht das Spielen, sondern die zu erzählende Geschichte im Vordergrund steht. Damit einhergehend ändert sich die Rollenverteilung von Autor_innen und Rezipient_innen, da die Intention in den Bereich der Interaktionsmöglichkeiten (Wiederholung, Kombinatorik etc.) überführt wird. Allerdings stellt der Grad an Interaktivität alleine noch keinen Qualitätsfaktor dar. Daher muss die Balance zwischen einer zu großen Freiheit durch nonlineare Strukturen und einer zu starren Struktur bei der Entscheidung über die Anzahl der variierenden Elemente gefunden werden. Durch die Interaktivität entstehen aber auch neue Möglichkeiten für Autor_innen, die Neugier der Rezipient_innen zu animieren. Im interaktiven Modus können User_innen bei der Lektüre von Webcomics auf die Egoperspektive (subjektive Kamera) zurückgreifen und durch die Erzählwelten navigieren. In diesem Zusammenhang wird nicht Vergangenes erzählt, sondern eine Geschichte in der Gegenwart erlebt. Damit scheinen Erzähltes und Erzählakt zusammenzufallen: Das Geschehen entwickelt sich mimetischdramatisch und suspendiert damit intermediäre Erzählinstanzen. Mit der Aufwertung der personalen Erzählweise wird die Comicfigur zur Persona, das heißt zu einer Rollenmaske, die sich die Leser_innen selbst auferlegen. Mit der Aufwertung der Egoperspektive hybridisiert sich das Webcomic mit den Genres Adventuregame und Rollenspiel und die Leser_innen erleben den Comic eher auf der Grundlage von showing als von telling: Sie erleben die Erzählhandlung in der Rolle der handelnden Figuren und teilen damit den limitierten Blickwinkel des Avatars, was bedeutet, dass damit auch ihr Wissensstand dementsprechend eingeschränkt ist. Die visuelle Repräsentation des Interface-Designs steuert den Fokus der Rezeption, sie strukturiert das Wissen über die fiktionale Welt und generiert ein komplexes Zeichensystem der Deutung von möglichen Ereignissen und Figuren. Der unterschiedlich medienspezifische Einsatz von erzählerischer Perspektivierung ist also entscheidend für die ästhetische Wirkung der Comics im Netz. Das Wahrnehmungsbild der Webcomics ist das Produkt technologisch aufbereiteter Rechenoperationen, die eng mit den auf dem Screen eingeblendeten Informationen und Leseanweisungen verknüpft sind, die wiederum Medienkompetenz einfordern und mehr oder weniger korrekt interpretiert werden müssen. So liegt den oft ikonisch dargestellten Gegenständen ein symbolischer Bedienungswert zugrunde, dessen konventionelle Bedeutung erst im Verlauf des Spielens erschlossen werden muss. Zur Entschlüsselung dieser Zeichensysteme sind neben der bloßen Lektüre auch multimediale Rezeptionsfähigkeiten zur narrativen Perspektivierung und Auflösung der fiktionalen Welt der Webcomics vonnöten. Im virtuellen Raum des Webcomics müssen die oft ikonisch

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dargestellten Gegenstände der erzählerischen Welt erst als bindend in Bezug auf die Ordnung des erzählerischen Raumes erkannt und dementsprechend einbezogen werden (z.B. vermittels der optionalen Steuerung der unterschiedlichen Mauszeiger). Diese interaktive Ausstattung von Panels mit Rätselaufgaben erweitert die Erzählmechanik um narrative Wahlmöglichkeiten und soll an einem konkreten Beispiel veranschaulicht werden. Eine der ersten Serien, die das von Bruno Felix und Femke Wolting gegründete Internetportal SubmarineChannel präsentierte, war das interaktive Abbildung 22: Bruno Felix/Femke Wolting, The Killer (www.submarinechannel.com/content/killer)

Onlinecomic The Killer. Die im Jahr 2001 animierte Version basierte auf der französischen Graphic Novel Le Tueur von Luc Jacomon und Matz und wurde im 14-Tage-Turnus forterzählt und ähnlich der Printvorlage episodenweise fortgesetzt. The Killer ist ein Medienhybrid aus digitalisierten Zeichnungen und filmischen Elementen, die oft innerhalb eines Panels eine Koexistenz führen. So ist es etwa den Betrachter_innen möglich, das Einzelbild mit Hilfe der Zoomtechnologie zu verkleinern oder zu vergrößern, um auf diese Weise spezielle Bereiche und Punkte zu untersuchen, die für den Fortgang der Geschichte von Interesse sein können. Interaktivität ist hier und in den meisten Webcomics auf die Bedienaktion von Zeigen-und-Klicken (Point-and-Click) beschränkt, bei der die User_innen ihren Mauszeiger zu einem bestimmten Punkt auf der grafischen Bedienoberfläche (die zugleich die Zeichnung darstellt) bewegen (Zeigen) und dann durch das Drücken einer Taste die in der Skriptsequenz programmierte Aktion auslösen (Klicken). In diesem Zusammenhang firmiert die erzählerische Entwicklung (z.B. Innensicht der Charaktere qua erlebte Rede/ innerer Monolog) als kombinatorisches Resultat von visuell/ästhetisch vermittelten Erzählsituationen, die ein Feld der Multiperspektivität eröffnen können. Neben dem interaktiven Modus des Point-and-Click gehört die Verwendung von Videosequenzen zum Standardrepertoire rechnergestützter Comics. Mit

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sogenannten Cutscenes kann eine Rahmengeschichte, eine Figurenrede erzählt oder eine zusätzliche Kontextualisierung durch eine auktoriale Erzählsituation etabliert werden. Cutscenes sind Zwischensequenzen, die ursprünglich in Computerspielen verwendet wurden und nun in den interaktiven Comics dazu dienen, ohne Beteiligung der Leser_innen zusätzliche Erzählhandlungen zu vermitteln. Cutscenes können in der Regel durch den Mauszeiger aktiviert werden und setzen dabei gängige Kameratechniken wie etwa Kameraschwenks, Kamerafahrten und Zooms ein, um die immersive Wahrnehmung des Comics zu steigern. In diesem Zusammenhang findet ein turn taking, das ist ein Wechsel der sprechenden Figurenrede, höchst selten statt. In der Regel stärken Cutscenes mit Figurenrede die Innenperspektive des innerdiegetischen Erzählaktes. Sie dienen der Verlebendigung dramatischer Monologe und stärken die Ich-Erzählsituation der Rede. Die Cutscenes werden mit Hilfe standardisierter Tastatureingaben oder Mausklicks aktiviert und verlangen in der Regel kein Feedback für ihre Fortsetzung. In diesem Sinne übernimmt die interaktive Aktivierung eine ideologische Funktion, da sie die Personalisierung der Erzählsituation stärkt und damit auch die Komplizenschaft der User_innen zu gewinnen trachtet. In diesem Sinne tragen Cutscenes in Webcomics deutliche Anzeichen erzählerischer Vermittlung und Rezeptionslenkung. Sie sind daher als traditionell zu bezeichnen, da sie sich bereits bestehender Erzählweisen bedienen, um die Kohärenz der Erzählung zu gewährleisten. Cutscenes etablieren also in der Regel eine Erzählsituation im Präteritum, sie generieren eine Erzählrede, die der aktuellen Erzählsituation zeitlich voraus liegt, und die von dem innerdiegetischen Erzählakt zeitlich geschieden werden kann. Aus dieser vermittelten Animation ergibt sich ein medienspezifisches Vergnügen an der Lektüre des Webcomics, das eine neue Wahrnehmungsqualität erreichen kann. Digitale Comicerzählungen zeichnen sich generell durch einen hohen Grad an multimedialer Präsentationstechnik aus, wie sie bereits von Computerspielen bekannt sind. Sie ermöglichen im Unterschied zur Printversion einen hohen Grad an Wahrnehmungsimmersion. In diesem Zusammenhang bezeichnet Immersion den Grad, in dem eine Erzählung, ein Objekt, die Konzentration und Aufmerksamkeit der Benutzerin und des Benutzers erfordert und ergreift. Die Multimedialität der digitalen Graphic Novels umfasst alle Zeichenregister und erstreckt sich auch auf die Tonebene. Mit Hilfe der Soundengine und zur Verfügung stehenden Soundfiles kann der Text im digitalen Comic zusätzlich dramaturgisch in Szene gesetzt werden, indem dieser etwa laut vorgetragen wird. Die verbalsprachliche Intonation wird damit aus der diegetischen, erzählenden Situation auf der Ebene des Bildes in ein szenisches Off verlagert. Damit kann etwa ein erzählendes Ich das innerdiegetische Geschehen zusätzlich kommentieren. Dadurch entsteht aber eine gleichzeitige Doppelung von

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Protagonist_innen in ein erzählendes (Off-Screen) und in ein erlebendes Ich (On-Screen). Die Soundengine ermöglicht also eine zusätzliche Erzählstrategie, die für die Innenperspektivierung der Figur und damit zusammenhängend zur Steigerung der Wahrnehmungsimmersion eingesetzt werden kann. Die mit dem Ton eröffnete Voice-Over-Zeichenebene ermöglicht die Etablierung von anonymen auktorialen Erzähler_innen im visuellen Off-Bereich. Die filmischen Techniken der Animation und der Vertonung haben schließlich dazu geführt, dass Webcomics charakteristische Elemente der Comicsprache übertreiben (z.B. die plakative Verwendung von Sprechblasen), um noch als Comic wahrgenommen zu werden. Das unverwechselbare Kennzeichen der multimedialen Comics ist ihr Bekenntnis zur Vermischung von unterschiedlichen Genres, Stilen und Formaten. In diesem Sinne können sie auch als Hypermedien verstanden werden, da ihnen die Verknüpfung und Überlagerung von traditionellen Kunstformen und digitalen Medien zugrunde liegt.

K OLL ABOR ATIVE W EBCOMICS Die Medien der elektronischen Kommunikationsnetze der Comicproduktion bieten neue Gelegenheitsstrukturen für kollaborative Projekte in räumlich entgrenzten Netzwerken. In diesem Zusammenhang sind neue Möglichkeiten computervermittelter Partizipation und kollektiver Interaktion entstanden, die auf die Präsentationstechniken und Erzählformen von Comicproduktionen starken Einfluss ausüben. Das Internet hat sich innerhalb weniger Jahre zum zentralen Konvergenzraum der Comicproduktion entwickelt. In offenen und kollaborativen Produktionsprozessen erzeugen Online-Communities gemeinsam und unentgeltlich Comicprojekte in diskursiven Aushandlungsprozessen. Damit kann ein weiteres Merkmal, über das die digitalen Umgebungen der Webcomics verfügen, kenntlich gemacht werden: die Transformation. Diese bezeichnet die permanente Weiterentwicklung des Comics auf allen Ebenen der Produktions-, Darstellungs- und Rezeptionsästhetik – von der erzählerischen Rahmenstruktur bis zur Reorganisation der Arbeitsprozesse. So ermöglicht beispielsweise das Online-Comicprojekt Comicsconvergence (Sticka/Wooley 2006ff.) eine Vielzahl von kollaborativen Interaktionen mit anderen User_innen, die sich während der gemeinsamen Arbeit an einem Comicprojekt wechselseitig vernetzen und mit ihren Umgestaltungen dazu beitragen, dass sich einzelne Panels oder Sequenzen auf ungeplante Art und Weise weiterentwickeln und mit oft divergierenden Erzählperspektiven und -versionen vernetzt werden können. Die kontinuierliche Transformation der Ästhetik und Narrativität von kollaborativen Online-Comicprojekten verweist auf eine Rezeptionskultur, die dem klassischen Autor_innenmodell ablehnend gegenübersteht und stattdessen versucht, kollektive Praktiken zu fördern. Die Bedingung der permanenten

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Variabilität eröffnet den User_innen die Möglichkeit, den Verlauf der Erzählung endlos umzuschreiben. Die aggregatähnlich organisierten Erzählräume der digitalen Graphic Novels verleihen dieser kollaborativen Haltung einen angemessenen Ausdruck. Damit verändern sich nicht nur die Rezeptionskontexte, sondern auch die Handlungsrollen im Produktionsprozess. An die Stelle der klar und eindeutig definierten Aufgabenbereiche und Kompetenzen treten neue Aushandlungsprozesse und die klassischen arbeitsteiligen Ordnungen der Comicproduktion lösen sich auf. So geht etwa das Comiczine Reihenhaus weit über die übliche Zusammenarbeit in der Comicproduktion hinaus. Es gibt keine Arbeitsspezialisierung im klassischen Sinne: »Bei unseren Comics haben alle getextet, Figuren erfunden, skizziert und ins Reine gezeichnet. Mithilfe der schreibgestützten Erzählwerkstatt entwickeln wir Handlungsstränge und Figuren. Erst nach einem intensiven gemeinsamen Prozess entsteht das fertige Comic-Heft.« (Schmidt/Backes/Möhring 2006ff.) In Hamlet on the Holodeck, ihrem Buch über die Narrativität in elektronischen Medien, führt die US-amerikanische Medientheoretikerin Janet Murray den Begriff der »procedural authorship« ein, um den Aspekt veränderter Handelsrollen in Bezug auf interaktive Medien herauszustellen: »Procedural authorship means writing the rules by which the text appears as well as writing the texts themselves. It means writing the rules for the interactor’s involvement, that is, the conditions under which things will happen in response to the participant’s actions. […] The procedural author creates not just a set of scenes but a world of narrative possibilities.« (Murray 2000: 152)

In diesem Zusammenhang begreift sie die interaktive Einflussnahme als choreografisches Rezeptionsmodell: »In electronic narrative the procedural author is like a choreographer who supplies the rhythms, the context, and the set of steps that will be performed. The interactor, whether as navigator, protagonist, explorer, or builder, makes use of this repertoire of possible steps and rhythms to improvise a particular dance among the many, many possible dances the author has enabled.« (Murray 2000: 152)

Partizipatorische Comics verlangen von ihren prozeduralen Autor_innen eine grundsätzliche Bereitschaft zur Verhandlung, die alle Bereiche des Storytellings umfassen kann. Sie leisten damit eine doppelte Rahmung des Geschichtenerzählens. Erstens formulieren sie vermittels ihrer Interaktionen neue Konventionen des Erzählens, indem sie ihre Erfahrungen, Kommentare und Bewertungen in die digitale Umgebung der Webcomics einfließen lassen (vermittels Ranking-, Voting- und Response-Tools). Damit wird eine editoriale Rahmung bevorzugter Figurenkonstellationen und Erzählformen hergestellt. Zweitens

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etablieren sie eine stochastische Komponente, indem sie Möglichkeiten für programmierte Zufallsprozesse oder aber für Eingriffe durch User_innen schaffen. Vor dem Hintergrund dieser hyperfiktionalen Struktur erschließen sich User_ innen ihren eigenen Lektüreweg und haben dabei – wie im Computerspiel – immer wieder abduktive Entscheidungen zu treffen. Die Aufwertung der aktiven Rolle der Leser_innen bei der Lektüre eines Textes zählt heute zum fixen Forderungskatalog der Rezeptionsästhetik. Die Anerkennung der interaktiven Einflussnahme darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Freiheit der multimedialen Rezeption durch die technischen Möglichkeiten des Computers beschränkt bleibt. Im Webcomic sind die Regeln, nach denen der Leseprozess abzulaufen hat, Bestandteil von Skriptsequenzen, die im Rahmen der interaktiven Beteiligung nicht modifiziert werden können. Insofern beschränkt sich die vielbeschworene Freiheit der Interaktivität mehr oder weniger auf den Beteiligungsmodus des Point-and-Click und reduziert damit die kognitive Aktivität im Rezeptionsprozess auf wenige Bedienbefehle. Die überwiegende Mehrzahl der traditionellen Webcomic-Hyperfictions zeigt, dass die User_innen den Linkstrukturen, die vorgegeben sind, ausgeliefert bleiben. Murray fordert daher zu Recht »a distinction between playing a creative role within an authored environment and having authorship of the environment itself« (Murray 2000: 157). Genau an diesem Punkt setzen die medienreflexiven Comics an, die sich nicht mit der bloßen Steigerung von Interaktivität und Partizipation zufrieden geben, wenn nicht auch die Rolle des Mediums und die medialen Bedingungen reflektiert werden, welche die Inhalte und ihre symbolischen Repräsentationen, die Kommunikationskultur und unsere Medienerfahrungen prägen.

M EDIENREFLE XIVE W EBCOMICS Webcomics werden oft mit der Immaterialisierung und der Virtualität der Neuen Medien in Verbindung gebracht. Dabei wird jedoch meist eine andere Seite vergessen. Denn das Immaterielle und Virtuelle beruht auf einer spezifischen Struktur von materiellen Bedingungen, die aber meist ausgeblendet bleiben. Wenn Webcomics über die Gegebenheiten ihrer eigenen Medialisierung reflektieren, dann ist ihr unhintergehbarer Ausgangspunkt die Frage nach dem Stellenwert von technischen Medien. Eine ihrer zentralen Anliegen fokussiert daher den Prozess hinter den grafischen Benutzeroberflächen, den sie sichtbar und zugänglich machen wollen, um zu verdeutlichen, dass ein Computer weniger ein Bild-, sondern vielmehr ein Schriftmedium ist, das seine multimedialen Oberflächen mit Programmiercodes und -texten generiert. Ihre Frage nach der Materialität von Bildsystemen lenkt die Aufmerksamkeit also auf die Träger, Orte und Kontexte der Bedeutungsgenese von Bildsystemen.

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Mit der Frage nach den Materialitäten soll ihres Erachtens die Aufmerksamkeit für die Tatsache geschärft werden, dass die von den Webcomics genutzten Kommunikationssysteme wie Sprache, Schrift, Bild, Ton, Film, Video oder Computernetze eines spezifisch materiellen Trägers bedürfen sowie eines spezifischen Ortes und einer spezifischen Zeitstruktur. Da der Computer nicht nur ein Speicher-, sondern auch als Rechenmedium wirksam ist, ist er selbst als erzählerisches Medium wirksam, indem er spezifische Regeln, Strukturen und Möglichkeiten der teilnehmenden Interaktion und der sinnstiftenden Interpretation vorgibt. Dies tut er in seiner Funktion als Hardware. In diesem Sinne tritt der Computer als prozedurales Medium in Erscheinung, das Eingaben unterschiedlich berechnet und auf diese Weise unterschiedliche Aktionen generiert. Christiane Heibach problematisiert in ihrer Studie zur elektronischen Literatur im Internet den künftigen Reflexionsbedarf digitaler Medienkultur: »Die Visualisierung der Strukturen (die Vollversion von Storyspace bietet diese Möglichkeit in Form einer ›Landkarte‹ an) ist ein wesentliches Element zum Verständnis von Hypertexten, wird aber von den Autoren oft nicht bewusst eingesetzt. Die vielgelobte ›Interaktivität‹ des Lesers bei der Rezeption elektronischer Literatur wird schnell auf die rein zufallsgesteuerte Klicktätigkeit mit der Maus reduziert. Der Leser ist doppelt ausgeliefert: den Vorgaben des Autors sowie den unterschwellig ablaufenden elektronischen Prozessen. Denn die elektronische Leseumgebung – die graphische Benutzeroberfläche mit den Funktionsicons – führt schon zu einem gewissen Entfremdungseffekt vom Text, der durch die Auslösung der textperformierenden Abläufe noch verstärkt wird, meist aber von der Erscheinungsform der Texte nicht reflektiert, geschweige denn ästhetisch produktiv gemacht wird.« (Heibach 2003: 220)

Vor diesem Hintergrund postuliert Anja Rau eine stärkere Einbeziehung der grafischen und symbolischen Softwaretools in die ästhetische Gestaltung der Netzliteratur (Rau 1999: 119). Medienreflexive Comics greifen diese Meta-Diskurse zu elektronischen Texten auf und erinnern uns daran, dass digitale Comicerzählungen immer auch Prozesse von Datenverarbeitung sind. Mit ihren Projekten versuchen sie, jene User_innen, die in den für sie undurchschaubaren Simulationen mittels Maus, Cursor und grafischer Oberfläche dumm gehalten werden, zu emanzipieren. Auf welche Weise geschieht dies nun? Das im Jahr 2001 an der Bauhaus-Universität Weimar entwickelte Comicprojekt The Church of Cointel (Niepold/Wastlhuber 2001ff.) versucht, die üblicherweise verborgenen Strukturen der Softwarearchitektur für die User_innen sichtbar und benutzbar zu machen. Die User_innen sehen die gesamte narrative Struktur und Organisation des Comics und können an einem beliebigen Punkt einsteigen und einen Strip in jede mögliche Richtung weiterentwickeln:

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Abbildung 23: Hannes Niepold/Hans Wastlhuber, The Church of Cointel (www.cointel.de)

»So entstehen immer wieder neue Comic-Zweige. Allerdings muss man sich mit jedem neuen Bild erst einmal der Abstimmung der anderen Nutzer stellen. Die Interaktivität wird gepaart mit Basisdemokratie. Fällt die Abstimmung knapp aus, wird das Bild schlicht der Anfang eines neuen Comic-Astes. Es ist in erster Linie ein Assoziationsspiel und ein Test für neue Kooperationsformen. Daher kann jeder, der die offenen Enden der Geschichten besucht, über alternative Verläufe abstimmen. Die Möglichkeiten Cointels sind unendlich. Völlige Brüche in den Geschichten sind daher die Regel, Personen wechseln Aussehen und Charakter, tauschen mit anderen die Rollen und wecken so entweder die Lust, weiterzusurfen oder ganz im Gegenteil selbst einzugreifen.« (Heckmann 2001)

Die meisten multimedialen Webcomics beschränken die Beteiligung von User_ innen auf Point-and-Click-Aktivitäten. Die User_innen können ihren eigenen Lese- und Entscheidungsweg nicht antizipieren. Das Comicprojekt Cointel stülpt demgegenüber die im Softwareskript verborgenen Datenpräsentationen an die Oberfläche und macht diese Strukturen zum Spielmaterial ästhetischer Interventionen. Es verdeutlicht, dass Interaktivität kein neutraler Vollzug sein kann, sondern immer auf Herrschafts- und Machtverhältnisse verweist, auch wenn diese nicht sichtbar sind. Denn üblicherweise verläuft Interaktion zwischen zwei asymmetrischen Seiten. Auf der einen Seite steht ein Softwareprogramm, dessen Rechenschritte in einer geordneten und berechenbaren Weise durchgeführt werden. Eingaben können zwar diesen Prozess unterbrechen,

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aber die Entscheidung, ob eine Interaktion nach der Eingabe stattfindet, ist letztlich doch im Programm festgeschrieben. Folglich kann Interaktion weniger als ein verteilter Prozess verstanden werden, bei dem sich zwei Akteure miteinander verständigen, sondern als ein asymmetrisches Verhältnis, bei dem die Programmschrift Situationen determiniert, die den User_innen die Gelegenheit geben, zwischen vorab festgelegten Eingaben auszuwählen. Medienreflexive Webcomics wie das Projekt The Church of Cointel machen die Programmcodes also in zweierlei Weise sichtbar. Erstens, sie machen sie als pragmatisch-funktionales Werkzeug zur Bedienung der Comics verfügbar; und zweitens stellen sie Programmcodes als künstlerisches Gestaltungsmaterial zur Disposition. In ihren Projekten thematisieren die medienreflexiven Webcomics ihre eigenen medialen Bedingungen, integrieren diese in den eigenen ästhetischen Entstehungsprozess und beziehen sich dabei auf die kulturelle und soziale Bedeutung von Software.

A USBLICK Das Medium Computer eröffnet der Kunstform Comic neue Möglichkeiten zum Erzählen von Geschichten. Die hier unternommene Sondierung der Webcomics kommt zum Schluss, dass sich der überwiegende Anteil der im Internet publizierten Comics in einem ausgeprägten Naheverhältnis zur Buchkultur verortet. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass die Softwarearchitektur, die für die Logik, Struktur und Ästhetik der multimedialen Graphic Novels verantwortlich ist, bisher kaum Reflexionsgegenstand der Comicerzählung geworden ist, obwohl die technische Struktur hinter den Bedienoberflächen die narrative Entwicklung weitgehend normiert. In diesem Sinne bleibt die Prozeduralität der Hard- und Softwareprozesse unterschwellig und wird nicht für die Performanz der Webcomics genutzt. Dennoch konnte sich das Genre der Webcomics in den letzten Jahren ausdifferenzieren und hat eine Vielzahl von Hybridisierungsprozessen mit digitalen Medientechnologien und dem ästhetischen Repertoire des digitalen Storytellings in Gang gesetzt. Vor diesem Hintergrund konnte die konstitutive Rolle der digitalen Medien bei der Herstellung von intermedialer Narrativität und kollaborativer Bedeutungsproduktion thematisierbar werden. Mittlerweile sind interaktive, kollaborative und medienreflexive Webcomics Teil von Kanonisierungsprozessen, die ihnen zugestehen, dass sie sich im digitalen Raum vernetzter Medien um neue poetologische Erfahrungen bemühen, die möglicherweise dazu Anlass geben werden, die Theorie des Comics anders zu denken.

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A NMERKUNGEN 1 | Das Hypermedium Internet subsumiert alle bisherigen Kommunikationsmedien und -wege unter ein- und derselben Medienoberfläche in multimedialen Darstellungsformen. Dabei vernetzt es Hypertexte, die sich aus schriftlichen, auditiven, visuell-dynamischen, fotografischen und grafischen Dokumenten zusammensetzen und auf technischen Plattformen bearbeitet werden können. 2 | Verbindungen sind das Hauptmerkmal von Hypertextualität und vergleichbar mit räumlicher Kontiguität in anderen Medien. Hypertextuelle Instruktionen verweisen auf andere Texte oder Knoten, die in kausaler oder temporaler Weise miteinander verknüpft sind. Hypertexte beziehen sich auf Modelle nicht-sequentieller, nicht-linearer Organisationen von Wissen und der Erarbeitung von Information. Die Realisierung des Hypertext-Konzeptes wurde erst mit der Entstehung einer grafischen Benutzeroberfläche (englisch: Graphical User Interface) möglich, die mit Hilfe der Tastatur und der Computer-Maus aktiviert werden kann. 3 | Unabhängig von der medialen Realisierung bezeichnet der Begriff ›Multimedia‹ das verteilte Vorkommen mehrerer medialer Repräsentationen, wobei meistens als Kriterium angegeben wird, dass zumindest ein zeitbasiertes Medium dabei sein muss.

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Weird Signs1 Ole Frahm

»Der Gedanke selber wird, gleich den Objekten der Komik und des Grauens, massakriert und zerstückelt.« (Adorno/Horkheimer 1988: 146)

Comic-Wissenschaft existiert nicht. Obwohl Comics als Teil der Kultur des 20. Jahrhunderts zunehmend akzeptiert sind, wird ihnen keineswegs ein gleichberechtigter Platz neben Literatur, bildender Kunst oder sogar Film eingeräumt. Gelegentlich scheint es, als stehe die Beschäftigung mit Comics unter einem besonderen Rechtfertigungszwang. Als müsse immer wieder die Seriosität des komischen Themas begründet werden. Es mag gute Gründe geben, als ComicForscher_in die Notwendigkeit zu verspüren, seinen Gegenstand zu verteidigen. Es sei nur an all die Formulierungen erinnert, mit denen Comics im Laufe ihrer kurzen Geschichte alles Mögliche von der Förderung des Analphabetismus bis zur Verrohung der Jugend vorgeworfen wurde (vgl. Hein 1991: 64-110). Doch warum lassen sich selbst so renommierte Forscher_innen wie Thierry Groensteen auf die argumentative Struktur ein, dass es den Comics an etwas mangele (vgl. Groensteen 2000: 29-41; Groensteen 2006)? Sind sie vielleicht selbst dieser Ansicht und versuchen, das Manko mit dem Hinweis auf Reichtum, Vielfalt und Komplexität der Form auszubügeln? Scott McClouds breit rezipiertes Buch Understanding Comics. The Invisible Art steht beispielhaft für diese Haltung (vgl. McCloud 1994). Das ästhetische Modell, das er entwirft, ist angewiesen auf eine Reihe fragwürdiger Annahmen. So stellt der Zeichner Überlegungen dazu an, wie die Panels der Comics funktionieren und schreibt: »Comics panels fracture both time and space, offering a jagged staccato rhythm of unconnected moments. But closure allows us to connect these moments and mentally construct a continuous, unified reality« (ebd.: 67). McCloud stellt hier die Begriffe »Fragment« und »Einheit«, »Comic« und »Wirklichkeit« gegenüber. Die Comics sind fragmentiert und heterogen, aber »closure« als Fähigkeit des menschlichen Geistes gleicht diesen Mangel aus. Dieses ungebrochen metaphysische Verständnis davon, wie Comics gelesen

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O LE F RAHM

Abbildung 24: »Closure« bei McCloud (McCloud 1994: 67)

werden, scheint mir problematisch. Neben erkenntnistheoretischen Gründen, für die an dieser Stelle kein Platz ist, sind dies vor allem ästhetische: Dieses Buch ist dem Nachweis gewidmet, dass es bei der Lektüre von Comics gerade nicht darum gehen muss, eine Einheit herzustellen, sondern vielmehr darum ihre heterogenen Zeichen, Schrift und Bild, in ihrer Besonderheit, in ihrer Materialität zu genießen, die sich zu keiner abschließenden Einheit zusammenschließen lässt. Es ist kein Zufall, dass McCloud seine Behauptung mit einer Reihe von Panels ohne Text illustriert und damit das Verhältnis von Schrift und Bild im Comic unterschlägt. Denn sobald er dies berücksichtigen würde, müsste er anerkennen, dass diese Einheit zumindest im Zeicheninventar etwas brüchiger ist, als ihm lieb sein kann. Gerade die Metaphysik, auf die sich McCloud so ungebrochen bezieht und die so viele Studien über Comics genauso ungebrochen weiterschreiben, wird in den Comics durch die Konstellation ihrer heterogenen Zeichen parodiert. Comics sind Parodien auf unsere gängige Vorstellung vom Verhältnis zwischen Zeichen und ihrer Referenz.

PARODIEN UND C OMICS Es gibt eine erstaunliche Übereinstimmung zwischen Büchern, die versuchen, eine Theorie der Parodie zu entwickeln, und Büchern, die versuchen, Comics als Gegenstand der bürgerlichen Wissenschaft zu begründen. Beide teilen das Problem, ihren diffusen Gegenstand definieren zu müssen. Dabei geht es vor allem um die Abgrenzung zu anderen Genres und Kunstformen. Was für die Parodie Satire, Zitat, Burleske, Travestie und Pastiche sind, stellen für die Comics Bildergeschichte, Cartoon, Karikatur, Zeichentrickfilm und Illustration dar: Es sind ähnliche Phänomene, die sich aber durch irgendeine Tatsache von dem neu zu entdeckenden Gegenstand unterscheiden müssen. Bei diesen fein abgestimmten Begriffskatalogen geht es nicht zuletzt darum, sich von mög-

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lichst vielen Definitionen anderer Wissenschaftler_innen so abzugrenzen, dass das Originäre des eigenen Ansatzes unübersehbar hervortritt. Allen allgemeinen Definitionen dieser beiden Gegenstände eignet das Problem, zugleich über die Zeit hinweg und für alle Zeiten gelten zu wollen und doch als Definition selbst eine historische Signatur aufzuweisen und damit den allgemeinen Geltungsanspruch zu verlieren. Denn immer geht es in den Wissenschaften um einen aktuellen Eingriff. Alle Versuche, Comics als anthropologische Konstante seit den Höhlenmalereien zu beweisen, sind kein Ausdruck historischer Wahrheit, sondern des seit einigen Jahrzehnten zunehmenden Bedürfnisses, die Beschäftigung mit Comics über eine Faszination am trivialen Gegenstand hinaus zu rechtfertigen, weil die Forscher_innen glauben, Comics seien in der hiesigen, bürgerlich dominierten Kultur unterbewertet. Solche Wissenschaftler_innen verstehen ihre Arbeit deshalb nicht selten als Versuch, eine Neubewertung der Comics innerhalb der Künste des 20. Jahrhunderts zu initiieren.2 Das gleiche Problem stellte sich für die Theoretiker_innen der Parodie: Seit Scaliger 1561 der Parodie die Worte »lächerlich« und »verhöhnen« beigeordnet hat, ist diese innerhalb der folgenden literaturtheoretischen Diskussionen – sehr verkürzt formuliert: während der gesamten Moderne – in ihrer Bedeutung abgewertet worden. Viele Theoretiker_innen verstanden ihre Arbeit als Versuch, die Parodie innerhalb der literarischen Genres im 20. Jahrhundert neu zu bewerten. Theoretiker_innen des Comics und der Parodie leiden unter dem Mangel an Anerkennung ihres komischen oder lächerlichen Gegenstands, dem es selbst augenscheinlich an Seriosität mangelt. Was machen die Wissenschaftler_innen mit diesem Leiden, nicht ernst genommen zu werden? Sie behaupten Ernsthaftigkeit! Ihre Ernsthaftigkeit, die Ernsthaftigkeit ihres Gegenstandes und die ihrer Wissenschaft. Sie stellen fest, dass Parodien nicht notwendig etwas lächerlich machen, sie betonen, dass Comics nicht notwendig komisch sein müssen. Sie zeigen etwa, dass Parodie nicht nur »Gegengesang« heißt, sondern auch »Beigesang« (Rose 1993: 49). Schon die altgriechische Wendung para odia, vermerkt etwa Linda Hutcheon, enthalte die Ambivalenz zwischen »gegen« (»counter or against«) und »neben« (»beside«) im Präfix para (Hutcheon 1986: 32). Comics müssen dagegen leider umbenannt werden, um sie ihres komischen Charakters zu entkleiden, und das wird prompt versucht: Da das Wort nicht ganz so alt ist, gibt es auch noch Chancen, Begriffe wie »grafische Literatur«, »sequential art« oder »graphic novel« durchzusetzen, um den seriösen Charakter der Comics nahezulegen (vgl. McCloud 1994: 7; Eisner 1990; Schüwer 2008). Sagen diese Ähnlichkeiten in den Problemen der Theoriebildung etwas über die Ähnlichkeit der Gegenstände aus? Wäre es zu weit hergeholt zu behaupten, Comics seien Parodien? Würde sich Gleiches nicht beispielsweise für das kaum weniger missachtete Genre der Fabel argumentieren lassen? Vielleicht. Aber es existieren tatsächlich weitergehende Ähnlichkeiten zwischen Parodien und

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Comics, die diese Nähe nicht zufällig erscheinen lassen. Vielleicht ist es auch erlaubt und ganz im Sinne der Parodie, dieses Nebeneinander zwischen Comics und Parodien zu behaupten, um zu erfahren, welche Aufschlüsse uns diese Behauptung über die Comics liefert. Wenn sich also Comics als Parodien lesen ließen, ist zuerst zu fragen: Parodien worauf? Schließlich bezieht sich eine Parodie immer auf eine Vorlage, ein Original. Worauf beziehen sich die Comics? Was parodieren sie? Worauf sind sie ein »Gegengesang«? Meine These ist, dass Comics die Vorstellung eines Originals und damit eines vorgängigen Außerhalb der Zeichen parodieren. Sie sind eine Parodie auf die Referenzialität der Zeichen. Sie parodieren die Vorstellung, dass Zeichen und Gegenstand etwas miteinander zu tun haben sollen. Und sie machen sich darüber lustig, dass gelegentlich eine Nähe zwischen Gegenstand und Zeichen behauptet wird, die dann Wahrheit heißt, in der aber all die Prozesse, die zu dieser Wahrheit führen, unsichtbar sind. Comics führen so medial für den Begriff des Originals das durch, was die Philosophin Judith Butler in ihrem Buch Das Unbehagen der Geschlechter über die Travestie als »gender parody« für die Geschlechtsidentität feststellt: »Vielmehr geht es gerade um die Parodie des Begriffs des Originals als solchen. […] [Die Parodie] offenbart […], daß die ursprüngliche Identität […] selbst nur eine Imitation ohne Original ist.« (Butler 1991: 203) So verstanden, ist die Parodie nicht inhaltlich begründet. Es handelt sich, wie Butler den Romanisten Fredric Jameson zitiert, vielmehr um »Parodie, die ihren Humor eingebüßt hat« (ebd.: 204; Jameson 1983: 114f.), was für Comics etwas komisch klingen mag. Aber neben dem Umstand, dass sie oft genug auch die Parodie als Genre bedienen und auf ihren Humor gar nicht verzichten müssen, stellen sie eben auch eine solche erkenntniskritische Parodie dar, die sich der Einfachheit halber strukturelle Parodie nennen ließe, die im Falle der Geschlechtsidentität »implizit die Imitationsstruktur der Geschlechtsidentität wie auch ihre Kontingenz offenbart« (Butler 1991: 202).3 Im Falle der Comics enthüllt die strukturelle Parodie die Kontingenz der Relation zwischen Zeichen und Wirklichkeit. Wodurch? Die Konstellation unterschiedlicher Zeichen im Comic zeigt nicht nur, dass sich Schriftzeichen und Bildzeichen aufeinander beziehen. In ihrer heterogenen Materialität sind die konstellierten Zeichen immer schon selbstreferenziell. Vielleicht ließe sich sagen, dass die Zeichen aufgrund ihrer Selbstreferenzialität einander im Anspruch imitieren, ein Außerhalb der Zeichen (»ein Original«) zu bezeichnen (vgl. Butler 1995: 54). Die strukturelle Parodie der Comics, die Schrift und Bild in ihrer materialen Unterschiedlichkeit neben- und miteinander konstelliert, parodiert eben diesen Anspruch auf eine Wahrheit außerhalb der Zeichen und lenkt den Blick auf die Konstellation der Zeichen selbst. Indem Comics ein eigenes Zeichensystem aufzubieten scheinen, das die Heterogenität von Schrift und Bild in ihren Panels mit den Sprechblasen und Klangworten integriert, bleibt

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diese Einheit von der strukturellen Parodie in Frage gestellt, wodurch Schrift und Bild als wechselseitige Wiederholungen ohne Original wirksam werden. »Parodie ist […] Wiederholung mit kritischer Distanz, die eher Differenz als Ähnlichkeit markiert.« (Hutcheon 1986: 6) Was die kanadische Literaturwissenschaftlerin Linda Hutcheon in ihrem Buch A Theory of Parody allgemein als moderne Parodie definiert, bezeichnet auch ein Strukturprinzip des modernen Mediums Comic. Denn diese Wiederholung mit einer entscheidenden Distanz beschreibt das Verhältnis von Bild und Schrift ganz ausgezeichnet. Es handelt sich um gegenseitige Wiederholungen ohne Original. Dies ist allerdings nicht die einzige Wiederholung im Comic: Die Figuren wiederholen sich von Panel zu Panel, die Struktur der Panels funktioniert als Wiederholung, und die verschiedenen seriellen Erscheinungsformen der Comics-Strips, sunday pages, comic books und Albenserien – sind vom Prinzip der Wiederholung mit einem entscheidenden Unterschied geprägt. Diese ausgesprochen unterschiedlichen Formen der Wiederholung sind notwendig parodistischer Natur, weil sie strukturell auf ihre Zitatförmigkeit hinweisen, die ihr sichtbarstes Zeichen in der Sprechblase gefunden hat. Die Zweistimmigkeit der parodistischen Wiederholung von Bild und Schrift, von Bild zu Bild, Folge zu Folge gilt für alle verschiedenen Erscheinungsformen der Comics. Sicherlich gibt es nicht die strukturelle Parodie, ebenso wenig wie das Original, den Comic oder die Identität. Aber ebenso gewiss gibt es auch keine Comics ohne strukturelle Parodie.4 Es wäre eine andere Aufgabe, eine Geschichte der Comics unter dem Aspekt der Parodie, des Verhältnisses der Zeichen zueinander zu erzählen. Es wäre eine Geschichte der Konstellationen, die sich gängigen Verallgemeinerungen verschließen würde. Stattdessen möchte ich drei Beispiele diskutieren, die weniger ihre mediale Form – Strip, Heft, Album – repräsentieren, als dass ihre Konstellationen für die hier verfolgte Fragestellung einen allegorischen Charakter haben.

D ER P REIS DES WEISSEN R AUMS Zweimal kommt »the tight fisted old land lord«, um dem säumigen Mieter Old Doc Yak mit Kündigung zu drohen (Sidney Smith zit.n. Blackbeard/Williams 1977: 72f.).5 Old Doc Yak von Sidney Smith war 1917 der einzige Tagesstrip mit einer Serienfigur in der Chicago Tribune (vgl. Harvey 1994: 64). Er erschien bis 1912 unter dem vielsagenden Namen Buck Nix im Chicago Examiner (vgl. Horn 1996: 228; Blackbeard/Williams 1977: 69). Schon dort ging es meist um die finanziellen Nöte des anthropomorphen Ziegenbocks. Diesmal hat Old Doc Yak die Miete für den Raum, den er und sein Sohn Yutch bewohnen, seit drei Wochen nicht bezahlt. Er hat Schulden und keine Arbeit. Schon am Klopfen erkennt der Zeitung lesende Yak am Dienstag, den 6. Februar 1917, dass der

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Vermieter sein Geld haben will. Old Doc schämt sich. Deshalb scheint er sich zwischen den Panels verstecken zu wollen. Doch der Zwischenraum zwischen den Panels ist zu schmal – nur ein Strich. Nicht einmal das gelingt dem Taugenichts, »dead beat«. »The price of white paper is too high«, erklärt der Vermieter am folgenden Tag. So teuer offenbar, dass zwischen den Panels kein weißer Raum bleibt. Wenn Old Doc zuerst selbst aus der Seite türmen wollte, realisiert er nun, dass er gezwungen werden soll, die Zeitungsseite für immer zu verlassen, wenn er seine Miete nicht zahlt: »or out you go«. Old Doc bricht in Tränen aus. Noch am Tag zuvor zeigte sich Old Doc zuversichtlich und beschimpfte den Vermieter, die Kündigungsdrohung in der Hand, als »big stiff«. In diesem Holzkopf entwickelt der Vermieter wunderliche Grillen, wenn er Yutch ganz im Abbildung 25: Der Preis des weißen Raumes (Blackbeard/Williams 1977: 72)

Sinne kapitalistischer Logik droht: »If he dosent pay the rent for this space by saturday I’m gonna throw you both off this page«. Der Scherz, der den Ernst der Lage bezeichnet, besteht selbstverständlich in der Mehrdeutigkeit des Wortes »space«: Es ist zugleich der Raum, der bewohnt werden kann und der Platz auf einem Stück Papier. Es ist zugleich der Raum, in dem der Holzkopf auf dem Papier seine Faust zur Decke reckt, und das bedruckte Weiß der Zeitungsseite, auf der sich Old Doc Yak unter dem Bett versteckt. »Space« bezeichnet zugleich eine Selbstreferenzialität innerhalb des Strips (dieser gezeichnete Raum) und außerhalb des Strips (dieses bedruckte Weiß). Ein Außerhalb, das als materiale Ermöglichung des Strips gleichwohl als Außerhalb bezeichnet und bezahlt werden muss – so wie die Zeitungsleser_innen ihre Zeitung bezahlen mussten, um diese Episode von Old Doc Yak lesen zu können.

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Der Holzkopf macht den armen alten Yak nicht nur für das Haus, in dem er wohnt, sondern auch für die Panels, die seine Geschichte füllt, finanziell verantwortlich. Old Doc kann seine Existenz in diesem doppelten Sinne nicht finanzieren. Er kann den Preis des weißen Raumes, in dem er lebt, nicht bezahlen. Die Ambivalenz dieser doppelten Referenz bezeichnet die unheimliche Wirklichkeit der Comic-Figuren. Sie existieren nicht nur in der Logik der Geschichte, sondern auch in der Logik ihrer Erscheinungsbedingungen: Als massenhaft reproduzierte, schwarz gedruckte Figur auf einer weißen Zeitungsseite, die von Panel zu Panel und Tag für Tag zwischen gewinnbringenden Anzeigen mit einer Differenz wiederholt wird. Old Doc ist in allen Panels der letzten vier Strips vor seinem Verschwinden zu sehen. Das weist auf den materialen Charakter seiner hölzernen Identität als Comic-Figur hin. Die wiederholte Drohung des Holzkopfes eröffnet uns durch ihre wörtliche Ambivalenz Old Doc Yaks doppelte Existenz. Die Identität der Comic-Figuren existiert nur in ihren materialen Wiederholungen. Die Identität der Figur ist notwendig unterbrochen: Sie wird mit demselben Namen bezeichnet, ist aber durch die räumliche Wiederholung von Panel zu Panel und die zeitliche Wiederholung von Tag zu Tag nie dieselbe, sondern nur die gleiche. Immer braucht sie weißen Raum, in dem sie sich verstecken kann, immer aber einen anderen. Weil sie in ihrer gezeichneten Materialität immer eine andere ist, muss die Figur wiederholt werden, um Kontinuität zu gewährleisten. Deshalb existiert diese Identität nur von Wiederholung zu Wiederholung und stellt nach einem Wort von Gilles Deleuze eine Maske dar, hinter der sich keine wahre Identität verbirgt, sondern welche die Identität selbst ist (vgl. Deleuze 1992: 34). Old Doc Yak muss wie jede_r seiner Leser_innen, der_die zur Miete wohnt, für seine flüchtige Existenz in den räumlichen und zeitlichen Wiederholungen, für den weißen Raum, den er mit seiner Druckfarbe in Anspruch nimmt, bezahlen. Der Widder überschreitet wiederholt das Gesetz und zahlt seine Miete nicht. Ihm droht wiederholt sein »realer«, nicht aber sein »symbolischer Tod« (Žižek 1991: 72-79), er wird nicht – wie so viele andere Held_innen – immer wieder innerhalb des Strips mit dem Tod bedroht, sondern dessen Erscheinen selbst – und damit auch Doktor Yaks – ist in Frage gestellt. Ihm droht das Ende der täglichen Wiederholung seiner Identität. Ihm droht, in das unterschiedslose Weiß entlassen zu werden und ob der Flüchtigkeit seines Erscheinens vielleicht für immer dem Vergessen anheim zu fallen. Noch für einen Grabstein wäre das tägliche Weiß zu teuer. Die Drohung erfüllt sich, und eine Pointe des Strips ist, dass sie sich auch erfüllt hätte, wenn der Yak nicht säumig geblieben wäre. Doch Old Doc Yak zieht es vor zu fliehen – und vielleicht ist seine Überschreitung des Gesetzes, das Aufscheinen seiner doppelten Existenz, der Grund, warum er – »now far away« – nicht ganz in Vergessenheit geraten ist. »To be continued«, steht im letzten Panel des Strips vom 10. Februar 1917: Die neuen Mieter in Old Doc

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Abbildung 26: Old Doc Yak sucht sein altes Haus heim (Blackbeard/Williams 1977: 70)

Yaks Raum sind die später so berühmten Gumps. In der ersten Folge am 12. Februar 1917 wird sein kleines Haus als »haunted« bezeichnet – und wir dürfen sicher sein, dass es Old Doc ist, der diesen weißen Raum gelegentlich heimsucht (Blackbeard/Williams 1977: 70).

W HO IS THE A LIEN ? The Aliens beginnt mit der Zerstörung der Erde (vgl. Williamson 1953). Drei Außerirdische betrachten den explodierenden Planeten, dessen Bewohner_innen sie nicht mehr vor der Macht der Atomkraft warnen konnten. Kein untypischer Anfang für eine Geschichte, die in Weird Fantasy erschienen ist – hier von Al Williamson unter der Redaktion von Al Feldstein gezeichnet. Ihr Verlauf ist dann weniger typisch: Die reptilienartigen Aliens landen auf einem Fragment des Planeten. Sie suchen nach dem Schlüssel der ihnen unbekannten Zivilisation und entdecken – ein Weird Fantasy-Heft: »strange markings and pictures on each sheet«. Die Leser_innen erkennen sofort, dass die Aliens das gleiche Heft gefunden haben, das sie selbst gerade lesen. So bleibt es nicht aus, dass die Aliens auf

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Abbildung 27: Die Aliens lesen ihre eigene Geschichte (Williamson 1953: 4)

Seite drei die erste Seite der Geschichte und damit ein Bild ihrer selbst entdecken – erste Wiederholung. Am Ende von Seite vier haben sie bis zum Ende der Seite drei gelesen. Sie sehen zu Beginn von Seite fünf, wie sie die erste Seite des Comics im ersten Panel auf Seite vier gelesen haben – Wiederholung der ersten Wiederholung. Noch immer sind die intelligenten Lebewesen zu überrascht, um zu realisieren, dass diese Geschichte, die von der Zukunft handelt, mit der Geschichte, die in ihrer Gegenwart stattfindet, identisch ist. Als sie dies schließlich entdecken, stellt einer von ihnen die entscheidende Frage: »But how does it end?« Das Reptil, das die unvermeidliche Endlosigkeit dieses Geschehens schon verstanden hat, muss nachfragen: »How does what end?« Und das erste insistiert: »The story! The original story!« Die sechste und letzte Seite der Geschichte zeigt deren Ursprung und gibt den Schlüssel über die Zivilisation der Erde. Sie zeigt die reine Gegenwart, in der Vorhersage und Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft völlig miteinander übereinstimmen: Es gibt keinen Anfang, es gibt kein Außerhalb, es gibt nur die endlose Wiederholung der Zeichen: »Squa Tront!« Was ist hier unheimlich, weird? So offensichtlich der Anspruch einer ursprünglichen Geschichte parodiert wird, so wenig offensichtlich ist, wie konsequent dies mit den Mitteln des Comics geschieht. Wenn die Aliens darüber sprechen, wie sie sich im Comic reden sehen, wird konsequent der referenzielle Charakter der Comics geleugnet. Der Text in den Sprechblasen wird von anderen Sprechblasen als real bestätigt. Von Panel zu Panel verdeutlicht sich

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Abbildung 28: Das Ende als Endlosschleife (Williamson 1953: 6)

die Realität des Comics, weil die Geschichte selbstreferenzieller wird. Von Seite fünf reicht ein Blick zur gegenüberliegenden Seite an die gleiche Stelle, und die wiederholte Lektüre macht die Wiederholung der Geschichte offensichtlich. Wenn im letzten Panel auf derselben Seite ein Alien in die Luft springt und »So turn the page!« ruft, wird kein_e Leser_in zögern, dieser Aufforderung zu folgen. So werden die Leser_innen zu Aliens. Sie machen denselben Erkenntnisprozess wie die Aliens durch, um beim selben Ergebnis anzukommen. Auch ihr Leben ist kein Original. Die Zeichen, die im Anspruch, ein Original zu bezeichnen, konkurrieren, verweisen nur aufeinander. Gerade die für Entertaining Comics typische Wiederholung des Bildes durch die Schrift, die gelegentlich als langweilig empfunden wurde, verwendet Al Williamson hier für ein Lehrstück über das Verhältnis der Zeichen zueinander: Weil sie das Gleiche zu bezeichnen scheinen, sind sie einander fremd. »Spa Fon!« The Aliens – der Titel der Geschichte bezieht sich auch auf die Zeichen. Sie werden fremd, weil ihre gewohnte Referenz hier in die Zukunft verlängert wird. Wenn Schrift und Bild ein ihnen fremdes Außen bezeichnen können, lässt sich mit ihnen auch die Zukunft zeichnen wie sie gewesen sein wird. Das ist die unheimliche Parodie der Vorstellung einer originalen, realen Geschichte. Dabei spielt die Materialität des Erscheinens der Zeichen in einem Comic-Heft eine besondere Rolle: Die Geschichte hat zwar einen Anfang und ein Ende, aber in Wirklichkeit hat sie – wenn sie von den Aliens gelesen wird – keinen Anfang

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(wann begann die Entwicklung zur Atomkraft?) und kein Ende (sie kann immer wieder und schließlich sogar von Aliens nach der Vernichtung der Erde gelesen werden). Das Comic-Heft sichert die gespenstische Überlieferung in die Zukunft. Wenn die parodistische Konstellation der Zeichen auf der Comic-Seite den Schlüssel zur menschlichen Zivilisation gibt, formuliert sich in The Aliens die Hoffnung, dass sich durch die wiederholte Lektüre dieser Konstellationen das Ende der Erde in der Zukunft verhindern lässt.

D IE Z EICHEN SIND ANDERE , IMMER Jede_r stirbt nur einmal. Ein einziges Mal überquert ein_e jede_r nach der römischen Mythologie den Lethe, den Fluss der Unterwelt. Den Toten wird ein Obolus unter die Zunge gelegt, um den Totenschiffer Charon zu entlohnen. Selten reicht – so berichtet Lukian in seinen vielstimmigen Totengesprächen – Charon das Geld, um auch Merkur zu bezahlen, der ihm sein Boot in Stand hält. So bleibt der Schiffer stets säumig und hofft auf Seuchen und Kriege. In dem 1997 erschienenen Comic-Album Salut Deleuze! von Martin tom Dieck und Jens Balzer setzt Charon den 1995 gestorbenen Philosophen der Wiederholung Gilles Deleuze insgesamt fünfmal über den Lethe (vgl. Dieck/Balzer 1997). Fünfmal wiederholen sich die gleichen Zeichnungen. Fünfmal steht Deleuze vor dem Haus Charons, fünfmal steigt er mit dem Totenschiffer ins Boot, fünfmal tauschen sie die Plätze, und fünfmal landen sie am anderen Ufer. Dort warten weitere tote Philosophen auf ihren Freund: Michel Foucault, Jacques Lacan und Roland Barthes. Deleuze verabschiedet sich von Charon, der zurückfährt und auf das Gespräch mit dem Philosophen hin zu lesen beginnt. Salut Deleuze! wurde in einer ersten Fassung im Comic-Magazin Strapazin veröffentlicht (vgl. Dieck 1996: 27-30). Dort überquert Deleuze den Lethe nur einmal. Die Geschichte endet mit dem Klopfen an Charons Tür. Der Schiffer scheint nach dem Gespräch mit dem Philosophen dem nächsten Toten nicht mehr aufmachen zu wollen. Das Sterben scheint beendet. In der Album-Version ist Deleuze selbst der Klopfende. Während das zweite Gespräch zwischen dem schon verstorbenen Deleuze und Charon dem ersten bis auf wenige Differenzen gleicht, entwickelt sich in den weiteren eine eigene Geschichte. Obwohl es der Fluss des Vergessens ist, können sich beide an die verschiedenen Überfahrten erinnern: Wenn Deleuze die zweite Überfahrt erwähnt, erinnert sich Charon an das Gespräch, leugnet aber, dass es Deleuze war, mit dem er gesprochen hat: »Aber der, mit dem ich gesprochen habe, das waren nicht Sie! Ich spreche mit niemandem zweimal. Ich spreche jedesmal mit jemand anderem. Wenn ich mit Ihnen gesprochen haben sollte, dann waren Sie ein anderer.« (Dieck/Balzer 1997) Und Deleuze bestätigt, den Dichter Arthur Rimbaud zitierend: »Mais je est un Autre, toujours«, »Ich ist ein Anderer, immer.« (Ebd.: 38)6

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Schon das Wort »Ich« ist ein Anderes als die Zeichnung, in der eine Figur »Ich« sagt. Das »Ich« wiederholt die Zeichnung als »Anderen« und umgekehrt. Die Differenz einer jeden Identität wird hier ebenso sichtbar wie die Notwendigkeit ihrer Wiederholung durch unterschiedliche Zeichen. Oder: Die Identität konstituiert sich erst in den wiederholten, unterschiedlichen Bezeichnungen. Abbildung 29: Deleuze überquert den Lethe (Dieck/Balzer 1997: 10)

Abbildung 30: Deleuze überquert den Lethe (Dieck/Balzer 1997: 19)

Und weiter: Selbst wenn Deleuze und Charon über alle neun Seiten hinweg identisch reproduziert werden, sind die Figuren immer »andere«, denn sie befinden sich innerhalb der Geschichte immer in anderen Konstellationen. Jede Seite trägt eine eigene Seitenzahl wie ein Datum. Aufgrund der ungeraden Zahl der jeweiligen Überquerungen des Lethe wechseln sich linke und rechte Seiten ab. Theodor W. Adorno hat die Wiederholung als technische Reproduktion des Immergleichen begriffen. Sie erzeuge das »Schema der Massenkultur«. Die identische Wiederholung begründet seine Kritik an der Kulturindustrie und deren totalem Verblendungszusammenhang (Adorno 1981: 301). Gilles Deleuze hat in seinem Buch Differenz und Wiederholung zu zeigen versucht, dass die Wiederholung nicht zur Allgemeinheit gehört, sondern jede Wiederholung eine Singularität ist (Deleuze 1992: 14). Salut Deleuze! illustriert diese Behauptung, indem es auf die Singularität eines jeden Panels innerhalb der Konstellation des gesamten Albums hinweist. Noch identisch reproduziert sind es immer an-

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dere. Es sind die gleichen Figuren, aber nicht dieselben. Wenn Pronomen und Figur, Name und Figur, Figur und Figur auf ein Signifikat bezogen, zu einer einheitlichen Identität zusammengezogen werden, so leugnet das die heterogene, parodistische Materialität der Signifikanten, die im Comic so wichtig ist: Die Zeichen sind Andere, immer. Das Paradox dieser Materialität der Zeichen besteht zwischen ihrer irreduziblen Singularität und ihrer Wiederholbarkeit. Dieses Paradox – erzeugt durch das Wunder der identischen technischen Reproduzierbarkeit – erklärt, warum Deleuze den Lethe mehrfach überqueren kann: Die fünffache Wiederholung nimmt die wiederholte Lektüre des ganzen Albums vorweg, schließlich wird keine Lektüre der vorigen völlig gleichen. Und das gilt auch für jede Reproduktion des »immergleichen« Albums, für die Vervielfältigung in seiner Verbreitung. Kein Album ist wie das andere, weil es in ganz unterschiedlichen Konstellationen erscheinen und gelesen werden kann. Die Überlieferung sichert das Nachleben von Deleuzes Philosophie. Und doch ist die Besonderheit der Konstellation als Ereignis eine, die den Tod unwiderruflich macht. Wenn das Album endet, bleibt auch Deleuze in der Unterwelt zurück. Dem realen Tod folgt hier der symbolische – denn »nur wo Gräber sind, gibt es Auferstehungen« (Dieck/ Balzer 1997: 49).

W EIRD S IGNS In allen drei Comics – Old Doc Yak, The Aliens, Salut Deleuze! – sind trotz aller Differenzen die heterogenen Zeichen zugleich als Träger einer Geschichte und als Zeichen auf Papier in ihrer Materialität von Bedeutung. Alle drei Beispiele thematisieren in dieser Ambivalenz die Wiederholung zwischen den einander ähnlichen, doch heterogenen Zeichen. Es sind ganz verschiedene Wiederholungen, mit denen wir es hier zu tun haben: die Wiederholung der Figuren von Panel zu Panel; die Wiederholung der Panels und ihr Abbrechen am Ende der Serie, der Geschichte oder des Albums; die Wiederholung des täglichen Strips, des monatlichen Comic-Heftes, der Auflage des Albums – und schließlich die Wiederholung der Lektüre, die niemals ganz abgeschlossen sein kann. Diese Wiederholungen überlagern sich bei der Lektüre der Comics. Sie bestehen gleichzeitig und lassen sich – wie in den drei Beispielen – nur methodisch voneinander trennen. Die Parodie der Comics existiert in der Konstellation zwischen der Stabilisierung eines gemeinsamen Referenten der Zeichen und dessen Destabilisierung durch ihre heterogene Materialität. Die Wiederholungen bestätigen eine Identität und zerstreuen diese zugleich, denn die Wiederholungen haben alle ihre eigene »zeichenhafte« Identität, die auf nichts als auf weitere Wiederholungen referiert. Beide Lektüren sind möglich: Die unterschiedlichen Wiederholungen

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in Comics können in ihrer Differenz als Bestätigung eines Referenten gelesen werden oder aber als Überschreitung der Referenzialität. Die strukturelle Nähe zwischen Comics und Parodien besteht im Paradox dieser Gleichzeitigkeit von stabilisierender und destabilisierender Wiederholung. »Tatsächlich ist die Parodie aufgrund ihrer Natur paradoxerweise eine autorisierte Überschreitung«, schreibt Linda Hutcheon (Hutcheon 1986: 101). Strukturell ist der Comic diese durch seine Form autorisierte Überschreitung. Judith Butler ergänzt: »In die Parodie einzutreten heißt in eine Beziehung von Begehren und Ambivalenz einzutreten.« (Butler 1997: 266) Die Sehnsucht nach der Identität, dem Original und der Wahrheit außerhalb der Zeichen wird immer durch die ambivalente Konstellation der Zeichen hervorgerufen und zugleich durchkreuzt. Immer gibt es diese gefährdete, parodistische Dissonanz, die allzu oft zu einer der beiden Seiten aufgelöst wird. Nur weil Comics das Begehren nach einer Einheit erzeugen, können sie es zerstreuen. Scott McClouds Modell der Lektüre von Comics liefert ein ausgezeichnetes Beispiel, wie diese produktive Zweistimmigkeit zwanghaft harmonisiert werden kann. Immer lässt sich die Heterogenität der Wiederholungen auf einen Ursprung zurück- oder zu einer einheitlichen Wirklichkeit hinführen. Aber immer wird diese Einheit des Ursprungs und der Wirklichkeit von Gespenstern dessen heimgesucht werden, was zur Erzeugung dieser Einheit ausgeschlossen werden musste (vgl. Butler 1995: 80ff.). Die Gespenster der Materialität der Zeichen zerstreuen die Einheit dieses Ursprungs auf der Comic-Seite. Die Gespenster der wiederholten Zeichen sind ein Überschuss an Bedeutung, der auch eine Reduktion auf eine Wirklichkeit nahelegt. Diese Ambivalenz der Wiederholungen im Comic ist das Unheimliche an ihnen. Die Ambivalenz zwischen der banalen, materiellen Oberfläche der Zeichen und der durch ihre Wiederholung entstehenden Überdetermination des weißen Raumes, kurz: Ihre unauflösbare Unentschiedenheit zwischen Identität und Differenz erweckt wenig Vertrauen. So sieht kein seriöser wissenschaftlicher Gegenstand aus. Nicht in allen Comics ist die wiederholt formulierte Ambivalenz so deutlich sichtbar wie in diesen drei allegorischen, offen selbstreferenziellen Beispielen. Doch bilden sie keine Ausnahmen. Sie weisen ausdrücklich auf das hin, was in allen Comics geschieht: Immer sind es spezifische Konstellationen voller Wiederholungen mit vielen Differenzen. Diese Konstellationen sind im Einzelnen zu historisieren. Jede Lektüre ist verpflichtet, die spezifische Ambivalenz der Konstellationen zu untersuchen. Die entscheidende Voraussetzung einer solchen Arbeit liegt darin, sich von der Unheimlichkeit des Unterfangens nicht abschrecken zu lassen, vielmehr diese Ambivalenz zu genießen. Denn die strukturelle Parodie der Zeichen ist kein Mangel der Comics, sondern macht ihre Modernität aus. Die Zerbrechlichkeit der Konstellation als singuläres, aber reproduzierbares Ereignis, die gespenstische Materialität der wiederholten Zeichen auf dem

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Papier, die Zweistimmigkeit der Wiederholung in der gegenseitigen Reflexion der Zeichen – all das macht die Comic-Zeichen zu weird signs. Es sind die in Michel Foucaults Sinne »positive« Eigenschaften der Comics, denen es an nichts mangelt (Foucault 1992: 68; 182). An ihrer Ambivalenz muss niemand leiden. Die Comic-Wissenschaft muss die gegenseitige, immer komische Bejahung der Zeichen bejahen. Dennoch bleibt die Ambivalenz unangenehm. Weird signs sind immer Fremde, aliens. Sie kosten Platz und zahlen ihre Miete nicht. Ihre Unheimlichkeit ist nicht leicht zu vergessen. Sie suchen ihre Leser_innen in unvermuteten Situationen heim, Wiedergänger_innen, Untote, die das Ende der Welt, das Ende der Referenz nicht kümmert. Weird signs vereinfachen die Beschäftigung mit Comics nicht. Sie reflektieren immer eine Dynamik, die niemals neutral ist, sondern immer Machtverhältnisse bezeichnet: Wenn Old Doc Yak wegen seiner Armut gekündigt wird, wenn die Erde explodiert, wenn Gilles Deleuze über den Lethe setzt, werden immer auch Kämpfe um Macht zwischen den Wiederholungen der Zeichen reflektiert. Die weird signs der Comics schüren durch ihre strukturelle Parodie die Hoffnung auf eine Ambivalenz der Macht, auf ihre Zerstreuung, ihre Auflösung. Das lässt sie untrennbar von der Kultur des 20. Jahrhunderts erscheinen. Die Comic-Wissenschaft, die diesen Zusammenhang genauer analysieren könnte, existiert aus gutem Grund nicht. Es wäre eine komische, unheimliche und sicherlich parteiische Wissenschaft. Comic-Wissenschaft müsste eine weird science sein, deren Lektüren sich mit weird signs beschäftigen, mit komischen, unheimlichen Zeichen. Dieser Tage häufen sich die Anzeichen, dass das Merkwürdige der Comics eher in Vergessenheit gerät und die bürgerliche Wissenschaft die Comics mit ihren Methoden systematisiert. Aber rufen die Comics mit ihren weird signs nicht nach einer weird science, die selbstverständlich eine gaya scienza, eine fröhliche Wissenschaft wäre, deren Konstellationen – nach einem Wort Friedrich Nietzsches – »neue Sternenwelten der Freude aufleuchten« (Nietzsche 1990: 42) lassen könnten?

A NMERKUNGEN 1 | A. d. Hg.: Ole Frahms Artikel »Weird Signs« erschien 2010 in der Monografie Die Sprache des Comics. Vgl.: Ole Frahm (2010): Die Sprache des Comics, Hamburg: Philo Fine Arts, S. 31-57. Der Wiederabdruck des Kapitels erfolgt mit der freundlichen Genehmigung des Autors. 2 | Jan-Frederik Bandel und Sascha Hommer führen in »Geteilte Beute. Comics & Literatur« gegen diese aktuelle Tendenz an, dass Autor_innen wie Elfriede Jelinek, Rolf Dieter Brinkmann oder H.C. Artmann die Comics in ihre Bücher holten, »um Schluß zu machen mit dem hohen Ton und dem hehren Engagement der bürgerlich-liberalen Literatur«. Heute würden die Comics dagegen in die Literatur integriert, um ihre gewünschte

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O LE F RAHM Ernsthaftigkeit festzuschreiben. Jan-Frederik Bandel/Sascha Hommer (2007): »Geteilte Beute. Comics & Literatur«. In: Schreibheft, Nr. 68, S. 19. 3 | Diese Begriffstradition verdankt sich vor allem Friedrich Nietzsche, wie schon Sander L. Gilman gezeigt hat. Vgl. Sander L. Gilman (1976): Nietzschean Parody. An Introduction to Reading Nietzsche, Bonn. 4 | Schüwer kommentiert diese Behauptung so: »Sinnvoller erscheint es mir, in der strukturellen Parodie des Zeichenprozesses ein medienspezifisches Potential der Comics zu sehen, das latent stets vorhanden sein mag, doch in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle für die Rezeption nur eine untergeordnete Rolle spielt. […] [man wird] bei der Mehrzahl der Comics nicht davon ausgehen können, dass sie die Anwendung des Schemas ›strukturelle Parodie‹ aktivieren oder gar erzwingen, vielmehr lassen sie sich zumeist umstandslos als Erzählungen verstehen.« Der Gegensatz Erzählung-Parodie mag überraschen, zumal Schüwer selbst die strukturelle Parodie als »blinden Fleck einer Erzähltheorie der Comics« bezeichnet. Wird in der Rezeption der Erzählung das strukturell parodistische Moment der Comics verdrängt? Wie wäre dies möglich, wenn die Parodie das Erscheinen der Comics strukturiert und ermöglicht, ohne dass sie dafür etwas aktivieren oder erzwingen muss? Hier zeichnet sich weniger ein Gegensatz innerhalb der Comics als der Theoriebildung ab. Martin Schüwer (2008): Wie Comics erzählen. Grundriss einer intermedialen Erzähltheorie der grafischen Literatur, Trier, S. 352. 5 | Alle Zitate dieses Abschnitts sind von diesen Seiten. 6 | Mehrere deutsche Übersetzungen gibt es für dieses berühmte Zitat aus Rimbauds Brief an Georges Izambard von 1871: Curd Ochwaldt übersetzt: »ICH ist ein Anderes«. Arthur Rimbaud (1961): Briefe und Dokumente. Aus dem Französischen von Curd Ochwaldt, Heidelberg, S. 24. Dieter Tauchmann schreibt dem Französischen entsprechend »Ich ist ein Anderer«. Arthur Rimbaud (1991): Gedichte. Aus dem Französischen von Dieter Tauchmann, Leipzig, S. 153.

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Stream of Comicness Chris Wares Erzählen in einem Medium zwischen Massentauglichkeit und Exklusivität Felix Strouhal

Im 33. der 75 Panels auf der achten Seite der 2001 erschienenen Acme Novelty Library findet man eine unscheinbare Anmerkung. Diese scheint eine Kunstform in ihren Grundfesten zu definieren: »Did you know…? […] cartooning is not really drawing at all, but a complicated pictorial language, intended to be read, not really seen!« (Ware 2005: 8) Das Medium Comic wird hier als eine visuelle Sprache verstanden, die allerdings nicht nur betrachtet, sondern gelesen werden soll. Die Form des Cartoons im Speziellen, das Comic im Allgemeinen wurde schon Jahrzehnte vor dem amerikanischen Künstler Chris Ware als eine eigene Sprache erkannt. Die Sprache des Comics ist eine visuelle, eine Bildersprache, die eigenen Regeln folgt – im Laufe des letzten Jahrhunderts entwickelte sie Grammatik und Syntax, einen eigenen Wortschatz und Vokabular sowie ganz spezifische, dem Medium ureigene Ausdrucksmöglichkeiten. Nicht ganz zufällig nennt Andreas Platthaus das erste Kapitel in seiner Geschichte der Bildgeschichte Als die Bilder sprechen lernten (vgl. Platthaus 2000). Sprechen lernten sie schnell, dauern sollte es bis sie zu reflektieren, zu dichten, zu singen begannen. In einem Interview mit Will Eisner bezeichnete der Comic-Autor und Zeichner Frank Miller einmal die Geschichte des Comics als eine »history of shame« (Brownstein 2005: 168). Fast von Beginn an hatte das Medium mit seiner Unabhängigkeit und Anerkennung als Kunstform zu kämpfen – doch wurde lange Zeit kaum gekämpft, sondern man beugte sich scheinbar widerstandslos allen Diktaten, Zuschreibungen und Vorurteilen der Industrie und des Marktes sowie schließlich auch des Publikums. Der Comic entwickelte sich in den USA zu einem der tauglichsten der neuen Massenmedien und wurde schnell als populärkulturelles Unterhaltungsmedium erkannt und benutzt: Cartoon, Abenteuer, Superheld_innen – etwas Anderes schien unmöglich. Wesentliche Grün-

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de dafür lagen ironischer Weise auch in den großen Stärken des Comics als Bildsprache: in seiner Unmittelbarkeit, seiner Zugänglichkeit und universellen Verständlichkeit. Scheinbar jede_r war in der Lage Comics zu lesen. Doch dieser Umkehrschluss entpuppt sich als trügerisch: Es war nur jede_r in der Lage jene Comics zu verstehen, die aus genau dem Grund geschaffen wurden, dass jede_r sie verstehen kann. Doch spätestens seit Scott McCloud und Will Eisners Comic-Theorien wissen wir über die Komplexität des Verstehensprozesses der sequentiellen Bildsprache Bescheid. Das intuitive Einberechnen der Leerstellen und Zwischenräume, die Wahrnehmung von Zeit und Raum sowie die Assoziationsarbeit, die zum Erkennen und Einordnen von Icons und Zeichen erforderlich ist, verlangt dem_r Leser_in ein hohes Maß an Fähigkeiten zur Entschlüsselung der semantischen Kombinatorik aus Text, Bild und dem nicht Sichtbaren ab. Nicht zuletzt waren es auch diese theoretischen Auseinandersetzungen, die schließlich doch der Scham den Kampf ansagten – ein Kampf um ästhetische Anerkennung, künstlerische Unabhängigkeit und Emanzipation. Und doch findet man die Schlachtfelder, wie meist, nicht in Wissenschaft und Theorie, sondern in den Werken selbst. Seit den Underground-Comics der 70er Jahre, einer Zeit in der die amerikanische Comic-Industrie in einer tiefen Krise steckte, schien sich das Medium zu wandeln. Man entdeckte bis dato ungeahnte Ausdrucksmöglichkeiten, vor allem auch durch unabhängige Publikationsformen – es wurde provoziert, experimentiert, reformiert. Während im franko-belgischen Raum im weit entfernten Europa Künstler_innen wie Jean »Moebius« Giraud das Medium in seiner Darstellungsform revolutionierten, begannen in den 1980er Jahren Autor_innen wie Alan Moore in England, aber auch Frank Miller in den USA die Grenzen der narrativen Strukturen des Comics zu erforschen und neu zu definieren. Fast immer jedoch waren die großen Innovationen und Umbrüche stille Revolutionen von innen heraus. Nur im Inneren des isolierten, konservativ-konventionellen Betriebssystems Comic konnten neue Strukturen ermöglicht, neue Wege gefunden werden, Geschichten mittels jener Bildsprache zu erzählen. Immer nur durch Teilbefriedigung bestimmter Erwartungen und teilweiser Erfüllung bestimmter Konventionen war es möglich, genau diese subversiv zu erschüttern; mit ihnen still und heimlich auch zu brechen, um neue Erwartungshaltungen der Leser_innen und zumutbare Möglichkeiten des Mediums zu erschließen. Dieser neuen Generation von Autor_innen und Zeichner_innen gelang es, mit ihren Werken auch eine neue Comic-Leser_innenschaft zu schaffen – eine Leser_innenschaft, die eben dazu bereit ist, Comics in einem aktiven Prozess zu »lesen« und nicht nur passiv »zuzusehen«. Der_die Rezipient_in muss dazu herausgefordert werden. An ihn_sie wird der Anspruch gestellt, die narrativen Strukturen und die erzähltechnische Mechanik, mit der Form und Inhalt vermittelt werden, selbst mit zu konstruieren. Es gibt keinen eindeutigen Weg mehr, dem es zu folgen gilt – der Weg entsteht erst durch die Teilnahme, durch die Anstrengung, die an-

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gebotenen Versatzstücke zu kombinieren. Je fragmentarischer diese sind, desto größer sind auch die Kombinationsmöglichkeiten – und je mehr Wege es gibt, umso höher ist schließlich auch der Interpretationsaufwand für den_die Leser_in. Der_die Comic-Leser_in muss also nicht nur »lesen«, sondern muss in Wahrheit jedes Mal aufs Neue »lesen lernen«. Im Pressespiegel zu Chris Wares Hauptwerk Jimmy Corrigan – The Smartest Kid On Earth schrieb Ted Rall, einer der Rezensent_innen: »Ware’s work is the comic equivalent of Joyce’s Ulysses – no one’s ever read it, and those who have know that it sucks, but it sure looks great on your bookshelf.« (Ware 2004: 4) Auch das Wall Street Journal scheute den Vergleich mit Joyces Kolossalwerk nicht: »Mr. Ware’s style, a blend of simplified body forms and overly detailed layouts, may make the strip a daunting read for newcomers to the comic medium, much the way the dense language of Ulysses challenged readers.« (Ebd.: 3) Ob der Vergleich nun als Kompliment zu werten ist oder nicht, beide Aussagen formulieren zwar einerseits einen wesentlichen Zusammenhang mit der vielleicht bedeutendsten aller literarischen Innovationen des 20. Jahrhunderts, dadurch gleichzeitig aber auch die größte Kritik – eine Kritik, der Chris Ware versucht, sich schon im klein gedruckten Vorwort zu stellen. In keiner Weise sei es die Intention gewesen, ein schwieriges, geheimnisvolles, unzugängliches Werk zu schaffen – die narrativen Prinzipien und grundlegenden Regeln zum Herstellen einer »[…] successful linguistic relationship with the pictographic theater it offers […]« (ebd.: 1) sind rein intuitiv zu erfassen. Und doch scheint es dem Künstler notwendig, für den_die ungeübte_n Leser_in eine kleine Leseanleitung voranzustellen, die jedoch beinahe ausschließlich in bildlicher Form gestaltet ist. Ohne ein einziges Wort »zu verlieren«, werden hier die wesentlichen Mechanismen von Ware’s Comic-Sprache erklärt und gleichzeitig angewandt: die Darstellung von Zeit, Bewegung, Ton, Emotion sowie weiters die unterbewusste Kontextualisierung eines einzelnen Panels, sein Zusammenhang mit dem Nicht-Sichtbaren und die Einberechnung der Panel-Leerstellen. Selten zuvor wurden in der Geschichte des Mediums ausschließlich mit den eigenen Mitteln des Comics seine narrativen Mechanismen erklärt. Hier benutzt Ware eines der zentralen Mittel seiner Erzählsprache: das Piktogramm. Im eingangs erwähnten Panel nimmt Chris Ware auf dieses für den Comic wesentliche Mittel Bezug: »Also, its strongest roots are not in the Academic traditions but in an arcane system of 19th century physiognomy and racial caricature!« (Ebd.) Das Piktogramm als simplifizierte sowie stark stilisierende Darstellungsform reicht im Medium Comic bis tief in die Wurzeln der funktionalen Ebene des Bildes – funktioniert es doch im Grunde immer assoziativ, beruft sich also auf das blitzschnelle Herstellen einer gedanklichen Verbindung von dem Betrachteten mit der Vorstellung eines realen Gegenstandes. Was Scott McCloud in Understanding Comics als »Icon« bezeichnet (vgl. McCloud 1993), ist im Medium nicht nur allgegenwärtig, es ist einer der tragenden Grundpfei-

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ler, auf den sich seine Sprache stützt. Man könnte sogar so weit gehen zu behaupten, dass jedes Bild, jedes Panel, jeder Strich im Comic immer, ob gewollt oder ungewollt, eine assoziative Funktion erfüllt und somit zum Icon wird. Je reduzierter, je stilisierter ihre Darstellung ist, desto mehr wird auch der_die Leser_in gefordert und in die hermeneutische Arbeit eingebunden. Gerade die Form des Cartoons scheint ohne diesen hohen Grad der Stilisierung undenkbar. Aus dieser Tradition kommt Chris Ware, was auch in seinen längeren Arbeiten noch ganz deutlich zu erkennen ist. Der flächige Stil, die klaren Linien, die durchkomponierten Seiten und Panelstrukturen, die eindeutige Kolorierung, die reduzierten Figuren – alles Elemente seines »piktographischen Theaters«. Doch Ware geht in der Verwendung des Piktogramms noch einen Schritt weiter: Er erkennt dessen Eigenschaft als Assoziationsträger und setzt diese ganz gezielt auch zur Darstellung der inneren Welt seiner Figur Jimmy Corrigan ein. Gedanken bestehen hier keineswegs mehr aus ganzen, ausformulierten Sätzen – sie werden eher in ihrer Unmittelbarkeit, in ihrem plötzlichen Auftreten und Verschwinden, in ihrer Sprunghaftigkeit dargestellt. Gedanken, Gefühlswelt und Innenleben der Personen sind nicht starr und eindeutig, sondern flexibel und dynamisch – eine Assoziation mit einem Geräusch, einem Eindruck oder einer Erinnerung kann unmittelbar und momenthaft das nächste »Bild« auslösen. Wares Versuch ist es, diese unkontrollierten, »visuellen« Denkprozesse zu fassen. Assoziationen und Gedanken werden nicht nur als solche dargestellt, sie sind quasi schon »Comics«. Die Sprunghaftigkeit und die doch sequentiell zusammenhängenden Abläufe einer solchen Assoziationskette haben in ihrer Funktionsweise erstaunliche Ähnlichkeiten mit jenen des Comics – beziehungsweise die Comics mit ihnen. Die einzelnen Panels eines Comics und der intuitiv-syntaktische Verknüpfungsprozess der ihnen beiwohnt, sind eine anscheinend ideale Darstellungsform für die plötzlich in Gedanken auftauchenden »Bildausschnitte« eines Bewusstseinsstroms. Auch die verwendeten Piktogramme, die vereinfacht dargestellten Gegenstände, Personen oder Gefühlszustände sind in menschlichen Denkprozessen präsent. Denken wir beispielsweise, wie Jimmy an einer Stelle der Handlung, an einen Feueralarm oder an einen Anrufbeantworter, so haben wir zumeist keine exakte, detaillierte Darstellung des Gegenstands »vor Augen«, sondern fast immer das Klischee eines solchen Objekts. In dieser Form funktioniert auch Wares Bewusstseinsstrom – die zuvor genannten graphischen, formalen Darstellungselemente seines Theaters dienen allesamt diesen Ideen. Jimmys Welt ist eine Traumwelt – folgt man ihr, so durchlebt man Tag-, Wunsch- und Alpträume, begegnet bizarren Phantasien, Angstvorstellungen oder Erinnerungen. Klare Grenzen zwischen Realität und Fiktion scheinen eher sinnlos als inexistent – hier scheint alles ebenso real wie fiktiv. Der Traum gilt hier als einziges, als letztes kindliches Realitätsprinzip in einer kalten und grausamen Welt der Einsamkeit. Dieser Imaginationswelt wird natürlich auch

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auf formaler Ebene begegnet. An einer Stelle der Erzählung wartet Jimmy in dessen Apartment auf seinen Vater, dem er gerade zum ersten Mal in seinem Leben begegnet ist. Während dieser duscht, »malt sich« Jimmy ein paranoides Horrorszenario aus, in dem das ganze Wiedersehen mit seinem Vater von diesem geplant wurde, um Jimmy am Ende kaltblütig zu ermorden. Zunächst sind seine Vorstellungen – Jimmys Vater kauft zu diesem Zweck Möbel und Poster, mietet das kleine Apartment, schreibt einen Brief – in Form von kleineren, mit wolkigen Umrandungen konstruierten »Gedankenpanels« dargestellt. SchließAbbildung 31: Übergang von Realität zu Imagination (Ware 2000: o.P.)

lich werden die Panels größer, der wellige Rahmen wird immer schwächer und schwächer, und kippt schließlich wieder in den schnurgeraden, »realen« Rahmen und damit zurück in die Gegenwart zu Jimmy auf der Couch und dem Wasserrauschen aus der Dusche. In den nächsten Panels, nun auf scheinbar »realer« Ebene, stürmt der Vater ins Zimmer und schlitzt Jimmy die Kehle auf. Der Übergang zum nächsten Panel, Jimmy sitzt unverändert auf der Couch – nichts von alldem ist tatsächlich passiert – ist absolut nahtlos (vgl. Ware 2000: o.P.). Chris Ware spielt hier mit Comic-Konventionen, mit Symbolen, an die wir als Comic-Leser_innen nicht nur gewöhnt, sondern gebunden sind. Er präzisiert sie, um anschließend damit zu brechen. Der immer schwächer werdende »wolkige« Rahmen zeigt, wie Jimmys paranoide Vorstellung für ihn, aber auch für den_die Leser_in, immer realer wird und schließlich von der gegenwärtigen

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Realität nicht mehr unterscheidbar ist. Dies stiftet Verwirrung und Unsicherheit – sowohl bei Jimmy als auch bei dem_r geübten Comic-Leser_in. Solch subtile narrative Details fordern von dem_r Leser_in einen reflektierenden und kritischen Umgang mit den Konventionen des Mediums, erhöhen seine_ihre Aufmerksamkeit, schärfen seinen_ihren Blick – bringen ihn_sie zum »Lesen« anstatt zum »Betrachten«. Einen weiteren formalen Aspekt, der sich ähnlich auswirkt, finden wir in der Seitenarchitektur, in der Panelanordnung wieder. Ware verwendet in der Regel sehr viele, im Verhältnis zur Seitengröße kleinformatige Panels, die oft nur sehr geringe Bildausschnitte zulassen – dies verstärkt zusätzlich den piktographischen Charakter der Zeichnungen. Die Seiten sind immer streng durchkomponiert, Größen, Formen und Reihenfolgen unterliegen stets einer mit penibler Genauigkeit und Konsequenz durchgeführten Ordnung. Motivwiederholungen, Farben und Texturen ergeben eine einheitliche Gesamtkomposition, die einen beim Umblättern zur nächsten Seite wesentlichen Ersteindruck zulässt: Ware arbeitet hier unter anderem mit Synchronizität und Spiegelung, einem Mittel zur unterschwelligen Beeinflussung der Wahrnehmung des_r Lesers_in. Wie in einem »recurring dream« erinnert sich der_die Leser_in unbewusst an ein Panelmuster, dem er_sie schon einige Seiten zuvor begegnet war. Der Akt des Umblätterns wird zelebriert – wie im Traum gelangt der_die Leser_in zunächst von Panel zu Panel, schließlich aber von Seite zu Seite. Jedes Mal wird er_sie mit einem neuen, scheinbar ganzheitlichen, jedoch auf den ersten Blick noch verschlüsselten Bild konfrontiert. Der Traum folgt dem_r Leser_in also hinaus aus den Bildern, aus der Handlung, hinein in den Akt des Lesens. Auch innerhalb der einzelnen Seiten gilt jenes Prinzip: Allzu gerne lässt Wares Erzählung den_die Leser_in auf seinem_ihrem Weg scheinbar alleine. Die komplexen Anordnungen der Panels bilden hier oft nicht mehr einen »geraden Weg«, in westlicher Comic-Tradition von links nach rechts und von oben nach unten. Gerade diese Leseerwartung wird gerne und aus gutem Grund enttäuscht. Der Weg führt querfeldein, von unten nach oben, von rechts nach links – oft bleiben dem_r Leser_in sogar mehrere »Lösungswege«, manchmal findet er_sie sich auch in einer sinnlosen Sackgasse wieder (vgl. Ware 2000: o.P.). Auch diese ungewohnten Wege, denen man unweigerlich folgen muss, sind ein klarer, beabsichtigter Bruch mit Konventionen – um Sinn erfassend Comics lesen zu können, muss man eben auch etwas dazu beitragen. Auch hier durchstapft man zunächst undurchsichtige, traumwandlerische Pfade, die den_die Leser_in Szene für Szene, respektive Seite für Seite, wie im Albtraum, vor ein neues Labyrinth stellen. Jimmys Träume und Phantasien sind verwirrend, undurchsichtig und mitunter kaum eindeutig interpretierbar. Oft entfernen sie sich weit von unserer Realität, zeigen sich in abstrakter, grotesk-morbider und in skurriler Form. Da reißt an einer Stelle ein überlebensgroßer Superman mit Gewalt das Haus aus dem Boden (vgl. Ware 2000: o.P.) oder Jimmy tötet seinen imaginierten,

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Abbildung 32: Jimmy tötet seinen imaginierten Sohn auf der Theaterbühne (Ware 2000: o.P.)

wurmähnlichen Sohn mit einem Ziegelstein auf einer Theaterbühne – vor einem Mäusepublikum (vgl. ebd.). In den undefinierten Traum- und Phantasiesequenzen tauchen auch komplexe, zusammenhängende, innerstrukturelle Motive auf, die immer wiederzukehren scheinen, mitunter sogar Generationen übergreifen können, mehrdeutige Subtexte in die Erzählung einschreiben – ein geheimnisvoller Roboter, ein Tapetenmuster, das Motiv eines Pfirsichs, eine rätselhafte Krücke (vgl. ebd.). Mitunter begegnet man aber auch klassischen Symbolen aus der Psychoanalyse – wie zum Beispiel der omnipräsenten Metapher des Pferdes, die Freud bekanntlich in seinen Ausführungen zum kleinen Hans als Angst vor dem Vater erkannte (vgl. Freud 1992). Auch tiefenpsychologische Themen wie Kastrationsangst, Penisneid oder Scham vor der eigenen Männlichkeit werden hier mit eingearbeitet. Auch inhaltlich gibt es also ein enorm komplexes, facettenreiches Kaleidoskop an Hin- und Verweisen, Anspielungen und Rätseln zu entschlüsseln. Fest steht, dass sich die eigentliche Erzählung aber auf der »phantastischen« Ebene abspielt. Hier erst können durch eben solche Details die wesentlichen Zusammenhänge der Geschichte erzählt werden – die Handlung ist simpel, die Erzählung aber, wie bei Ulysses, hochkomplex. Das Thema der Phantastik hat im Medium Comic bis heute immer eine zentrale Rolle gespielt – hier kann Unvorstellbares vorstellbar gemacht werden. Denn im Gegensatz zur Sprache, die nur mit schon vorhandenen, dem_r Leser_in im Idealfall bekannten Begriffen umschreiben kann, ist das Bild unabhängiger. Das Bild muss sich nicht erst erklären, muss nicht Behauptetes

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rechtfertigen. Das, was man sieht, ist eben gegeben. Andreas Platthaus bemerkt dazu in Moebius Zeichenwelt: »Wo sich die Phantasie bei Prosalektüre erst selbst Bilder schaffen muß und deshalb auf die Kohärenz des Geschriebenen mit dem individuell Erlebten des Lesers zu achten ist, kann der Comic behaupten, was immer er will, denn im Moment der Lektüre sieht der Leser eben das Behauptete.« (Platthaus 2003: 45)

Hier wird »ausgemalt«, hier wird einem etwas »vor Augen« geführt. Der_die Leser_in wird mit scheinbar vorgefertigten Eindrücken konfrontiert, wodurch ihm_ihr auch ein wesentlicher Teil der individuellen Imaginationsproduktion von dem_r Zeichner_in abgenommen wird. Die Phantasie des_r Comic-Leser_ in wird auf andere Weise beansprucht – sie muss ergänzen, verknüpfen, hinzudichten, die Bilder laufen und eben auch sprechen lassen. Auch Jimmys Traumwelt ist für den_die Leser_in zunächst unbekanntes Terrain. Man begibt sich an Orte, die fremd erscheinen, erhält Zugang zu Phantasien, die so unzugänglich sind, weil so persönlich und individuell isoliert. Hier ist man vieles, nur auf keinen Fall zuhause. Das Phantastische ist eben auch immer etwas unheimlich – und das im ganz wörtlichen Sinn. Doch Chris Wares fein adjustierte Motorik zur Traumdarstellung, die Techniken zur Darstellung der freien Assoziation, der Versuch einer Visualisierung von Bewusstseinsströmen lassen uns einen kurzen Blick werfen in die Abgründe eines »Strichmännchens«, das nur an der Oberfläche aus wenigen Linien und Farben besteht. Hinter ihnen verbirgt sich eine Komplexität, die mit herkömmlichen Mitteln des Mediums wohl kaum darstellbar gewesen wäre. Während Joyce in den 1920er Jahren noch lustvoll mit seinen »Sprach«experimenten arbeitete, innovierte und revolutionierte, war es für Chris Ware knapp 80 Jahre später die Bildsprache, die zu Ähnlichem fähig sein sollte. Zwischen Joyce und Ware liegen dennoch Welten, die kaum größer sein könnten, blieb in jener Zeitspanne doch so gut wie nichts unverändert. Produktions- wie Rezeptionsbedingungen von Literatur wandelten sich, nicht zuletzt durch veränderte Zeichenträger und alternative Medien, ganz wesentlich. Aber auch die Präsenz, die Relevanz und die Mächtigkeit des Bildes an sich, im Verhältnis zur geschriebenen Sprache, wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts völlig neu definiert. Was gerne als »visual turn« und schließlich als »iconic turn« bezeichnet wird, findet immer noch überall statt – auch für das Medium Comic ist er von immenser Bedeutung. Doch war der Comic nicht nur Nutznießer, der von diesen Entwicklungen profitierte, sondern trug selbst einen nicht zu unterschätzenden Teil zu diesem Wandel bei. Ein unverstandener Pionier, der seiner Zeit zwar vielleicht voraus war, ihr letztlich aber auch immer ein Stück hinterher hinkte. Denn trotz aller Underdog- und Outsider-Images, der selbstglorifizierenden, kindisch-rebellischen Haltung einer Subkultur gegenüber dem Kunst- und

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Kulturbetrieb, für den man oft nicht mehr als verachtenden Zynismus übrig hatte, blieb oft auch ein schielender, sehnsüchtiger Blick auf die »andere Seite«, jenseits der Grenze der Populärkultur und des Marktes. Dort wo Zeichner_innen Künstler_innen waren, wo Scriptwriter Literatur erschufen, dort wo statt Verkaufszahlen Ruhm, Ehre und Anerkennung die Hauptrollen spielten, dort wo Comics »graphic novels« hießen – dort wo man sich statt auf Autogrammkarten von Kindern auf »Conventions« mit Leuchtbuchstaben in die ewigen Annalen der Geschichte einschrieb. Diese Paradoxie wurde zum Trauma – eine Zwickmühle zwischen Anspruch und Kitsch, zwischen Kunst und Kommerz, zwischen Massentauglichkeit und Exklusivität, zwischen Unterhaltung und Innovation. Und so gab und gibt es den verzweifelten Glauben daran, auf beiden Klaviaturen gleichzeitig spielen zu können, und daran, dass das Medium Comic in der Lage ist, auch unabhängige, innovative, anspruchsvolle Werke zu schaffen, die aber dennoch Teil der Kulturindustrie jenseits des Kunstbetriebes sind. Auch Chris Wares Werke zeugen von jenem Zwiespalt – publiziert er doch »echte Bücher«, die in kunstvoll und aufwendig designten, »edlen« Hardcoverbänden und mit enormem Aufwand gestaltet sind. Er tut dies nicht zuletzt, um sich bewusst vom Klischee des billigen, »trashigen« Wegwerfheftes, das lange als gängige Publikationsform für amerikanische Comics galt, abzugrenzen. Und doch weist einerseits das Vorwort, andererseits aber auch die Form des Cartoons selbst und die eindeutige Auseinandersetzung mit dem Medium Comic auf den Anspruch hin, für jede_n verständlich und eben kein verschrobenes, elitäres »Kunstwerk« zu sein, das nur eine Handvoll Expert_innen und Wissenschaftler_innen in die Hand bekommen. Dies scheint vielleicht der wesentlichste Unterschied, der Chris Ware und James Joyce trennt. Und doch wissen wir heute, dass auch »der große Künstler« James Joyce, für den kaum etwas nebensächlicher war als ein großes Publikum oder kommerzieller Erfolg, selbst ein begeisterter Leser von George Herrimans Cartoon Krazy Kat gewesen ist, der, wenn er mal eine Folge verpasste, sich diese von Gertrude Stein am Telefon erzählen ließ (vgl. Platthaus 2000: 28). Natürlich ist dies bloß eine Randnotiz – eine, die einen aber an gerade diese Form eines Mediums zwischen den Stühlen glauben lassen kann.

L ITER ATUR Brownstein, Charles (Hg.) (2005): Eisner/Miller, Milwaukie: Dark Horse Books. Eisner, Will (1985): Comic and Sequential Art, Tamarac: Poorhouse Press. Freud, Siegmund (1992): Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben. Falldarstellung: Der kleine Hans, Frankfurt a.M.: Fischer Verlag. McCloud, Scott (1993): Understanding Comics. The Invisible Art, New York: Harper Perennial.

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Platthaus, Andreas (2003): Moebius Zeichenwelt. Von Andreas Platthaus vorgeführt, Frankfurt a.M.: Eichborn. — (2000): Im Comic vereint. Eine Geschichte der Bildgeschichte, Frankfurt a.M./ Leipzig: Insel Taschenbuch. Ware, Chris (2005): Acme Novelty Library, New York: Pantheon. — (2004): The Adventures Of Jimmy Corrigan. The Smartest Kid On Earth, London: Jonathan Cape/Random House. — (2000): Jimmy Corrigan. The Smartest Kid On Earth, New York: Pantheon.

Die Semiotik von C.S. Peirce als theoretisches Rahmenwerk für das Verstehen von Comics1 Anne Magnussen

Der Comic in Abbildung 33 erzählt die Geschichte von Ben el Gordo [Ben der Fette], der El Bueno de Cuttlas [Cuttlas der Gute] zu einem Duell im Stil des amerikanischen Westerns auffordert (vgl. Calpurnio 1996) – die Übersetzung erfolgt in der zweiten Fußnote.2 Gemäß den Konventionen darf Cuttlas die Waffen wählen. Indem er zwei Pistolen für sich, aber nur einen Kamm für Ben wählt, handelt er gegen die Konvention des Duells, nach der die Waffen (selbstverständlich) identisch sein sollten. Ob Cuttlas diesen Fehler nun absichtlich macht oder ihm die Konvention nicht bekannt ist, Ben ist auf jeden Fall derjenige, der am Ende lächerlich dasteht. Es ist eine einfache Geschichte, leicht verständlich, und der Großteil der Menschen wird sie amüsant finden – oder wird zumindest fähig sein, den Humor darin zu entdecken. Diese Geschichte wird mittels einer Kombination von Zeichnungen und Text erzählt und bildet damit gemäß der europäischen Semiotik ein Gemisch heterogener Zeichen, namentlich ikonischer und symbolischer Zeichen. Diese fügen sich allerdings im Comic zu einer einzigen leicht verständlichen Geschichte, indem sie in einer Weise interagieren, die die klare Trennung zwischen ikonischen und symbolischen Zeichen in Frage stellt. Es existiert, um Benoît Peeters Worte zu verwenden, ein fließender Übergang vom Verbalen zum Ikonischen in Comics (vgl. Peeters 1998: 85). Philippe Marion beschreibt weiter dieses Phänomen, wenn er konstatiert, dass in Comics Bild und Text nicht einfach zusammengefügt werden, sondern in eine dynamische Fusion eintreten, die neue Bedeutung kreiert (vgl. Marion 1993: 2). Diese spezifische Interaktion zwischen unterschiedlichen Zeichentypen ist vom theoretischen Standpunkt aus interessant, wenn man eine »Semiotik des Comics« in Erwägung zieht. Im folgenden Artikel möchte ich zeigen, dass bei der Beschreibung von Comic-Zeichen in ihrer Interaktion – in anderen Worten bei der Interpretation eines Comics – eine Dichotomie von ikonischen und symbolischen Zeichen nicht adäquat ist. Stattdessen schlage ich vor, die Semiotik von Charles Sanders Peirce als theore-

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Abbildung 33: El Bueno de Cuttlas contra Ben el Gordo (Calpurnio 1996: 7)

tischen Bezugsrahmen für das Verstehen von Comics zu verwenden. Ich werde anhand des Comics um Cuttlas und Ben demonstrieren, wie dies erreicht werden könnte. Die unterschiedlichen vorkommenden Zeichentypen interagieren nicht nur in einer räumlichen Dimension, sondern verlangen auch die sequentielle Interpretation der »Zwischenräume« der Panels. Einen großen Teil des Artikels wird deshalb die Diskussion einer möglichen Beschreibungsmethode der sequentiellen Dimension des Comics einnehmen. Für diese Diskussion greife ich auf Teile des discourse comprehension model der Pragmatiker Teun Van Dijk und Walter Kintsch zurück (vgl. Dijk/Kintsch 1983).

1 D AS Z EICHEN NACH C.S. P EIRCE Das Zeichen konstituiert sich durch die irreduzible Triade des Representamen (oder »Zeichen«), einem Objekt und einem Interpretant. Das Representamen repräsentiert das Objekt verweisend auf eine bestimmte Idee oder »Veranlassung« (Peirce 1931-1958: 2228).3 Peirce selbst wandte die Semiotik nicht in den Kommunikationswissenschaften an, andere Forscher_innen haben dies

D IE S EMIOTIK VON C.S. P EIRCE ALS THEORETISCHES R AHMENWERK FÜR DAS V ERSTEHEN VON C OMICS

allerdings nachgeholt (vgl. Jensen 1995). In der Verwendung des peirceschen Zeichens in den Kommunikationswissenschaften muss aus der Existenz des Interpretanten als integraler Teil des Zeichens folgen, dass ein Zeichen immer im Kontext eines Kommunikationsaktes betrachtet werden muss. Die einzelnen und heterogenen Zeichen in zum Beispiel dem ersten Panel der Abbildung 1 sind nicht autonom zu interpretieren, sondern im Kontext zueinander. Deshalb liegt der Fokus auf der Interaktion der Zeichen, die auf diese Weise ein größeres, komplexeres Zeichen kreieren, das des Panels selbst. Das PanelZeichen wiederum wird im Kontext seiner Position auf der Seite und innerhalb der Sequenz gesehen. Die Panels interagieren, kreieren ein noch größeres Zeichen, den Comic. Dieses Comic-Zeichen ist seinerseits im externen Kontext des Kommunikationsaktes oder der Interpretation zu sehen, also im Kontext der sozialen Realität, an der der Comic zusammen mit anderen Comics und Texten teil hat. In der folgenden Analyse des Comics um Ben und Cuttlas werde ich die ersten zwei Ebenen diskutieren, die Interaktion von heterogenen Zeichen innerhalb des Panels und die Interaktion zwischen den entsprechenden Panels. Drei Trichotomien beschreiben jeweils das Representamen selbst, die Relation zwischen Representamen und Objekt, und die Relation zwischen Representamen und Interpretant. Um die verschiedenen Zeichentypen in Comics und die Interaktion zwischen ihnen zu beschreiben, werde ich – anstatt zwischen ikonischen und symbolischen Zeichen zu unterscheiden – die Trichotomie von Ikon, Index und Symbol als Verbindung des Representamens mit dem Objekt verwenden. In Übereinstimmung mit der peirceschen Definition wird ein Zeichen nicht exklusiv als Ikon, Index oder Symbol interpretiert. In den meisten Fällen erfolgt die Interpretation auf der Basis von ikonischen und indexikalischen und symbolischen Beziehungen, wenn auch unterschiedlichen Grades und unterschiedlicher Proportion. Ein Ikon repräsentiert das Objekt aufgrund seiner Ähnlichkeit zu diesem Objekt; ein Index repräsentiert ein Objekt indem es davon betroffen ist; ein Symbol letztlich repräsentiert ein Objekt aufgrund einer Konvention (vgl. Peirce 1931-1958: 2243). Das Ikon ist weiters in drei Zeichentypen unterteilbar: Bild, Diagramm und Metapher. Das Bild repräsentiert das Objekt durch seine einfache Beschaffenheit oder materielle Ähnlichkeit. Das Diagramm repräsentiert die Relationen der einzelnen Teile eines Dings durch analoge Relationen seiner eigenen Teile: Es handelt sich hier um relationale Ähnlichkeit. Die Metapher repräsentiert ein Objekt, indem sie eine Parallelität mit etwas anderem ausdrückt (vgl. Peirce 1931-1958: 2277).4

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2 C OMIC , S EQUENZ UND N ARR ATIVITÄT Die unterschiedlichen Definitionen des Begriffs Comic (oder bande dessinée oder historieta etc.) scheinen sich in einem bestimmenden Aspekt einig zu sein: Ein Comic ist eine Sequenz von Bildern, zwischen denen eine Art Bedeutungseinheit erschaffen wird. Um einen semiotischen Begriff zu benutzen: Ein Comic kann als ein einziges komplexes Zeichen betrachtet werden, und es wird folglich eine globale Kohärenz in dessen Interpretation gesucht. Bei zwei anderen Charakteristika scheint ebenfalls allgemeine Übereinstimmung zu herrschen. Erstens, dass die Bilder einer Vielfalt von Typen angehören können, wenn auch zumindest einige von ihnen Zeichnungen sein müssen. Dieses Charakteristikum schließt Fotoromane aus der Definition von Comics aus. Zweitens ist, auch wenn Text in die Bildsequenz integriert werden kann, diese Kombination von Text und Bild nicht essentiell für die Basisdefinition – wortlose Comics sind möglich. Da der Text allerdings oft Teil des Bildes ist, zum Beispiel in Form von Sprechblasen und Onomatopoetika, bevorzuge ich den Begriff »Panel(sequenz)« gegenüber »Bild(sequenz)«. Unterschiede zwischen den Definitionen kommen auf, wenn die Struktur der möglichen umfassenden Kohärenz in Comics festgeschrieben werden soll. Scott McClouds Definition spezifiziert diesen Aspekt nur insoweit, als dass die Bildsequenz »Informationen vermitteln und/oder eine ästhetische Wirkung beim Betrachter erzeugen sollen« (McCloud 2001: 17). Anderen Definitionen zufolge ist die Geschichte als globale Kohärenz konstitutiv für den Comic, wie in den folgenden Beispielen gezeigt wird: »Der Comic ist […] die Kunst, mit den Mitteln einer Folge von Zeichnungen, die einen Bericht formen, zu erzählen«5 (Thierry Groensteen zit.n. Marion 1993: 2), »[der Comicstrip] ist eine Erzählung in Form einer Sequenz von Bildern«6 (Sabin 1993: 5) oder »eines der charakteristischsten Merkmale des Comics ist es, die Gesamtheit einer Erzählung aus fixen Bildern und aus der Segmentierung der Seiten zusammenzufügen«7 (Peeters 1998: 34). In einer anderen Definitionsgruppe ist die Geschichte, wenn nicht als bestimmender Aspekt, so doch als häufiges Charakteristikum inkludiert: »Der Comic ist vor allem eine Zeichnung, die sich von Bild zu Bild entwickelt […], schlussendlich meistens narrativ.«8 (Marion 1993: 2) Oder: »Comics können in einem weiten Sinne als eine räumliche Sequenz definiert werden […] mit dem Ziel, eine Beschreibung oder eine Narration zu artikulieren.«9 (Gubern 1992: 2) Ich zitiere diese Definitionen, weil die Diskussion um Comics und Narrativität für meine Art und Weise relevant ist, das peircesche Zeichen auf den Comic und im Speziellen auf die Panel-Sequenz anzuwenden. Ich werde deshalb kurz umreißen, welche Konsequenzen das Integrieren der Narrativität in die ComicDefinition hat. Gemäß der narrativen Theorie schließt der Begriff »narrativ« [narrative] sowohl die Geschichte selbst als auch die Erzähler_innen-Identität und -Position

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mit ein (vgl. Bal 1990). Ich werde allerdings nicht auf die Diskussion um die möglichen Positionen des_r Erzähler_in in Comics eingehen, sondern mich auf die Geschichte als Basis für globale Kohärenz konzentrieren. Im Folgenden werden die Begriffe narrative Erzählform und Geschichte synonym verwendet werden. Ob eine Geschichte fiktiv ist oder nicht, ist in diesem Kontext nicht relevant, da es weder einen Unterschied für die Struktur der Geschichte macht noch für die mögliche Thematik. Der einzige Unterschied ergibt sich daraus, ob der_die Interpretant_in voraussetzt, dass die Hinweise der Geschichte eine Realität oder aber ein fiktionales Universum repräsentieren (vgl. Peirce zit.n. Johansen 1996: 276). In einer Geschichte geht es um menschliche Taten. Das bedeutet, dass eine Serie von Faktoren eine Basisstruktur formt, damit ein Zeichen als Geschichte betrachtet werden kann. Diese Faktoren sind die Taten selbst und die Akteur_innen, die diese ausführen, der Zeitpunkt, an dem die Taten ausgeführt werden und die Orte, an denen sie ausgeführt werden. Eine weitere Spezifikation ist der Hintergrund einer Geschichte, seine Entwicklung und seine Auflösung. Das wiederum bedeutet, dass sie endlich ist, in anderen Worten: ein einziges komplexes Zeichen. Diese Definition einer Geschichte ist eine Konvention und mag in mancher Hinsicht von Kultur zu Kultur variieren. Im Kontext der westlichen Kultur, an der die Comic-Expert_innen teilnehmen, auf deren Definitionen oben Bezug genommen worden ist, und zu der auch ich selbst gehöre, scheint sie allerdings angemessen (vgl. Dijk/Kintsch 1983: 56-57). Wenn von etwas (einem Text, einem Comic etc.) erwartet wird, dass es sich um eine Geschichte handelt, wird aufgrund der Konventionalität von Geschichts-Strukturen ein narratives Schema aktiviert, das den darauf folgenden Interpretationsprozess leitet (vgl. ebd.: 55ff.). Der_die Leser_in wird versuchen, in Übereinkunft mit der Geschichts-Struktur eine globale Kohärenz zwischen einzelnen Elementen oder Zeichen zu kreieren. Im Fall von Comics wird die Suche nach globaler Kohärenz dazu führen, die lokale Kohärenz zwischen Panels durch Inferenzen in Verbindung mit den oben genannten Faktoren (Aktion, Akteur_innen, Zeit und Ort) zu kreieren. Da es in Geschichten um menschliche Taten geht, werden manche Folgerungen zwischen Panels auf dem Wissen um generelle Handlungs-Strukturen basieren. Bei lokalen Kohärenzen ist es allerdings nicht möglich, klar zwischen jenen Fällen zu unterschieden, in denen generelle Handlungs-Strukturen arbeiten oder aber die spezifischere Geschichts-Struktur (vgl. ebd.: 57). Lokale Kohärenzen zwischen Panels werden deshalb berücksichtigt, weil das Panel selbst die kleinste Einheit von Zeit und Raum darstellt (vgl. Gubern 1992: 2). Die Panels sind dementsprechend zu den Propositionen in Teun Van Dijks und Walter Kintschs discourse comprehension model parallel zu setzen. Zwischen diesen Propositionen werden ebenfalls lokale Kohärenzen gebildet. Teun van Dijk und Walter Kintsch verwenden den Begriff »bridging inferences« [überbrückende Inferenzen], ich selbst bevorzuge den Term »Inferenzen«. Es soll-

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te vermerkt werden, dass ich das Panel mit der Proposition nur in Bezug auf ihre parallele Position in einer (größeren) Struktur vergleiche. Die Interaktion zwischen Zeichen in einem Panel und einer Proposition kann nicht direkt verglichen werden, da die Proposition durch linguistische Zeichen gebildet wird, während das Panel durch ein Bild geformt wird, manchmal in Kombination mit anderen Zeichentypen. Betrachtet man aber die narrative Erzählform als nicht essentiell für die Definition des Comics, muss es möglich sein, globale Kohärenz auch abseits der Geschichts-Struktur zu schaffen, und lokale Kohärenzen durch Inferenzen zu bilden, die auf anderen Parametern als Handlung, Akteur_innen, Zeit und Ort basieren. Nach Thierry Groensteen ist das, wenn überhaupt, nur eine theoretische Möglichkeit, da immer ein narrativer Effekt in der Sequenz graphischer Bilder erfolgt (vgl. Groensteen 1988: 46). Diese Aussage ist interessant, wenn man sie mit Scott McClouds Definition vergleicht, der alle möglichen Strukturen und globalen Kohärenzen offen lässt. Im Wesentlichen ist die einzige Anforderung nach Scott McCloud, dass die Bilder in einer intentionalen Sequenz angeordnet sein müssen. Im Prinzip könnte eine Serie von Skizzen von Pablo Picasso, die chronologisch in einem Buch angeordnet sind, eine intentionale Bildsequenz genannt werden, da sie Informationen über eine zeitlich fortschreitende künstlerische Entwicklung transportiert. Es ist trotzdem sehr unwahrscheinlich, dass viele Menschen ein solches Buch als Comic bezeichnen würden. Der Unterschied liegt, denke ich, in der jeweiligen Einstellung gegenüber dem Stellenwert von Konventionen für die Definition von Comics. Scott McClouds Comic-Definition mag absichtlich breit angelegt sein, um jegliche mögliche Variation sequentieller Bilder mit einzuschließen, die Comics genannt werden könnten. Es mag ein Versuch sein, Comics als eigenständiges Medium zu definieren, ohne Rücksicht auf den Inhalt. Jedoch inkludiert seine Definition damit Texte, die man üblicherweise nicht als Comics bezeichnen würde. Groensteen auf der anderen Seite scheint seine Definition nicht allein auf die Form zu stützen (die Sequenz von Bildern), sondern auch auf die soziohistorische Entwicklung der Comics im 20. Jahrhundert – er stützt sich folglich auf das, was tatsächlich existiert, und auf die Konvention. Groensteen nennt Comics [bandes dessinées] ein Genre (vgl. ebd.: 46), was darauf hinweisen könnte, dass er es als konkret narratives Genre neben Roman und Kurzgeschichte versteht.10 Die Problematik, die sich daraus ergibt, den Comic als unabhängiges Medium und/oder Genre zu definieren, ist vielschichtig – sie bedarf einer tiefgehenden Debatte, die auch die Diskussion der Begriffsdefinitionen von Medium und Genre mit einschließt. Im vorliegenden Artikel werde ich mich darauf beschränken, meinen eigenen Blickwinkel auf Comics als narrative bzw. nicht-narrative Erzählformen klarzustellen. Diese Klarstellung ist für die untenstehende Analyse notwendig, ich möchte allerdings damit keineswegs die Diskussion um die Position des Comics zwischen Medium und Genre abschlie-

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ßen. Wenn auch nicht-narrative Comics im Bereich des Möglichen sind und durchaus bereits existieren könnten, geht dies gegen die Konvention der Idee, was einen Comic in der westlichen Gesellschaft ausmacht. Benutzt man zwei pragmatische Theorien wie die peircesche Semiotik sowie Teile des Diskursmodells von Teun Van Dijk und Walter Kintsch als Rahmenwerk für die Analyse, ist es essentiell, die Konvention der Narrativität von Comics zu akzeptieren, um den Interpretationsprozess zu unterstützen. In diesem Sinne stimme ich mit Thierry Groensteen überein, dass Comics auch auf der Basis ihrer historischen Spezifität definiert werden sollten, und dass die Definition von Scott McCloud zu breit angelegt ist, um von jeglichem praktischen Nutzen zu sein. Die Konsequenz dieses Standpunktes ist, dass jegliche Analyse eines als Comic betrachteten Textes zunächst davon ausgehen muss, dass es sich dabei um eine Geschichte handelt, und dass in anderen Worten ein narratives Schema aktiviert wird. Wenn sich beim Interpretationsprozess herausstellt, dass es unmöglich ist, eine globale Kohärenz auf der Basis einer Geschichts-Struktur zu kreieren, dann gibt es (zumindest) zwei Optionen, die wir auf die obige Diskussion verweisend wählen könnten: Den Text nicht als Comic zu betrachten oder ihn als einen nicht-narrativen Comic zu betrachten. Bis jetzt habe ich mich ausschließlich mit der Sequenz von Bildern beschäftigt. In Wirklichkeit steht die Interpretation der Sequenz in konstanter Interaktion mit dem Blick auf die Seite als Ganzes. Bevor noch eine sequentielle Interpretation beginnen kann, ist bereits ein Gesamteindruck der Seite oder Doppelseite erfolgt.11 Ein erster Blick auf die Seite ist nicht darauf beschränkt, einer Sequenz von Handlungen zu folgen, sondern kann genauso gut von herausstechenden Merkmalen wie Form und Farbe oder auch vom Inhalt relativ großformatiger Panels angezogen werden. Der spezifische Zeichenstil und das Format werden ebenfalls die Aufmerksamkeit dieses ersten Blickes auf sich ziehen, und in manchen Fällen werden diese Aspekte auf eine bestimmte Kategorie von Comics hinweisen – wie zum Beispiel auf die ligne claire des europäischen Comics. Der breitere Kontext wie beispielsweise das Magazin, in dem der Comic erscheint, kann ebenso als Basis für die Klassifikation der entsprechenden Kategorie oder des Typus dienen. Wie ich oben argumentiert habe, werden Comics konventionellerweise als Geschichten gelesen, und damit wird ein narratives Schema aktiviert, sobald ein Comic als solcher erkannt wird. Aus diesem Grund wird das erste Zeichen im Interpretationsprozess, das erste Überfliegen, die Erwartung einer Geschichte voraussetzen. Wenn der Zeichenstil zudem als auf einen bestimmten Comic-Typus hinweisend erkannt wird, kann die Geschichts-Struktur wie oben erwähnt in einem nächsten Schritt anhand der Aktionstypen oder Charaktere (Romanze, Superheld_innen etc.) über die generelle Geschichts-Struktur hinaus genauer klassifiziert werden. Akzeptieren wir, dass im Interpretationsprozess die Erschaffung von Kohärenzen durch die Inferenzen von Panel zu Panel ein konstantes Merkmal ist, dann können wir den ersten

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»Scan« der Seite als erstes Zeichen im Prozess betrachten. Dieses erste Zeichen als Ausgangspunkt nehmend, beginnt die sequentielle Interpretation, die dem konventionellen Lesemuster jener Kultur folgt, an der eine spezifische ComicForm teilnimmt. Neue Interpretationen schließen frühere Interpretationen mit ein, indem sie auf ihnen aufbauen und sie modifizieren – oder indem sie diese in manchen Fällen in Frage stellen oder gar verneinen.

3 E L B UENO DE C UT TL AS CONTR A B EN EL G ORDO Der Comic El Bueno de Cuttlas contra Ben el Gordo ist eine Kreation des spanischen Künstlers Calpurnio. Es ist Teil einer Serie von Comics, die alle denselben Protagonisten teilen: Cuttlas. Die Cuttlas-Geschichten sind zum ersten Mal 1982 im eigenen Fanzine des Autors (El Japo) erschienen und seitdem in einigen anderen Magazinen veröffentlicht worden (Makoki 1a 1983, La Luna de Madrid 1984, El Víbora 1987, Makoki 2a 1989; vgl. Cuadrado 1997). Seit 1994 erscheint er wöchentlich in der bedeutenden spanischen Tageszeitung El Pais, und zwar in der Freitagsbeilage für Jugendliche, auch El Pais de las Tentaciones genannt. Wie ich bereits erwähnt habe, ist das erste Zeichen der Scan der Seite. Abbildung 1 wird als Comic interpretiert, weil der_die Leser_in das Panel-Setup und die Zeichnungen innerhalb der Panels erkennt. Wenn ich mich bezüglich der starken narrativen Konvention nicht irre, ist Teil dieser Interpretation bereits die Erwartung einer Geschichte. Der Zeichenstil ist sehr stark vereinfacht: Es gibt keinen Hintergrund und die Darstellung der Charaktere ist extrem simpel gehalten. Was Genre oder Typus betrifft, muss man den Comic, aufgrund seiner Simplizität nahe dem Zeitungscomicstrip ansiedeln. Comicstrips tendieren zu einer humorvollen Pointe im letzten Panel, die von zwei bis drei Panels aufgebaut wird. Es gibt weder den Platz noch die Notwendigkeit von elaborierten Settings und Charakterbeschreibungen, und die simplen Zeichnungen vermeiden, die Aufmerksamkeit vom Witz abzulenken. Der Kontext der Tageszeitung unterstützt ebenfalls die Simplizität, da hier Comics sozusagen in Klammern zwischen den Tagesnachrichten gelesen werden und schnell und einfach verstanden werden müssen. Der simple Stil, wie auch der ursprüngliche Kontext (Beilage einer Zeitung), rufen die Erwartung einer witzigen Pointe hervor, obwohl es sich nicht um ein traditionelles Stripformat handelt, obwohl also nicht alle Panels auf einer Linie angesiedelt sind. 12 Unsere schwarz-weiße Reproduktion ist insofern nachteilig als im Original-Comic der fettere der beiden Charaktere gelb ist, der andere hingegen so weiß wie der Hintergrund. Dadurch fällt der fette gelbe Charakter, fünfmal wiederholt, ins Auge. Die westliche kulturelle Lesekonvention verlangt den Beginn der sequentiellen Panel-Interpretation in der oberen linken Ecke. Das nächstliegende Zeichen im Prozess ist in diesem Falle wie so oft der Titel. Der Titel selbst muss als symbolisch

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angesehen werden, da Kenntnisse des spezifischen Sprachcodes notwendig für sein Verständnis sind. Als konventioneller Zeichentypus wird außerdem von Titeln erwartet, dass sie ausdrücken, worum es im Comic geht, was sie wiederum zu einem symbolischen Zeichen macht. Dass der Titel notwendigerweise zu Beginn eines Textes platziert werden muss, macht ihn zu einem ikonisch-diagrammatischen Zeichen. Er ist überdies ein indexikalisches Zeichen, da er auf die Geschichte verweist. Der Unterschied in Schriftgröße und -farbe lässt Bens Namen gegenüber dem von Cuttlas hervortreten. Denkt man an andere CuttlasGeschichten, die alle Cuttlas als Haupthelden teilen, dann suggeriert die relative Wichtigkeit, die Ben im Titel gegeben wird, dass in dieser Geschichte der Fokus auf jener Person liegt, die der Hauptfigur entgegentreten wird. Indem Ben eine Bedrohung für Cuttlas darstellt, wird Dramatik geschaffen. Ben ist fett, zumindest wenn man nach seinem Spitznamen geht. Das legt natürlich wiederum die Interpretation nahe, dass die großen Lettern ihn als fett im Vergleich zu dem nicht-fetten Cuttlas aufzeigen. Da die fette gelbe Figur uns bei einem ersten globalen Blick ins Auge gesprungen ist, schließen wir daraus schnell, dass diese Figur Ben der Fette sein muss. Die Unterschiede in Schriftgröße wie auch in der Größe der Personen sind ikonisch-diagrammatisch. Aus der Interpretation von Panel 1 erfolgt, dass Ben der Fette auf der linken Seite Cuttlas auf der rechten Seite auffordert, stehen zu bleiben. Dies ergibt sich aus einer Inferenz zwischen der Interpretation des Titels und Panel 1. Die oben erwähnte Kombination von Indexikalität, Symbolizität und Ikonizität des Titels macht es plausibel, dass die zwei Figuren, auf die im Titel verwiesen wird, dieselben sind wie in Panel 1. Die Hauptcharaktere einer Geschichte werden zwar nicht notwendigerweise im ersten Panel vorgestellt, aber in einem kurzen Comic wie diesem gibt es keinen Platz dafür, Charaktere einzuführen, die nicht zentral für dieselbe sind. Da der Mann links den Mann rechts »Cuttlas« ruft, begreifen wir, wer welchen Namen trägt. Sein Rufen zusammen mit seiner Körperhaltung sind indexikalische Zeichen, die auf Cuttlas deuten. Dass Cuttlas’ Hut sich hebt bedeutet als indexikalisches Zeichen, dass er zugibt, den Ruf gehört zu haben. Der frei in der Luft schwebende Hut ist als Variation gemeinhin benutzter visueller Metaphern ebenso ein symbolisches Zeichen. Er könnte zum Beispiel eine Variation der Metapher »sein Haar stand ihm zu Berge« darstellen, wenn auch mit einer vermutlich leicht anderen Bedeutung. Hier wird eher auf Überraschung als auf Furcht hingewiesen. Wenn Cuttlas auf der rechten Seite steht, kann Ben nur jener auf der linken Seite sein, was noch dadurch unterstrichen wird, dass dieser Charakter deutlich dicker als Cuttlas ist. Die Identifikation der Charaktere könnte aber auch umgekehrt erfolgen, indem der Initialscan zusammen mit dem Titel den Mann auf der linken Seite als den fetten Ben kennzeichnet, woraufhin der Mann rechts nur Cuttlas sein kann. Die Wiederholung der Diagramme kreieren gemeinsam mit der Farbgebung Bens eine Überfülle an Zeichen, die alle dieselbe Interpretation nahe-

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legen. Denken wir an die Einleitung dieses Artikels zurück, in der ich auf die Relevanz der Betrachtung der unterschiedlichen Zeichen im Sinne ihrer Interaktion hingewiesen habe: Dann ist dies ein Beispiel dafür, wie Zeichen miteinander als Netzwerk interagieren, das Relationen zwischen unterschiedlichen Zeichen erschafft, die dann mehr oder weniger simultan interpretiert werden. Weiter oben ist beschrieben worden, wie die zwei Figuren als Ikonen (Diagramme) in Beziehung zueinander stehen: Der Umfang einer Figur im Vergleich zu der anderen bezeichnet, wer wer ist. Aber die zwei Charaktere sind ebenso individuelle Ikonen. Die Zeichnungen von Ben und Cuttlas sind sehr einfach gehalten, aber sie sind noch immer als menschliche Wesen zu erkennen. Sie sind ikonische Zeichen im Sinne einer materiellen Ähnlichkeit mit dem Objekt (menschliches Wesen), wenn auch in einer extrem simplifizierten Form. Sehr wenig könnte ausgelassen werden, bevor die Zeichnungen nicht mehr menschlichen Wesen ähneln würden – vermutlich nur die Hüte und vielleicht die Füße. Die Simplifizierung der Zeichnungen bedeutet, dass es sich ebenso um symbolische Zeichen handelt. Im Fall einer extremen Simplifizierung wie in Abbildung 1 können die Merkmale oder Elemente, die zur Repräsentation eines menschlichen Wesens notwendig sind – oder eines Radios oder Hauses – von Kultur zu Kultur variieren. Bevor ich die sequentielle Analyse fortsetze, würde ich gerne ein anderes der individuellen Zeichen des Comics kommentieren, namentlich die Sprechblasen. Der Comic ist ein »stummes« Medium innerhalb dessen eine Reihe von symbolischen Zeichen entwickelt worden sind, um Geräusche darzustellen – und eines davon ist die Sprechblase. Die obige Analyse basiert teilweise auf der Interpretation, dass Ben spricht, was verstanden wird, weil der Pfeil der Sprechblase auf ihn zeigt. Das macht aus der Sprechblase sowohl ein indexikalisches als auch symbolisches Zeichen. Dass er schreit, ist eine Interpretation, die sowohl auf dem Ausrufezeichen (symbolisch) als auch der dickeren Schrift (ikonisch-diagrammatisch) beruht. Bens Sprechblase im letzten Panel ist ein gutes Beispiel für eine Sprechblase als Diagramm. Der Pfeil unterscheidet sich von den anderen Pfeilen der Sprechblasen und ist ein ikonisch-diagrammatisches Zeichen für die Worte (»Ein…Kamm?«), die in einem anderen Stimmlaut gesagt werden als der Rest des Dialogs. Bedenkt man die Situation bzw. den Kontext Bens, kann man dies als Überraschung interpretieren, möglicherweise vermischt mit Angst. Als Diagramm sagt es in genau demselben Maße etwas über den Stimmlaut des Rests des Dialogs aus – dieser ist »normal« oder zumindest nicht überrascht – wie über sich selbst. Die Interpretation des zittrigen Pfeils als Ikon für den Stimmlaut ist natürlich nur möglich, weil es auf den oben erwähnten Konventionen zur Geräuschvisualisierung basiert. Kehren wir nun zur Interpretation der Sequenz zurück: Wir sehen, dass die Interpretation von Panel 1 die Erwartung der Geschehnisse in dem bzw. den nächsten Panels mit einschließt, was wiederum darauf zurückzuführen ist, dass

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diese Interpretation von einem narrativen Schema oder einer Geschichts-Struktur geleitet ist. Die Erwartungen sind an diesem Punkt allerdings spezifischer, auch weil das spezifische fiktive Universum offensichtlicher ist. Die Cowboyhüte, gemeinsam mit den amerikanisch klingenden Namen und Spitznamen (Ben el Gordo, El Bueno de Cuttlas) helfen, im Geist der Leserin oder des Lesers ein Wildwest-Universum zu erschaffen. Mit einem Western-Universum werden konventionellerweise eine Reihe von Handlungsschemata und Motiven assoziiert. Diese leiten die Erwartungen an die Geschichte an. Die Erwartung dessen, was folgen wird, basiert allerdings auch auf der spezifischen Aktion in Panel 1. Auf Fresnault-Deruelle verweisend, beschreibt Peeters ein Panel als »Bild im Ungleichgewicht« zwischen jenem, das ihm vorangeht und jenem, das ihm folgt (vgl. Peeters 1998: 22; Fresnault-Deruelle 1994). Die Zeichnungen eines Panels rufen eine Erwartung auf »mehr« hervor, da dieses nicht als autonom interpretiert wird. Panel 1 steht bereits mitten im Geschehen und die Erwartungen dessen, was kommt, basieren auf dem Wissen um menschliche Handlungsabläufe in Kombination mit der spezifischen Erwartung an die Geschichte. Die Möglichkeiten dessen, was nun passieren wird, sind beschränkt. Sollte sich Ben in Panel 2 umdrehen und weggehen, ginge dies sowohl wider jegliche menschliche Handlungsabläufe als auch wider narrative Konventionen und wider die Interpretation des Titels. Das bedeutet nicht, dass es nicht passieren könnte, sondern lediglich dass es den Erwartungen entgegenliefe, die sich auf Geschichts- und Handlungs-Strukuren stützen. Nebenbei sei erwähnt, dass man in Panel 1 die akzeptierte Praxis beobachten kann, eine längere Zeitspanne innerhalb eines Panels darzustellen: Sowohl Bens Aktion – das Rufen – als auch die Reaktion – Cuttlas’ Hut, der sich hebt – werden innerhalb dieses einen abgeschlossenen Raumes verstanden. Das Phänomen wird von Gubern beschrieben, der das Panel einen »andauernden Moment« [un instante durativo] nennt (Gubern 1992: 2), sowie von Thierry Groensteen in seiner Aussage, dass »das Panel eine elastische Dauer verdichte und manchmal eine simultane Repräsentation konsekutiver Momente eröffne« (Groensteen 1986: 53). Dass Bilder in Comics Standbilder von Geschehnissen sind, aber als in sich abgeschlossenes Geschehen interpretiert werden, kann als metonymisch oder indexikalisch bezeichnet werden – in dem Sinne nämlich, als ein Standbild auf ein abgeschlossenes Geschehnis verweisen kann. Es ist jedoch eine andere Form der Indexikalität als jene, die zum Beispiel im Falle des schwebenden Hutes oder der Sprechblasen arbeitet. Dieser Unterschied müsste in einer tiefergehenden Spezifikation der Indexikalität in Comics berücksichtigt werden. Die Erwartung einer Konfrontation wird in Panel 2 befriedigt, in dem Ben Cuttlas zu einem Duell herausfordert. Der Konflikt, auf den im Titel des Comics hingewiesen wird, wird klargestellt. Das Duell unterstützt die Interpretation des Universums als Wildwest-Universum. Es wird nun im Folgenden eine Art

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Reaktion Cuttlas’ auf Bens Herausforderung erwartet. In den nächsten Panels wird deutlich, dass Cuttlas nicht versteht, wovon Ben spricht: Er ist mit den Konventionen des Duells nicht vertraut, die wir als Allgemeinwissen eines Cowboys annehmen. Vor allen Dingen ist Cuttlas die Konvention unbekannt, dass es die herausgeforderte Person ist, die die Waffen wählt. Die Leser_innen-Erwartung wendet sich hier von der Frage ab, wer das Duell denn gewinnen werde, und wendet sich stattdessen Cuttlas’ Mangel an Verständnis zu. Dank der Inferenz zwischen Panel 4 und Panel 5 kann die fehlende Zeitspanne, während der Cuttlas sich Waffen besorgt hat, von der Leser_in als solche akzeptiert werden. Cuttlas hat einen Kamm für Ben ausgewählt und zwei Pistolen für sich selbst. Unser Verdacht bestätigt sich, dass Cuttlas die Duellkonventionen nicht kennt – oder dass er möglicherweise einfach sehr viel gewitzter ist als Ben. Den Witz des Comics zu erkennen setzt ein Wissen um die Konventionen der Wildwest-Duelle voraus, und es ist dieses Wissen, das erlaubt, den Kamm als ein vollkommen unpassendes und dem Kontext fremdes Element zu identifizieren. Der Humor liegt darin, dass Cuttlas sich über Ben lustig macht, der seinerseits eine Institution innerhalb des Wildwest-Universums repräsentiert: das ehrenhafte Duell. In diesem Sinne greift die Interpretation auf Erfahrungen oder auf das Wissen um andere Texte – Filme, Romane, Comics – zurück, ohne deren Kenntnis dieser Comic nicht witzig wäre.

4 K ONKLUSION Zu Beginn des Artikels habe ich argumentiert, dass das peircesche Zeichen eine präzisere und umfassendere Beschreibung der Comic-Zeichen bieten könnte als die Dichotomie von ikonischen und symbolischen Zeichen der europäischen Semiotik. Die Verwendung des peirceschen Zeichens führt dazu, sich auf den Interpretationsprozess und auf die Interaktion zwischen unterschiedlichen Zeichentypen sowie die Interaktion zwischen den Panels zu konzentrieren. Bei der Interpretation des Comics war es relevant, die Formen globaler Kohärenz zu besprechen, die zwischen den Zeichen kreiert werden. Ich habe die Frage gestellt, ob Comics als narrativ zu definieren sind oder nicht. Ich habe weiters argumentiert, dass in Hinblick auf den spezifischen historischen und sozialen Kontext von Comics, die Konvention, Comics als narrative Erzählform zu verstehen, selbst wenn nicht definitorisch, so doch zumindest ein Ausgangspunkt für unsere Interpretation derselben sein kann. Ich habe vorgeschlagen, Teile des discourse comprehension model von Van Dijk und Kintsch zu verwenden, um die Methode der Schaffung globaler Kohärenz in Comics zu beschreiben. Nach dieser einführenden Diskussion der Terminologie und der Definitionen habe ich den Comic El Bueno de Cuttlas contra Ben el Gordo analysiert, und gezeigt, wie die peircesche Unterscheidung zwischen Ikon, Index und

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Symbol verwendet werden könnte, um einige Probleme bei der Beschreibung jener Zeichen wie zum Beispiel der Sprechblase zu lösen, die für das Konzept der Bild/Text-Dichotomie »problematische« Zeichen sind. Ebenso kann diese Unterscheidung sich beim Phänomen jener linguistischen Zeichen als hilfreich erweisen, welche Eigenschaften besitzen, die nicht zufriedenstellend als symbolisch beschrieben werden können. Grundsätzlich habe ich das Konzept der Bild/Text-Dichotomie bei allen Zeichen des analysierten Comics in Frage gestellt, auch bei jenen Zeichen, die sich nach der europäischen Semiotik leichter in die Unterscheidung von ikonischen und symbolischen Zeichen einfügen würden wie zum Beispiel den Zeichnungen von menschlichen Wesen. Diese könnten präziser beschrieben werden, verwendete man dafür sowohl das Symbol und den Index als auch das Ikon. Das Konzept des Index hat sich sowohl in der Beschreibung einzelner Zeichen wie der Sprechblase als auch in der Interaktion unterschiedlicher Zeichen als nützlich erwiesen. Bezüglich der Anwendung der peirceschen Semiotik auf Comics bleibt jedoch noch viel zu tun. In der Analyse wurde beispielsweise auf eine Klassifikation der Verwendung des Index im Comic hingewiesen. Diese Klassifikation könnte zum Schluss führen, dass Comics, obwohl sie aus symbolischen und ikonischen Zeichen in allen möglichen Kombinationen bestehen, möglicherweise primär indexikalisch sind.

A NMERKUNGEN 1 | A. d. Hg.: Anne Magnussens Artikel mit dem Originaltitel »The Semiotics of C.S. Peirce as a Theoretical Framework for the Understanding of Comics« erschien 2000 in der von Anne Magnussen und Hans-Christian Christiansen herausgegebenen Anthologie Comics & Culture. Analytical and Theoretical Approaches to Comics. Vgl. Magnussen, Anne (2000): »The Semiotics of C.S. Peirce as a Theoretical Framework for the Understanding of Comics«. In: Anne Magnussen/Hans-Christian Christiansen (Hg.), Comics & Culture. Analytical and Theoretical Approaches to Comics, Copenhagen: Museum Tusculanum Press, S. 193-207. Die erstmalige Übersetzung des Textes ins Deutsche von Elisabeth Klar erfolgt mit leichten Kürzungen und der freundlichen Genehmigung der Autorin. 2 | Titel: Cuttlas der Gute vs. Ben der Fette. Panel 1: Bleib sofort stehen, Cuttlas! Panel 2: Ich fordere dich zu einem Duell heraus. Panel 3: Du wählst die Waffen. Panel 4: Für uns beide?/Natürlich. Panel 5: Ein… Kamm?/Sprich deine Gebete. 3 | Peirce schließt das Konzept der »Veranlassung« [ground] nicht immer in die Definition des Zeichens ein und der Status dieses Konzeptes ist unter Peirce-Expert_innen umstritten. Ich selbst werde es in die Verwendung des peirceschen Zeichens in diesem Artikel nicht einschließen.

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A NNE M AGNUSSEN 4 | Svend Erik Larsen definiert das Bild als »partielle materielle Identität zwischen Zeichen und Objekt« und das Diagramm als »relationale Identität zwischen Teilen des Objekts und Teilen des Zeichens«. Originalzitate: »Partial material identity between sign and object…« und »relational identity between parts of the object and parts of the sign…«. Svend Erik Larsen (1991): »Manet, Picasso, and the spectator: identity or iconicity?«. In: Face. Número especial 1:93-113/agosto 1991, S. 99. 5 | Originalzitat: »La bande dessinée est […] l’art de raconter au moyen d’une suite de dessins formant récit…«. 6 | Originalzitat: »[the comic strip] is a narrative in the form of a sequence of pictures…«. 7 | Originalzitat: »l’un des traits plus characteristiques de la bande dessinée est de proposer la mise ensemble d’une narration par images fixes et d’une segmentation de la page«. 8 | Originalzitat: »La BD, c’est avant tout un dessin qui evolue d’image en image […] a finalité le plus souvent narrative«. 9 | Originalzitat: »Los comics pueden definirse, en sentido amplio, como una secuencia espacial […] con la finalidad de articular une descripción o una narración« . 10 | Scott McCloud bezeichnet den Comic als Medium. Vgl. Scott McCloud (1993): Understanding Comics. The invisible Art, Northampton/MA: Kitchen Sink Press Inc, S. 6. Das könnte darauf hinweisen, dass der Unterschied darin besteht, den Comic entweder als unabhängiges Medium und damit als nicht unbedingt narrativ zu verstehen, oder aber als Genre und damit als narrativ. Diese Unterscheidung hält aber insofern nicht stand, als manche Forscher_innen den Comic einerseits als selbstständiges Medium und andererseits gleichzeitig als narrativ beschreiben. Vgl. Roger Sabin (1993): Adult Comics. An Introduction, London/New York: Routledge; Benoît Peeters (1998): Case, planche, récit. Lire la bande dessinée, Paris: Casterman. 11 | Dass der Gesamteindruck der Seite vor der sequentiellen Interpretation erfolgt, wird im folgenden Zitat erläutert: »Wir wissen alle, dass zuerst eine erste globale Lektüre erfolgt: Man lässt sich von der Stimmung durchdringen, vom generellen Sinngehalt, der sich auf den zwei Seiten eröffnet. Dieser schnelle zirkulierende Blick beginnt oben links und setzt sich in Richtung unten rechts fort. Danach beginnt der echte Moment der Lektüre.« Originalzitat: »Nous savons tous qu’il y a d’abord une première lecture globale: on se laisse imprégner par l’ambiance, par le sens général qui s’offre sur les deux planches. Ce regard rapide circule à partir du haut à gauche et se poursuit vers le bas à droite. Puis vient le moment réel de la lecture.« Jean-Claude Forest zitiert nach Benoît Peeters (1998): Case, planche, récit. Lire la bande dessinée, Paris: Casterman, S. 15. 12 | Dass der Comic nicht länger als eine Seite ist, wäre in der Tageszeitung offensichtlich. Ebendies ist sowohl in dieser Publikation weniger deutlich, als auch im ComicSammelband desselben Autors, welchem wir dieses Beispiel entnehmen (vgl. Calpurnio 1996). 13 | Originalzitat: »La vignette […] ›condense‹ une durée élastique et, parfois, propose une représentation sumultanée de moments consécutifs«.

D IE S EMIOTIK VON C.S. P EIRCE ALS THEORETISCHES R AHMENWERK FÜR DAS V ERSTEHEN VON C OMICS

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Dies ist keine Bildergeschichte Über Michel Foucault, René Magritte und George Herrimans Krazy Kat-Comics Jens Balzer

Comics sind ein modernes Medium des Erzählens mit Bildern und Texten. Diese Definition klingt simpel. Doch sie hat es in sich. Was bedeutet es, ›mit Bildern und Texten‹ zu erzählen? In welcher Beziehung müssen sich diese verschiedenen Zeichensorten befinden, damit aus ihnen ein Comic entsteht – und nicht nur ein Text mit Illustrationen oder eine Bildergeschichte? Gibt es eine besondere Qualität der Bild-Text-Verbindung im Comic, die diesen von anderen Bild-Text-Verbindungen unterscheidet? Und wenn ja – kann man sagen, dass sich in diesem Unterschied eine historische Errungenschaft niederschlägt, eine kulturgeschichtliche Neuerung gegenüber früheren Formen der Verbindung von Bildern und Texten? Ist diese Neuerung ein Ergebnis von ästhetischen Modernisierungsprozessen? Das sind die Fragen, auf die ich im folgenden Essay eine Antwort zu geben versuchen will; für eine Theorie des Comics scheinen sie mir sowohl in semiologischer als auch in historischer Perspektive zentral. Den Begriff der ästhetischen Modernität entlehne ich dabei bei Michel Foucault und Gilles Deleuze, insbesondere bei Foucaults kleiner Schrift über die Pfeifenbilder von René Magritte – die ja ihrerseits nicht lediglich ›Bilder‹, sondern Verbindungen von Bildern und Texten sind. Sind sie also Comics? Zumindest wirft ihre semiologische Analyse ein helleres Licht auf einige der frühsten und schönsten Beispiele dessen, was man mit Fug und Recht ›moderne Comics‹ nennen kann. Das will ich in einem zweiten Schritt zeigen: in der exemplarischen historisch-semiologischen Analyse einer Comic-Seite aus George Herrimans Serie Krazy Kat. »Zwei Prinzipien«, so schreibt Michel Foucault in seinem Aufsatz über die Bilder René Magrittes (Foucault [1973] 1997: 25), haben die klassische Kunst »beherrscht«, vom 15. Jahrhundert bis zum 19. Jahrhundert, von der Renaissance bis zum Beginn der Moderne. Das erste Prinzip ist eine Dichotomie: die strik-

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te, unhintergehbare Trennung von »figürlicher Darstellung« und »sprachlicher Referenz«, von visueller Ähnlichkeit und linguistischer Arbitrarität, von Bild und Text. Weil sie die Relationen zwischen Signifikanten und Signifikaten auf das Prinzip der Identität verpflichtet, muss die klassische Ästhetik den Unterschied in der zeitlichen Konstitution von Signifikanten – die Simultaneität des Bildes gegenüber der Sequentialität des Textes – in eine Komplementarität der Kunstgattungen übersetzen. So soll die Malerei bloß simultane Ereignisse, die Literatur allein sequentielles Geschehen repräsentieren. Zwar gibt es Mischformen, Zwitterwesen, Bastarde, in denen simultane und sequentielle Signifikanten, Bilder und Texte aufeinander treffen. Doch sind derart hybride Darstellungen nur unter der Bedingung zugelassen, dass sie die verschiedenen Arten von Signifikanten in einem hierarchischen Verhältnis halten: »Entweder wird der Text vom Bild reguliert (wie zum Beispiel in den Darstellungen eines Buches, einer Inschrift, eines Briefes, eines Namens); oder das Bild wird dem Text untergeordnet (wie in den Büchern, in denen die Zeichnung die wörtliche Darstellung abschließt oder abkürzt).« (Ebd.: 25) Das heißt: Entweder muss es so scheinen, als wären Bild und Text bereits vor aller Darstellung in deren identischem Referenten verschränkt; oder aber sie werden als disparate Weisen der Referenz erst im gemeinsamen Signifikat aufeinander bezogen – indem der Text als Legende das Geschehen im Bild erläutert oder das Bild als Illustration den Text supplementiert. Entscheidend ist: In jedem Fall wird die Begegnung von Text und Bild aus dem Signifikanten hinausgedrängt auf die Ebene des Referenten oder auf die Ebene des Signifikats. »In welcher Richtung die Unterordnung auch verlaufen mag und wie immer sie sich fortsetzen, vervielfältigen und umkehren mag: wesentlich ist, dass das sprachliche Zeichen und die visuelle Darstellung niemals mit einem Schlag gegeben sind. Immer werden sie durch eine Ordnung hierarchisiert, die entweder von der Form zum Diskurs oder vom Diskurs zur Form geht.« (Ebd.: 25f.) Auf welchem Wege auch immer müssen die Verfahren der klassischen Ästhetik vermeiden, die – wie es Foucault formuliert – Figur des »Kalligramms« zu erzeugen: die Ununterscheidbarkeit von Bildern und Texten im Signifikanten. Niemals darf die klassische Ästhetik in die »Falle eines zweifachen Zeichensystems« gehen (ebd.: 12). Niemals darf die Signifikant-Signifikat-Relation als Relation unentscheidbar werden, und das heißt: Immer muss der Blick des_r Betrachter_in jene wesentliche Wahrnehmungsweise bestimmen können, in welcher die komplementäre Wahrnehmung sinnhaft aufgehoben ist – ob im simultanen Überblick über die Komposition (das Bild) oder im sequentiellen Gleiten an den Signifikantenketten (am Text) entlang. Oder anders gesagt: Die Weise der Subjektivität, die der klassischen Ästhetik eingeschrieben ist, ist konstitutiv souverän und zentriert. In der Homogenität des Blicks als Conditio sine qua non der ästhetischen Wahrnehmung spiegelt sich das zweite Prinzip der klassischen Kunstlehre wider: Sind sämtliche ästhetische Verfahren auf die Identität eines gegebenen

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Referenten und eines repräsentierenden Signifikats verpflichtet, muss die Materialität des Signifikanten als vermittelnde Differenz in der Repräsentation vollständig verschwinden. Gerade weil jeder klassischen Darstellung immer das Prinzip der Repräsentation zugrunde liegt – »das, was man hier sieht, ist das da« (ebd.: 27) –, dürfen ihre Signifikanten in niemals mehr als einer bestimmten, homogenen Relation (einem, wie es Gotthold Ephraim Lessing in seiner Laokoon-Schrift nennt, »bequemen Verhältnis«, Lessing 1893: 96) zu ihren Signifikaten stehen. Jede Verdopplung, Ambivalenz, Unentscheidbarkeit würde den Blick, der die Signifikanten bloß »für etwas anderes« nehmen möchte, an deren innerer Differenz auf die Konstitution der Darstellung selber lenken – und die Subjektivität des_r Betrachter_in damit in ihrer Souveränität über das Bild in Frage stellen, sie der Gefahr der Dezentrierung aussetzen. In der Malerei der frühen Moderne nun ortet Foucault die noch frischen Spuren jenes epistemologischen Bruchs, der die klassische Ästhetik von der modernen trennt und der gerade im Bindungsverlust der repräsentationistischen Prinzipien und der Dezentrierung des betrachtenden Subjekts besteht (vgl. Foucault [1966a] 1971: 26, 269ff.). Bei Kandinsky, Klee und Magritte unterscheidet er drei verschiedene Verfahren, den homogenen Darstellungsraum des klassischen Bildes zu desintegrieren und die Entscheidbarkeit der Signifikant-Signifikat-Relationen als Repräsentation eines identischen Referenten zu unterminieren. Alle drei stören den souveränen Blick als homogene Wahrnehmung ihrer Bilder, indem sie die klassische Normierung der Signifikant-Signifikat-Relationen überschreiten und die Hierarchisierung von ›Schauen‹ und ›Lesen‹, von simultanem und sequentiellem Blick, durch verschiedene Formen der Indifferenz im Signifikanten ersetzen. So ist in Klees Darstellungen deren ›richtige‹ Relation zum Sinn durchweg unentscheidbar: Sind es Bilder? Sind es Schriftzeichen, die aus den linearen Bezügen des Alphabets heraus sich über die Darstellung verstreut haben – aber dennoch eher einer Syntax als einer Komposition gehorchen? In einer endlosen Bewegung gleiten Klees Signifikate auf der Oberfläche seiner ›Bilder‹ entlang, ohne dass sie jemals eindeutig an einen Referenten vermittelt werden könnten. Zwar bleiben die Signifikanten in einer gewissen Weise ›vermittelnd‹, aber sie haben immer ›zu viel‹ Referenz inkorporiert, als dass sie einfach nur repräsentieren könnten. Weil dieser notorische Überschuss auf immer wieder andere Möglichkeiten verweist, in denen sich Signifikanten und Signifikate ›auch noch‹ miteinander verbinden könnten, kann sich ihre Gesamtheit niemals auf einen identischen Referenten außerhalb der Darstellung beziehen. Bei Kandinsky ist es gerade umgekehrt: In seinen Bildern gibt es immer etwas ›zu wenig‹ an Referenz. Muss man Klees Signifikanten sowohl sehen als auch entziffern, scheinen die Signifikanten Kandinskys letztlich weder die eine noch die andere Wahrnehmungsweise nahezulegen. Weil er auf die ursprüngliche »Geste« hinweisen will, die die Signifikanten geschaffen hat, versucht er deren Referenz gänzlich zu tilgen. Kandinsky gibt kein ›Bild‹ mehr zu sehen,

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jedenfalls keines, das ein Bild von etwas anderem wäre – also etwas repräsentieren würde, was bereits ›vor‹ dem Bild in der Welt gewesen ist. Sein Ziel ist es, den Signifikanten als solchen, in seiner dem Sinn, und das heißt jeder besonderen Wahrnehmung gleichermaßen vorausgehenden Materialität zum Gegenstand der Darstellung zu machen. Mit dieser absoluten Indifferenz von ›Zeigen‹ und ›Nennen‹, ›Schauen‹ und ›Lesen‹ wird die von der klassischen Ästhetik eigentlich gewünschte Identität der Darstellung ins Abstruse überdreht: ins reine Nichts. Der Signifikant verweist bloß noch auf sich selbst. So verschwindet alles. Die größte Sympathie nun hegt Foucault naheliegenderweise für das dritte Verfahren – die ›subversive‹ Technik Magrittes, in welcher der semiologische Überschuss Klees und der komplementäre Mangel Kandinskys aneinander in die Aporie getrieben werden. Zwar fügt sich Magritte mit seiner säuberlichen Abbildung 34: Dies ist keine Pfeife (Foucault 1997)

Trennung von Bild- und Text-Signifikanten scheinbar den Prinzipien der Repräsentation – gleichwohl bloß, um diese dann »insgeheim« (Foucault [1973] 1997: 28), vom Signifikant und dem Referenten zurückkehrend, um so nachhaltiger zum Einsturz zu bringen.

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In seinen Pfeifenbildern konstelliert er durchweg konventionell (gegenständlich) gehaltene Bilder von Pfeifen mit kommentierenden Texten, die deren scheinbar ›bildliche‹ Referenz negieren: »Dies ist keine Pfeife.« Dabei vereitelt die gemeinsame Rahmung von Bild und Text den naheliegenden Versuch, diese angesichts ihrer widersprüchlichen Referenzen der Einfachheit halber gar nicht aufeinander zu beziehen. Im Gegenteil. Durch den Rahmen wird den komplementären Signifikanten und Referenzen eine Identität aufgezwungen, die als ›unmögliches‹ Signifikat (›Pfeife‹ und ›Nicht-Pfeife‹ in einem) die Prinzipien der klassischen Ästhetik säuberlich auf den Kopf stellt. Aus der Identität der Repräsentation verschiebt Magritte die Identität der Darstellung in die blanke »Nicht-Beziehung« (Deleuze [1986] 1987: 88f., 94f.) des Rahmens, welche die Signifikanten diesseits des ›Sinns‹ zueinander zwingt – während ihre gemeinsame Aufhebung in der vom Rahmen scheinbar vorausgesetzten Repräsentation, im Verweis auf einen dem Bild vorausgesetzten identischen Referenten demonstrativ verunmöglicht wird. Gerade durch ihre überpointierte Unentscheidbarkeit in der Referenz werden Magrittes Darstellungen paradoxerweise zu identischen Signifikanten, an denen ›Bild‹ und ›Text‹ bloß noch indifferieren. In dieser Umkehrbewegung treibt Magritte jene Aporien auf die Spitze, die notwendigerweise entstehen, wenn nicht mehr das Primat des Signifikats die Verschränkung von Bildern und Texten dominiert, sondern das Primat der Indifferenz; nicht mehr die Logik des Sinns, sondern die Logik des Signifikanten, welcher der Einheit des Sinns notwendig vorausgesetzt ist, diese aber gerade nicht zwangsläufig garantiert. So travestieren seine Bild-Text-Verhältnisse gleichsam jenes ›Scheitern der Repräsentation‹, welches Foucault und besonders auch Gilles Deleuze als Zeichen des Übergangs von der klassischen zur modernen Ästhetik identifiziert haben – den »Verlust der Identitäten«, die »Entdeckung all der Kräfte, die unter der Repräsentation des Identischen wirken« (Deleuze [1968] 1992: 11). In der Moderne, heißt es, bedeutet dies für die Ästhetik: Wie gleichsam jede angeblich authentische Identität ist auch die Einheit der Repräsentation lediglich simuliert. Sie entpuppt sich als Effekt einer Vielzahl von Differenzen und Instabilitäten, deren subversive Kräfte die klassische Ästhetik noch mühsam zu bannen versucht – durch prinzipielle Beschränkungen bei der Konstitution und Verbindung von Zeichen. Nun ist es ja mitnichten das Verdienst weniger Meisterkünstler wie Klee, Kandinsky oder Magritte, dass die Bindungskraft der repräsentationistischen Prinzipien in der ästhetischen Moderne zur Disposition steht. Tatsächlich wird die klassische Ästhetik von einer Vielzahl kultureller Praktiken bedrängt, die nicht nur ihren institutionellen Hegemonieanspruch bei der Darstellung von ›Realem‹ in Zweifel ziehen, sondern die Krise das klassischen Begriffs von Darstellung auf einer zumeist unthematischen, unbewussten Ebene immer schon operationalisiert haben. Eine der bedeutendsten Praktiken dieser ästhetischen

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Modernisierung ist ohne Frage der frühe Comic: In den Comics, die seit den 1890er Jahren zunächst in den sonntäglichen Unterhaltungsbeilagen amerikanischer Boulevardzeitungen erscheinen, werden Bilder und Texte, simultane und sequentielle Formen der Signifikation in historisch bis dahin einzigartiger Weise ineinander verschränkt, und das heißt in die konstitutive Unentscheidbarkeit getrieben. Von den klassischen Bild-Text-Verbindungen, wie man sie etwa aus der alten europäischen Bildergeschichte kennt, unterscheiden sich Comics gerade dadurch, dass sie die Hierarchie zwischen den Zeichensystemen Abbildung 35: George Herriman, Krazy Kat. Folge vom 28.07.1918 (Herriman [1918] 1989)

und Wahrnehmungsweisen aufheben, dass sie, um Foucaults Formulierung zu variieren, »das sprachliche Zeichen und die visuelle Darstellung« gerade »mit einem Schlag« auflösen: Ob die Hierarchie der Darstellung »von der Form zum Diskurs oder vom Diskurs zur Form geht,« ist in den Comics nicht mehr entscheidbar (Foucault [1973] 1997: 25f.). Von den Bildergeschichten trennt die Comics also gerade jener »epistemologische Bruch«, den Foucault zwischen die klassische und die moderne Ästhetik setzt: Sehen wir uns, um diese These anschaulicher werden zu lassen, eine je-

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ner exemplarischen, aber zugleich hoch reflexiven Comic-Folgen an, mit denen der amerikanische Zeichner George Herriman in den 1910er Jahren zur Leitfigur der Comic-Ästhetik geworden ist. Es handelt sich um eine Seite, die am 28. Juli 1918 veröffentlicht wurde. Sie gehört zu der Serie Krazy Kat, die Herriman seit dem Jahr 1913 bis zu seinem Tod im Jahr 1944 für verschiedene amerikanische Zeitungen produziert hat und deren Protagonist_innen drei Tiere sind, die sich in einem schier unentwirrbaren sexuellen Beziehungsknäuel verstrickt haben. Krazy Kat, eine Katze mit unbestimmbarem Geschlecht, ist unsterblich in den männlichen Nager Ignatz Mouse verliebt; Ignatz allerdings lehnt das Liebeswerben ab und wehrt sich mit Ziegelsteinwürfen, die Krazy Kat verlässlich am Hinterkopf treffen und wegen ihrer passiv-masochistischen Veranlagung fälschlicherweise als Liebesbeweis interpretiert werden: Jedes Mal, wenn der Ziegelstein auf den Katzenkopf trifft, schlägt er ein kleines Herzchen heraus. Der Dritte im Bunde ist Offissa Pupp, der Hüter des Gesetzes im von Katz und Maus bewohnten Wüstenlandstrich Coconino County: Pupp, ebenfalls in Krazy verliebt, inhaftiert den steinewerfenden Ignatz verlässlich nach seiner Tat und sperrt ihn in das örtliche Gefängnis; woraufhin Krazy am Ende vieler Folgen vor dem vergitterten Fenster sitzt und dem eingekarzerten Liebsten traurige Lieder singt (vgl. McDonnell/O’Connell/Riley de Havenon 1986; Frahm/Hein 1991; Balzer 1997; Groensteen 1997; Kalka 1999). Diese komplizierte Dreiecksbeziehung bestimmt den Plot der Krazy Kat-Comics über die 30 Jahre ihres Erscheinens hinweg. Sie wird einmal mehr, einmal weniger prominent repetiert, rückt aus dem Zentrum der Episoden in den Hintergrund; wird abgewandelt, verfremdet, in den verschiedensten Variationen als Quelle des Witzes genutzt. Eines jedoch ändert sich nicht: Als Rahmen der Serie ist das Dreieck gerade Kreis jener Wiederkehr, durch welche die Figuren aneinander gebunden sind – wie es scheint, für immer und ewig, im Regime einer Zwischenzeit, in der die lineare Kausalität aufgehoben ist. Im Nacheinander der Episoden entsteht kein narrativer Zusammenhang; kein Kontinuum, welches sie als fortgesetzte Schilderung eines Geschehens fixiert. Diese Serialität folgt nicht zuletzt den Anforderungen des Mediums, in dem die Krazy Kat-Comics erschienen. Sie wurden in Tages- und Sonntagszeitungen veröffentlicht, werktäglich als Strips zu drei bis fünf Panels (seit 1913) und sonntäglich auf einer ganzen Seite (ab 1916). Als Folgen einer Serie müssen sie einem, wie es scheint, paradoxen Anspruch gerecht werden: einerseits eine Wiedererkennbarkeit garantieren, die das Publikum zur wiederholten Lektüre reizt, andererseits auf eine Weise voneinander unabhängig sein, die auch gelegentlichen Leser_innen den Spaß nicht verdirbt. Darin ist Krazy Kat typisch für die meisten anderen Comics, die seit der Jahrhundertwende im Sport- oder Unterhaltungsteil amerikanischer Zeitungen veröffentlicht wurden. Interessant werden Herrimans Strips aber nun gerade dadurch, dass er die Entäußerungsformen dieser seriellen Ästhetik – Diskontinuitäten, Verschiebungen, Ambiva-

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lenzen – nicht nur im Zusammenhang der einzelnen Episoden belässt, sondern tief in die bildnerischen Darstellungsverfahren eindringen lässt – bis in die Inszenierung der Räume, in denen sich das anti-ödipale Tierdreieck dreht. Kein Comic-Historiograph, keine Comic-Historiographin vergisst, die »surreale« Fremdheit jener »treibenden« Landschaften zu würdigen, welche Herrimans Coconino County kennzeichnen (vgl. Groensteen 1997). Von Bild zu Bild werden die Kulissen gewechselt, Sonne, Wolken, Mond und Sterne tauchen auf und verschwinden; Steine, Felsen, Büsche und Bäume verändern unablässig ihre Morphologie – so unablässig, dass man auch sagen könnte: Dem Blick wird eine Morphologie in fluxus zu sehen gegeben, eine Amorphologie, die bloß angelegentlich im Zustand der Ähnlichkeit zu erkennbaren Dingen innehält. Elizabeth Crocker hat, sehr zutreffend, Herrimans Ästhetik als Verdichtung jener dezentrierten Darstellungsweisen beschrieben, welche der urbanen Erfahrungswelt früher Comics zu eigen sind (vgl. Crocker 1996). Die Heterogenität der Zeichensysteme im Stadtbild, die Vielfältigkeit der Schauplätze und Perspektiven, welche dem betrachtenden Blick gleichzeitig gegenübertreten, zwingen diesen in eine Bewegung, die der fixierten Bewusstseinsförmigkeit klassischer BildBetrachter_innen-Verhältnisse inkommensurabel ist (vgl. Balzer 2010; Balzer/ Wiesing 2010: 28ff.). Wie der Blick des_r urbanen Flaneur_in wird der Blick an den frühen Comics, um mit Walter Benjamin zu sprechen, zerstreut. Was bedeutet dies nun aber für die Beziehung, in der die Comics von Herriman zu den klassischen Begriffen des Bildes und der Erzählung stehen? Sehen wir uns die als Beispiel gewählte Seite einmal genauer an. Hinsichtlich der Verschränkung von Bild und Text, von simultanen und sequentiellen Formen der Signifikantenorganisation, kann man sie ohne Frage genauso betrachten wie Magrittes fast zeitgleich entstandenes Pfeifenbild. Auch hier regiert die Spannung von Zu-sehen- und Zu-lesen-Gegebenem die ›Gesamtheit‹ der Darstellung. Durch den umlaufenden Rahmen wird ein Tableau hergestellt: ein Bild, das aus einer geometrisch geordneten Menge von Bildern besteht. Der Raum innerhalb des Rahmens ist in eine Reihe von Segmenten aufgeteilt, die zwar ihrerseits nicht gerahmt, jedoch durch Spatien mehr oder weniger deutlich voneinander getrennt sind. Gleichwohl fällt dem_r Betrachter_in zunächst nicht die simultane, bildhafte Anmutung der Seite ins Auge, sondern vielmehr ihr sequentieller Aspekt: die Textualität der Bilder. Denn die Segmente, aus denen das Tableau besteht, scheinen anders als bei Magritte in einem eindeutig ausgerichteten, textuellen Zusammenhang zu stehen. Es sind diskontinuierliche Darstellungen eines kontinuierlichen Ablaufs, der sich von links nach rechts und von oben nach unten vollzieht; mit eindeutig markierten Anfangs- und End-Segmenten. Diese Segmente – das heißt die Panels – erzählen eine Geschichte, die sich zwischen zwei der drei Protagonist_innen der Serie abspielt: nämlich Ignatz Mouse und Krazy Kat.

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Vor Beginn der Geschichte wird der Blick freilich auf eine zumeist unthematische Bedingung klassischer Bilder gelenkt. Die Serie der Panels beginnt mit einer Horizontlinie – »vielleicht eines der schönsten Porträts einer ›Horizontlinie‹, die jemals veröffentlicht wurden, vielleicht« (Herriman [1918] 1989: o.P.).1 Erst danach werden die beiden Protagonist_innen eingeführt. Zuerst Ignatz Mouse – »über einem Stück derselben Horizontlinie«; dann Krazy Kat – »unter einer Fortsetzung derselben linearen Zertrennung von Erde und Himmel« (ebd.). Die ungewöhnliche Aufmerksamkeit, die der Horizontlinie durch die dreifach wiederholte Benennung zukommt, wird in den nächsten Panels mehr als gerechtfertigt. Sie wird nicht nur – ganz gegen ihre übliche Funktion im Bild – in die Handlung der Geschichte hineingezogen, sondern sogar zu deren wesentlicher Protagonistin erhoben. Durch die Horizontlinie hindurch beginnt Krazy Kat den unglücklich geliebten Ignatz Mouse erst mit einem, dann mit beiden Fingern an den Füßen zu kitzeln. Ignatz, um dem Gekitzel zu entgehen, stellt sich auf einen Ziegelstein, um dann, als auch das nichts hilft, die Horizontlinie mit einer Axt zu durchschlagen und Krazy Kat darin einzuwickeln. In einer sonderbar selbstverständlichen Oszillation bewegt sich die Horizontlinie im Verlauf der Geschichte zwischen Horizont und Linie hin und her. Um den semiologischen Skandal zu verstehen, den diese Bewegung verbirgt, muss man sich vor Augen halten, dass es sich bei den ersten Panels immerhin um nichts Geringeres als um die Urszene der klassischen Repräsentation handelt – um die ›klassische‹ Konstruktion eines ›Bildes‹, die jeder weiteren Bestimmung entkleidet wurde, aber unter semiologischen Aspekten absolut hinreichend formuliert erscheint. Um Roland Barthes zu zitieren: »Würde man von Begriffen wie ›das Wirkliche‹, die ›Wirklichkeitstreue‹ oder ›Kopie‹ absehen, so bliebe immer noch die ›Abbildung‹, so lange ein Subjekt […] seinen Blick auf einen Horizont richtet und darin die Basis eines Dreiecks ausschneidet, dessen Scheitelpunkt von seinem Auge (oder seinem Geist) gebildet wird.« (Barthes [1973] 1990: 94) Mittels der Horizontlinie werden der Blick des_r Betrachter_in und die Darstellung zueinander in Beziehung gesetzt, man könnte auch sagen: ist der Blick in die Darstellung eingeschrieben. Nach dem Verständnis der klassischen Ästhetik versammelt die Horizontlinie sämtliche Fluchtpunkte der Bildkonstruktion und vermittelt die Darstellung auf diese Weise an den_die Betrachter_in, welche_r dem Bild gegenübersteht. So ist die hier »portraitierte« Horizontlinie nicht allein der »Null-Signifikant« (Deleuze [1969] 1993: 71) der zentralperspektivischen Ordnung, an dem Signifikanten und Signifikate einander korreliert werden – an ihr konstituiert sich auch die Weise der Subjektivität, die der klassischen Darstellung als Betrachter_innen-Leerstelle eingeschrieben ist: die Subjektivität des souveränen Betrachter_innen-Subjekts. Wie die Zentralperspektive dem Betrachter_innen-Subjekt »die Wirklichkeit zum Objekt seines das Ganze simultan überschauenden Blicks macht« (Koschorke 1990: 74), repräsentiert sie die Grenzen dieses Blicks durch den

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Signifikanten eines Mangels, der im Ganzen der Darstellung aufgehoben ist. Als »Limesfigur der Immanenz« (ebd.: 50) materialisiert die Horizontlinie die Grenze der Bewegung des Blicks durch die Fläche des Bildes hindurch in den repräsentierten Raum hinein. Für den Blick ist der Horizont zwar der Signifikant eines konstitutiven Entzugs der Übersicht, doch wird dieser Entzug in der Souveränität über den Ausschnitt in der sinnhaften Geschlossenheit der bildlichen Darstellung sogleich wieder zurückerstattet: In dieser dialektischen Bewegung wird die Souveränität des Blicks zunächst in Frage gestellt, um dann umso gestärkter aus ihr hervorzugehen. Das »Organon der (klassischen) Abbildung« ruht, wie wiederum Roland Barthes formuliert, »auf einem doppelten Fundament«, dessen dialektische Fixierung überdeutlich ist: »auf der Souveränität des Ausschnitts und auf der Einheit des Subjekts, das den Ausschnitt vornimmt« (Barthes [1973] 1990: 94). Das heißt aber: In der Zentralperspektive wird nicht nur das Bild dem souveränen Betrachter_innen-Subjekt unterworfen (vgl. Koschorke 1990: 49f.) – umgekehrt ist auch das Subjekt mit seinem Blick auf das Bild fixiert und an der Bewegung gehindert beziehungsweise von ihr entlastet (vgl. Imdahl 1996: 398f.). Gegen diese doppelte Suspension der Bewegung erscheint die Art und Weise umso frappanter, in welcher der Blick an Herrimans Horizont aus der Bewegung in die Tiefe des repräsentierten Raumes heraus- und eine seitliche (horizontale) Bewegung hineingezwungen wird. Nicht nur wird die Linearität der Horizontlinie als Linie – das heißt ihre eindimensionale Erstreckung und Gerichtetheit – gegen ihre repräsentationale Funktion überpointiert, etwa als »Fortsetzung derselben linearen Trennung von Erde und Himmel, mit ›Krazy Kat‹ darunter« (Herriman [1918] 1989: o.P.). Folgt der Blick dieser horizontalen Bewegung, muss er gewahren, wie auch seine eigene Verstrickung in die Tiefe des Bildes (die er diskontinuierlich wieder aufzunehmen können glaubte) zerfällt. Aus der Konstruktion eines zentralperspektivischen Raumes bewegt sich die Linie in eine plane Zweidimensionalität hinein, in der oben einfach nur noch oben ist – das heißt, in der der Transformationsschritt, weiter oben befindliche Dinge als weiter entfernt wahrzunehmen, nicht mehr funktioniert. Und wenn es danach wieder zurück in einen zentralperspektivischen Raum geht, ist die Linie in diesem plötzlich als Referent mit enthalten: Ignatz kann sie zerhacken und Krazy darin einwickeln. Dennoch wird – geradezu paradoxerweise – in den schriftlichen Kommentaren auf der Identität der Horizontlinie beharrt. Über die vier Einleitungspanels hinweg soll sie, wie gesagt, »dieselbe« sein, eine »Fortsetzung«, letztlich gar »unveränderlich« (Herriman [1918] 1989: o.P.). Nicht nur die positive Organisation der Signifikanten straft diese Beschreibung Lügen – die Linie ist dreimal unterbrochen, sie ist diskontinuierlich, sie lässt sich nicht zuletzt durch den Zeilenumbruch auch nicht zu einer wenigstens virtuell, von den Spatien bloß verdeckten, fortlaufenden Linie reintegrieren. Auch der kontinuierliche

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Fortgang der Geschichte baut umgekehrt wesentlich auf den diskontinuierlich wechselnden Signifikant-Signifikat-Relationen auf, in die die Horizontlinie hineingestellt wird. Dabei kann man das Sich-selbst-Repräsentieren, das Nein zur Zentralperspektive, als Symmetrieachse nehmen, auf deren einer Seite die Horizontlinie als visueller Inbegriff des klassischen, sich selbst repräsentierenden Signifikanten steht – die Materialität als reiner Mangel –, und auf der anderen Seite das Etwas-anderes-Repräsentieren, die Indexierung eines Referenten innerhalb dieser Ordnung, der aber den Eigennamen »Linie« trägt. Auch da ist der Signifikant weg, aber diesmal bleibt die Linie. Das Signifikant-(und-eigentlich-nicht-Referent-)Sein hat sich in den Referenten eingeschrieben, der vorher gar nicht da war, sondern als Referent vom Zeichen produziert wurde: Die Materialität des Signifikanten hat sich als reiner Überschuss über das Semiologische verselbständigt und verdinglicht. Diese Form der korrupten Zentralperspektivität ist entsprechend fast nicht vorstellbar; so versucht sie auch immer wieder zurück ins Zweidimensionale (links unten) oder aber in eine Spaltung des Referenten, in eine ›echte‹ und ›verdinglichte‹ Horizontlinie (rechts unten) zu flüchten. Das aber wird, da es auf Kosten der Identität des Signifikanten ginge, noch in der Bewegung unterbunden. Mit diesen beiden Stichwörtern – Identität und Bewegung – kehren wir an den Ausgangspunkt unserer Überlegungen zurück. Denn wenn die Identität der Horizontlinie weder durch deren konkrete Repräsentation über die einzelnen Panels hinweg gestiftet wird, noch durch einen identischen Referenten – nicht einmal durch die identische Abwesenheit eines solchen –, erscheint als einheitsstiftendes Element wie in Magrittes Pfeifenbild gerade der Signifikant selber, das heißt: die unrealisierte, niemals präsente Linie, die in nichts anderem als einem Verlauf, einer Wiederholung besteht. Mehr noch: die nur in dieser Wiederholung als Signifikant identisch ist. Das, was ›Eins‹ ist, ist die Wiederholung – und das heißt: die Indifferenz divergierender Materialitäten ›des‹ Signifikanten als gemeinsamer Grund der divergierenden Signifikant-Signifikat-Relationen. Tatsächlich lassen sich die einzelnen Verwendungen der Horizontlinie nicht ineinander aufheben. Wir können sie nicht, Panel für Panel, so durcheinander substituieren, dass sich der gesamte Text im Lichte der neuen Verwendung jeweils retroaktiv umdeutet. Es gibt keine narrative Totalität, in deren Licht sich die verschiedenen Bedeutungen der Horizontlinie zu einer sinnhaften Folge ordnen ließen. Der Signifikant ist nicht der Träger von Mehrdeutigkeiten, von Polysemie – sondern besitzt gerade genau ein Signifikat, das im Mit- und Ineinander verschiedener Repräsentationssysteme entsteht, und das heißt: komplex, aber dennoch identisch ist. Denn es sind ja keineswegs Signifikanten und Signifikate, die den Verschiebungen von Panel zu Panel unterworfen sind, sondern die Relationen zwischen ihnen.

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Insofern verhält sich der Rahmen der Seite – ganz so wie der Rahmen, mit dem René Magritte seine unaufhebbar heterogene Bild-Text-Verbindung umgibt – als Träger einer »Nicht-Beziehung« (Deleuze) zu ihrem heterogenen Signifikat allegorisch. Er konstituiert eine Einheit, ohne dass er die Heterogenität der umschlossenen Panels tilgen würde. Ganz im Gegenteil: Er präsentiert sie als Tableau und unterminiert durch seine umfassende, ›gewaltsame‹ Synthese deren eindeutige Verkettung. Es ist also mitnichten ein allgemeiner Taumel der Zeichen, der Herrimans Zeichenprozesse in den Kollaps treibt, sondern vielmehr der Taumel der Materialität als changierender Korrelation zwischen Signifikanten und Signifikaten; wir betrachten hier keinen Taumel des Sinns, sondern einen Taumel der Grundlagen, auf denen sich Sinn überhaupt ergibt. Hier steht nicht die eine oder andere Bedeutung – oder gar die Bedeutung ›an sich‹ – in Frage, sondern vielmehr gerade der Geltungsbereich ›bedeutungstragender‹ Einheiten. Was ist überhaupt ›ein‹ Signifikant? So wiederholt sich die Geste der semiologischen Subversion, die Foucault bei Magritte ausgemacht und bewundert hat, in Herrimans Horizontlinie. Wie im klassischen zentralperspektivischen Bild, vermitteln sich an ihr Fragment und Totalität, Besonderes und Allgemeines (vgl. Koschorke 1990: 50f.). Doch vollzieht sich diese Vermittlung eben gerade nicht mehr in die Tiefe des repräsentierenden Raumes hinein, im Verhältnis des_r Betrachter_in zur ihn_sie umgebenden Welt – vielmehr bleibt sie, wie bei Magritte, auf der Oberfläche der Darstellung, zwischen Panel und Découpage, Bild und Text, Mangel und Überschuss, Signifikant und Signifikat. Hier wie dort werden die Kräfteverhältnisse der klassischen Repräsentation bezüglich des Blicks verkehrt: Den »Sehkampf«, wie Bernhard Waldenfels es nennt (Waldenfels 1986: 154), den Kampf um Souveränität und Identität im Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt der ästhetischen Erfahrung, gewinnt bei Magritte wie bei Herriman gerade der Signifikant in seiner vexierenden Materialität – und nicht das homogene Signifikat. Es gewinnt die Ambiguität der Darstellung – und nicht die Souveränität der Wahrnehmung, der zentrierte Betrachter oder die zentrierte Betrachterin. »Das Sein der Sprache kommt für sich selbst nur im Verschwinden des Subjekts zur Erscheinung«, fasst Foucault diese Bewegung in seinem Text »Das Denken des Außen« zusammen (Foucault [1966b] 1987: 48). Das heißt: Es gibt eine Wechselwirkung zwischen der ins Bild tretenden Logik der Signifikanten und dem Sichtbarwerden des Blicks – als Verlust de_r Betrachters_in an Souveränität über das Bild. Dieser Verlust resultiert gerade aus der Einschreibung von Bewegung ins Bild, aus der Zerstreuung des Blicks und der Dissemination der Signifikant-Signifikat-Relationen. Oder wie Louis Marin es im Anschluss an Foucault formuliert hat: »Die Undurchsichtigkeit der Präsentation der Repräsentation tritt in der Positionsänderung eines Subjekts in Erscheinung, in der Bewegung eines virtuellen Blickpunktes, in der Variation zwischen Nähe und Ferne des Bildes. Das Subjekt vermag sich nur in dieser Veränderung zu

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identifizieren, nur in dieser Bewegung, in diesem Oszillieren zwischen Ferne und Nähe vermag es sich als Vermögen des Blickes und der Beschreibung zu präsentieren.« (Marin [1992] 1994: 394) In der Desorganisation des homogenen Bildraumes, der Zerstreuung des identischen Blickpunkts, der konstitutiven Deregulierung der Signifikant-Signifikat-Relationen zeigen Herrimans Krazy Kat-Seiten, wie sich das moderne, dezentrierte Subjekt den Comics als Darstellungsweise eingeschrieben hat. Seine Horizont-Geschichte ist zugleich eine Reflexion auf die Ästhetik der Comic-Seite im Allgemeinen – und auf die Modernität der Comics im Gegensatz zur klassischen Ästhetik der Bildergeschichte. Denn ob die Comics in Panels segmentiert werden oder wie im Fall der frühen Yellow Kid-Blätter von Richard F. Outcault als ›ganze‹ Seiten mit Schrift durchsetzt sind (vgl. Balzer/Wiesing 2010: 25ff.), ob es sich um linear fortschreitende Geschichten handelt oder um sich zirkulär verkettende Bilder – immer bringen Comics ihre bildlichen und textlichen Anteile in die Form einer Verschränkung, die den um eindeutige Zuordnungen bemühten Blick in eine nicht mehr aufzuhebende Oszillation versetzt. Nicht nur bei Herriman, auch in vielen anderen Comics aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts wird diese Dezentrierung der Subjektivität aus der ästhetischen Form in den Inhalt der dargestellten Geschichten geholt und in die Konstitution der handelnden Figuren: Zahlreich sind die Motive des Traums und der Blindheit, die man in den frühen Comics findet, vielfältig die Szenen der Fragmentierung und der Heterogenität. Man denke an die zerstückelten Körper in Winsor McCays »Dreams of the Rarebit Fiend« (vgl. Balzer 1999b); die vexierenden Bilder bei Gustave Verbeeks Upside Downs; die Mensch-Maschine-Hybriden in Rube Goldbergs »Inventions« (vgl. Deleuze [1983] 1989: 239f.; Balzer 1999a); man denke schließlich an die Feste der Unentscheidbarkeit, die die frühen Mäuse Walt Disneys feiern: zwischen Mensch und Tier, Mann und Frau, Erwachsenem und Kind (vgl. Hansen 1995: 262f.). Viele Held_innen der frühen Comics sind selbst so ›dezentriert‹ wie der_die ideale Betrachter_in, für dessen_deren Blick sie gezeichnet werden; das gilt für die heimatlos herumirrenden Vagabunden vom Happy Hooligan von Frederick Burr Opper (vgl. Opper 2008) bis zu Felix the Cat (vgl. Sullivan 1982) ebenso wie für die von ihren Frauen tyrannisierten, entmännlichten »henpecked husbands« von George McManus’ Jiggs in Bringing Up Father (vgl. McManus 2009) bis zu Cliff Sterretts Pa Perkins in Polly and her Pals (vgl. Sterrett 1977). Für sie alle ist die masochistische, passive, sexuell unentscheidbare Krazy Kat das beste Super-Symbol (vgl. Balzer 1997). Der später einsetzende Siegeszug der zentrierten, männlichen, tendenziell sadistischen Subjekte, der Ende der 1930er Jahre schließlich zur Erfindung und gattungsprägenden Dominanz der Superhelden führt, beginnt denn auch nicht zufällig mit dem anti-modernen Backlash der Rezessionszeit nach 1929 – und mit der zeitgleich einsetzenden Etablierung der

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Fortsetzungs-Comics, der langen, epischen Abenteuergeschichten, von denen die seriellen, repetitiven Strukturen der frühen Comics abgelöst werden (vgl. Balzer 1998; Balzer 2006). Unter dieser neuen Hegemonie der Narrativität wird auch die semiologische Indifferenz nicht mehr als disseminierendes Moment zum Wuchern gebracht, sondern zurück unter die klassische Kuratel der Repräsentation gezwungen: die Logik der Serie und des Signifikanten wird durch die Logik der Narration und des Signifikats ersetzt. Dem_r aufmerksamen Betrachter_in bleibt der zwanghafte Charakter dieser Ersetzung gleichwohl immer spürbar. Gerade der ›narrative‹ Comic muss fortwährend versuchen, seine Diskontinuitäten, Ambivalenzen, Heterogenitäten zu verschleiern und unkenntlich zu machen: so als wäre jedes einzelne Panel lediglich der fensterhaft strukturierte Blick auf ein Stückchen Realität, den es in der richtigen Weise zu ergänzen gilt. Doch nicht nur das »Abenteuer der Seite«, wie Benoît Peeters die Semiologie der Découpage genannt hat, steht der vollständigen Rückerstattung der repräsentationistischen Identität entgegen (vgl. Peeters 1983); es ist die konstitutive Heterogenität des Comic-Zeichens, das »Hieroglyphische« (vgl. Balzer/Wiesing 2010: 91f.), die Zerstreuung der Signifikant-Signifikat-Relationen generell, die als eine Art semiologisches Unbewusstes unter dem scheinbaren Signifikat-Apriori fortwirkt. Eine Heterogenität, die sich nicht dauerhaft übertünchen lässt. Im vergeblichen Versuch, die eigene aporetische Semiologie zu verschleiern, doublieren die Comics seit den späten 1930er Jahren auch die Dialektik, der modernen Subjektivität: den Versuch, das »historische Trauma« der Dezentrierung (vgl. Silverman 1992) in glücklichen Ganz- und Geschlossenheiten zu vergessen – und die umso stärkere Dezentrierung, die daraus erwächst. Hinter diese historische Mindest-Einsicht darf die Comic-Historiographie nicht zurückfallen: Eine ›Geschichte der Comics‹ muss immer beide Formen der Dezentrierung behandeln: des Subjekts und der Semiologie. Sie muss die Zerstörung der Totalitäten und die unaufhebbare Sehnsucht nach deren Rückerstattung gleichermaßen auf den Begriff bringen können – in der Analyse von Bildern und Texten, Motiven und Rahmen, Signifikaten und Signifikanten.

A NMERKUNG 1 | Alle Zitate aus dem Comic sind Übersetzungen des Autors.

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L ITER ATUR Balzer, Jens (2010): »›Hully Gee! I’m a Hieroglyphe!‹ Mobilizing the Gaze and the Invention of Comics in New York City, 1895«. In: Joern Ahrens/Arno Meteling, Comics and the City. Urban Space in Print, Picture and Sequence, New York: Continuum Books, S. 19ff. — (2006): »Leben in der Zeitschleife«. In: Literaturen Nr. 10, S. 5ff. — (1999b): »Revue der Erniedrigungen. Winsor McCays ›Dreams of the Rarebit Fiend‹«. In: Schreibheft. Zeitschrift für Literatur Nr. 53, S. 159ff. — (1999a): »Handgriff (A) des seriellen Erzählens. Rube Goldberg und seine Maschinen«. In: Schreibheft. Zeitschrift für Literatur Nr. 52, S. 189ff. — (1998): »Ungleichzeitige Gegenwart. Über das Erzählen im Comic«. In: Christian Gasser (Hg.), Mutanten. Die deutschsprachige Comic-Avantgarde der 90er-Jahre, Ostfildern-Ruit: Hatje-Cantz, S. 19ff. — (1997): »Maus quält Katze, Hund kommt immer zu spät. Rückkehr zur Zwangswiederholung mit und ohne Sherrie Levine«. In: Maike Christadler/ Hilla Frübis (Hg.), Übung, ein Stück Papier zu halten. Festschrift für Kathrin Hoffmann-Curtius, Marburg: Jonas, S. 20ff. Balzer, Jens/Lambert Wiesing (2010): Outcault. Die Erfindung des Comic, Bochum: Ch. Bachmann. Barthes, Roland ([1973] 1990): »Diderot, Brecht, Eisenstein«. In: Roland Barthes, Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Übersetzt von Dieter Hornig, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 94ff. Crocker, Elizabeth (1996): »›Some Say It With A Brick‹: George Herriman’s ›Krazy Kat‹«. Online unter: http://jefferson.village.virginia.edu/crocker/ (Letzter Zugriff: 14.09.2010). Deleuze, Gilles ([1986] 1987): Foucault. Übersetzt von Herman Kocyba, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. — ([1983] 1989): Das Bewegungs-Bild. Kino 1. Übersetzt von Ulrich Christians und Ulrike Bokelmann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. — ([1969] 1993): Logik des Sinns. Übersetzt von Bernhard Dieckmann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. — ([1968] 1992): Differenz und Wiederholung. Übersetzt von Joseph Vogl, München: Fink. Foucault, Michel ([1973] 1997): Dies ist keine Pfeife. Übersetzt von Walter Seitter, München: Hanser. — ([1966a] 1971): Die Ordnung der Dinge. Übersetzt von Ulrich Köppen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. — ([1966b] 1987): »Das Denken des Außen«. In: Michel Foucault, Von der Subversion des Wissens. Übersetzt von Walter Seitter, Frankfurt a.M.: Fischer, S. 46ff. Frahm, Ole (2010): Die Sprache des Comics. Hamburg: Philo Fine Arts

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Frahm, Ole/Michael Hein (1991): »Krazy Kat«. In: Heiko Langhans/Marcus Czerwionka (Hg.), Lexikon der Comics. Loseblattsammlung, Meitingen: Corian. Groensteen, Thierry (1997): »L’Idiot de Coconino«. In: Katalog »Krazy Herriman«, Angoulême: Centre National des Bandes Dessinées et Images, S. 17ff. Hansen, Miriam (1995): »Dinosaurier sehen und nicht gefressen werden«. In: Gertrud Koch (Hg.), Auge und Affekt. Wahrnehmung und Interaktion, Frankfurt a.M.: Fischer, S. 249ff. Herriman, George ([1918] 1989): Krazy & Ignatz. The Komplete Kat Komics. Volume Three: 1918, Forestville: Eclipse. Imdahl, Max (1996): »Überlegungen zur Identität des Bildes«. In: Max Imdahl, Reflexion Theorie Methode. Gesammelte Schriften Bd. 3, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 381ff. Kalka, Joachim (1999): »Mond und Ziegelstein. George Herrimans Comic-Strip ›Krazy Kat‹«. In: Schreibheft. Zeitschrift für Literatur Nr. 52, S. 197ff. Koschorke, Albrecht (1990): Die Geschichte des Horizonts. Grenze und Grenzüberschreitung in literarischen Landschaftsbildern, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Lessing, Gotthold Ephraim (1893): Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, Stuttgart: Göschen'sche Verlagsbuchhandlung. Marin, Louis ([1992] 1994): »Die klassische Darstellung«. Übersetzt von Jürgen Blasius. In: Christiaan L. Hart Nibbrig (Hg.), Was heißt ›Darstellen‹?, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 375ff. McDonnell, Patrick/O’Connell, Karen/Riley de Havenon, Georgia (1986): Krazy Kat: The Comic Art of George Herriman, New York: Abrams. McManus, George/Lindenblatt, Jeffrey/Blackbeard, Bill (2009): Bringing Up Father, New York: Nbm. Opper, Frederick Burr (2008): Happy Hooligan, New York: Nbm. Peeters, Benoît (1983): »Les Aventures de la page«. In: Conséquences No. 1, Herbst 1983, S. 83ff. Silverman, Kaja (1992): Male Subjectivity at the Margins, New York/London: Routledge. Sterrett, Cliff (1977): Polly and Her Pals. A Complete Compilation. 1912-1913, New York: Hyperion Pr. Sullivan, Pat (1982): Felix the Cat, New York: Pinnacle Books. Waldenfels, Bernhard (1986): »Das Zerspringen des Seins. Ontologische Auslegung der Erfahrung am Leitfaden der Malerei«. In: Bernhard Waldenfels/ Alexandre Métraux (Hg.), Leibhaftige Vernunft. Spuren von Merleau-Pontys Denken, München: Fink, S. 144ff.

Von Experten und Expertinnen übersehen Das künstlerische Potential des Manga aufgezeigt anhand eines close reading von Kiriko Nananan’s Kuchizuke 1 Pascal Lefèvre

Der Manga erobert den europäischen und amerikanischen Markt mit großen Schritten und nimmt jedes Jahr einen größeren Teil davon in Anspruch. Die meisten europäischen und amerikanischen Comicspezialist_innen gestehen Mangas allerdings trotzdem weder künstlerischen noch historischen Rang zu. Dies legt zumindest eine kürzlich durchgeführte internationale Umfrage nahe: das portugiesische Projekt »100 Comics des zwanzigsten Jahrhunderts« (vgl. Dean 2002). Nichtsdestoweniger ist aber der Manga für jede_n, der_die sich mit dem Medium Comic beschäftigt, unumgänglich – und nicht nur weil in Japan mehr Comics als in Amerika oder Europa veröffentlicht werden,2 sondern auch weil Mangas bezüglich Publikationsbedingungen, Rezeption, Inhalt und Form sehr interessante Aspekte aufweisen. Um dies aufzuzeigen, werde ich mich an einem close reading eines Kurzmanga von Kiriko Nananan versuchen, nachdem ich die Haltung der Comicexpert_innen zu Manga in der oben genannten Umfrage besprochen habe. Als Nicht-Japanologe werde ich die Umfrage und den Manga von Nananan von der Position eines mit einem breiten Interesse für das Medium Comic ausgestatteten europäischen Comicforschers aus betrachten, der den Vergleich von verschiedensten Produktionen für essentiell für seine Arbeit hält.

I D IE INTERNATIONALE U MFR AGE »D IE 100 WICHTIGSTEN C OMICS DES Z WANZIGSTEN J AHRHUNDERTS « Das Amadora Comicfestival und das portugiesische Comiczentrum in Lissabon haben im Jahre 2004 Comicexperten und -expertinnen aus unterschiedlichen Ländern dazu eingeladen, an ihrer Umfrage »100 Comics des zwanzigsten Jahrhunderts« teilzunehmen. Ihr Ziel war es,

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Nach einer anfänglichen Debatte im Jahre 2002 beim Amadora Comicfestival sandten am 26. Januar 2004 die portugiesischen Organisator_innen Briefe an Expert_innen rund um den Globus.4 Sie baten diese, zwei Listen zu erstellen. Die erste sollte die 100 wichtigsten Comics des zwanzigsten Jahrhunderts umfassen, die zweite die 100 wichtigsten Comickünstler_innen: »Wir sind uns bewusst, dass eine Umfrage dieser Art eher eine spezifische Periode und seine Teilnehmer_innen widerspiegelt als einen Kanon etablieren kann. […] Trotzdem würden wir sie so breit wie möglich anlegen, denn je umfassender sie wird, desto produktiver und erleuchtender wird sie sein. Trotz seiner offensichtlichen Grenzen möchten wir diesem Projekt eine ambitionierte internationale Dimension geben. Wir bitten jede_n Einzelne_n von Ihnen, seine_ihre Lieblingscomics auszuwählen, und/oder jene, die Sie für die wichtigsten oder repräsentativsten halten. Sie sollten mit ›subjektiver Objektivität‹ auswählen, wobei Sie Ihrer eigenen Perspektive folgend Geschmack, Wichtigkeit, Einfluss und Faszination bevorzugen können – ohne aber die zu Unrecht vergessenen oder übersehenen Comics beiseite zu lassen. Wir betonen, dass dies eine Auswahl aus Comics aus aller Welt darstellt, und deshalb sollten nationale Comics in die generelle Auswahl mit eingeschlossen werden.« (Briefliche Einladung) 5

Die Kriterien, nach denen die Spezialisten und Spezialistinnen ausgewählt wurden, blieben unsichtbar ebenso wie die komplette Liste der Teilnehmer_innen, ein Jahr später wurden allerdings die Ergebnisse selbst endlich der Öffentlichkeit vorgestellt. Unter den 100 Comics des 20. Jahrhunderts waren 50 aus den Vereinigten Staaten von Amerika, 19 aus Frankreich, 10 aus Belgien, 6 aus Großbritannien, 5 aus Argentinien, 4 aus Italien, 3 aus Spanien und 3 aus Japan. Letztere umfassten Akira von Katsuhiro Otomo, Hadashi no Gen [Barfuß durch Hiroshima] von Keiji Nakazawa und Kozure okami [Lone Wolf and Cub oder Okami]6 von Kazuo Koike und Goseki Kojima (vgl. Otomo 2001; Nakazawa 2004; Koike/Kojima 1996-1997). Dies ist eine erstaunlich niedrige Ziffer, bedenkt man Japans Stellung als größter Comicproduzent der letzten Jahrzehnte. Die ausgewählten Titel selbst boten wenig Überraschungen abgesehen vom Fehlen der Werke von Osamu Tezuka: Die ausgewählten Titel sind allesamt relativ früh ins Englische, ins Französische oder in eine andere europäische Sprache übersetzt worden. Zudem trug im Fall von Akira der kinematographische Erfolg seiner animierten Version zur Würdigung der Manga-Serie bei (die im Übrigen erst Jahre nach dem Film fertig gestellt wurde). Zusätzlich zur Liste der Comics selbst wurde eine Liste der 100 wichtigsten Comickünstler_innen des 20.

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Jahrhunderts erstellt. Mit Ausnahme der Französin Claire Bretécher war dies eine rein männliche Liste, und wiederum sind lediglich zwei Mangaka [MangaKünstler_innen] ausgewählt worden: Otomo und Tezuka. Diese Ergebnisse lassen sich vermutlich erklären, sieht man sich die Zusammensetzung der Teilnehmer_innen der Umfrage an. Fast ein Viertel der 100 Spezialist_innen waren Portugiesen oder Portugiesinnen, und viele von ihnen ohne jegliche internationale Reputation in der Comicforschung. Freilich ist trotzdem kein einziger portugiesischer Comic beziehungsweise kein_e einzige_r portugiesische_r Autor_in gewählt worden. Demnach kann nicht behauptet werden, dass die Portugiesisch sprechenden Teilnehmer_innen bei ihren eigenen Produktionen besonders nationalistisch gewesen wären. Im Großen und Ganzen war das Gremium von den Repräsentant_innen der zwei großen Comickulturen bestimmt: Nordamerika (18) und Frankreich (19); dann kommen Italien (7), Brasilien (6), Spanien (5), Belgien (4), Großbritannien (4), Argentinien (2), Norwegen (2), und nur jeweils ein_e Repräsentant_in aus Kanada, Deutschland, Ungarn, Schweiz, Finnland, Japan, Schweden, Indien und Singapur. Es waren also unter den Teilnehmer_innen nur drei Asiat_innen, von denen nur eine_r Japaner_in war: Kein Wunder, dass sich daraus die oben genannten Resultate ergeben haben. Nur ein kleiner Prozentsatz japanischer Mangas ist in Übersetzungen erhältlich; und auch ein_e Spezialist_in kann nur Titel auswählen, die ihm_r bekannt sind. Hätte es mehr japanische oder wenigstens asiatische Expert_innen gegeben, wäre das Ranking vermutlich anders ausgefallen. Generell legt die Umfrage nahe, dass Menschen jene Comics wählen, mit denen sie aufgewachsen sind. Amerikanische Comics wurden und werden immer noch viel publiziert und spielen in den meisten historischen Darstellungen des Mediums Comic eine wichtige Rolle. Im Gegensatz zu anderen Kunstformen gibt es immer noch extrem wenige historische Werke, die Comics weltweit untersuchen – eine Ausnahme ist Alles über Comics von Andreas Knigge (vgl. Knigge 2004) – und sie widmen normalerweise dem Manga nur ein paar Seiten (vgl. Blanchard 1969; Fuchs/Reitberger 1971; Kurtzmann 1991; Peeters 1993; Moliterni/Mellot 1996; Sabin 1996; Havas 1997; Gaumer 2001).7 Obwohl der Manga in Europa und Nordamerika folglich noch nicht zum Kanon gehört, sind in europäischen Sprachen seit den 1980er Jahren mehrere Bücher publiziert worden, die den Schwerpunkt auf denselben setzen, angefangen 1983 bei Frederik Schodt (vgl. Schodt 1983; Groensteen 1991; Berndt 1995; Schodt 1996; Luyten 1999; Natsume 1999; Kinsella 2000; Moliné 2002; Gravett 2004; Masanao/Wiedermann 2004; Schmidt 2004). Bemerkenswert ist dabei auch, dass die MangaForschung vor allem weibliche Akademikerinnen anzuziehen scheint (z.B. Jaqueline Berndt, Sharon Kinsella, Sonia Luyten, Susanne Phillipps), während in den kontinentaleuropäischen Comicstudien Frauen dagegen unterrepräsentiert sind. Während die meisten dieser Monographien den künstlerischen Aspekt

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von Mangas anerkennen, gestehen viele andere europäische und nordamerikanische Comickritiker_innen und -forscher_innen denselben immer noch nicht ihr ästhetisches Potential zu – beziehungsweise verleihen sie Werken von Mangaka einfach nicht denselben Rang wie ihren eigenen heimischen Autor_innen. Nichtsdestoweniger können Mangas ebenso kunstvoll wie amerikanische oder europäische Comics sein – wie anhand der folgenden Analyse argumentiert werden wird.

II E IN CLOSE READING DES ALTERNATIVEN M ANGA K UCHIZUKE [K ÜSSE] VON K IRIKO N ANANAN Kuchizuke [Küsse] ist ein neunseitiger Kurzmanga (plus Titelseite) der jungen japanischen Autorin Kiriko Nananan (geb. 1977).8 Ursprünglich ist er im November 1994 in der berühmten japanischen Avantgardezeitschrift Garo veröffentlicht worden, kurz nach dem Debüt der Autorin in derselben Zeitschrift im Jahr davor, und ist später in Nananans erster japanischer Anthologie Water (1996) wiederabgedruckt worden (vgl. Nananan 2007). Nananans Kisses zog mich aufgrund seines eher experimentellen Zuganges an. Dieser Kurzmanga unterscheidet sich in vieler Hinsicht von den meisten europäischen oder amerikanischen Comics. Mainstreamcomics mögen fantastische und einfallsreiche Geschichten erzählen, aber ihre Charaktere werden immer in ein scheinbar konsistentes Universum platziert, und ihre Erzählkunst respektiert mehr oder weniger die traditionellen Erwartungen, die an eine Geschichte gestellt werden, d.h. klare chronologische und kausale Verbindungen. Wenn sich Graphik auch von Natur aus essentiell von Fotografie unterscheidet, bleibt die künstlerische Darstellung in Mainstreamcomics tendenziell recht referentiell: Oft sehen die verschiedenen Panels eines Comicbuches wie die verschiedenen Schnappschüsse einer möglichen und kohärenten Welt aus. Trotzdem sind Comics essentiell ein elliptisches Medium: Sie zeigen dem_r Leser_in niemals alle Phasen einer Geschichte oder einer einzelnen Handlung, sondern wählen signifikante Fragmente aus. Generell verursachen diese Ellipsen keine Probleme für den_die Leser_in. Der Plot und der Stil helfen dem_r Leser_in diese Lücken aufzufüllen und die verschiedenen Panels nahtlos miteinander zu verbinden. Dialoge, Aktionen, Charaktere und Hintergründe scheinen recht fließend von einem Panel ins andere überzugehen. Aber die meisten dieser klassischen Regeln werden in Kisses gebrochen, wie im Folgenden das close reading aufzeigen wird.9 Vor der Analyse muss man sich der Geschichte selbst zuwenden. In Kisses geht es um eine Liebesaffäre, die drei Jugendliche involviert: zwei junge Frauen, Nobu und Ayu, und einen jungen Mann, Ryosuke. Auf der Plot-Ebene kann die Fabel (oder virtuelle chronologische story-line)10 wie folgt rekonstruiert werden:

V ON E XPERTEN UND E XPERTINNEN ÜBERSEHEN

Tafel 1: Story-line von Kisses 1

Ayu und Nobu sind seit langer Zeit Freundinnen.

2

Nobu lebt mit ihrem Freund Ryosuke zusammen, aber er ist untreu.

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Deshalb bittet Nobu darum, in Ayus Zuhause Unterschlupf finden zu dürfen und warnt diese davor, nicht denselben Fehler zu begehen wie sie selbst – nämlich auf »so ein Arschloch« hereinzufallen.

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Für eine gewisse Zeit leben die beiden Frauen glücklich zusammen.

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Aber nach einer Weile kündigt Nobu an, zu ihrem ehemaligen Freund Ryosuke zurückkehren zu wollen.

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Ayu bereitet ein Abschiedsgeschenk für Nobu vor: Sie benützt mehrere neue Zahnbürsten und bindet sie anschließend zusammen.

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Nobu kehrt zu Ryosuke zurück.

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Zurückgelassen von Nobu wird Ayu von starken Gefühlen zerrissen: Sie hat ganz offensichtlich romantische Gefühle für Nobu entwickelt und kann mit dem Weggang ihrer Liebe nicht umgehen.

Im Gegensatz zu den meisten Comics wird die Fabel weniger in chronologischer als eher in a-chronologischer Weise präsentiert. Überdies zeigt der visuelle Part nur Fragmente der Segmente 4, 5, 6 und 8; der verbale Part deckt teilweise dieselben Segmente, bezieht sich aber auch auf die Segmente 1, 2, 3, und 7. Somit ist der Plot in einem solchen Maß fragmentiert und punktuell, dass der_die Leser_in mit nur wenigen Stücken zurückgelassen wird. Dazu kommt, dass der Stil ebenfalls nach Aufmerksamkeit verlangt und sechs verschiedene Muster hervorstechender formaler Techniken identifiziert werden können: 1. Leichte Deformationen, 2. Instabile »Farben«, 3. Weiße Zwischenräume, 4. Aussparung von Gesichtern und Augenpartien, 5. Die wichtige Rolle des Textes und 6. Visuelle Reime.

1 Leichte Deformationen: die E xpressivität von Formen und Linien Auf den ersten Blick mag die künstlerische Darstellung recht realistisch erscheinen. Nananan verwendet keinen der dominanten Manga-Stile: Sie zeichnet weder große Augen noch übertriebene Posen oder explosive Actionszenen; sie verwendet keine Speedlines oder andere ideogrammatikalische Zeichen. Im Gegenteil wirkt ihr optischer Stil für einen Manga extrem verhalten. Trotz des realistischen Eindrucks sind allerdings leichte Deformationen bemerkbar. Vor allem im ersten Panel haben die zwei Frauen eine bemerkenswert dünne Statur: Sie werden als elegante lange Gestalten wiedergegeben. Nananan übertreibt ihre Schmächtigkeit und ihre physische Größe. Die Schmäle des ersten Panels

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findet seinen Nachhall später in der feinen Form der Zahnbürsten und in der hängenden Unterwäsche. Als allerdings Ayu in embryonaler Stellung auf dem Küchenboden kauert, werden die eleganten langen Linien plötzlich kürzer und stämmiger. Dieser interessante Kontrast hebt den Unterschied bezüglich des emotionalen Zustandes zwischen den zwei Panels hervor: Zuerst unterhalten sich die beiden Frauen gut und lachen viel, und so strecken sie sich nach oben Abbildung 36: Leichte Form-Deformationen (Nananan 2007: 106-107)

– aber nach dem Weggehen Nobus bricht Ayu zusammen. Der Unterschied wird auch vom Perspektivenwechsel betont. Zu Beginn scheinen die Küchenszenen sehr ausgeglichen zu sein, mit starken vertikalen und horizontalen Linien. Die ersten Panels platzieren den_die Betrachter_in beinahe rechtwinkelig zur Szene, bringen sie_ihn nahe an Ayu heran, deren Körper der Panelrahmen in Teile schneidet. In einem späteren Panel jedoch, das den emotionalen Zusammenbruch abbildet, sieht der_die Betrachter_in ihren vollständigen Körper in einer einzigen Rahmung. Nun ist der Blickwinkel höher und schief, und die dominanten Linien sind plötzlich diagonal. Die Szene ist wörtlich und symbolisch aus der Balance geraten. Das Halten des Gleichgewichts ist schließlich ein wichtiges Leitmotiv in diesem Comic, wie wir später sehen werden.

2 Veränderbare »Farben« Ein weiterer Bruch des oberflächlichen Realismus ist die Instabilität der Farbgebung von Objekten. Obwohl dieser Manga ein Schwarz-Weiß-Comic ist, verweisen die Weiß-, Schwarz- und Grautöne sehr wohl auf Farben – fast so wie eine Schwarz-Weiß-Fotografie auf eine farbige Welt verweisen kann. Bei-

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spiele instabiler Farbgebung sind Ayus Haare, Lippen und Kleid, aber auch die Zahnbürste. Sie wechselt ihre Farbe auf der zweiten Seite von weiß auf grau. In einem späteren Panel sehen wir sie eine schwarze Zahnbürste benutzen, aber wir können uns nicht sicher sein, dass diese dieselbe ist, da es offensichtlich eine enorme Auswahl an Zahnbürsten in ihrem Haus gibt. Ayus Kleidung ist ebenfalls unterschiedlich dargestellt: viermal in Schwarz und einmal in Grau. Wenn wir uns auch bei Zahnbürste und Kleid nicht sicher sein können, können wir doch zumindest annehmen, dass Haare und Lippen derselben Person gehören. Ayus Haare werden in verschiedenen Panels unterschiedlich dargestellt: sechsmal in Schwarz und zweimal in Grau. Im ersten Panel der zweiten Seite sind ihre Lippen recht markant, da wirklich schwarz; im zweiten Panel sind sie so weiß wie der Teint ihres Kopfes und ihrer Hand. Abgesehen davon zeigt dieses zweite Panel der zweiten Seite plötzlich ein Close-up in einer Serie von Medium-Shots. Die Verwendung von drei einförmigen Farben (Weiß, Schwarz und Grau) akzentuiert den schwachen Kontrast des Bildes. Diese veränderbare Farbgebung desorientiert den_die Leser_in. Wie kann er_sie sicher sein, dass all diese Panels wirklich zur selben Sequenz, zum selben zeitlichen Rahmen gehören? Zweifel setzen ein; man sucht nach Erklärungen. Es scheint eine Kontinuität zu geben, speziell was den Handlungsverlauf betrifft, aber wir können zum Beispiel nicht vollkommen sicher sein, dass die Aktion im zweiten Panel direkt aus der Aktion im vorherigen Panel folgt. Die unterschiedliche graphische Behandlung könnte zum Beispiel einen Rückblick suggerieren.

3 Zahnbürsten im weißen Raum Nananans Zeichenstil besitzt eine gewisse Persönlichkeit. Sie bevorzugt nüchterne, sanfte Linien und vor allem ist sie penibel in der Wahl dessen, was zu zeichnen ist. Die Mehrzahl ihrer Panels besitzt keinen Hintergrund. Nananan isoliert zumeist Charaktere oder bestimmte Objekte, indem sie sie in einer weißen Umgebung platziert, die nicht nur innerhalb der Panel-Rahmung existiert, sondern auch dazwischen und um sie herum auf der Seite. Im Gegensatz zu den meisten europäischen Autor_innen empfindet Nananan offensichtlich nicht das Bedürfnis, ihre Seiten vollständig mit Panels auszufüllen. Wie man ein Panel hervorhebt indem man es separat auf einer Seite platziert, ist etwas, worin sich auch der kanadische Künstler Chester Brown sehr gut versteht – wie zum Beispiel in The Playboy und I Never Liked You (vgl. Brown 1992; 1994). Der weiße Raum innerhalb der Rahmung verleitet den_die Leser_in dazu, das Bild im Panel zu vervollständigen. Wie in traditionellen chinesischen Malereien sind diese weißen Stellen nicht notwendigerweise leer – das Weiß kann im Gegenteil sowohl auf Fülle als auch auf Leere verweisen. Indem man jegliches Dekor entfernt, werden die gezeichneten Figuren mehr hervorgehoben. Diese Art der Repräsentation lädt die_den Leser_in dazu ein, sich zu fragen, warum

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ein bestimmtes Objekt dargestellt wird und der Rest nicht, und ob eine Bedeutung hinter diesen in den Vordergrund gerückten Objekten des alltäglichen Gebrauchs zu suchen ist. Auf der achten Seite zeigt Nananan ein Panel mit einer Rolle Geschenkband. Der_die Leser_in kann erraten, dass dieses Band von Ayu verwendet worden ist, um die Zahnbürsten als Abschiedsgeschenk für Nobu zusammenzubinden. Gleichzeitig ist es ein interessantes Objekt, denn bevor Abbildung 37: Ein Abschiedsgeschenk für Nobu; Ayu verliert ihr Gleichgewicht (Nananan 2007: 112-113)

ein Teil der Rolle dazu verwendet werden kann, Dinge zusammenzupacken, muss es vom Rest der Rolle getrennt werden. So kann ein Stück abgerissenes Geschenkband auf den Bruch einer vorherigen Bindung verweisen, in diesem Fall den Bruch zwischen Nobu und Ayu. Aber warum werden Zahnbürsten überhaupt derart betont? In der Hälfte der Panels ist zumindest eine Zahnbürste zu sehen. Zudem zeigt das größte Panel dieser Kurzgeschichte einen Blick auf mehrere Zahnbürsten und ihre Behälter. Die Zahnbürsten spielen offensichtlich eine wichtige Rolle in der Geschichte. Aber warum entscheidet sich Ayu, die ja vermutlich lesbisch ist, für ein derart gewöhnliches Geschenk? Eine Zahnbürste ist ihrer Form nach phallisch, aber dem Gebrauch nach auch sehr intim. Es gibt tatsächlich sehr wenige Geräte, die wir teilweise in unseren Körper eindringen lassen. Selbst wenn wir auf die phallische Assoziation gar nicht eingehen, derzufolge Ayu nicht fähig wäre, mit Nobus Freund zu konkurrieren, erzählt uns die Tatsache, dass sie jede der Zahnbürsten selbst benutzt, bevor sie sie als Abschiedsgeschenk zusammenbindet, etwas über ihre Sehnsucht nach intimem physischen Kontakt

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mit Nobu. Die letzten Gedanken von Ayu legen diese Verbindung nahe: »Es ist irgendwie komisch, Nobu. Du wirst mein Abschiedsgeschenk benutzen ohne es auch nur zu ahnen, vollkommen ahnungslos sein, während ich dich mit Küssen bedecke… das gefällt mir.«11 (Nananan 1995: 63). Verpackte Zahnbürsten in ihren Schachteln wären ein eher steriles Geschenk gewesen, aber bereits benutzte Zahnbürsten machen es wahrhaft persönlich.

4 Aussparung der Gesichter und Augen Ein anderer wichtiger Aspekt in Nananans visuellem Stil ist ihre Rahmensetzung und ihre Mise-en-scène. Während in den meisten Comics oder Mangas Gesichter von höchster Bedeutung sind, zeigt Nananan diese selten vollständig. In Kisses gibt es nur ein einziges vollständiges Profil. In einigen anderen Panels werden nur Teile von Gesichtern gezeigt und in der Mehrzahl der Panels sind überhaupt keine Gesichter zu sehen. Gesichter zu vermeiden, ist ungewöhnlich in der visuellen Erzählkunst, da deren Darstellung von höchster Bedeutung ist. Es kommt sogar vor, dass manche Comics nur »sprechende Köpfe« benutzen (besonders in auf Gags konzentrierten Comicstrips wie Peanuts oder Garfield etc.). In der Geschichte der Comics gibt es nur wenige Beispiele gesichtslosen Erzählens. Ein recht einzigartiges Beispiel ist das französische Album Carpet’s Bazaar von Martine Van und François Mutterer. In dieser Geschichte sieht der_ die Leser_in auf den 44 Seiten nie die Gesichter der zwei Protagonist_innen. Sie haben nicht einmal Namen; sie werden nur Held, »Héros«, und Heldin, »Héroine«, genannt (vgl. Van/Mutterer 1983). Im Gegensatz zu Carpet’s Bazaar geht es in Kisses allerdings mehr als einfach nur um einen stringenten selbst auferlegten Zwang. Nananan verbietet es sich nicht, ein Gesicht zu zeigen, aber sie hält sich davor zurück, es zu tun. Trotzdem ist sie sich durchaus bewusst, was sie tut. Sie weiß, dass in direkter menschlicher Kommunikation die Augen eine ausschlaggebende Rolle spielen, aber sie verweigert dem_der Leser_in die Möglichkeit, dem Charakter in die Augen zu blicken. Nur einmal kann der_die Leser_in zwei offene Augen erkennen, aber gerade in diesem Moment ist der Rest des Gesichts ausgelöscht. Nananan provoziert den_die Leser_in, sie spielt mit ihm_r eine Art Versteckspiel. Der_die Leser_in bekommt nur einige Teile des Puzzles zu sehen, und zudem nicht alle jene, die notwendig wären. Mit den Teilen, die Nananan zeigt, bleibt das Puzzle mehr als inkomplett, und die vorhandenen Teile sind zudem auch noch zweideutig. Mehr als einmal bleibt unklar, wie die einzelnen Teile zusammenpassen. Somit kann der_die Leser_in seine_ihre verschiedenen mentalen Kapazitäten nutzen, um das Bild aufzufüllen, die Geschichte zu vervollständigen. Im Gegensatz zu anderen Mangas oder Comics ist das Aufschließen [closure] hier sehr viel schwieriger. Jedoch kann der_ die Leser_in trotz der verwirrenden Eindrücke eine beachtliche emotionale Wirkung spüren, wenn er_sie die Geschichte liest. Es scheint nicht notwendig zu

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sein, alle Stücke eines Puzzles freizugeben, da Leser_innen oft sehr angemessen und sensibel auf recht inkomplette Werke reagieren können. Fast jeder Comic lässt Teile der Information aus, aber nicht so weitreichend wie es Nananan tut. Ihr Manga geht an die Grenzen des Erzählens – und er funktioniert noch immer.

5 Die wichtige Rolle des Textes Obwohl Text und Bilder selten leicht zusammenzupassen scheinen, hilft der Text dem_r Leser_in sehr dabei, die groben Züge der Geschichte nachzuvollziehen und die Fabel zu rekonstruieren. Gleichzeitig erzeugt der Text selbst einige Probleme. Er ist nicht vollständig chronologisch; er ist fragmentiert und die Unterscheidung zwischen Rede und Gedanken ist nicht immer glasklar. Dennoch, selbst wenn er_sie nicht vollständig sicher ist, kann der_die Leser_in doch Vermutungen anstellen, wer die entsprechende Quelle der Äußerungen sein könnte. Abgesehen von Onomatopoetika (die allesamt nicht in die englische Übersetzung übernommen wurden) scheint es zwei verbale Hauptquellen zu geben: Rede und Gedanken namentlich der zwei weiblichen Protagonistinnen (siehe Tafel 2: Die unklaren Stellen sind in Klammern gesetzt). Es gibt nur diegetischen Text (von Ayu und Nobu), keinen extradiegetischen Ausdruck. Tafel 2: Diegetische Textquellen in Kisses Rede

Gedanken

Ayu

1,6

(2), 7, 8, 9

Nobu

1, 2, 3, 4, 5, 6

(2), (4)

Nobus Rede dominiert den verbalen Teil dieses Kurzmanga. Erst in den letzten drei Seiten nehmen die Gedanken Ayus Überhand, wohingegen im ersten Panel nur ein wenig gelacht wird. Zu Anfang ist sich der_die Leser_in nicht bewusst, dass aus Ayus Perspektive erzählt wird – diese wird gegen Ende allerdings unerlässlich für das Verstehen des tieferen Sinns der Geschichte. Nananan verwendet keine extradiegetischen Zeichen, um den Status der Textfragmente anzuzeigen (also keine Gedankenblasen oder Veränderungen in der Typographie). Trotz dieser Ambiguität ist der_die Leser_in fähig, die groben Umrisse der Geschichte zu begreifen, wenn auch nicht alles – und genau das ist der Punkt.

6 Visuelle Reime Ganz offensichtlich sind die Bilder nicht dazu da, zu illustrieren, was erzählt wird. Text und Bilder scheinen sich nicht immer leicht aneinander zu fügen, aber die Bilder geben uns mehr Information und fügen neue Elemente hinzu, indem sie uns Dinge zeigen, die der Text nicht erzählt. Es ist recht wahrscheinlich, dass

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die meisten Panels Fragmente jener Zeitspanne zeigen, nachdem Nobu Ayu verlassen hat. Wir sehen die schrecklichen Konsequenzen ihres Fortgangs. Jeden Morgen, wenn Ayu sich die Zähne putzt, erinnert die Zahnbürste sie sofort an das Weggehen von Nobu (aufgrund ihres Abschiedsgeschenks). Wieder und wieder erlebt Ayu eine emotionale Krise und kauert auf dem Küchenboden. Der Text erwähnt nie die Wäscheständer, die in zwei Panels recht markant dargestellt werden, aber der_die Leser_in kann die Verbindung zwischen Text und Bild herstellen. Die Tatsache, dass im zweiten Panel weniger Unterwäsche am selben Ständer hängt, kann mit dem Weggehen von Nobu in Verbindung gebracht werden. Außerdem ist das Trockengestell aus dem Gleichgewicht geraten, nachdem Nobu gegangen ist. Da ist natürlich die materielle Erklärung (weniger Gewicht auf einer Seite des Trockengestells), aber es gibt auch ein symbolische: Die emotionale Balance des Zusammenlebens der zwei Frauen ist gebrochen worden. Überdies weist ein solcher Trockenständer mit intimer Kleidung auf die Nähe zwischen den beiden hin, die auch durch die Panels aufgezeigt wird, in denen sie nebeneinander unter einer Decke und auf demselben Futon liegen. Wie die Panels mit dem Trockengestell gibt es auch andere optische Reime in diesem Kurzmanga: Zum Beispiel gibt es da den visuellen Reim der extremen Close-ups der Augen und den Reim einer Hand mit Zahnbürsten. Scheint das erste Panel mit den zwei Augen im zweiten Panel einen Nachhall zu finden, tut es das allerdings nicht vollständig: Das erste zeigt ein Closeup zweier geschlossener Augenlider, aber es ist unklar, wem diese gehören. Der Text »Nobu! Hey Nobu!« ist vermutlich ein Ausruf Ayus (Nananan 1995: 56). Aber was wird hier gezeigt? Nobu, die die Augen geschlossen hat und hört, wie Ayu sie ruft, oder Ayu die sich mit geschlossen Augen an die Zeit erinnert, als sie selbst Nobu gerufen hat? Ein ähnliches Close-up der beiden Augen kehrt vier Seiten später an der exakt selben Stelle auf der Seite zurück. Das ist ein Beispiel für site, für nicht-lineares Verbinden. Das zweite Panel ist höher; die Augen sind offen und blicken aufwärts. Bemerkenswerterweise ist es das einzige Panel des gesamten Comics, in dem zwei offene Augen zu sehen sind. In diesem zweiten Panel mit Augen ist der Text ein anderer: »Ayu, du solltest nie auf so ein Arschloch hereinfallen. Diesen Fehler habe ich bereits gemacht, O.K.?« (ebd.: 60).12 Die Worte kommen wahrscheinlich von Nobu, die ihre Frustration über ihre Beziehung mit Ryosuke ausdrückt. Aber warum blicken die Augen aufwärts? Ist es Ayu, die zuversichtlicher wird, dass Nobu sie wählen wird? Öffnet sich Ayu für die mögliche Liebe Nobus, nun da der Junge außer Sicht ist? Ein anderer visueller Reim sind die Panels mit einer Hand und einigen Zahnbürsten. Es gibt zu wenige Hinweise, um sicher zu sein, ob es dieselbe Hand ist, aber der Inhalt legt dies dem_r Leser_in nahe. In anderen Panels putzt eine einzelne Person ihre Zähne, vermutlich Ayu, als sie nach dem Weggehen von Nobu alleine ist. Dank des schwarzen Kleides ist es möglich, das erste Panel mit der Hand mit derselben Person zu verbinden. Im zweiten Panel geht selbst

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Abbildung 38: Sich öffnende Augen und Zahnbürsten (Nananan 2007: 110-111)

der kleinste Hinweis durch die Rahmensetzung verloren, aber Dank der ähnlichen Komposition und der ähnlichen Handlung (das Herunterwerfen einer Zahnbürste) können beide Panels verbunden werden. Der einzige Unterschied ist, dass im zweiten Panel mehr Zahnbürsten zu sehen sind. Aber in jedem Falle scheint das Zähneputzen in Ayu starke Emotionen auszulösen, denn sie kauert auf dem Boden. Die Zahnbürste erinnert sie nicht nur an ihr Abschiedsgeschenk, sondern auch an die verlorene Liebe. Es hallen hier vermutlich auch noch erotische Gefühle wieder, wie oben in Bezug auf die möglichen phallischen Assoziationen zur Zahnbürste nahe gelegt worden ist. Mehr als einmal werden Lippen erwähnt. Ayu sagt, Nobu habe schöne Lippen und dass sie diese mit Küssen bedecken werde, was schließlich auch den Titel der Geschichte stellt.

III K ONKLUSION Obwohl Mangas die Eroberung des amerikanischen und europäischen Comicmarktes bereits in den 1980ern begonnen haben, wurden sie an der Wende des Jahrhunderts von amerikanischen und europäischen Comicspezialist_innen immer noch als weniger bedeutend angesehen. Die größte und internationalste Studie (die erwähnte portugiesische aus dem Jahre 2004) zeigt, dass Mangas bei nordamerikanischen und europäischen Spezialist_innen keinen hohen Rang verliehen bekommen. Allerdings sollten die Resultate dieser Umfrage, berücksichtigt man den anachronistischen Aufbau eines Kanons, nicht überbewertet und auch nicht übermäßig kritisiert werden. Vor allen Dingen

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kann die Umfrage als ein interessantes Projekt gesehen werden, da sie einen Einblick geboten hat, was eine bestimmte Gruppe von Expert_innen bei Comics für künstlerisch wertvoll erachtet. Meiner Meinung nach verdient der Manga ohne Zweifel Anerkennung. Deshalb ist hier ein interessantes Beispiel, Nananans Kisses, im Detail analysiert worden. Dieses close reading zeigte, dass es möglich ist, eine komplexe Geschichte zu erzählen, die eine reichhaltige Gefühlswelt mit sehr wenigen Worten auf nur neun Seiten bzw. achtzehn Panels ausbreitet. Jedes einzelne Panel wirkt sorgfältig konstruiert. Eine wohl durchdachte Wahl, die Hintergründe und Gesichtsporträts vermeidet. Auch wenn die Charaktere realistischer zu sein scheinen als jene klassischer minimalistischer Comics, sind ihre Gesichter weniger sichtbar. Indem man Objekte wie Zahnbürsten oder Trockengestelle isoliert, werden diese Objekte markiert, intensiviert und emblematisch. Ein solcher poetischer Zugang lädt den_die Leser_in nicht nur dazu ein, die Schönheit der Formen und Gestalten zu genießen, sondern auch, nach einem tieferen Sinn dahinter zu suchen. Einfache Gesten des täglichen Lebens werden zu fast dramatischen Akten. Ein derartiger Comic verführt zu einer Relektüre auf einem feinfühligen wie auch auf einem sinnlichen Niveau. Der_die Leser_in kann in Kisses die Bilder nach kleinen Variationen durchsuchen, nach Ähnlichkeiten und Unterschieden. Das wiederholte Lesen ist somit entscheidend. Indem es nicht zu viel erzählt, indem es viel ausspart, indem es sorgsam bestimmte Objekte oder Akte auswählt, kann ein Comic an eine_n Leser_in auf sehr unkonventionelle Weise herantreten. Comics wie Nananans Kisses sind Gedichten näher als Prosa. Indem man nicht die typischen Comictechniken wie karikaturistische Deformation oder klassische Plot-Strukturen benutzt, kann man ausgesprochen interessante Geschichten erzählen. Weniger kann manchmal mehr sein.

A NMERKUNGEN 1 | A. d. Hg.: Pascal Lefèvres Artikel mit dem Originaltitel »Overlooked by Comics Experts: The Artistic Potential of Manga as Revealed by a Close Reading of Nananan Kiriko’s Kuchizuke« erschien 2006 in der von Jaqueline Berndt und Steffi Richter herausgegebenen Anthologie Reading Manga: Local And Global Perceptions of Japanese Comics. Vgl. Pascal Lefèvre (2006): »Overlooked by Comics Experts: The Artistic Potential of Manga as Revealed by a Close Reading of Nananan Kiriko’s Kuchizuke«. In: Jaqueline Berndt/Steffi Richter (Hg.), Reading Manga. Local and Global Perceptions of Japanese Comics, Mitteldeutsche Studien zu Ostasien 11, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag. S. 177-190. Die erstmalige Übersetzung des Textes ins Deutsche von Elisabeth Klar erfolgt mit leichten Kürzungen und der freundlichen Genehmigung des Autors. 2 | Einen Vergleich amerikanischer, europäischer und japanischer Comicverlage kann man bei Capital, Nr. 148, Januar 2004 finden.

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P ASCAL L EFÈVRE 3 | Originalzitat: »To reflect through a wide selection of the best and most representative comics upon the very essence of comics: its special place in culture and society, its original contribution, its heritage, its legacy, its beauty, its influence, its future« (invitation letter). 4 | Unter den internationalen Teilnehmer_innen waren bekannte Gelehrt_innen wie Paul Gravett, Maurice Horn, Thomas Inge, David Kunzle sowie auch einige Comicautor_innen wie Mort Walker und Gilbert Shelton. 5 | Originalzitat: »We are aware that a survey of this kind is more a reflection of a specific period and of its participants than the establishment of a canon. […] However, we would like that it would be as vast as possible, for the wider it becomes, the most productive and enlightening it will be. In spite of its obvious limitations, we wish to give this project an ambitious international proportion. We ask each one of you to choose your favorite comics and/or those you consider the most important, the best representative. You should use a ›subjective objectivity‹ favouring in your own perspective, taste and importance, influence and fascination, without disregarding the unjustly forgotten or overlooked comics. We emphasize that this is a choice among comics all over the world, and so the national comics shoud be included in the general selection.« (invitation letter) 6 | A. d. Ü.: Die Serie Kozure okami ist im deutschsprachigen Raum üblicherweise unter dem englischen Titel Lone Wolf and Cub oder unter Okami bekannt. 7 | Nur Andreas Knigge in Alles über Comics widmet dem Manga im Vergleich zu den anderen genannten Werken mehr Aufmerksamkeit. Vgl. Andreas Knigge (2004): Alles über Comics, Hamburg: Europa. 8 | Erst kürzlich sind einige ihrer Werke in europäische Sprachen übersetzt worden: Ins Englische in der experimentellen Anthologie Sake Jock (1995) und Secret Comics Japan (2000); ins Italienische in Rose del Giappone (1995) sowie auch eine Kurzgeschichten-Sammlung namens Pale Pink (2005). Vgl. Kiriko Nananan (2005): Pale Pink, New York: Central Park Media. Kiriko Nananan (1995): »Kisses«. In: Sake Jock, Comics From Today’s Japanese Underground, Seattle: Fantagraphics Books, S. 55-64. Kiriko Nananan (2002): »Heartless Bitch«. In: Chikao, Shirato (Hg.), Secret Comics Japan: Underground Comics Now, San Francisco: Viz Communications. Giuliana Carli (Hg.) (1995): Rose del Giappone, Rome: Edizioni e/o. Ins Französische wurde Blue (2004) und Everyday (2005) übersetzt . Kiriko Nananan (2004): Blue, Paris: Casterman. Kiriko Nananan (2005): Everyday, Paris: Casterman. Blue wurde 2003 auch von Andô Hiroshi als Realfilm adaptiert. Vgl. BLUE (Japan 2003, R. Andô Hiroshi). 9 | Dieses close reading ist das erste Mal 2004 in Bologna bei der Konferenz »The troubled line. Emotion and irony in comics« präsentiert und in Italienisch publiziert worden. Ich möchte an dieser Stelle Jaqueline Berndt für die Zusendung eines Exemplars der japanischen Version und ihre nützlichen Kommentare meinen Dank aussprechen. Vgl. Pascal Lefèvre (2005): »Meno è piu. Una lectura ravvicinata di un manga alternativo, Kuchizuke (Baci) di Kiriko Nananan«. In: Daniele Barbieri (Hg.), La linea inquieta. Emozione e ironia nel fumetto, Rom: Meltemi, S. 107-124.

V ON E XPERTEN UND E XPERTINNEN ÜBERSEHEN 10 | Die Fabel wird nie preisgegeben und kann nur erraten werden, da sie eine Konstruktion des_r Leser_in ist, die sich am Plot als tatsächliche Zusammenstellung und Präsentation der Fabel festhält. Der Stil bedeutet das systematische Verwenden der Werkzeuge des Mediums (Zeichnungen und Text) und interagiert mit dem Plot auf unterschiedliche Weise. Für eine theoretische Diskussion des Unterschiedes zwischen Fabel, Plot und Stil vgl. David Bordwell (1984): Narration in Fiction Film, London: Methuen, S. 48-53; oder Mieke Bal (1997): Narratology, Introduction to the Theory of Narrative, Toronto: University of Toronto Press, S. 3-8. Beide gründen ihre Differenzierung auf den russischen Formalismus, verwenden aber andere Begriffe für den Plot: »syuzhet« [sujet] und bei Bal »story«. Für »style« verwendet Bal den Begriff »text«. 11 | Originalzitat: »It’s kind of funny Nobu. You’ll use my good-bye gift without even knowing it, completely unaware as I cover you in kisses… I like that.« 12 | Originalzitat: »Ayu, you should never fall for an asshole like that. I already made that mistake, O.K.?«

L ITER ATUR Bal, Mieke (1997): Narratology, Introduction to the Theory of Narrative, Toronto: University of Toronto Press. Berndt, Jaqueline (1995): Phänomen Manga. Comic-Kultur in Japan, Berlin: Edition q. Blanchard, Gérard (1969): La bande dessinée. Histoire des histoires en images de la préhistoire à nos jours, Verviers: Marabout Université. BLUE (Japan 2003, R. Andô Hiroshi). Bordwell, David (1984): Narration in Fiction Film, London: Methuen. Brown, Chester (1994): I Never Liked You, Montreal: Drawn & Quarterly. — (1992): The Playboy, Montreal: Drawn & Quarterly. Carli, Giuliana (Hg.) (1995): Rose del Giappone, Rome: Edizioni e/o. Dean, Micheal (2002): »Lisbon Calling. TCJ Participates in International Panel on the Century’s 100 Greatest Comics in the World«. In: The Comics Journal 249, Dezember, S. 20-25. Fuchs, Wolfgang/Reitberger, Reinhold (1971): Das große Buch der Comics, Gütersloh: Bertelsmann. Gaumer, Patrick (2001): Dictionnaire mondial de la bande dessinée, Paris: Larousse. Gravett, Paul (2004): Manga. Sixty Years of Japanese Comics, London: Laurence King. Groensteen, Thierry (1991): L’univers des mangas. Une introduction à la bande dessinée japonaise, Paris: Casterman. Lefèvre, Pascal (2006): »Overlooked by Comics Experts: The Artistic Potential of Manga as Revealed by a Close Reading of Nananan Kiriko’s Kuchizuke«. In: Jaqueline Berndt/Steffi Richter (Hg.), Reading Manga. Local and Global

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Wir sind alle Superhelden! Über die Eigenart des Körpers im Comic – und über die Lust an ihm Elisabeth Klar

Es scheint zunächst redundant, in einem weiteren Artikel über den Comic auf das Phänomen des_r Superheld_in hinzuweisen – auf jenen Figurentypus, der das Medium in den 1950er Jahren in den USA entscheidend geprägt hat und es seitdem mit großer Hartnäckigkeit verfolgt. Wenn allerdings Superman unter einem Hochhaus begraben werden kann, um gleich darauf unverletzt darunter hervor zu kriechen, unterscheidet er sichnicht wesentlich von Donald Duck, neben dem eine Bombe explodieren kann, ohne dass dieser dadurch ernstzunehmenden physischen Schaden davontrüge (vgl. LTB 227: 226).1 Tatsächlich könnte die Faszination für diesen einmal mehr einmal weniger allmächtigen Körper auch formale und im Medium Comic selbst zu situierende Gründe haben. Supermans außergewöhnliche Fähigkeiten haben möglicherweise weniger in seiner Geburt auf dem fernen Planeten Krypton ihren Ursprung, als vielmehr in seiner Geburt auf dem Blatt Papier, in seinem Körper aus Strichen und Farbflecken. Es stellt sich die Frage, ob nicht alle Comicfiguren auf ihre spezifische Art und Weise Superheldinnen sind, weil sie alle Körper besitzen, die über ungewöhnliche und übernatürliche Eigenschaften und Kräfte verfügen. Ebenso soll im Folgenden die These aufgestellt werden, dass wir, die Leser_innen, eine gewisse Lust an diesem spezifischen Comickörper verspüren. In der europäischen und US-amerikanischen Comic- und Mangaforschung ist wiederholt auf die Eigenarten des Comickörpers hingewiesen worden (vgl. Packard 2009: 29-51; Schodt 1996: 59-62; Berndt 1995: 50-55; Frahm 2010: 61113), wenn dieser Diskurs auch weniger präsent ist als in der japanischen Mangaforschung,2 die ihrerseits leider noch kaum in europäische Sprachen übersetzt worden ist. Eine Ausnahme bildet der Ausstellungskatalog Tezuka: The Marvel of Manga der National Gallery of Victoria, in dem der Artikel des japanischen Mangaforschers Go Ito zu finden ist. In »Manga History Viewed through Proto-

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Characteristics« unterscheidet er zwischen dem proto-character, dem materiellen Körper aus Strichen auf Papier, und dem character, der narrativen Figur mit distinkter Persönlichkeit und Lebensgeschichte. Dem Künstler Osamu Tezuka spricht Ito die Innovation zu, den character, also den_die Handlungsträger_in, sterben zu lassen und damit mit der vermeintlichen Unzerstörbarkeit des protocharacter, des Comickörpers, zu brechen (vgl. Ito 2007). Leider ist mir persönlich aufgrund der Sprachbarriere der Großteil der einschlägigen Publikationen zumindest vorläufig nicht zugänglich, weswegen ich, anstatt eine oberflächliche Analyse anhand spärlichen Materials zu versuchen, an dieser Stelle nur auf die Existenz dieses Diskurses hinweisen möchte. Wenn wir uns im Folgenden mit dem eigenartig übermenschlichen Comickörper beschäftigen, soll natürlich nicht vergessen werden, dass unzählige Comics realistischen Stils existieren, deren Figuren den üblichen Naturgesetzen gehorchen. Es fällt allerdings gerade im Vergleich mit anderen Medien auf, wie leicht es den Autoren und Autorinnen gelingt, dieselben Naturgesetze wieder umzustoßen. Das geschieht bevorzugt aber nicht ausschließlich im humoristischen Comic. Ohne sich dessen immer bewusst zu sein, trifft man als Leser_in in fast allen Subgenres anthropomorphe Mutationen. Vielleicht geschützt durch seine (auch historische) Nähe zur Karikatur, löst der Comic kaum Erstaunen oder Empörung aus, wenn er Figuren mit überdimensionierten Köpfen, Augen oder Nasen entwirft, die nicht immer alle an der richtigen Stelle sitzen. Vielleicht ist es sinnvoll, diese Rezeptionshaltung bewusst umzukehren und, im Sinne Ole Frahms, die Comic-Figuren nicht als Zeichen zu betrachten, die ein (fiktives oder nicht-fiktives) Original repräsentieren, sondern vielmehr als »gegenseitige Wiederholungen ohne Original« (Frahm 2002: 205). Die Comicfigur Nick Knatterton repräsentiert damit nicht (oder zumindest nicht nur) den fiktiven Menschen Nick Knatterton, dessen Abenteuer eben zufällig in Form von Bildgeschichten erzählt werden, sondern verweist gewissermaßen auf sich selbst, indem sie ihre eigene Materialität und damit Existenz auf dem Papier besitzt, und damit auch nicht unbedingt problemlos in ein anderes Medium transportiert werden kann. Dieser Zugang hat gerade bei formal innovativeren Comics große Vorteile, dessen Comickörper Aktionen durchführen, die auch in einem Superheld_innen-Universum schwer rechtfertigbar wären, und würde auch die Schwierigkeiten erklären, die bei Comicverfilmungen auftreten können.3 Wenn im Folgenden in Bezug auf die Zeichen im Comic von ikonischen, indexikalischen und symbolischen Zeichen gesprochen wird, wird konkret auf die Begriffsverwendung in Anne Magnussens Artikel »The Semiotics of C.S. Peirce as a Theoretical Framework for the Understanding of Comics« Bezug genommen. Ihr Vorschlag, einzelne Comiczeichen anhand dieser Triade aufzuschlüsseln, entkommt nicht nur dem Versuch, eine Dichotomie zwischen Bild und Text aufzustellen, sondern auch jenem, ein Zeichen einer ganz bestimmten

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Kategorie und nur dieser zuordnen zu wollen. Wie Anne Magnussen anschaulich argumentiert, ist der Comic nicht nur ein hybrides Medium im Sinne eines Gemenges von Zeichen unterschiedlichen Typus – die Hybridisierung setzt sich stattdessen auch im einzelnen Zeichen fort und lässt dieses mehreren Kategorien (ikonisch, indexikalisch und symbolisch) gleichzeitig angehören (vgl. Magnussen 2000: 195f.).

D ER K ÖRPER , UNVERLE T ZBARE E INHEIT Der Körper ist im Comic zumindest potentiell widerstandsfähiger als seine Umwelt. Zahlreiche Beispiele dafür finden sich in humoristischen Comics und in den Lustigen Taschenbüchern. Wenn in diesen Geschichten Figuren durch Wände laufen, ist es nicht selten die Wand, die nachgibt. Die Figuren hinterlassen ein Loch, das den exakten Umrissen ihres Körpers entspricht, oft haben sogar Zunge und einzelne Haare einen dementsprechend winzigen Krater hinterlassen (vgl. Holbrook: 25.11.1996).4 Der Körper erscheint hier als hart, unflexibel oder zumindest als unflexibler als seine Umwelt. Es ist bereits das Beispiel der Explosion genannt worden, die die Abgeschlossenheit der Körper in den Lustigen Taschenbüchern nicht aufbrechen kann (vgl. LTB 227: 226). Die Grenzen werden nicht durchdrungen, lediglich die Haut oberflächlich schwarz gefärbt, eine symbolische Färbung, die im Übrigen von einem Panel zum nächsten wieder spurlos verschwinden kann.

D ER K ÖRPER , E WIG VERLE T Z T Scheinbar im Widerspruch dazu steht die These, der Körper werde im Comic immer und auf wiederholte Weise verletzt, von Panel zu Panel; seine Einheit sei nie garantiert, er bestehe nur als Fragment. Tatsächlich werden die Figuren vom Panelrand zerschnitten, der Unterleiber amputiert oder überhaupt nur einen Arm oder eine Hand agieren lässt.5 Körperteile und Gliedmaßen werden isoliert und über die Seite verteilt, um sich auf wunderbare Weise in einer gemeinsamen Identität wiederzufinden, die Donald Duck oder Dick Tracy heißt. Die Figuren mögen diesen kleinen Tod meist nicht thematisieren, den sie in fast jedem einzelnen Panel erleiden, um im nächsten als anderes Puzzleteil ihrer selbst wieder zum Leben erweckt zu werden, erleben in unserem für Metadiskurse affinen Zeitalter aber durchaus auch bewusste Momente: Im Internetcomic Sinfest erkennen die Figuren in einem »Metacomic«, dass sie keine Beine besitzen (vgl. Ishida: 05.03.2007). Vielleicht führt auch diese strukturelle und alltägliche Gewalt am Comickörper zu jener Vielfalt an ungewöhnlichen Verletzungen, die denselben Körpern

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Abbildung 39: Die Figuren in Sinfest werden sich ihrer papierenen Existenz bewusst (Ishida: 05.03.2007)

in Comics (vor allem in jenen für Erwachsene) zugefügt werden. Möglicherweise erleichtert das formale Zerschneiden des Körpers das Zerschneiden, Zerstechen und Zerreißen auf der Erzählebene. In einem Comic des Sammelbandes XXXStripburger ist eine Frau in der Lage, zu weinen, obwohl ihr Kopf schon längst von ihrem Körper getrennt ist (vlg. Stripburger 1999: 71). Dieses Beispiel ist natürlich nicht repräsentativ für die Praxis des Mainstreamcomics im Allgemeinen: Es gehört dem Bereich alternativer Comics an und parodiert die Präsenz sexueller Gewalt in der (japanischen) Comicpornographie. Trotzdem stellt sich die Frage, ob dieser spezifische Körper nicht explizit macht, was ohnehin alle Charaktere im Comic tun, nämlich als vereinzelte Körperfragmente zu agieren?

D ER K ÖRPER , ENTGRENZ T Wenn vorhin argumentiert worden ist, dass der Körper im Comic eine fest abgegrenzte Einheit darstellt, wenn durch die genaue Linie des Cartoon-Stils6 die Grenze zwischen Innen und Außen betont deutlich ist, ist dieselbe andererseits mit einem einzigen Radierstrich auslöschbar, mit einer Handbewegung entfernbar. Viele Helden und Heldinnen des Comics haben nie als physisch abgegrenzte Individuen existiert: Bei Walter Moers verläuft der Strich von ihrer Nase nach unten und endet im Nichts, die Stilisierung der Haare scheint vage Körperöffnungen zu vervielfältigen (vgl. Moers 1997). Guido Crepax zeichnet nach außen offene Figuren, deren unabgegrenzte Gesichter sich mit dem Weiß des Blattes verbinden (vgl. Crepax 1977: o.P.). Ebenso verwendet Nine Antico die Technik dieser Art von Entgrenzung, um die instabile Identität ihrer adoleszenten Charaktere auszudrücken, die in den sich gerade in der Entwicklung befindenden Körpern erst einmal ihre Grenzen austesten müssen, und auch erst lernen müssen, dieselben Grenzen gegenüber der Umwelt zu verteidigen, sie festzuschreiben. In Le goût du paradis vereinigen sich die Körper der Figuren dementsprechend recht wörtlich, wenn sie sich küssen (vgl. Antico 2008: 88).

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D ER K ÖRPER , UNVERMEIDBAR Der Körper ist im (narrativen) Comic nicht vermeidbar, oder zumindest nicht ohne einen beträchtlichen formalen Aufwand.7 In literarischen Texten muss das ›Aussehen‹, d.h. der Körper der Charaktere, nicht unbedingt festgeschrieben werden, weil relativ neutrale Personalpronomina, Eigennamen oder andere Supplemente, die die Anwesenheit von einem_r potentiellen Handlungsträger_ in symbolisieren, denselben ersetzen können. Dass diese Person oder Entität auch einen Körper hat, spielt eigentlich eine kleine Rolle – tatsächlich müsste dieser Körper, falls gewünscht, sogar durch explizite Beschreibung mühsam heraufbeschworen werden, es muss auf ihn hingewiesen werden, während er im Comic sozusagen einfach ›da ist‹, also gezeigt wird, ohne dass dabei seine Bedeutung oder Besonderheit betont würde. Es soll nun mit diesen Ausführungen nicht nahe gelegt werden, dass es keine Bestrebungen gäbe, die relative Neutralität8 und rein symbolische Funktion der Personalpronomen und Eigennamen zurückzugewinnen. Im Gegenteil ist der Körper mit seiner multiplizierten Anwesenheit, die Panel für Panel, Seite für Seite neu erschaffen werden muss, auch unbequem, und den Zeichnern und Zeichnerinnen vermutlich eine Last. Schließlich verlangt er, je detaillierter und realistischer seine Darstellung ist, umso mehr Zeichenaufwand. Dieses Kopieren einer Figur per Hand geht, wie wir noch sehen werden, bis zu einem gewissen Grad zu Lasten ihrer Identität beziehungsweise der Stabilität dieser Identität. Einerseits muss folglich der Wille vorhanden sein, das selbe Motiv immer und immer wieder zu zeichnen, zu reiterieren, was sich bei einigen Comickünstlerinnen und -künstlern in einer Tendenz ausdrückt, überhaupt nur noch um ein Motiv in all seinen kleinen Variationen zu kreisen. So begnügen sich manche Künstler_innen mit einer einzigen Figur oder zumindest einem sehr reduzierten Figurenpersonal oder lassen alle Figuren einander ähneln, als Variationen eines bestimmten Körpers. Exemplarisch führt dies Guido Crepax vor, dessen weibliche Heldinnen oft deutlich an die Figur der Valentina erinnern (vgl. Crepax 1977: o.P.; Crepax 1986: o.P.). Eine andere und von vielen Comickünstler_innen geteilte Strategie ist jene, häufig gezeichnete Motive wie zum Beispiel eben die Körper der Hauptfiguren, dem symbolischen Zeichen, und damit einem konventionellen und arbiträren Kode, anzunähern. So werden charakteristische Merkmale im Aussehen der Figuren hervorgehoben und dieselben simplifiziert. Einzelne Personen unterscheiden sich nur noch durch Haarschnitt oder Kleidung voneinander9 oder durch andere leicht wiedererkennbare und reproduzierbare Merkmale. Manche Künstler_innen wie Randall Munroe in xkcd gehen so weit, ihre Figuren auf Strichmännchen zu reduzieren (vgl. Munroe: Nr. 720).10 Bei diesem Webcomic sind bestimmte Figuren über mehrere Strips hinweg kaum wiedererkennbar.

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Oft ist die einzige Distinktion zwischen den dargestellten Körpern das Vorhandensein von langen oder kurzen Haaren (was Mann und Frau trennt). Nur in speziellen Fällen, in denen die Unterscheidung und Identifikation einzelner Figuren von besonderer Bedeutung ist, werden Brillen, Bärte und andere Attribute hinzugefügt (vgl. Munroe, Nr. 578).11 Diese Praxis nähert sich vermutlich am meisten der genannten Verwendung der Personalpronomina im Text an. Bedeutsam ist außerdem, dass der Comickörper in seiner Unvermeidbarkeit auch einen gewissen Platz einnimmt und dieser Platz ihm im ohnehin einschränkenden, einsperrenden Panel auch konkret zugestanden werden muss. Er verdeckt den Hintergrund und/oder andere Körper; zwischen ihm und den von ihm geäußerten Worten wird immer ein Wettkampf um den Platz auf der Seite stattfinden. Die Platzökonomie des Comics, sein Zwang, auf einer Seite eine gewisse Erzähleinheit zusammenfassen zu müssen, unterscheidet dieses Medium entscheidend vom Textfluss, der die Seitengrenze ganz im Gegenteil unsichtbar, unmerklich zu machen versucht, statt sie herauszustreichen.12 Auf diese Platzökonomie, die damit auch immer eine Platzpolitik ist, weist Ole Frahm in seinem Artikel Weird Signs hin, in dem er beschreibt, wie im Comic Old Doc Yak der gleichnamige Charakter von der Seite vertrieben wird, weil er die Miete für den ihm zugestandenen »Raum« [space] nicht mehr bezahlen kann (Frahm 2002: 205ff.).

D ER K ÖRPER , ALS S ERIE Wir haben also bereits nachvollzogen, wie der Körper einerseits endlos kopiert und auf der Seite oder den Seiten verteilt wird. Dabei geschieht diese Kopie andererseits typischerweise per Hand, kann daher nie perfekte Reproduktion desselben Zeichens sein, umso weniger, als derselbe Körper aus unterschiedlichen Perspektiven und in unterschiedlichen Körperhaltungen gezeichnet werden muss: Man sieht niemals zweimal dieselbe Comicfigur auf derselben Seite. Die vielen simultan vorhandenen und über die Seite verteilten Körper werden folglich erst durch den_die Leser_in in eine Sequenz von Körpern oder eine Sequenz von Blicken auf denselben Körper verwandelt, der dann nicht als vervielfacht und simultan, sondern als einzeln aber zu unterschiedlichen Zeitpunkten anwesend interpretiert wird. Man mag hier einwenden, dass der Körper des Kinos eine ähnliche Multiplikation erfährt, da die Kamera ebenso eine Reihe an Fotos desselben Objekts aneinander reiht. Der animierte Körper unterscheidet sich allerdings entscheidend vom Comickörper, da der_die Zuschauer_in sich in der Animation der tatsächlichen Multiplikation nicht bewusst werden kann, da ihm_r die Körper nicht simultan über den Raum verteilt, sondern einander am selben Ort ablösend präsentiert werden, was die Illusion der körperlichen Identität verstärkt.

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Der Animationsfilm nimmt hier natürlich eine Ausnahmestellung ein und tatsächlich sind Serien wie TOM AND JERRY (USA 1965-1972) exemplarisch für gewisse Eigenarten des Comickörpers – insbesondere für jenen seiner Widerstandsfähigkeit. Filme wie MUTANT ALIENS (USA 2002) oder KANASHIMI NO BERADONA (JAPAN 1973) erhalten möglicherweise auch kaum mehr die Illusion körperlicher Identität aufrecht.13 Die Simultaneität und gleichzeitige Diachronizität der Körper, die die Comicseite bietet,konnte jedoch auch in diesen Beispielen nicht umgesetzt werden und ist im Film letztendlich nicht praktikabel. Sich zwischen Panels zu verstecken, wie es Old Doc Yak tut, würde selbst der Animé-Figur Belladonna nicht in den Sinn kommen. Graphik arbeitet mit Ähnlichkeit, mit Wiedererkennbarkeit und Abweichungen. Das Körperzeichen, das, wie wir gesehen haben, ohnehin immer schon zwischen Ikonizität und Symbolizität changiert, ist also ein unsicheres, und unsere Lektüre ebenso. Die charakteristischen Merkmale und Attribute von Figuren schaffen es, uns darüber hinwegzutäuschen, dass wir uns eigentlich nie ganz sicher sein können, ob die Figur, die wir da wiederzuerkennen glauben, auch wirklich dieselbe ist wie jene, die wir in einem früheren Panel als ein bestimmtes Individuum identifiziert haben. Im Gegensatz dazu scheinen sprachliche Zeichen eine große Sicherheit zu liefern: Personalpronomina variieren zumindest nicht wesentlich auf der Ebene des Signifikanten. Spätestens aber der Eigenname einer Person schreibt diese auf der auktorialen Ebene fest.14 Scott McCloud weist auf das Phänomen hin, wonach viele Zeichnerinnen und Zeichner sehr realistische Hintergründe mit cartoonhaften Figuren kombinieren, und führt dies darauf zurück, dass der_die Leser_in sich mit einer simplifizierten Darstellung stärker identifizieren kann als mit einer realistischen. Mit der genannten Strategie wird so nach Scott McCloud eine Identifizierung mit den Handlungsträgern und -trägerinnen vereinfacht, während deren Umgebung als ein »Außen« erkannt wird, mit dem folglich auch keine Identifikation stattfindet (vgl. McCloud 1994: 40-44). Wenn diese Argumentation auch reizvoll ist, könnte das genannte Phänomen wesentlich pragmatischere Gründe haben. Während die Protagonist_innen simplifiziert dargestellt werden müssen, um Wiedererkennbarkeit und Reproduzierbarkeit zu ermöglichen, muss die Umgebung nicht unbedingt in diesem Maße serialisiert werden und kann sich deshalb wieder einer realistischen Darstellung annähern. Vorausgesetzt natürlich, die Figuren sind in Bewegung und der Hintergrund kann sich ändern. Bezeichnenderweise wird derselbe oft einfach weggelassen, wenn die Figuren still stehen: Die einmal gegebene Information wird als ausreichend empfunden, es wird angenommen, dass der_die Leser_in sie selbst auf die folgenden Panels überträgt (vgl. Krafft 1978). George Herriman folgt, konfrontiert mit demselben Problem, einer anderen und sehr individuellen Strategie, indem er die Umgebung sich verändern lässt, obwohl die Figuren still stehen (vgl. Herriman 2008: 20; Balzer 2002).

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In diesem Kontext wird uns auch nicht die Aussage Lewis Trondheims verwundern, er habe am Anfang seiner Karriere vor allem deshalb so viel mit Wiederholung gearbeitet, weil er noch nicht gut zeichnen konnte (vgl. Balzer 1998: 176). Hier tritt der mimetische Charakter des Körperzeichens zurück und wir landen bei Protagonisten und Protagonistinnen als simples I oder O, die dann tatsächlich auch »Monsieur I« oder »Monsieur O« genannt werden und damit schon fast gänzlich in das symbolische Sprachsystem übergegangen sind (vgl. Trondheim 2004; 2007). I und O werden in vielen winzigen fast identischen Panels über die Seite verteilt, und erleben viele fast identische Abenteuer mit fast identischem Ausgang – wobei dann natürlich in der Variation der Witz dieses Comics liegt.15 Lewis Trondheim hat, folgt man unseren Überlegungen, zumindest zu Beginn seiner Karriere weniger Comics gezeichnet denn geschrieben.

S PR ACHE DES K ÖRPERS , K ÖRPER ALS S PR ACHE Wenn hier behauptet wird, Trondheim hätte seine Comics zumindest teilweise ›geschrieben‹, also auch die in seiner Geschichte auftretenden Körper geschrieben und folglich nicht gezeichnet, was hat das für unseren Kontext zu bedeuten? Wenn der Körper im Comic doch weiter oben gerade von seiner Präsenz und Funktion im Text, also in der Sprache, unterschieden worden ist, inwiefern kann dann zu einem Comickörper als sprachlicher Kode zurückgekehrt werden? Wir haben gesehen, dass die Grundproblematik des Erzählens im Comic sich darin stellt, ein eigentlich ikonisches Zeichen konstant reiterieren zu müssen, und zwar auf eine Weise, die einerseits Variationen zulässt, aber andererseits eine gewisse Wiedererkennbarkeit ermöglicht. Diese beiden miteinander konkurrierenden und doch für die Narrativität gleichermaßen essentiellen Aspekte führen zu einer destabilisierten Lektüre. Ebenso macht es aus dem Körper ein destabilisiertes Zeichen, zwischen Ikonizität und Symbolizität changierend. Dabei scheint der tatsächliche Text im Comic eine Funktion zu erfüllen, die, wenn derselbe wegfällt, von den restlichen Zeichen übernommen werden muss. So kommt es oft gerade in den wortlosen Comics zu einer ganz besonders deutlichen Simplifizierung und damit Symbolhaftigkeit – wie zum Beispiel bei Space Dog von Hendrik Dorgathen (vgl. Dorgathen 1993). Wenn die Annäherung des Comickörpers an das Symbol, folglich an die Sprache, eine Strategie ist, eine gewisse Sicherheit im Rezeptions- und Produktionsprozess herzustellen, wird die daraus folgende Praxis dieselbe Sicherheit allerdings sehr schnell subvertieren. Viele der über- oder außernatürlichen Eigenschaften des Körpers in diesem Medium sind auf seinen symbolischen wie gleichzeitig ikonischen Charakter zurückzuführen. Die Sprache in Comics wird tatsächlich zu einem großen Teil über den Körper ausgetragen, in diesem manifestieren sich Metaphern und Redewendun-

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gen. Wenn einer Figur im Comic die Augen herausfallen, können sie dies recht wörtlich tun. Ebenso können Comic-Figuren die Haare zu Berge stehen, sie können Vögelchen sehen, miteinander verschmelzen oder im Schatten eines Abbildung 40: Verkörperungen von Metaphern und Redewendungen bei Sylvie Fontaine (Fontaine 2007: 27)

Anderen stehen. In dem französischen Comic Le poulet du dimanche, das ebenfalls auf Text verzichtet, wird die Geschichte ausschließlich über seine Körper erzählt – diese sprechen durch ihre Transformationen, Metamorphosen, Mutationen über ihre dysfunktionalen zwischenmenschlichen Beziehungen. Die Ehefrau zerschneidet den Gatten recht wörtlich mit ihrer Zunge (vgl. Fontaine 2007: 27), ein Junge wird tatsächlich zu einem hölzernen Ast zwischen dem gepanzerten harten Vater und der pflanzenhaft mutierenden und sich in Schlingpflanzen verwandelnden Mutter (vgl. ebd.: 25). Die alleinige Aussage, der Körper diene im Comic zur Visualisierung von Text, wird allerdings der Komplexität des Phänomens noch nicht gerecht. Er verliert nämlich zugleich, selbst wenn er sich dem symbolischen Zeichen bereits sehr angenähert hat, nie seine ikonische Komponente, und nie seinen Anspruch auf Platz auf der Comicseite, die ihm eine gewisse Realität, eine Materialität verschafft. Comic-

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symbole und -metaphern können von einem ›Moment‹ (also Panel) zum anderen ihren figurativen Charakter verlieren und beim Wort genommen werden. So kann es vorkommen, dass die Wolke, die als Sinnbild der schlechten Laune einer Figur über derselben schwebt, dieser auch noch einen Blitzschlag verpasst (vgl. LTB 260: 193). Betrachten wir an dieser Stelle zwei Strips des Sammelbandes La femme toute nue von Karine Bernadou (vgl. Bernadou 2007). In dem Strip Comment j’ai perdu la tête [Wie ich den Kopf verloren habe] beugt sich die Protagonistin über einen Fluss und beobachtet ihr Spiegelbild. Die mythische Gestalt Narziss Abbildung 41: Das Schlittern auf der Ebene des Signifikanten (Bernadou 2007: o.P.)

Abbildung 42: Ein Signifikant übernimmt mehrere Bedeutungen (Bernadou 2007: o.P.)

nachahmend nähert sie sich diesem Spiegelbild an, und taucht den Kopf in den Fluss. Als sie ihn wieder herauszieht, hat ihr Kopf tatsächlich die Form ihres Spiegelbildes, also ihres kopflosen Körpers, angenommen (vgl. ebd.: o.P.). In dem Strip C’est la fête [ Wir feiern ein Fest] spielt Bernadou dagegen mit einem bestimmten Zeichen, einem roten Dreieck, das einmal die Vagina der dargestellten Figur bedeutet, einmal ihren lachenden Mund, einmal ein Champagnerglas, das sie in der Hand hält, und einmal ihren Partyhut (vgl. ebd.: o.P.). Abgesehen davon, dass man beide Strips in einen intertextuellen Bezug zu René Magrittes Bild Die Vergewaltigung (1934) setzen könnte, kann man hier außer-

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dem ganz explizit zwei einander ähnliche doch gegenläufige Phänomene des Comics erkennen. Im ersten Strip verwschwindet der Kopf im Wasser und verwandelt sich so auf visueller Ebene in den kopflosen Körper. Weil aber auf der Ebene des Signifikanten ein Weiterschlittern [glissement] stattfindet, bleibt der Kopf auch in dieser Form, als die ›ganz nackte Frau‹ [la femme toute nue] ihn wieder aus dem Fluss herauszieht. Diese Dynamik erinnert daran, was Jacques Lacan in L’instance de la lettre dans l’inconscient in Bezug auf die Dynamik rein sprachlicher Zeichen im Unbewussten beschreibt (vgl. Lacan 1999: 499f.). Und es ist auffallend, was für eine wichtige Rolle dieses Verrutschen entlang der Signifikantenkette für das Erzählen im Comic einnimmt. Im zweiten Strip sehen wir, dass allerdings auch auf der Ebene des Signifikats eine Bewegung einsetzen kann: Das rote Dreieck bedeutet einmal Champagnerglas, einmal Lächeln, einmal Partyhut, einmal Vagina. Auch Zeichen, die wie der Text eine rein symbolische Funktion erfüllen, werden im Comic von anderen Registern kontaminiert. Der Comic berücksichtigt die Materialität des Buchstabens in einem Maße, das weit über das formale Spiel der konkreten Poesie hinausgeht: Wie Jens Balzer in seinem Artikel Ungleichzeitige Gegenwart ausführt, wird die Schrift »in kleine Teile zerschlagen« und »über den Bildraum zerstreut« (Balzer 1999: 19). Ihr wird wie jedem anderen Comiczeichen ein bestimmter Platz zugewiesen, sie wird über das lettering visuell modifiziert, um zusätzliche (oft den Stimmlaut betreffende) Information zu transportieren. Dies kann so weit gehen, dass diese Materialität ins fiktive Comicuniversum integriert wird, die Sprache zu einer effektiven Körperausscheidung wird: Im Webcomic Kevin and Kell wird die physische Materialität von Sprechblasen, die von den Figuren offensichtlich auch gesehen werden, innerhalb der Fiktion wissenschaftlich erklärt (vgl. Holbrook: 11.05.2003). Diese Hybridität jeglichen Zeichens im Comic, das immer zwischen symbolischen, indexikalischen und ikonischen Funktionen schlittert, das Metaphern einmal figurativ und dann wieder vollkommen wörtlich nimmt, ermöglicht auch dem Comickörper eine Zwischenexistenz, die sich niemals ganz festlegen muss. Über eine gewisse Materialität verfügend, kann dieser im nächsten Moment schon wieder sprachlichen Assoziationsketten folgen. Und wenn es für den Comickörper möglich ist, in einem Moment in den Boden gestampft zu werden und im nächsten wiederhergestellt und heil zu sein, dann hat er das vielleicht genau dieser sich immer entziehenden Ambiguität zu verdanken: Nicht zuletzt stirbt er doch im Grunde in jedem Panel und ersteht im nächsten wieder auf – oder ein anderer Körper ersteht im nächsten Panel, dem vorangegangenen nur ähnlich, aber mit ihm nicht identisch. Dies ist nicht nur als ein Potential des Mediums Comic anzusehen, sondern findet sehr konkret in die Praxis Eingang. Nicht nur Little Nemo in Slumberland und Krazy Kat bedienen sich der Serialität, d.h. des Prinzips, dass man immer wieder vom gleichen Ausgangspunkt ausgehen und jedes Mal den gleichen Mo-

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ment beschreiben kann, eine Vielzahl an möglichen Variationen des gleichen Abenteuers anbieten kann.16 Auch zeitgenössische Künstler_innen folgen dieser Logik. Die seriellen Comics von Lewis Trondheim wurden bereits erwähnt, aber auch Trickfilmserien wie die THE SIMPSONS (USA 1989ff.) und SOUTH PARK (USA 1997ff.) bedienen sich der Prämisse, dass zu Beginn der nächsten Folge die Ereignisse der vorhergehenden oft ungeschehen gemacht sind. Kenny, eine Figur aus SOUTH PARK (USA 1997ff.), stirbt in jeder Episode und kehrt in der nächsten wieder, wie auch der Comickörper in jedem Panel stirbt und im nächsten wiederkehrt und gerade deshalb potentiell unzerstörbar ist. Hier ist allerdings wiederum auf Go Itos Artikel »Manga History Viewed through ProtoCharacteristics« hinzuweisen, in dem Ito argumentiert, dass durch den Tod des character (der Figur) mit der Unsterblichkeit des proto-character (des materiellen Comickörpers) gebrochen wird (vgl. Ito 2007).

D ER C OMICKÖRPER UND DIE L UST AN IHM Bei all dieser Destabilisierung, die der Körper und die Lektüre dieses Körpers im Comic erfährt, muss dieser doch eine gewisse Sicherheit in der Rezeption bieten, sonst wäre eine Aussage wie die Serge Tisserons nicht möglich, der den Comic seiner Kinderzeit als »havre de sécurité« [sicheren Hafen] empfunden hat (Tisseron 2000: 7). So grenzüberschreitend und (Körper-)Grenzen auslöschend die Praxis im Comic oft ist, so streng verfährt meist auch das Panel mit diesen Ausschweifungen und grenzt sie penibel ein. Gerade in Le poulet du dimanche, dessen Körper exzessive und die Identität extrem gefährdende Transformationen durchmachen, werden dieselben Exzesse rigide in Panels eingerahmt, und die Panels wiederum werden in gleichförmigen rechteckigen Kästen auf der Seite angeordnet, wie man es auch deutlich in Abbildung 2 sehen kann (vgl. Fontaine 2007: 27). Das Verrutschen und Verrücken von Signifikat und Signifikant wird auf der Seite ausgespielt, aber auch auf diese Seite verbannt. In Comics, die ihre Panels weniger rigide voneinander trennen, agiert zumindest diese Seite als letztes und unüberschreitbares Metapanel – vielleicht auch als der eigentliche Körper des Comics, dessen Haut, mit ihrem so scharfen Rand, nicht entgrenzt werden kann, und nur durch das Umblättern, durch den_die Leser_in überwunden werden kann. Das Zerschneiden des Körpers durch den Panelrand schließlich ist wiederum eine Maßnahme, die zwar die Lektüre destabilisiert, sie aber andererseits auch erst möglich macht. Nur durch das Einteilen der Seite in Zeitpunkte kann eine Leserichtung, eine Sequenz, und damit Sinn hergestellt werden. Gleichzeitig wird auf diese Weise die simultane Lektüre nicht obsolet, und das Changieren zwischen den beiden Lektüren ist vielleicht genau das, was den Comic zu einem solch reizvollen Medium macht. Denn dass die Lust existiert, den

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eigenen Körper den Regeln des Comics zu unterwerfen, zeigt nicht zuletzt der Film THE MASK (USA 1994). Dieser Realfilm stellt zwei unterschiedliche Universen gegenüber, das reale Universum und das Comicuniversum. Der Protagonist muss eine Maske aufsetzen, um zu einer Comicfigur zu werden, die dann auch über einen dementsprechend grotesken und gleichzeitig unzerstörbaren Comickörper verfügt. Sobald der Held die Maske wieder absetzt, ist er jedoch genau denselben Naturgesetzen unterworfen wie alle anderen Menschen auch. Vielleicht ist der Grund dieser Lust oder dieses Begehrens darin zu suchen, dass der Comickörper sich jeglicher Festlegung entzieht, ohne aber dabei gleichzeitig jeglichen Halt zu verlieren. Wie Ole Frahm sagt, bestätigen die WieAbbildung 43: Jekyll verwandelt sich in Hyde (Crepax 1996: 86)

derholungen »zugleich eine Identität und sie zerstreuen diese Identität« (Frahm 2002: 213). Die Figuren werden in jedem einzelnen Panel neu definiert und damit festgeschrieben, mit all ihren karikierenden und simplifizierenden – durchaus auch stereotypisierenden – Merkmalen. Wenn man dem Comic damit aber die Vielschichtigkeit von Charakteren abspricht, vergisst man, dass im nächsten Panel bereits alles wieder ganz anders sein kann, dass zumindest theoretisch jede noch so fantastische Metamorphose möglich ist. Die Typisierungen erfolgen sehr wohl, sind jedoch flexibel. Guido Crepax zeigt in Jekyll and Hyde über eine Seite hinweg die langsame Verwandlung des Professors in seine zweite Persönlichkeit: Jekyll ist dem Jekyll im nächsten Panel zwar ähnlich, rutscht

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aber über kleine Variationen auf der Ebene des Signifikanten weiter, bis er tatsächlich eine andere und nicht mehr als er selbst wiedererkennbare Figur geworden ist, nämlich Hyde (vgl. Crepax 1996: 86). Die chinesische Comicautorin Lau Lee-lee stellt zwei einander fast bis aufs Haar gleichende androgyne Gesichter nebeneinander und untertitelt dies mit »There is a great difference between men and women« (Lau 1998: 64; Wong/Cuklanz 2006: 80). Der_die Comicleser_in wird die Ironie der Aussage erkennen, die den (scheinbar) gleichen Signifikanten willkürlich zwei verschiedene Signifikate (hier Geschlechter) zuteilt. Eine schöne Analyse der Arbeit dieser feministischen Hongkonger Autorin findet man in Wendy Siyuyi Wongs und Lisa M. Cuklanz’ Artikel Humor and Gender Politics (Wong/Cuklanz 2006). Karine Bernadou versieht ihrerseits Mann und Frau mit sehr deutlichen Geschlechtsunterschieden. Dafür kann es durchaus passieren, dass im wilden Liebesspiel, das durch einen Wirbelsturm an Strichen und Flecken dargestellt wird, die Genitalien ihre Besitzer wechseln – die Comickörper haben sich eben recht wörtlich miteinander vermengt, und beim Wiederzusammenfügen sind Attribute durcheinander gekommen (vgl. Bernadou 2007: o.P.). Was am Festhalten an fixen Geschlechtsidentitäten problematisch ist, kann vermutlich nirgendwo besser demonstriert werden als am Comickörper, der keine Identität ›besitzt‹, sondern sie im Ritual immer wieder reiterieren und performieren muss – und nicht zufällig vergleicht Ole Frahm die parodistische Qualität der Comiczeichen mit der »gender parody« Judith Butlers (Frahm 2002: 204). Auch wenn Comicfiguren also nicht unbedingt auf ein »Original« verweisen, sind sie deshalb weder rein selbstreferentiell noch unpolitisch – im Gegenteil. Die Lust an der Comicfigur ist damit möglicherweise nicht nur einfach eine Lust am unzerstörbaren Überkörper und Übermenschen, sondern vielleicht vielmehr eine Lust an einer Identität, die sich immer wieder neu erschaffen muss, die wie ein Phönix immer wieder aus der eigenen Asche aufsteigen muss, und Kontinuität wie Abweichung oder Veränderung spielerisch performiert. Die Figuren sind sich selbst niemals gleich, aber sie sind sich selbst ähnlich, und können sich damit wiedererkennen. Jedes Panel bedeutet nicht nur eine Gefährdung der Kontinuität, sondern auch eine Chance auf Veränderung, die damit auch die Rückkehr zum Ausgangspunkt jederzeit möglich macht: Der geköpften Frau des Comics in XXXStripburger wird am Ende der Geschichte ihr Kopf einfach wieder aufgesetzt, sie ist heil, und alles scheint so, als wäre nichts passiert (vgl. Stripburger 1999: 79) – bis zum nächsten Panel, in dem alles schon wieder ganz (oder fast ganz) anders sein kann.

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A NMERKUNGEN 1 | In der von Walt Disney herausgegebenen Reihe der Lustigen Taschenbücher wird die Autor_innenschaft der einzelnen Geschichten nicht angegeben, auch sind die Bände wesentlich einfacher über die fortlaufende Nummerierung als über die Jahreszahl ihres Erscheinens zu identifizieren. Deshalb werden sie im Folgenden mit der Abkürzung LTB für Lustige Taschenbücher und der Bandanzahl zitiert werden. 2 | Ich möchte an dieser Stelle Go Ito und Jacqueline Berndt dafür danken, mich auf den Körper-Diskurs in der japanischen Mangaforschung und auf den im Folgenden genannten Ausstellungskatalog Tezuka: The Marvel of Manga hingewiesen zu haben. 3 | Der Comic-Künstler Alan Moore verurteilt jegliche Transposition vom Comic in den Realfilm zum Scheitern. Vgl. Alan Moore/Adams Rogers (2009): »Legendary Comics Writer Alan Moore on Superheroes, The League, and Making Magic«. In: Wired Magazine 17:3. Thomas Vogler analysiert in seinem Artikel Anodder Odyssey sehr schlüssig, auf welcher Ebene die Tank-Girl-Verfilmung dem Comic nicht gerecht werden konnte. Vgl. Thomas Vogler (1998): »Tank Girl, Anodder Oddyssey: Joyce Lives (and Dies) in Popular Culture«. In: Other Voices, v.1, n.2. Online unter: http://www.othervoices.org/1.2/tvogler/tankgirl.php (Letzter Zugriff: 01.05.2010). 4 | Das Archiv des Webcomics Kevin and Kell von Bill Holbrook wird auf der Homepage nach dem Datum organisiert, an dem die entsprechenden Strips online gestellt wurden. Dieses Ordnungssystem wird in unserer Zitierweise übernommen – ebenso gilt dies für andere Webcomics mit dem selben Ordnungssystem. 5 | Donald Ault zeigt in seinem Artikel »Cutting Up« Again Part II, wie im Comic der Körper der Figuren durch den Panelrand in Fragmente zerschnitten wird. Vgl. Donald Ault (2000): »›Cutting Up‹ Again Part II. Lacan on Barks on Lacan«. In: Anne Magnussen/ Hans-Christian Christiansen (Hg.), Comics & Culture. Analytical and Theoretical Approaches to Comics, Copenhagen: Museum Tusculanum Press, S. 135. 6 | Den Begriff »Cartoon« verwende ich im Sinne Scott McClouds, der damit einen simplifizierenden Zeichenstil beschreibt. Vgl. Scott McCloud (1994): Understanding Comics. The Invisible Art, New York: Harper Perennial, S. 28-43 7 | Eine Ausnahme ist möglicherweise die Geschichte Esclavage ordinaire [Die normale Sklaverei] von Brüno in der engagierten Comic-Anthologie Paroles sans papiers. Dieser Comic zeigt bis auf ein einziges Panel nur unbelebte Objekte und leere Straßen. Im vorletzten Panel sieht man allerdings einen Hinterkopf, vermutlich den der Protagonistin. Die Geschichte hätte aber natürlich genauso gut ohne die Abbildung des Hinterkopfes auskommen können. Vgl. Brüno (2007): »Esclavage ordinaire«. In: Alfred Chauvel/David Chauvel (Hg.), Paroles sans papiers, Tournai: Delcourt, S. 36-41. 8 | Personalpronomen sind in Bezug auf das Gender der Figur natürlich alles andere als neutral. 9 | Ein gutes Beispiel wären hier Donald Duck und seine Verwandten Vgl. Walt Disney (1996): Lustiges Taschenbuch 227, Wien: Egmont.

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E LISABETH K L AR 10 | Das Archiv des Webcomics xkcd von Randall Munroe ist nicht nach dem Datum der Publikation der einzelnen Strips geordnet sondern nach ihrer Nummer. Da die Strips über die Nummer eindeutig identifizierbar sind, wird dieses Ordnungssystem für unsere Zitierweise übernommen. 11 | Im Strip Nr. 578 und seinen Folgestrips zum Beispiel ist die Identifizierbarkeit der Charaktere deshalb wichtig, weil es sich um prominente Schauspieler_innen handelt. 12 | In den Comics der Sonntagsbeilagen von Zeitungen Anfang des 20. Jahrhunderts hatte die Funktion der Seite als Erzähleinheit seine Gründe wohl vor allem in den Publikationsbedingungen. Die Doppelseite als Einheit bleibt allerdings auch in der aktuellen Produktion (zumindest im Druck) unumgänglich. Der gedruckte Comic erlaubt einen fast sofortigen Überblick über die Inhalte einer (Doppel-)Seite. Erst das Umblättern setzt dieser synchronen Rezeption der Zeichen ein Hindernis. Eine Entgrenzung der Seite kann das Webcomic bieten. 13 | Bei MUTANT ALIENS (USA 2002) ist der Übergang von Frame zu Frame keineswegs bruchlos, bei KANASHIMI NO BERADONA (JAPAN 1973) wurde aus fianziellen Gründen über weite Strecken des Films überhaupt nur mit Standbildern gearbeitet. Dieser Animé nähert sich in seiner Ästhetik tatsächlich bereits deutlich dem Comic an. 14 | Der Eigenname spielt natürlich auch im Comic eine wichtige Rolle und kann auf auktorialer Ebene von einem_r Erzähler_in festgeschrieben werden – nicht umsonst verweisen die Titel vieler Comicserien auf die Namen ihrer Hauptfiguren und werden über diese Namen erinnert. Gibt es allerdings keine_n Erzähler_in und wird der Name nur auf der Ebene der Personenrede evoziert, ist dessen Status wesentlich unsicherer. 15 | Jochen Gerner demonstriert in Contre la bande dessinée das Prinzip der Serie sehr anschaulich, indem er Zitate aus der Comicserie Aventures complètes du fils des âges farouches auswählt und juxtaposiert. In diesen Zitaten wird dieselbe Aussage (dass ein bestimmter Vulkan ein bestimmtes Volk unter Lava begraben hat) in Variationen immer wieder wiederholt. Als aufmerksame_r Leser_in fällt auf, dass die kritischen Zitate über den Comic, die Jochen Gerner ebenso juxtaposiert, demselben Prinzip der Serie – der Ähnlichkeit und der Variation – gehorchen und sich damit dem Medium annähern, das sie verachten. Vgl. Jochen Gerner (2008): Contre la bande dessinée. Choses lues et entendues, Paris: Association, o.P. 16 | Die Figur Little Nemo erlebt in Little Nemo in Slumberland Traumabenteuer, die immer mit seinem Erwachen enden. Vgl. Winsor McCay (1990): Complete Little Nemo in Slumberland, Seattle: Fantagraphics. Krazy Kat dreht sich hauptsächlich darum, dass eine Maus einer Katze einen Ziegelstein an den Kopf zu werfen versucht und ein Polizisten-Hund das verhindern möchte. Vgl. George Herriman (2008): Krazy & Ignatz 192534, Seattle: Fantagraphics und Jens Balzer (2002): »Der Horizont bei Herriman. Zeit und Zeichen zwischen Zeitzeichen und Zeichenzeit«. In: Michael Hein/Michael Hüners/ Torsten Michaelsen (Hg.), Ästhetik des Comic, Berlin: Erich Schmidt, S. 143ff.

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Comic Effects Postkoloniale politische Mythen in The World of Lily Wong 1 Randy Kluver

Die Wiedereingliederung Hongkongs in chinesische Hoheitsgewalt 1997, mit der sich die über mehrere 100 Jahre andauernde Kolonialära ihrem Ende zuneigte, bedeutete politische und ideologische Veränderungen von Weltrang. Die Bürger_innen Hongkongs begleiteten diesen Übergang von einer wohlwollenden Kolonialregierung, einer Bastion des freien Handels und des Unternehmertums, in die Staatshoheit der Volksrepublik China mit einem hohen Maß an Anpassung und Selbstreflexion. De facto wurde eben dieser politische Wechsel ab dem Zeitpunkt, an dem die gemeinsame Erklärung zwischen Großbritannien und China unterzeichnet worden war, »die stärkste und alles dominierende Kraft, die Hongkongs öffentliche Angelegenheiten, seine politischen Entscheidungsprozesse und deren Durchführung prägte« (Chan/Postiglione 1996: 3). Gemeinsam mit allen anderen wirtschaftlichen und politischen Organisationen begannen sich auch Hongkongs Medien Peking anzupassen, um potenziellen externen Druck zu verhindern – typischerweise verfolgten sie eine Politik der Selbstzensur, um dem Eingreifen Pekings vorzubeugen (vgl. Lee 1998). Der Hongkong-Comic The World of Lily Wong war über mehrere Jahre hinweg ein beliebtes Feature von Hongkongs führender englischsprachiger Zeitung, der South China Morning Post. Im Mai 1995 wurde der Comic-Strip jedoch unvermittelt eingestellt, vorgeblich aus ökonomischen Gründen. Larry Feign, der im Ausland lebende amerikanische Künstler und Schöpfer des Comics, behauptete allerdings, dass der Comic-Strip zensiert worden war, und einer der berühmtesten demokratischen Aktivisten, Martin Lee (1997), sprach vom »Tod von Lily Wong« als vom ersten Opfer unter chinesischer Herrschaft. Da der Strip erfolgreich ein hoch komplexes Ereignis vereinfachte, stand The World of Lily Wong für den englischsprachigen Leserkreis Hongkongs und einen erheblichen Teil der chinesischen Presse beispielhaft für die Übergangsperiode. Sich insbesondere auf mythische Bilder von Kommunisten_innen, Kapitalisten_innen und Bürokraten_innen stützend, stellte er die Rückkehr in chinesische

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Hoheitsgewalt als das Ende der Welt von Lily Wong und damit als das Ende der Gesellschaft Hongkongs dar. Der folgende Artikel soll die Tradition des Comic-Strips als politisches und propagandistisches Medium in der Volksrepublik China erforschen, er soll die politischen Mythen des Strips sowohl hinsichtlich britischer Kolonialherrschaft als auch chinesischer Herrschaft untersuchen, sowie zeigen, inwiefern The World of Lily Wong Einstellungen und Ängste gegenüber der bevorstehenden Rückkehr unter chinesische Herrschaft artikuliert. Abschließend wird die Rolle des Comics in der Artikulation und Ausformung politischer Mythen diskutiert werden. Das populärkulturelle Medium Comic-Strip wird bei Analysen politischer Kommunikation für gewöhnlich übersehen, da es typischerweise als trivial oder als primär unterhaltungsorientiert gesehen wird. Tatsächlich können Comics sowohl dazu dienen, die soziale und politische Wahrnehmung der Massenkultur zu artikulieren, als auch dazu sie zu reflektieren. Die Einschränkungen des visuellen Mediums bedingen, dass sich Cartoonisten_innen leicht zugänglichen Symbolen und Metaphern bedienen müssen, und dadurch Ereignisse durch Bezugnahme auf kulturelle Mythen interpretieren. Da sie primär eher als humorvoll denn als ernsthaft wahrgenommen werden, haben Comics ein erhebliches Überzeugungspotenzial beim Reflektieren und Verstärken von Mythen.

THE WORLD OF L ILY WONG UND DIE P RESSEFREIHEIT IN H ONGKONG Vordergründig ein Cartoon über »interkulturelle Romanzen und das Alltagsleben in Hong Kong«, nahm The World of Lily Wong schließlich einen entschieden sozialen und politischen Ton an und karikierte regelmäßig sowohl britische als auch chinesische Beamte_innen. Der Comic-Strip hatte Erfolg – sowohl in finanzieller Hinsicht als auch unter Kritikern_innen – und dieser Erfolg war groß genug, dass er sowohl 1995 als auch 1997 den Journalismus-Preis von Amnesty International für die Berichterstattung zu Menschenrechten gewann. 1997 wurde der Künstler von der britischen Zeitung Guardian beauftragt, Lily Wong wieder zu beleben, um die letzten 100 Tage der britischen Kolonialherrschaft zu dokumentieren. Die Strips datieren vom 24. März bis zum 1. Juli 1997 und wurden später in Buchform publiziert (vgl. Feign 1997). Die Comic-Strips sind auch auf einer Website abrufbar und damit von überall auf der Welt zugänglich. Die Sonderreihe war als laufender Kommentar zur Übergangsperiode gedacht, der die koloniale Bürokratie und den Rassismus der Briten_innen, den chinesischen Autoritarismus sowie Hongkongs politische Apathie und maßlosen Konsumismus persiflierte. Aufgrund der Einzigartigkeit dieses politischen Umbruchs in Hongkong hatte der Strip mehr als nur lokale Relevanz. Globale

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Abbildung 44/45: Larry Feign, The World of Lily Wong, 1997, Copyright © Alluminate Gallery

Politik, besonders jene zwischen den Vereinigten Staaten, Großbritannien und China, nahm hier eine entschieden lokale Färbung an. Der Strip war nie dazu gedacht gewesen, mehr als ein Comic-Strip zu werden, wurde letztendlich allerdings dennoch zum laufenden Kommentar der Übergangsperiode Hongkongs politisiert. Der Cartoon konnte Einstellungen artikulieren, die in ernsthafteren Diskursen unangebracht gewesen wären, eben weil es nur ein Comic-Strip war und damit in einem geringeren Maße rechenschaftspflichtig. Trotz seines Comic-Formates wurde der Strip allerdings als einleitende Episode zu jenem politischen Druck gesehen, der die Pressefreiheit in Hongkong unterminierte (vgl. Barnathan 1995). Eingeschränkte Pressefreiheit war insofern kein neues Phänomen in Hongkong, als auch die britische Kolo-

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nialregierung der Presse Einschränkungen auferlegt hatte – eine Tatsache, die von der Hong Kong Journalists Association (HKJA) wiederholt beklagt worden war. Davon abgesehen schien die Zukunft eindeutig einen noch geringeren Spielraum für Pressefreiheit als in der Kolonialära zu versprechen. Wirtschaftlicher Druck war allerdings eine bei weitem stärkere Kraft als der explizit politische Druck. Hongkongs Industriemagnaten_innen waren unter den ersten, die sich an Peking anpassten. Hongkongs Medieneinrichtungen stützten sich hinsichtlich Werbung und Reichweite oft auf den Festlandmarkt in China; zudem stehen viele der Hongkonger Zeitungen in Besitz von Unternehmen mit wichtigen Geschäftsinteressen in der Volksrepublik. Nach einem kurzen Bruch mit Peking nach dem Tian’anmen-Zwischenfall passten sich die meisten Medien Chinas Interessen an (vgl. Lee und Chan 1990). In den letzten Abbildung 46: Larry Feign, The World of Lily Wong, 1997, Copyright © Alluminate Gallery

Monaten vor der Wiedereingliederung war die Hongkonger Presse mit intensiver Selbstprüfung und Umstrukturierung beschäftigt. Die 59 Zeitungen und 675 Zeitschriften versuchten, politisch unabhängig zu bleiben und gleichzeitig in Peking nicht in Ungnade zu fallen (vgl. Gargan 1995; 1996; 1997). Mehrere Zeitungen, darunter die South China Morning Post (welche den Cartoon eingestellt hatte), heuerten Redakteure_innen und politische Persönlichkeiten vom Festland als Berater_innen an, vermutlich um Pekings Segen zu garantieren. Dieses herrschende Klima der Selbstzensur wurde in jenem Strip in The World

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of Lily Wong persifliert, der den Human Rights Press Award von Amnesty International verliehen bekam. In diesem Zusammenhang ist die Entscheidung der Herausgeber_innen der South China Morning Post zu sehen, The World of Lily Wong einzustellen. Die Herausgeber_innen der Zeitung gaben an, dass diese Maßnahme der Kostensenkung diene und tatsächlich wurde der Comic-Strip am selben Tag eingestellt, an dem 25 Redakteure_innen beziehungsweise zehn Prozent der Redaktion ihre Anstellung verloren (vgl. Karp 1995). Es gab jedoch wenig Zweifel daran, dass die Besänftigung Pekings zumindest ein Mitgrund für das Einstellen des Comics war, da der letzte Strip zu einer Serie bitterer Darstellungen von Pekings Politik der Organentnahme verurteilter Krimineller gehörte. Wenn die finanziellen Sorgen der Zeitung durch die steigenden Druckkosten und sinkenden Werbeeinnahmen auch legitim begründbar waren, war das politische Kalkül hinter der Einstellung des Comics doch klar ersichtlich, da die Zeitung sich weigerte, bereits bezahlte Strips zu drucken oder eine Abschiedsreihe zu veröffentlichen. Das Ende des Comic-Strips wurde rund um die Welt als ein Versuch interpretiert, angesichts der bevorstehenden Übergabe an China die Gunst Pekings aufrecht zu erhalten. Die Proteste gegen Feigns Entlassung waren global und unverzüglich. Martin Lee, Mitglied des Legislativrats und Hongkongs bekanntester Verfechter der liberalen Demokratie kommentierte, dass »der vorzeitige Tod von Lily Wong« gezeigt hätte, dass die Pressefreiheit noch nie zuvor derart bedroht worden sei und dass das Einstellen des Comics ein Beispiel für das Verhalten der Medien sei, »sich zu drehen, bevor noch der Nordwind zu blasen begonnen hat« (1997: 8f.). Lee meinte, dass die Selbstzensur der South China Morning Post mit dem Einstellen des Comics die allmähliche Erosion der Rechte, die die Hongkonger unter Chinas Herrschaft erwarten würden, nur erahnen ließ. Sogar der britische Gouverneur Hongkongs, Sir Christopher Patten, kommentierte die bedauerliche Einstellung von The World of Lily Wong. Rund um die Welt griffen Journalisten_innen das Thema auf und sahen die Entlassung Feigns als die erste Salve in einer Schlacht, die gar nicht so sehr zwischen der Presse in Hongkong und Peking ausgetragen wurde, sondern vorrangig zwischen den Magnaten_innen im Besitz der Hongkonger Presse, wie Robert Kwok und seine South China Morning Post und ihren Journalisten_innen (vgl. Gargan 1997). Es lässt sich letzten Endes nicht nachweisen, dass Peking eine Rolle bei der Einstellung des Comic-Strips gespielt hat, aber trotz der finanziellen Vorwände scheint es klar ersichtlich, dass der Strip aufgrund seiner deutlichen politischen Botschaften eingestellt worden ist. The World of Lily Wong artikulierte Haltungen, die die Legitimität der chinesischen Regierung unterminierten. Um dieses Argument zu verdeutlichen, werde ich zunächst die Rolle des Cartoons in der ideologischen Kommunikation in den Entwicklungsländern diskutieren.

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C OMIC -S TRIPS ALS POLITISCHER D ISKURS Obwohl sie selten als eine solche betrachtet werden, spielen Comic-Strips als Form politischen Diskurses eine wichtige Rolle. Als ein Produkt der Populärkultur artikulieren und reifizieren Comic-Strips Werte, Annahmen und Mythen der Kultur im Allgemeinen. Comics sind an dieselben kommerziellen und organisatorischen Rahmenbedingungen wie andere Medien gebunden, was das Spektrum der kulturellen Auseinandersetzung, die durch die Comic-Strips präsentiert werden kann, einschränkt (vgl. McAllister 1990). Die Notwendigkeit, eine breite Leserschaft aufrecht zu erhalten, und der Wunsch sich Kontroversen und breiteren sozialen Agenden zu entziehen, mögen die Rolle von Comics bei der Repräsentation alternativer oder dissidenter Perspektiven stark beeinflussen. Diese kommerziellen und organisatorischen Rahmenbedingungen schränken die Rolle des Comic-Strips freilich nicht auf reine Unterhaltung ein (vgl. Schechter 1989). In Entwicklungsländern können und werden sie oft zur politischen und sozialen Erziehung und Indoktrination eingesetzt. Comic-Strips und Cartoons werden nicht nur primär als Witze verstanden, sondern besitzen eine legitime soziale Funktion in der politischen und sozialen Erziehung. In Kambodscha etwa dienten politische Cartoons dazu, Hierarchie- und Statusdenken auf eine Art und Weise herauszufordern, die letztlich den Interessen der Regierungsopposition förderlich war (vgl. Marston 1997). In Chinas jüngster Vergangenheit wurden Comic-Strips zu hunderten Millionen unter der Bevölkerung verteilt, um sie in Geschichte zu unterrichten, um das politische Bewusstsein zu stärken und um ihr Vorbilder nahe zu bringen, nach denen sie ihr Leben ausrichten konnte. Insbesondere während der chinesischen Kulturrevolution (1966-1976) wurden die Comics in der gesamten Bevölkerung verteilt, um das ideologische Bewusstsein zu stärken. Titel wie »Die rote Frauenarmee«, »Lei Feng« und »Heldenmut auf blauer See« (vgl. Wilkinson/Frenaye 1973) wurden mit dem Ziel verfasst, einer großteils ländlichen und ungebildeten Bevölkerung Geschichtswissen und politische Einstellungen zu vermitteln. Obwohl diese Strips nicht »comic« im Sinne von komisch waren, glichen sie grundsätzlich in jeder anderen Hinsicht anderen Comic-Strips in der Welt. Die Anzahl der dünnen Comic-Hefte, die während dieser Zeit verbreitet wurden, ist unbekannt, da sie von vermutlich hunderten verschiedenen Verlagen herausgegeben wurden. Die Gesamtzahl an ComicHeften dürfte allerdings bestimmt in die Millionen reichen. Der Vorteil dieser Comics war, dass sie von Personen mit minimalem Bildungsniveau gelesen und verstanden werden konnten. Insbesondere in einer Nation, in der 90 Prozent der Bevölkerung in ländlichen Gebieten fern von Bildungseinrichtungen und Rundfunkdiensten lebten, war es unerlässlich, ein Medium zu finden, das auf einfache und billige Art und Weise genutzt werden

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konnte, um das politische Bewusstsein und damit die Legitimität der Regierung zu stärken. Angesichts der schwierigen Aufgabe, die Lese- und Schreibfähigkeit im Chinesischen voranzutreiben, das statt auf einem einfachen Alphabet auf tausenden einzelnen Schriftzeichen basiert, verlangt jeder Versuch, Printmedien zur Stärkung des politischen Bewusstseins einzusetzen, der Präsentation Einfachheit ab. Als solche dienten Comic-Strips in China wie jede andere Form von Literatur oder Kunst den Interessen der Partei. Mao Zedong verfügte, dass alle in der Volksrepublik produzierte Kunst dazu dienen sollte, die Leute ideologisch zu verbinden (Mao Zedong zu Literatur und Kunst 1960). Ungeachtet ihrer Auslegung als Kunst oder Literatur spielen Comics eine ideologische Rolle bei der Definition politischer Realität und bei der Förderung politischen Bewusstseins. Aus diesem Grund sind Comic-Strips ein ideales Medium für politischen Diskurs. Dank ihrer Einfachheit sind Comic-Strips eine Form des politischen Diskurses, die einem großen Leserkreis zugänglich ist und diesen so inmitten tiefgreifender politischer Veränderungen demokratisiert. Wenn die abstrakten Debatten in Legislativräten und Regierungsorganen für einen Großteil der Bevölkerung sowohl unzugänglich als auch unverständlich sein mag, bringen Comic-Strips Angelegenheiten von großer politischer Bedeutung auf das Niveau einer möglicherweise apathischen Leserschaft. Durch Satire dienen Comics als eine Art Laienkritik der Macht, indem sie die Comic-Frames verwenden, um die elitäre Politik zu karikieren. Außerdem wird im Folgenden gezeigt werden, dass The World of Lily Wong als politisch gefährlich angesehen wurde, weil er bestimmte politische und kulturelle Mythologien ausgesprochen hat, die die Legitimität der Volksrepublik China unterminierten. Nach einem kurzen Überblick über die Themen, die in The World of Lily Wong angesprochen werden, werde ich versuchen, die mythische Macht von Comics umfassender zu definieren.

K ORRUP TION , K ADER UND K OLONIALISMUS : P OLITISCHE M Y THEN IN THE WORLD OF L ILY WONG The World of Lily Wong zeichnete primär das Leben eines in Hongkong und zwischen den Kulturen lebenden Paares auf, nämlich von Lily Wong, einer Sekretärin in Kowloon, und Stuart Wright, einem amerikanischen Künstler. In den Anfängen des Comic-Strips wurden häufig die Marotten des täglichen Lebens in einer Weltstadt thematisiert. Anfang bis Mitte der 1990er Jahre wurde der Comic-Strip – ermutigt durch die Redakteure_innen der South China Morning Post – in der Darstellung der politischen Landschaft jedoch zunehmend schärfer, insbesondere wenn es sich um Beamte der Kommunistischen Partei Chinas (KPC), britische Kolonialbeamte und Auslandsbriten handelte beziehungsweise den gemischten Haufen ortsansässiger Hongkonger, von denen einige der Poli-

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tik gleichgültig oder befremdet gegenüberstanden, und andere den Blickwinkel der chinesischen Regierung widerspiegelten. In der folgenden Analyse werden Cartoons untersucht, die vor der Entlassung Feigns 1995 publiziert wurden, ebenso wie auch jene Strip-Reihe, die vom Independent in Auftrag gegeben wurde und die die 100 Tage vor dem Übergang in chinesische Souveränität aufzeichnen. Die Darstellung von Mitgliedern der KPC, oder Kader, ist im Comic-Strip besonders scharf. Die Beamten werden typischerweise als alte, unattraktive und korrupte Kettenraucher_innen gezeichnet. Für diese Beamten_innen stellt der Kommunismus lediglich ein autoritäres System dar, das dazu konzipiert ist, die Korruption blühen zu lassen. Die Kader sind widerwärtig, laut und üben sich vor allem darin, Hongkongs Freiheiten skrupellos zu zerstören, ohne jede Absicht, sich an das Grundgesetz oder die gemeinsame Erklärung zu halten – das heißt an die formalen Vereinbarungen Großbritanniens mit China, die Hongkongs legale und politische Rahmenbedingungen bilden sollten. Außerdem wird der Verdacht der lokalen Bevölkerung, dass Hongkongs gestohlene Autos schlussendlich bei Kadern landen, in mehreren Comic-Strips persifliert. In der Zeit vor der Wiedereingliederung schickte China zahlreiche Kader nach Hongkong, die in der Kolonie verantwortungsvolle Funktionen einnehmen sollten. Im Strip wird beispielsweise ein chinesisches Paar dargestellt, das nach Hongkong zieht und dabei hofft, ein korruptes, autokratisches Imperium aufzubauen, mit dessen Hilfe sie all die materiellen und sinnlichen Freuden der Stadt genießen können, einschließlich Yachten, Macht und Baywatch im Kabelfernsehen. Es ist nicht erstaunlich, dass auch der Vorfall auf dem Tian’anmen-Platz, wie die chinesische Regierung das scharfe Vorgehen des Militärs gegenüber den Studentenprotesten im Juni 1989 bezeichnet, eine wichtige Rolle im Comic-Strip einnimmt. Der Strip vom 4. Juni 1989 erinnert an die Studentenbewegung, indem er einen KPC-Beamten zeigt, der versucht den Zwischenfall zu vergessen. Die subtile revisionistische Wende im Geschichtsunterricht in Hongkonger Schulen wird in einem Comic-Strip persifliert, in dem ein kleines Mädchen mit ihren Puppen den Militäreinsatz nachspielt. Seinen ersten Preis von Amnesty International für Menschenrechte bekam Feign für jenen Strip verliehen, der Chinas Politik der Organentnahme von verurteilten Gefangenen karikierte. In diesem Comic-Strip fragt Stuart einen chinesischen Beamten, wie China die Versorgung mit Transplantationsorganen aufrecht erhalten können wird. Der Beamte erklärt daraufhin, dass zu dem Zeitpunkt, an dem der derzeitige Vorrat zur Neige gegangen sein wird, Hongkong bereits zu China gehören wird und dass dann all die Demokraten und Cartoonisten in Hongkong – vermutlich zur Exekution – zur Verfügung stehen würden. Dieser Strip war Teil der Serie, die noch lief, als The World of Lily Wong von der South China Morning Post eingestellt wurde.

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Großbritanniens Rolle in The World of Lily Wong ist großteils jene einer milden Bürokratie. Die bürokratischen Beamten werden als primär um einen höheren Lohn besorgt und jeden wirklichen Fortschritt bremsend dargestellt. Sie ignorieren die Umweltverschmutzung, die Kriminalität und die Probleme der Bürger_innen Hongkongs, und missachten die hohe Zahl an wirtschaftlichen und politischen Flüchtlingen, die die Stadt überfluten. Sie werden im Comic als wenig besorgt um den Schutz der Menschenrechte dargestellt, und als primär an guten Geschäften in China interessiert. Aus Europa eingewanderte Arbeiter_innen werden als nichtsnutzige, chauvinistische und rassistische Figuren gezeichnet, die vor allem nach Hongkong gekommen sind, weil sie in ihrem Heimatland keine Arbeit bekommen haben. Sir Christopher Patten, Großbritanniens letzter Gouverneur in Hongkong, wird im Strip positiv dargestellt – vor allem weil er sich bemüht hat, im Hinblick auf die bevorstehende Übergabe die Direktwahl voranzutreiben. In einem Strip verweigern KPC-Beamte Patten an den Übergabezeremonien aktiv teilzunehmen, da sie über seine Initiativen verärgert sind. Ein anderer Strip dreht sich um die Diskussion, ob ein Wahrzeichen nach ihm benannt werden könnte. Die KPC-Beamten sind damit einverstanden, allerdings mit dem Vorbehalt, dass er umgehend getötet wird. In einem besonders beißenden Strip wird die Haltung artikuliert, dass Großbritannien seiner moralischen Pflicht gegenüber den Bürgern von Hongkong nicht nachgekommen ist. Während Lily klagt, dass Großbritannien nie einen Finger für die Kolonie gerührt hat, zeigt das nächste Bild John Major und Margaret Thatcher, die zwei britischen Premierminister_ innen, die in der Übergangsperiode als Schirmherr_in fungiert haben, wie sie den Hongkongern verächtlich ihre Mittelfinger zeigen. Dem Comic-Strip gelingt es zudem, die sechs Millionen Bürger_innen Hongkongs zu persiflieren, die typischerweise als gierige Stadtverschmutzer_ innen und apathisch gegenüber der Politik dargestellt werden. Auch wenn einige wenige Figuren mit etwas Würde porträtiert werden, allen voran Lily Wong, sind die meisten klar unheroisch. Meinungsumfragen zeigten, dass die durchschnittliche Erkennungsquote der wichtigsten fünf Parteien in Hongkong selten über 60 Prozent kletterte, was der Aussage des Comics, die Bevölkerung sei apathisch, Glaubwürdigkeit verleiht. Die scharfzüngigsten Porträts bleiben jedoch den Industriemagnaten_innen Hongkongs vorbehalten, die bereitwillig die Rechte und Freiheiten der Stadt für Profit verkaufen. Die Parteien, die vom Unternehmertum geformt wurden wie die Cooperative Resources Centre und die Liberal Party, werden als kriecherische, profitgierige Heuchlerinnen gegenüber Peking dargestellt. In jenem Comic-Strip, der Feign seinen zweiten Menschenrechts-Preis von Amnesty International einbringen sollte, kritisiert er Hongkongs Medien und ihre Selbstzensur scharf, die den Comic auf dem Gewissen hatte. Lily fragt darin ihren Ehemann, ob China denn nach dem 1. Juli die Pressefreiheit abbauen

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wird, und er entgegnet, dass sie das nicht zu tun brauchen, während er einen Stand voller Zeitungen betrachtet, die alle Großbritannien verurteilen und China hochleben lassen. Die Übergangszeit, wie sie im Comic dargestellt wird, hat für Hongkongs Bürger_innen weniger mit Politik als vielmehr mit einem Geldrausch zu tun. Bei der Wiedereingliederung geht es nicht um Politik, sondern eher um Kaufen und Verkaufen. Die wichtigen politischen Fragen, die mit dem Ende des Kolonialismus einhergehen, werden von den Journalisten_innen ignoriert, die hauptsächlich zum Vergnügen in die Stadt kommen. Die Journalisten_innen der Kolonie bereiten sich auf das Eintreffen der tausenden Auslandskorrespondenten_innen vor, indem sie Tankfahrzeuge mit Gin bestellen. Die echten politischen Fragen, mit denen die Einwohner_innen Hongkongs im Zuge der Übergabe konfrontiert waren, wurden ebenfalls zum Medium der Kritik an der Übergabe. Hongkongs Schulen arbeiteten etwa bestimmte Teile des Curriculums völlig um, besonders in Bereichen wie Geschichte, um nun eher auf chinesische denn auf britische Empfindlichkeiten einzugehen. In einem dieser Streifen über die Revision beobachten Stuart und Lily, wie die Kindergartengruppe ihrer Tochter aufgetragen bekommt, Bildnisse von Gouverneur Chris Patten zu verbrennen. In einem jener Strips, die möglicherweise am meisten Kontroversen ausgelöst haben, und der am 1. Juli 1997 im Internet veröffentlicht wurde, überwiegt ein entschieden bitterer Ton, der Hongkongs Wohlstand klar auf das britische Kolonialsystem zurückführt. Er argumentiert, dass man ohne die Briten, »in China knietief in Büffelscheiße« stehen würde. Einige Tage später, als Antwort auf eine offensichtlich große Welle der Kritik, lieferte Feign (1997) eine langatmige Zusammenfassung der Geschichte Hongkongs, in der er argumentiert, dass der Wohlstand der Stadt auf seinem einzigartigen rechtlichen und wirtschaftlichen Status basiert, der durch die britische Kolonialregierung eingeführt wurde. Feign verurteilte Pekings »Propaganda«-Feldzug, der von der Beseitigung historischen Unrechts sprach. Diese »Apologie« wurde später überarbeitet und unter dem Titel »Eine politisch inkorrekte Geschichte Hongkongs« als Einleitung zur Strip-Sammlung von 1997 verwendet, die sich auf die Übergangsperiode konzentrierte. The World of Lily Wong spiegelt jedoch nirgendwo die Gefühle der Politiker_innen und Einwohner_innen der Volksrepublik China wider, die das Entstehen der Stadt mit den Verlusten an Großbritannien in den Opiumkriegen verbanden und die die immer noch andauernde britische Kontrolle über die Stadt als Grund nationaler Schande ansahen. Wenn der Comic-Strip die historischen Gründe für die britische Herrschaft auch nicht beschönigt, beurteilt er den Sieg Großbritanniens über China letztendlich positiv, da dieser dem Territorium ein Maß von Wohlstand gebracht hat, das es sonst niemals erreicht hätte. Feign scheint sich der Ironie nicht bewusst, mit der er einerseits die an Kommerz orientierte und materialistische Bevölkerung Hongkongs persifliert

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und andererseits materialistische Kriterien heranzieht, um Großbritanniens Besetzung zu rechtfertigen. Für viele Hong Kong-Chinesen_innen – zwischen ihnen und der Zeit der Volksrepublik lag oft nur eine Generation – bedeutete die Wiedereingliederung Chinas Rehabilitation für die Jahre der kolonialen Ungerechtigkeit, die der Westen über China gebracht hatte. Dementsprechend wurde der Strip hart von jenen kritisiert, die meinten, dass er eine falsche Sichtweise der historischen, sozialen und politischen Realität vertrat. Seit Großbritanniens Sieg in den Opiumkriegen wurde Hongkong als ständiger Quell der Schande für die Schwäche Chinas wahrgenommen. Aus diesem Grund bedeutet das Ende der Kolonialherrschaft nicht nur das Ende des Kolonialismus, sondern auch Chinas endgültigen, wenn auch verspäteten, Sieg über die Kolonialmächte. Dies wird auch in der Rede von Chinas Präsidenten Jiang Zemin anlässlich der Übergabe deutlich: »Daher wird der 1. Juli 1997 in die Annalen der Geschichte als ein Tag eingehen, der verdient ewig in Erinnerung zu bleiben. Die Rückkehr Hongkongs ins Mutterland nach einem Jahrhundert der Unbeständigkeit zeigt, dass von nun an die Hongkonger Landsleute die wahren Gebieter über dieses chinesische Land geworden sind.« (Ansprache 1997) Außerdem weist der Comic-Strip durch die grob vereinfachte Darstellung von Pekings Apologeten_innen und diverser lokaler politischer Parteien zu wenig auf die komplexen und vielfältigen Dimensionen politischer Engagements hin. Meinungsumfragen zeigten, dass die Unterstützung der Democratic Party zwischen fünf bis zehn Prozentpunkte über jener des Cooperative Resources Centre (CRC) und deren Nachfolger, der Liberal Party (LP) lag – aber selbst die LP fiel selten unter 50 Prozentpunkte. Diese Meinungsumfragen deuten darauf hin, dass die politischen Einstellungen in Hongkong sehr viel komplexer und nuancierter waren, als sie in The World of Lily Wong dargestellt werden. Die Einschränkungen des Mediums bedingten, dass die komplexen Aspekte der Rückgabe an China in grob vereinfachte Darstellungen einer korrupten chinesischen und unbeholfenen britischen Bürokratie sowie extremer Kommerzialisierung umgewandelt wurden. Die politische Realität ist dagegen, dass Hongkongs Einwohner_innen der Wiedereingliederung sehr vielschichtige Gefühle entgegenbrachten. Obwohl viele, insbesondere die Liberaldemokraten_innen, Argwohn gegenüber der Regierung in Peking hegten, sprachen sich nur wenige dafür aus, dass Hongkong unter Großbritanniens Kontrolle bleiben solle. Eine in der South China Morning Post veröffentlichte Meinungsumfrage kurz vor der Übergabe zeigte, dass rund 40 Prozent der Einwohner_innen Hongkongs den Zusammenschluss mit Festlandchina unterstützten, 35 Prozent die Unabhängigkeit bevorzugten und sich 19 Prozent dafür aussprachen, dass Hongkong eine britische Kolonie bleiben solle (Umfrage aus 1997). Eine weitere Umfrage, die von der Asia Society finanziell unterstützt wurde, zeigt, dass unter den Einwohnern_innen Hongkongs 42 Prozent der Meinung waren, dass sich die

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Dinge in die richtige Richtung bewegten und erwarteten, dass sich die Lage verbessern würde, und 37 Prozent glaubten, dass sich nach dem Übergang nichts ändern würde. Darüber hinaus befürworteten 62 Prozent der Bevölkerung das von Peking eingerichtete, provisorische Gesetzgebungsorgan, und nur 27 Prozent favorisierten die Unabhängigkeit der Kolonie. Eine parallel durchgeführte Umfrage in den Vereinigten Staaten zeigte, dass 73 Prozent der Amerikaner_innen erwarteten, dass sich die Lebensbedingungen in Hongkong deutlich verschlechtern würden, was die nachklingenden Folgen des Tian’anmen-Zwischenfalls auf die amerikanische Wahrnehmung von China zeigt. Eine dritte Umfrage, diesmal von Time/CNN durchgeführt, fand jedoch heraus, dass 63 Prozent der Einwohner_innen Hongkongs der Meinung waren, dass die Wiedereingliederung gut für die Kolonie sei, und nur 10 Prozent der Ansicht waren, dass die Dinge sich verschlechtern würden (vgl. Time/CNN Umfrage 1997). Bezüglich der Prioritäten bei der Wiedereingliederung meinten 50 Prozent der Befragten, sie würden Stabilität und Ordnung der Demokratie vorziehen, 24 Prozent präferierten im Gegenteil Demokratie gegenüber Stabilität und Ordnung. Die Zuversicht stieg kurz vor der Übergabe noch einmal an, da die Immobilienpreise weltweit die höchsten Niveaus erreichten und die Aktienmärkte aufbrandeten. Obwohl die Zeremonien von Bürgerrechtskundgebungen begleitet waren, gab es in der Stadt, wenn überhaupt, nur wenig Unruhen oder Instabilität.

P OLITISCHE M Y THEN UND MY THISCHE B ILDER IN THE WORLD OF L ILY WONG Roland Barthes (1972) erklärt, dass Mythen am besten nicht nur durch Inhalt oder Gegenstand, sondern durch die Art und Weise definiert werden, wie dieser Inhalt artikuliert wird. Darüber hinaus ist der Mythos eine Art von Rede, die mehr durch ihre Absicht als durch die wörtliche Botschaft definiert werden kann. Barthes bekanntes Beispiel ist das Foto eines schwarzen Soldaten, der vor der französischen Flagge salutiert. Barthes meint im Folgenden, dass das Bild des Soldaten für die Bedeutung des Kolonialismus steht – für die Güte und die Herrlichkeit der Nation Frankreichs, die so überwältigend ist, dass sie über die Hingabe ihrer Untertanen verfügen kann. Barthes zufolge dienen Mythen letztlich politischen Zwecken, die kulturelle Bedeutungsressourcen aktivieren, um die existierende politische Realität zu rechtfertigen und zu legitimieren. Auf mythischer Ebene lässt die Bedeutung der Form die Kontingenz hinter sich – in anderen Worten gesagt, verliert sie jeglichen unmittelbaren historischen und kulturellen Kontext – und übernimmt eine transzendente Bedeutung, die auf gespeicherte Erinnerung zurückgreift, um die Bedeutungslücken zu füllen. Obwohl Mythen historisch sind, indem sie auf historische Assoziatio-

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nen zurückgreifen, beruhen sie selten auf örtlicher, zeitgebundener Geschichte. Sie werden eher ahistorisch in dem Sinne, als die verifizierbaren, örtlichen und sachbezogenen historischen Fakten leicht durch »die Geschichte« verdrängt werden. Unter Mythen verstehe ich eine narrative Darstellung, die politische Realität definiert und einen interpretativen Rahmen errichtet, um Informationen zu verarbeiten. Politische Mythen stützen sich typischerweise auf historische Assoziationen, indem sie ein bestimmtes Bewusstsein von politischer Identität artikulieren, das meist narrativ definiert wird (vgl. Kluver 1997). Barthes’ Beispiel des Bildes des Soldaten illustriert die Macht seines Standpunktes in Bezug auf die Untersuchung der mythischen Rolle von visuellen Bildern. Wenn wir ein Bild ansehen, ist der unmittelbare Kontext (wer ist diese Person, wo ist diese Person, was macht diese Person, warum macht sie es, wann macht sie es) von marginalem Interesse, verglichen mit der mythischen Bedeutung des Bildes. Die tatsächlichen Details des Bildes sind nicht im Entferntesten so bedeutend wie die Absicht hinter dem Bild. Mythische Symbole sind selten auf einen kleinen Bedeutungsraum beschränkt, dieser kann im Gegenteil viel größer als der Bedeutungsträger sein. Aus diesem Grund kann ein einziges Bild umfangreiche Bedeutungen enthalten. All die emotionalen, kulturellen und historischen Elemente des Mythos können mit einer einzigen Bedeutung verbunden werden. Sowohl die große Bandbreite an Ideen, die mit dem Mythos assoziiert werden können, als auch die Fluidität der Bedeutung machen die Analyse von Mythen grundsätzlich zu einem riskanten Unterfangen, da sich die Bedeutungen dauernd ändern können und das auch tatsächlich ständig tun. Durch den eingeschränkten Informationsgehalt in einem 5 x 18 cm großen Comic-Strip ist es notwendig, die Situationen in die Annahmen, Vorurteile und Werte der Leserschaft einzubetten und so deren eigene Überzeugungs-Strukturen zu nutzen, um eine Bedeutung zu erzeugen. Komplexe und subtile Realitäten müssen in Comic-Strips in grob vereinfachter Art dargestellt werden. Die Interpretation stützt sich primär auf die Präsenz von Metaphern und Symbolen, die die Haltung des_r Autors_in auf eine subtile aber gleichzeitig zugängliche Weise zu verstehen geben. Von dieser Perspektive aus können Comic-Strips als subtile und effektive Vehikel politischer Propaganda dienen. Darüber hinaus müssen sich Comics nicht an die Etikette und die Höflichkeitsnormen des typischen politischen Diskurses halten. Weil sie notwendigerweise kurz gehalten sind und so stark auf die Annahmen und Erwartungen der Leserschaft bauen, können sie gefahrlos Höflichkeits-, Moderatheits- und Fairnesserwartungen verletzen, die normalerweise im politischen Diskurs vorausgesetzt werden. Im Verletzen der politischen Etikette erreicht die Satire ihre Scharfzüngigkeit. In Anbetracht der eingeschränkten Möglichkeiten des Mediums dienen Comic-Strips tatsächlich als perfekte Vehikel für Satire, oder um den Status quo zu unterminieren und zu zerrütten. Da die Botschaft des Strips auf eindimensio-

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nalen Karikaturen beruhen muss, muss er sich auf das soziale Wissen, die unartikulierten Annahmen, Erwartungen und Vorurteile der Leserschaft stützen. Weil ein Comic-Strip lustig sein oder eine Pointe aufweisen muss, ist er auf subtile Sinnverdrehungen oder versteckte Botschaften angewiesen, um einen politischen Standpunkt klarzumachen. Comic-Strips dienen durch die Nutzung von geteilten sozialen Konstrukten als perfektes Medium der Subversion dazu, die Mächtigen herauszufordern. In Bildformaten wie dem Comic-Strip, die mit nur wenigen Elementen auskommen, und wo der Detailreichtum nicht so groß ist wie in Fotografien und Gemälden, entsteht eine Form von Stenographie, in denen kleine Abweichungen eine mythische Funktion übernehmen. Mit anderen Worten stützen sich Zeichnungen und andere einfache Darstellungen stark auf mythische Formen, die oft ziemlich konventionell oder standardisiert sind, um auf versteckte Bedeutungen anzuspielen, die explizit darzulegen das Format nicht erlaubt. Das Bildformat, einige wenige Linien, die normalerweise von einem 5 x 18 cm großen Rahmen begrenzt werden, bedingt, dass sich der_die Autor_in auf einfache visuelle Elemente stützen muss, um eine tiefere Bedeutung zu kommunizieren. Die gesprochenen Wörter sind mit einem einfachen Federstrich gezeichnet und durch ein »z« mit den Sprechenden verbunden, zornig ausgesprochene Worte hingegen werden mit einem dickerem Strich gezeichnet und durch mehr Kringel mit der sprechenden Person verbunden, was visuell die Erregung in der Stimme darstellt. Diese subtilen visuellen Hinweise nehmen allerdings – anders als Worte wie Freiheit, Demokratie oder Nation – ihre mythische Rolle erst an, wenn sie in einen unmittelbaren Kontext gestellt werden. Sie können überhaupt einzig in einem visuellen Kontext verstanden werden, und auch dann ist die Bedeutung nur approximativ. Die Darstellung einer Kröte ist so lange nur eine Kröte, bis sie in den Kontext einer politischen Bedeutung tritt. Die Darstellung eines Spielzeugpanzers ist so lange nur ein Spielzeugpanzer, bis er in den visuellen Kontext der Puppen (als Demonstranten identifiziert) tritt, die von ihm überfahren werden. Nur im visuellen Kontext, der von dem_r Künstler_in geschaffen wird, findet das Zeichen statt. Mit anderen Worten gibt es keinerlei assoziative Kraft in der Bedeutung eines visuellen Bildes, bis es in einen Kontext zu anderen Bildern gestellt wird. Während Worte von ihrem unmittelbaren Kontext extrahiert werden können und ihre mythische Konnotation beibehalten (Freiheit, Demokratie etc.), müssen Bilder im Kontext zu anderen Bildern stehen, um eine Bedeutung zu erlangen. Barthes’ Bild eines afrikanischen Soldaten würde keinem mythischen Zweck dienen, wenn er nicht vor einer französischen Flagge salutieren würde. Zudem lassen Comic-Strips mit üblicherweise nicht mehr als 20 bis 25 Worten in einer Sequenz von zwei, drei oder vier Panels keine Geschwätzigkeit zu. Der_die Künstler_in kann daher nicht auf detaillierte Erklärungen zurückgrei-

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fen, sondern muss schnell und einfach mythische Bilder abrufen. In diesem Sinne könnte man behaupten, Comics seien mythischer als andere visuelle Bilder, und sehr viel mythischer als das gesprochene oder geschriebene Wort. Während ein Foto, wie das Bild von Barthes’ Soldat, mehrere Elemente wie das Layout, die Komposition, die Farben, den Gesichtsausdruck des Soldaten und die Geste beim Salutieren, die Militäruniform und eine Flagge mit einschließt, besitzen Comic-Strips selten eine vergleichbare formale Komplexität. Sie sind tendenziell eher flach, eindimensional, monochrom, und erlauben wenig Feinheit im Gesichtsausdruck etc. In der Tat würden Comic-Strips höchstwahrscheinlich ohne den Rückgriff auf mythische Reserven überhaupt nicht als Form von Massenunterhaltung funktionieren. Wenn man sich nicht das kulturelle Wissen der Leserschaft in stenographischer Weise aneignete, würden Comics viel zu wortreich werden, um in jeglicher Hinsicht als effizienter Kommentar zu dienen. Darüber hinaus wird von Comic-Strips erwartet, lustig zu sein. Der Humor im Comic-Strip dient dazu, den Comic vor dem prüfenden Blick abzuschirmen, der sonst darauf geworfen würde. Wenn wir Comics lesen, die wir nicht als lustig erachten, fällt es uns leicht, die Bilder, die angedeutete Welt oder die politische Aussage zu kritisieren, die darin eingebettet sind. Wenn wir den Comic dagegen witzig finden, fallen uns wenig Kritikpunkte auf. Comics dienen daher als eine subtile Form der Mythenproduktion, die die politische Agenda hinter einer Narrenkappe versteckt. Aus dieser Perspektive betrachtet werden die tieferen kulturellen Mythen in The World of Lily Wong viel offensichtlicher. In Lily Wongs Welt finden sich zwei Typen von Chinesen_innen. Der erste Typus, der durch Lily Wong und andere Hongkonger repräsentiert wird, ist typischerweise interessant, attraktiv und human. Der zweite Typus, repräsentiert durch die KPC-Mitglieder und die Beamten_innen der Volksbefreiungsarmee, ist niederträchtig, intrigant, unattraktiv und gierig. Diese unterschiedlichen Typen sind durch bestimmte immer wiederkehrende Bildelemente charakterisiert. Lily und Co, die wir als »gute« Chinesen_innen bezeichnen würden, sind größer, attraktiv, tragen gut geschnittene Kleidung und haben große Augen. Lily selbst, die »schönste Frau von Hongkong«, ist groß, schlank, vollbusig und hat große, mandelförmige Augen. Trotz der einschränkenden Einfarbigkeit des Bildes wird gezeigt, dass ihr Haar glänzt. Die »bösen« Chinesen_innen auf der anderen Seite sind typischerweise kleiner, tragen schlecht passende Kleidung oder Uniformen der Volksbefreiungsarmee, sind Kettenraucher, tragen oft Schusswaffen und haben abgeschrägte schmale Augen. Sie werden oft als wütend dargestellt (auf- und abspringend, die Fäuste auf den Tisch knallend oder schreiend). Dies wird lediglich durch das Setzen von einigen wenigen Pinselstrichen oder durch fettgedruckte Buchstaben erreicht. Die Kapitalisten_innen in Hongkong, und besonders jene, die sich in einer wirtschaftsfreundlichen politischen Partei zusammengeschlossen

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haben, werden als Frösche [»toad« = Kröte, »toady« = Kriecher] mit großen Ochsenfroschgesichtern und hervorstehenden Augen dargestellt. Im Gegensatz dazu sind die britischen Kolonialisten_innen (mit runden Augen) typischerweise mittleren Alters oder betagt, leicht übergewichtig, sie haben schräge oder furchige Gesichter und sind häufig träge und faul. Die inhärenten politischen Mythen in Text und Bild von The World of Lily Wong repräsentieren eine umstrittene, komplexe postkoloniale Geschichte. Der Comic-Strip stellt weder die mythische Kraft und Herrschaftlichkeit der Kolonialwelt dar, auf die sich Barthes in dem genannten Foto bezieht, noch die glorreiche Rückkehr Hongkongs ins Mutterland, die die Regierung der Volksrepublik zeigen will. Als amerikanischer Cartoonist findet Feign letztlich weder unter den Briten_innen noch unter den Chinesen_innen Helden_innen. Das Kernthema bei Hongkongs Wiedereingliederung sind weder die letzten Tage des Empires noch ist es die Rückkehr zum Mutterland – es geht dagegen um die Verluste von Schlüsselfreiheiten, Redefreiheit und demokratische Grundsätze mit eingeschlossen. Letztendlich kreiert der Cartoon, als Teil eines orientalistischen Diskurses, in gewissem Sinne die Realität, die er beschreiben soll (vgl. Young 1990: 128). Zusammenfassend sind die politischen Mythen, die in The World of Lily Wong dargestellt werden, eindimensional und erhalten ihre Relevanz in einem ahistorischen Verständnis der Natur der britischen Kolonialisierung: milde, förderlich und wohlwollend. Die Kader der KPC sind korrupt, skrupellos und nur an Kontrolle und Bereicherung interessiert. Die britischen Beamten_innen sind zumindest gutherzig, wenn sie auch zugegebenermaßen bürokratisch und unbeholfen sind und nichts gegen den historischen Rassismus der Stadt unternehmen, ebenso wenig wie gegen das andauernde Phänomen der unsichtbaren Glasdecke für Chinesen_innen oder gegen die für britische Staatsbürger_innen reservierten Privilegien. Hongkongs Einwohner_innen sind konsumorientiert, aber zumindest sind sie frei. The World of Lily Wong präsentiert vereinfachte Bilder von komplexen politischen Realitäten und Einstellungen, und verkörpert historische Erzählungen, die letztendlich die Zuversicht in die Wiedereingliederung untergraben. In der Volksrepublik China erhält dies größere Bedeutung, wenn man von der Rolle des Comic-Strips als politische Kommunikationsform und als eine Form sozialen Wissens über die politische Realität ausgeht. In den komischen Darstellungen von korrupten kommunistischen Partei-Bonzen, von unbeholfenen und faulen Beamten, und dem Konsum-Wahnsinn, der Hongkong charakterisiert, fordert der Comic-Strip die Korruption, Bürokratie und die politische Apathie heraus, die er nachzeichnet. Weil der Strip als Form politischen Diskurses nicht rechenschaftspflichtig war, war es ihm möglich, erfolgreich und gefahrlos den Übergang in chinesisches Einflussgebiet anzufechten und zu unterminieren.

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Im Fall von The World of Lily Wong wurde die politische und ideologische Rolle des Strips nie angezweifelt. Weder der Künstler, noch die Redakteure_innen der South China Morning Post, die Behörden in Peking, noch die ausländischen Beobachter_innen haben jemals versucht, die Kontroverse durch das Argument aufzulösen, dass es sich schließlich »nur« um einen Comic handle. Tatsächlich wurde der Comic-Strip am selben Tag eingestellt, an dem mehrere Redakteure_innen (»echte Journalisten_innen«) entlassen wurden. Der ComicStrip war als ein ernstgemeinter journalistischer Beitrag gedacht gewesen und auch so rezipiert worden, obwohl er satirisch war. Weder Feign noch seine Kritiker_innen taten ihn als irrelevant für eine ernsthafte politische Diskussion ab. Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass ein Comic-Strip, der die Subversion der KPC auf Schritt und Tritt betreibt, mitten in den Vorbereitungen der Kolonie auf die Übergabe die Aufmerksamkeit der Partei auf sich zieht. Was an diesem Fall möglicherweise am meisten erstaunt ist, dass das Einstellen des Comic-Strips so ruhig und ohne expliziten Druck über die Bühne gegangen ist. Angesichts der Tatsache, dass Comic-Strips in der chinesischen kommunistischen Weltanschauung als politisch durchaus relevant angesehen werden, gibt es wenig Zweifel, dass die Redakteure_innen der South China Morning Post auch realen externen Druck zu spüren bekommen hätten können. Als The World of Lily Wong eingestellt wurde, war dies eine implizite Anerkennung seiner politischen Brisanz. Wenn auch die Herausgeber_innen und Eigentümer_innen der South China Morning Post politischen Druck als Grund für die Einstellung des Comic-Strips bestritten, behaupteten sie jedoch nie, dass der Strip unpolitisch sei. In The World of Lily Wong waren Satire und Politik tatsächlich ein und dasselbe. Letztendlich dient dieser Comic-Strip als ein treffendes Beispiel dafür, wie politische Einstellungen trotz der beschränkten Möglichkeiten des Mediums ihren Ausdruck finden.

A NMERKUNG 1 | A. d. Hg.: Der Originaltext ist unter dem Titel »Comic Effects: Postcolonial Political Mythologies in The World of Lily Wong«, in: Journal of Communication Inquiry, April 2000/24, S. 195-215, erschienen. Die Übersetzung aus dem Englischen von Ulrike Keller erfolgt mit der freundlichen Genehmigung des Autors.

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Bilder für die Massen Die prekäre Beziehung von Comic und Film und die dunkle Romantik des Neoliberalismus im neueren Comic-Kino Georg Seesslen

E RZ ÄHLEN IN B ILDERN Am 5. Mai 1895 erschien in der von Joseph Pulitzer herausgegebenen New Yorker Zeitung Sunday World ein Bildstreifen um einen rotzfrechen Straßenjungen, den der Zeichner Richard Felton Outcault nur mit einem Nachthemd bekleidet in der Stadt herumstreunen ließ. Nach dem Ort, an dem sein Held sich herumtrieb, nannte Outcault seine Bilderserie »Hogan’s Alley«. Seinen Namen gewann der erste Comic-Held aus dem neuen Farbverfahren, das Pulitzer ausprobierte und das die Zeichnungen in einem hellen Gelb erstrahlen ließ: »The Yellow Kid«. Am 10. Juni des Jahres 1895 führten die Brüder Auguste und Louis Lumière im Börsensaal zu Lyon eine Vorrichtung vor, mit der man fotografische Bilder in Bewegung aufnehmen und projizieren konnte. Sie nannten diesen Apparat »Cinématographe« und zeigten damit in den nächsten Monaten in Paris vor zahlendem Publikum Filme wie »Arbeiter verlassen die Fabrik Lumières« oder »Der begossene Rasensprenger«. Das Publikum wollte vermutlich so sehr die Wunder der Welt sehen wie Mademoiselle Bina und ihren weltberühmten Schleiertanz. The Yellow Kid war die erste Kultfigur des Mediums Comic. Sie wurde eingesetzt zum Verkauf von Keksen und Zigaretten, vor allem benutzte Pulitzer den ebenso vulgären wie populären Proletarier für seine eigene Zeitung. The Yellow Kid bekam ein eigenes Brettspiel, und ein Musical wurde ihm gewidmet. Zugleich zeigten sich gute Bürger empört über den rüden Jargon und verlangten ein Verbot, nicht nur der Figur, sondern gleich der ganzen Erzählweise. Zu diesem Zeitpunkt aber hatten Pulitzers Konkurrenten bereits die Idee aufgegriffen, neue Leser mit Bildgeschichten aus den Slums zu erschließen.

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Auf »Hogan’s Alley« folgte »McFadden’s Flats«, und mit »The Kalsomine Family« kam die erste afroamerikanische Comic-Familie. Ein Format hatte das amerikanische Publikum erobert, von den Ghettokids bis zu den Uptownbürgern, von den harten Metropolen bis in die verschlafenen Provinzen. Wie das Kino musste auch dieses Medium nun den Marsch aus den Ghettos der Einwanderer in die Mitte anständiger Bürgerlichkeit finden. Das ist die Linie von Yellow Kid über Mickey Mouse zu Superman.

I N DER I DEOLOGIEFALLE Im Zeitungskrieg zwischen Pulitzer und Randolph Hearst verlor das neue Medium seine politische Unschuld. So ließen sich etwa Yellow Kid und seine Kollegen für die Propaganda zum Amerikanisch-Spanischen Krieg einspannen. Dasselbe geschah zu dieser Zeit mit dem anderen neuen Medium. »Tearing Down the Spanish Flag« war 1898 einer der ersten amerikanischen Filme überhaupt betitelt, und er löste neben der Begeisterung für die bewegten Bilder einen patriotischen Rausch aus. Der Regisseur selbst, James Stuart Blackton, stellte darin einen heldenhaften Infanteristen dar, der die Fahne des Feindes herunterreißt, um an ihrer Stelle die Stars and Stripes zu hissen. Kriegerische Aktion scheint die Phantasie schon der Filmpioniere beflügelt zu haben. Jedenfalls entwickelte der Engländer James Williamson in »Attack on a Chinese Mission Station« (1901) eine erste rudimentäre Form der Montage verschiedener Einstellungen der Kamera, um das Geschehen dramatischer zu machen. Und in Deutschland konnte man bald darauf Kaiser Wilhelm als ersten heimischen Filmstar bewundern. Comic und Film als neue Massenmedien entstanden aus einer verrückten Mischung von anarchischer Infantilität, sozialem Realismus und militaristischpolitischer Propaganda. Von dieser Mischung haben sich beide Medien nie vollständig verabschiedet. Wenn sie einander begegneten und sich vermischten, haben sie sich ihrer in besonderer Weise erinnert. Comics und Filme haben einander seither immer wieder befruchtet. Nicht immer war dieser Dialog besonders glücklich. Comic-Filme galten nicht ganz zu Unrecht als der kid stuff unter den Filmen (lausige Schauspieler in lausigen Kostümen reden lausiges Zeug), und die Übernahme von Filmstoffen beraubte das Medium Comic seiner Eigenständigkeit. Hinzu kommt vielleicht, dass man beide Bildmedien immer als ausgesprochen anfällig für Manipulation und Propaganda angesehen hat. Denn beide haben eine verwandte Art, mit Zeit und mit Raum umzugehen, aber auch mit Körpern. Was uns als schreckliche Ansicht in Filmen von Leni Riefenstahl und in Skulpturen des faschistischen Bildhauers Arno Brekers begegnet, treffen wir auch in amerikanischen Comics wie »Flash Gordon« oder »Tarzan«.

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Am Anfang des Jahrhunderts kehrten beide Medien noch einmal zu ihrer zivilen Gestalt zurück. Seit dem Jahr 1907 hatten die meisten amerikanischen Zeitungen tägliche Comics, und seit 1912 erschien kaum noch eine ohne eine tägliche ganze Comic-Seite. Neben den Reihen um die erfindungsreichen Kids wurden nun Tierserien beliebt. Die Geschichte der Comics kann man auch schreiben als die der fabulösen Distanzierungen. Der Comic, der Cartoonfilm und der Realfilm jedenfalls bildeten einen Zusammenhang in der nach oben mehr oder weniger offenen Kinderkultur der vierziger, fünfziger und sechziger Jahre. Vom »Schatz«, den man zuhause hortet, an geheimem Ort, wo niemand die Comic-Sammlung finden kann, über die mehr oder weniger schuldigen Versuchungen der Samstagsvorstellungen bis zu den großen Events, welche die zerfallene bürgerliche Familie vor der großen Leinwand noch einmal vereinten. Scheinbar glücklich. Aber längst in einer Schattenfalle der Ideologie.

E RZ ÄHL ZEICHEN Dass die Erzählweisen von Comic und Film einander verwandt sind, ist immer wieder betont worden. In beiden Fällen handelt es sich um Bewegungsbilder, in beiden Fällen ist die Komposition von Syntagmen (Kapitel, Szene, Einstellung, Bild, Element) mit Paradigmen (Text, Farbe, Perspektive etc.) verknüpft, die ihren besonderen Wert aus den Wiederholungen und Variationen ziehen. Spätere Comics wie »Asterix« oder »Sin City« machten die Wiederholungsund Variationsmontage zum eigentlichen Inhalt: Die spiralförmige Erzählung spricht unter anderem davon, dass es keine Geschichte gibt, Erzählen ist kein Fortschreiten und Auflösen mehr, sondern ein Rumoren in fixen Systemen. Zugleich ist der Comic dem Fotografischen verwandt und damit dem Filmischen geradezu entgegengesetzt. Das Panel eines Comics verhält sich wie der »eingefrorene Augenblick« einer Fotografie und wie die Bewegungsästhetik des Filmischen. Die Dauer des »Lesens« wird nicht wie im Film durch die Dauer bestimmt, die ein Subjekt dem Ding vor der Kamera verleihen will, sondern durch die Dauer der Aufmerksamkeit, die es erzählt. Ein »gutes« Comic-Bild ist daher eines, das eine Lesedauer erzeugt, die vorwärts treibt, ohne zu hetzen. Ein zu schnell lesbarer Comic macht ebenso unzufrieden wie einer, in dem es nicht recht weitergeht und die Schönheit des Einzelbildes den Fluss der Lektüre stört. Die Komposition eines Panels (zumindest bevor mit splash panels und anderen Auflösungen experimentiert wurde) ist eine syntagmatische Einheit. Eine Bewegung ist nicht kleiner Teil einer Gesamtbewegung, sondern vielmehr Pose, die die Bewegungsenergie enthält, hierin der griechischen Plastik nicht unähnlich. Während der Film die Bewegung verflüssigt, zementiert der Comic sie und schafft dabei das Bewegungsbild als heroische Metapher.

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Damit ist die Unschuld, die das Medium schon in der politischen Ökonomie verloren hat, im Übrigen auch ästhetisch beim Teufel. Das Comic-Bild schafft eine Ordnung, von der der Film erst erzählen muss, eine Ordnung der Geschlechter, Ordnung der Klassen, Ordnung der Technologie, Ordnung aber auch im eigenen Blick: Kontrolle versus Auslieferung. An einem Punkt der Hingabe aber verschwimmen hier wie dort Kontrolle und Auslieferung. Wenn der Comic seine ideale Lesegeschwindigkeit erreicht hat, ist er in der Tat einem Film verwandter als einem Bilderroman. Auch jenseits von ökonomischen Strategien und technischen Verknüpfungen bewegen sich Erzählweisen aufeinander zu. Die ästhetische Ökonomie verknüpft die politische mit der sexuellen Ökonomie.

A UF DEM W EG ZUM M E TAMEDIUM Das totale Medium spukt in unseren medialen Albträumen, in der ScienceFiction. »Big Brother«, bei dem der manipulierende Bildschirm zugleich Kontrollkamera war, erschien nur als besonders drastisches Bild. Menschen, die in einem kapitalistischen Terrorstaat vollständig von einem entgrenzten Medium beherrscht werden, sind als Albtraum des totalen Konsenses verrückterweise Konsens-Bild in der Konsensmaschine (als käme selbst das Medium nicht ohne Drohgebärden aus: »Wir können auch anders!«). Das Bild indes ist so verbraucht, dass es sich selber in einer merkwürdigen Idee von Ironie verdoppeln muss; es wird Metapher der Metapher. Und was »Kult« ist, »cool« und »stylish« meinethalben, positioniert sich viel weniger gegenüber »dem wirklichen Leben« als gegenüber dem Medienrest. Die Konkurrenz der Medien untereinander war nicht zuletzt ein Ordnungsfaktor in der Wahrnehmung. Zudem war es eine Hoffnung darauf, dass eine in einem Medium unterdrückte »Wahrheit« (die Korruption der Politiker vielleicht oder die Planung eines Krieges, die Verseuchung der Welt oder die traurige Lächerlichkeit einer bürgerlichen Kleinfamilie) in einem anderen wieder auftauchen würde. Oder dass eine als »Diskurs« zensurierte Aussage als »Metapher« wieder auftauchte (wie dass der Zynismus des Neoliberalismus in »Sin City« zu sich käme). Tatsächlich wird mit der Verschmelzung der Medien die Auflösung der Unterscheidung zwischen Abbild und Metapher, zwischen Dokument und Fiktion, zwischen Spiegel und Maske, zwischen Erzählung und Modell vorangetrieben. Eine Artikelfolge in der Bild-Zeitung funktioniert nach den gleichen dramaturgischen Rezepten wie eine Soap-Opera, die nach den gleichen dramaturgischen Rezepten wie eine Comic-Saga funktioniert. Auf der anderen Seite funktioniert eine Artikelserie im Spiegel oder in der FAZ zunehmend nach den gleichen dramaturgischen Rezepten wie die in Bild. Übrigens glauben wir nicht

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mehr recht an den Distinktionsgewinn. Meine Zeitung macht schon lange keinen Mann von Welt mehr aus mir, geschweige denn einen klugen Kopf, weshalb ich auch mehr über die Welt aus einem 40 Jahre alten Micky-Maus-Heft als aus dem neuen Spiegel erfahre. Jede größere Katastrophe erzeugt ohnehin längst eine jener Meta-Bildererzählungen, in denen sich die einzelnen Medien untereinander nur noch als Verstärkungen und Verspiegelungen, keineswegs aber als diskursive Korrekturen oder gar als Kritik verstehen können. Die Demokratie sieht aus wie Sabine Christiansen, die Geschichte wie eine Autobombe und das Schicksal wie eine Flutwelle. Aber Batman sieht aus wie Batman. Der Gezeichnete ist die Metapher der Identität. Der Schatten überlebt nicht nur die Ware, sondern auch den Warenproduzenten. Die Verschmelzung von Comic, Film und Computerspiel hat demnach neben dem marktstrategischen und dem technologisch-avantgardistischen auch einen symbolischen Wert. Die Verknappung der Ressourcen freilich entwickelt sich zu einer absurden Falle zwischen den Gewinnern und den Losern, und mehr noch: den Leuten, die in dem System gar nicht mehr antreten. Peter Jackson ist Regisseur zugleich des Super-Recyclings von King Kong und des pünktlich zum Start herausgebrachten Computerspiels, während das Storyboard Vorlage für die Comic-Version ist. Die Bildwelten haben kein Zentrum und keine Architektur mehr, sie bewegen sich vielmehr auf einen neuen Zustand des rasenden Stillstands zu: Raserei des Filmischen, Stillstand-Pose des Comics. Natürlich steht dem wieder etwas entgegen, das wir als »Fetischcharakter der Comic-Bilder« bezeichnen können. Es ist da etwas, das sich ganz buchstäblich der »Auflösung« widersetzt. Die Metapher der Identität (die Metapher der ewigen Jugend) widersetzt sich der filmischen Auflösung und fordert so etwas wie eine neue ästhetische Strategie. Drei Filme der jüngsten Produktion mögen diesen Prozess beschreiben, in dem die neue entgrenzte Erzählweise so nahe scheint, wie sich ein ästhetischer Eigensinn der Medien abzeichnet.

Z EICHENR AUSCH Comic-Filme sind teurer Kinderkram für die globalisierte Fast-Food-Kultur; auf den ersten Blick Technologiestürme im Kinderzimmer. Auf den zweiten Blick aber ist die Beziehung der beiden visuellen Medien kreativer und widersprüchlicher. Neben dem Belanglosen und Korrupten entsteht da immer wieder etwas, das einen Blick in die Zukunft der Bilderkultur erlaubt: Die metaphysischen Schatten der Waren scheinen in die Wirklichkeit zurückzukehren, in eine Welt des absurden Verfalls in »Batman Begins«, wo das Kapital buchstäblich das Le-

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Abbildung 47: Comicverfilmung Sin City (USA 2005), Copyright © Dimension Films

ben zerfressen hat, in einen faschistischen Kapitalismus in »Immortel«, in eine barbarische Korruptions- und Gewaltwelt von »Sin City«. Drei Filme, die sich über die profunde Rettungslosigkeit der wirklichen Welt einig sind, aber vollkommen unterschiedliche Reaktionen darauf zeigen. Batman will seine Stadt erneuern, zurück zu alten Werten gelangen, aber vorher muss er dem Impuls widerstehen, den ganzen Scheiß zum Teufel gehen zu lassen. Alexander Nikopol will als einzelner in der Welt überleben, die nicht die seine ist, sich als moralisches Subjekt bewahren und als freies, und vielleicht sucht er ja auch die Liebe. Die Helden von Sin City dagegen suchen den Abschluss. Sie töten und wollen getötet werden. Schmerz, Schmutz und Blut sind nicht mehr Krisensymptome, sondern Elemente des Lebens selbst. Alle drei Filme nutzen das neue Idiom, nicht mehr verfilmter Comic, sondern Comic/Film zu sein, um dem Neoliberalismus eine letzte, dunkle Romantik zu verpassen. Im Kino muss man an Comics glauben, wenn man noch an das Subjekt glauben möchte. Und woran sollte man sonst glauben? »Sin City« entstand nach der düsteren Saga von Frank Miller, der neben Robert Rodriguez auch als Regisseur fungiert (mit Beistand von Quentin Tarantino), und überschreitet alle Grenzen von Kinorealismus und -simulation. Das

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Filmische passt sich dem Comic an, und das mit mehr als einem trickreichen Nebeneffekt: Sadismus und Gewalt mögen sich im Switch von einer Sprache in die andere neuen Raum erobern; es ist Roger Rabbit für seelenkranke Erwachsene und geschundene Straßenkinder. Man empfindet den größten Rausch der Identität, wenn man sich selber vorkommt wie eine Comic-Figur. Christopher Nolan hat in »Batman Begins« den umgekehrten Weg gewählt. Er unterwirft den Comic-Mythos in all seinen Verzweigungen einer sozusagen radikalen Verfilmung. Zwar beschleunigt auch er die großen Syntagmen, springt in den Zeitebenen und vor allem: lässt Trauma und Erinnerung das Gegenwärtige überfluten, aber er erklärt die heroische Pose, die statuarische Abbildung 48: Enki Bilal, Immortal, 2004, Copyright © Squidoo, LLC

Maskerade, auf die man in »Sin City« geradezu hinaus will, aus dem filmischen Fluss der Bilder. Er zeigt sogar die heroische Pose als Maskerade der Angst. In »Immortel« schließlich hat der französische Comic-Künstler Enki Bilal seine ganz persönlichen Visionen vom Ende der Welt in einen Film übersetzt, der sich nicht minder von den Bilder- und Erzählgewohnheiten verabschiedet. Als wolle er beweisen, dass sich Comics eins zu eins in Film übersetzen lassen. Alle drei Strategien auf der Suche nach der neuen Comic-/Film-Sprache haben einiges für sich und anderes gegen sich. Im Kino kann man derzeit das Entstehen eines neuen Bilder-Codes beobachten. Was man darin über den inneren Zustand unserer Wirklichkeit erfährt, ist höchst beunruhigend. Der metaphysische Schatten der Ware kehrt in die Welt zurück, von Schuld, Angst, Scham und Zorn getrieben, sieht, was er angerichtet hat: Sauve qui peut (la vie). Oder das Bild, wie man es nimmt.

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F ILMOGR AFIE Attack on a Chinese Mission Station (Großbritannien 1901, Regie: James Williamson) Batman Begins (USA 2005, Regie: Christopher Nolan) Immortel (ad vitam) (Frankreich/Großbritannien/Italien 2004, Regie: Enki Bilal) Sin City (USA 2005, Regie: Frank Miller) Tearing Down the Spanish Flag (USA 1898, Regie: J. Stuart Blackton)

Die Tyrannei der Schmelztiegel-Metapher Wonder Woman als amerikanisierte Immigrantin 1 Matthew J. Smith

»Von den Göttern mit Athenes Weisheit, der Stärke Herkules, der Schnelligkeit Merkurs und der Schönheit Aphrodites beschenkt, verzichtete Prinzessin Diana von Paradise Island auf die Unsterblichkeit und trat in die Welt des Menschen als die legendärste Amazone aller Zeiten ein… Wonder Woman.« Prolog auf der splash page der Wonder Woman Comics in den 1970er und 1980er Jahren; Hervorhebung im Original. »Identität, immer die Identität, zusätzlich zum Wissen über andere.« (Said 1993: 299)

Seit ihrem Debüt im Dezember 1941 ist Wonder Woman als Symbol für mehrere ideologische Vereinnahmungen instrumentalisiert worden. 1944 erklärte Dr. William Moucolton Marston, er wolle eine weibliche Figur erschaffen, »mit all der Kraft eines Supermans plus der Anziehungskraft einer guten und schönen Frau« (Marston 1944: 42-43), um der »haarsträubenden Männlichkeit« (ebd.: 42) anderer Comic-Superhelden etwas entgegen zu setzen. Von Beginn an war Wonder Woman damit repräsentativ für den Kampf um die Gleichstellung der Frau. Die feministischen Motive in Wonder Womans Comic-Auftritten wurden mehrmals Untersuchungsgegenstand wissenschaftlicher Kritik (vgl. Robbins 1996), andere ideologische Fragen, die mit der Figur in Verbindung stehen, wurden jedoch größtenteils vernachlässigt. Nicht zuletzt dient Wonder Woman schließlich auch als Symbol kultureller Identität. Von Beginn an repräsentierte Wonder Woman, die nach Amerika reisende Prinzessin einer unabhängigen Nation von Kriegerinnen, das Ringen um den Erhalt der eigenen ethnischen Identität und die gleichzeitige Anpassung an das Leben in einer neuen Kultur. In den ersten 40 Jahren ihrer Abenteuer wurde Wonder Womans kulturelles Zugehörigkeitsgefühl kaum in Frage gestellt. Trotzdem sie die Kronprin-

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zessin von Paradise Island ist, verlässt sie immer wieder die ruhigen Gestade ihres Herkunftslandes, um in den konfliktbeladenen Straßen amerikanischer Großstädte zu leben. Die dem zugrundeliegende Annahme, dass jede_r – auch Abbildung 49: Harry G. Peters Konzeptskizze der Wonder Woman, 1941, Copyright © DC Comics

Mitglieder ausländischer Königsgeschlechter – das Leben in den Vereinigten Staaten dem Leben in jedem anderen Land vorziehen würde, wird insbesondere in der vergleichenden Gegenüberstellung zu einer späteren Interpretation der Figur frappant, eine Interpretation, die ihr erlaubt an der amerikanischen Kultur teilzuhaben, ohne die starken ethnischen und kulturellen Bande zu ihren eigenen Ursprüngen abtrennen zu müssen. Diese rechtschaffene Pluralität war allerdings nicht von Bestand, und die nachfolgenden Autoren_innen von Wonder Woman machten es sich zum Ziel, sie in den Mainstream zu reintegrieren und ihre Treue zu amerikanischen Idealen wieder herzustellen. Daher wurde in der ursprünglichen Legende um Wonder Woman sowie auch in den darauf folgenden Interpretationen derselben versucht, die Erwartungen bezüglich der Schmelztiegel-Metapher zu erfüllen. In Amerikas Schmelztiegel sind Menschen jeder Nation willkommen, sich dem »Eintopf« von races, Nationalitäten und Ethnizitäten anzuschließen und sich in die US-Bevölkerung zu mischen. Bereits 1914 griff Israel Zangwill in The Melting Pot die Metapher auf, um die Einwanderung nach Amerika zu beschreiben. »Der große amerikanische Schmelztiegel« wurde noch Jahrzehnte später in den Lehrmate-

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rialien für amerikanische Bürger_innen verwendet, in Cartoons im Fernsehen, Büchern, Musicals und Schoolhouse Rock!-Merchandising. Als Artefakt amerikanischen Nationalbewusstseins verstärkt die Schmelztiegel-Metapher die Vorstellung, dass Amerika allen möglichen Menschen gegenüber offen ist, die sich ihm anzuschließen willkommen geheißen werden. Impliziert wird in dieser Einladung jedoch die Erwartung, dass die Immigranten_innen ihre eigentümlichen Geschmäcker im Prozess der Anpassung an die homogene Essenz des Schmelztiegel-Inhalts aufgeben werden. In diesem Sinn repräsentiert der Schmelztiegel sowohl das Verschmelzen mit der amerikanischen, als auch das Dahinschmelzen der eigenen Herkunfts-Identität. Die unterschiedlichen Interpretations-Versuche von Wonder Woman repräsentieren diesen Schmelztiegel-Prozess. Der folgende Artikel soll eine kritische Abhandlung des Prozesses darstellen, indem drei Zeitabschnitte von insgesamt sechs Jahrzehnten publizierten Materials zur Figur untersucht werden. Um die Relevanz der späteren Transformationen der Erzählung aufzuzeigen, wird mit einer Untersuchung der frühen Tage Wonder Womans begonnen, wie sie von ihrem Schöpfer Marston aufgezeichnet wurden, der zwischen 1941 und 1947 die bleibenden Charakteristika des Mythos prägte. Als nächstes wendet sich der Artikel der umfassenden Neuinterpretation der Figur, ihrer Entstehung, und ihrer Mission zu, wie sie vom Texter/Künstler George Perez und anderen Mitwirkenden in der Ära zwischen 1987 bis 1992 angeleitet wurde. Schließlich wendet er sich dem Input von zwei nachfolgenden Autoren zu, William Messner-Loebs und John Byrne, die nach dem Ausstieg von Perez nacheinander die Autorschaft antraten und jene Geschichten verfassten, die zwischen 1992 und 1996 publiziert wurden. Bevor wir uns jedoch näher mit diesen Analysen befassen, lasst uns damit beginnen, Wonder Womans Ringen um Identität in den breiteren Kontext einer pluralistischen Gesellschaft zu setzen.

K ULTURELLE A SSIMIL ATION VS . KULTURELLE A KKOMMODATION Sowohl Wonder Woman als auch die Schmelztiegel-Metapher untermauern die Erwartungen hinsichtlich der bevorzugten kulturellen Identität in den Vereinigten Staaten. Die Schmelztiegel-Metapher versucht den idealen Immigrationsprozess nachzuvollziehen: Ausländer_innen kommen in den Vereinigten Staaten an und fügen sich in die bunte Mischung der Kulturen ein. In diesem Prozess der Vermischung stellen die Immigranten_innen jedoch fest, dass – während sich ihre eigene Kultur verliert – sie von einer unberührten »amerikanischen« Kultur ersetzt wird, die durch die Vorherrschaft der englischen Sprache, bedingungslose Loyalität zur amerikanischen Flagge »Old Glory« und durch die Ehrfurcht vor Artefakten wie »Mom«, »Apple Pie« und »Baseball« geprägt ist. Immigranten_innen sollen eins mit dieser Kultur werden, sie werden

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kulturell assimiliert. Sicherlich passiert dieser Prozess der Verschmelzung für viele Immigranten_innen nicht über Nacht; tatsächlich kann er in großen Städten, wo ethnische Gemeinschaften florieren, über Generationen währen. Die Erwartung, dass diese ethnischen Gemeinschaften ihre Identitäten letztendlich unterordnen oder ihre unamerikanische Kultur vollkommen aufgeben werden, bleibt jedoch bestehen. Die Schmelztiegel-These ist praktisch seit der Popularisierung dieser Metapher von Kritikern_innen attackiert worden. Schon früh haben Opponenten_innen wie Horace Kallen 1924 den Erwartungen einer Homogenisierung die Aufforderung entgegengesetzt, Amerika solle den Pluralismus über den Assimilationismus stellen (vgl. Whitfield 1999). Kultureller Pluralismus plädiert für eine Akzeptanz von kultureller Diversität in der Bevölkerung. Ein pluralistisches Modell würde die Gesellschaft als eine solche begreifen, die die Akkommodation verschiedener Kulturen anstelle ihrer Assimilation hochhält. In der Vergangenheit wurde dieses heterogene Gesellschaftsbild mit einer »Salatschüssel« verglichen, in der die Zutaten ihren einzigartigen Geschmack bewahren und gleichzeitig neben anderen Zutaten koexistieren. Und tatsächlich wird die Bevölkerung der Vereinigten Staaten stetig vielfältiger. Das statistische Bundesamt der USA (1996) geht davon aus, dass die hispanische, afroamerikanische und asiatische Bevölkerung sowie die Bevölkerung der amerikanischen Ureinwohner_innen im Jahr 2050 die Hälfte der US-amerikanischen Gesamtbevölkerung stellen wird. Trotzdem sich das Gesicht Amerikas wandelt, wird dieser Trend in den Massenmedien nicht widergespiegelt; diese entscheiden sich, ein älteres und konservativeres Verständnis der amerikanischen Gesellschaft zu kommunizieren. Gerade Comics stellen hier den Vortrupp konservativer Repräsentationen. Die Zielgruppe für die meisten Comics (Jugendliche), der frühe Einfluss des Zweiten Weltkrieges und des Kalten Krieges, und der industrielle MainstreamKontext der Comic-Produktion (einschließlich des Comics Codes) fördern einen Nachdruck auf traditionelle Werte in Comics. Richard Reynolds beispielsweise (1994) erklärt, dass Comic-Superhelden_innen (trotz ihrer avantgardistischen Mode) Verfechter_innen eines gesellschaftlichen Status quo sind. Als solche kontern sie jeden Versuch von Antagonisten_innen, die Gesellschaftsordnung zu verändern und erhalten damit das existierende soziale Paradigma. Obwohl Unterground-»Comix« und alternative Verlage diese Normen immer wieder herausgefordert haben, hat keiner von ihnen je über einen Markt verfügt, der groß genug war, um ein langfristiges und radikales Überdenken der MainstreamBotschaften, insbesondere im Superhelden-Genre, zu bewirken. Comics haben daher als Trägermedium zur Förderung konservativer Werte gedient. Durch das Verfechten des Mainstreams haben sie allerdings zur Normalisierung von gewissen Vorurteilen beigetragen. In manchen Fällen sind diese Vorurteile deutlich und graphisch abgebildet worden. Don Thompson (1970)

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vermerkt, wie Künstler_innen die japanischen Feinde Amerikas während des Zweiten Weltkrieges karikierten. Bilder von japanischen Soldaten mit dicken Brillengläsern und Hasenzähnen verstärken gemeinsam mit anderen übertriebenen Attributen die Fremdartigkeit der Antagonisten_innen Amerikas. Obwohl Comic-Künstler_innen in den letzten 60 Jahren gegenüber der Darstellung von Japanern_innen sensibilisiert worden sind, besteht noch immer die Tendenz, das »Andere« zu dämonisieren. In letzter Zeit erscheinen Menschen aus dem arabischen Kulturkreis als dunkelhäutige Terroristen_innen, die davon besessen sind, die amerikanische Gesellschaft zu zerstören. Letztlich ist die speziell amerikanische Ausformung des Nationalismus nichts Ungewöhnliches. Stolz und Dominanz sind Charakteristika von vielen Nationalstaaten, diese Eigenschaften werden allerdings problematisch, wenn sie anderen physisch oder diskursiv aufgezwungen werden. In den letzten Jahrzehnten sind Literaturkritiker_innen zunehmend darauf aufmerksam geworden, wie die einheimische Bevölkerung durch das Schreiben Widerstand gegen die kolonisierenden Mächte anderer Nationen leistet. Diese Kritiker_innen versuchen, die Aufmerksamkeit auf die Intoleranz des assimilierenden Staates für Diversität und seine Erwartungen an Konformität zu lenken: »Alle Nationalismen haben eine metaphysische Dimension, da sie alle von dem Ehrgeiz getrieben sind, ihre intrinsische Essenz in einer spezifischen und greifbaren Form zu vergegenwärtigen. Die Form kann eine politische Struktur oder eine literarische Tradition sein. Wenn die durch diesen Ehrgeiz entstandenen Probleme schon in sich hartnäckig genug sind, so werden sie bis zur Absurdität intensiviert, wenn sich ein nationalistisches Selbstverständnis als das ideale Modell betrachtet, an das sich alle anderen anpassen sollten.« (Deane 1990: 8)

Amerika hatte diesen Level sicherlich bereits erreicht, als es das erste Bündel patriotischer Superhelden_innen kreierte, Wonder Woman natürlich eingeschlossen. Als ein Vorbild tritt sie, wie der Schmelztiegel, für das Ideal ein, »an das sich alle anderen anpassen sollten«. Tatsächlich könnte Wonder Womans beharrliche Langlebigkeit als Assimilations-Vorbild zum Teil auf ihr Gender zurückzuführen sein. Wie Anne McClintock (1995) nahelegt, haben sich westliche Imperialmächte darauf verlassen, ihre Kultur über die Kontrolle der Frauen an die nachfolgenden Generationen der kolonisierten Nation weiterzugeben. Die Mehrheit der Autoren_innen Wonder Womans war männlich und hat sie wohl als Medium benutzt, um die amerikanische Vormachtstellung nochmals zu unterstreichen. Wie in den folgenden Abschnitten ausführlich dargelegt werden wird, zeigt die Legende von Wonder Woman, dass Amerika sogar dem Paradies vorzuziehen ist.

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D OMINANZ UND U NTERWERFUNG IN DER URSPRÜNGLICHEN WONDER WOMAN -S ERIE Wie der Vorgänger und die Inspirationsquelle Superman kommt Wonder Woman als Immigrantin an Amerikas Küsten an. Ganz im Gegenteil aber zu jenem Waisenkind, das von dem Untergang geweihten Planeten Krypton stammt und auf einer Farm in Kansas groß gezogen wird, wächst Wonder Woman in ihrer Herkunfts-Kultur auf Paradise Island zu einer erwachsenen Frau heran. Da er von klein auf als einer von uns erzogen wurde, ist Supermans Identifikation mit den Werten Wahrheit, Gerechtigkeit und des american way of life ein Produkt von Jahren der Assoziation mit normativen patriotischen Werten. Tatsächlich merkt Ian Gordon (1998) an, dass Supermann nicht nur die Verkörperung dieser Werte ist, sondern als sich etablierendes kulturelles Idol in der realen Welt mithalf, den american way erst zu definieren. Dass die Unterordnung unter den american Way, mit dem die ursprüngliche Version der Wonder Woman das erste Mal als Erwachsene in Berührung kommt, unmittelbar und unreflektiert geschieht, scheint mit ihren Herkunftsvoraussetzungen nicht kongruent. Aus diesem Grund ist Wonder Woman sicherlich eines der sichtbarsten und beständigsten Symbole der Populärkultur, die kulturelle Assimilation unterstützen. In ihrem Debüt in der All-Star Comics-Ausgabe Nr. 8 vom Dezember 1941 erreicht Wonder Woman Amerika schon vorverpackt in Rot, Weiß und Blau. Ihre eng anliegenden Hosen sind mit weißen Sternen auf blauem Untergrund besetzt. Ihre roten Stiefel (mit hohen Absätzen) sind mit ins Auge springenden, vertikal verlaufenden weißen Streifen in der Mitte des Stiefelschafts versehen. Außerdem trägt sie in den ersten 40 Jahren ihrer Laufbahn den berühmten Steinadler auf ihrer Korsage, der seit langem das Symbol des amerikanischen Nationalstolzes ist. Während andere Comic-Figuren wie Uncle Sam und Captain America ebenso patriotische Outfits tragen, hebt sich Wonder Woman durch ihre außergewöhnliche Herkunft in Sensation Comics Nr. 1 (Januar 1942) ab. Anders als einheimische Patrioten_innen repräsentiert sie jene Vielfalt an vorgefertigten Patrioten_innen, die Amerika inzwischen von seinen Immigranten_innen erwartet. Wonder Woman wird als Diana, Prinzessin der Amazonen, vorgestellt. Die Amazonen sind wilde Kriegerinnen des antiken Griechenlands, die der »Männerwelt« nach ihrer Niederlage gegen Herkules entsagen und in die Geruhsamkeit von Paradise Island segeln, wo sie ein männerfreies Utopia gründen. Als ein Pilot der amerikanischen Luftwaffe 1941 mit seinem Flugzeug an ihrem Zufluchtsort abstürzt, ordnet die Göttin Athene den Amazonen an, ihn zurückzubringen, denn: »Die amerikanische Unabhängigkeit und Freiheit müssen bewahrt werden! Ihr müsst die stärkste und weiseste Amazone – die herrlichste von euch Wonder Women – mit ihm schicken. Denn Amerika, die letzte Bastion der Demokratie und der Gleichberechtigung der Frauen, braucht Eure Hilfe!«

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(Marston 1972: 5). Aus einem einer Olympiade ähnelnden Wettbewerb geht Diana als Siegerin hervor und erhält das eigens von der Königin kreierte Kostüm. Abbildung 50: Wonder Woman, Sensation Comics Nr. 1, Jänner 1942, Copyright © DC Comics

Die letzte Bildlegende der sechsseitigen Herkunfts-Episode bekräftigt: »Und so gibt Diana, die Wonder Woman, ihr Erbe und ihr Recht auf ein unsterbliches Leben auf und verlässt Paradise Island, um den Mann, den sie liebt, zurück nach Amerika zu bringen – in jenes Land, das sie lernen wird zu lieben und zu schützen und das sie als ihr eigenes annehmen wird!« (Marston 1972: 6). Was das Wonder Woman-Kostüm implizit ausdrückt, macht Marston in seiner letzten Bildlegende explizit. Um in Amerika ihre doppelte Mission der Verpflichtung gegenüber den Göttern und der Liebe gegenüber dem Mann zu erfüllen, gibt Diana »ihr Erbe auf« und zieht gen Amerika, in das Land, das sie »als ihr eigenes annehmen wird!« Wonder Woman ist eine Immigrantin, die sich der kulturellen Assimilation unterzieht noch bevor sie im neuen Land ankommt! Nicht nur erscheint sie dem Anlass entsprechend gekleidet, sie beherrscht außerdem fließend Englisch (mit keinerlei wahrnehmbarem Akzent), erfreut sich ausgezeichneter Gesundheit und erweist ihrer neuen Heimat un-

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erschütterliche Treue – so wie es das dominante kulturelle Paradigma als die anzustrebende Norm für alle Immigranten_innen annimmt. Wonder Woman beweist auch weiterhin ihre Loyalität, indem sie an der Heimatfront gegen Saboteure_innen der Achsenmächte kämpft, indem sie den Posten eines Militärattachés annimmt und indem sie dem ersten Bündnis von Superhelden_innen beitritt, der Justice Society of America. Selbst nach Kriegsende bleibt Wonder Woman für die nächsten 40 Jahre in Amerika, um Verbrechen zu bekämpfen, anstatt auf das herrliche Paradise Island zurückzukehren. Ihr Schöpfer Marston bemühte sich deutlich, sie zu einem Symbol zu machen, das von der amerikanischen Jugend bewundert werden konnte. Er kreierte nicht nur eine tugendhafte und patriotische Heldenidentität für sie, sondern gab ihr auch eine geheime Identität, die ihre Treue weiter bekräftigte. Nachdem sie kurze Zeit als Krankenschwester gearbeitet hat, nimmt Diana Prince die Stelle als Sekretärin eines Generals der Armee der Vereinigten Staaten an. Mike Benton führt aus, dass die geheime Identität einer der sich am häufigsten wiederholenden Kunstgriffe des Superhelden-Genres ist (vgl. Benton 1989). Daher ist es nicht weiter verwunderlich, dass auch Wonder Woman eine solche annimmt. Allerdings bestätigt die Wahl des Berufes ihre politischen Tendenzen. Bei allem, was über Marstons ursprünglichen Mythos geschrieben wurde, wurde den Fesselungs-Motiven übermäßig viel Aufmerksamkeit gewidmet (vgl. Wertham 1954; Reynolds 1994). Szenen, in denen Wonder Woman selbst, ihre Feinde oder andere Charaktere mit Ketten, Seilen oder Wonder Womans eigenem goldenen Lasso gefesselt sind, finden sich bei ihren ersten Abenteuern keineswegs selten. Die Comic-Historikerin Trina Robbins merkt jedoch an, dass es ungerecht sei, die Praxis gerade bei Wonder Woman so hervorzuheben: »Tatsache ist, dass in den Comics der 1940er Jahre die Helden regelmäßig entweder gefesselt wurden, damit sie sich selbst aus ihren Fesseln befreien konnten, oder aber ihre Freundinnen gefesselt wurden, um von den Helden gerettet zu werden.« (Robbins 1996: 12-13) Robbin hebt weiters hervor, dass ein häufiges Element des Handlungsschemas in Captain Marvel’s Abenteuern der gefesselte und geknebelte Billy Batson war, der verzweifelt versuchte, das magische Wort »Shazam!« auszusprechen, das ihn in den mächtigsten Sterblichen der Welt verwandeln würde. »Trotzdem habe ich nie etwas über Bondage bei Captain Marvel gelesen«, führt Robbins zu Ende (ebd.: 13). Tatsächlich bestätigt eine Studie über die Comics dieser Ära, wie allgegenwärtig dieses Motiv war: Fesseln zu sprengen war sowohl für Wonder Woman als auch für ihre männlichen Kollegen eine heroische Tat. Daher ist zu bezweifeln, dass den Versuchen, die Fesselungs-Szenen im Comic Wonder Woman auf sexuelle Deviationen zurückzuführen, sehr viel Gewicht beizumessen ist. Obwohl vermutlich nicht im Fetisch-Kontext gedacht, war die Einbeziehung von Fesselungen in Wonder Woman doch mehr als ein zufälliges Handlungselement. Michael L. Fleisher legt nahe, dass diese Bildsprache, kombiniert mit

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expliziten Aussagen im Text selbst, eine Philosophie der »Unterwerfung aus Liebe« vertritt (vgl. Fleisher 1976). Dies war eine »amazonische Philosophie, die die unerbittliche Unterdrückung der eigenen Impulse der Rebellion und des Durchsetzungswillens zugunsten des unkritischen Gehorsams gegenüber wohlwollenden Autoritätspersonen fordert« (ebd.: 236). Demzufolge konnten die Götter des Olymps über die Amazonen herrschen, da sie nur das Beste für die Frauen wollten, und Wonder Woman konnte Kriminelle einsperren, weil sie wiederum nur deren Bestes wollte. Die Serie Wonder Woman diente Marston ohne Zweifel als Forum für seine Ideen über Dominanz und Unterwerfung, eine Sichtweise, die ihm für soziales und psychologisches Wohlbefinden galt. Geoffrey C. Bunn zufolge hatte Marston eine Neuordnung der Gesellschaft durch »Freiheit durch Unterwerfung« vorhergesehen, lange bevor er die Herausforderung annahm, Wonder Woman zu kreieren (vgl. Bunn 1997: 107). Aus dieser Sicht gehörte es Menschen zum persönlichen Vorteil von Menschen, wenn sie ihren eigenen rebellischen Willen einer größeren sozialen Hierarchie unterordneten. Im Wesentlichen wird man als »Sklave« des gesellschaftlichen Wohls ein besserer Mensch, was letztendlich eine bessere Gesellschaft hervorbringt. Dasselbe Leitmotiv von Dominanz und Unterwerfung ist in der Schmelztiegel-Metapher impliziert. Die Leitkultur übt ihre beträchtliche Macht über Immigranten_innen aus, deren Herkunfts-Kultur versucht, der Konformität des homogenisierten Schmelztiegel-Rezeptes zu widerstehen. Die dominante Kultur erwartet von den Immigranten_innen, sich in den Schmelztiegel zu ihrem eigenen Wohle wie auch zum Wohle der Gesellschaft einzufügen. Der Auffassung Marstons zufolge bedeutet Wonder Womans Unterwerfung unter die amerikanische Herrschaft nicht nur eine wohltätige Dienstbarkeit, sie ist explizit der Wille der Götter. Marstons Wonder Woman sprang eindeutig weniger in einen Schmelztiegel als in einen Schnellkochtopf. Ihre Bereitwilligkeit, ihre eigene Erziehung zugunsten der amerikanischen Kultur hinter sich zu lassen, demonstrierte die Unterwerfung, die sich immigrierte Amerikaner_innen zu eigen machen sollten, und die, wie den gebürtigen Amerikanern_innen versichert wurde, nicht angefechtet werden würde. Nach Marstons Tod im Jahr 1947 zeichnete eine Reihe an Autoren_innen die Abenteuer seiner fantastischen Amazone auch weiterhin auf, ohne sich wesentlich von den Grundsätzen der frühen Erzählung zu entfernen. Obwohl hier nicht näher darauf eingegangen werden wird, waren ihre Bemühungen augenscheinlich erfolgreich genug, um die regelmäßige Herausgabe von Wonder Woman durch die 1950er, 60er und 70er Jahre hindurch am Leben zu erhalten, wohingegen andere Figuren (wie der oben genannte Captain Marvel) von den Comic-Ständen verschwanden, obwohl sie ursprünglich populärer gewesen waren. Tatsächlich wurde die Reihe nur ein einziges Mal zwischen 1986 und 1987 für einen längeren Zeitraum unterbrochen, als eine elfmonatige Pause

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zwischen der ersten und zweiten Wonder Woman-Serie einem neuen kreativen Team erlaubte, eine Reihe von bedeutenden Überarbeitungen an der Figur und ihrer Mythologie vorzubereiten (und selbst während dieser Pause verkürzte die Veröffentlichung einer vierteiligen Miniserie mit dem Titel The Legend of Wonder Woman die Wartezeit). Über die Jahrzehnte hatten mehrere kreative Teams mit dem Verändern von Serien-Elementen experimentiert. Wonder Womans Alter Ego, Diana Prince, wechselte mehrmals ihren Job, zog sich aus der Militärlaufbahn zurück, um eine Boutique zu betreiben, arbeitete dann als Touristenführerin bei den Vereinten Nationen und später als Astronautin. Steve Trevor, ihre lang unterdrückte Liebe, wurde einmal ermordet, dann von der Göttin Aphrodite wieder zum Leben erweckt, erneut umgebracht und schließlich von seinem Gegenstück aus einer anderen Dimension ersetzt. In den späten 1960er Jahren verzichtete Wonder Woman zu einem bestimmten Zeitpunkt auf ihre übermenschlichen Fähigkeiten und magischen Waffen bei der Verbrechensbekämpfung und vertraute als einzigen Vorsprung gegenüber Bösewichten nur noch auf ihre Kampfsportausbildung. Keine dieser Abänderungen schienen lange anzuhalten und keine einzige davon hat sich ein so ehrgeiziges Ziel gesteckt wie DC Comics, als es eine zweite Serie mit dem Titel Wonder Woman auf den Markt brachte.

K ULTURELLER P LUR ALISMUS IN EINER ÜBER ARBEITE TEN W ONDER W OMAN -M Y THOLOGIE Wenn dieser auch viele Jahrzehnte auf sich warten hatte lassen, geschah im Wonder Woman-Mythos 1987 doch ein Paradigmenwechsel von der kulturellen Assimilation hin zur kulturellen Akkommodation. Mitte der 1980er Jahre war DC Comics bereits mitten in ihrem Projekt, ihre Stars neu zu erfinden, um eine neue Generation von Fans anzuziehen, indem sie die alten Geschichten neu erzählten und die Comic-Serien neu nummerierten. Als die erste Ausgabe der neuen Wonder Woman-Serie herauskam, hatte der Texter/Zeichner John Byrne Superman bereits aufpoliert und der Texter Frank Miller die Ursprünge Batmans umgeschrieben. George Perez führte das kreative Team an, das Wonder Woman neu interpretierte. Beruflich war Perez ein Künstler, der für seine detaillierten Illustrationen bei Serien wie Avengers (Marvel Comics) und New Teen Titanics (DC) bekannt geworden war. Sein kultureller Hintergrund ist der Haushalt in New York, in dem er aufgewachsen ist und in dem Spanisch gesprochen wurde. Gemeinsam mit zahlreichen Mitarbeitern_innen (unter ihnen mehrere Frauen) ging Perez in den nächsten fünf Jahren in seiner Arbeit zwar von Marstons ursprünglicher Auffassung der Amazing Amazon aus, er entfernte sich aber vom ursprünglichen Mythos, indem er zahlreiche Innovationen in-

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tegrierte, insbesondere was Wonder Womans Artikulation der eigenen Identität und das offene Bekenntnis zu ihrer Herkunft betrifft. Möglicherweise einer der wichtigsten Ausgangspunkte war für das Team von Perez das Überdenken von Wonder Womans Rolle in der Welt. Wenn Prinzessin Diana immer noch ursprünglich von den Göttern auf ihre Mission in die Außenwelt geschickt wird, so besteht diese Mission nun nicht mehr darin, Abbildung 51: Wonder Woman, Coverezeichnung: George Perez, 1986, Copyright © DC Comics

einen politischen Feind zu bekämpfen. Sie soll stattdessen einen metaphysischen Gegner, den Kriegsgott Ares, davon abhalten, die gesamte Zivilisation zu vernichten. Nach diesem ersten Abenteuer übernimmt sie die Rolle der Botschafterin ihres Volkes in der Außenwelt und bekommt den Auftrag, der Menschheit die Gesetze der Harmonie zu lehren, die ihre eigene Kultur über Jahrhunderte hinweg geleitet haben. Diese Amazing Amazon sieht sich selbst nicht als Superheldin und nimmt daher kein heuchlerisches Alter Ego an, was eine deutliche Abwendung sowohl vom traditionellen Mythos als auch von den Erwartungen an das Genre darstellt. Durch die Verweigerung dieses Motivs erlaubten die Autoren_innen Wonder Woman die Vorstellung zurückzuweisen,

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dass sie sich als Frau und Immigrantin einer Umbenennung durch die dominante Kultur fügen müsse. Mit dem von den Medien generierten Spitznamen »Wonder Woman« nicht ganz behaglich, bekräftigt die Figur, dass sie in erster Linie jene Person ist, als die sie sich immer selbst wahrgenommen hat, nämlich Prinzessin Diana. Eine zweite deutliche Wende ist das offene Bekenntnis der Prinzessin zu ihrer Herkunft. So kommt sie ohne die vorausgesetzten englischen Sprachkenntnisse in Amerika an und spricht »eine Art Kauderwelsch, vermischt mit Altgriechisch!«, wie es eine mehrsprachige Figur beschreibt (Perez/Wein 1987a: 6). Obwohl sie sich in Boston eine Ersatzfamilie sucht, ist sie in ihrem Wirken nie an diese Stadt gebunden, sondern bricht stattdessen in einem der Abenteuer auf, um ihre mediterranen Wurzeln zu erkunden (Perez 1988). Sie betet regelmäßig zu ihren Göttern, spricht liebevoll über ihre Erziehung und lädt sogar eine UN-Delegation ein, ihre Heimat zu besuchen (vgl. Perez/Newell 1989b). Die Heimat selbst spiegelt den Pluralismus des neu definierten Charakters wider. Auf der Insel Themyscira (das umbenannte Paradise Island) sind viele ihrer Amazonen-Schwestern nicht kaukasisch, die afroamerikanische Hauptfrau der Wache, Phillipus, eingeschlossen (vgl. Perez/Potter 1987). In dieser Version der Geschichte »gibt Diana« ihr Erbe nicht »auf«, sondern teilt es mit der Außenwelt. Sie lernt zwar Englisch, verliert aber dadurch nie ihre griechischen Sprachkenntnisse. Wenn sie auch in einer US-amerikanischen Stadt ihre Operationsbasis errichtet, hindert sie das nicht, die ganze Welt zu bereisen, um Gleichheit und Eintracht zu predigen. Kurzum trifft sie auf ein Amerika der Akkommodation und nicht der Assimilation: Sie behält ihre eigene Kultur und funktioniert gleichzeitig innerhalb der Gesellschaft. Perez’ Team zeigt, dass individuelle kulturelle Autonomie respektiert werden sollte und nicht abgeworfen werden muss, um faszinierende Geschichten von sozialer und persönlicher Relevanz zu erzählen. Diana muss uns nicht in dem Sinne gleichen, dass sie eine Amerikanerin ist, da sie uns bereits in dem Sinne gleicht, dass sie ein menschliches Wesen ist, das sich den gleichen Herausforderungen stellen kann. Das gelegentliche An-den-Tag-legen fremder Sitten zeigt uns, dass der american way nicht immer der einzige Weg sein muss. Indem Werte anderer, nicht-amerikanischer Kulturen eine Rolle spielen, bewegt sich die Version von Perez in einem größeren Raum als jede andere vorhergehende oder nachfolgende Darstellung, zeigt allerdings trotzdem deutliche Anknüpfungspunkte an US-amerikanische Werte. In jedem Fall bleibt das Kostüm Wonder Womans ein starkes amerikanisiertes Symbol. Perez und Wein (1988) erklären das Paradox einer ethnisch selbstbewussten Themyscirianerin, die in Stars and Stripes gehüllt ist, eher durch Schwesternschaft als durch Politik. Anscheinend erlitt während des Zweiten Weltkrieges Diana Trevor, eine Freiwillige des »Woman’s Auxiliary Ferrying Squadron«, eine Bruchlandung auf Themyscira. Trevor half den Amazonen, eines der einheimischen Monster der

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Insel zu besiegen, bezahlte dafür aber mit ihrem Leben. Ihr zu Ehren wurden zwei Rüstungen geschmiedet, für die die rot-weiß-blauen Abzeichen auf ihrer Jacke als Vorlage dienten. Eine der Rüstungen wurde mit Trevor beim Begräbnis verbrannt, die andere war für jene Kriegerin vorgesehen, welche würdig genug sein würde, sie zu tragen und als die sich letztendlich die Prinzessin herausstellte, die bereits nach ihr benannt war. Wie unbeabsichtigt ihre Anwesenheit auf Paradise Island auch immer gewesen sein mag, dient Trevor dennoch als Symbol des amerikanischen Imperialismus. Sie findet sich zwar nicht ein, um zu erobern oder zu assimilieren, aber letztendlich um die mit dem einheimischen Unterdrücker ringenden Amazonen von diesem zu befreien. Der amerikanischen Außenpolitik seit 1941 folgend, bringt Trevor den weniger entwickelten Nationen der Welt die Erfahrung des amerikanischen Know-how. Voller Dankbarkeit verehren die Amazonen das Sternenbanner und erheben sie in den Stand einer Nationalheldin. Wie könnte sich Wonder Woman bei einem solchen Vorbild nicht revanchieren? Zu Ehren der gefallenen Heldin muss sie Amerika vom Schatten des Bösen befreien und einige seiner Sitten als die ihren annehmen, wie auch ihr Volk Trevor als eine der ihren angenommen hat. Perez’ Team reinterpretierte Wonder Woman hinsichtlich ihrer nationalen Identität radikal. In ihren Händen nahm die Serie eine multikulturelle Perspektive an. Sie bot ein Forum für Charaktere aus unterschiedlichen Kulturen, die dort miteinander interagieren konnten, ohne dabei ihre eigene Identität zugunsten einer anderen aufgeben zu müssen. Zumindest hier wurde der Schmelztiegel durch die Salatschüssel ersetzt. Diese experimentelle Kampfansage an das Dogma nationalistischer Überlegenheit würde jedoch nicht von Dauer sein, da andere mit dem Mainstream-Konservatismus alliierte Autoren_innen später daran arbeiteten, die fremde Amazone zu rekolonisieren.

V ON DER A MA ZONE ZUR A MERIK ANERIN : D ER AUFGE WÄRMTE S CHMEL Z TIEGEL Als sich Perez in den frühen 1990er Jahren neuen Projekten zuwendete, wurde Marstons Dominanz-Unterwerfungs-Motiv von anderen Autoren_innen wieder aufgegriffen und die Amazonen-Prinzessin auf die quälend bekannten Bahnen gelenkt. Der erste Autor, der den Charakter wieder dem bekannten amerikanisierten Idol annäherte, war William Messner-Loebs. Gemeinsam mit einer Unzahl an Redakteuren_innen und Künstlern_innen brachte er den Charakter auf Marstons ursprüngliche Linie zurück, indem er eine Reihe an Ereignissen entwarf, die die Figur in die amerikanische Kultur assimilieren sollte. Was Marston jedoch in einer einzigen Geschichte unterbrachte, nämlich die Heldin von einer

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Ausländerin zu einer angepassten Bürgerin umzuwandeln, führte Messner-Loebs in der Serie im Zeitraum von drei Jahren zu Ende. In Gang gebracht wird der Prozess, als Themyscira durch das Einwirken eines Feindes verschwindet. Diana ist von ihrem Heimatland abgeschnitten; dies untergräbt ihre Autorität als Botschafterin und ihre Identität als Einwohnerin mit fremder Staatsbürgerschaft. Aus diesem Grund sozial benachteiligt nimmt Diana den einzigen Job an, den sie finden kann, als Mitarbeiterin bei »Taco Whiz« – eine klare Degradierung für eine Prinzessin (vgl. Messner-Loebs 1993). Wie andere Immigranten_innen, die von ihren Heimatländern abgeschnitten sind, ist Diana gezwungen, sich an die Gesellschaft anzupassen, in der sie lebt. Eintracht zu predigen scheint nicht mehr so wichtig wie die nächste Miete zu bezahlen. Amerikaner_innen sind schließlich keine erhabenen Individuen, sondern praktische, hart arbeitende Menschen. Auch von übermenschlichen Individuen wird deshalb erwartet, dass sie einen 40-Stunden-Job annehmen, während sie weiterhin für Wahrheit und Gerechtigkeit kämpfen. Diese Geschichte ist ein gutes Beispiel, wie sich die Figur der Diana von der Akkommodation zur Assimilation bewegt. Respekt wird mit Akkommodation assoziiert, Demut mit Assimilation. Schließlich muss man demütig seine ursprüngliche Identität verleugnen, um Teil einer Gruppe zu werden. Für eine Fast-Food-Kette zu arbeiten und über keine finanzielle Sicherheit zu verfügen sind in der amerikanischen Kultur Zeichen für Demut, für das Motiv des »ganz unten beginnen und sich hocharbeiten«. Wenn Diana eine Amerikanerin werden soll, was Messner-Loebs’ Ziel ist, muss sie sich auf die amerikanische Identitäts-Suche begeben und beweisen, dass sie die protestantische Arbeitsmoral vertritt. Der Witz, dass eine Züge stemmende Frau für den Mindestlohn arbeiten muss, scheint bitter, besonders wenn man bedenkt, dass damit auch eine weltbekannte Botschafterin um der kulturellen Sozialisation Willen gedemütigt wird. Gegen Ende von Messner-Loebs’ Spannungsbogen für die Serie wird Diana ihr Kostüm und der Titel Wonder Woman aberkannt. Als Teil eines ausgeklügelten Plans, um Dianas Leben zu retten, inszeniert Königin Hippolyta den Wettkampf im wiederentdeckten Themyscira neu: Ein neuer Amazonen-Champion soll gekrönt werden. Aus dem Wettkampf geht die Newcomerin Artemis als Siegerin hervor. »Warum hast du den Wettkampf neu ausgerufen, um mich öffentlich zu demütigen und mich meines Namens und Siegels zu berauben?«, will die ungehaltene Diana von ihrer Mutter wissen (Messner-Loebs 1995a: 8). Traurig über den Verlust ihrer rot-weiß-blauen Identität bleibt Diana nicht bei ihrer Familie, sondern kehrt nach Amerika zurück, um gegen die Ungerechtigkeit in einer sternübersäten schwarzen Montur zu kämpfen. Als Artemis im Kampf tödlich verletzt wird, vermacht sie ihre Identität wieder Diana. »Nimm deine Uniform zurück, Diana …Du bist Wonder Woman« (Messner-Loebs 1995b: 37).

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Diese Beteuerung ist wichtig. Unter Perez war die Figur Diana, Prinzessin von Themyscira. »Wonder Woman« war der Titel, der ihr von den amerikanischen Nachrichtensendungen gegeben wurde (vgl. Perez/Wein 1987b). Tatsächlich drückt Diana 1989 in einem Gespräch mit einem Freund ihre Bedenken gegenüber dem Namen aus: »Diana: »Wonder Woman.« Myndi [eine Pressesprecherin] hat sicher viel dazu beigetragen, dass diese eher protzige Bezeichnung so populär geworden ist. Einige kennen mich nur unter diesem Namen. Freund: Stört dich das noch immer? Diana: Nein …nicht wirklich – zumindest nicht so sehr wie früher. « (Perez 1989a: 51)

Artemis’ Umtaufe bedeutet Dianas Bruch mit ihrer Herkunfts-Kultur. Jetzt ist ein Name, der ihr früher merkwürdig fremd vorkam, plötzlich einer, für den es sich zu kämpfen lohnt und der es wert ist, das Paradies zu verlassen und mit ihrer selbst aufgebauten Identität zu brechen. Der Name Wonder Woman ist nun mit Amerika synonym geworden. Die Wiederannahme des Titels kommt dem Schwören des Einbürgerungseides gleich. Wonder Womans Assimilation wird durch den Texter/Zeichner John Byrne abgeschlossen. Seine 1995 erschienene vierteilige Erzählung »Second Genesis« diente dazu, Dianas immer noch bestehenden Verbindungen zu ihrem amazonischen und damit inhärent fremden kulturellen Erbe zu brechen. In dieser Geschichte greift Darseid, ein undemokratischer Despot, auf der Suche nach dem griechischen Pantheon Themyscira an. Nach einer blutigen Verteidigungsschlacht, in der es der Inselbevölkerung gelingt, den Bösewicht abzuwehren, eröffnen die Amazonen Diana, dass ihre Mutter Königin Hippolyta vom Thron zurückgetreten und verschwunden ist. Die Amazonen erwarten nun von der Kronerbin Diana, den Thron zu besteigen. Diana lehnt die Krone jedoch ab, wie jede_r, der_die ideologisch durch Demokratie indoktriniert worden ist: »Eine Krone zu tragen und auf einem Thron zu sitzen erfordert mehr als das willkürliche Diktat der Erbfolge… Der Thron ist nicht für mich gedacht. Mein Schicksal hat anderes für mich vorgesehen. Ich bin keine Herrscherin, keine Königin. Ein und für alle Male bin ich Wonder Woman!« (Byrne 1995: 20) Als sie nach Gateway City, ihrem neuen Zuhause, zurückgekehrt ist, erklärt sie ihrem Partner: »Mein ganzes Leben lang war ich eine Person, nun ist es endlich an der Zeit… eine andere zu sein. Ich fühle, dass diese Person näher an mein wahres Ich heran kommt als alles andere, was ich bis jetzt erfahren habe.« (Ebd.: 22) Byrne schließt somit den Kreis in Wonder Womans Transformation. Tatsächlich an der Küste vor einer an San Francisco erinnernden Skyline stehend, verkündet sie, dass sie in ihrer wahren Heimat, Amerika, angekommen ist, und ihre wahre Rolle, die einer amerikanischen Superheldin, erfüllt hat. Der Ballast des Königtums, der Ethnizität und der Identität sind endlich abgeworfen

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worden. Prinzessin Diana, die Diplomatin von Weltrang, ist wieder Wonder Woman, die amerikanische Superheldin, geworden. Byrnes schreibt später einen treffenden Epilog zu diesem Prozess: »Sie hat ihre Familie und ihre Heimat verloren, die schützende Hülle von Geschichte und Tradition, aber sie hat so viel mehr dafür bekommen« (Byrne 1996: 1). Dieses »Mehr« kann man natürlich als den Vorteil auslegen, Amerikanerin zu sein – ein Privileg, von dem gebürtigen Amerikanern_innen beigebracht wird zu glauben, dass es jeden auch noch so hohen Preis zu zahlen wert ist.

F A ZIT Obwohl sie Teil derselben narrativen Abfolge von Ereignissen ist, demonstriert die Wonder Woman unter der Federführung von Perez im Vergleich zu jener unter Messner-Loebs’ und Byrnes Einfluss einen konträren Blick auf kulturelle Identität. Perez’ Team scheint ehrlich bemüht gewesen zu sein, den Charakter als nicht-einheimische Besucherin einer anderen Kultur zu zeichnen, die auch nicht daran interessiert ist, eine Einheimische zu werden. In einer Ära, in der wir versuchen, anderen Kulturen die gleiche Legitimität zuzusprechen wie unserer eigenen, präsentieren Perez und Co eine Form der Akkommodation, die rückhaltlos erlaubt, die eigene Kultur zu behalten und trotzdem als Teil der amerikanischen Gesellschaft zu funktionieren. Unter Messner-Loebs dagegen werden die Loslösung von der Herkunfts-Kultur und die Annahme der assimilierten Identität hochgehalten. Das »wahre Selbst«, so Byrnes später, kann nur in sich selbst gefunden werden, nicht in der Herkunfts-Kultur. Als Schlüssel zur Identität wird die Eigenständigkeit gepriesen, also ein weiteres Grundmaterial amerikanischer Ideologie, und nicht die schwesterliche Gemeinschaft und damit ein Fazit der amazonischen Philosophie der Eintracht. In der Tat ist die gesamte Entwicklung der Geschichte von »Prinzession Diana in Amerika« zu »Wonder Woman aus Amerika« letztendlich dazu dienlich, den kritischen Verdacht zu bestätigen, dass hier kultureller Imperialismus am Werk ist. Shome drückt es folgendermaßen aus: »Wo in der Vergangenheit der Imperialismus die ›Eingeborenen‹ kontrollieren sollte, indem er ihr Territorium kolonialisierte, soll er sie heute durch diskursive Kolonialisierung bezwingen.« (Shome 1996: 42) Infolge des Weggangs von Perez wurde Wonder Woman wieder von Autoren_innen rekolonialisiert, denen es lieber war, sie für amerikanische Ideologien eintreten zu sehen, denn für internationale Diversität. Folgt man dieser neokolonialen Auffassung, so schwächt Wonder Womans Wirken als Persönlichkeit von Weltrang mit klarer Loyalität zu ihrem Herkunftsland ihre Brauchbarkeit als durch und durch amerikanische Figur ab (als ob nicht schon ihr grelles Kostüm diese Identität an und für sich artikulieren

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würde). Die Idee, dass irgendjemand, der einmal nach Amerika gekommen ist, dieses Land je wieder verlassen wollen könnte, geschweige denn starke Verbindungen zu seinem Herkunftsland aufrecht erhalten wollen könnte, ruft Zweifel an der kulturellen Überlegenheit Amerikas hervor. Um ganz und gar Amerikaner_in zu werden, muss man mit alten Zugehörigkeitsgefühlen brechen und sich restlos mit den Vereinigten Staaten alliieren. Eine weltgewandte Wonder Woman muss wieder in eine Linie mit der Leitkultur gebracht werden, mit einer Kultur, die sie zuallererst als Amerikanerin wahrnimmt, trotz ihrer fremden Wurzeln. Andere Comic-Helden_innen teilen Wonder Womans Zwiespalt, gleichzeitig fremd und amerikanisiert zu sein. Langlebige Charaktere wie Superman, der Martian Manhunter, Thor und diverse Mitglieder der X-Men wurden nicht in den USA geboren. Diese Nicht-Einheimischen geben allerdings in den Erzählungen über die Geschichte ihres Lebens ihr kulturelles Erbe zum Teil oder vollständig auf, um sich im amerikanischen Schmelztiegel zu assimilieren. Die Tyrannei der Schmelztiegel-Metapher ist doppelt heimtückisch, da sie den Immigranten_innen die Anpassung vorschreibt, und der einheimischen Bevölkerung vorschreibt, von anderen die Anpassung zu erwarten. Manch eine_r hat darauf hingewiesen, dass Amerikaner_innen von anderen Ländern und jedenfalls von ihrem eigenen Land erwarten, sich den Bedürfnissen einer englischsprachigen und hamburgeressenden Gesellschaft anzupassen (vgl. Nakayama 1994). Gleichermaßen erwarten Amerikaner_innen von ihren Helden_innen – und auch von den exotisch angehauchten – vollkommen amerikanisiert zu sein. Wenn es sich dabei auch um fiktive Repräsentationen dieser Ideologie handelt, so tragen Beispiele der Massenkultur wie Wonder Woman doch dazu bei, die Bedeutung von amerika-zentristischen Überzeugungen zu verstärken. In eine all-american Aura gehüllt, fungieren solche Artefakte als Hindernisse für eine pluralistische Gesellschaft – für eine Gesellschaft, die sich eine Diversität anzueignen weiß, die ohne die Unterordnung einer kulturellen Identität unter die andere funktioniert.

A NMERKUNG 1 | A. d. Hg.: Der Originaltext ist unter dem Titel »The Tyranny of the Melting Pot Metaphor: Wonder Woman as the Americanized Immigrant« in Comic and Ideology, hg. v. Matthew P. McAllister/Edward H. Sewell Jr./Ian Gordon, New York [u.a.]: Peter Lang, 2001, S. 129-150, erschienen. Die Übersetzung aus dem Englischen von Ulrike Keller erfolgt mit der freundlichen Genehmigung des Autors.

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Zeit der Revolution – Revolution der Zeit Figuren der Zeitlichkeit in Marjane Satrapis Persepolis Barbara Eder

»Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran! Spacelabs fallen auf Inseln, Vergessen macht sich breit, es geht voran! Berge explodieren, Schuld hat der Präsident, es geht voran! Graue B-Film-Helden regieren bald die Welt, Es geht voran!« Fehlfarben, Ein Jahr (Es geht voran), 1982

Mit autobiografischen Graphic Novels entstanden gegen Ende des 20. Jahrhunderts mediatisierte Darstellungen von Erinnerungsprozessen, die in enger Beziehung zur Bildförmigkeit und räumlichen Tiefe des Eingedenkens stehen. Graphic Novels können als externalisierte Gedächtnisformationen verstanden werden, innerhalb derer die Vorstellung von Zeit als voranschreitendem Quantum auf einer linearen Achse durch eine Repräsentation von simultan angeordneten Zeitlichkeiten im Raum ersetzt wird. Dennoch handelt es sich beim genealogischen Vorläufer dieses Medienformats um eine symbolische Form, deren Erfindung auf das Ende eines Jahrhunderts datiert, zu dessen wissenschaftlichen Obsessionen die technikgestützte Messbarmachung von Zeitverläufen zählte. Die beharrlichen Versuche zu Beginn des 19. Jahrhunderts, Zeit eindimensional zu organisieren, führten zur Erfindung von 24 Zeitzonen sowie zur Taktung des Alltagslebens analog den Zeigern am Ziffernblatt der Uhr. Comics und Cartoons sind hingegen Zeit fragmentierende Medien, die erstmals zu einem Zeitpunkt erschienen, an dem Zeit vor allem als Zeit der Gegenwart verstanden wurde. Wenn Zeit im Sinne einer Zeit der Geschichte stets die tieferliegenden Schichten unterhalb der Oberfläche der Gegenwart involviert, dann steht die

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Vorstellung von einer geballten und räumlich gewordenen Zeit im Widerspruch zum hegemonialen Denken von der Zeit. Die ersten Medien, die zum körperbasierten Zeitspeicher für die ungleichzeitigen Gegenwarten der Historie wurden, waren die Körper sogenannter Hysteriker_innen.1 Die Zeit der Hysterie hat gegen Ende des 19. Jahrhunderts indes selbst zu einer »Hysterese der Zeit« (Vogl 2002: 144) des Wissens geführt. Wenn Henri Bergson in Matière et Mémoire den Vorgang historischen Eingedenkens im Jahr 1896 etwa als einen Wahrnehmungsakt im Sinne einer »abgeschwächte[n] Wiederholung des zerebralen Vorgangs, […] welcher die erste Wahrnehmung verursachte« (Bergson [1896] 1982: 235), beschreibt, dann ist die Zeit der Gegenwart für diesen gleichbedeutend mit einer Repetition der Vergangenheit, von der die aktuelle Wahrnehmung sich lediglich durch eine Differenz in den Intensitätsgraden des Wahrnehmens unterscheidet. Die aktuelle Wahrnehmung ist zum Zeitpunkt ihrer Erinnerung bereits Vergangenheit. Im Fall des Déjà-vus ist diese sogar kongruent mit dem Erscheinen eines Erinnerungsbildes, das zeitgleich mit der Wahrnehmung des Gegenwärtigen aktualisiert wird. Mit Bergsons Verwissenschaftlichung der idiosynkratischen Zeit-Amnesien im autobiografischen Gedächtnis erscheinen die zeitbezogenen Reminiszenzen von Freuds oftmals unfreiwilligen Analysand_innen nicht länger als drastische Abweichungen vom Normalfall temporaler Organisation. Vielmehr führten diese über den Umweg der wissenschaftlichen Theoretisierung gedächtnisbasierter Formen des Zeitempfindens selbst zum Ausgangspunkt für ein verändertes Verständnis von Zeit. Das aufkommende Wissen um die prekäre Präsenz einer Gegenwart, die stets die Verwerfung oder vorübergehende Ausblendung von gewesenen Vergangenheiten und möglichen Zukünften zur Voraussetzung hatte, verlangte nach Formen der Repräsentation, die den im 19. Jahrhundert einsetzenden Verlust von und für subjektiv verankerte Zeitempfindungen wettmachen konnten. In Reaktion darauf entstand ein Modell von Zeit im Sinne eines asynchronen und dreidimensionalen Raumes, dessen zentrale Themen »die Entwicklung und der Stillstand, die Krise und der Kreislauf, die Akkumulation der Vergangenheit, die Überlast der Toten, die Erkaltung der Welt« (Foucault [1967] 2002: 34) gewesen waren. Vornehmlich war es das die Gleichzeitigkeit der Zeiten simultan repräsentierende und der körperlichen-materiellen Dimension nahestehende Medium des Bildes, durch das das mit der Überantwortung des Zeit-Sinns an die Zeiger der Uhr einhergehende Modell linearen Fortschreitens ergänzt wurde. Mit der autobiografischen Graphic Novel des 21. Jahrhunderts, zu deren Produzent_innen unter anderem Zeichner_innen wie Karlien de Villiers, Parsua Bashi, Will Eisner und David B. zählen, liegt nicht nur eine Registratur von in Bildform Erinnertem und durch Externalisierung dem Vergessen entwundenen Bruchstücken der Vergangenheit vor, sondern auch ein extrem heterogenes Medienformat, in dem die biografische Eigenzeit der Erzähler_innen mit

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der Zeit der Geschichte kollidiert. Im Bildraum der Grafischen Novelle des 20. und 21. Jahrhunderts erhält die ›entleibte‹ Zeit des 19. Jahrhunderts ihre verloren gegangene Plastizität zurück. Inmitten dieser autografisch inspirierten Form der Bilderzählung, die in den 1970er Jahren mit Art Spiegelmans ([1973] 2008) Mouse erstmals die Bühne der Mediengeschichte betrat, werden vormals als paradox empfundene Figurationen der Zeitlichkeit rehabilitiert. Nicht die Zeit der Gegenwart, sondern vielmehr ihr ›noch nicht‹ ebenso wie ihr ›gewesen sein‹ bestimmen den Raum der Darstellung im Comic. Infolge des intuitiven Einbrechens von Leerstellen und Lücken inmitten der Bilderreihen verunmöglicht es die Kunst des visuellen sequentiellen Erzählens zudem, zu einem abschließbaren Akt der Interpretation des Vergangenen zu gelangen: »Comic-Panels zerlegen Zeit und Raum zu einem abgehackten, stakkatohaften Rhythmus getrennter Augenblicke. Aber die Induktion ermöglicht es uns, diese Augenblicke zu verbinden und gedanklich eine in sich zusammenhängende, geschlossene Wirklichkeit zu konstruieren.« (McCloud [1994] 2001: 75, Hervorhebungen im Original)

Mit Blick auf die eigentümliche Zeitstruktur in Marjane Satrapis Persepolis werden die Bild gewordenen Erinnerungen der Autorin an die Islamische Revolution im Iran der Jahre 1978/79 im Verlauf des folgenden Textes unter Rückgriff auf historische Modelle der sprachlichen und bildlichen Repräsentation von Zeit extrapoliert. Ein Ausblick auf die politischen Implikationen einer Darstellung von Geschichte, die im Comic immer schon Geschichte der Zwischen- und Leerräume ist, erfolgt gegen Ende dieses Textes. Nicht das, was gewesen ist, wird in den von Rinnsteinen durchsetzten Bilderreihen des Comics zum zentralen Element des Erzählten, sondern vielmehr jener Anteil an Geschichte(n), die sich zum Zeitpunkt ihres Stattfindens nie ereignet haben, aber dennoch möglich gewesen wären. Vorerst wird in Absehung von diesem geschichtsphilosophischen Moment der Historien-Darstellung jenes Changieren zwischen unterschiedlichen Zeitebenen im Comic analysiert, welches um 1900 noch unter dem Etikett von »seltsame[n] Zeit-Pathologien« (Vogl 2002: 143) firmierte.

Z EIT, R AUM UND DIE A NWESENHEIT DES A BWESENDEN – P ROLEGOMENA ZUR L ESBARKEIT ERINNERUNGSBASIERTER C OMIC -B ILDER Marjane Satrapis Persepolis ist eine der ersten Comic-Veröffentlichungen einer Migrantin aus einem nicht-europäischen Herkunftsland, die ihre Geschichte nachträglich von einem imaginären »dritten Ort« Bhabha (2000) jenseits von zwei Kulturen – der iranischen ihres Herkunftslandes und der österreichischen des Einwanderungslandes – mit visuellen Mitteln zur Darstellung gebracht hat.

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Bei Persepolis handelt es sich jedoch nicht allein um eine subjektive Darstellung des Erlebens von Geschichte – der Zeit vor und nach der Islamischen Revolution 1978/79 sowie der Zeit als Migrantin im Wien der 1980er Jahre – sondern – und dies wird in Rekurs auf die Geschichtskonstruktionen des frühen 20. und späten 19. Jahrhunderts noch zu zeigen sein – um eine bildgestützte Narration, die unter bestimmten Voraussetzungen selbst geschichtsbildend sein kann: Wenn Geschichte Walter Benjamin zufolge »nicht allein eine Wissenschaft, sondern nicht minder eine Form des Eingedenkens ist« (Benjamin [1927-1940] 1983: 589), dann ist diese vor allem eines: ein Destillat von dem Zahn der Zeit durch Speicherung entwundenen Gedächtnissen2, die als Relaisstationen für historische Ereignisse und andere Erinnerungen dienen. Die Bilder in Marjane Satrapis Comic sind nicht nur im Hinblick auf die flüchtige Dauer ihrer Lesbarkeit, sondern auch in Bezug auf ihren epistemologisch uneindeutigen Entstehungsort im Zwischenraum von artistischer Einbildungskraft und virtuellem Erinnerungsbild Schwellenphänomene. Während das künstlerische Bild eine Schöpfung der Fantasie darstellt, ist das erinnerungsbasierte Bild Produkt der Visualisierung von in der Erinnerung reproduzierten Wahrnehmungsneomata. Das Comic-Bild wäre somit als virtuelles Bild zu klassifizieren, das erst durch den Gebrauch künstlerischer Produktionsmittel im Sinne einer sekundären Bearbeitung ein materielles Korrelat und damit eine Form der Sichtbarkeit im Außen erhält. Die aus der erkenntnistheoretischen Zwischenposition resultierende Skepsis gegenüber einem so ambivalenten Medium wie dem erinnerungsbasierten Bild kulminierte bereits in der Antike3 in einer eigentümlichen Gleichsetzung: Aufgrund ihrer strukturellen Ähnlichkeit wurden die als materielle Bilder betrachteten eidola oftmals mit jenen phantasmata in eins gesetzt, die die mentale Dimension des Bildlichen bezeichneten. Da letztere für Außenstehende unsichtbar bleiben, sofern diese nicht zu Papier gebracht werden, wurden die phantasmata dem Bereich der epistemologischen Grauzone eines zugleich Abwesenden und doch Anwesenden zugeordnet. Die phantomhafte Dimension visualisierter Erinnerungen führte zur Zeit der Aufklärung nicht nur dazu, den Erkenntnisprozess des Bilderlesens selbst als Akt der Geisterseherei4 zu eskamotieren; noch heute macht der Umstand einer forcierten Verwechslung von mentalem und materiellem Bild5 den Akt der Interpretation von Bildern zu einem unendlich prekären Unterfangen. Insbesondere das dem Erzählen im Comic zugrundeliegende Modell disruptiven Erzählens verlangt den Lesern_ innen ein hohes Maß an Assoziationsarbeit zur Entschlüsselung der semantischen Kombinatoriken aus Text, Bild, Schrift/Bildern und dem sich am Ort des Rinnsteins befindlichen Bereich des Off-Screens ab. Die_der Leser_in muss in die Lücke zwischen den Einzelbildern einer Bildsequenz – dem »Rinnstein« – ihre_seine Fantasie und Erfahrung einbringen, um induktiv auf die Bedeutung der gesamten Comic-Sequenz schließen zu können. Erst dieser Schluss setzt

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jenen Erkenntnisprozess in Gang, durch den qua Synthese im Kopf der Betrachter_innen die lose Aneinanderreihung von Einzelbildern mental zu einer Handlungsabfolge verbunden werden kann. Die Zeitverläufe im Comic sind durch Rückgriff auf Uhren nur unzureichend bestimmbar. Es ist nicht die Linearität der Gegenwart, sondern vielmehr eine Gleichzeitigkeit von Simultanität und Sequentialität , durch die die Darstellung von Zeit im Comic charakterisiert werden kann: Jedes den Ablauf eines Geschehens illustrierende Comic-Panel verfügt über eine bildlich generierte Eigenzeit, während es zugleich in den linear fortschreitenden Sinnzusammenhang einer aus Einzelbildern zusammengesetzten Erzählung eingebettet ist. Die Diskrepanz zwischen diachroner Erzählung und synchroner Wahrnehmung eines Bildes führt zum fortwährenden Pendeln der Blicke der Leser_innen zwischen den Bildern. Aus diesem Grund zieht der Comic-Theoretiker Scott McCloud in Comics richtig lesen einen metaphorischen Vergleich zwischen dem_der ComicLeser_in und dem_der zum Zirkus gehörigen Trapezkünstler_in in Erwägung, welche_r in den »freien Raum der Phantasie geworfen […] und von den ausgestreckten Armen des nächsten Panels wieder aufgefangen« (McCloud [1994] 2001: 98, Hervorhebung im Original) wird. Im Wissen um die Gleichzeitigkeit von simultaner und sequentieller Wahrnehmung beim Lesen von Comics hat ebenso der Comic-Pionier Art Spiegelman, der die formalen und inhaltlichen Möglichkeiten des Mediums seit den 1970er Jahren konstant auslotet, den Vorgang des Comic-Lesens als »Boxkampf der Augen« (Spiegelman, zit.n. Theweleit/ Langbein 1980: o.P.) bezeichnet. Gekämpft wird im Comic stets auch um eine Deutung von Geschichte, die sich von dem, was gewesen ist, bewusst abheben soll. Da jede Form der gedächtnisbasierten Erzählung von Erinnertem die retroaktive Aneignung des Vergangenen vom Standpunkt des Gegenwärtigen in möglichem Hinblick auf ein Künftiges voraussetzt, verändert sich dadurch auch die nachträgliche Imagination des historischen Raumes. Die »Kunst des Weglassens als auch des Hinzufügens« (McCloud [1994] 2001: 93), durch die im Comic Unsichtbares sichtbar gemacht wird, macht zusätzlich dazu nicht nur eine, sondern stets mehrere Geschichten eines historischen Geschehens denk- und lesbar. Auf diese Weise werden die Betrachter_innen mit der ›Möglichkeit‹ einer Vergangenheit konfrontiert, die durch den konstruktiven Akt der Interpretation zur Vergegenwärtigung eines nie Gewesenen führen kann. Der von Rinnsteinen, Lücken und Auslassungen durchsetzte Bildraum des Comics beinhaltet etwa dort eine weiße Fläche, wo in der Vergangenheit Artikuliertes nicht oder nicht ausreichend gehört hatte werden können. Die durch Leerstellen im Bildersog signifizierte Präsenz verweist auf die Latenz eines Möglichen, das zum Zeitpunkt eines historischen Spannungszustands nicht passiert ist . An die Stelle von Eindeutigkeit und Linearität treten Polyphonie und Kontingenz; dort, wo im Comic verschiedene Zeitebenen simultan gegeben sind, entsteht ein dichtes Nebeneinander

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von Bildern aus unterschiedlichen Zeiten, die miteinander in Verbindung zu bringen ein Balanceakt bleibt, der Flugphasen ohne Bodenkontakt vorsieht.

I M K REBSGANG DER G ESCHICHTE – Z UR Z EIT WIDRIGKEIT VON M AR JANE S ATR APIS Z EIT -B ILDERN In Marjane Satrapis Persepolis wird ein Raum der Geschichte neu vermessen, durch den jene historische Niederlage, die die politische Linke im Jahr 1979 erlitten hat, nicht allein zum historisierbaren Moment einer ungenutzten Chance verkommt. Die kommunistische Linke, die die Revolten gegen den Schah im Jahr 1978 in der Hoffnung unterstützte, dass die Religion nur ein Vorwand sei, um eine Massenbasis für den Aufstand zu schaffen, hatte sich in dieser Diagnose geirrt. Erste Manifestationen des Protests gegen das islamistische Regime, die in den Demonstrationen der Frauen von Teheran im März 1979 gegen Kleiderordnung, Sexismus und geschlechterbedingte Repression ebenso zum Ausdruck kamen wie in den Aufrufen lokaler Menschenrechtsaktivist_innen, die Hinrichtung politischer Gegner_innen durch die in paramilitärischen Trupps organisierten Anhänger_innen Khomeinis aufzuhalten, brachten auch den zu diesem Zeitpunkt als politischen Journalisten im Iran tätigen Philosophen Michel Foucault verhältnismäßig spät zur Räson. Während Foucaults frühe Ideenreportagen über die Lage im Iran noch die Hoffnung durchzieht, dass das Walten einer »politischen Spiritualität« zur Hervorbringung einer profanen Ordnung des Politischen mit stark spirituellen Zügen führen könne und damit »weniger vom Jenseits […] als von der Umgestaltung der diesseitigen Welt« (Foucault [1978b] 2003: 897) bestimmt sei, deuteten die Zeichen der Zeit im Februar 1979 bereits in Richtung einer Islamischen Republik Iran, die im November 1979 per Volksabstimmung mit 98,2 prozentiger Zustimmung verfassungsmäßig verankert wurde (vgl. Buchta 2004: 7). Marjane Satrapis Darstellung der Islamischen Revolution erstreckt sich nicht nur dort auf agonale Gegenüberstellungen, wo die iranische Armee auf ein revoltierendes Volk trifft (Satrapi 2000: 22) oder die Befürtworter_innen und Gegner_innen des Kopftuchs bei einer Demonstration aufeinanderprallen (ebd.: 9). Schwarz auf weiß führt ihre bildpädagogisch motivierte Darstellungsweise von Gegenwartsgeschichte(n) durch Diagramme und Piktogramme Informationen möglichst ohne Umweg über interkulturelle Missverständnisse vor Augen. Durch die kontrastreiche Darstellung findet eine ideologische Einstellung auf formaler Ebene ihr repräsentationspolitisches Äquivalent: Die Gesichter der politischen Akteur_innen erscheinen in den Bildern der Revolution wie weiße Flächen auf schwarzem Grund. Wenn Deleuze und Guattari (1990) von »ein[em] weiß geschminkte[n] Gesicht, von Augen wie von schwarzen Löchern durchbrochen« (ebd.: 451) sprechen, dann bezeichnen diese damit auch jenen

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Nullpunkt der Repräsentation des abendländischen Subjekts im Rahmen des von Marjane Satrapi genutzten Repräsentationssystems »weiße Wand – schwarzes Loch«. Das Gesicht, das am Kreuzungspunkt der Linien entsteht, ist diesen zufolge das Ergebnis von »Machtverkettungen, die dieser sozialen Produktion bedürfen. Das Gesicht ist Politik.« (Ebd.) Wenn Marjane Satrapi etwa das von der schwer bewaffneten Miliz des Schahs am 8. September 1978 verübte Massaker am Jahleh-Platz von Teheran darstellt, das in die nationale Geschichtsschreibung als »Schwarzer Freitag« eingegangen ist, dann ist es gerade das fehlende Epitaph der Toten, das selbst zur Botschaft ihrer Darstellung wird: An die Stelle eines Grabsteins tritt ein in minimaler Variation schematisch gezeichnetes und in vier parallel zueinander verlaufenden Reihen seriell angeordnetes Gesicht mit weit geöffneten Augen, nach oben gedrehten Pupillen und weit aufgerissenem Mund, der als schwarzes Oval aus dem Weiß des Gesichts hervortritt. Die vor und während der Revolution Getöteten scheinen im Folgebild post mortem vor schwarzem Hintergrund noch Einfluss auf den Sturz des vormaligen Machthabers zu nehmen. Diese Abbildung 52: Der »Schwarze Freitag« und die Folgen (Satrapi 2000: 44)

Toten, die nicht sterben können und ihre Gespenster, die gerade deshalb nicht in den schwarzen Grabeshöhlen verschwinden, weil ihre Existenzen allzu bedeutsam für die iranische Zeitgeschichte der jüngeren Vergangenheit sind (Satrapi 2000: 44f.); all diese geisterhaft wirkenden Wesen werden durch Marjane

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Satrapis gezielten Umgang mit den Kontrasten von schwarz und weiß, die im Zusammenhang mit ihren Darstellungen zu Entsprechungen von tot und lebendig genauso wie von Licht und Schatten gerinnen, mithilfe von Zeichenstift und schwarzer Tusche erneut zum Leben erweckt. Vor schwarzem Hintergrund scheinen diese im Folgebild als schemenhafte Umrisse auf schwarzem Grund erneut auf. Sie packen den Lebenden: In weiße Gewänder gekleidet, bilden die Untoten des »Schwarzen Freitags« in Verbindung der Schulterpartien eine Reihe, an deren Ende sich der zu stürzende Machthaber befindet. Die Dynamik des Bildes geht vom linken Bildrand aus: Die weiß gewandeten Untoten scheinen die Figur des Schahs bis an den äußersten Rand des Bildes zu drängen. Die »Tradition aller toten Geschlechter«, die Karl Marx ([1852] 1950: 226) als unerträgliche Bürde für den Fortgang einer Geschichte der Überlebenden verstanden hat, die in fortschreitender Entfaltung ihres emanzipatorischen Potentials im Kampf der Klassen geschieht, wird im Rahmen der Bilderzählungen der an Marx geschulten Comic-Autorin6 zu einer traumatischen Reminiszenz an jene Toten, die oftmals aus den eigenen Reihen stammten. Gerade weil es Verwandte und Freunde_innen der Familie waren, die in der Hoffnung auf eine kommunistische Regierung nach marxistisch-leninistischem Vorbild vor und nach dem Sturz des Schahs ihr Leben lassen mussten, sterben die Toten in den Bildern der Nachgeborenen nicht (vgl. Satrapi 2000: 51f.). Im Eingedenken an die Toten, die der Versuch, die revolutionären Kräfte, die während dem Sturz des Schahs im Iran des Jahres 1978 zur freien Entfaltung kamen, gefordert hatte, schreibt Marjane Satrapi eine Geschichte jener, deren unheimliche Präsenz nur durch einen Bildtypus angedeutet werden kann, der das »Phantasma in seiner phantomhaften oder umherirrenden Dimension des Lebendig-Toten« (Derrida 2004: 95) darzustellen vermag. Die unheimlichen Zeit-Zeichen des Comics verleihen den Lemuren der Vergangenheit sichtbare Präsenz in der Gegenwart der Erzählung. Der Umstand, dass die Toten in Marjane Satrapis Geschichte einen legitimen Platz erhalten, lässt diese dem historischen Gedächtnis nicht abspenstig werden. Die Anwesenheit der in effigie am Leben gebliebenen, die in Marjane Satrapis Comic umherirren, verschmerzt ihren ursprünglichen Verlust indes ebenso wenig wie den hohen Tribut, den das Sicht- und Hörbarmachen der Stimmen und Gesichter der Getöteten verlangt: In Marjane Satrapis Zeichnungen wirken die Toten so lebendig, dass diese die Lebenden mit sich reißen. Wenn Karl Marx ([1852] 1950) in Der 18. Brumaire des Louis Philippe Bonaparte das Scheitern der proletarischen Revolutionen des 19. Jahrhunderts auf die »›zeitwidrige Zumutung‹« (ebd.: 222) von Totenerweckungen zurückführte, durch die das uneingelöste Potential vergangener Revolutionen nicht etwa zu einer gegenwartsbestimmenden Größe hatte werden können, sondern vielmehr im Rekurs auf eine Vergangenheit verpufft, deren zitathaftes Aufgreifen zur Musealisierung der Gegenwart selbst geführt habe, dann kritisiert dieser, dass das

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in der Hoffnung auf die Aufführung einer »neuen Weltgeschichtsschreibung« betriebene Erborgen der »altehrwürdigen Verkleidung« (ebd.: 226) vorangegangener Zeiten keinen revolutionären Bruch mit der Vergangenheit bewirkt habe; anstatt Zukünftiges zu denken, wird Vergangenes in Rekurs auf den bürgerlichen »Aberglauben an die Vergangenheit« (ebd.: 228) lediglich wiederholt. Marjane Satrapis melancholische Geschichtsdarstellungen bleiben nicht ohne gut gestundete Abgaben an die Welt der Toten. Dennoch erhält mit ihrem Comic auch jene Dimensionen einer möglichen Geschichte, die zum jeweiligen historischen Zeitpunkt nicht passierte, aber dennoch stattfinden hätte können, ein materielles Korrelat. Die stakkatohaften Zäsuren im Zeitfluss sind es, in deren Mitten die fehlende Urszene der Revolution angedeutet wird, die infolge des nostalgischen Rekurses ihrer Akteure_innen auf »Namen, Schlachtparolen, Kostüm« (ebd.: 226) der exhumierten Vorväter nicht zur Aufführung gebracht werden konnte.7 So etwa befindet sich bereits auf der neunten Seite von Marjane Satrapis nicht chronologisch, sondern episodisch angelegten Comic-Autobiografie ein Bild im Zwischenraum, durch das die historisch unterlegenen Akteure_innen der Gegen-Macht des Jahres 1979 nicht an den Rand, sondern ins Zentrum des Geschehens gerückt werden. Zu sehen ist eine Darstellung der Demonstration der Frauen von Teheran, die als gespaltene Menschenmenge dargestellt wird. Zwei sich antagonistisch zueinander verhaltende Parteien stehen in diesem Bild einander gegenüber. Während die in Profilansicht zu sehenden Frauen auf der rechten Seite des Bildes mit geballten Fäusten den mehrfach im Bildhintergrund angebrachten Schriftzug mit dem Wortlaut »Freiheit« mit geöffneten Mündern exklamieren, beschränkt sich die von der gegnerischen Seite zu vernehmende Botschaft auf den Ruf nach dem Kopftuch. Wer hier im Licht oder im Schatten der jeweiligen historischen ›Wahrheit‹ steht, wird durch den Kontrastreichtum ebenso wie durch die Art der Darstellung hervorgehoben: Während die Augen der Kopftuchträger_innen geschlossen sind, sind jene der Befürworter_innen der »Freiheit« weit geöffnet. Zudem ist es nicht primär das vornehmlich patriarchale Außen , gegen das hier rebelliert wird; vielmehr sind es weltanschauliche Differenzen unter Frauen, die Marjane Satrapi mit diesem Bild zum Ausdruck bringt. Anders als gewesen, erhält in dieser Darstellung die historisch unterlegende Partei jedoch die Oberhand.Marjane Satrapi bedient sich dort der Strategie eines parodierenden Geschichtszitats, wo diese die noch nicht geschehene Islamische Revolution unter Rückgriff auf ein durch frühzeitiges Umfallen stillgelegtes Vehikel in bewusster Vertauschung einer Metapher mit einem grafischen Bild karikiert (Satrapi 2000: 14). Waren es bisher zumeist Fortbewegungsmittel mit Pferdestärken in Zehnerpotenz, die als sprachliche Bilder zur Darstellung eines revolutionären Moments in der Geschichte eingesetzt wurden, so sind es die gemeinhin mit Muskelkraft betriebenen Pedale eines durch Umfallen am Voranschreiten gehinderten Fahrrads mit platten Reifen, das im Rahmen von Marjane Satrapis Geschichtsdarstellung das Tempo

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Abbildung 53: Demonstrationen der Frauen von Teheran im März 1979 (Satrapi 2000: 9)

der kommenden Revolution vorgibt. Das Umfallen des Fahrrads korrespondiert mit dem Zeitpunkt eines Noch-Nicht sowie des Gewesen-Seins der Revolution: In Vorwegnahme des erzählten Geschehens informiert der Kommentartext im oberen Bildrand – »Und so erging es der Revolution in meinem Land« (ebd.) – die Leser_innen noch vor Beginn derselben, wie es der Revolution in Marjane Satrapis Herkunftsland ›ergangen sein wird‹. Dass es ebenso wenig die Marx’schen »Lokomotiven der Geschichte« (Marx/Engels 1956: 85) wie die im Abbildung 54: Das Fahrrad der Revolution, (Satrapi 2000: 9)

Innenraum des sich auf Entgleisungskurs befindlichen Zuges montierte »Notbremse« (Benjamin 1972: 1232) ist, durch die Marjane Satrapi die Funktion des revolutionären Moments für den historischen Prozess symbolisiert hat, mag in der Biografie der Autorin begründet sein: Die Zeichnerin der vorliegenden Geschichtspersiflage aus dem Jahre 2000 wurde im Jahr 1979 in so unfreiwilliger Ansicht zur »Schwester« ([2004] 2006: 96) einer Revolution, dass sie sich dazu gezwungen sah, ihr Herkunftsland zwei Jahre nach dieser zu verlassen. Durch eine spezifische Form der Darstellung forciert die Autorin von Persepolis jene Bewegung eines Klein-Werdens historischer Größen, durch die die

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»groteske Personage«, die sich einst zum »Spiel der Heldenrolle« (Marx [1852] 1950: 223) befugt sah, merkwürdig entstellt erscheint. Das im Rahmen konventioneller Historiografien erzeugte Bild der Vergangenheit folgt nicht länger dem Muster geschichtlicher Apologetik. Den Bild gewordenen Metaphern Marjane Satrapis wohnt ein ebenso starker repräsentationspolitischer Überschuss inne wie den sprachlichen Bildern eines Karl Marx, der durch den gezielten Einsatz von Metaphern den Enkel Napoleons des parasitären Akts des Schmarotzens am Ruhm seines Vorfahrens im Sinne einer »napoleonische[n] Totenlarve« (ebd.: 228) bezichtigte. Vermöge der entstellenden Kraft der Parodie wird aus dem Napoleon-Imitator Louis Philippe bei Marx ein »homme de paille« (ebd.: 260), der im Glauben an die Passform seiner Verkleidung ein wirklicher Napoleon zu sein vermeint. Das ursprüngliche Drama der Weltgeschichte stellt sich nachträglich »als Komödie« (ebd.: 272) dar, die seitens der Leser_innen das wirklichkeitsenthebende Moment eines schallenden Gelächters provoziert: »Platt als Komödie« (ebd.) wird ein Staatsstreich deshalb wahrgenommen, weil dieser Akteur_innen in der Spannweite vom »Speckkopf« (ebd.: 227) eines Ludwigs XVIII. über den als »Habakuk« (ebd.) maskierten John Locke bis hin zum »ernsthaften Hanswurst« (ebd.: 272) namens Louis Philippe beinhaltet. Diese komischen Helden flankieren im Rahmen der Marx’schen Ausführungen im 18. Brumaire die Szenerie einer fehlgeleiteten Revolution. Sein komisches Potential bezieht Marjane Satrapis Geschichtszitat jedoch nicht allein aus der satirischen Zuspitzung des Gewesenen. Es sind vielmehr ambivalent codierte Bilder zwischen den Zeiten, durch die die Autorin die Islamische Revolution in Antizipation ihres Endes darstellt. Der ein Jahr andauernde Ausnahmezustand nach dem Sturz des Schahs sowie die damit einhergehende Phase der Offenheit infolge der Vakanz politischer Reglements, den Marjane Satrapi durch das eine gesamte Comic-Seite bedeckende Bild einer jubelnden Menschenmenge dargestellt hat (vgl. Satrapi 2000: 46), ist von einem Bild gefolgt, das die nahe Zukunft vom anderen Ende der Vergangenheit her illustriert. Marjane Satrapi benutzt das Bild eines echsenartigen Dämons, um auf das Noch-Nicht der gebannten Kraft des eben erst ins ägyptische Exil getriebenen Schahs zu verweisen. Die Präsenz eines Machthabers, der als mythische Gestalt den Rahmen eines Bildes umsäumt, in dem die Familie Satrapi sich ihrer neu gewonnenen Freiheit eben erst versichert, ist zum einen als Verweis auf eine nahende Zukunft zu verstehen. Mit der Darstellung dieser mythischen Figur verweist die Autorin zum anderen auf die baldige Rückkehr eines ganz anderen politischen Akteurs aus dem irakischen Exil:In Ayatollah Ruhollah Khomeini sollte die nach dem Sturz des Schahs fehlgeleitete Volkserhebung ihren exemplarischen Repräsentanten finden8. Marjane Satrapis Darstellung der Zeit nach der Revolution ist durch etwas bestimmt, das aus der Vergangenheit zu kommen scheint. Politische Zukunft wird demnach als Wiederkehr einer Vergangenheit in der Gegenwart imaginiert

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Abbildung 55: Die Zukunft der Vergangenheit, (Satrapi 2000: 47)

– eine Trope des Zeitlichen, die nicht allein im jüdisch-christlichen Kulturkreis Verwendung findet: Im Zusammenhang mit seinen politischen Reportagen zum revolutionären Geschehen im Iran, die im Zeitraum von 1978 bis 1980 in den Zeitschriften Corriere Della Sera, Le Monde und Le Nouvel Observateur erschienen, hat Michel Foucault von einem im schiitischen Islam weit verbreiteten Glauben an die Wiederkehr des im unabgeschlossenen Zyklus noch fehlenden zwölften Imams gesprochen. Den Glauben an die zyklische Zeitvorstellung konnotiert dieser in seinem Text mit dem Titel »Wovon träumen die Iraner« ([1978a] 2003) mit einer politisch aufgeladenen Spiritualität, deren Abwesenheit in den westlichen Industrienationen zu einer kompletten Lähmung des politischen Lebens geführt habe. In seinem nicht ohne regen Rekurs auf orientalisierende Klischees auskommenden Versuch, sich in die Geschichte der ›Anderen‹ einzufühlen, entwirft Foucault die Idee von einer Religiosität im Sinne eines politischen Ideals, das durch »etwas sehr Altes« bestimmt sei, »das zugleich in sehr ferner Zukunft liegt: die Rückkehr zu dem, was der Islam einst zu Zeiten des Propheten war, und zugleich das Streben nach einem fernen, leuchtenden Punkt, an dem es möglich sein wird, an alte Treue anzuknüpfen statt bloßen Gehorsam aufrechtzuerhalten« (ebd.: 866). Im Wissen um die Doppelzüngigkeit jener Religiosität, die weite Teile der iranischen Bauernschaft, Intellektuelle, Guerillakämpfer_innen, Studenten_innen und ebenso die Förderarbeiter_innen der Erdölindustrie gemeinsam auf die Straße getrieben haben soll, hat Marjane Satrapi das Bild eines Dämons bemüht. Diese mythologisch konnotierte Figur, die aus der Vergangenheit wiederkehrt, setzt der Zukunftsmusik eines ungebrochenen Fortschrittsglaubens eine entscheidende Zäsur entgegen. Wenngleich vor dem Hintergrund anderer politischer Vorzeichen und mit anderer Intention hat auch Walter Benjamin ein grafisches Bild bemüht, um seine Kritik an einer teleologisch orientierten Vorstellung von Zeitlichkeit zu artikulieren. Bei Benjamins »Engel der Geschichte« (Benjamin [1974] 1991: 697), der der Vergangenheit den Rücken nicht zukehren kann, weil der Wind, der aus der Zukunft kommt, ihn vom angestammten Platz

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in die entgegengesetzte Richtung drängt, handelt es sich um die Interpretation einer Zeichnung Paul Klees, für dessen Figur das Verweilen im Vergangenen ebenso unmöglich ist wie die Fixierung auf eine Zukunft, der mit dem Rücken zugewandt zu sein dem Akt blinder Erkenntnis gleichkommt. Vermöge ihres zeitgebundenen Indexes wird die sich im Comic sprunghaft zeigende Zeit einer entrückten Revolution, die für Marx nicht mehr als eine Hommage an die Geschichte war, zum Bild des Noch-Nicht der Vergangenheit. Durch die zitathafte Wiederholung des Vergangenen wird die Gegenwart der Geschichte als »mit Jetztzeit geladene Vergangenheit« (ebd.: 701) repräsentiert, die für die flüchtige Dauer eines Comic-Bildes festgehalten werden kann. Mit dem unverhofften Aufblitzen dieser Bilder im Lesefluss setzt Marjane Satrapi dem den Diskurs der Historiografie bestimmendem Diktum der Authentizität die surrealen Bilderreihen einer eigentümlichen camera obscura an der Schwelle zweier Zeitebenen entgegen.

D IE Z UKUNF T DER V ERGANGENHEIT Wenn Geschichte vermöge der spezifischen Form ihrer Repräsentation um die Dimension des nicht Gewesenen erweitert werden kann, dann inhäriert der im Comic dargestellten Vergangenheit auch jenes utopische Moment von »noch nicht geborenen Wirklichkeiten« (Musil [1978] 2002: 17), die einer noch ungeschehenen Vergangenheit zur sichtbaren Präsenz in der Gegenwart verhelfen kann. Walter Benjamin zufolge ist es der zentrale Einsatz des in revolutionärer Absicht Geschichte schreibenden Subjekts, »die revolutionäre Chance im Kampfe für eine unterdrückte Vergangenheit« nachträglich freizulegen, durch die der »homogene[n] Verlauf der Geschichte« (Benjamin [1974] 1991: 703) im Sinne einer leer gewordenen Gegenwart aufgesprengt werden kann. Marjane Satrapis Comic-Darstellung zufolge scheint jenes von Benjamin so dringlich eingeforderte Moment innerhalb und zugleich außerhalb der Zeit der Geschichte im Zwischenraum der extrem selektiv angeordneten Bilder von Einzelereignissen zu existieren, das »mit jeder Gegenwart zu verschwinden droht, die sich nicht als in ihm gemeinte erkannte« (ebd.: 695). Jene Geschichte, die für die iranische ebenso wie für die sie unterstützende internationale Linke verheerend gewesen ist, geht vermöge einer spezifischen Weise der Darstellung nicht allein als Geschichte der politischen Niederlagen in die Geschichte ein; es gibt darin ebenso Momente, durch die das Blatt einer unglücklichen Partitur sich wenden hätte lassen können. Was nicht war, aber unter der Voraussetzung von anders konstellierten Kräftverhältnissen sein hätte können, wird im Comic zum Bestandteil jenes Horizonts an Denkmöglichem, das nicht mehr ist als ein substanzloses »Gespinst von Dunst, Einbildung, Träumerei und Konjunktiven« (Musil [1978] 2002: 16),

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über den Umweg des Imaginären aber dennoch aufwiegen kann, was gegenwärtig unerträglich geworden ist. Das Talent zum Träumen verursacht nur die Geburtswehen einer Geschichte, durch die jener schwarze Raum der Gegenwart sich endlich zu lichten beginnt, der in Marjane Satrapis Erinnerungsbild selbst die Zukunft der Erzählerin absorbiert. Die junge Frau, die im maelstroem des Vergangenen keinen Hoffnungsschimmer auf eine mögliche Zukunft mehr zu erblicken vermag, versichert sich kurz vor ihrer Emigration rauchend eines »Heils gegen die Zeit« (Derrida 1993: 139), die aus den Fugen geraten ist. Auf den Wert eines ebenso plötzlich wie unverhofft aus den Zwischenräumen der Einbildungskraft aufsteigenden Bildes für eine noch ungeschriebene Geschichte der Gegenwart im Iran hat Slavoj Žižek in seinem in Solidarität mit den in Reaktion auf den Wahlbetrug im Jahr 2009 revoltierenden Massen zurückgegriffen. Sein dialektisches Bild, das im Moment seines Auftauchens nicht bloß »das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation« (Benjamin [1927-1940] 1983: 576) bringt, sondern zugleich auch eine flüchtige Zukunft, die zum Zeitpunkt ihres Geschehens bereits gewesen sein wird, denkbar werden lässt, entstammt einem Klassiker von Walt Disney. Es wird als Sinnbild für das islamistische Regime am Kulminationspunkt seiner Krisis herangezogen: »We all know the classic scene from cartoons: the cat reaches a precipice, but it goes on walking, ignoring the fact that there is no ground under its feet; it starts to fall only when it looks down and notices the abyss. When it loses authority, the regime is like a cat above the precipice: in order to fall, it only has to be reminded to look down.« (Žižek 2009: 1)

Wenn Slavoj Žižek das cartoonartige Bild einer freischwebenden Katze über unsicherem Grund als Sinnbild für die in einer »panic reaction« zum Ausdruck kommenden politischen Machtlosigkeit eines Regierungsapparats heranzieht, dann ist sein Denkbild gerade aufgrund der diesem zugrundeliegenden Surrealität hyperreal. Das Bild einer freischwebenden Katze wird zur Metapher für die Instabilität eines Regimes, das in Antizipation der Zukunft »will not fall into the precipice, but regain ground« (ebd.: 3). Der aktuelle Widerstand, den Žižek als »›return of the repressed‹ of the Khomeini revolution« (ebd.) bezeichnete, ist indes Indiz dafür, dass das aktuelle Regime nicht länger »the same regime« sein wird, sondern »just one corrupted authoritarian rule among others« (ebd.). Solange wie der selbst in seiner virtuellen Form der Schwerkraft der Verhältnisse unterworfene Körper einer Katze den Bodenkontakt noch nicht wiedergefunden haben wird, bleibt jener politische Ausnahmezustand aufrecht, den die öffentliche Protestwelle im Iran des Jahres 2009 bewirkt hat. Das in der Vergangenheit Verdrängte – in diesem Fall die Zeit nach dem Sturz des Schahs – verschafft sich mit jeder aktuellen Manifestation von Widerstand erneute Präsenz. Geschichte wird gemacht, es geht voran. Der ironische Unterton, mit dem die Band Fehlfarben diesen Satz zu Beginn der 1980er Jahre versehen hat, hat die

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aufkommende Hausbesetzer_innen-Szene nicht daran gehindert, den Song Ein Jahr (Es geht voran) als Fanal für den Beginn einer eigenen Gegen-Geschichte einzusetzen. Wenngleich die politischen und lokalen Voraussetzungen im Iran der 1980er Jahre gänzlich andere waren, gibt es auch in Marjane Satrapis Erinnerungsbild zu Persepolis. Der Film einen dezenten Hinweis auf die politische Haltung der Erzählerin, die den nötigen Kontrast zu jenem die Vergangenheit der Erzählfigur konservierenden Akt des Erinnerns herstellt: Auf der Jacke von Marjane Satrapis kindlichem Alter Ego befindet sich ein Schriftzug, der den gebrochenen Fortschrittsglauben ihres gealterten Pendants in Profilansicht beträchtlich herausfordert. Der orthografisch nicht ganz korrekte Satz »Punk is not ded«, den eine verschleierte Punk-Frau im Teheran der beginnenden 1980er Abbildung 56: Segment aus: Filmplakat zu Persepolis – Der Film. Online unter: www.moviegod.de/x/viewer/image_viewer.php?s=8&k=388&i=818 (Letzter Zugriff: 04.12.2010)

Jahre unter Todesangst auf ihrer Jacke trägt, verweist in Gegenbewegung zu den melancholischen Zugeständnissen an die Toten in Persepolis auf das Fortleben von etwas Untotem. Bezeichnenderweise ist es ein Druckfehler, der am Beginn dieser noch ungeschriebenen Geschichte steht. In performativer Absicht fordert die Botschaft »Punk is not ded« die Leser_innen zum Schreiben dieser unter interkulturell veränderten Vorzeichen stattfindenden Geschichte auf. In den Zwischenräumen der Bilder wird diese andeutungsweise lesbar. Es ist eine dem Geschichtstext von Persepolis ebenso inhärente Erzählung, die unter Rückgriff auf sämtliche Register der Populärkultur noch zu ›zeichnen‹ sein wird.

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A NMERKUNGEN 1 | Die Entstehung eines alternativen Zeitmodells zur Darstellung von Zeit als Zeit der Gegenwart korrespondiert Josef Vogl zufolge mit dem Aufkommen einer durch die Erfindung der Psychoanalyse selbst induzierten ›Krankheit‹: Die in biografischen Berichten sogenannter Hysteriker_innen zum Ausdruck kommenden Reminiszenzen, durch die im Augenblick des Eingedenkens Vergangenes erneut zur erlebten Gegenwart des_der Erzählers_in wird, ließen ein Zeitmodell fragwürdig erscheinen, das die starke Präsenz des Vergangenen in der Gegenwart mit Vehemenz zu kanalisieren suchte. Vgl. Vogl, Josef (2002): »Zeit des Wissens«. In: Dialektik 2 (2002), S. 143f. 2 | Im Rahmen seiner gnostischen Auslegung der Geschichtsphilosophie konstatierte ebenso Jacob Taubes ein Zusammenfallen von Geschichte und Gedächtnis. Unter Rückgriff auf die mediale Metapher einer Schallplatte, die »alle Höhen und Tiefen, jedes forte und piano der Weltgeschichte« (Taubes 1991: 13) speichert, konzipiert dieser das Gedächtnis als mikrokosmischen Abdruck makrokosmischer Ereignisse. Die Anschaulichkeit der Zeit setzt Taubes zufolge ihre konstellative Anordnung im dreidimensionalen Raum voraus. Das Gedächtnis fungiert gleichsam als Zeitfenster innerhalb und zugleich außerhalb der Zeit: »Das Gedächtnis entwindet ein Ereignis dem Strom der Zeit. Ein Ereignis ist so dem Zeitelement entwunden, weil es gesetzt ist und nicht mit dem Zeitstrom verschwindet. Durch das Gedächtnis werden wir dessen gewahr, dass es einen Ablauf der Zeit gibt, und dies ist nur möglich, weil im Gedächtnis die Zeit überwunden ist. Weil das Gedächtnis außerhalb der Zeit steht, kann es die Zeit in ihrer Vergänglichkeit erkennen. Gäbe es keine Ewigkeit, so gäbe es keine Anschauung der Zeit.« (Ebd.: 14) 3 | Da geistige Bilder im Gegensatz zu materialisierten Bildern über keinerlei Sichtbarkeit im Außen verfügen, wurden diese bereits bei Plato eines höchst gespenstigen Charakters bezichtigt. Die Figur des Höhlenbewohners aus Platons Höhlengleichnis avancierte innerhalb der Mediengeschichtsschreibung zum Sinnbild für einen_eine Medienrezipienten_in, der_die von trügerischen Bildern sich blenden lässt, da diese_r – genauso wie Narziss sein im Wasser gespiegeltes Selbstbild – ihren_seinen an die Wand projizierten Schatten für eine reale Erscheinungen hält. Okularzentrierte Erkenntnisprozesse wurden aus diesem Grund stets mit Inszenierung und Verdoppelung von Realität gleichgesetzt: Der kanadische Medientheoretiker McLuhan bezieht sich auf den Narcissos-Mythos, den er als Parabel für das Verhältnis von Medien und Menschen rezipiert. Indem Narziss dem Glauben anheim fällt, in seinem Spiegelbild sein Ebenbild zu erblicken, verwechselt dieser seine mediale Repräsentation mit dem bloßen Abbild seiner selbst. Die Blindheit gegenüber dem eigenen Mediengebrauch führt McLuhan auf diese imaginäre Täuschung zurück, die jedwedem medial gestützten Erkenntnisprozess inhäriere. Vgl. McLuhan, Marshall ([1964] 1968): Die magischen Kanäle, Düsseldorf, Wien: Econ Verlag. 4 | In Konfrontation mit den optischen Halluzinationen seines gelehrten Kollegen mit dem Namen Swedenborg sah sich der Aufklärer Immanuel Kant etwa dazu gezwungen, die Existenz der von Swedenborg imaginierten Erscheinungen auf korrespondenztheoretischem Wege zu überprüfen. Vgl. Kant, Immanuel ([1766] 1996) ): »Träume eines

Z EIT DER R EVOLUTION – R EVOLUTION DER Z EIT Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik«. In: Ders.: Vorkritische Schriften bis 1768. Werkausgabe Band II. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 923-991. Die Erklärung, die Kant für das nachträgliche Eintreffen von Swedenborgs bildlich vorgestellten Prophezeiungen anzubieten hat, ist Ergebnis der Überprüfung möglicher Übereinkünfte zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem. Da Kant die Existenz jener »Geister und abgeschiedenen Seelen« (ebd.: 966) jedoch nicht auf empirischem Wege bestätigen kann, die von Swedenborg im Jahre 1761 neben einem tatsächlich eingetretenen Feuer vorgestellt werden, führt dieser die halluzinativen Entäußerungen aus der Metaphysik-Abteilung der Philosophiegeschichte auf den ethischen Defekt einer moralischen Verderbtheit zurück, als deren effektivstes Gegengift er die körperliche Arbeit anpreist. In Ermangelung einer auf logischem Wege überprüfbaren Erklärung für das Auftauchen der als »Hirngespinste« (ebd.: 956) bezeichneten Imaginationen Swedenborgs schließt Kant seine Untersuchung nach Beendigung seiner Spekulationen zum Verhältnis von physikalischem Objekt und den konträr dazu positionierten »Nervenbewegungen in den Phantasien« (ebd.) mit folgendem Plädoyer: »Laßt uns unser Glück besorgen, in den Garten gehen und arbeiten« (ebd.: 989). 5 | Diese erkenntnistheoretisch verhängnisvolle Vertauschung befördert unter anderem der Bildtheoretiker Mitchell (1990), wenn dieser per se von der sprachlich-diskursiven ›Natur‹ des zu erkennenden Gegenstandes ausgeht. Obgleich Mitchell im Hinblick auf den diskursiven Ursprung des Wortes ›Bild‹ argumentativ Recht zu geben ist, ist es für das Erleben eines Subjekts keineswegs beliebig, ob das, was dieses sieht, eine materielle Gegebenheit in der Welt, eine Erinnerung, eine optische Halluzination oder eine Augen-Täuschung ist. Selbst wenn wir die Unterscheidung zwischen den von Mitchell angeführten unterschiedlichen Bildtypen als wissenschaftsgeschichtliche Konstruktionen auffassen mögen, entkommen wir nicht dem Umstand, dass das subjektive Wahrnehmen eines materiell nicht vorhandenen Bild-Gespinsts entweder zu den phantastischen Ausgeburten einer künstlerischen Einbildungskraft zählt, eine Halluzination ist oder aber auf die in Form von Engrammen im Gehirn gespeicherten bildlichen Erinnerungen zurück geht, die im Moment des Abrufens erneut das geistige Auge passieren. Vgl. Mitchell, W. J. T. (1990): »Was ist ein Bild?«. In: Bohn, Volker (Hg.): Bildlichkeit. Internationale Beiträge zur Poetik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 20f. 6 | Nach eigenen Auskünften hat die frühe Lektüre der Marx’schen Schriften Marjanes ideologische Haltung stark beeinflusst. Vgl. Satrapi, Marjane (2000): Persepolis. Eine Kindheit im Iran, Zürich: Edition Moderne, S. 16f. Diese berichtet in ihrer Comic-Autobiografie davon, dass ihr Lieblingscomic den Titel »Der historische Materialismus« trage, sie in Umkehrung ihrer eigentlichen Erwartung durch den Prozess der Lektüre jedoch umso weniger verstand, was sich in ihrem Land zur Zeit ihrer Kindheit ereignet hat: »Ich merkte, dass ich nichts verstand, also las ich soviel ich konnte.« (Ebd.: 36) 7 | Marx dekuvriert im 18. Brumaire vermöge einer spezifischen Politik des Darstellens von Geschichte den Heroenmythos des Louis Philippe Bonaparte. Weil dieser glaubte ein wirklicher Napoleon zu sein, konnte er nicht erkennen, dass die Kostümierung seines aus »10 000 Lumpenkerls« (Marx [1852] 1950: 272) bestehenden Publikums eine Ver-

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B ARBARA E DER einigung von Bourgeoisrepublikanern war. Louis Philippes »widrige[n] Züge« (ebd.: 228) und »eisernen Masken« (ebd.: 260) nimmt Karl Marx nunmehr zum Anlass »die Komödie als Weltgeschichte« (ebd.: 272) zu betrachten. Indem er aktiv entstellt, was konventionelle Historiografien bloß abzubilden bestrebt sind, überführt dieser die vermeintlich neuen Kostüme eines als »Staatsstreichhelden« (ebd.) bezeichneten politischen Akteurs ihrer miefigen Patina. 8 | Die im Iran des Jahres 1979 mit Vehemenz betriebene propagandistische Gleichsetzung Khomeinis mit dem schon seit längerer Zeit abwesenden Propheten veranlasste Foucault nicht zur nötigen Skepsis gegenüber jenen Elementen des schiitischen Glaubens, bei denen es sich um (post-)koloniale Importprodukte handelte und die keineswegs allen Iranern_innen im Sinne der angenommenen ursprünglichen Volksreligiosität zuteil waren. Weder die Vorgeschichte der Islamischen Revolution noch die nationalistischen Elemente derselben, deren Entstehung vor dem Hintergrund einer Lossagung von der seit den 1940er Jahren voranschreitenden imperialistischen Aneignung der iranischen Öl-Industrie durch die Engländer und Briten erklärbar werden, finden in Foucaults Geschichtsdarstellung ausreichende Berücksichtigung. Mehr als einmal hat dieser übersehen, dass »Allah […] der Gott im Öl« (Subrealistische Bewegung 1979: 14) ist, dem die »von der ihnen offenbarten Wahrheit« (Foucault [1978a] 2003: 866) Erleuchteten ihre Gefolgschaft in realer Abwesenheit zugesichert hatten. Foucault führt in eher unkritischer Abgrenzung gegenüber der politischen Figur Khomeinis nur einige Voraussetzungen dafür an, dass dieser zum Oberhaupt der Revolte stilisiert werden konnte: Zum einen handele es sich bei diesem um keinen Politiker, sondern um einen Geistlichen. Des weiteren verdanke dieser weite Teile seiner Popularität seiner realen Abwesenheit – Khomeini nahm aus dem Exil Einfluss auf das Geschehen – sowie seiner Fähigkeit, nichts oder nichts jenseits der Negation zu sagen – ein Schweigen, durch das es ihm gelang, Kräfte unterschiedlicher Strömungen zu bündeln: Khomeini »sagt [er] nichts, außer nein: zum Schah, zum Regime, zur Abhängigkeit« (Foucault [1978b] 2003: 896).

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»Der Jude mit der roten Badehose« Jüdische Helden, Stereotypen und Antisemitismus im Trickfilm bis 1945 Florian Schmidlechner

V ORBEMERKUNG Als in den 1890ern die Bilder Laufen lernten, begannen Künstler auch ihren Zeichnungen Leben einzuhauchen. Der Franzose Emile Reynaud begann 1892 damit, sich bewegende Figuren auf einen transparenten Zelluloidstreifen zu malen und diese auf einen gezeichneten Hintergrund zu projizieren. Zwischen 1896 und 1900 gestaltete Reynaud Phasentrickfilme, bei denen Fotos in Einzelphasen aufgenommen wurden und bei deren Vorführung die Illusion einer Bewegung entstand.1 Derselben Technik bediente sich auch der Amerikaner James Stuart Blackton in seinem Film »The Enchanted Drawing« (1900), in dem er einen karikierten Kopf zeichnet, der wie von selbst seinen Gesichtsausdruck ändert. Sechs Jahre später hatte Blackton seine Technik verbessert – in »Humorous Phases of Funny Faces« (1906) erwachen seine Karikaturen zum Leben und interagieren miteinander. Ein Jahr später entstand mit »Lightning Sketches« eine Art Fortsetzung von »Humorous Phases of Funny Faces« – und gleichzeitig der erste Trickfilm der Welt, in dem ein jüdischer Charakter karikiert wurde.

J ÜDISCHE S TEREOT YPE IN DEN USA Karikaturen und Comics haben das Genre des Animationsfilms von Beginn an geprägt: »Die Entwicklung des Trickfilms ist von der der Comics kaum zu trennen.«2 Auch der amerikanische Trickfilmpionier James Stuart Blackton experimentierte in seinen frühen Werken mit Karikaturen, die er zum Leben erweckte. In seinem Trickfilm »Lightning Sketches« (1907) lässt er aus den Wörtern ›Cohen‹ und ›Coon‹ Karikaturen eines Juden und eines Afroamerikaners

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entstehen. »Racial stereotypes, from J. Stuart Blackton’s ›Cohen‹ and ›Coon‹ caricatures in ›Lightning Sketches‹ (1907) onward, are depressingly endemic to early animated films.«3 Einen ersten Versuch, jüdische Stereotype positiv umzudeuten, unternahm der aus einer jüdischen Einwandererfamilie stammende Abbildung 57: Micky Maus als chassidischer Jude in The Opry House (USA 1929), Copyright © Walt Disney

Harry Hershfield 1914 in seinem Comic »Abie the Agent«.4 Abie (eigentlich Abraham Kabibble) ist ein untersetzter Autohändler, der zwar vorurteilsbeladene Charaktereigenschaften besitzt, auf den Leser aber dennoch sympathisch wirkt – so ist Abie zwar sparsam aber keineswegs geizig. Der Animationsfilm war zu diesem Zeitpunkt noch nicht so weit – in »Abie Kabibble Outwitted His Rival« (1917) verkauft Abie ausgerechnet einem Blinden ein Auto.5 Womöglich bedeutete genau diese Abweichung vom Comic das Aus für die Animationsserie – diese wurde nach zwei Episoden eingestellt, während das Comic noch bis in die 1940er Jahre erschien. Doch auch die bedeutendsten amerikanischen Trickfilm-Studios konnten sich jüdischen Stereotypen nicht entziehen. Das Van Beuren Studio in New York etwa bediente sich in seinen Trickfilmen nur allzu gerne plumper Stereotypen von Afroamerikanern, Orientalen, Indianern, Homosexuellen, Chinesen, Italienern und natürlich Juden: »Chinese ran laundries, Jews were merchants with big noses, and Italians sold fruit and vegetables from pushcarts.«6 In Trickfilmen wie »Laundry Blues« (1930) und »Redskin Blues« (1932) vermischen sich gar die asiatischen bzw. indianischen mit den jüdischen Stereotypen.7 Heute sind die meisten Van-Beuren-Trickfilme in die Untiefen der Archive versenkt worden und das Studio ist kaum noch bekannt. Anders verhält es sich mit den

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Disney Studios – auch hier erlaubte man sich den einen oder anderen Gag auf Kosten der jüdischen Bevölkerung. Bereits 1929 verkleidet sich Micky Maus in »The Opry House« als chassidischer Jude und tanzt zur allgemeinen Belustigung seines Theaterpublikums in dieser Verkleidung auf der Bühne. Das berühmteste Beispiel jüdischer Stereotype in Disneys Trickfilmen ist aber zweifellos eine Szene aus »The Three Little Pigs« (1933). Darin erscheint der Wolf als Shylock-Karikatur mit einer riesigen Nase, einer großen Brille und einem starken jiddischen Akzent. Während solche Gags vom damaligen Publikum weitestgehend toleriert wurden – »The Three Little Pigs« gewann 1934 sogar einen Oscar in der Kategorie »Bester animierter Kurzfilm« – ließen die Disney Studios aufgrund des öffentlichen Drucks die Szene für die spätere Videoveröffentlichung ›entschärfen‹.8 Zudem löste die Szene immer wieder die Diskussion aus, ob Walt Disney antisemitisch eingestellt war oder nicht. Doch auch die wenigen jüdischen Mitarbeiter Disneys verteidigten Disney in ihren Interviews immer wieder – damals waren Gags wie diese auch von Menschen anderer Glaubensrichtungen akzeptabel.9 Anders verhielt es sich bei den Fleischer Studios. Max und Dave Fleischer, zwei österreichstämmige Brüder, waren in den 1920ern und 1930ern die größten Konkurrenten von Disney. Im Gegensatz zu Disney und Van Beuren bemühten sich die Gebrüder Fleischer allerdings um wesentlich anspruchsvollere jüdische Gags. Ihre jüdische Herkunft ist dabei unverkennbar – im Trickfilm »Minnie the Moocher« (1932) streitet Betty Boop mit ihrem Vater, der nicht nur mit deutschem Akzent spricht, sondern auch eine Kippa, die typisch jüdische Kopfbedeckung, trägt. Insofern ist Betty Boops Vater eine Anspielung auf Max und Dave Fleischers Vater – und Betty Boop demnach ebenfalls jüdisch. Auch Superman ist eine durch und durch jüdische Figur. Sie wurde in den 1930ern von Jerry Siegel und Joe Shuster, beide Söhne jüdischer Emigranten, erfunden.10 Die Geschichte von Superman ist dabei auch eine klassische Einwanderergeschichte und beschreibt die Schwierigkeiten der Integration in die amerikanische Gesellschaft. Superman trägt sogar den hebräischen Geburtsnamen »Kal El« (»Gott ist in allem«) und ist damit Sinnbild für die jüdischen Immigranten.11 Und als Superman 1940 im Magazin »Look« erstmals gegen die Nazis kämpft, ist es, als würden sich die jüdischen Emigranten selbst gegen sie erheben. In Nazi-Deutschland war man über diesen ›Angriff‹ wenig amüsiert. In einem Artikel in der SS-Zeitung »Das Schwarze Korps«, der möglicherweise von Goebbels selbst verfasst wurde,12 beschimpft man Jerry Siegel als »geistig und körperlich Beschnittene[n]«. Superman erfreue sich »einer roten Badehose« und habe »an Stelle des Verstandes eine übermäßig entwickelte Muskulatur«. Die Figur sähe »Haß, Zwietracht, Unrecht, Faulheit und Verbrechertum in die jungen Herzen«13. »Superman ist ein Jude!«14, soll Goebbels in einer Reichstagssitzung verächtlich gerufen haben.15 Doch was damals noch als Beleidigung gemeint war, ist heute der Schlüssel zum Verständnis dieser Figur.

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Dass ausgerechnet die Gebrüder Fleischer Superman zu seinem LeinwandDebüt verhalfen, verstärkte den jüdischen Einfluss auf diese Figur noch. Dabei konnten sie ihm einen wesentlichen Vorteil verschafften – denn weil das Zurücklegen großer Strecken mithilfe von Sprüngen, wie es in den Comics bis dato üblich war, auf der Leinwand lächerlich gewirkt hätte, brachten die Gebrüder Fleischer Superman das Fliegen bei.16 Zudem vergrößerte der Sprung auf die Leinwand Supermans Popularität. Im Zuge des Zweiten Weltkriegs begannen sich auch die Gebrüder Fleischer politisch in ihren Filmen zu äußern, blieben dabei aber überraschend zurückhaltend. In »The Mighty Navy«17 (1941) trägt Popeye erstmals eine Navy-Uniform, die er bis zu seiner TV-Karriere in den 1960ern anbehielt.18 Als Popeyes Flugzeugträger angegriffen wird, tragen die gegnerischen Kriegsschiffe eine Flagge mit der Aufschrift: »Enemy (name your own)«. Ähnlich zurückhaltend waren die Gebrüder Fleischer bei ihren Superman-Trickfilmen – lediglich in »The Bulleteers« (1942) ist kurz ein Poster zu sehen, das für Kriegsanleihen wirbt.19 Erst durch die Übernahme der Fleischer-Studios durch Paramount wurden Popeye und Superman zunehmend politisiert. Beide kämpften nun gegen Japaner und Deutsche – von den acht Superman-Episoden, die bei Paramount während dem Krieg noch produziert wurden, thematisieren mehr als die Hälfte den Krieg. In gewisser Weise blieb die Leitung des Studios aber in der Familie – einer der Verantwortlichen wurde Seymour Kneitel, der Schwiegersohn von Max Fleischer.20 Mitte der 1930er Jahre verschwanden jüdische Stereotype weitestgehend aus den amerikanischen Trickfilmen. Der Grund dafür ist bis heute nicht geklärt – möglicherweise reagierten die Studios auf den »Production Code« (auch als »Hays Code« bekannt), der 1930 als eine Art Selbstzensur der Filmwirtschaft eingeführt worden war und der ab 1934 durch Gründung der »Production Code Administration« verpflichtend zur Anwendung kommen musste.21 Darin hieß es: »No film or episode may throw ridicule on any religious faith.«22 Die Geldstrafe in Höhe von 25.000 US-Dollar im Falle eines Verstoßes hätte die Studios in arge finanzielle Bedrängnis gebracht.23 Möglicherweise hielt man es aber auch für geschmacklos, angesichts der Entwicklungen in Nazi-Deutschland, weiterhin Scherze auf Kosten der jüdischen Bevölkerung zu machen.24 Lediglich ein amerikanischer Trickfilm jener Zeit widmete sich dezidiert dem Thema Antisemitismus und Rassenhass. »Weapon of War« (1944) beschreibt Rassenhass und religiösen Hass als die genialste Kriegswaffe der Nazis, die diese bereits in Friedenszeiten entwickelt hätten. Die Waffe, so der Film, ziele darauf ab, eine Rasse gegen die andere aufzubringen, eine Religion gegen eine andere: »Eine Kriegswaffe: Eine Religion gegen die andere ausspielen – Protestanten gegen Katholiken und beide gegen die Juden.«25 Visualisiert wird die Botschaft durch eine giftige Flüssigkeit, die zuerst ein Kreuz spaltet und anschließend ihre Arme gegen einen Juden (zu erkennen an den am Himmel prangenden Davidsternen) ausstreckt. Durch das gesäte Misstrauen sei

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Europa für die Eroberungen der Nazis aufgespaltet worden; nun strecke sich der Giftarm nach Amerika, wo aufgrund der vielen unterschiedlichen Nationalitäten und Konfessionen der US-Bürger der Boden für Zwietracht und Misstrauen besonders fruchtbar sei. Dieser eindringliche und entgegen den sonst üblichen Trickfilmen sehr ernsthafte Film blieb dem breiten Publikum jedoch vorenthalten – produziert für das US-Militär wurde er nur in den Soldatenkinos gezeigt.

A NTISEMITISMUS IN D EUTSCHL AND Während in den »amerikanischen Kinos die Aufführung von Werbefilmen verpönt«26 und deshalb lange Zeit die Ausnahme gewesen war, stand der europäische Trickfilm von Anfang an im Dienste der Wirtschaft. Der älteste bekannte antisemitische Trickfilm entstand im Zuge der Kriegsanleihewerbungen während dem Ersten Weltkrieg. Teil der Serie »Österreichische Kriegskarikaturen« vom Zeichner Theo Zasche war der Film »Der Zar und seine lieben Juden«, »in dem ausgerechnet Zar Nikolaus nach bewährter Manier als Judenfreund und Protektor gezeichnet wurde, wobei sich Zasche bei den einzelnen jüdischen Typen richtig austobte und eine Reihe von Hetz-Karikaturen lieferte, wie sie auch in Julius Streichers späterem ›Stürmer‹ nicht ekelhafter gezeigt werden konnten. […] Andere ›aktuelle Karikaturen‹ mit antisemitischen Anklängen präsentierte ausgerechnet der Filmvertrieb Oppenheimer und Reiter in Verbindung mit den Kriegswochenschauen.« 27

Dennoch blieben jüdische Charaktere die Ausnahme, vermutlich bedingt durch die geringe Zahl an narrativen Trickfilmen. 1930 veröffentlichte die Pinschewer-Film AG den Beiprogrammfilm »Ein Lämmchen – Ein altjüdisches Sinngedicht« (OT: »Chad Gadjo«) in einer deutschen, englischen, französischen und hebräischen Sprachversion.28 Julius Pinschewer, der in Deutschland Pionierarbeit im Bereich des Werbe- und Trickfilms leistete, war selbst jüdischer Abstammung und beschloss 1932, nach Anhörung einer Rede Hitlers, Deutschland zu verlassen.29 Zahlreiche Trickfilmer taten es ihm gleich, unter ihnen bedeutende Künstler wie Oskar Fischinger und Lotte Reiniger. Die NSDAP zeigte unmittelbar nach der Machtübernahme, was sie von den Juden hielt. Am 19. November 1933 fand in Braunschweig der erste »Deutsche Handelstag« unter dem Motto »Kaufmann, nicht Händler« statt. Von einer »Verjudung« des Handelsstands, »jüdische[n] Schacherer[n] » und dem »verantwortungslose[n] Manipulieren jüdischer Händler«30 ist in der dazu veröffentlichten Broschüre zu lesen. 1936 erschien der gleichnamige Dokumentarfilm über den ersten Deutschen Handelstag, in dem die Rede zur »jüdischen Einflussnahme«31 von Theodor Adrian von Renteln (Präsident des Deutschen

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Industrie- und Handelstages) mit antisemitischen Karikaturen untermalt wird: Gezeigt werden kleine jüdische Figuren, die wie Heuschrecken über Deutschland fliegen und sich in allen Lebensbereichen (von Kunst und Kultur bis hin zu Wissenschaft und Rechtswesen) ›einnisten‹. Dennoch blieben antisemitische Trickfilme die Ausnahme im nationalsozialistischen Deutschland. Erst im Zuge einer antisemitischen Welle im deutschen Film, die 1939 mit Filmen wie »Robert und Bertram« und »Leinen aus Irland« begann,32 kam es auch im Trickfilm wieder zu antisemitischen Darstellungen. Der Film »Vom Bäumlein, das andere Blätter hat gewollt« (1940) zeigt, wie selbstverständlich antisemitische Darstellungen mittlerweile waren. Der Film illustriert das gleichnamige Gedicht von Friedrich Rückert, in dem sich ein Tannenbäumchen goldene Blätter wünscht, die dann von einem Juden gestohlen werden. Dabei ähnelt die Figur des Juden den Hetzkarikaturen im »Stürmer« – für die Trickfilmer jener Zeit wohl eine legitime Darstellung. Denn der Trickfilmzeichner Heinz Tischmeyer erinnerte sich in einem Interview 1999 an die Gestaltung des Films: »Das möchte ich ganz besonders betonen, in der Beziehung waren auch diese Märchenfilme, die ich gezeichnet habe, nie irgendwie tendenziös.«33 Der Film richtete sich vor allem an Kinder, die das gleichnamige Gedicht in ihrem Lesebuch finden konnten.34 Zur gleichen Zeit wurden die erwachsenen Zuseher mit dem ›Dokumentarfilm‹ »Der ewige Jude« (1940) konfrontiert. Der Trickfilmer Svend Noldan, der bereits zuvor für diverse Propaganda-Filme Kartenanimationen realisierte,35 vergleicht in einer Animationssequenz die ›Judenwanderung‹ mit der Ausbreitung der Ratten. Und auch der Unterrichtsfilm wurde der nationalsozialistischen Ideologie entsprechend interpretiert. Die Gebrüder Diehl stellten im Auftrag der »Reichsanstalt für Bild und Film in Wissenschaft und Unterricht« (kurz: RWU) den Puppentrickfilm »Tischlein, deck’ Dich!« (1936) her. Der im Grunde harmlose und ideologiefreie Film wurde durch die Lehrer im Laufe des Krieges nationalsozialistisch umgedeutet und vermittelt. So heißt es in einem Schüleraufsatz aus dem Jahre 1941 zu diesem Film: »Den betrügerischen Wirt jedoch, der durch Schwindel und Gemeinheit reich zu werden hoffte, ereilte das strafende Schicksal. Er gleicht dem ewigen Juden, der aus der Arbeit der Fleissigen und Tüchtigen profitieren will, ohne selber einen Finger zu rühren. Er ist eben der Schmarotzer, der die anderen bloss aussaugen und ausplündern will. Trotz seiner Schlauheit kann er der Strafe nicht entgehen; denn der Knüppel aus dem Sack ist da.« Ä

Ende 1940 kam dann Hans Helds »Der Störenfried« in die Kinos. »Dieser Zeichenfilm versuchte nicht, eine heile Welt darzustellen, sondern war selbst ein einziger Kriegsfilm, angesiedelt in der Tierwelt.«37 Darin verbünden sich die Tiere des Waldes, die Igel-Kompanie und das Wespengeschwader, gegen den

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Fuchs. Unterlegt ist das Wespengeschwader mit dem Originalton der deutschen Sturzkampfbomber.38 Der Fuchs als ›innerer Feind‹ ist in diesem Film »das personifizierte Böse und steht […] als Synonym für das Judentum«.39 Auch in Hans Fischerkoesens »Das dumme Gänslein« (1944) sind antisemitische Tendenzen unverkennbar. Wiederum steht der Fuchs stellvertretend für den Juden – während er die Gans verführt und in seinen Bau lockt erklingt im Hintergrund die Musik des jiddischen Songs »Bei mir bist du scheen«. Wie schon bei »Der Störenfried« verbünden sich die Tiere des Waldes und vertreiben den Fuchs aus ihrer ›Heimat‹. Nach dem Krieg meldete Fischerkoesen »Das dumme Gänslein«, welchem noch im Januar 1945 das Prädikat »künstlerisch wertvoll« verliehen wurde, bei der »Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft« (FSK) zur Wiederzulassung an.40 Ob der Film tatsächlich wieder aufgeführt wurde, ist ungewiss. Dafür spricht allerdings ein Bilderbuch aus dem Jahre 1963, das auf diesem Film basiert.

S UBVERSION UND E MIGR ATION Eine andere (und gern zitierte) Interpretation von »Das dumme Gänslein« lieferte 1999 der Filmhistoriker William Moritz. In seinem Essay »Resistance and Subversion in Animated Films of the Nazi Era: The Case of Hans Fischerkoesen« dreht er die Rollenverteilung um: »The fox is using her [= das Gänslein, Anm. d. Autors] as he does various other animals, which seems to allude to the Nazis’ exploitation of the Jews, as slave labor and prisoners doomed to execution.«41 Der Film warne deshalb davor, dem Glanz des Nationalsozialismus zu verfallen und zeige auf, was mit seinen Opfern geschehe und dass man etwas dagegen tun müsse. Moritz begründet diese Interpretation mit dem Argument, Fischerkoesen sei während dem Krieg Mitglied einer Widerstandsgruppe verschiedener Künstler gewesen. Dafür gibt es allerdings keine Belege – und selbst Moritz nennt keine Quelle für diese Information. Dennoch zeigt Moritz’ Interpretation, wie schwierig die Bewertung mancher Filme im Nachhinein fällt. Tatsächlich gab es jedoch einen Trickfilm in Deutschland, der sich mit den Opfern des Nationalsozialismus solidarisierte. Lotte Reiniger hatte nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten Deutschland zunächst verlassen: »Ich bin 1933 aus Deutschland weggegangen, weil mir diese Hitler-Veranstaltung nicht paßte und weil ich sehr viele jüdische Freunde hatte, die ich nun nicht mehr Freunde nennen durfte; und das ging mir gegen den Strich.«42 Zusammen mit ihrem Mann Carl Koch, einem bekennenden Sozialdemokrat, reiste sie nach Paris zu ihrem Künstlerkollegen Jean Renoir. »Dann aber dachten wir, wir könnten nicht alle so ohne weiteres aus Deutschland weggehen, sondern müßten versuchen, unsere Sache zu verteidigen, weil wir es nicht für

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F LORIAN S CHMIDLECHNER möglich hielten, daß in einem Land wie Deutschland eine so grausame Tendenz lange Fuß fassen könnte. So gingen wir 1934 wieder nach Deutschland zurück und ich habe das Glück gehabt, noch sehr viele Filme zu machen.« 43

Einer dieser Filme, »Das gestohlene Herz« (1934), zeigt einen bösen Zauberer, der nachts alle Musikinstrumente aus einem Dorf raubt, um die fröhliche Musik für immer verstummen zu lassen. Doch die Instrumente können sich befreien und bezwingen schließlich den bösen Zauberer. Der Film endet mit dem Gesang: »Himmel und Erde müssen vergehn, aber die Musici bleiben bestehn.« Wie der Film (vor allem von deutschen Emigranten im Ausland) verstanden wurde, schildert ein Brief, den Lotte Reiniger anlässlich eines FernsehInterviews 1971 bekam: »Für mich wurde der Film ein wunderbar tröstliches Symbol. Mir liefen die Tränen herunter, und nicht nur mir, sondern auch manchen anderen deutschen Flüchtlingen, die um mich saßen – auf den billigsten Plätzen natürlich. Der böse Dämon war für mich (für Sie auch?) der Nationalsozialismus, der von der Musik, Symbol von Freiheit und Lebensmut, am Ende doch besiegt wird. […] und ich kam mit gesundeter Seele aus dem Kino.« 44

1936 verließen Lotte Reiniger und ihr Mann erneut Deutschland. Zu dieser Zeit lebte auch Julius Pinschewer im Exil. In seiner neuen Schweizer Heimat produzierte er 1936 für die Firma Henkel den Werbespot »Die Schmierkobolde«.45 Pinschewer, der selbst jüdischer Abstammung war, setzte darin ein deutliches Zeichen und benutzte den Davidstern – in Deutschland später als ›Judenstern‹ bekannt – als Überblendzeichen. Im selben Jahr retournierte der Filmemacher auch seinen Pass an die deutsche Gesandtschaft in Bern.46 Ähnlich solidarisierten sich auch die Gebrüder Frenkel mit ihren jüdischen Glaubensgenossen. Die Familie Frenkel emigrierte 1905 im Zuge eines Pogroms aus Weißrussland und ließ sich zunächst in Palästina, damals Teil des Osmanischen Reichs, nieder. Als im Zuge des Ersten Weltkriegs die russischen Juden in Palästina der Spionage verdächtigt wurden, wurde die Familie nach Alexandria deportiert. Dort begannen die drei Brüder Hershel, David und Shlomo in den 1930ern damit, Trickfilme herzustellen.47 Von Ende 1937 bis Anfang 1940 produzierten sie im Auftrag des Kriegsministeriums den Trickfilm »Al difaa al watani« (»Die nationale Verteidigung«). Darin wirbt die Hauptfigur Mish-Mish Effendi für Spenden zur militärischen ›nationalen Verteidigung‹ Ägyptens. Zu dieser Zeit wussten die Gebrüder Frenkel um die Judenverfolgung in Nazi-Deutschland und bauten ihr Wissen in ihren Film ein. Aus Liebe zum amerikanischen Kino und aus dem Wissen heraus, dass nur die Amerikaner Deutschland besiegen würden können, lassen sie neben Charlie Chaplin und Buster Keaton auch Laurel und Hardy in ihrem Film auftreten.48 Als dann im Film die Spendensammlung

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auf den Straßen beginnt, gibt eine Frau ihren wertvollsten Besitz, eine Perlenhalskette, in den Spendenbeutel. Für den Bruchteil einer Sekunde ist daran ein Abbildung 58: Die Kette mit dem Davidstern in Al difaa al watani (Ägypten 1940), Copyright © Serge Bromberg: Cartoon Factory (Episode 60), TV-Serie, Frankreich 1997.

Davidstern zu erkennen – Symbol für die Solidarisierung der ägyptischen Juden, nicht nur aus Dankbarkeit ihrer neuen Heimat gegenüber, sondern auch gegenüber ihrer verfolgten Glaubensgenossen in Deutschland.

A NTISEMITISMUS IN DEN BESE T Z TEN G EBIE TEN Unmittelbar nach der Okkupation der Niederlande und Frankreichs begannen die Nationalsozialisten auch dort mit großangelegten antisemitischen Hetzkampagnen. Während im Ostteil des Reiches der Film »Der ewige Jude« nur in untertitelten Fassungen zu sehen war, fertigte man für die Niederlande (»De eeuwige Jood«) wie auch für Frankreich (»Le péril juif«) eigene Sprachfassungen.49 Am 5. September 1941 eröffnete in Paris die Ausstellung »Le Juif et la France« (»Der Jude und Frankreich«).50 Der Bericht der Wochenschau »Les Actualités Mondiales« über die Ausstellung beinhaltet auch eine Animationssequenz – ein Diagramm soll zeigen, wie Frankreich seit 1936 zusehends ›verjudete‹: »Fast alle Posten Frankreichs waren in jüdischer Hand.«51 Danach folgen gezeichnete Kriegsbilder von flüchtenden Menschen und zerbombten Gebäuden. Schuld an diesem Krieg und an der Niederlage Frankreichs seien natürlich die Juden: »Der Krieg der Juden gegen ein ihnen sehr zugetanes Volk führte Frankreich

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zur größten Niederlage seiner Geschichte.«52 Auch im Bereich des Animationsfilms wurde die Judenfeindlichkeit spürbar – 1942 kritisierte die Zeitung »Le Abbildung 59: Radiomoderator der BBC in Nimbus Libéré (NL 1943), Copyright © Steve Stanchfield: The Golden Age of Cartoons: Cartoons for Victory!, DVDKompilation, USA 2006.

Pilori« »the absence of any support given to Jeannin, while, during this period, the ›Jew‹, Jean Image, was in charge of the animated film department of the School of Graphic Arts which Paul Colin had opened in Paris.«53 Jean Image, der 1939 basierend auf Jean de La Fontaines »Le Loup et l’Agneau« (»Der Wolf und das Lamm«) einen anti-nationalsozialistischen Trickfilm gestaltet hatte, flüchtete daraufhin nach Nizza.54 Sein Trickfilm hingegen überstand die Okkupation nicht. Raymond Jeannin jedoch, der von den Kritikern als »französischer Walt Disney« gefeiert wurde, realisierte im Frühjahr 1944 einen kurzen PropagandaTrickfilm namens »Nimbus Libéré« (»Der befreite Nimbus«).55 Der Trickfilm, der Teil einer großangelegten Kampagne gegen die Bombardierungen durch die Alliierten war, vermittelt ein klares Feindbild: Ein in Stürmer-Manier dargestellter jüdischer BBC-Moderator verkündet die Befreiung Frankreichs. Kurz darauf wird Professor Nimbus (eine bekannte Comic-Figur jener Zeit) ›befreit‹, indem Micky Maus, Donald Duck und andere amerikanische Trickfilmfiguren sein Haus zerbomben. Die Radiomeldungen der BBC werden auf diese Weise als ›jüdische Lügenmärchen‹ gebrandmarkt. Auch in den Niederlanden realisierte man einen antisemitischen Trickfilm. 1941 wurde von der NSB, den niederländischen Nationalsozialisten, in Den Haag die »Nederland Film« gegründet, »to make animated films with a Nazi point of view.«56 Ihr wichtigstes Projekt war der 1943 fertig gestellte Film

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»Van den vos Reynaerde« (»Reineke Fuchs«). Das im 13. Jahrhundert entstandene Tierepos wird nationalsozialistisch umgedeutet – aus dem Fuchs wird der Abbildung 60: Das ›jüdische‹ Nashorn in Van den vos Reynaerde (NL 1943), Copyright © Ulrich Stoll: Hitlers Traum von Micky Maus. Zeichentrick unterm Hakenkreuz, TV-Dokumentation, Deutschland 1999.

strahlende nationalsozialistische Held. Die Bösewichte sind in diesem Fall die Nashörner; sie tragen eine Kippa und ein gelbes Rechteck (in Anlehnung an den Judenstern) auf der Brust. Entgegen der nationalsozialistischen Rassenlehre verheiraten sie die verschiedenen Tiergattungen – bis Reineke Fuchs sich mit den Waldtieren verbündet und die Nashörner in den Tod jagt. Der Film erlebte allerdings nur eine einzige Aufführung vor Vertretern der NSB.57 Zwar sei der Film technisch gelungen, aber »[ f ]rom a National-Socialist point of view […] this character [= der Fuchs, Anm. d. Autors] was not chosen correctly.«58 Gemeint waren damit deutsche Trickfilme wie »Der Störenfried« (1940), in denen der Fuchs den Bösewicht darstellt. Doch auch ein anderes Problem ergab sich: 1943 gab es kaum noch Juden in den Niederlanden – die Deportationen waren weitestgehend abgeschlossen.59

R ESÜMEE Jüdische Stereotype im Trickfilm sind bisher wenig erforscht, obgleich sie durch Trickfilmserien wie »Die Simpsons« oder »South Park« wieder aktuell geworden sind. Auch der ›jüdische Beitrag‹ zum Trickfilm wurde bisher zu wenig gewürdigt – die Gebrüder Fleischer planten bereits vor Disney einen abend-

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füllenden Trickfilm,60 einige der bedeutendsten Zeichner bei Disney waren jüdischer Herkunft61 und die Gebrüder Frenkel schufen den ersten afrikanischen Trickfilm.62 Wie stark die Emigrationserfahrung und das Gefühl der Heimatlosigkeit in die Gestaltung solcher Trickfilme hineinspielten, zeigt sich am deutlichsten am Beispiel von »Betty Boop’s Ups and Downs« (1932), in dem Betty singt: »There’s no place upon this earth that’s home sweet home to me.« Als sie am Ende des Films singt: »Any old place upon this earth is home sweet home to me!«, bezieht sich das nicht nur auf die jüdischen Emigranten auf der ganzen Welt, sondern auch auf den Trickfilm allgemein, der mittlerweile überall auf der Welt heimisch geworden war – nicht zuletzt durch den weltweiten Erfolg der Trickfilme der Gebrüder Fleischer.

A NMERKUNGEN 1 | Zur Geschichte des Animationsfilms siehe: Hans Scheugl/Ernst Schmidt: Eine Subgeschichte des Films. Lexikon des Avantgarde-, Experimental- und Undergroundfilms, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, Band 1, S. 52f. 2 | Vgl. ebd., S. 55. 3 | Scott Simmon: Notes on the Origins of American Animation, 1900-1921, auf: http:// memory.loc.gov/ammem/oahtml/oapres.html vom 28. Dezember 2009. 4 | Vgl. Don Markstein: Abie the Agent, auf: www.toonopedia.com/abie.htm vom 28. Dezember 2009. 5 | Für eine detaillierte Inhaltsbeschreibung danke ich Jared Case vom »Film Study Center« des »George Eastman House«. 6 | Karl F. Cohen: Forbidden Animation. Censored Cartoons and Blacklisted Animators in America, Jefferson/North Carolina, London: McFarland 2004, S. 72. 7 | Vgl. Michael S. Shull/David E. Wilt: Doing Their Bit. Wartime American Animated Short Films 1939-1945, 2. Auflage, Jefferson/North Carolina, London: McFarland 2004, S. 31. 8 | In der DVD-Veröffentlichung »Walt Disney Treasures: Silly Symphonies« (2001) ist der Wolf nicht mehr in seiner jüdischen Verkleidung zu sehen, gleichwohl wird in einer kommentierten Einführung die Original-Szene kurz gezeigt. 9 | Vgl. K. F. Cohen: Forbidden Animation, S. 73. 10 | Vgl. Katja Lüthge: »Ist Superman Jude?« In: NZZ Folio 1 (2008), auf: www.nzzfolio. ch/www/d80bd71b-b264-4db4-afd0-277884b93470/showarticle/177237b4-d901418f-a353-cf6b1a88e576.aspx vom 28. Dezember 2009. 11 | Vgl. ebd. 12 | Vgl. Paul Gravett: From Superman to the Rabbi’s Cat. Jewish Comics (21. Dezember 2007), auf: www.paulgravett.com/index.php/articles/article/from_superman_to_ the_rabbis_cat/ vom 28. Dezember 2009. 13 | O.A.: »Jerry Siegel greift ein!« In: Das Schwarze Korps vom 25. April 1940, S. 8.

»D ER J UDE MIT DER ROTEN B ADEHOSE « 14 | So zitiert zumindest Günter Metken in seinem Buch Comics (Frankfurt a.M.: Fischer 1972). 15 | Die Authentizität dieses Zitats muss allerdings bezweifelt werden. Laut Pierre Couperie (A History of the Comic Strip, New York: Crown 1968, S. 83) fiel das Zitat während einer Reichstagssitzung im Jahre 1942, in den Protokollen der Reichstagssitzungen aus diesem Jahr findet sich der Ausruf jedoch nicht. Erstmals erwähnt wird das Zitat wohl im Artikel »Comics: Good Grief« des Time Magazin vom 9. April 1965, laut dem Goebbels »This Superman is a Jew!« geschrieben habe. Allerdings findet sich auch in den Tagebüchern und geschriebenen Reden von Goebbels kein solches Zitat. 16 | Vgl. O.A.: »The Adventures of Superman«, in: Filmfest Dresden 21.-25.4.1993. Internationales Festival für Independent- und Animationsfilme, Dresden: Filminitiative Dresden 1993, S. 64. 17 | In den meisten Filmverzeichnissen wird das ›V‹ im Wort ›Navy‹ klein geschrieben. In Wirklichkeit ist das ›V‹ jedoch als Anspielung auf das Wort ›Victory‹ gedacht und deshalb im Filmvorspann absichtlich groß geschrieben. 18 | Christopher P. Lehman: American Animated Cartoons of the Vietnam Era. A Study of Social Commentary in Films and Television Programs 1961-1973, Jefferson/North Carolina, London: McFarland 2006, S. 21. 19 | In den aktuell erhältlichen DVD-Veröffentlichungen ist dieses Poster jedoch meist schwarz übermalt. 20 | Vgl. Jeff Lenburg: Who’s Who in Animated Cartoons. An International Guide to Film and Television’s Award-Winning and Legendary Animators, New York: Applause Theatre & Cinema Books 2006, S. 184. 21 | Vgl. Joel Spring: Images of American Life. A History of Ideological Management in Schools, Movies, Radio, and Television, Albany: State University of New York Press 1992, S. 90. 22 | Der komplette Text findet sich auf: www.artsreformation.com/a001/hays-code. html vom 28. Dezember 2009. 23 | Vgl. J. Spring: Images of American Life, S. 90. 24 | Zu diesem Schluss kommen zumindest M. S. Shull/D. E. Wilt in Doing Their Bit (S. 31) sowie K. F. Cohen in Forbidden Animation (S. 73). 25 | Übersetzung nach: Erwin Leiser: Feindbilder. Propagandafilme im Zweiten Weltkrieg, TV-Dokumentation, Deutschland/Österreich, 1995. 26 | O.A.: »Fischerkoesen. Minnesang auf Markenartikel«. In: Der Spiegel vom 29. August 1956, S. 34. 27 | Peter A. Schauer: Beiträge zur Geschichte des österreichischen Zeichentrickfilms, Wien: Unveröffentlichtes Manuskript 1948 (Reprint 1997), S. 17. Zitiert nach: Thomas Renoldner: Animationsfilm in Österreich. Teil 1: 1900-1970, Wien: ASIFA 1998, S. 13. 28 | Vgl. Doris Hackbarth/Roswitha Müller: Deutsche Animationsfilme von 1909 bis 1945, Berlin: Bundesarchiv-Filmarchiv, 2008. 29 | Vgl. André Amsler: »Wer dem Werbefilm verfällt, ist verloren für die Welt«. Das Werk von Julius Pinschewer 1883-1961, Zürich: Chronos 1997, S. 12.

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F LORIAN S CHMIDLECHNER 30 | Theodor Adrian v. Renteln: Kaufmann – nicht Händler!, München: Oberste Leitung der P. O., NS-Hago, 1934, S. 5 und 14. 31 | Zitiert nach: www.cine-holocaust.de/cgi-bin/gdq?dfw00fbw000789.gd vom 28. Dezember 2009. 32 | Vgl. Klaus Kreimeier: Antisemitismus im nationalsozialistischen Film (1996), auf: www.kreimeier-online.de/NS-Film.htm vom 28. Dezember 2009. 33 | Zitiert nach Ulrich Stoll: Hitlers Traum von Micky Maus. Zeichentrick unterm Hakenkreuz, TV-Dokumentation, Deutschland 1999. 34 | Vgl. O.A.: Deutsches Lesebuch für Volksschulen, Zweiter Band, 2. Auflage 1942, S. 114-116. 35 | Vgl. Siegfried Kracauer: Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, S. 164. (Anm. d. Autors: Dort wird Svend Noldan fälschlicherweise ›Sven‹ genannt.) 36 | Zitiert nach Ferdinand Josef Holzer: »Der ›Knüppel aus dem Sack‹. Schüleraufsatz über ein altes Märchen«. In: Deutscher Kulturdienst vom 4. Juli 1941, Rubrik Film, S. 1. (Anm. d. Autors: Für den Hinweis und die Kopie des Artikels danke ich J. P. Storm.) 37 | Annika Schoemann: Der deutsche Animationsfilm. Von den Anfängen bis zur Gegenwart 1909-2001, Sankt Augustin: Gardez! 2003, S. 186. 38 | Vgl. U. Stoll: Hitlers Traum von Micky Maus. 39 | A. Schoemann: Der deutsche Animationsfilm, S. 186. 40 | Vgl. Günter Agde: »Hans Fischerkoesen«. In: CineGraph – Lexikon zum deutschsprachigen Film (Lg. 46), S. D 9 und D 12. 41 | William Moritz: »Resistance and Subversion in Animated Films of the Nazi Era. The Case of Hans Fischerkoesen«. In: Animation Journal (Herbst 2002), www.animationjournal.com/abstracts/essays/Moritz.html vom 28. Dezember 2009. 42 | Zitiert nach Walter Schobert: »Gespräch mit Lotte Reiniger. London, 21. August 1969«. In: Wolfgang Tichy: Lotte Reiniger, David W. Griffith, Harry Langdon, Frankfurt a.M.: Kommunales Kino 1972, S. 99. 43 | Ebd. 44 | Zitiert nach: Herbert Just: Das gestohlene Herz. 33 Bilder aus dem Scherenschnittfilm von Lotte Reiniger mit einer Erzählung der Entstehung und des Inhalts, Tübingen: Unveröffentlichtes Manuskript 1972, Nachwort. (Anm. d. Autors: Für die Kopie des Manuskripts danke ich Alfred Happ.) 45 | Die Datierung des Films geht laut A. Amsler auf Charlotte Pinschewer, die Witwe von Julius Pinschewer, zurück. Anderen Quellen zufolge, wie etwa dem Schweizer Filmarchiv, wurde der Film 1933/1934 realisiert. 46 | Vgl. A. Amsler: »Wer dem Werbefilm verfällt, ist verloren für die Welt«, S. 12 und 25. 47 | Zur Geschichte der Gebrüder Frenkel vgl.: Didier Frenkel: Mish-Mish Effendi, auf: www.hsje.org/mish_mish %20in_1935_files/mishmish.pdf vom 28. Dezember 2009. 48 | E-Mail von Didier Frenkel vom 9. August 2008. 49 | Vgl. Stig Hornshøj-Møller: Der ewige Jude. Röntgenbild des Entscheidungsprozesses, auf: http://holocaust-info.dk/shm/dejtysk.htm vom 28. Dezember 2009.

»D ER J UDE MIT DER ROTEN B ADEHOSE « 50 | Vgl. O.A.: La ›pédagogie‹ antisémite. L’exposition »Le Juif et la France«, auf: www. akadem.org/photos/contextuels/878_expo_ juif_france.pdf vom 28. Dezember 2009. 51 | Übersetzung nach Joël Calmettes: Das kurze, mutige Leben des Herschel Grünspan, TV-Dokumentation, Frankreich 2008. 52 | Ebd. 53 | Christian Delporte: »Humour as a Strategy in Propaganda Film. The Case of a French Cartoon from 1944«. In: Journal of European Studies (31), September 2001, S. 369. 54 | Vgl. Sébastien Roffat: »Quand Pétain, Churchill, Roosevelt et Hiro-Hito rêvaient de Mickey…«. In: Jean-Pierre Bertin-Maghit (Hg.): Une histoire mondiale des cinémas de propagande, Monts: Nouveau Monde Éditions 2008, S. 449. 55 | Vgl. C. Delporte: »Humour as a Strategy in Propaganda Film«, S. 368 und 370. 56 | Egbert Barten/Gerard Groeneveld: »Reynard the Fox and the Jew Animal«, in: Animation World Magazine (Vol. 1, Nr. 7), Oktober 1996, auf: www.awn.com/mag/ issue1.7/articles/barten1.7.html vom 28. Dezember 2009. 57 | Vgl. ebd. 58 | Zitiert nach ebd. 59 | Vgl. U. Stoll: Hitlers Traum von Micky Maus. 60 | Vgl. Steve Fritz: Fleischer in Florida, Part 1 – ›Gulliver’s Travels‹ (16. April 2009), auf: www.newsarama.com/tv/090416-animated-shorts-gulliver.html vom 28. Dezember 2009. 61 | Vgl. K. F. Cohen: Forbidden Animation, S. 73. 62 | Die Geschichte des afrikanischen Trickfilms ist nicht ganz einfach – während der Amerikaner Harold Shaw bereits 1916 einen Trickfilm in Südafrika produzierte, war der Film »Al difaa al watani« (1940) der erste Film, der von afrikanischer Seite finanziert wurde, und somit der erste wirklich afrikanische Trickfilm. Vgl. Mohamed Ghazala: What is the African Animation? (04. April 2009), auf: http://ghazala.animationblogspot.com/ 2009/04/04/what-is-the-african-animation/ vom 28. Dezember 2009.

L ITER ATUR Agde, Günter: »Hans Fischerkoesen«. In: CineGraph – Lexikon zum deutschsprachigen Film (Lg. 46). Amsler, André: »Wer dem Werbefilm verfällt, ist verloren für die Welt«. Das Werk von Julius Pinschewer 1883-1961, Zürich: Chronos 1997. Barten, Egbert/Groeneveld, Gerard: »Reynard the Fox and the Jew Animal«. In: Animation World Magazine (Vol. 1, Nr. 7), Oktober 1996, auf: www.awn.com/ mag/issue1.7/articles/barten1.7.html vom 28. Dezember 2009. Calmettes, Joël: Das kurze, mutige Leben des Herschel Grünspan, TV-Dokumentation, Frankreich 2008.

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Das Politische trotz allem Holocaust-Diskurse im Comic Susanne Lummerding

Seit seiner Weltpremiere bei den Filmfestspielen in Cannes im Mai 2008 wurde der Animationsfilm Waltz with Bashir von Ari Folman als herausragende, innovative Produktion und als »erster animierter Dokumentarfilm in Spielfilmlänge« enthusiastisch gefeiert und 2009 mit Preisen überhäuft.1 Die Begeisterung bezog sich überwiegend auf die neuartige Form der Umsetzung eines dokumentarischen (und autobiografischen) Anspruchs und die ›Realbilder übertreffende‹ Eindringlichkeit und Intensität dieses Animationsfilms.2 Anders als im Rotoskopieverfahren, in dem gefilmte Bilder anschließend am Computer (vergleichbar dem Durchpausen) nachgezeichnet werden,3 wurde Waltz with Bashir von vornherein gezeichnet4 und erschien 2009, umgekehrt zu der im Fall von Comic-Verfilmungen sonst üblichen Abfolge, nachträglich als Buch bzw. graphic novel.5 In vielen Ländern wurde der Film für jugendliche Zuschauer_innen nicht freigegeben, was für einen Animationsfilm bzw. einen fast zur Gänze aus animierten Bildern bestehenden Film ungewöhnlich und unter anderem, aber nicht ausschließlich auf eine 50 Sekunden lange Sequenz aus Original-Videoaufnahmen eines Fernsehreporters über die Massaker von Sabra und Shatila zurückzuführen sein mag, mit denen der Film (ebenso wie das Buch mit Original-Stills bzw. Fotografien) endet. Sowohl die Klassifizierung als nicht jugendfrei als auch die Begeisterung der Kritik scheinen demnach nicht unwesentlich durch die Zuschreibung einer besonderen Realitätsnähe der Darstellung begründet. Dies legt die Frage nach dem hier wirksamen Begriff von Realität und realistischer Darstellung nahe, vor allem aber die Frage, was Comics als Genre bzw. gezeichnete Bilder in dieser Hinsicht spezifisch leisten, welches besondere Instrumentarium sie für eine Auseinandersetzung mit zeithistorischen politischen Themen und der Frage historischer Faktizität oder Wahrheit bieten – wie eine in den letzten Jahren auffallende Vielzahl an Neuerscheinungen dokumentarischer graphic novels nahelegt – und welche Funktion die Verbindung

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gezeichneter Bilder mit Originalaufnahmen in diesem Zusammenhang erfüllt. Die Frage nach der Definition von Realität, Wahrheit und Authentizität ist auch das zentrale Thema des Films selbst, der Mechanismen der Wahrnehmung, Erinnerung und Verdrängung persönlicher Erfahrung und Involviertheit in historische Ereignisse – konkret den Libanonkrieg und die Massaker von Sabra und Shatila – verhandelt. Diese Frage wird auf eine Weise thematisiert, die gerade nicht in das Postulat einer eindeutigen, klaren und allgemein gültigen Wahrheit mündet. Dies erscheint insbesondere mit Blick auf Folmans dezidiert dokumentarischen Anspruch, den Bezug auf historische Ereignisse und nicht zuletzt die Bezeichnung »animierter Dokumentarfilm« interessant. Die historischen Ereignisse, auf die sich die Erzählung bezieht, sind jene des ersten Libanonkriegs, die sich aber nicht von anderen, historisch weiter zurückliegenden Ereignissen und Erinnerungen trennen lassen, sich stattdessen überlagern und eben nicht klar umgrenzt definieren lassen, wie der Film zeigt. Diese Unmöglichkeit von Eindeutigkeit, die jede Herstellung von Bedeutung und Realität kennzeichnet, ist nicht gleichbedeutend mit Fiktionalität im Sinn von Unwirklichkeit. Ganz im Gegenteil ist jede Herstellung von Bedeutung oder Realität immer schon mit materiellen – im äußersten Fall tödlichen – Effekten verbunden, wie der Film ebenfalls verdeutlicht. Der erste Libanonkrieg, in dessen Verlauf von 1975 bis 1990 in wechselnden Koalitionen und unter wechselndem internationalen Einfluss christliche libanesische Falange-Milizen und sunnitische, schiitische und palästinensische Gruppierungen einander bekämpften, ist vor dem Hintergrund nationaler, internationaler, ethnischer und konfessioneller Konflikte zu sehen, die seit der Unabhängigkeit des Staates Libanon 1943 seine Geschichte bestimmen. Nach dem Sechstagekrieg 1967, in den Israel, Ägypten, Jordanien und Syrien involviert waren und der mit der Kontrolle Israels über den Gazastreifen, Sinai, die Golanhöhen, das Westjordanland und Ostjerusalem endete, sowie 1970 mit dem Auftreten der aus Jordanien vertriebenen palästinensischen Befreiungsbewegung (PLO) im Libanon spitzte sich die Lage zu und mündete in einen von Bombenanschlägen und Massakern an Zivilist_innen geprägten Bürgerkrieg. Es ist vor allem die Frage der Involviertheit der autobiografischen Hauptfigur der Erzählung, des Regisseurs Ari, in die Massaker von Sabra und Shatila, auf die die diegetische Erinnerungsspurensuche fluchtpunktartig zuläuft. Im Zuge dieser drei Tage dauernden Massaker im September 1982, die libanesische christliche Milizen in den beiden palästinensischen Flüchtlingslagern im Süden Beiruts verübten, wurden zwischen 460 (laut libanesischer Polizei), 800 (laut israelischen Angaben) und 3000 (laut PLO) vorwiegend unbewaffnete Palästinenser_innen ermordet. Ermöglicht und unterstützt wurde dies (mit Wissen der israelischen Regierung) durch vor Ort postierte israelische Streitkräfte.6 Die Massaker werden zum einen im Kontext zahlreicher auf die Zerschlagung der PLO ausgerichteter militärischer Aktionen und zum anderen als Racheakt

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für die Ermordung des christlich-maronitischen Milizenführers und gewählten Präsidenten des Libanons Bachir Gemayel verstanden. Dieser war unmittelbar vor den Massakern im Zuge eines vermutlich vom syrischen Geheimdienst verübten Bombenattentats umgekommen, für das jedoch palästinensische Milizen bzw. die PLO verantwortlich gemacht wurden. Die Anfangssequenz von Waltz with Bashir zeigt einen Albtraum, von dem Boaz, ein Freund Aris, jede Nacht gequält wird, wie er Ari erzählt, und in dem ein Rudel kläffender und zähnefletschender Hunde durch regennasse Straßen jagt. Diese Erzählung eines mit Boaz’ und Aris Einsatz als israelische Soldaten im Libanonkrieg assoziierten Traums veranlasst Ari, der selbst keine Erinnerung mehr an den Krieg hat, zu Nachforschungen über seine eigene Beteiligung an den Geschehnissen. Er beginnt, Kameraden von damals aufzusuchen, um Erinnerungslücken zu schließen, indem er unterschiedliche und zum Teil widersprüchliche Erzählungen der Kriegsereignisse bzw. Erinnerungs- und Traumbilder miteinander verbindet. Bereits diese einleitenden Bilder einer Traum-Erzählung, die am Beginn einer Erinnerungsspurensuche Aris stehen, thematisieren die Herstellung von Realität als vielfältige durch Mechanismen des Unbewussten, Sozialisierung und Situierung bedingte und vielschichtige Prozesse der Verdrängung, Verdichtung und Verschiebung, in denen unterschiedliche, zum Teil schemenhafte Erinnerungen, Halluzinationen, Träume und Blackouts einander überlagern, und die nicht durch die Rekonstruktion einer eindeutigen und einzig gültigen Wahrheit erfassbar sind. Am Ende des Films bzw. der graphic novel erinnert Ari, Folmans Alter Ego, dass er selbst zumindest insofern unmittelbar an den Massakern von Sabra und Shatila beteiligt war, als er als israelischer Soldat nicht nur durch das Abfeuern von Leuchtraketen die Vergewaltigungen und das Morden in der Dunkelheit unterstützte, sondern vor allem direkt vor Ort postiert war. Dennoch kann dies nicht als eindeutige oder vollständige Wiedergabe im Sinn eines Ab-Bilds – weder der historischen Ereignisse noch seiner individuellen Erfahrung – gewertet werden, wie der Film (und auch die Buchversion) sowohl darstellungstechnisch als auch narrativ verdeutlicht. Kurz nach der Anfangssequenz, der Erzählung des Albtraums mit den Hunden, mit der Aris Spurensuche beginnt, ist von einem zweiten Traum, nämlich Aris selbst, die Rede, dessen Inhalt Ari als »Massaker am Strand« bezeichnet, die aber eine ›Badeszene‹ am nächtlichen Strand von Westbeirut zu zeigen scheint. Ari und andere Soldaten sind in dieser völlig in tiefes Orange getauchten Sequenz im Wasser zu sehen, aus dem sie sich tranceartig erheben, ihre Uniformen anlegen und durch menschenleere Straßen gehen – all dies in extremer Zeitlupe, begleitet von sphärisch-suggestiver Hintergrundmusik. Der Freund, der im Traum vorkommt, kann sich, von Ari dazu später befragt, an derartiges nicht erinnern. Diese Traumsequenz kehrt im Film mehrmals wieder, immer in leicht veränderter Form, bis die Schlusssequenz, die Ari am Ort

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Abbildung 61: Waltz with Bashir (Isr/F/D 2008), Regie und Drehbuch: Ari Folman, Chefillustrator: David Polonsky, Originaltitel: ISR, ”› ¡œ ¨˜§ (Vals Im Bashir). Copyright © Sony Pictures Classics 2008.

der Massaker zeigt, diesen Traum als eine sogenannte Deckerinnung erkennbar werden lässt, die an die Stelle einer Erinnerung an die Massaker selbst getreten war. Aber auch die nun rekonstruierte bzw. erkennbare Erinnerung – die zudem als Teil der Erinnerung eines anderen Zeugen von damals und aus dessen Perspektive ins Bild kommt – lässt nur darauf schließen, dass Ari vor Ort gewesen zu sein scheint, aber auch dieses Bild zeigt weder den Ort noch die Art seiner Beteiligung am Geschehen eindeutig, und zudem widersprechen der Text der Erzählung und gleichzeitig sichtbare Bilder einander immer wieder. Ari scheint Abbildung 62: Waltz with Bashir (Isr/F/D 2008), Copyright © Sony Pictures Classics 2008.

am Ende mitten im Lager zu stehen, in dem gerade die Massaker beendet wurden, erinnert aber zugleich, sich gemeinsam mit anderen Kameraden auf dem Dach eines nahen Gebäudes (des israelischen Beobachtungspostens) befunden zu haben, ohne sagen zu können, was er dort oben getan hat. All diese Fragen

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bleiben, bis auf eine offenkundige, aber nicht genauer spezifizierte Mitverantwortung Aris, auch am Ende weiter offen. Wenngleich neben Folmans explizitem dokumentarischen Anspruch einer autobiografischen Dokumentation historischer Ereignisse7 auch die Existenz aller gezeichneten Figuren bzw. Gesprächspartner_innen Aris (ehemalige Kameraden, Freunde, Psychoanalytiker_innen) als reale (außerdiegetische) Personen, deren volle Namen (in deutscher und hebräischer Sprache) als Text in der oberen rechten Bildhälfte8 bei ihrem ersten Auftritt eingeblendet zu lesen und deren Originalstimmen zudem (bis auf einzelne Ausnahmen) zu hören sind, sowie der Einsatz von Originalaufnahmen der Opfer in Sabra und Shatila am Ende des Films einem Realismusbegriff verpflichtet zu sein scheinen, so sprechen doch entscheidende Aspekte gegen eine derartige Interpretation. Es sind vielmehr gerade Techniken der Evidenzproduktion wie diese, die durch Erzählung, Montage und Darstellungsstrategien in ihrer Widersprüchlichkeit und Brüchigkeit, also in ihrer Kontingenz und vor allem ihrer Produktivität thematisiert und damit zur Debatte gestellt werden. Schon Folmans Betonung, dass gezeichnete Bilder bzw. Animation für ihn der einzig richtige Weg für die Umsetzung gerade des dokumentarischen Anspruchs gewesen seien,9 weist darauf hin, dass es nicht um eine Gegenüberstellung ›subjektiver‹ versus ›objektiver‹ Wiedergabe von Realität geht, sondern vielmehr um die Frage der Herstellung und Beschaffenheit von Realitätskonstruktionen. Aber nicht nur Waltz with Bashir, sondern auch eine gerade in den letzten Jahren zu beobachtende augenfällige Vielzahl von Comic-Produktionen bzw. graphic novels (sowie deren Verfilmungen), die sich mit zeithistorischen politischen Ereignissen aus autobiografischer Perspektive auseinandersetzen,10 lassen die Frage nach dem spezifischen Potential und der Funktion von Comics als Genre und als Technik in Bezug auf das Verhandeln eines Begriffs von Realität bzw. auf die Auseinandersetzung mit Realitätskonstruktionen noch dringlicher in den Blickpunkt rücken. Dass jedes Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Erinnerungsbild sich aus unterschiedlichen und mehr oder weniger flüchtigen Dimensionen, Ebenen und Schichtungen laufend neu formiert, wird in Waltz with Bashir explizit thematisiert – unter anderem auch durch die Gestaltung der verschiedenen Bildschichten von Vordergrund und Hintergrund innerhalb einer Einstellung bzw. eines Panels in sehr unterschiedlichen Darstellungstechniken. Während Personen und Gesichter comic-typisch durch wenige, an Tuschezeichnungen erinnernde schwarze Umrisslinien klar umgrenzt und zugleich weitgehend ohne Binnenstruktur oder Farbschattierungen gezeichnet sind, zeigt die Hintergrundgestaltung demgegenüber einen auffälligen, oft beinahe fotorealistischen Detailreichtum und zum Teil eine nahezu impressionistisch flirrende Atmosphäre sowie Landschaften, in denen verschwommen erkennbare Objekte konturlos ineinander übergehen. Diese sehr unterschiedlichen, ineinander greifenden Schichtungen und Bildelemente fungieren wie Versatzstücke ver-

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Abbildung 63/64: Waltz with Bashir (Isr/F/D 2008), Copyright © Sony Pictures Classics 2008.

schiedener Realitäten, die einander keineswegs bestätigen oder absichern, um ein klares Ganzes zu ergeben, sondern, im Gegenteil, jegliche Sicherheit eines eindeutigen Bildes von Realität verhindern. Dazu trägt nicht nur im Film die mit harten Gegensätzen operierende selektive Tonspur bei,11 sondern zum Beispiel auch diegetisch motivierte, im Comic durchaus gängige, ›unrealistische‹ Größenverhältnisse, wie sie besonders deutlich in mehreren Traumsequenzen zum Einsatz kommen. In diesen surreal anmutenden Traumbildern bewegen sich neben vergleichsweise winzigen Protagonisten übergroß dimensionierte weibliche Figuren, die weder räumlich noch inhaltlich-relational eindeutig zu verorten sind12. Diese Unsicherheit bzw. Verunsicherung von Zuordnungen setzt sich fort in der scheinbar redundanten Wiederkehr einzelner Szenen wie etwa der bereits erwähnten ›Badeszene‹ am Strand einer Großstadt. Diese Sequenz, die einmal durch die Erzählstimme aus dem Off an einem Strand in Westbeirut verortet wird und sich später als Aris Deckerinnerung in Bezug auf die Massaker in den palästinensischen Lagern im Süden Beiruts erweist, unterliegt im Lauf der Erzählung jedes Mal leichten Veränderungen, auch auf der Tonspur bzw. im Text. Wiederholung wird damit als ein immer schon unumgänglich mit Verschiebung und Überblendung verbundener Mechanismus wahrnehmbar. Wenn Aris Versuche, seine Erinnerungslücken zu füllen, um zu einem geschlossenen Bild des Geschehenen zu gelangen, mit dem Hinweis eines be-

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Abbildung 65/66: Waltz with Bashir (Isr/F/D 2008), Copyright © Sony Pictures Classics 2008.

freundeten Psychoanalytikers konfrontiert werden, dass Erinnerungen nicht als aufbewahrte Objekte, sondern als laufend neu hervorgebrachte Produktionen zu verstehen seien und nicht nur Verdrängung, sondern auch stellvertretende Deckerinnerungen stets eine Funktion erfüllen, so dient dies zunächst zwar als Hinweis auf die Assoziation der Massaker in den Lagern Sabra und Shatila mit anderen, historisch weiter zurückliegenden Massakern in anderen Lagern, konkret in Auschwitz, wo Aris bzw. Folmans Eltern waren, und auf Aris davon bestimmtes unbewusstes Schuldgefühl, in Sabra und Shatila selbst quasi die Rolle des Nazis übernommen zu haben. Gleichzeitig aber lässt sich der Bedeutungszusammenhang dieser Referenzen keineswegs auf eine klare Assoziationskette (wie z.B. Sabra und Shatila – Auschwitz – persönliche Schuld) eingrenzen, wiewohl auch diese bereits als unabschließbar komplex und unmöglich restlos erfassbar zu betrachten ist. Vielmehr ist es die Funktionsweise von Wahrnehmung überhaupt – als signifizierende (Bedeutung generierende) Herstellung von Realität –, die in Waltz with Bashir auf unterschiedlichsten Ebenen verhandelt wird und die die Herstellung von Bedeutung als Herstellung von Realität begreifbar macht. Die comic-theoretisch hinreichend belegten zahlreichen Bezüge des Comics zum Film in Verfahrensweisen und Technik, wie z.B. Montage, Einstellungsgrößen (Totale, Close-up etc.), Kameraperspektive (High Angle, Over Shoulder, Subjektive Kamera, Eyeline Match oder Shot-Reverse-Shot etc.), Erzählstruktur, Bewegungsabläufen, Kadrierung, Mise en scène usf. erweisen sich für eine solche Auseinandersetzung als prädestinierte Instrumentarien, die in Waltz with Bashir nicht nur produktiv gemacht, sondern als Techniken der Realitätsproduktion auch vielfältig exponiert werden. Dafür eigneten sich gezeichnete Bilder insofern besonders gut, als sie aufgrund ihrer assoziativen und nicht auf Kohärenz ausgerichteten Darstellungsmöglichkeiten eine Visualisierung der grundsätzlichen Uneinlösbarkeit von Eindeutigkeit jeglicher Repräsentation ermöglichen, indem sie deren konstituierende Mechanismen gleichsam ausstellen.

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Auch und gerade die kurze Sequenz von Originalaufnahmen über die Massaker von Sabra und Shatila am Ende von Waltz with Bashir fungiert eben nicht als Absicherung einer – etwa davor in den Zeichnungen etablierten – eindeutigen Wahrheit, der sich Ari am Ende stellt. Vielmehr setzt sich die in den vorangegangenen gezeichneten Bildern und Erzählungen entwickelte Komplexität und vielfältige Schichtung von Verweisstrukturen mit dem Einsatz der Originalaufnahmen fort. Die auf diese Weise bis hierhin aufgebaute Sensibilisierung für Repräsentations- und Wahrnehmungsmechanismen bricht nicht einfach ab, sondern befördert auch an dieser Stelle eine erhöhte Aufmerksamkeit für die Kontingenz und den Bedeutungsüberschuss jeglicher Repräsentation und Wahrnehmung. Die gezeichneten Erinnerungsbilder, die sich weder eindeutig Ari noch seinem Gesprächspartner, einem israelischen Kriegsreporter, zuordnen lassen, und die die verwüsteten Lager und schließlich laut klagende Überlebende der Massaker (zum Teil aus subjektiver Kameraperspektive) zeigen, gehen unmittelbar in die Originalaufnahmen der klagenden Überlebenden in Sabra Abbildung 67-70: Waltz with Bashir (Isr/F/D 2008), Copyright © Sony Pictures Classics 2008.

und Shatila über (auf der Tonspur setzen sich die arabischsprachigen Klagerufe nahtlos fort), dann bricht die Tonspur ab und die Aufnahmen von Leichen, mit denen der Film endet, bleiben ohne jegliche Audio- oder Textbegleitung gänzlich ton- und wortlos. Die auf diese Weise begreifbar werdende Überdeterminierung der Bilder verdeutlicht zugleich, dass diese sich im Verhältnis zu damit angedeuteten Realitäten als notwendig inadäquat erweisen, da der die jegliche Wahrnehmung bzw. Repräsentation unumgänglich bestimmende Bedeutungsüberschuss das Herstellen von Eindeutigkeit im Sinn vollständigen

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Erfassens etwa einer spezifischen Realität als erschöpfend darstellbares Ganzes ausschließt. Vergleichbares gilt für die Frage von Schuld bzw. Verantwortung – die sich mit der Kritik an problematischen Vereindeutigungsversuchen nicht etwa einfach erledigt, sondern vielmehr neu stellt. Auch die Originalaufnahmen der Klagenden oder der Leichen erklären sich nicht etwa restlos selbst, sondern werfen die Frage der Involviertheit als eine offene, notwendig zu bearbeitende und unabschließbare Frage auf, die keine eindeutige Verortung von Verantwortung an einem der jeweiligen Erzähler_in bzw. Betrachter_in äußerlichen Punkt erlaubt. Wahrnehmen wird so als Herstellen – von Realität – verstehbar. Ein vergleichbares Beispiel einer Kombination von Originalaufnahmen (in diesem Fall Fotografien) und gezeichneten Bildern bildet Der Fotograf von Guibert/Lefèvre/Lemercier (2003-2006).13 In drei Bänden erzählt Der Fotograf die Geschichte einer dreimonatigen Reportagereise des Fotografen Didier Lefèvre 1986 in den Nordosten Afghanistans, das seit dem 1979 begonnenen offenen Krieg zwischen den sowjetischen Invasoren und den vom Westen unterstützten islamischen Mudschaheddin Kriegsgebiet ist. Sein Auftrag, die Errichtung eines Lazaretts in einem abgelegenen Tal durch die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen zu dokumentieren, führt ihn von Frankreich nach Pakistan, über die Berge nach Afghanistan und anschließend wieder zurück. Sein Fokus richtet sich nicht allein auf die humanitäre Mission, sondern vor allem auf die Auswirkungen des Kriegs auf das Leben in diesen Gebieten. Auch in diesem Fall handelt es sich um eine graphic novel mit dokumentarischem Anspruch (»histoire vécue«), die von der Kritik in erster Linie als ›authentische Dokumentation‹ und als ›authentisch-historischer Blick auf eine Region‹ gefeiert wurde. Die Fotografien Lefèvres werden dabei vorwiegend als authentifizierender Beleg der vom Illustrator Guibert gezeichneten Geschichte interpretiert und Zeichnung und Text umgekehrt als Erklärung der Fotos. Für eine derartige Interpretation scheinen zunächst Aspekte wie die Verwendung von Schwarz-Weiß-Fotos oder in Karten gezeichnete Routenangaben in den Innenseiten der Buchdeckel jedes Bandes zu sprechen, aber auch der einführende Text einer Historikerin am Beginn des zweiten Bandes, nachdem der erste Band noch ohne einleitenden Metatext auskam. Dem dritten Band liegt (in der französischen Originalausgabe) zudem eine DVD mit Videoaufnahmen der Expedition bei. Aber auch hier verdient die Frage, welche Funktion die Zeichnungen und deren Kombination mit den Fotografien erfüllen und ob es dabei tatsächlich um Authentifizierung geht, genauere Betrachtung. Diese Frage ist umso interessanter, als in diesem Fall, anders als in Waltz with Bashir, die Originalaufnahmen nicht bloß am Ende, sondern in unterschiedlicher Zusammenstellung und unterschiedlichen Dimensionen durch die gesamte Erzählung hindurch zwischen die Zeichnungen montiert sind, einerseits zeigen mehrere aufeinanderfolgende Seiten ausschließlich Fotos, während andererseits ganze Seiten ausschließlich gezeichnet sind. Obwohl also auch Der Fotograf mit einem de-

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Abbildung 71: Emmanuel Guibert, Didier Lefèvre, Frédéric Lemercier, Le Photographe, 3 volumes, Paris: Editions Dupuis, 2003-2006. Copyright © Editions Dupuis, 2003-2006.

Abbildung 72: Guibert/Lefèvre/Lemercier, Der Fotograf, 2003-06, Copyright © Editions Dupuis, 2003-2006.

zidiert dokumentarischen Anspruch aufzutreten scheint, fungieren weder die Fotos eindeutig als Authentifizierung der Zeichnungen, noch diese als Illustration der Fotos, noch der Text bloß als Erklärung der Bilder. Vielmehr rückt auch hier der Herstellungsprozess selbst – als kontingenter und produktiver Akt – ins Bild. Denn die Fotos sind vorwiegend als Kontaktabzüge eingesetzt, wobei stets sowohl der schwarze Rand und die Perforation des Films zu sehen sind, als auch die Markierungen für die Montage ausgewählter Einzelbilder. Im Hochformat aufgenommene Motive sind im Querformat des Kontaktstreifens um 90 Grad gedreht liegend zu sehen. Während die gezeichneten Panels weitgehend ein Format von vier Panelzeilen pro Seite beibehalten, erscheinen die Fotos in sehr unterschiedlicher Größe, über- oder unterragen teilweise die voneinander stets durch einen Abstand abgesetzten Zeichnungen bzw. andere Fotos und weisen das Resultat deutlich als Montage bzw. Collage aus. Die Texte in Sprechblasen oder eigenen Textpanels sind ausschließlich gezeichnet, ebenso wie die mit wenigen Linien angedeuteten Karten in den Innenseiten der Buchdeckel, in denen lediglich einfache Linien die Staatsgrenzen und die Route angeben. Eine auf ähnliche Weise großen Interpretations- und Assoziationsspielraum bietende weitgehende Reduktion der Information kennzeichnet die Zeichnungen, in denen die Figuren meist wie vor Bluescreens freigestellt, vor monochromem

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Abbildung 73/74: Guibert/Lefèvre/Lemercier, Der Fotograf, 2003-06, Copyright © Editions Dupuis, 2003-2006.

oder einfach weißem Hintergrund ohne jegliche Binnenzeichnung zu sehen sind14. In dieser Montage und Reflexion unterschiedlicher Darstellungstechniken aufeinander (kolorierte Zeichungen, Schwarz-Weiß-Fotografie, Landkarten, Text) werden – diese üblicherweise zugeschriebenen – Authentifizierungsqualitäten gerade kritisch befragbar. Zudem hat Der Fotograf nicht einen Autor, sondern drei, wobei die Zeichnungen Guiberts nicht dessen Erlebnisse und Erinnerungen wiedergeben, sondern nach den Erzählungen Lefèvres und dessen Originalfotografien angefertigt, vom Grafiker Lemercier koloriert und von diesem – zusammen mit den Fotografien – montiert wurden. Keineswegs vereindeutigend wirkt außerdem der programmatische Titel der Trilogie, der nicht etwa »Afghanistan« oder »Dokumentation einer humanitären Mission« lautet, sondern »Der Fotograf«; ein Titel, der zumindest anregt zu Aufmerksamkeit für die Frage der Konstituierung eines Subjekts des Fotografierens, Fotografieren als situiertes Herstellen von Bildern einer Realität sowie die Frage der Vermitteltheit von Wahrnehmung bzw. wahrgenommener Realitäten. Das Einfügen von (Schwarz-Weiß-)Fotografien in einen Comic unter diesem Titel ruft unweigerlich sowohl die Idee der der Fotografie seit ihrer Erfindung zugeschriebenen besonderen Wirklichkeitstreue auf, als auch die ebenfalls seit ihrer Erfindung artikulierte Kritik dieser Vorstellung, die ungeachtet der mit dem Aufkommen digitaler Bildbearbeitung und damit verknüpfter Manipulationsvorwürfe letztlich nie ihre Wirkmächtigkeit verlor. Vor allem aber ruft der Einsatz von Fotografie in einem Comic über Krieg und Vernichtung die

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Frage der Grenzen von Darstellung als solcher auf. Diese Frage der Grenzen von Darstellung und der Funktionsweise von Erinnerung und Repräsentation wurde insbesondere seit der Ausstellung Mémoire des camps 2001 und Georges Didi-Hubermans Auseinandersetzung mit der Veröffentlichungsgeschichte von vier in der Ausstellung präsentierten Fotografien, die 1944 von Häftlingen in Auschwitz-Birkenau unbemerkt aufgenommen und aus dem Lager gebracht werden konnten, heftig debattiert.15 Zur Debatte stand (bzw. steht) die (Un-)Vorstellbarkeit von Auschwitz und die daraus folgenden Konsequenzen für eine (sprachliche, fotografische, filmische) Auseinandersetzung mit dem Nicht-Darstellbaren, für das Auschwitz zum Synonym geworden war. Didi-Hubermans Argument einer Entscheidung für »Bilder trotz allem« betont die Option des Sich-trotz-allem-ein-Bild-Machens als »faktische Möglichkeit trotz der theoretischen Unmöglichkeit« als ethische Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit dem Nicht-Darstellbaren.16 Die ethische und politische Verantwortung begründet sich darin, dass jegliche Aussage über bzw. Repräsentation von Realität notwendig immer schon Resultat eines selektiven und vielfach bedingten Herstellungsprozesses und in diesem Sinn immer schon notwendig medial im Sinn einer konstituierenden Vermitteltheit ist.17 Auf die Vermitteltheit der Wahrnehmung gerade auch jener Bilder aus Auschwitz macht auch Art Spiegelman an einer Stelle in MAUS aufmerksam, indem er sie zitiert und sie zitierend innerhalb eines Panels ineinanderblendet, einige in den Vorbildern nicht vorhandene Elemente, wie etwa zusätzliche Figuren, einfügt und das Panel durch einen welligen bzw. wabernden Rand als Überlagerung, Zitat und zudem Erinnerungsbild des erzählenden Vaters, der das Konzentrationslager überlebt hat, kenntlich macht18. Zugleich wird durch die nicht überlieferten Elemente auf eine deutlich größere Brutalität des Geschehens verwiesen als Dokumente und Zeugnisse belegen.19 Auch Folman zitiert in Waltz with Bashir ein bekanntes historisches Foto, um auf die Vermitteltheit von Wahrnehmung (Erinnerung, Repräsentation, Realität) zu verweisen, nämlich das Foto eines kleinen Jungen mit erhobenen Händen in einer Gruppe von Juden, die aus dem Warschauer Ghetto zum Sammelplatz für ihre Deportation getrieben werden. Das dieses Foto zitierende Bild steht am Beginn der Erzählung des israelischen Kriegsreporters über das Ende der Massaker in Sabra und Shatila am Ende des Films, dessen Zeuge er wurde. In seiner Erzählung erwähnt der Reporter seine Assoziation des Anblicks der von den christlichen Milizen aus dem Lager getriebenen palästinensischen Überlebenden mit dieser Fotografie.20 Da diese Erzählung zum vorläufigen Ende von Aris Erinnerungsspurensuche und der daran geknüpften Schuldfrage führt, ist diese Assoziation insofern bemerkenswert, als das zitierte Foto die Perspektive eines Nazis wiedergibt.21 Vergleichbar dem Einsatz von Schwarz Weiß-Fotografien in Der Fotograf wird zudem am Ende von Waltz with Bashir der Einsatz und die gängige Rezeption von HandkameraAufnahmen als Authentifizierungstechnik befragt, indem die handkameraartig

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Abbildung 75: Art Spiegelman, Maus II, 1992.

Abbildung 76: Waltz with Bashir (Isr/F/D 2008), Copyright © Sony Pictures Classics 2008.

unruhigen Originalaufnahmen aus Sabra und Shatila auf eine gezeichnete Sequenz der augenscheinlich selben Situation – allerdings aus einer subjektiven Perspektive der Kamera – folgen und durch diese quasi vorbereitet werden. Eine diesem Perspektivenwechsel vergleichbare Funktion scheinen in Der Fotograf die Markierungen der Kontaktabzüge zu übernehmen. Auch wenn in Der Fotograf andere Darstellungsstrategien angewendet werden als in Waltz with Bashir, so wird auch hier in der Kombination von Originalaufnahmen (Fotografien), Zeichungen und Text bzw. mit der Gestaltung als Comic und entsprechenden Erzähl- und Visualisierungsstrategien ein dokumentarischer Anspruch eben nicht effektuiert, sondern thematisiert und in unterschiedlichen Schichtungen von Realitätskonstruktionen wahrnehmbar gemacht. Dass die Kombination von Fotografie und Zeichnung nicht Voraussetzung für eine repräsentationskritische Auseinandersetzung mit der (Re-)Konstruktion historischer Realitäten und das Ausloten comic-spezifischer Darstellungsstrategien – einschließlich der Animation – ist, zeigt Marjane Satrapis ebenfalls autobiografisch-dokumentarischer Animationsfilm Persepolis,22 der – im Unterschied zu Waltz with Bashir – nach dem Erscheinen der gleichnamigen, vierbändigen graphic novel produziert wurde. Die in diesem Fall ausschließlich gezeichnete, auf Fotos verzichtende »Autofiktion« (Satrapi) erzählt in SchwarzWeiß-Bildern die Geschichte von Marjane, beginnend mit ihrer Kindheit zur Zeit der Islamischen Revolution im Iran, berichtet sie von Indoktrination und Repressionen unter der neuen Regierung und Auflehnung gegen diese; von Folterungen, Verhaftungen und Hinrichtungen sowohl unter dem Schah-Regime als auch unter den Islamisten, von den Schrecken des irakisch-iranischen Krieges und schließlich von Marjanes Exil in Wien, ihrer Rückkehr in den Iran und ihrer neuerliche Auswanderung nach Paris. Auch Persepolis behauptet mit dem von Art Spiegelman inspirierten ausschließlichen Einsatz von Schwarz-WeißZeichnungen und dem Anspielen auf den mit Schwarz-Weiß-Bildern gängigerweise assoziierten Archiv- bzw. Dokumentcharakter keineswegs den Anspruch

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von Authentizität, sondern thematisiert diesen. Dafür spricht auch das Einfügen einiger weniger Farb-Momente in die Filmversion. An wenigen Punkten des Films, vor allem am Beginn und am Ende, stehen einzelne Einstellungen in Farbe, die die Erzählgegenwart markieren und diese teilweise simultan mit der Zeitebene des Erzählten verbinden. Die Simultaneität verschiedener Zeitebenen findet sich bereits in Art Spiegelmans MAUS-Comic.23 Und auch in PerseAbbildung 77: Persepolis (F 2007), Regie und Drehbuch: Marjane Satrapi & Vincent Paronnaud, Copyright © Sony Pictures Classics 2007.

polis bieten die Farbzeichnungen der Erzählgegenwart, die eine Transitsituation auf einem Flughafen zeigen, keine Fixpunkte eines Gegenwärtigen, sondern deuten vielmehr auf eine grundlegende Flüchtigkeit desselben, auf Momente innerhalb prozesshafter und unabsehbarer Bewegungen. Auch diese Farbbilder an Beginn und Ende der Filmerzählung bilden somit keine abschließenden Grenzen derselben, sondern kontingente Augenpunkte einer Perspektive, die immer nur eine von zahllosen möglichen Perspektiven sein kann. Mit diesem Fokus auf Wahrnehmungs- und Herstellungsprozessen von Realität sowie auf Praktiken und Strategien ihrer Thematisierung geht es mir nicht um einen Konstruktivismus im Sinn eines bloßen Verweises auf Konstruiertheit oder je konkrete Formen medialer Vermitteltheit. Ebenso wenig geht es um eine polarisierende Charakterisierung etwa von Comics als repräsentationskritisch-analytisch gegenüber anderen Repräsentationspraxen als naturalisierend. Vielmehr geht es um die Bedingungen und Möglichkeiten von Repräsentation, wenn davon auszugehen ist, dass Wahrnehmung grundsätzlich kontingent ist und somit unmöglich jemals unvermittelt sein kann. Damit ist keine Aussage

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über eine Existenz oder Nicht-Existenz von Realität getroffen, sondern darüber, dass kein unvermittelter Zugang zu einer außersprachlichen, also nicht-bedeuteten Realität verfügbar ist – woraus nicht nur in epistemologischer, sondern auch in politischer Hinsicht Konsequenzen zu ziehen sind.24 Die eingangs erwähnte vorherrschende Interpretation dokumentarischer graphic novels bzw. Animationsfilme wie Waltz with Bashir, Der Fotograf oder Persepolis als besonders ›realistisch‹, ›echt‹ und daher ›bewegend‹ scheint angesichts eines mittlerweile nahezu unüberschaubaren aktuellen Angebots an Filmen (z.B. Kriegsfilmen), die das Publikum mittels auditiver und visueller Special Effects quasi ›überrealistisch‹ bzw. ›immersiv‹ ins dargestellte Geschehen zu versetzen suchen, paradox. Dennoch ist diese Faszination kaum allein einer Vorstellung von ›Eigentlichkeit‹ und dem Begehren nach Kohärenz, Eindeutigkeit und Absicherung geschuldet, sondern trifft im Gegenteil gerade im Comic auf konkrete Perspektiven für den Umgang mit einem ebenso bedrohlichen wie konstitutiven Moment, nämlich mit der grundlegenden Unmöglichkeit, Bedeutung, Identität und Realität als eindeutige, klar umgrenzte Einheit zu definieren, zu erfassen und zu fixieren. Gerade vor dem Hintergrund einer auf ›Immersionseffekte‹ ausgerichteten game- und filmästhetischen Wahrnehmungskonditionierung bietet der Comic – als graphic novel wie auch als Animationsfilm – als gezeichnete Repräsentation spezifische Möglichkeiten, analytische Akzente zu setzen. Gängige Formen einer naturalisierenden Ästhetik und entsprechender Rezeptionsweisen werden im Comic durch eine spannungs- und widerspruchsreiche Konstellierung heterogener Momente der Darstellung als Konstruktion von Kohärenz visualisierbar, indem die vielfältige Schichtung und Bedingtheit der Herstellung – als prozesshafte und unabschließbare – exponiert wird, wie die genannten Beispiele verdeutlichen. Problematisiert wird damit die Vorstellung einer außersprachlichen (nicht-bedeuteten), eindeutigen und in dieser Eindeutigkeit erinnerbaren und darstellbaren Realität. Fern jeglichen Relativismus oder Fatalismus wird hier vielmehr die Präzisierung eines Begriffs von Medialität als realitäts-konstituierende Vermitteltheit formulierbar, welcher Medialität nicht als Gegenpol sondern als Grundlage von Realität versteht.25 In diesem Sinn ist Medialität nicht etwa z.B. mit einzelnen Medien, sondern mit einem Begriff des Politischen zu verknüpfen, der insofern von Politik zu unterscheiden ist, als das Politische die unumgängliche Konfrontation mit dem Moment radikaler Bedingtheit markiert, während Politik der je konkrete Versuch ist, diese Bedingtheit durch temporäre Fixierungen – Repräsentationen – in den Griff zu bekommen.26 Die Unmöglichkeit einer (ab-)schließenden, eindeutigen und endgültigen Aussage über Realität bedeutet keineswegs, dass sich das Aussagen deshalb erübrigte. Im Gegenteil: Gerade diese Unmöglichkeit eindeutiger Fixierung von Bedeutung wirkt zugleich als konstitutiv ermöglichendes Moment, insofern sie das Herstellen je konkreter, stets temporärer und durch Überschuss gekennzeichneter Bedeutung als unabschließbare Bewegung aufrechterhält – als

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Notwendigkeit und als Möglichkeitsbedingung. Die genannten Comics verdeutlichen nicht nur die Unumgänglichkeit, »sich ein Bild zu machen«, Bedeutung herzustellen, Entscheidungen zu treffen, Realität zu setzen, also auf der Ebene der Politik temporär die Illusion von Kohärenz und Eindeutigkeit zu konstruieren, und dass aus deren Uneinlösbarkeit keineswegs Beliebigkeit resultiert. Sie verweisen vor allem auf die daraus – und nicht etwa aus spezifischen Definitionen moralischer Werte – resultierende ethische und politische Verantwortung, gerade diese Unmöglichkeit als Moment des Politischen wahrzunehmen und als – notwendig antagonistischen – Verhandlungsspielraum offenzuhalten. Dieser Begriff von Verantwortung lässt keine vereindeutigende Dichotomisierung etwa von ›aktiver‹ Produktion versus ›passiver‹ Rezeption zu, sondern berücksichtigt die produktive Funktion von Wahrnehmung als das Herstellen von Realität, in das wir nicht bloß als scheinbar eindeutig ›aktiv‹ Handelnde, sondern immer schon als Wahrnehmende und Artikulierende z.B. als Leser_innen und Filmzuschauer_innen produktiv und somit verantwortlich involviert sind.

A NMERKUNGEN 1 | Waltz with Bashir (ISR/F/D 2008), Regie und Drehbuch: Ari Folman, Chefillustrator: David Polonsky, Originaltitel: ISR, ”›  ¡œ ¨˜§ (Vals Im Bashir), 87 Minuten, Pandora Film; zahlreiche Auszeichnungen (Golden Globe, César u.a.) und Nominierungen (Academy Awards u.a.); Vgl. Ruprecht Skasa-Weiß (Stuttgarter Zeitung, 13.05.2008, 16), Hanns-Georg Rodek (Die Welt, 16.05.2008), Andreas Borcholte (Spiegel Online,16. Mai 2008) oder Diedrich Diederichsen (Die Zeit, 06.11.2008) sowie auf: http:// waltz-with-bashir.pandorafilm.de/press.php (last access 02.01.2010). 2 | Vgl. z.B. Birte Lüdeking, auf: www.critic.de/filme/detail/film/waltz-with-bashir1431.html, (last access 02.01.2010) oder Nana A.T. Rebhan, auf: www.arte.tv/de/film/ CANNES-2008/Alle-Filme/2045282.html (last access 02.01.2010). 3 | Vgl. A Scanner Darkly (USA 2006), Regie und Drehbuch: Richard Linklater, 100 Minuten. 4 | Grundlage der Zeichnungen war ein Storyboard bzw. Story Reel (Animatic) auf Basis der Recherchen und gefilmter Interviews, das anschließend animiert wurde. 5 | Ari Folman/David Polonsky (2009): Waltz with Bashir. Eine Kriegsgeschichte aus dem Libanon (Graphic Novel). Grafik/Text: Ari Folman/David Polonsky, Storyboard des Films (Grundlage des Comics): Yoni Goodman, Originalaufnahmen von den Massakern in Sabra und Shatila 1982: Robin Moyer, Übersetzung: Heinz Freitag/Pandora Film Verleih, Zürich: Atrium Verlag; engl.: dies. (2009): Waltz with Bashir. A Lebanon War Story, (Metropolitan 2009) London: Books/Atlantic Books. 6 | Vgl. dazu The Beirut Massacre: The Complete Kahan Commission Report (1983), Princeton (NJ): Karz-Cohl; Leila Shahid (2002): »The Sabra and Shatila Massacres: Eye-Witness Reports«. In: Journal of Palestine Studies Bd. 32, Nr. 1 (Herbst), S. 36-58;

D AS P OLITISCHE TROTZ ALLEM Thomas L. Friedman (1982): »Beirut Massacre: The Four Days«. In: New York Times, 26. September1982; Jillian Becker (1984): The PLO, London: Weidenfeld und Nicolson, ; United Nations, General Assembly (1982), A/RES/37/123(A-F) of 16 December 1982 Punkt D, auf: http://domino.un.org/UNISPAL.NSF/ (last access 02.01.2010). 7 | Vgl. dazu das Interview von Ralf Krämer mit Ari Folman: »Ich bin kein Verschwörungstyp«, taz.de, 06.11.2008, auf: www.taz.de/1/leben/film/artikel/1/ich-bin-keinverschwoerungstyp/, (last access 02.01.2010) sowie die offizielle Film-Homepage: http://waltz-with-bashir.pandorafilm.de/press.php (last access 02.01.2010). 8 | In der Buchversion werden die Namen in eigenen Textfeldern als Teil einer Rede oder eines Offtextes eingeführt. 9 | Interview, taz.de, 06.11.2008, auf www.taz.de/1/leben/film/artikel/1/ich-binkein-verschwoerungstyp/ (last access 02.01.2010). 10 | Vgl. z.B. Joe Sacco: Palestine (1993/2001); ders.: Safe Area Goražde (2000); Rutu Modan: Blutspuren (2008); Guy Delisle: Chroniques Birmanes (2007); Josh Neufeld: A.D. New Orleans After the Deluge (2009); Guibert, Lefèvre, Lemercier: Le Photographe (2003-2006, dt. 2008-2009) oder Marjane Satrapi & Vincent Paronnaud: Persepolis (2000-2003, dt. 2004; Film: 2007) und zahlreiche weitere graphic novels, für die nicht zuletzt Art Spiegelmans MAUS. A Survivor’s Tale (1986/1991) als bahnbrechende Inspirationsquelle gelten kann. 11 | Lange Sequenzen, in denen z.B. entweder ausschließlich gesprochener Text ohne Hintergrundgeräusche, oder ausschließlich Gefechtslärm, oder aber ausschließlich sphärische Hintergrundmusik zu hören sind. 12 | In Bezug auf die Funktion und die Gestaltung von Traumsequenzen in Art Spiegelmans Comics (MAUS; Breakdowns) verweist Kathrin Hoffmann-Curtius auf das von Sigmund Freud hervorgehobene Funktionieren von Traumarbeit als Sichtbarmachung bzw. Umarbeitung ins Anschauliche von nicht ertragbarem Erlebten in eine ertragbare, weil nicht-eindeutige Form. Dass der Comic sich hierfür als besonders geeignet erweist, erkannte auch Freud, wie eine in seine Publikation zur Traumdeutung eingefügte ComicSequenz zeigt. (Kathrin Hoffmann-Curtius (2010): »Re-Rezipierte Erinnerung an den NS in Comicsequenzen von Art Spiegelman und Volker Reiche«. In: Reservoir, Festschrift für Silke Wenk, Bielefeld: transcript). Ich danke Kathrin Hoffmann-Curtius für wertvolle Hinweise und für das Zurverfügungstellen des Manuskripts. 13 | Emmanuel Guibert, Didier Lefèvre, Frédéric Lemercier: Le Photographe. Histoire vécue, photographiée et racontée par Didier Lefèvre, Ecrite et dessinée par Emmanuel Guibert, Mise en page et en couleur par Lemercier Frédéric, 3 volumes, Editions Dupuis, 2003-2006; deutsche Übersetzung: Der Fotograf Band 1 – In den Bergen Afghanistans (2008), Der Fotograf Band 2 – Ärzte ohne Grenzen (2009), Der Fotograf Band 3 – Allein nach Pakistan (2009), aus dem Französischen von Martin Budde, Zürich: Edition Moderne. 14 | Zur Bedeutung des Weiß bzw. weißer Zwischenräume zwischen den Panels, die nicht einfach leer sind, sondern durch Assoziationen überdeterminiert, vgl. Ole Frahm (2004): »These papers had too many memories. So I burned them.« Genealogisches

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S USANNE L UMMERDING Eingedenken in Art Spiegelmans Comic MAUS. In: Bildwelten des Wissens. Kunsthistorische Jahrbuch für Bildkritik. 2/1, S. 41-53, hier S. 52; und Frahm: Genealogie des Holocaust. Art Spiegelmans MAUS – A Survivors’s Tale, München: Fink 2006, S. 271-272. 15 | Georges Didi-Huberman (2003): Images malgré tout, Paris: Éditions de Minuit (dt.: Didi-Huberman, Georges (2007): Bilder trotz allem, Übersetzung aus dem Französischen von Peter Geimer, Paderborn: Fink). 16 | Ebd., S. 252-256. 17 | Siehe dazu Susanne Lummerding (2005): Agency@? Cyber-Diskurse, Subjektkonstituierung und Handlungsfähigkeit im Feld des Politischen, Wien/Köln/Weimar: Böhlau, S. 97-181, S. 241-275; dies. (2008): »Ohne Garantie. Kontingenz und der Begriff des Politischen«. In: Jörg Huber/Philipp Stoellger (Hg.), Gestalten der Kontingenz: Ein Bilderbuch, Zürich/Wien/New York: Edition Volldemeer/Springer, S. 101-110; sowie dies. (2009): »Von U nach B oder: B(w) ist immer schon U(bw). Zur Medialität von Binärstrukturen«. In: Christina von Braun, Inge Stephan, Dorothea Dornhof, Eva Johach (Hg.), Das Unbewusste. Krisis und Kapital der Wissenschaften, Berlin: transcript, S. 301-316. 18 | Vgl. dazu Ole Frahm (2006): Genealogie des Holocaust. Art Spiegelmans MAUS – A Survivors’s Tale, München: Fink, S. 219-224. 19 | Vgl. ebd., S. 222. 20 | Vgl. die Buchversion (Folman/Polonsky 2009) auf Seite 108. 21 | Das Foto ist eines von 54, die dem sogenannten Stroop-Bericht über die Liquidierung des Warschauer Ghettos beigelegt waren, die der SS-Gruppenführer und Generalmajor der Polizei, Stroop, kommandierte. (Siehe dazu: Marianne Hirsch (2002): »Täter-Fotografien in der Kunst nach dem Holocaust«. In: Insa Eschebach, Sigrid Jacobeit, Silke Wenk (Hg.), Gedächtnis und Geschlecht, Deutungsmuster in Darstellungen des nationalsozialistischen Genozids, Frankfurt a.M., New York: Campus, S. 203-226, hier S. 204; vgl. auch Richard Raskin (2004): A Child at Gunpoint: A Case Study in the Life of a Photo. Aarhus, Denmark: Aarhus UP. 22 | Marjane Satrapi und Vincent Paronnaud: Persepolis (F 2007), Buch und Regie: Marjane Satrapi und Vincent Paronnaud. (Basierend auf der 4-teiligen (dt: 2-teilgen) graphic novel Persepolis (frz. Or.: 2000-2003, dt.: 2004), Art Director: Marc Jousset, Original-Musik: Olivier Bernet, Schnitt: Stéphane Roche, Ton: Thierry Lebon, Animationskoordination: Christian Desmares, Production Design: Marisa Musy, Produktion: Marc-Antoine Robert und Xavier Rigault, Associate Producer: Kathleen Kennedy.) 23 | Art Spiegelman (1991): MAUS. A Survivors’s Tale II. And Here My Troubles Began, New York: Pantheon Books, S. 72. Vgl. dazu Ole Frahm (2006): Genealogie des Holocaust. Art Spiegelmans MAUS – A Survivors’s Tale, München: Fink, S. 10, S. 14. 24 | Siehe dazu Lummerding 2005: S. 159ff., S. 265ff. 25 | Siehe dazu Lummerding (2009): »Von U nach B oder: B(w) ist immer schon U(bw). Zur Medialität von Binärstrukturen«. In: von Braun/Stephan/Dornhof/Johach, S. 301-316. 26 | Siehe dazu: Lummerding 2005: S. 152-158f., S. 165, S. 265-275.

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L ITER ATUR Becker, Jillian (1984): The PLO, London: Weidenfeld und Nicolson. Didi-Huberman, Georges (2003): Bilder trotz allem, Paderborn: Fink. Krämer, Ralf (2008): Interview mit Ari Folman: »Ich bin kein Verschwörungstyp«, taz.de, 06.11.2008, auf: www.taz.de/1/leben/film/artikel/1/ich-bin-kein-verschwoerungstyp/ (last access: 02.12.2010). Folman, Ari/Polonsky, David (2009): Waltz with Bashir. Eine Kriegsgeschichte aus dem Libanon, Zürich: Atrium Verlag. Frahm, Ole (2004): »These papers had too many memories. So I burned them.« Genealogisches Eingedenken in Art Spiegelmans Comic MAUS. In: Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik 2/1, S. 41-53. — (2006): Genealogie des Holocaust. Art Spiegelmans MAUS – A Survivors’s Tale, München: Fink, S. 271-272. Friedman, Thomas L. (1982): »Beirut Massacre: The Four Days«. In: New York Times vom 26. 09.1982. Guibert, Emmanuel/Lefèvre, Didier/Lemercier, Frédéric (2008-2009): Der Fotograf Band 1 – In den Bergen Afghanistans (2008), Der Fotograf Band 2 – Ärzte ohne Grenzen (2009), Der Fotograf Band 3 – Allein nach Pakistan (2009), aus dem Französischen von Martin Budde, Zürich: Edition Moderne. Hirsch, Marianne (2002): »Täter-Fotografien in der Kunst nach dem Holocaust«. In: Insa Eschebach/Sigrid Jacobeit/Silke Wenk (Hg.), Gedächtnis und Geschlecht, Deutungsmuster in Darstellungen des nationalsozialistischen Genozids, Frankfurt a.M., New York: Campus, S. 203-226. Hoffmann-Curtius, Kathrin (2010): »Re-Rezipierte Erinnerung an den NS in Comicsequenzen von Art Spiegelman und Volker Reiche«. In: Reservoir, Festschrift für Silke Wenk, Bielefeld: transcript. Lummerding, Susanne (2005): Agency@? Cyber-Diskurse, Subjektkonstituierung und Handlungsfähigkeit im Feld des Politischen, Wien/Köln/Weimar: Böhlau. — (2008): »Ohne Garantie. Kontingenz und der Begriff des Politischen«. In: Huber, Jörg/Stoellger, Philipp (Hg.), Gestalten der Kontingenz: Ein Bilderbuch, Zürich/Wien/New York: Edition Volldemeer/Springer. — (2009): »Von U nach B oder: B(w) ist immer schon U(bw). Zur Medialität von Binärstrukturen«. In: von Braun, Christina/Stephan, Inge/Dornhof, Dorothea/Johach, Eva (Hg.), Das Unbewusste. Krisis und Kapital der Wissenschaften, Bielefeld: transcript, S. 301-316. Raskin, Richard (2004): A Child at Gunpoint: A Case Study in the Life of a Photo, Aarhus, Denmark: Aarhus UP. Shahid, Leila (2002): »The Sabra and Shatila Massacres: Eye-Witness Reports«. In: Journal of Palestine Studies Bd. 32, Nr. 1 (Herbst), S. 36-58. Spiegelman, Art (1991): MAUS. A Survivors’s Tale II. And Here My Troubles Began, New York: Pantheon Books.

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The Beirut Massacre: The Complete Kahan Commission Report (1983), Princeton (NJ): Karz-Cohl. United Nations, General Assembly (1982), A/RES/37/123(A-F) of 16 December 1982 Punkt D (auf: http://domino.un.org/UNISPAL.NSF/ (last access: 02.01.2010).

Zurück in die Zukunft mit Dykes To Watch Out For und Hothead Paisan 1 Kathleen Martindale

»[…] Hothead Paisan, die sich selbst in ironischer Absicht als männermordende, lesbische Terroristin beschreibt, war rebellisch genug, um in (Re-)Search’s Angry Women aufgenommen zu werden (vgl. Juno/Vale 1991). Ihren Herausgeber_innen war diese jedoch ein Stück zu weit voraus. Vielleicht hatten diese weniger Probleme damit, sich eine Akademiker_in wie Bell Hooks als Performance-Künstler_in vorzustellen, denn in Betracht zu ziehen, dass eine Cartoonist_in wie DiMassa ihre Vision von einem »neuen Bewusstsein« teilen könnte, »das zum ersten Mal politische Aktion, innovative Theorie, linguistische Reorganisation, abenteuerliche Sexualität, Humor, Spiritualität und Kunst im Hinblick auf den Traum von einer gerechten Gesellschaft integriert« 2 (ebd.: 4).

Seit 1991 erscheint Diane DiMassas Cartoon-Kreation Hothead in einem kleinen Schwarz-Weiß-Fanzine3. Hothead ist eine junge, urbane, proletarische Lesbe italo-amerikanischer Herkunft mit medusenhaftem Haar, DocMartens und einem Tattoo. Ein »paisan« ist das italienisch-amerikanische Äquivalent einer »besten Freundin von nebenan«. Hothead sieht aus wie ein queeres ›Modeopfer‹, allerdings ist sie in ihren abgeschnittenen Hochwasserhosen wesentlich radikaler und nihilistischer als eine Bohemienne. Hothead spricht mit ihrer engsten Vertrauten, einer Katze namens Chicken, die ihr auch antwortet – ebenso wie die Mondgöttin und die Lava-Lampe, die »Alles was ist« [The All That Is] repräsentiert. Hothead ist bewaffnet und ihre Begegnungen mit anderen sind fatal – auch deshalb, weil sie ihr Mittagessen erst in Angriff nimmt, nachdem sie zu viel ferngesehen hat (vgl. DiMassa 1993: 21). Im Vergleich dazu sind Mo und ihre Freund_innen aus Alison Bechdels Graphic Novel Dykes to Watch Out For eine lesbianisierte Bilderbuchfamilie4 (vgl. Bechdel 1986; 1988; 1990; 1992; 1993). Der Strip, der seit 1986 in Form von Einzelbänden in Buchlänge erscheint, beinhaltet ausführliche Debatten mit uneindeutigem Ausgang über sexualpolitische Praktiken in einer selbst-

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bewusst lesbisch-feministischen Subkultur. Mit Spawn Of Dykes To Watch Out For, Bechdels fünftem Buch, haben ihre Protagonist_innen sich zu »Kulturarbeiter_innen, jungen Professionellen und heißblütigen WG-Genoss_innen«5 (Bechdel 1993: 7-9) entwickelt. Wenn die_der nicht identifizierbare KlappentextVerfasser_in auf der Rückseite ihrer jüngsten Sammlung Bechdel dafür lobt, eine »vielgeliebte Chronist_in des zeitgenössischen lesbischen Alltagslebens« zu sein, wie verhält sich dann Sarah Schulmans ergänzende Bemerkung auf der ersten Seite von Diane DiMassas Hothead Paisan dazu? Schulman insistiert darauf, dass dieser Comic selbst dann das Lieblingsbuch amerikanischer Lesben – zumindest jener, die an die Lektüre überhaupt herankommen – ist, wenn diese intuitiv dazu tendieren, die darin dargestellte Gewalt zu verurteilen und die davon nicht allzu Bezauberten gerne daran erinnern, dass das alles nur Fantasie ist (vgl. DiMassa 1993: o. P.). Ist das wieder so eine good girl/bad girl-Sache: ›Die erste zeichnende TratschKolumnist_in der lesbischen Community‹ versus ›die Bibel von männerhassenden Eier-Zerschmetter_innen [man-hating ball busters] in einem Zustand am Rande des Wahnsinns, wo Anarchie herrscht und kein Mann mehr sicher in den Straßen ist‹.6 Vielleicht aber ist Dykes To Watch Out For ein Comic für femmes und Hothead Paisan, ein Zine für butches.7 Wie dem auch sei – in jedem Fall muss man den Figuren in Dykes To Watch Out For aufgrund ihres Aussehens und ihrer Umgangsformen zugestehen, die Expert_innenmeinung im Hinblick auf den geschlechterbezogenen Geschmack sowie das Gendering visueller Sprachen in Comics genauso zu reflektieren wie die hartnäckige Annahme, dass die Outsider-Vision der großen amerikanischen Cartoons letzten Endes eine sanftmütige und den Konventionen entsprechend affirmative ist (vgl. Inge 1990: 142). Jede_r weiß dass es girly ist, sentimentale, kommunikationsbasierte Comics zu bevorzugen und dass es macho ist, Action-Comics mit Superheld_innen und Aliens toll zu finden. Im Hinblick auf die visuelle Sprache werden in Comics für Buben bevorzugt Bewegungen dargestellt, während Comics für Mädchen sich auf Gefühle konzentrieren: Auf detaillierte Nahaufnahmen von Gesichtern sowie »subtile Ausdrucksweisen und Körperbewegungen, die den Dialog ergänzen«8 (Kennedy 1990: 386). Weder Dykes To Watch Out For noch Hothead Paisan scheinen diesen absehbaren Dualismus zu bestätigen. Beide Werke nehmen die Darstellung des Alltagslebens – also die beizeiten außergewöhnliche Realität des mikropolitischen Lebens von lesbischen Frauen – in den Blick und heben die dort geleisteten emotionalen und erotischen Aktivitäten von Frauen hervor. Anders als die Superhelden in Thomas Inges (1990) Comics as Culture bieten Dykes und Hothead dem repräsentativen Status quo unterschiedliche Angriffsflächen. Obgleich beide Cartoons eine Seite feministischer Populärkultur zeigen, die sich derzeit im Prozess der Veränderung von einer lesbisch-feministischen Vorhut hin zu einer lesbischen Neo-Avantgarde befindet, ist es nicht einfach festzustellen, wel-

Z URÜCK IN DIE Z UKUNFT MIT D YKES T O W ATCH O UT F OR UND H OTHEAD P AISAN

ches der beiden Comics der gegenwärtigen Kultur und Gesellschaft am meisten voraus ist.

1. W UT UND S E XUALITÄT IN W IMMEN ’S C OMICS UND Q UEER Z INES 9 Wie grausam surreal Hothead Paisan im Vergleich zum sanften ›Realismus‹ von Dykes To Watch Out For auch wirken mag: DiMassa und Bechdel behandeln gleichermaßen die Themen Wut und Sexualität, die die Zweite Welle des Feminismus in den späten 1960ern im Allgemeinen und lesbische Comics im Speziellen bestimmt haben (vgl. Tee 1977: 25). Hothead ist aufgrund ihrer anarchischen, spirituellen und poetischen Ideen jedoch eher der queeren Postmoderne10 zuzuordnen, was diese zu einer glaubwürdigen Anwärter_in auf einen fixen Platz innerhalb der Tradition der ästhetischen Avantgarde macht, die derzeit ein Comeback feiern könnte. Das formal weniger innovative, aber stärker lesbenzentrierte Dykes To Watch Out For scheint jedoch in jenem kollektiven lesbisch-feministischen Vorkämpfer_innentum festgefahren zu sein, das sich aktuell im Verzug befindet. Wenn eine Generation lesBiSchwuler Begrifflichkeiten durch den Abstand von fünf Jahren voneinander abgegrenzt werden kann, befindet sich Alison Bechdel, die den ersten Sammelband von Dykes To Watch Out For 1986 publizierte, eine Generation hinter Diane DiMassa, die Hothead Paisan erst seit 1991 in Form eines dünnen, vierteljährlich erscheinenden Zines herausgibt. Folgt man einer groben Chronologie, handelt es sich dennoch um Zeitgenoss_innen und DiMassa ist tatsächlich die Ältere der beiden: Sie wurde 1959 und damit ein Jahr früher als Alison Bechdel geboren. Obwohl beide Cartoonist_innen in unterschiedlichen Bereichen der lesbischen Subkultur Amerikas treue Anhänger_innen haben, – die sichtbarsten Anzeichen dafür sind Dykes To Watch Out For-Kalender und Hothead-T-Shirts – ist bisher selbst dort keiner von beiden die Aufmerksamkeit ›ernsthafter‹ Studien zuteil geworden, wo die Cultural StudiesGemeinde sich mit queeren Zines beschäftigt.11 Sogar Lynda Harts trockener Theorie-Text mit dem Titel Fatal Women: Lesbian Sexuality and the Mark of Aggression, der der sogenannten lesbischen Serienkiller_in Aileen Wuornos »und all den Frauen, die dafür verteufelt, pathologisiert und getötet wurden, dass sie sich selbst mit allen Mitteln verteidigt hatten«12 (Hart 1994: Widmung), gewidmet ist, verabsäumt es, die »Lesbian Homicidal Terrorist« Hothead Paisan überhaupt zu erwähnen. Ist die fehlende Erwähnung darauf zurückzuführen, dass Hothead der Polizei immer entkommt oder darauf, dass sie nur eine Figur aus einem Cartoon ist? Auch Alison Bechdels charmanter Behandlung des lesbischen Alltagslebens wurde weder in feministischen noch in Mainstream-Comic-Analysen die nöti-

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Abbildung 78: Hothead Paisan in Aktion (DiMassa 1999: o.P.)

ge Aufmerksamkeit zugebilligt. Und das obwohl Bechdel mittlerweile fünf mit dem Lambda-Award preisgekrönte Sammelbände veröffentlicht hat, darunter Dykes To Watch Out For, More Dykes To Watch Out For, New! Improved! Dykes To Watch Out For: The Sequel und kürzlich Spawn Of Dykes To Watch Out For, das derzeit in mehr als 40 unterschiedlichen lesBiSchwulen Publikationen Nordamerikas erscheint. Obgleich sie regelmäßig die Bestsellerlisten in lesBiSchwulen Buchläden anführen, haben Bechdels Arbeiten in Comics as Culture (Inge 1990) genauso wenig Erwähnung gefunden wie in sämtlichen Büchern und Artikeln über den Humor von Frauen und Feministinnen. Nicht populär genug, um Mainstream zu sein, nicht straight genug für den Feminismus und für die Avantgarde zu wenig queer – who’s watching out for these dykes? Dykes sind keine Frauen und sie werden auch nicht als Teil der heterozentristischen Geschichte der Populärkultur betrachtet. Vielleicht haben Bechdels direkte Titel etwas mit dieser fehlenden Beachtung zu tun: Mit ihren unzähligen Konnotationen des Schauens, des Wachsam-Seins, jemanden in Sichtweite zu behalten ebenso wie sich jeglicher Bewegung oder Veränderung bewusst zu sein und auf der Hut zu bleiben, hörten sie sich zu militant für die reaktionären 1980er Jahre an. Was den Leser_innen darin empfohlen oder sogar befohlen wird, ist nicht, nach ›sich als Frauen identifizierenden Frauen‹, ›Feministinnen‹ oder gar nach ›Lesben‹ Ausschau zu halten: Sie halten Ausschau nach dykes13.

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Es ist wichtig, sich in Erinnerung zu rufen, wie offensiv und kompromisslos Bechdel in Bezug auf ihre Themenwahl war, als die meisten feministischen Kulturarbeiter_innen sich noch im closet14 verbargen und die Mainstream-Presse noch nicht begriffen hatte, dass Lesbian und Gay Studies eine Goldmine sein könnten. Bechdels Herausgeberin, Nancy Bereano of Firebrand sagte, dass die von ihr verlegte Cartoonist_in eher um die Details ihres ersten Coverdesigns besorgt war als um die Präsenz dieses Wortes dykes im Titel.15 Im Gegensatz dazu ist es Hothead Paisan in weitaus kürzerer Zeit gelungen, ausreichend viel Aufmerksamkeit zu erlangen, um mit der für Zines so typischen Interaktivität Debatten unter Leser_innen anzuregen, die sich in den letzten Seiten jeder Ausgabe sowohl an die Verfasser_in als auch an die von ihr geschaffenen Figuren richten (inklusive Chicken der Katze). Als ich den Sammelband und die allerletzte Ausgabe von Hothead, die ich über die kanadische Grenze schmuggeln konnte, gekauft hatte, hatte ich das seit langer Zeit ausgedehnteste und anregendste Gespräch über DiMassas Bücher und Ideen in einem Büchergeschäft. Die_der queere Angestellte, die_der jede Ausgabe mit vielen ihrer_seiner Freund_innen teilt, sagte, dass sie_er den vorigen Abend damit verbracht habe, Hotheads Gewalt gegenüber Männern zu verteidigen, die sie_er als absolut gerechtfertigt und ohnehin nur als Ausgeburt der Fantasie betrachte. Diese loyalen Freund_innen von Hothead, so vermute ich, wären nicht annäherungsweise durch Laplanches und Pontalis Richtigstellung der Common Sense-Annahme beeinflussbar, dass »Fantasie« als Form des Widerstandes zwischen »Illusion« und »Realität« verstanden werden sollte (vgl. Laplanche/Pontalis 1988: 493). Nicht anders als frühere avantgardistische Arbeiten kann auch der Erfolg von Hothead Paisan daran gemessen werden, in welchem Ausmaß es vorangegangene Avantgarde-Bewegungen genauso wie das Establishment in Aufruhr zu versetzen vermochte. Sogar freundlich gesinnte Leser_innen hören DiMassa gern über Ziegelsteine reden, die von »Feministinnen, die Anti-Gewalt-Slogans skandieren« (Tuna 1993: 27)16 in ihr Fenster geworfen worden sind. Dass es mehr als nur einen Weg gibt, Hothead zu »lesen«, kam dem kanadischen Zoll jedoch nicht einmal in den Sinn: Dieser verbannte das Zine mit der Begründung, dass es sich dabei um hate literature handle. Die kanadische Zollbehörde konfiszierte überfallsartig ganze Schiffsladungen des Buches in Frauen- und lesBiSchwulen Buchhandlungen mit der Begründung, dass der Strip »trotz des Fehlens von Sexszenen in der beanstandeten Ausgabe ›Sex mit Gewalt‹«17 (Hough 1994: D5) in Verbindung brächte. Hothead selbst zeigt sich darüber nur wenig überrascht: Kurz bevor das Cover der Ausgabe Nummer 9 stolz »In Kanada verboten! (weil wir Angst davor haben, das ist der Grund!)« (DiMassa 1993: o.P.) verkündete, warnte bereits das Cover der dritten Ausgabe davor, dass die Publikation »ein gefährliches kleines Zine« und »nichts für Schwächlinge«18 (DiMassa 1991: o.P.) sei.

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An zwei Stellen hat Diane DiMassa ihre Erzählung mit surrealen Einschüben durchsetzt, die sowohl patriarchale Zensoren und in Aufruhr geratene, pazifistisch eingestellte Feministinnen adressieren, die die Veröffentlichung ihrer Werke am liebsten sofort verhindern würden. In der zweiten Ausgabe von Hothead fällt ein riesiger Zensor in Form eines panoptischen Augapfels in Hotheads Wohnung ein, der beanstandet, dass der Comic zu gewaltsam sei. Darauf hat unsere scharfsinnige Kulturkritiker_in eine prompte Antwort parat: »Was ist mit Bat-fuck und Nintendo und dem Roadrunner?« (DiMassa 1991a: 46). Die Abbildung 79: Einfall des Zensors (DiMassa 1999: 46f.)

Antwort des Zensors ist nicht unbedingt von Logik beseelt: »Das ist was Anderes! Jungs werden immer Jungs bleiben«19 (ebd.). Der Vorfall endet damit, dass Hotheads sanftmütige kätzische Kumpanin namens Chicken den Augapfel auskratzt. In Ausgabe 5 ruft die selbstgerechte lesbische Feministin Fran DiMassa an, um sich bei dieser darüber zu beschweren, dass sie die Arbeit der letzten 20 Jahre Feminismus zunichte mache, indem sie sich genau wie ein Mann verhalte. DiMassa betritt den Rahmen und erklärt, dass es sich bei ihrer Arbeit um eine Satire auf die Medien im Sinne einer Rachefantasie handle. Nachdem Fran sich

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von dieser »Lese-Anleitung« nicht überzeugt zeigt, fragt DiMassa sie in schroffem Ton, ob es nicht auch in ihrer Familie irgend einen Mann gäbe, von dem sie möchte, dass Hothead ihn in die Luft jagt – und noch ehe man sich versieht, hat Fran die Seite gewechselt (vgl. DiMassa 1992: 83-85). Bevor man vorschnell zum Schluss kommt, dass es hiermit das erste Mal ist, dass eine Regierung oder die feministische Political-Correctness-Polizei [feminist p.c. police] lesbische Comics zensiert, sollte man sich in Erinnerung rufen, dass auch dies nichts Neues ist. Obgleich diese dadurch eine nicht unbeträchtliche Faszination auf ihre Leser_innen ausüben, diente das zweifelhafte Verhältnis der Comics zum ›Realismus‹ ebenso wie zum guten Geschmack oftmals dazu, die von Eltern sowie von Mitgliedern der Bourgeoisie kultivierte Empfindsamkeit bis zum Übermaß zu strapazieren: In den 1950er Jahren erzeugten Mainstream-Comics größere moralische Panikanfälle, in den 1960ern erregten die sexuell expliziten Underground-Comix für Erwachsene noch mehr Skandale und über das Erscheinen der ersten Wimmen’s Comics gegen Ende der 1960er Jahre waren selbst viele Feministinnen wenig erfreut. Zu den Gründen, die für die lesbische Erotik-Künstler_in Tee Corinne 1977 ausschlaggebend waren, einen Überblick von »Comics von Frauen« für ein alternatives feministisches Magazin zu erstellen, zählte der Umstand, dass damals viele Frauenbuchhandlungen es verweigerten, Wimmen’s Comics in ihr Sortiment aufzunehmen. Diese hatten die Bedeutung vollständig unterschätzt, die Comics im Zusammenhang mit der Verbreitung neuer Ideen in feministischen und lesbischen Gemeinschaften zukamen. »Die meisten Frauen-Buchhandlungen führen besagte Comics aus folgenden Gründen nicht: ›Sie sind zu schmutzig‹, ›Sie sind zu gewaltsam‹, ›Sie bringen die Revolution nicht weiter‹, ›Sie befördern keine Frauenideale‹ etc. Oder, wie die Besitzerin einer Frauenbuchhandlung an der Ostküste es sieht: ›Frauen können ihr Geld für bessere Dinge verwenden als es für diesen Mist auszugeben […]‹ Zentrale Themen in den von Frauen produzierten Comics sind Sexualität und Wut. Weitere Themen sind das Coming Out, Zukunftsvisionen, das Leben in Kollektiven (communal living), Transsexualität, weibliche Vorbilder, Abtreibung, HerStory, Liebe zu Männern, Liebe zu Frauen, Selbstliebe und der Gebrauch von Vibratoren. Die Diskussion dieser Themen in Comics geht Hand in Hand mit ihrer Aufbereitung in den Magazinen der alternativen Frauen-Presse. Der Beginn ihrer öffentlichen Verbreitung datiert manchmal jedoch auf ein Jahr davor oder mehr. Comics sind ebenso ein Ort, an dem Künstlerinnen die Möglichkeit haben, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und anderen mitzuteilen, wer sie sind und wer sie sein werden.« (Tee 1977: 25)

Nach den Sex Wars20 gab es weitere Zensurversuche. Nachdem viele Frauenbuchhandlungen Mitte bis Ende der 1980er Stellung gegen Pornografie und Sadomasochismus bezogen hatten, weigerten diese sich lesbische Sexmagazine

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wie On Our Backs und Bad Attitude zu verkaufen. Indem sie eine Pornografie für Frauen erfanden, wandten sich die Herausgeber_innen dieser Magazine jedoch nicht nur klar gegen die moralische Empörung und den sexuellen Puritanismus der darin zeitweise sogar parodierten lesbisch-feministischen Alternativ-Presse, sondern auch gegen die eintönigen Layouts und die amateurhafte Grafik älterer Publikationen. Von den darauf folgenden Punk- und Post-Punk-Zines grenzten sich die Sexmagazine für Frauen in formaler Hinsicht wiederum durch relative Glätte und ein kommerzielles Erscheinungsbild ab. Während das Ziel letzterer in der durchaus erfolgreich betriebenen Erregung sexueller Lust bestand, wollten die Punk-Zines hingegen provozieren. In klassisch avantgardistischer Vorgangsweise richteten sie sich nicht primär gegen die straighte Gesellschaftsordnung, sondern vor allem gegen die älteren und angepassteren Mitglieder des lesBiSchwulen Establishments. Nicht anders als frühere Arbeiten der Avantgarde galten die Zines für die hirntote Bourgeoisie [brain-dead bourgeoisie] und die lesBiSchwule Avantgarde, die durch die Zines abgelöst werden sollte, gleichermaßen als unverständlich und nur schwer zugänglich. Obgleich die von Zine-Herausgeber_innen und -Leser_innen in Umlauf gebrachte Definition avantgardistischen Arbeitens Peter Bürgers (1994) These zur Positionierung der historischen europäischen Avantgarde zufolge außerhalb oder in Opposition zur Kunstinstitution ähnelt, sind deren Vetreter_innen – anders als Bürger – völlig optimistisch im Hinblick auf die Möglichkeiten zeitgemäßen neo-avantgardistischen Arbeitens. In Flyern für die Decentralized World-Wide Networker Congress Subspace International Zine Show aus dem Jahr 1992 wurde hervorgehoben, wie sehr die Zine-Herausgeber_innen den Mitgliedern früherer Avantgarde-Bewegungen ähneln. Sie bringen ein vollständig neues Kunstverständnis zum Ausdruck: »Wie von den DADAisten, Futuristen, Situationisten, Fluxus und anderen vorausgesehen worden war, hat sich ein neuer Typus des_der Künstler_in entwickelt – der_die Netzwerker_in. In völliger Autonomie und unabhängig von Kunst- und Kulturinstitutionen definiert sich dieser durch die internationalen Netzwerke von Mail-Kunst, Tourismus, Kopierkunst, Computerforen, Faxkunst, Kassettenlabels und die Underground-Presse etc.« (Perkins 1994: 22)

2. Z UR D IVERSITÄT UND P ERVERSITÄT DER C OMICZINES NACH DEN S EX WARS Die Arbeit der Autor_innen Alison Bechdel und Diane DiMassa ist – wie auch die der lesbischen Sexmagazine und der neueren Queer Zines – im Hinblick auf die aus der Destabilisierung des feministischen Konsenses im Zuge der Sex Wars resultierenden Konsequenzen durchaus miteinander vergleichbar.

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Bechdel und DiMassas Arbeiten wurden dadurch ebenso sehr angestachelt wie überhaupt erst denkbar. Die Arbeit beider Autor_innen zehrt vom Wissen der über 20 Jahre währenden feministisch-theoretischen Praxis in Amerika. Der fehlgeschlagene Versuch, Women of Color, Frauen aus der Arbeiter_innenklasse und Lesben in den (weißen, heterosexuellen, Mittelklasse-)Feminismus mit einzubeziehen, wird in Bechdels und DiMassas Werken als besonders bitteres Unternehmen innerhalb dieser Geschichte dargestellt. Die Spuren verborgener Kränkungen durch Rassismus, Klassismus und Heterosexismus durchziehen die Antworten der Cartoonist_innen auf die von Journalist_innen und Wissenschafter_innen oftmals gestellten Fragen nach den Debatten um Sexualität sowie nach der »Krise der Repräsentation« innerhalb des Feminismus. Die liberale, pluralistische Humanist_in Alison Bechdel hat versucht die Wunden zu heilen, indem sie alle Interessengruppen als multikulturelle Vielfalt lesbischen Lebens darstellte. Wenn sie vor den hauptsächlich lesbischen Zuhörer_innen über ihre Arbeit spricht, fragen Fans oft, warum sie keine (oder nicht genug) Bar-Lesben, lesbische Mütter, ältere Lesben und so weiter gezeichnet habe und drängen sie regelrecht dazu, dies in Zukunft zu tun.21 Bechdel, eine weiße, lesbische Ex-Katholikin auf Erholung, wurde trotz der Unterrepräsentiertheit von farbigen Lesben in ihren Werken dennoch nicht des Rassismus oder der illegitimen Aneignung der Kultur von Women of Color bezichtigt. Laut ihren Angaben weiß sie selbst nicht, warum dies nicht geschehen ist, da sie nur bestätigen kann, dass ihr eigener Kampf gegen Rassismus es schwierig für sie mache, Lesben zu zeichnen, die anders sind als sie selbst.Im Hinblick darauf erläutert Bechdel, dass das Ringen darum, sich selbst zu kennen und das scheinbar Ähnliche zu lieben, aufs engste mit dem Kampf verbunden sei, soziale Differenzen überhaupt darstellen zu können. Als sie ihre Lesbians of Color zu zeichnen begann, habe sie diese eher als ethnifizierte sidekicks22 der zentralen weißen Charaktere entworfen und nicht etwa als auf eigenen Füßen stehende Vollblut-Lesben [fully fleshed lesbians].23 Tatsächlich liegt der Aufmerksamkeitsfokus selbst nach fünf Bänden immer noch auf bisweilen dominanten Figuren innerhalb ›der‹ lesbischen Community und nicht etwa auf leather dykes, butch daddies oder femme tops. Obwohl in Bechdels Strips beispielsweise interracial luppie moms, asiatisch-amerikanische Anhänger_innen der zwölf Schritte im New Age24, ein süßes junges queer girl oder eine körperlich be-hinderte25 Lesbe vorkommen, spielen diese Figuren für die Erzählung doch nur eine untergeordnete Rolle. Die Anführer_in ist immer noch Mo, eine weiße, sich in sozialer Abwärtsmobilität befindliche, aber dennoch aus der Mittelschicht stammende lesbische Feministin, die sich von ihrem sexuellen Elend durch endloses Gejammere ablenkt und sich stets darüber ereifert, was in politischer Hinsicht in und außerhalb der vertrauten lesbischen Subkultur des Mittleren Westens getan werden sollte. (Bechdels Strip basiert auf losen Eindrücken ihres lesbischen

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Lebens in Minneapolis, wo die Autor_in zur Zeit der Publikation ihrer Bücher lebte.) Wenn Bechdels Hauptthema die Vielfalt von Lesben zwischen- und untereinander nach den Sex Wars ist, dann ist jenes von DiMassa das der lesbischen Perversität sowohl im spezifisch sexuellen Sinn als auch im Sinn der mit der perversen Disposition einhergehenden und zu Abwehrzwecken bemühten psychischen Spaltung, die die zeitweilige Verwerfung oder Abwehr der Realität zur Folge hat. Hotheads Vielfalt geht aus ihr selbst hervor und ist Resultat dieser Spaltung: Das Pendant ihrer bösartigen Persönlichkeit #2, die sie durch vorAbbildung 80: Hotheads innerer Kampf (DiMassa 1999: 147)

schnelle Antworten zu Gewaltakten anstiften will (vgl. DiMassa 1999: 18f.), ist ein Schutzengel, der, weil Hothead ihn regelrecht abschaltet, nur mit großen Schwierigkeiten zum Vorschein kommen kann und dann dringlich um Liebe und Hoffnung bittet (ebd.: 145f.). Eher noch ist Hotheads Psyche jenes Schlachtfeld lesbischer Diversität denn der Küchentisch, an dem in Dykes To Watch Out For der Streit zwischen alten Freund_innen und Liebhaber_innen fortgesetzt wird. Obwohl Hotheads Freund_innenkreis ebenso wie derjenige von Mo aus Dykes ohnedies multieth-

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nisch ist, betont diese ausdrücklich und in wiederholten Abständen immer wieder die Rassifiziertheit ihrer sozialen Position und damit auch den Umstand, Angehörige jener von vielen Männern und Frauen geteilten spezifisch weißen Rasse zu sein, die die Mehrheit der Weltbevölkerung unterdrückt (vgl. DiMassa 1993: 11-13). Ganz so wie es zum stark persönlich geprägten Ethos des Avantgarde-Schreibens gehört, steht Hotheads psychisches Drama stärker im Zentrum des Geschehens als der extrovertierte und linksgerichtete Diskurs über die adäquate Form der politischen Praxis in Dykes To Watch Out For, der ganz im Sinne einer lesbisch-feministischen Wochenpredigt abläuft. Obwohl Hothead ein paar Freund_innen hat, bricht diese – anders als die Figuren in Bechdels engem kleinen »Herland« – ohne die Unterstützung einer lesbischen Community zu ihren existentiellen Albträumen und Visionen genauso wie zu ihren mörderischen Abenteuern stets alleine auf. Wie bei anderen Junkies – Wut und Kaffee sind die Drogen ihrer Wahl – fällt es auch bei Hothead schwer, sich diese in der häuslichen Glückseligkeit einer Partner_innenschaft vorzustellen. Weil sie Drag Queens und Trans*Personen mag und ihre Vision von Utopia hermaphroditisch ist, bekommt sie »genauso viel Scheiße von den politisch korrekten Leuten ab wie von jedem anderen auch«26 (DiMassa 1993: 43). Wenn sie Sex hat, dann sehr grob und mit einem Touch S/M – ein Aspekt, durch den Hothead die Neugier und die anerkennende Aufmerksamkeit der Leatherdyke-Zine-Szene auf sich gezogen hat (vgl. Tuna 1993: 30).

3. C OMICS ALS B LICKFELD FÜR LESBISCHE R EPR ÄSENTATIONEN Im Vergleich zu DiMassa ist Bechdel viel eher damit beschäftigt, Vielfalt im Sinne des alten theoretisch-kreativen Entwurfs vom lesbischen Leben in den Rahmen der Repräsentation zu rücken. Lesben sichtbar zu machen, indem man sowohl die Unterschiede zwischen Lesben als auch jene zu straighten Frauen klar hervorhebt, wurde und war bereits zu Beginn von Bechdels Arbeit ein zentrales Unterfangen. In einem Begleittext zu einem Vortrag erzählt die Autor_in von ihrer Unfähigkeit, vor ihrem lesbischen Coming Out Frauen »aus dem Kopf heraus« zu zeichnen, was sie bei Männern problemlos zustande brachte. Diese Unfähigkeit störte sie, wie sie sagte, »ideologisch«. Sie wollte keine Männer zeichnen und sie konnte keine Frauen zeichnen, die sie wie etwa Minnie Mouse eher als Mickey in Drag wahrnahm. Jene Unfähigkeit war es auch, die ihrer Lust am Zeichnen beinahe ein Ende gesetzt hätte. Als Bechdel sich schließlich fragte: »Warum nicht eine Lesbe zeichnen?«, fand sie heraus, dass sie das fertigbrachte: Sie konnte eine Frau zeichnen, sobald sie sich diese als Lesbe vorstellte. Bechdel führt ihren Durchbruch darauf zurück, »mit all diesen wunderbaren, großartigen Lesben zusammen zu sein, mit all diesen Frauen die wirklich zufrieden mit sich und ihrem Körper und ihrem Selbstbild sind«27 und war plötz-

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lich der Meinung, dass »es möglich ist, echte Frauen zu zeichnen, die nicht in einer Verkleidung stecken [who weren’t in drag]«. Diese Geschichte kann natürlich auf unzählige Arten interpretiert werden, ebenso wie unzählige Schlüsse daraus gezogen werden könnten; etwa der über das Verhältnis von Bechdels künstlerischer Arbeit zum Realismus und zum Vorhaben, Lesben in jene Lücke einzufügen, die durch eine »explosion in the seme (seem)« (Meese 1992: 20) freigelegt wurde. Bechdel ist genau zu dem Zeitpunkt dazu fähig, Frauen zu zeichnen, als sie Lesben zeichnen kann; sie weiß, dass sie selbst eine ist und in gewisser Hinsicht zum ersten Mal andere sieht, die so sind wie sie selbst. Hier befinden wir uns in der Sackgasse des lesbischen Essentialismus, und die Frage bleibt bestehen, was erkenntnistheoretisch zuerst kam und welche Erkenntnis die andere bedingt. Bechdel erwartet, ein Publikum von Lesben und Schwulen anzutreffen, die sich ihrer selbst bewusst sind. Sie sagt, dass »der Humor in meinen Arbeiten im Schock besteht, den wir in dem Augenblick zu spüren bekommen, in dem wir uns selbst sehen. Wir sind es nicht gewöhnt, uns als lesbische Frauen und schwule Männer dargestellt zu sehen und das Ganze wird deshalb einfach komisch.«28 Der bei den Leser_innen evozierte Eindruck des Komischen besteht im Schock über den Anblick von etwas allzu Bekanntem, das bis vor kurzem nahezu unsichtbar war. Der Humor mag dem Schock beim unerwarteten Kuss eines gleichgeschlechtlichen Paares in einem kommerziellen Mainstream-Film ähneln. Obgleich die Umstände der Beobachtung in beiden Fällen sehr unterschiedlich sind, stehen diese auch dann in kognitiver Dissonanz zueinander, wenn ihr wiederholtes Sehen von der Zuseher_in ausdrücklich erwünscht ist. Das Paradoxe jener Repräsentationen, die gleichzeitig Gewohntes und Alltägliches zeigen, dieses aber nicht oft oder nicht oft genug, erinnert an die Art und Weise wie Pornografie ein Begehren zugleich frustriert und befriedigt. Der Porno-Regisseurin Bette Gordon zufolge »garantiert Pornographie das Festhalten des Begehrens an einer Darstellung, obwohl diese selbst das Begehren niemals befriedigen kann.« (Gordon, zit.n. Ross 1989: 201) Betrachtet man die Strips in Alison Bechdels Dykes To Watch Out For, in denen lesbische Darstellungen genauso wie der Ausschluss, den diese implizieren, thematisiert wird, sieht man, dass ›Sichtbarkeit‹ umso widersprüchlicher wird, je ›lesbischer‹ die Darstellungen sind. Diesbezüglich verfehlen die alten Fragen der Kritischen Theorie wie etwa jene, ob kulturelle Produktionen lediglich mehr Möglichkeiten zur repressiven Entsublimierung bieten oder aber einen eigenständigen Befreiungsdiskurs etablieren können, nicht nur den Punkt im Hinblick auf einen »ästhetischen Aktivismus«, den Charles Russel (1985: 4) bemerkenswerterweise als das Herz avantgardistischen Schreibens definiert hat; diese verfehlen es auch, auf die Begrenztheit jener sich zur Zeit von Bechdels ersten Publikationen in Umlauf befindlichen lesbischen Repräsentationen zu reagieren.

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Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass Bechdel ihren heftigsten Konkurrenzkampf um die Herzen und Hirne selbstbewusster amerikanischer Lesben Mitte der 1980er Jahre mit den Groschenromanen [pulp fictions] und Romanzen von Naiad Press aufnahm. Bechdels Texte existieren in einem ästhetischen, sexuellen und ideologischen Reich fernab der sentimentalen Coming Out-Geschichten, die damals die größte Stütze der gängigen lesbischen Presse waren. Bechdel hat diese in einem Detail eines Panels als »genrebezogene Romanze #423« der Naiad Press beschrieben (vgl. Bechdel 1990: 20). In Strips wie diesen weist die lesbische Textualität [lesbian textuality] eine ironische und distanzierte Beziehung zu einer verachteten Subkultur auf, deren Existenz entweder ignoriert, von Außen betrachtet, pathologisiert, fetischisiert oder trivialisiert worden ist. Sie zeigt dieselbe ironische Distanzierung auch gegenüber der gemütlichen, vollständig naturalisierten Welt der Neo-Pulp-Lesbe, die so ist wie jede_r andere auch. Obwohl Bechdels und DiMassas Arbeiten notwendigerweise weit von Stimpsons Forderung nach einem lesbischen »Schreiben am Nullpunkt« (Stimpson 1988: 97) entfernt bleiben, passen sie dennoch nicht in den älteren Rahmen der Texte der Cultural Radicals29 der 1970er Jahre, die versuchten positive Bilder von Lesben und lesbischem Leben in Form eines nicht allzu fordernden Protests in Umlauf zu bringen.

4. L ESARTEN DER C OMICZINES IN UND AUSSERHALB DER A VANTGARDE In manchen Frauen- und lesBiSchwulen Buchhandlungen sowie Katalogen sind die Dykes To Watch Out For-Bücher aus dem Regal für Humoristisches in die Belletristik-Abteilung gewandert. In ihrem am stärksten autobiografisch beeinflussten Strip mit dem Titel »Serial Monogamy« erzählt Alison Bechdel das einzige Mal aus der ersten Person. Der abschließende Teil des vierten Bandes mit dem Titel Dykes To Watch Out For: The Sequel wurde in die Anthologie The Penguin Book of Lesbian Short Stories (Reynolds 1993: 357-367) aufgenommen, die von der Kritik gefeiert wurde. Als die Dykes To Watch Out For-Serie sich weiterentwickelte, wurde jeder Band in formaler Hinsicht serieller und einige Konventionen wurden von Seifenopern übernommen – darunter auch die ewig besorgte Mo in der Hauptrolle mitsamt ihren Freund_innen und Liebhaber_innen. Das zentrale Thema der Erfindung von Möglichkeiten in einer nicht-lesbischen Welt lesbisch zu sein, bietet eine dramaturgische Struktur von subtilen und weniger subtilen Bedrohungen durch die Rückführung zur Heterosexualität und den darauf folgenden Kampf gegen dieselbe. Innerhalb dieser spezifischen lesbischen Subkultur wurde dieses Thema in unterschiedlichen Varianten encodiert.30

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Während Heterosexuelle und Heterosexualität in der von Alison Bechdel bebilderten Welt so gut wie nicht existieren, sind diese in jener von Diane DiMassa in bedrohlicher Weise präsent. Um beurteilen zu können, welcher Comic oder welches Zine eine lesbische Praxis der Repräsentation beinhaltet, die politisch, ästhetisch oder sexuell ›einen Schritt weiter‹ ist, sind die Folgen dieser Präsenz bzw. Absenz jedoch nicht notwendigerweise relevant. In DiMassas Hothead Paisan gibt es selbst im queeren Provincetown Heterosexuelle, die die Erzähler_in belästigen (DiMassa 1993: 53-60). Trotz Hotheads mit der Avantgarde-Kultur geteiltem Begehren, derartigen Realitäten des Alltags zu entfliehen, ist weder Hothead noch die Avantgarde-Kultur dazu fähig, diese vollständig zu verlassen oder sie entschieden zu verändern. Vielmehr dient Hotheads mit dem Begehren der Avantgarde einhergehendes Begehren nach Veränderung der homophoben Umwelt dazu, die Zeit, Energie und Aufmerksamkeit, die sie dieser widmet, auszudehnen. Vielmehr noch als jener Bechdels ist DiMassas Diskurs ein Gegen-Diskurs, der durch das, was er eigentlich eliminieren will, genährt wird. Männliche Leser_innen, ob gay oder straight, waren die ersten, die Fanpost an Hothead Paisan schickten und immer noch ihre faszinierenden misanthropisch-mörderischen Visionen unterstützen. Ironischerweise benutzte jene Cartoonist_in, die wahrscheinlich von jüngeren und queeren Leser_innen bevorzugt wird, eine »feministische« Analyse, die stark an Konzepte wie »das Patriarchat« oder Misogynie in den Massenmedien gekoppelt ist. Ebenso benutzt sie Begriffe wie die »männlich identifizierte Roboter-Frau« (DiMassa 1993: 26), die bereits in den 1970ern veraltet waren und für gewöhnlich als schwere Artillerie eines antiquierten und aus der Mode gekommenen lesbisch-feministischen Idiolekts gedacht waren. Wenn DiMassa gegenüber Bechdel einen Avantgarde-Vorsprung hat, dann kommt sie nur deshalb weiter, weil sie auf eine frühere und scheinbar verworfene Tradition feministischer Theorie zurückblickt. Die theoretischen Stützen von DiMassas Vorstellungen sind – anders als man vorschnell annehmen würde – nicht die post-identitäre Queer Theory Judith Butlers oder der Anti-Essentialismus einer Diana Fuss; es ist der »lesbische Chauvinismus« von Mary Daly und ganz besonders Valerie Solanas SCUM Manifest (Society For Cutting Up Men) von 1967. Die radikale und schamlose Sprache und Vision von Solanas, die die meisten Menschen als Möchtegern-Mörder_in von Andy Warhol erinnern, taucht bereits in den ersten Sätzen ihres Manifestes auf: »Das Leben in dieser Gesellschaft ist ein einziger Stumpfsinn, kein Aspekt der Gesellschaft vermag die Frau zu interessieren, daher bleibt aufgeklärten, verantwortungsbewussten und sensationsgierigen Frauen nichts anderes übrig, als die Regierung zu stürzen, das Geldsystem abzuschaffen, die umfassende Automation einzuführen und das männliche Geschlecht zu vernichten.« (Solanas [1969] 1983: 21)

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Valerie Solanas Vision ist jene, die der DiMassas zugrundeliegt. Tatsächlich ist Hothead in einem Bild beim begeisterten Lesen von Solanas Manifest zu sehen. Als ihre Freundin Roz vorschlägt, ihr stattdessen das dem nicht mehr bestehenden Outlook nachempfundene »Queer Brains«-Magazin vorzulesen, regt Hothead sich über die darin abgebildeten »boy butts«31 (DiMassa 1993: 44f.) auf. Man könnte vermuten, dass der eindeutig lesbenzentriertere, aber niemals männerhassende Diskurs, den Bechdel aus aktuelleren Themen der feministischen Theorie und Praxis kreiert, weitaus weniger interessant für männliche Leser_innen ist. Erst kürzlich haben bei Bechdel Diskurse über Heterosexualität eine Rolle gespielt und für manche Leser_innen, zu denen ich mich selbst zählen muss, auf eine enttäuschende Weise. Enttäuscht hat mich die unnachgiebige Faszination für Tonis künstliche Befruchtung, Schwangerschaft und Geburt, die sich durch den gesamten fünften Band mit dem namensgebenden Titel Spawn of Dykes To Watch Out For gezogen hat. Durch die für Bechdel typische Ambivalenz, mit der sie die Pflicht, den Reproduktionsauftrag zu erfüllen, darstellt, kommt dieser einem Ausverkauf gleich. Bechdel führt den Wunsch nach Reproduktion auf ein Begehren nach sozialem Aufstieg bis hin zum »yuppie- and buppiedom«32 zurück. Bestandteil dieses Begehrens sind auch die Versuche, sich von schmerzhaften politischen Zuschreibungen in Psychotherapien zu erholen genauso wie die prinzipielle Monogamie sowie die Nicht-Monogamie, die von Bechdels Lesben aufschlussreicherweise als verlockende sexuelle Praktiken bezeichnet werden. Dabei handelt es sich Bechdel zufolge um Bedrohungen, durch die Lesben erneut in die Falle der sexuellen (In-)Differenz gelockt werden sollen. Seid umsichtig! Dykes, passt auf! Sowohl die Angst vor der Wiedereinschreibung in die heterosexuelle Ordnung als auch humorvolle, erfinderische und erotische Formen des Widerstandes gegen diese wurden stärker, als der Strip sich weiterentwickelte. Im dritten Band mit dem Titel New, Improved! Dykes To Watch Out For werden die Hauptcharaktere zum ersten Mal direkt vorgestellt und durch eine kurze Erzählung am Anfang des Bandes eingeführt. Jede Figur wird mit Hilfe von ikonografischen Zeichen als lesbisch präsentiert – im Profil oder frontal, in körperlicher Isolation oder durch Berührung mit den anderen verbunden, begleitet von einem kurzen Figuren-Sketch, der zeigt, welche Position die jeweilige Person innerhalb der dialektischen Spannweite von Kompliz_innenschaft und Widerstand der Community einnimmt. Dabei handelt es sich tatsächlich um ein dialektisches Verhältnis und nicht um einen Fall von einfachen Gegenüberstellungen. Lois ist zum Beispiel eher das, was Maria Maggenti (1990), Eva Yaa Asantewa (1990) und andere eine »moderne Lesbe« nennen würden, weil sie ihr Lesbisch-Sein durch eine burschikose Art von Verführung [butchy kind of seduction] ausagiert. Lois ist »moderner«, was heute wohl eher »postmodern« genannt werden würde und damit ist sie auch weniger politisch korrekt als Mo. Ganz im

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Abbildung 81: Darstellung der Community in der Einführungs-Sequenz zu Dykes to Watch Out For (Bechdel 2005: 8)

Gegensatz zu Mo, die an lesbische Monogamie glaubt und ständig makropolitische Themen verfolgt, ist Lois politisch korrekter im Sinne lesbischer Feministinnen der 1970er Jahre: Sie lebt mit farbigen Lesben im Kollektiv zusammen und nimmt seltsames makrobiotisches Essen für Vegetarier_innen zu sich. Es könnte diskutiert werden, ob die mit der beinahe didaktischen und aus diesem Grund recht ausdruckslosen Einführung der Charaktere gepaarte Repräsentation im Modus eines Stilllebens den Figuren nicht ihre eigentümliche Dynamik nimmt. Die Art und Weise wie diese in Gruppen angeordnet wurden, stellt in Abrede, dass es nur einen Weg gibt, als Lesbe zu leben – und das heißt, sich der Wiedereinschreibung in die Matrix sexueller (In-)Differenz zu verweigern, den eigenen Zwangsneurosen zu widerstehen und die eigenen Lüste zu erfahren. Diese Cartoons zu lesen ist sogar für Insider_innen nicht unbedingt einfach, da sowohl die Arbeit als auch das konsumtive Vergnügen des Lesens vom Einsatz abhängig ist, den die_der Betrachter_in investiert, um Themen und Figuren zu decodieren und zu entscheiden, was mit all dem anzufangen ist (Bourdieu, zit.n. Ross 1989: 59). Eine notwendige, aber nicht unbedingt ausreichende Bedingung, um zu wissen wie man Bechdel lesen muss – kein Text ist zur Gänze lesbar –, ist etwas Information über den kleinen, aber besonderen Kreis der lesbischen Subkultur, in dem die Handlung spielt. Für diese Subkultur – selbstbewusst wie sie ist – sind die mikropolitischen oder personalisierten politischen Themen zentral, die ihre Mitglieder beschäftigen: Multikulturelle erotische Beziehungen; Komitees für Lesbian und Gay Studies; Frauenbuchhandlungen;

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rückläufige soziale Mobilität für Weiße der Mittelklasse; Versuche die gesellschaftliche Aufwärtsmobilität für farbige Lesben zu forcieren; Nahrungs-Faschismus [food facism]; gemeinschaftliches Zusammenleben; Kontroversen über die Sinnhaftigkeit von Therapien inmitten einer reaktionären politischen Landschaft und die Angemessenheit von Monogamie und Vertrags-Zeremonien33 in einem erotophoben gesellschaftlichen Klima. Bechdels Themen, ihre serielle Struktur, die von der Belletristik kommt, und der in repräsentativer Hinsicht traditionelle visuelle Stil legen eher eine Interpretation ihrer Arbeit im Sinne eines lesbisch-feministischen Realismus nahe als eine Einordnung in eine ästhetisch und formal innovative antirealistische Avantgarde. Die fehlende Rezeption Bechdels durch lesbische Kritiker_innen, die in den letzten Jahrzehnten das Theoretisieren lesbischer Kulturproduktionen beträchtlich vorangetrieben haben, resultiert aus dem Begehren, das Vermächtnis des von lesbischen Feministinnen und Cultural Feminists eingeforderten expressiven Realismus endlich hinter sich zu lassen. Der Unterschied zwischen den ästhetischen Vorlieben der anarchistischen Avantgarde für plötzliche dramatische Brüche und dem Insistieren der politischen Avantgarde auf ein langsameres, aber strategischeres Arbeiten wird auch durch die unterschiedlichen narrativen Strukturen von Bechdels und DiMassas Strips zum Ausdruck gebracht. Während DiMassas Arbeiten typischerweise mit einem großen Knall enden, schließen Bechdels Strips mit Gejammere. Die typische Struktur eines Bechdel-Strips konfrontiert den_die Leser_in mit der Darstellung eines Problems, seiner anschließenden Diskussion mit uneindeutigem Ausgang und einer finalen Unschlüssigkeit, gepaart mit der Aufforderung dranzubleiben, um über weitere Entwicklungen am Laufenden zu bleiben. Selbstverständlich ist dies ein weit verbreitetes Klischee in Cartoons; hier aber bedeutet ›dranzubleiben‹, noch mehr Fragen ohne klare Antworten zu erhalten. Ganz schön postmodern, oder? Für eine lesbische Betrachter_in bietet Alison Bechdels Dykes To Watch Out For auch dann mehr als nur eine lustvolle Wiederentdeckung des alten Spiels »Erkenne die Lesbe!« [»spot the dyke«], wenn es die primäre Intention der Cartoonist_in ist, lesbische Sichtbarkeit zu erhöhen. Weil – wie Derrida (1989: 12) in einem anderen Zusammenhang in Bezug auf einen möglicherweise lesbischen Text zur Fotografie bemerkt – »man die Figuren endlos miteinander sprechen sehen kann«, tritt die_der Betrachter_in in einen offenen Dialog mit dem_der Künstler_in über das sprechende und begehrende lesbische Subjekt ein. So wie Bechdel sie verwendet, erreicht die Comic-Form das, was Lucy Lippard (1984: 118) dieser als Vermögen zugesteht: die größtmögliche Imitation des Sprechens im Schreiben.

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5. … VIELLEICHT IST ES AN DER Z EIT, ZURÜCK IN DIE Z UKUNF T ZU GEHEN

Charles Russell (1985) erinnert uns daran, dass die Bedeutung von »Avantgarde« so unscharf ist, dass man seit der erstmaligen Verwendung dieses Begriffs im 18. Jahrhundert niemals einen Konsens darüber erzielte, wer oder was darunter zu verstehen sei. Die meisten mit der politischen Linken sympathisierenden männlichen Theoretiker_innen der Avantgarde wie etwa Huyssen (1986: 159177), Bürger (1994: 57-59) oder Russell (1985: 270) zeigten sich selbst unter dem geräumigen Schirm der Postmoderne skeptisch gegenüber der Möglichkeit der Wiederbelebung einer Avantgarde-Bewegung. Es ist schwierig davon ausgehend darauf zu schließen, dass surrealistische Werke wie Hothead Paisan – ganz zu schweigen von dem in repräsentativer Hinsicht viel traditionelleren Dykes To Watch Out For – den Einschluss in das, was ich um auf Nummer sicher zu gehen als Neo-Avantgarde bezeichnet habe, verdient haben. Weder in sprachlicher noch in formaler Hinsicht scheint Hothead oder Dykes innovativ genug zu sein. So sehr ich es auch hasse, zugeben zu müssen, dass die notorisch lesbophobe Theoretikerin Julia Kristeva (1980: 140) Recht gehabt haben könnte, als sie 1980 – also noch bevor Hothead Paisan oder Dykes To Watch Out For überhaupt ein Schimmer in den Augen ihrer Erfinder_innen waren – in ihrem Artikel »Postmodernism?« behauptete, dass weibliche Autor_innen der Postmoderne keinen verdienten Platz innerhalb der Avantgarde einnehmen könnten, weil sie »keine stilistische und deshalb auch keine literarische Neuheit« (ebd.) präsentierten: Sie hat Recht. Sowohl Dykes To Watch Out For als auch Hothead Paisan leiden beide am »Defekt« zu starkes »Interesse an der Bedeutung« (ebd.) zu haben. Beide Cartoonist_innen können nur marginale Bewerber_innen um einen Avantgarde-Status sein, weil sie zu ernsthaft sind. Weder sind sie (un-)populär, noch ausreichend spielerisch oder politisch inkorrekt genug, noch bietet eine der beiden eine selbstbewusste lesbische Kulturkritik an, die Repräsentationspraktiken transformieren kann und gleichzeitig die Unterscheidbarkeit von Realismus und Wahrheit als Fiktion erkennbar macht. Beide sind sich jedoch auf ihre jeweils eigene Art und Weise des Umstands bewusst, dass – anders als es die historische Avantgarde noch glaubte – es nicht möglich ist, aus dem Nichts heraus Neues zu erschaffen. In unterschiedlichem, aber äußerst bezeichnendem Ausmaß erkennen Bechdel und DiMassa zwei merkwürdige Tatsachen über das Verhältnis zwischen kulturellem und politischen Wandel an: Zum einen, dass man keine fortschrittlichen Werke ohne das Vertrauen auf theoretische und kulturelle Vorreiter_innen kreieren kann, die in diesem Fall die so sehr verachteten Vertreterinnen des lesbischen Feminismus der 1970er Jahre sind, und zum anderen, dass ohne die materiellen und politischen Voraussetzungen, die eine revolutionäre kulturelle und politische Praxis überhaupt erst möglich machen, avantgardistisches Schreiben vorerst zurück in die Zukunft gehen muss.

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A NMERKUNGEN 1 | Die vorliegende Übersetzung basiert auf einem Kapitel aus Kathleen Martindales Buch. Vgl. Martindale, Kathleen (1997): „Back to the Future with Dykes To Watch Out For and Hothead Paisan” In: Un/popular Culture. Lesbian writing after the sex wars, New York: State University of New York Press (Suny Press), S. 55-76. Die erstmalige Übersetzung dieses Kapitels ins Deutsche erfolgt von Barbara Eder mit Kürzungen und freundlicher Genehmigung des Verlags. 2 | Originalzitat: »[…] a new consciousness which for the first time would integrate political action, cutting-edge theory, linguistic reconstruction, adventurous sexuality, humor, spirituality and art toward the dream of a society of justice.« 3 | Die Hothead Paisan-Zines werden vierteljährlich bei Giant Ass Publishing, P.O Box 214, New Haven, CT 06502 verlegt. Die erste Ausgabe wurde im Februar 1991 veröffentlicht. 4 | A. d. Ü.: Der von Martindale verwendete Ausdruck »lesbiantic Brady Bunch« (wörtlich: ein Haufen von lesbischen Bradys) bezieht sich auf die gleichnamige amerikanische TV-Sitcom der 1970er Jahre, die 1995 unter dem Titel »The Brady Family« erneut verfilmt wurde. 5 | Originalzitat: »[…] cultural workers, young professionals and hot-blooded housemates.« 6 | Originalzitat: »The lesbian community’s premier visual archivist/gossip columnist« versus »the bible of man-hating ball busters driven over the edge of insanity into our own state, where anarchy reigns and no man is safe to walk in the streets?« 7 | A. d. Ü.: An dieser Stelle erfolgt ein Einschub der Autor_in, die die kulturellen Vorlieben von butches und femmes wie folgt einschätzt: »Verhalten sich femmes zu Agitprop so wie butches zur Avantgarde? ›Yikes!‹ würde Hothead sagen.« 8 | Originalzitat: »[…] subtle expressions and body movements which supplement the dialogue«. 9 | A. d. Ü.: Kathleen Martindale setzt, wie sie an anderer Stelle erklärt, den Begriff »Wimmen’s« Comics bewusst unter Anführungszeichen, die im Sinne von »scare quotes« benutzt werden. Weil die Bezeichnung »Wimmen’s Comics« oftmals als Synonym für lesbische Comics benutzt wurde, ist mit der Setzung der Anführungszeichen eine Abgrenzung von dieser keineswegs analogen Bedeutung intendiert. 10 | A. d. Ü.: Martindale spricht im Original von »queerly postmodern«, da sie Allianzen zwischen Queer Theory und Postmoderne annimmt: Der Identitätsbegriff der Queer Theory korrespondiert in einigen markanten Punkten mit den Selbstbeschreibungen von Individuen in postmodernen Gesellschaften, die die Erfahrung des Heterogenen und Brüchigen teilen. Die Queer Theoretiker_in Ruby Rich ist deshalb sogar geneigt vom Beginn der »Homo-Pomo« zu sprechen, d.h. von einer homosexuellen Epoche, die mit dem Einbruch der Postmoderne beginnt. Vgl. Rich, Ruby B. (1992): »New Queer Cinema«. In: Sight and Sound 2 (September 1992), S. 32.

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K ATHLEEN M ARTINDALE 11 | Frappante Auslassungen finden sich unter anderem in den folgenden Kulturstudien: Bryn S. Austin/Pam Gregg (1993): »A Freak Among Freaks: The Zine Scene«. In: Stein, Arlene (Hg.), Sisters, Sexperts, Queers: Beyond the Lesbian Nation, New York: Plume, S. 81-95; Jenkins, Henry (1988): »Star Trek Rerun, Reread, Rewritten: Fan Writing as Textual Poaching«. In: Critical Studies in Mass Communication 5, S. 85-107; Penley, Constance (1992): »Feminism, Psychoanalysis, and the Study of Popular Culture«. In: Grossberg, Lawrence/Nelson, Crary und Paula E. Treichler (Hg.), Cultural Studies, London: Routledge, S. 479-500 und Viegener, Matias (1992): »There’s Trouble in that Body: Queer Fanzines, Sexual Identity and Censorship«. In: Fiction International 22, S. 123-136. 12 | Originalzitat: »[…] Aileen Wurnos and for all the women who have been vilified, pathologized, and murdered for defending themselves by wathever means necessary«. 13 | A. d. Ü.: Wenn Martindale von dykes spricht, dann verwendet sie diese Bezeichnung deshalb in bewusster Abgrenzung zu lesbians, weil damit eine bestimmte lesbische Subjektposition gemeint ist: Im Gegensatz zu »sich als Frauen identifizierenden Frauen« sind in diesem Text mit dykes eher butchige Charaktere gemeint. 14 | A. d. Ü.: Das closet als sozialer Un-Ort an der Schnittstelle zwischen Innen und Außen fungiert innerhalb der Queer Theory als rhetorischer Schauplatz, um das gesellschaftliche Schweigen über sowie die Unsichtbarkeit von Homosexualitäten zu bezeichnen. Vgl. Sedgwick, Eve (1992): Epistemology of the Closet, Berkeley: University of California Press. 15 | Diese Information entstammt einem Telefongespräch zwischen Alison Bechdel und ihrer Verleger_in Nancy Bereano of Firebrand. 16 | Originalzitat: »[…] feminists chanting anti-violence slogans.« 17 | Originalzitat: »[…] ›sex with violence‹, despite the absence of sex scenes in the offending issues.« 18 | Originalzitat: »[…] a dangerous little zine […] not for the weak« und »Banned in Canada! (cause we’re ascared of it, that’s why!).« 19 | Originalzitat: »What about Bat-fuck and Nintendo and the Road Runner?« und »That’s different! Boys will be boys!« 20 | A. d. Ü.: Im Zentrum der Sex Wars der 1980er Jahre stand die diskursive Verhandlung des Themas der Sexualität. Ausschlaggebend dafür waren politische Ereignisse, die zu neuen Demarkationen zwischen der heteronormativen Majorität und seinem homo- und/oder transsexuellem Pendant führte. Innerhalb der queeren Geschichte gelten die Sex Wars als historischer Zeitpunkt, der zur (generationellen) Spaltung der vormals scheinbar homogeneren feministischen Bewegung in einen lesbisch-queeren, einen lesbisch-feministischen und einen heterosexuell dominierten Flügel führte. 21 | Kathleen Martindale bezieht diese Information aus einem Telefongespräch mit Alison Bechdel vom 27.07.1990. 22 | A. d. Ü.: Die Formulierung »ethnic sidekicks« kann in diesem Zusammenhang am ehesten mit ›Mitstreiter_in‹ übersetzt werden. Ein sidekick ist ein_e Freund_in einer charismatischen Anfüher_in, die_der im Schatten einer machtvolleren Held_in steht. In

Z URÜCK IN DIE Z UKUNFT MIT D YKES T O W ATCH O UT F OR UND H OTHEAD P AISAN der Comic-Geschichte gibt es einige bekannt gewordene sidekicks: So gelang es etwa Robin, aus dem Schatten Batmans herauszutreten und zu einer die Handlung vorantreibenden Figur zu werden. 23 | Bechdels Kommentare beschreiben an dieser Stelle das, was sie im Begleittext zur Präsentation eines Comics ihrem Publikum über die Erfindung ihrer Charaktere erzählte. 24 | A. d. Ü.: Auf dem Zwölf-Schritte-Programm basiert unter anderem die Vorgehensweise der AA (Alcoholics Anonymous) und der OE (Overeaters Anonymous). Mit twelvestepping new-agers sind hier die Anhänger_innen der esoterischen Post-Hippie-Bewegungen gemeint, die die Verbreitung ihrer Lehren nach dem Zwölf-Schritte-Programm organisieren. 25 | A. d. Ü.: Wir verwenden an dieser Stelle die den Bindestrich akzentuierende Schreibweise ›be-hindert‹, da Be-hinderung immer auch den Aspekt gesellschaftlichen verhindert- oder blockiert-werdens – etwa durch bauliche Beschränkungen oder soziale Selektion im Bildungswesen – umfasst und somit nicht allein auf körperliche Begebenheiten zurückgeführt werden kann. 26 | Originalzitat: »[…] as much shit from the politically correct police as from anybody else.« 27 | Zur Quelle siehe Fußnote 21, Originalzitat: »[…] all these wonderful, gorgeous lesbians, all these women who were really at ease with themselves and their bodies and their self-image« and she »found that it was possible to draw real women who weren’t in drag.« 28 | Originalzitat: »[…] the humor in my work is the shock we get from seeing ourselves. We’re not used to seeing ourselves represented as lesbians and gay men, and things become funny simply by virtue of their familiarity«. Zur Quelle von Bechdels Aussage vgl. Fußnote 21. 29 | A. d. Ü.: Die Cultural Radicals waren in den ausgehenden 1970ern eine Strömung innerhalb des Feminismus, die die positive Bewertung von traditionell mit Weiblichkeit assoziierten Eigenschaften wie etwa der Fortpflanzungsfähigkeit und der Mutterschaft vornahmen. Cultural Radicals betrachten die Fähigkeit von Frauen sich zu reproduzieren als unerschöpfliche Quelle der Macht, die Unterdrückung von Frauen wurde auch auf deren Enteignung infolge der männlichen Kontrolle über Fortpflanzungs- und Reproduktionstechnologien zurückgeführt. 30 | A. d. Ü.: Martindale bezieht sich hier auf das Encoding/Decoding-Modell des Cultural-Studies-Theoretikers Stuart Hall, der dieses in Abgrenzung von in der Medienforschung gängigen Konzepten wie der Wirkungsforschung und dem Sender_in-Empfänger_in-Modell konzipiert hat. Vgl. Hall, Stuart (1980): »Encoding/Decoding«. In: Ders: Culture, Media, Language: Working Papers in Cultural Studies 1972-79, London: Routledge. 31 | A. d. Ü.: »boy butt« ist ein amerikanischer Slang-Ausdruck zur Bezeichnung des Hinterteils junger Frauen, der ursprünglich nur zur Bezeichnung von jenem der Männer benutzt wurde.

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K ATHLEEN M ARTINDALE 32 | A. d. Ü.: Die Bezeichnung »yuppie- and buppiedom« meint weiße und schwarze Parvenues. Während yuppie eine auch im Deutschen gebräuchliche Abkürzung für (Y) oung (U)rban (P)rofessional ist, bezeichnet buppiedom – ein Amalgam aus »b(lack) + (y)uppie« – schwarze yuppies im Sinne von jungen Angehörigen der Oberschicht, die einen ausschweifenden Lebensstil kultivieren und auch über das dazu nötige Einkommen verfügen. 31 | A. d. Ü.: »boy butt« ist ein amerikanischer Slang-Ausdruck für das schmale Hinterteil junger Frauen, wird aber auch zur Bezeichnung von Männerhintern benutzt. 32 | A. d. Ü.: Die Bezeichnung »yuppie- and buppiedom« meint weiße und schwarze Parvenues. Während Yuppie eine auch im Deutschen gebräuchliche Abkürzung für (Y) oung (U)rban (P)rofessional ist, bezeichnet »buppiedom« – ein Amalgam aus »b(lack) + (y)uppie« – schwarze Yuppies im Sinne von Personen der ökonomischen Oberschicht in ihren späten 20ern, die einen ausschweifenden Lebensstil kultivieren und über das dazu nötige Einkommen verfügen. 33 | A. d. Ü.: Eine Commitment Ceremony ist eine noch vor der Legalisierierung der Homo-Ehe in westeuropäischen Staaten praktizierte heiratsähnliche Feier von Paaren im lesBiSchwulen und trans*- Bereich, die nicht als Imitation des heterosexuellen EheZeremoniells missverstanden werden sollte, sondern über eigenständige geschlechterpolitische und kulturelle Dimensionen verfügt.

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Queer-feministische Comics Produktive Interventionen im Kontext der Do-It-Yourself-Kultur Rosa Reitsamer und Elke Zobl

Dieser Artikel beschäftigt sich mit queer-feministischen Comics in ihren unterschiedlichen Formaten von Zines über Einzelillustrationen bis zum Comic-Puzzle. Gemeinsam ist diesen Comics, dass ihre Herstellung von den Produzent_innen als aktivistische Praxis verstanden wird, um heteronormative Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität in ihrem Zusammenspiel mit weiteren sozialen Kategorien der gesellschaftlichen Differenzierung aufzubrechen. Die für diesen Artikel interviewten Zeichner_innen verorten ihre Comics außerhalb des Mainstreams in einer feministischen Do-It-Yourself-Kultur (DIY)1, wenngleich eine der Befragten auch Buchillustrationen für Verlage gestaltet. Für die Diskussion der Interviewpassagen und einzelner queer-feministischer Comics dient uns das von Antke Engel vorgeschlagene Konzept der »VerUneindeutigung von Geschlecht und Sexualität« (vgl. Engel 2002) als theoretisches Werkzeug, zudem rekurrieren wir für die Analyse der Selbstverortung der Zeichner_innen in einer feministischen DIY-Kultur auf Theorien zu alternativer Medienproduktion und Do-It-Yourself-Kultur. Antke Engel entwickelt das Konzept der »VerUneindeutigung von Geschlecht und Sexualität« entlang einer ausführlichen Analyse queerer Theorien. Queere Theorien schlagen vor, Geschlecht und Sexualität als soziale und kulturelle Konstruktionen in Absehung von biologischer Determiniertheit zu verstehen und queer nicht als Identität, sondern als Identitätskritik zu konzeptionieren. Queere Identitätskritik geht über die Analyse der Geschlechterdifferenz hinaus, indem auf Kategorisierungen verzichtet und für eine Öffnung konflikthafter Pluralität plädiert wird. »Queer ist immer eine Identitätsbaustelle, ein Ort beständigen Werdens« (Jagose 2001: 165). Somit verweist queere Identitätskritik auf die Gewalt von Identitätspolitiken, weil sie sich auf Identitäts- und Minderheitenpolitiken sowie soziale Normen und kulturelle Vorstellungen richtet, die Identitäten durch die Definition von Zugehörigkeit und Ausschluss hervorbringen und regulieren. Die »VerUneindeutigung von Geschlecht und

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Sexualität« ist als Teil queerer Politik konzipiert und umfasst Repräsentationen sowie soziale Praxen. Queere Repräsentationen und Praxen sind »produktive Interventionen« in gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse, wobei Geschlecht und Sexualität nicht auf die hierarchische Geschlechterdifferenz und Heteronormativität bezogen werden, noch geht es um die Auflösung der Geschlechter oder eine Vervielfältigung der Geschlechter und Sexualitäten etwa durch ein androgynes »Entweder/oder«, »Sowohl/als auch« oder um Bi- oder Polysexualität. Es sollen queere Repräsentationen und soziale Praxen entwickelt werden, »die sich einer Stillstellung von Bedeutung widersetzen, jedoch auf die Norm verweisen, die sie veruneindeutigen, beziehungsweise den Prozess der Infragestellung oder Verschiebung materialisieren« (Engel 2007: 296). Folglich sind die Repräsentationen und Praxen der VerUneindeutigung kontextabhängig und -spezifisch, denn sie funktionieren jeweils im Verhältnis zu spezifischen Normen und Normalität. Im Versuch, Normierungen zu unterlaufen, werden keine oppositionellen Positionierungen eingenommen, wodurch erneut normative Schließungen etabliert werden könnten. Es geht vielmehr darum, »eine Perspektive der Veränderung zu eröffnen, ohne diese mit positiven Setzungen zu belegen – zum Beispiel bezüglich dessen, wie eine ›ideale‹ oder ›normale‹ Sexualität oder Geschlechtlichkeit auszusehen hätte« (Engel 2007: 297). Die hier ausgewählten queer-feministischen Comics verweisen auf eine Denaturalisierung und (herrschafts-)kritische Hinterfragung identitäts- und sexualpolitischer Kategorien, weil die Zeichner_innen die Kategorie Frau weder als stabile Identitätskategorie begreifen noch »ideale« Bilder von lesbischer Identität oder Sexualität in ihren Comics entwerfen. Mit ihren Bild-Text-Kombinationen entwickeln sie vielmehr eine queere Kritik an Heteronormativität im Kontext einer feministischen DIY-Kultur, die durch das Aufbrechen der Grenzen zwischen Konsument_in und Produzent_in sowie nicht-formalisierte Lernpraxen charakterisiert werden kann. DIY-Akteur_innen zeigen ein dezidiertes Interesse an der Verwendung neuer Technologien (Computer, Video, Internet etc.), richten sich gegen hegemoniale Ideologien u.a. über Kunst- und Musikproduktion und versuchen, ihre kulturellen Produktionen möglichst unabhängig von kommerziellen Strukturen herzustellen und zu vermarkten (vgl. Kearney 1998; Spencer 2005; McKay 2010; Reitsamer 2010). Wir verstehen queer-feministische Comics als »produktive Interventionen« in gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse, weil sie auf der Ebene der Repräsentation einer »Reifizierung und Neudramatisierung der Geschlechterdifferenz« (Gildemeister/Wetterer 1995: 248) durch die »VerUneindeutigung von Geschlecht und Sexualität« entgegenwirken; zugleich wird die kapitalistische Vermarktung der Comics infolge des Widerstandes der feministischen DIY-Kultur gegenüber rein kommerziellen Verwertungszusammenhängen sekundär. Bevor wir diese These anhand einzelner Interviewpassagen und queerfeministischer Comics diskutieren, beleuchtet der, wenngleich unvollständige,

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kursorische Überblick den historischen Entstehungskontext queer-feministischer Comics.2

1. F EMINISTISCHE , LESBISCHE UND QUEER - FEMINISTISCHE C OMICS – E IN KURSORISCHER Ü BERBLICK Queer-feministische Comics reihen sich in die Geschichte feministischer und lesbischer Comics ein, deren Anfang auf die Womyn’s Comix in den USA der frühen 1970er Jahre zurückgeht. Von den Publikationen des Mainstreams hinsichtlich ihrer gesellschaftskritischen Inhalte, ihrer Ästhetik und Verbreitung über einschlägige Fanzine-Netzwerke, unabhängige Comic-Verlage und Buchhandlungen unterscheiden sich Womyn’s Comix von den zu dieser Zeit entstandenen, männerdominierten Underground Comics. Die unter dem Begriff Womyn’s Comix subsumierten Publikationen verbinden in den 1970er Jahren die gegenkulturellen Elemente der Hippie- und Rock-'n'-Roll-Subkulturen mit der Aufbruchstimmung der Zweiten Frauenbewegung, wobei die Zeichnerinnen häufig autobiografische Elemente wie die Rebellion gegen ihre sexistischen Partner und Ehemänner, weibliche Sexualität und Abtreibung oder Gewalterfahrungen als thematische Schwerpunkte für ihre Illustrationen aufgreifen. Diese erste Generation feministischer Zeichnerinnen, zu denen u.a. Trina Robbins oder Roberta Gregory zählen, veröffentlicht ihre Comic-Strips in den damals neu gegründeten feministischen Magazinen und publiziert erste Bücher wie die Anthologien Wimmin’s Comix oder Tits 'n' Clits (Robbins 1999: 79ff). Viele dieser Publikationen werden von Kollektiven, teilweise mit rotierender Herausgeber_innenschaft, beim US-amerikanischen Comic-Verlag Nanny Goat Production mit dem Ziel veröffentlicht, die Männerdomäne der Comic-Szene aufzubrechen und die feministischen Zusammenschlüsse mit interessierten Zeichner_innen zu erweitern. In Österreich und Deutschland nutzen Zeichnerinnen ab den 1970er Jahren feministische Medien für die Veröffentlichung ihrer Comic-Strips und erkämpfen in etablierten Zeitungen die Comic-Seiten für ihre Illustrationen und Karikaturen. Bis Mitte der 1970er Jahre bleibt die Französin Claire Bretécher jedoch eine der seltenen Frauen in der von männlichen Illustratoren dominierten Comic-Szene. Sie zeichnet für belgische und französische Comic-Magazine und nimmt mit ihrer bis in die 1980er Jahre veröffentlichten Serie La Pages des frustrés im Nouvel Observateur die Generation der linken Aktivist_innen kritisch in den Blick. In Deutschland macht sich Marie Marcks mit ihren Karikaturen u.a. für die Süddeutsche Zeitung, Die Zeit oder Der Spiegel einen Namen. In der Frauenbewegung kann sie – im Unterschied zu Franziska Becker, deren Zeichnungen und Karikaturen ab 1976 regelmäßig in der Zeitschrift Emma erscheinen – nicht Fuß fassen (vgl. Kopf 2009: 139). In Österreich publiziert Gabi

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Szekatsch ihre ersten Comic-Strips in der 1983 gegründeten feministischen Monatszeitschrift an.schläge, mit denen sie Events der Wiener Frauenbewegung wie Demonstrationen, Ausstellungen und Parties festhält. Eine erste Ausdifferenzierung der Womyn’s Comix, deren Blütezeit sich in den USA bis Ende der 1980er Jahre erstreckt, leitet die erstmals 1980 publizierte Gay Comics-Anthologie mit lesbischen und schwulen Zeichner_innen ein, unter denen sich die Zeichnerin Alison Bechdel mit ihrem erfolgreichen Comic Dykes to Watch Out For findet. In Deutschland und Österreich erzielen in den 1980er und 1990er Jahren die von der Schwulen-Bewegung inspirierten Comics von Ralf König großen Erfolg. Erste lesbische Comic-Publikationen, wie Ausgezeichnet! Lesben-Comics von Katrin Kremmler, Regine Schuch und Eva Wagendristel (1993), Heikes Läspencomics von Heike Anacker ab 1994 und Comics von Ilse Kilic ab 1996 in unregelmäßigen Abständen publiziert, werden bei Verlagen oder im Comic-Zines-Format in kleinen Auflagen veröffentlicht und über Fanzine-Netzwerke vertrieben. Gegen Ende der 1990er Jahre erschienen zudem deutsche Übersetzungen der Comic-Bücher von Julie Doucet und Alison Bechdel. Ab Mitte der 1990er Jahre setzt eine zweite Ausdifferenzieung der Womyn’s Comics mit den Girls Comics und den queer-feministischen Comics sowie der Rezeption des japanischen Manga-Comics Sailor Moon im deutschsprachigen Raum ein, die eine Pluralisierung der Inhalte und einen Zuwachs weiblicher Zeichner_innen nach sich zieht. Girls Comics tragen das Wort girl, wie es die Publikationen Real Girl von Angela Bocage, die Action Girl-Anthologien von Sara Dyer, Deep Girl von Ariel Bordeaux oder Rude Girls von Jennifer Camper illustrieren, im Titel. Ihr Aufkommen, ihre Verbreitung und Ästhetik stehen, wie die Womyn’s Comics, im unmittelbaren Zusammenhang mit der Frauenbewegung, die mit der Formierung der Riot-Grrrl-Bewegung zu Beginn der 1990er Jahre einen »neuen« bzw. »Third Wave«-Feminismus für eine jüngere Generation von Frauen mit einer produktiven Aneignung und feministischen Umdeutung des Begriffs girl einleitet. Trotzig, lautstark und emanzipiert erobern die Grrrls ihren Platz in den Post-Punk-Szenen und geben der Frauenbewegung mit ihrem Slogan »Revolution Grrrl Style Now« einen neuen aktivistischen Input. Riot Grrrl mit seinem Do-It-Yourself-Ethos motivierte alsbald hunderte von jungen Frauen in den USA und Europa, eine Band zu gründen und/oder Fanzines zu produzieren. Dieses politisch-feministische Selbstverständnis der »Grassroots«-Aktivistinnen spiegelt sich auch in den heterogenen Inhalten der Girls Comics und den zahlreichen queer-feministischen Comics wider. Durch die Rezeption queerer Theorien stehen diese Comics in Abgrenzung zur Tradition der Womyn’s Comics mit ihrer frauenzentrierten Repräsentationspolitik, zugleich greifen die Comic-Zeichnerinnen das Motto der zweiten Frauenbewegung »Das Private ist politisch« auf und setzen weibliche, lesbische und queere Lebensrealitäten, Frauengeschichte, Gewalt gegen Frauen und Selbstverteidi-

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gung erneut auf ihre Agenda. Die Dokumentation frauenbewegter und queerer Ereignisse und ihre Verortung in einer feministischen DIY-Kultur dienen den Zeichner_innen häufig als Aufhänger für ihre Comic-Zines3 und (Einzel-)Illustrationen. Die Schwedin Karolina Bang illustriert beispielsweise mit ihrem einseitigen Comic Queer Nation die Entstehung der queeren Bewegung zu Beginn der 1990er Jahre; die in Großbritannien lebende Isy definiert ihre Publikation Morgenmuffel als autobiografisches Comic-Zine und nutzt sie für die Dokumentation ihres feministischen Aktivismus: »Morgenmuffel is an autobiographical comic zine. […] Its topics are what I do/am into – direct action, travel, grassroots organising, punkrock, ecology, feminism, friendship and enjoying life. […] I print about 400 to 500 copies by myself on duplicating machines at our local resource centre, which is cheap and fun, and distribute them through the wonderful zine network […]. I send them out all over the world. I also send copies free to prisoners, and review magazines.« (Isy, zit. nach Red/Zobl 2010)

Zusätzlich zu autobiografischen Zines sind Comic-Anthologien für eine jüngere Generation von Zeichner_innen ein beliebtes Veröffentlichungsformat, die über Zine-Netzwerke vertrieben und/oder im Internet veröffentlicht werden. Comic-Anthologien vereinen Beiträge von zumeist (noch) unbekannten Zeichner_innen wie etwa das von Teresa Pestana veröffentlichte Gambuzine (Portugal) oder die vom feministischen Comic-Kollektiv Dotterbolaget publizierten Zines Chicks Eat Comics und Vald (Schweden). Wenngleich die feministischen Zeichner_innen unterschiedliche Veröffentlichungsformate und Vertriebsstrukturen nutzen, heterogene Themen behandeln und das Wissen für die Comic-Produktion im DIY-Kontext und/oder auf Kunstschulen4 erlernen, teilen sie eine Gemeinsamkeit: Mit ihrer Kritik an gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen wollen sie hierarchische Geschlechterverhältnisse aufbrechen und verändern. Dieses Ziel verfolgen auch die_der Zeichner_in der Trouble-X-Comics5 und Ka Schmitz, deren Comics im Folgenden hinsichtlich der Frage nach den gewählten Strategien zur »VerUneindeutigung von Geschlecht und Sexualität« und zur Visualisierung von Differenzen diskutiert werden.

2. V ER U NEINDEUTIGUNG VON G ESCHLECHT UND S E XUALITÄT Im Mittelpunkt der Comic-Zines Trouble X steht die gleichnamige Figur, die sich einer Einordnung in die binäre hierarchische Geschlechterordnung entzieht. Dass der Titel der Comics zugleich die verhandelten Themen, die visuelle Sprache und Ästhetik bestimmt, thematisiert die_der Zeichner_in im Interview:

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Die_der Zeichner_in versteht Comics als ein autobiografisches Medium. Dieses ermöglicht es, persönliche Erlebnisse in abstrahierter Form zu behandeln, und dient ihr_ihm zur Verarbeitung von Erlebtem und dessen Kontextualisierung in der Gesellschaft. Die Comics erfüllen die Funktion von persönlichen Tagebuchaufzeichnungen, die nur die_der Zeichner_in mit der eigenen Biografie in Verbindung zu bringen vermag; gleichzeitig werden sie zu Dokumenten einer lokalen queer-feministischen Szene, die sich über die Auseinandersetzung mit spezifischen linken queer-feministischen Inhalten und Themen, die Präferenz für einen Kleidungsstil und einen bestimmten Habitus definiert. Durch die Selbstverortung der_des Zeichners_in in einer queer-feministischen Szene werden szenerelevante Politiken in den Comics behandelt, wodurch eine entsprechende Rezipient_innenschaft adressiert wird, die die Themen und BildText-Kombination zu dechiffrieren weiß. Den dokumentarischen Charakter, den die_der Zeichner_in ihren_seinen Comics durch die Verhandlung szenerelevanter Ereignisse, zumeist Konflikte, verleiht, teilen Trouble-X-Comics mit zahlreichen anderen feministischen, lesbischen und queer-feministischen Comic-Zines. Im schwarz-weiß gehaltenen, A5-großen Comic-Zine TROUBLE X gender fuck me wird auf jeder Seite eine Kurzgeschichte präsentiert, deren loser Zusammenhalt durch eine durchgängige queere Identitätskritik an der hierarchisch organisierten Geschlechterdifferenz gewährleistet wird. In Schnecken sind toll!, die erste Short-Story im Comics-Zine TROUBLE X gender fuck me, wird die Geschichte – die Unzufriedenheit von Trouble X mit ihrem Geschlecht und der Wunsch nach heterogenen geschlechtlichen Inszenierungen abseits der Zweigeschlechtlichkeit – durch statische Bilder erzählt, wobei auf die stilistischen Mittel zur Andeutung von Bewegung verzichtet wird. Die Texte, die primär zur Illustration dienen und wenig zur Erklärung der Geschichte beitragen, werden unterschiedlich eingesetzt: Innerhalb der Panels sind sie teilweise durch Rahmen von der Illustration abgegrenzt, sie übernehmen aber auch die Funktion von Bildunterschriften. Schnecken, das wird im ersten Bild bereits deutlich, firmieren als Prototyp, weil »die können sich jeden Tag aussuchen, was sie sein wollen…«. Daran anschließend werden diese Tiere als menschliche Individuen stilisiert, die sich schlicht über Heteronormativität und Zweigeschlechtlichkeit

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Abbildung 82: »Schnecken sind toll!« © TROUBLE X. Online unter: http://troublex.blogsport.de/images/trouble_x_schnecken.pdf

durch ihre Wandelbarkeit hinwegsetzen. Die letzte Panelabfolge zeigt im ersten Bild die Figur Trouble X mit hängendem Kopf, unglücklich über ihre Geschlechtszugehörigkeit, wobei das sekundäre Geschlechtsmerkmal der Brüste als störendes Attribut identifiziert wird. Als Lösungsansätze visualisiert die_der Zeichner_in die beiden gängigen Transgender-Praxen im Umgang mit Brüsten, ihr Verstecken durch Bandagen oder ihre Amputation. Dass diese Möglichkeiten Geschlecht einer VerUneindeutigung zu unterziehen wenig befriedigend sind, wird im letzten Bild deutlich, denn: »Irgendwas ist ganz schön unfair!« Welche Interaktionen jeder »Fairness« entbehren, erklärt sich in der nächsten Geschichte auf der gegenüberliegenden Seite des Comic-Zines mit dem Titel *antworten?. Auch hier greift die_der Zeichner_in auf Bildunterschriften zurück, wobei sie mit Stern (*) gekennzeichnet die Funktion von Fußnoten einnehmen, die teilweise vor dem Titel * antworten eingesetzt werden können. Die_der Zeichner_in versetzt damit die Lesenden in die Position, die im Comic durch Bild und Bildunterschrift aufgeworfenen Fragen für sich selbst zu beantworten. Wir, die Leser_innen, werden aufgefordert, über das omnipräsente »doing gender« (vgl. West/Zimmermann 1987) in alltäglichen Interaktionen zu reflektieren: So in den ersten drei Bildern, bei denen Trouble X aufgrund nicht

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Abbildung 83: Toiletten für Trans* © TROUBLE X. Online unter: http://troublex.blogsport.de/images/

sichtbarer Brüste mit einer Person konfrontiert ist, die mit dem Zeigefinger auf sie_ihn zeigt und fragt, ob sie_er denn überhaupt eine Frau sei. Die Zusammensetzung von Titel und Bildunterschrift lautet folglich: »Soll ich auf so etwas überhaupt noch antworten?« In der nächsten Sequenz werden Situationen auf der Toilette thematisiert, wobei auch hier wieder das rigide Geschlechterarrangement (Goffman 1994) zum Tragen kommt. Geschlechtszugehörigkeit wird in alltäglichen Interaktionen hergestellt, hier, indem einmal eine Frau, das andere mal ein Mann Trouble X mit der Frage nach ihrer_seiner Geschlechtszugehörigkeit konfrontiert. Der Ausweg scheint das WC für Hermaphroditen zu sein, wobei der Untertitel dieses Panels auf die Ausstellung »1-0-1 Intersex« verweist, die 2005 in Berlin stattfand (vgl. Neue Gesellschaft für Bildende Kunst e.V. 2010). In dieser Ausstellung hat die_der Zeichner_in die Idee des Hermaphroditen-WCs gesehen. Der Einsatz der Bilduntertitel ist vergleichbar mit einer selbstreflexiven Stimme der_des Zeichners_in aus dem Off, um Referenzen auf Ausstellungen und Literaturhinweise zu machen oder andere soziale Kontextualisierungen vorzunehmen.

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Neben dem Hinweis, dass Trouble X ständig in Alltagssituationen auf ihre_ seine Geschlechtszuge-hörigkeit angesprochen wird, lernen wir beim Lesen des Comics zudem, dass auch in der queer-feministischen Szene Macht- und Herrschaftsansprüche geltend gemacht und Ein- und Ausschlüsse produziert werden: An die Stelle des »doing gender« in Alltagssituationen tritt im dargestellten queer-feministischen Kreis eine Exotisierung von Trouble X, die in Anfragen, ob er_sie geküsst werden dürfe, ihren Niederschlag findet. Deutlich wird die Antwort »Nein« als Textelement, das die Position eines Bildes einnimmt, visualisiert. Die_der Zeichner_in nutzt Comics für eine queere Identitätskritik, allerdings werden primär Alltagssituationen visualisiert, die eine »VerUneindeutigung von Geschlecht und Sexualität« nahezu verunmöglichen. Eine queer-feministische Perspektive nimmt auch die in Berlin lebende Zeichnerin und Illustratorin Ka Schmitz bei der Herstellung ihrer Comics ein. Auch sie versteht Comics als ein autobiografisches Medium und behandelt alltägliche Interaktionen, häufig im Zusammenhang mit Gewalt gegen Frauen und Transgender-Personen: »Ich verpacke nicht klare politische Parolen, sondern die Comic-Themen entwickeln sich immer entlang meiner eigenen Geschichte, was ich erlebe und was mich beschäftigt. Es geht sehr viel um Alltagsthemen, ganz viel habe ich mich mit Gewalt gegen Frauen und Selbstverteidigung, Gewaltprävention und Geschlechterrollen beschäftigt. Es geht darum, was es heisst, in einer patriarchal und herrschaftlich organisierten Gesellschaft zu leben. […] Mein Schwerpunkt liegt auf der Frage, wie ich Verschiedenheit darstellen kann, ohne in Klischees zu verfallen. Wie kann ich Geschlecht darstellen, ohne dass es zu einer binären Darstellung kommt? Wie kann ich es verhindern, dass eine Strichfigur automatisch zu einem Stichmännchen wird?« (Ka Schmitz)

Ka Schmitz widmet sich in ihren Zeichnungen dem Versuch, hegemoniale Lesegewohnheiten aufzubrechen, in die die Logik der Zweigeschlechtlichkeit eingeschrieben ist. Am Beispiel des D.I.Y. Genderpuzzle. Drag it yourself!, das sie gemeinsam mit Imke Schmidt von 123-Comics realisierte, findet dieser Versuch eine gelungene Umsetzung: Das D.I.Y. Genderpuzzle besteht aus 175 Einzelbildern in der Größe von jeweils fünf mal fünf cm, die zu vielen verschiedenen Geschichten kombiniert werden können. Es handelt sich, wie die beiden Zeichnerinnen auf der Banderole des Genderpuzzles festhalten, um eine »Ausstellung für die Hosentasche«, wobei jedes Einzelbild eine oder mehrere Figuren präsentiert, die aus einem Rechteck in grüner Farbe mit Kopf, Armen und Beinen bestehen. Jedes der Bilder illustriert eine »VerUneindeutigung von Geschlecht und Sexualität«, indem sich keine der Figuren als eindeutig männlich oder weiblich identifizieren lässt. Die unermüdliche Suche der Betrachter_innen nach sekundären Geschlechtsmerkmalen wie Brüste, Habitus, Frisur etc. für eine Einordnung in das binäre Geschlechtersystem erfährt eine Irritation.

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Die »Drag Utensilien« (Zitat Ka Schmitz) und ihre unterschiedliche Verwendbarkeit verleihen der queeren Repräsentation letztlich ihren spielerischen Charakter: Zwei miteinander verbundene Ovale dienen auf einem Bild als Bart, bei einem nächsten als Frisur, bei einem dritten als BH und in einem vierten als Abbildung 84: Einzelbilder aus »Gender-Puzzle« © Ka Schmitz und Imke Schmidt

Schmetterling, der wegfliegt. Einen ähnlichen Einsatz findet der Hut, der von einer Kopfbedeckung zu einem Raumschiff wird, aus dem eine außerirdische Person aussteigt, die sich mit einem Stift einen Bart aufmalt. Bei genauerer Betrachtung der Einzelbilder wird erkennbar, dass einige Figuren keinen Mund, andere Strichmünder und wiederum andere Lippen haben, die sich die Figuren teilweise selbst zeichnen. Eine »VerUneindeutigung von Geschlecht und Sexualität«, darauf verweisen Ka Schmitz und ihre Kollegin deutlich, ist im Zusammenhang mit weiteren Kategorien der sozialen Differenzierung zu denken. Die in diesem Abschnitt diskutierten Beispiele veranschaulichen, wie hegemoniale Lesegewohnheiten durch unterschiedliche bildpolitische Strategien der »VerUneindeutigungen von Geschlecht und Sexualität« aufgebrochen werden. Die Strategien verweisen auf gesellschaftliche Normen und zeigen Perspektiven möglicher Veränderungen auf.

3. DIY-K ULTUR UND A K TIVISMUS Die soziale Praxis des Zeichnens queer-feministischer Comics lässt sich nicht nur auf inhaltlicher und visueller Ebene als »produktive Intervention« in gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse verstehen, sondern auch hinsichtlich der nicht-kommerziellen Verbreitung der Comics. Ihre Distribution erfolgt primär über dezentrale Netzwerke queer-feministischer Szenen und alternative Buchläden, Musikfestivals, Ausstellungen, Workshops, »Online-Distros«, Mailinglisten oder Messageboards. Diese DIY-Netzwerke legen auf veränderte, prozesshafte soziale Beziehungen und Kommunikationsprozesse hinsichtlich etablierter Standards der Professionalisierung, der Kompetenzaneignung und des intellektuellen Eigentums Wert (vgl. Atton 2002: 27ff). Der

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Medienwissenschaftler Chris Atton definiert Zines, wozu wir auch Comics zählen, als »alternative Medien«, durch deren Herstellung und Vertrieb die Produzent_innen und Konsument_innen eine Medienökonomie des Schenkens und Tauschens etablieren, die sich Prozessen der Institutionalisierung, Professionalisierung und ökonomischen Wertschöpfung verweigert (vgl. ebd.: 64). Entsprechend dieser Medienökonomie verbreiten Ka Schmitz und die_der Zeichner_in der Trouble-X-Comics ihre Comics zum Selbstkostenpreis oder gar kostenlos: »Ich will die Comics umsonst rausgeben und sie nicht verkaufen. Dadurch können sie auch Leute haben, die es sich nicht leisten können, ein Comic zu kaufen. Deswegen mache ich das auch. Ich will, dass meine Comics gelesen werden und ich finde, dass das schon eine Art von queerem Handeln ist. Dadurch, dass ich die Comix auch im Internet veröffentliche, mache ich sie auch zugänglich für andere. […] Es ist sehr viel Vernetzung. Ich habe den Austausch mit anderen Leuten und kriege von den anderen Leuten auch mehr mit. Es ist nicht so, dass ich nur Inhalte hingebe, sondern ich kriege auch Inhalte.« (Zeichner_in der Trouble X Comics)

Die_der Zeichner_in gibt ihrer_seiner Einbindung in ein DIY-Netzwerk und der nicht-kommerziellen Weitergabe der Comics den Vorzug gegenüber der Akkumulation von ökonomischem Mehrwert. Durch die kostenlose Weitergabe der Comics, die als »eine Art von queerem Handeln« definiert wird, sollen soziale Ungleichheiten minimiert werden. Gewährleistet wird der Zugang zu den Comics primär über das Internet, indem sie über Blogs, MySpace, Flickr und Facebook zu finden sind und heruntergeladen werden können. Einer Zirkulation der Comics in unerwünschten sozialen Zusammenhängen beugt die_der Zeichner_in durch den Hinweis auf »Copy Riot« mit der Creative Commons Lisence auf ihren_seinen Websites vor. Dass »social networking« über die Vernetzung durch Web-2.0-Portale zeitintensiv ist, virtuelle Interaktionen soziale Nähe vortäuschen und eine kapitalistische Verwertung nicht zwangsläufig ausgeschlossen ist, ist der_dem Zeichner_in durchaus bewusst: »Ich bin sehr präsent im Internet und viele kennen meine Sachen. Das ist schon ein bisschen eine kapitalistische Vermarktung, die ich da mache« (Zeichner_in der Trouble-X-Comics). Die Präsenz der Comics im virtuellen Raum ermöglicht, neben deren Verbreitung, der Vernetzung mit anderen queer-feministischen Akteur_innen und Comic-Zeichner_innen und dem Austausch von Inhalten, die Akkumulation von »symbolischem Kapital« (vgl. Bourdieu 1999), das durch Einladungen zu Ausstellungen, Ladyfesten oder Präsentationen in queer-feministischen Räumen in ökonomisches Kapital, wenngleich in geringem Ausmaß, konvertiert wird. Der gegenwärtigen Euphorie vieler Internet-User_innen über Web 2.0 kann sich Ka Schmitz nur mit Vorbehalten anschließen:

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R OSA R EITSAMER UND E LKE Z OBL »Ich habe eher eine Skepsis, wie viele Daten ich ins Internet stelle und die überwiegt oft gegenüber dem, dass es eine wichtige Kommunikationsplattform ist und dass viele Sachen einfach schnell laufen. Ich komme aus einer linken Tradition, wo wir nicht so gerne immer alle unsere Daten überall öffentlich gemacht haben. Ich bin sehr in diesem Datenschutzgedanken erzogen.« (Ka Schmitz)

Ka Schmitz spricht eine diskursive Verschiebung von emanzipatorischer linker Politik an, die einer Bewegung weg vom Datenschutz privater Informationen und feministischer Inhalte hin zu deren Veröffentlichung im virtuellen Raum gleicht. Sie macht daher die Verbreitung ihrer Comics und Illustrationen vom sozialen Kontext abhängig und verkauft beispielsweise das D.I.Y. Genderpuzzle zum Selbstkostenpreis an die queer-feministische Szene oder erlaubt die kostenlose Vervielfältigung ausgewählter Zeichnungen für politische Aktionen. Ihre Illustrationen und Comics für Verlage unterliegen jedoch dem Copyright. Der kostenlosen Verbreitung der Comics über einschlägige On- und OfflineNetzwerke liegt das Selbstverständnis der DIY-Kultur zugrunde, die sich durch »Selbstermächtigung, Selbstorganisation, Improvisation und Eigeninitiative« (Calmbach 2007: 17) charakterisiert. Folglich versuchen queer-feministische Comic-Produzent_innen wie Ka Schmitz und die_der Zeichner_in der TroubleX-Comics die Grenzen zwischen Konsument_innen und Produzent_innen etwa durch die aktive Einbindung der Comic-Leser_innen aufzubrechen, Eigeninitiative mit »How-to-do«-Anleitungen zu unterstützen und Wissen abseits von traditionellen (Aus-)Bildungsinstitutionen bei selbstorganisierten Workshops weiterzugeben. So legt die_der Zeichner_in der Trouble-X-Comics den Zines eine lose Seite mit gezeichneten Figuren und leeren Sprechblasen mit der Aufforderung »jetzt liegt es an euch…« bei. Die Leser_innen werden aufgefordert, Texte in die Sprechblasen einzufügen und die Comics an die_den Zeichner_in zu retournieren. Im »how to D.I.Y a comic«-Zine beschreibt die_der Zeichner_in ihre_seine Vorgangsweise beim Zeichnen, die sie_er nicht als formalisierte Anleitungen verstanden haben möchte, sondern als Ermutigung, selbst mit dieser »D.I.Y.-Praxis« zu beginnen: »Das [DIY] ist eine Praxis. […] Die kann sehr ermutigend […] und sehr empowernd sein. Es ist eine feministische Ermächtigungspolitik, Sachen selbst zu machen. […] Da sind auch bewusst Fehler drinnen, weil ich denke, es muss nicht perfekt sein. Perfekt gibt es nicht. Das ist eine Illusion, die man sich mal ausgedacht hat. Es ist auch eine finanzielle Möglichkeit, Sachen zu machen, die, wenn sie […] von definierten Professionellen gemacht werden, oft finanziell nicht leistbar sind. […] Skill sharing macht einfach auch Spaß. Das ist ein Teil von DIY […] und auch eine Art von Community Building, wo auch viel über Tauschen funktioniert. DIY ist eine Art von Alternative, um zu sagen: Es muss nicht alles vermarktbar sein.« (Zeichner_in der Trouble-X-Comics)

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Abbildung 85: Comics zum Ausfüllen © TROUBLE X. Online unter: http://farm4.static.flickr.com/3152/3542814855_d3c7418fdb_b.jpg

Im Kontext der DIY-Kultur wird das Zeichnen queer-feministischer Comics durch die Verbindung feministischer Selbstermächtigungsstrategien mit linker Kapitalismuskritik zu einer »produktiven Intervention« in gesellschaftliche Machtverhältnisse. Die_der Zeichner_in strebt demnach auch keine Perfektion für ihre_seine Comics an. Perfektion existiert nicht, weder für das Zeichnen der Comic, noch für andere kulturelle Produktionen der DIY-Kultur. Im Mittelpunkt stehen emanzipatorische Bottom-Up-Prozesse durch »learning by doing« und »skill sharing«, die etablierte Maßstäbe und Richtlinien für »perfekte« Zeichnungen aushebeln, dekonstruieren und sich über diese hinwegsetzen. Sehr ähnlich spricht Ka Schmitz über ihre Comic-Workshops für Mädchen, Frauen und Trans*-Personen: »Meine Comic-Workshops […] gehören auch zu meiner Arbeit als Comic-Zeichnerin. […] Da ist das Thema eigentlich nicht so wichtig, weil es eher darum geht, ein Medium in die Hand zu geben. Dafür finde ich Comics sehr geeignet, weil du dafür nichts brauchst, weder Zeichenkünste, noch Materialien. Du kannst mit einem Kuli auf einem Blatt Papier großartige Kunst erschaffen. Das finde ich so toll daran. […] Das meiste, was ich eigentlich mache, ist die Teilnehmer_innen dabei zu unterstützen, zum eigenen Selbstvertrau-

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R OSA R EITSAMER UND E LKE Z OBL en wieder zurückzukommen und Sachen auszuprobieren. Eine meiner Lieblingsformen ist das Comic-Jam. Da hast du eine Seite und zeichnest das erste Bild und gibst es weiter. Dann zeichnet jemand das nächste Bild und gibt es weiter und so entwickelt sich eine Geschichte. Das macht total Spaß, weil es auch eine kollektive Arbeitsform ist, bei der die Autorenschaft ein Stück weit aufgelöst wird.« (Ka Schmitz)

In den Comic-Workshops, ein niedrigschwelliges Angebot für den Einstieg in das Comic-Zeichnen und eine Plattform für informelles Lernen, forciert Ka Schmitz kollektive Selbstermächtigungsprozesse und stellt das Ausführen ihrer Anleitungen durch die Workshop-Teilnehmer_innen und eine Orientierung an Ergebnissen hintan. In den Workshops wird eine künstlerische Praxis vermittelt, die individuelle Autor_innenschaft und dem etablierten Topos des »Künstler_innengenies« durch kollektive Arbeitsweisen eine Absage erteilt. Das Zeichnen von Comics ist in den Workshops dialogisch und kollektiv. Das Erzeugen von Gemeinschaft, wesentlich durch den Wissensaustausch und »skill sharing« zwischen Akteur_innen der queer-feministischen Szenen hergestellt, wird zur Voraussetzung für die Hervorbringung einer alternativen Medienökonomie, die zu einem beträchtlichen Teil auf kollektiver, unbezahlter Arbeit vor dem Hintergrund des Non-Profit-Gedankens basiert. Durch das DoIt-Yourself-Ethos unterscheiden sich die alternativen Medienökonomien queerfeministischer Szenen von den Vorgangsweisen global agierender Medienkonzerne, die »Produkte« generieren und diese flächendeckend an die »Masse« der Konsument_innen verkaufen (vgl. Bennett/Peterson 2004; Reitsamer 2010). Comics, Comic-Zines und Comic-Workshops lassen sich als Medium für lokalen und transnationalen Dialog, Gemeinschafts- und Netzwerkbildung verstehen, durch die Zeichner_innen Erfahrungen und Wissen lokal, transnational und virtuell austauschen. Zinester Mimi Nguyen (2000) spricht im Kontext der Riot-Grrrl-Bewegung von einem informellen pädagogischen Projekt als »punk rock teaching machine«, dessen Grundprinzip es ist, dass jede_r Leser_in zur_ zum Produzent_in wird und potenziell von der Produktion bis zum Vertrieb ihrer_seiner kulturellen Artefakte alle Positionen einnehmen kann. Im Mittelpunkt dieser sozialen Praxen der DIY-Kultur steht nicht der Erfolg im Hinblick auf die Anzahl der Leser_innen von Zines. Die Heterogenität der Stimmen, die sich in einer Vielfalt von Medien ausdrückt, ist ausschlaggebend. Durch die Selbstverortung der Comic-Zeichner_innen in den Kontext einer selbstorganisierten feministischen DIY-Kultur wird der kapitalistischen Vermarktung durch emanzipatorische Bottom-Up-Prozesse und Selbstermächtigungsstrategien entgegengewirkt. Im Sinne von Antke Engels »VerUneindeutigung von Geschlecht und Sexualität« eröffnen diese queer-feministischen Comics wertvolle queere Perspektiven der Veränderung.

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Der Artikel wurde im Rahmen der Forschungsprojekte »Feminist Media Production in Europe« (P21187) und »Young women as creators of new cultural spaces« (T360-G12), beide gefördert vom Österreichischen Fonds für wissenschaftliche Forschung, verfasst.

A NMERKUNGEN 1 | Die Anfänge der DIY-Kultur wurzeln in den avantgardistischen Kunstbewegungen der 1950er Jahre und den aufkommenden sozialen Bewegungen der 1960er Jahre. 2 | Während die Geschichte der Comics von Frauen und von feministischen Comics im US-amerikanischen Kontext relativ gut dokumentiert ist (Robbins 1999, 2001), ist die historische Aufarbeitung feministischer, lesbischer und queer-feministischer Comics noch weitgehend ausständig. Vereinzelt widmen sich Artikel und Interviews mit ComicZeichnerinnen den historischen Aspekten. Vgl. Huber, Ute (2010): »My Motherfuckin’ Space. Frauencomics, feministische Comics, Lesbencomics«. In: eLibrary Projekt (Hg.). Online unter http://elib.at/ (Letzter Zugriff 21.03.2010); Kopf, Christine (2009): »Marie und die Mangas. Auf der Suche nach der zeichnenden Frau: ein kleiner Abriss der Comic-Historie«. In: Feministische Studien 1/2009, S. 137-141; Sabin, Roger/Triggs, Teal (2002): Below Critical Radar: Fanzines and Alternative Comics from 1976 to Now, Hove: Slab-O-Concrete und Zobl, Elke (2009): »Cultural Production, Transnational Networking, and Critical Reflection in Feminist Zines«, In: Signs. University of Chicago Press 1, Autumn, S. 1-12. 3 | Zines sind selbstständig produzierte Magazine, die, meist in kleinen Auflagen kopiert, selbst geheftet und in Buchhandlungen, Plattengeschäften oder Distros vertrieben werden. Die meisten Zines beginnen als persönliche Newsletter, die an Freund_ innen verteilt oder gegen andere Zines getauscht werden. Vgl. Duncombe, Stephen (1997): Notes from Underground: Zines and the Politics of Alternative Culture, London: Verso; Zobl, Elke (1999): »To do a Magazine is One of Our Ways – to get what we want! Feministische Comic- und Artcore-(Maga-)Zines«. In: Jens Neumann (Hg.), Fanzines 2. Noch wissenschaftlichere Betrachtungen zum Medium der Subkulturen, Mainz: Ventil Verlag, S. 29-64 und Zobl, Elke (2009): »Cultural Production, Transnational Networking, and Critical Reflection in Feminist Zines«. In: Signs. University of Chicago Press 1, Autumn, S. 1-12. Beispiele für Comic-Zines sind unter anderem Radix (Nina Nijsten, Belgien), It’s raining dykes (Lola Gouine, Frankreich/Kanada), Morgenmuffel (Isy Morgenmuffel, England), Girlfrenzy (Erica Smith, England), Doris (Cindy Gretchen Ovenrack Crabb, USA), Invincible Summer (Nicole J. Georges, USA), Pretto und Fetto (Karolina Bäng, Schweden) sowie Comics des Dotterbolaget Comics Collective (Schweden). 4 | Neben Comic-Publikationen im Kontext einer feministischen DIY-Kultur wird das Zeichnen von Comics in Deutschland und Österreich ab den 1990er Jahren zunehmend als künstlerische Praxis wahrgenommen – als Beispiel sei Linda Bilda mit ihrer Ausstellung im Kunstverein Salzburg (2009) genannt – und als eigenständige künstlerische

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R OSA R EITSAMER UND E LKE Z OBL Disziplin in die Curricula einzelner Kunsthochschulen – wie etwa der Wiener Kunsthochschule – aufgenommen. 5 | Auf ausdrücklichen Wunsch der_des Zeichners_in soll ihr_sein Name nicht genannt werden; sie_er möchte durch die gewählte Schreibweise im Text repräsentiert sein.

L ITER ATUR Atton, Chris (2002): Alternative Media, London: Thousand Oaks. Bennett, Andy/Peterson, Richard A. (2004): »Introduction Music Scenes«. In: Dies. (Hg.), Music Scenes. Local, Translocal, and Virtual, Nashville: Vanderbilt University Press, S. 1-16. Bourdieu, Pierre (1999): Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Calmbach, Marc (2007): More Than Music. Einblicke in die Jugendkultur Hardcore, Bielefeld: transcript. Chidgey, Red/Zobl, Elke (2010): »Morgenmuffel. An Email Interview with Isy from Brighton, UK«. Online unter: www.grassrootsfeminism. net/cms/ node/119 (Letzter Zugriff: 21.03.2010) Duncombe, Stephen (1997): Notes from Underground: Zines and the Politics of Alternative Culture, London: Verso. Engel, Antke (2002): Wider die Eindeutigkeit. Sexualität und Geschlecht im Fokus queerer Politik der Repräsentation, Frankfurt a.M.: Campus. — (2007): »Entschiedene Interventionen in der Unentschiedenheit. Von queerer Identitätskritik zur VerUneindeutigung als Methode«. In: Hark, Sabine (Hg.), Dis/Kontinuitäten. Feministische Theorie, aktualisierte und erweiterte Auflage, Wiesbaden: VS Verlag, S. 285-304. Gildemeister, Regine/Wetterer, Angelika (1995): »Wie Geschlechter gemacht werden. Die soziale Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit und ihre Reifizierung in der Frauenforschung«. In: Knapp, Gudrun-Axeli/Wetterer, Angelika (Hg.), Traditionen Brüche Entwicklungen feministischer Theorie, Freiburg: Kore Verlag, S. 201-250. Goffman, Erving (1994): »Das Arrangement der Geschlechter«. In: Ders., Interaktion und Geschlecht, Frankfurt a.M.: Campus, S. 105-159. Huber, Ute (2010): »My Motherfuckin’ Space. Frauencomics, feministische Comics, Lesbencomics«. In: eLibrary Projekt (Hg.). Online unter: http://elib. at/ (Letzter Zugriff: 21.03.2010). Jagose, Annamarie (2001): Queer Theory. Eine Einführung, Berlin: Querverlag. Kainz, Barbara (2009) (Hg.): Comic. Film. Helden. Heldenkonzepte und medienwissenschaftliche Analysen, Wien: Löcker. Kearney, Mary Celeste (1998): »Producing Girls: Rethinking the Study of Female Youth Culture«. In: Inness, Sherrin (Hg.), Delinquents and Debutantes:

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Happy Homos Über Tom of Finlands schwule Superhelden Peter Rehberg

Tom of Finland im Rahmen eines Bandes über Comics zu behandeln, bietet sich aus mindestens zwei Gründen an: Zum einen hat der finnische Zeichner mit bürgerlichem Namen Touko Laaksonen (1920-1991) in seiner über 50-jährigen Karriere neben Porträts und anderen Einzelmotiven bereits in den 1950ern Comics von schwulen Männern gezeichnet. Ab den späten 1960ern entstanden Abbildung 86/87: Narrative Sex-Sequenz aus Tom of Finlands Kake-Comics (Tom of Finland 1975: No. 7 und No. 12) © The Tom of Finland Foundation, Los Angeles.

die legendären und offensiven Kake-Comics, die nach dem Helden der darin dargestellten sexuellen Abenteuer benannt sind. Darüber hinaus bedienen sich viele Motive Tom of Finlands – die nicht eigentlich Comics im Sinne narrativ organisierter Bilderfolgen sind – einer Comic-Erzählweise: Indem diese meh-

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rere aufeinander folgende Zeitebenen ins Bild holen, fangen sie die narrative Sequenz simultan in einer Zeichnung ein. Inhaltlich geht es bei den pornografischen Bildsequenzen und Bildern Tom of Finlands um Verführungsszenen, die Narration ist schematisch und erstreckt sich vom ersten Blickkontakt bis zum romantischen Nachspiel. Während die früheren Comics aus den 1950ern noch von Texten begleitet sind, findet man diese bei den späteren Kake-Geschichten nur noch zum Teil. Das Fehlen von Worten und die Konzentration auf visuelle Codes spiegelt dabei auch die Kommunikationsformen einer schwulen Subkultur wieder, in der schneller und anonymer Sex oft sprachlos abläuft und zum Beispiel über den Zeichencharakter von Fetischen organisiert wird, oder den inzwischen aus der Mode gekommenen Hanky-Code – farbigen Taschentüchern, die abhängig davon, wo sie getragen wurden, signalisierten, worauf man beim Sex steht. Tom of Finlands Bilder ähneln sich bis zur Monotonie, sie zeigen – wie Pornografie auch sonst – immer wieder das Gleiche. Im Fall von Tom of Finland – und genau das ist charakteristisch für sein Werk – werden die Sexgeschichten auch noch vom immergleichen Typus Mann verkörpert: Einem schwulen sexuellen Superhelden mit unwahrscheinlichen Körpermaßen. Deshalb bietet es sich jenseits einzelner Comics und Zeichnungen an, den Tom-of-Finland-Typ zu analysieren1, der auch in der realen schwulen Welt der letzten 40 Jahre unter der Bezeichnung Clone Karriere gemacht hat: Kurze Haare, kantig-maskuline Gesichtsformen, eventuell ein Schnurrbart, breite Schultern, trainierte Brustmuskulatur, schmale Taille, kräftige Beine, große Geschlechtsteile und Hintern, die von engen Hosen betont werden – und all diese Attribute von Männlichkeit so sehr bis ins Groteske übertrieben, dass der Phallus zeitweilig sogar pervertiert im Sinne von verrückt erscheint. Das Genre Comic hat speziell für eine queere Lektüre einiges zu bieten, weil durch den nicht-naturalistischen Darstellungsmodus das »unnatürliche« Potenzial der Figuren auffällig ins Spiel gebracht werden kann. Und gerade weil Tom of Finlands übertriebene Macho-Figuren in der schwulen Kultur längst zum Bildungsgut geworden sind2 und mittlerweile auch ihren Platz im popkulturellen Mainstream beanspruchen,3 lassen sich anhand seiner Männer-Zeichnungen verschiedene Positionen der Queer Theory vorführen.4 Tom of Finlands Bilder scheinen geradezu exemplarisch Ideen der Gender-Theorie zu illustrieren, die mittlerweile zum queeren Standardwissen geworden sind. Im Kontext der folgenden Überlegungen interessiert mich die Kontrastierung einer von psychoanalytischen Theoretiker_innen vorformulierten und von Judith Butler (1991) ausgeführten Analyse performativer Geschlechtsidentitäten mit der von Leo Bersani (1995) vorgeschlagenen Lektüre schwuler Subjektivtät, die das in der Gender-Theorie abhanden gekommene spezifisch Schwule unter dem Stichwort der sameness erneut in den Blick nimmt. Mit dieser Debatte soll

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deutlich werden, welche Position die Bilder Tom of Finlands innerhalb des kritischen Projektes Queer Theory einnehmen können. Abbildung 88: Der ver-rückte Phallus. Tom of Finland: Untitled, 1984, Graphit auf Papier © The Tom of Finland Foundation, Los Angeles.

1. D ER WEIBLICHE ODER DER MÄNNLICHE S CHWULE Das kritische Potenzial von Tom of Finlands Bildern ist keineswegs evident. Für eine linke Gegenkultur musste Patriarchatskritik als Kritik an Geschlechterrollen innerhalb eines binären Systems zunächst mit einer Femininisierung des Mannes einhergehen: »Der Hippie und das Blumenkind sind die ›natürlichen‹ Versionen dieser doppelten Figur des Femininen und des Homosexuellen, und ›Camp‹ ist ihr unnatürlicher Vetter.« (Kelley 2006: 28) Und auch, wenn die Koalition von linken Bewegungen wie der Student_innenbewegung und der Schwulenbewegung keineswegs ohne Spannungen abgelaufen ist, drängt sich auch aus einer queeren Perspektive auf Tom of Finlands Bilder von Anfang an die Frage auf, welche macht-politischen Allianzen sie mit ihrer Hypermaskulinität eingehen.5 Wie auch in Bezug auf den schwulen Pornofilm lässt sich argumentieren, dass Toms Zeichnungen nicht nur die Funktion hatten, sexuelle Erregung zu

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provozieren, sondern gleichzeitig einen schwulen Lebensentwurf prägten. Von den US-Schwulenmetropolen San Francisco und New York ausgehend, eroberte der Clone-Look – also eine Nachinszenierung der Tom-Motive – die westliche Homokultur. Der US-amerikanische Queer-Theoretiker Tim Dean schreibt: Before Stonewall, being openly gay usually meant being flamboyant (conforming to the model of gender inversion), whereas sexual liberation ostensibly distengled gender from sexuality, such that one could conform to normative gender expectations while nevertheless acknowledging one’s non-normative sexual identity. (Dean 2002: 32)

Zum emanzipatorischen Gestus nach Stonewall gehörte es, sich als Schwuler seine Männlichkeit nicht absprechen zu lassen, sondern sie stattdessen stolz zu feiern. Ohne das Bedürfnis nach weiterer Problematisierung schreibt Tom of Finlands Partner Dirk Dehner in der Einleitung zum voluminösen Foto- und Essayband Tom of Finland XXL, dass Toms Zeichnungen »eine vollwertige, gleichberechtigte und authentische Männlichkeit« (Dehner 2009: 13) repräsentierten. Schwuler Stolz war in diesem historischen Kontext der Gegenbegriff zur Scham – einem Begriffspaar, das mit einer Reihe weiterer Oppositionen verknüpft war wie etwa der von in the closet/out und jener von privat/politisch. Repräsentationspolitisch war die Darstellung schwuler Identität damit einem doppelten Dilemma ausgesetzt: Während der Schwule als »Tunte« seine Distanz zu heteronormativen Gender-Zuschreibungen als femininer Mann deutlich markierte und seine Weiblichkeit in der linken Szene und in feministischen Zusammenhängen gefeiert wurde, folgte diese gleichzeitig dem homophoben Stereotyp des Schwulen als verweiblichtem Mann.6 Obgleich der auf Männlichkeit setzende Clone dem Klischee des effeminierten Schwulen entgehen konnte, spielte dieser einem konformistischen Männlichkeitsbild zu, in dem die entscheidende Differenz, die Schwulsein bedeutet, unsichtbar zu werden drohte. Innerhalb des binären Gender-Systems bleiben beide Positionen verdächtig: Der Schwule ist immer entweder zu weiblich oder zu männlich.

2. G ANZKÖRPEREREK TIONEN Der euphorische Moment der Schwulenbewegung kam angesichts der Darstellungen von tougher Männlichkeit nicht nur durch die auf den ersten Blick nicht gerade queere Selbstvergewisserung eines stabilen Geschlechterbildes zustande, sondern auch über den Kollaps von Begehren und Identität im Bild des Clone: Über strenge Dresscodes und Bodybuilding machten Schwule sich zu den Männern, die sie begehrten. Betrachtet man Tom of Finlands Zeichnungen tatsächlich als Vorbilder für die Clone-Kultur der 1970er, ist nicht zu vergessen, dass der ursprüngliche Kontext dieser Darstellung von Männlichkeit weniger

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ein politischer denn vielmehr ein erotischer und oftmals deutlich pornografischer war. In Tom of Finlands Kosmos wird schwule Existenz fast ausschließlich auf sexuelle Existenz reduziert. Seine potenten Kerle können und wollen immer, von »Erschöpfung und Zögern keine Spur« (Paglia 2009: 85). Die Idealisierung dieses Männertyps ist gepaart mit der Idee permanenter sexueller Bereitschaft. Schwule Pornografie war in den 1950er-Jahren aufgrund strafrechtlicher Bestimmungen keine bedeutsame Industrie, sondern lediglich in Form sehr keuscher Magazine wie etwa dem US-amerikanischen Physique Pictoral zugänglich. Hier zeigten sich Amateur-Modelle in Posen sportlicher Wettkampf-Kultur und der in Kalifornien bereits herrschende Body-Building-Kult fand hier sein zentrales Forum. Auch Tom of Finlands erste Zeichnungen erschienen in den Physique Pictoral der 1950er Jahre. Erst nach Stonewall waren darin Nacktdarstellungen zu sehen.7 Das Medium Zeichnung bot im Zusammenhang mit der von der Zensur regulierten erotischen und/oder pornografischen Bildproduktion einige strategische Vorteile: Sie war nicht auf reale Modelle angewiesen und konnte ohne großen technischen Aufwand betrieben werden. Damit setzte dieses Medium die Tradition der obszönen Zeichnungen fort, die die Kontakt-Anzeigen auf den Wänden öffentlicher Toiletten illustrieren: Gay Sex Graffiti – oder wie sie der US-amerikanische Schriftsteller Armistead Maupin bezeichnet: »homoerotische Höhlenzeichnungen in den Schwulenbars« (Maupin 2009: 95). Das Fantastische der Zeichnungen sind ihre prallen, übertrieben männlichen Körperformen in einer Welt, die ausschließlich von sexuell zur Verfügung stehenden Clones bevölkert wird. Wie in real existierenden Schwulenbars kommen Alter und Krankheit nicht vor; in Toms Universum gibt es nur »pure Energie und ewige Jugend« (Paglia 2009: 85). Hier wird das schwule Begehren durch eine rigide Zulassungspolitik bestimmt: Wer in die von Tom visualisierten Männerclubs aufgenommen werden will, muss schon einiges zu bieten haben. Die Frage der Körperpolitik lässt sich dennoch auf eine noch radikalere Weise stellen: Tom bietet dem Blick nämlich nicht nur überproportionierte Schwänze, sondern eine Übertreibung sämtlicher sekundärer Geschlechtsmerkmale lässt den männlichen Körper insgesamt zu einer Art Schwellkörper werden. Wie sind die plastischen Ganzkörpererektionen der Tom-of-Finland-Männer zu deuten? Totalisiert sich in einer Art narzisstischer Verwerfung der heterosexuellen Welt das phallische Prinzip lückenlos – Frauen tauchen in den Bildern tatsächlich nur selten und dann in etwas undankbaren Nebenrollen auf 8 – oder relativiert sich der phallische Machtanspruch gerade in seiner unwahrscheinlichen Zuspitzung? (Wann) wird aus dem hyperphallischen Körper ein queerer Körper? Um den repräsentationskritischen Wert der Zeichnungen zu beurteilen, ist ein queer-politischer Einsatz der feministischen Rezeption der psychoanalytischen Theoreme von Freud und Lacan hilfreich. Eine solche repräsentationspolitische Analyse lehnt sich an das von Judith Butler bereitgestellte Vokabular zur Gender-Debatte an: Sollen wir Toms Inszenierung von Männlichkeit als

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Parodie und damit als Zurschaustellung nicht-essentieller performativer Geschlechterbilder verstehen – als eine männliche Maskerade? Sind Toms Helden also schwule Drag Kings?

3. P HALLISCHE Ö KONOMIE In der heterosexuellen psychoanalytischen Erzählung behauptet sich männliche Phallizität durch die Leugnung eigener »Kastriertheit« infolge der Projektion derselben auf den weiblichen Körper als Ort des Mangels. In Abgrenzung von diesem kann sich der »Mann« als ein solcher behaupten. Phallische Ökonomie ist paradoxerweise jedoch von ihrem Gegenbild abhängig und infolgedessen stets auf das Bild angewiesen, dass ihr Funktionieren zugleich stützt sowie gefährdet.9 Wie kann sich unter diesen Voraussetzungen Phallizität im schwulen Kontext behaupten, wenn das Begriffspaar kastriert/nicht-kastriert, das in der strukturalen Psychoanalyse Jacques Lacans durch die Unterscheidung von Phallus-Sein und Phallus-Haben ersetzt wird, nicht länger zur Naturalisierung der Ordnung von zwei Geschlechtern beansprucht werden kann? Was passiert, wenn die unterschiedliche Positionierung infolge des Kastrationskomplexes nicht länger die Asymmetrie zwischen entweder als männlich oder als weiblich verstandenen Geschlechtszugehörigkeiten festlegt? Insofern sich »Männlichkeit« im Kontext von Tom of Finlands Zeichnungen nicht länger über einen Gegenbegriff definiert, beinhalten diese die Aufforderung, »Männlichkeit« neu zu denken: Auf den ersten Blick scheint es so, als ob diese das infolge der unterschiedlichen Positionierung in Bezug auf den Phallus entstandene Problem der Geschlechterdifferenzierung durch die Betonung der Kategorie der Altersdifferenz ersetzten. Scheinbar werden im Tom-of-Finland-Kosmos die sexuellen Organisationsprinzipien des antiken Griechenlands übernommen, in dem »Knabenliebe« kein Problem war, solange die sexuellen Positionen an verschiedene Alter gebunden blieben: Männer dürfen Jungen ficken aber nicht umgekehrt. Doch hat diese Hypothese bei genauerer Betrachtung der Mehrheit der Bilder keinen Bestand: In Tom of Finlands Zeichnungen sind die Jungs beim Sex gleichwertig, es gibt keine Korrespondenz zwischen sozialer und sexueller Hierarchie und die Uniformen können schnell ihren Besitzer wechseln. Gegenüber dem Heteroporno hat der Homoporno, ebenso wie die FinlandZeichnungen, politisch einen strategischen Vorteil: Auch wenn es naiv wäre zu glauben, soziale Machtgefälle spielten in der pornografischen Darstellung unter Männern keine Rolle,10 liefert der Schwulenporno auf den ersten Blick keine direkte Analogie zwischen sexuellen und sozialen Positionen, die im Heteroporno über anatomische Unterschiede naturalisiert werden: Im Schwulenporno sind die Rollen potenziell austauschbar, jeder kann beim Sex aktiv oder passiv sein.

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Die Bottoms bei Tom können kurz darauf als Tops auftreten und umgekehrt. »In seinen Zeichnungen wechselten dominante und unterwürfige Partner vorbehaltlos ihre Rollen und lebten damit vor, dass auf der Spielwiese der Sexualität jeder frei nach seiner Lust und Laune alle Rollen einnehmen kann.« (Dehner 2009: 13) Die Frage nach den Grenzen des Phallischen ergeben sich bei diesem Rollenspiel durch das Problem des penetrierten männlichen Körpers. Die prallen bottom-boys im Finland-Kosmos sind eben nicht in einer Weise »kastriert«, dass »Kastration« hier als (Macht-)Verlust dargestellt wäre: »Bei Tom of Finland wahrt der passive Partner seine eindrucksvolle Größe und brisante Eigenmacht.« (Paglia 2009: 85) Die Originalität der Zeichnungen liegt damit weniger in der Dokumentation der offenkundigen männlichen »Parade«, als vielmehr in der Verbildlichung analer Lust. Darin sind sie historisch der schwulen Pornoästhetik um Jahrzehnte voraus, die in ihrer Fokussierung auf phallische Macht oftmals enttäuschend »heterosexuell« verfährt. Toms lüsterne power-bottoms können es gar nicht erwarten, dass sie rangenommen werden, ihre Libido ist der phallischen in keinster Weise untergeordnet. Stattdessen inszenieren die Porno-Zeichnungen einen doppelten Blick: Sie zeigen die Lust, beim Sex aktiv zu sein genauso offensiv wie die Lust, passiv zu sein. Der schwule Blick ist anders als der heterosexuell-männliche nicht nur auf die phallische Aufgabe der Penetration fokussiert, schwule Analität wird mit in den Blick genommen, während es für den heterosexuell-männlichen Blick stets zum Problem wird, weibliche Lust zu registrieren. Zwar gehört ihre Erforschung zum klassischen Repertoire des heterosexuellen Pornofilms (vgl. Williams 1995), ist aber in visuellen Codes gefangen, die Weiblichkeit häufig, wenn nicht als undarstellbar, so doch zumindest als rätselhaft behandeln und infolgedessen die Macht der Phallizität heraufbeschwören. Innerhalb eines heteronormativen Paradigmas kann die in Toms Zeichnungen ausgedrückte flexible sexuelle Bereitschaft des männlichen Körpers nicht anders denn als »Weiblichkeit« gedacht werden. Wer den gesamten Körper sexuell zum Einsatz bringt, wird zum Phallus und hat ihn nicht länger. Signifikant für die Unterbrechung dieser Transformation ist beispielsweise die machtvolle Verhüllungsgeste des männlichen Helden, der seine Sicherheit gerade dadurch behält, dass er – im Unterschied zu Tom of Finlands Kerlen, die allzu schnell bereit sind, alles zu zeigen – nicht alles zeigt. Angesichts der kernigen, lüsternen Jungs in Tom of Finlands exhibitionistischem Universum stellt sich die Frage, ob die Sexualisierung des gesamten männlichen Körpers tatsächlich als Feminisierung verstanden werden kann.11 Diese Ambivalenz – wird der hypermaskuline Körper weiblich? – zeigt sich zum Beispiel in der Fetischisierung der männlichen Brust: Einerseits zeigen Toms Titten mit ihrem unwahrscheinlichen Volumen eine Verweiblichung männlicher Körperformen, andererseits werden die prominenten Nippel wiederum zu Mini-Penissen und führen damit die Phallisierung des gesamten Körpers fort. Spätestens darin zeigen sich die

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Abbildung 89: Toms ›Titten‹ am anderen Schauplatz der Lust. Tom of Finland: Prison Guard (No. 3 of 4), 1987, Bleistift auf Papier, © Courtsey The Tom of Finland Foundation.

übersexualisierten Körper als queer. Es ist folglich nicht ausreichend, hier von einer »Femininisierung« zu sprechen. Durch die anpassungsfähige Genussfähigkeit, die in einer Logik der Ansteckung die Männerkörper zu affizieren scheint und damit die homophobe Paranoia wahr werden lässt, dass eigentlich jeder Mann schwul sein könnte, werden die sexuellen Positionen und mit ihnen das Verständnis von Männlichkeit und Weiblichkeit in den Tom-of-Finland-Bildern instabil. Diese Körper können ebenso als ästhetische Antwort auf das Problem, mit einer homophoben Umwelt umgehen zu müssen, wahrgenommen werden. Toms oftmals militaristische Modelle ähneln dann jedoch nicht den Panzerkörpern von Theweleits (2000) Freikorps-Soldaten, die sich zwanghaft gegen die als traumatisch erlebte Entgrenzung ihrer Subjektivität zur Wehr setzen müssen; vielmehr wird das Werkzeug dieser Umpanzerung – die Uniformen und Waffen – selbst erotisiert, so dass die Körperoberfläche nicht zur undurchdringlichen Grenze, sondern zum Schauplatz vielfältiger Lüste wird. »If this is still the body that can fuck you etc. it is no longer – quite the contrary – the body you don’t fuck with.« (Miller 1992: 31) So schreibt D.A. Miller über schwule Muskelkörper, und das Gleiche lässt sich auch über Toms Männer sagen. Der Unterschied zwischen Faschismus und Nicht-Faschismus ist hier

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also an eine Politik der Lust geknüpft und an die Frage gebunden, ob Fetische wie Uniformen ihrem Ausleben oder aber ihrer Abwehr dienen. Was dabei auf dem Spiel steht, ist also nicht nur die Frage nach den sexuellen Positionen von Top oder Bottom, sondern vielmehr die Erotisierung des gesamten Körpers und seiner Accessoires sowie die Etablierung von Körpergrenzen und dem damit verbundenen Status von Körperöffnungen. Wollen wir dieses vielseitige sexuelle Personal immer noch im psychoanalytischen Vokabular diskutieren, bedeutet dies zumindest, dass in diesem sexuellen Theater »Kastration« niemals ganz ernst gemeint ist, die Position des »Kastrierten« also keineswegs nur gefürchtet, sondern vor allem auch begehrt wird. In einer Art sexuellem Gesellschaftsspiel kann die »Kastration« jede_n treffen. In vielen Schwulenpornos wird diese zudem gezielt eingesetzt: Es wird nur so getan als sei die ›Kastration‹ eine Strafe, in Wirklichkeit ist sie jedoch der größte Wunsch aller Beteiligten. Wenn wir die psychoanalytische Prämisse akzeptieren, dass die Macht des Phallus die Projektion der ›Kastration‹ auf den_die Andere_n voraussetzt, kann Gleiches auch vom Phallus gesagt werden: Wenn jede_r ›kastriert‹ sein könnte und damit keine_r sicher nur ›kastriert‹ ist, könnten alle den Phallus haben und damit hat ihn keine_r sicher. Was aber bedeutet »nicht ganz ernst gemeint« in diesem sexuellen Theater? Jacques Lacan hat zwar gezeigt, dass die Zurschaustellung von Maskulinität in der »Parade« beim Mann selbst als weiblich erscheint, insofern sie – strukturell analog der weiblichen Maske – auf Zurschaustellung und damit auch auf den bestätigenden Blick angewiesen ist (vgl. Lacan 1975: 119-132). Dennoch gibt er auch zu lesen, dass die in der Kastrationserzählung angelegte Asymmetrie zwischen den als männlich oder weiblich definierten Geschlechtern auf der Ebene der Inszenierung noch nicht aufgehoben ist. Leo Bersani hat darauf hingewiesen, dass die erkennbare Imitation sexueller Attraktivität bei Männern ein totaler turn-off ist. Während die Maskerade die Attraktivität von Frauen erhöht und ein Spiel der Verführung einleiten kann, muss die männliche Maske eine Form der Ernsthaftigkeit behaupten, um sexuell zu funktionieren. Insbesondere in S/M-Kontexten darf diese ihre Scheinhaftigkeit für die Dauer des sexuellen Spiels nicht zugeben. Kann man trotz dieser erotisch-ernsthaften Behauptung von Männlichkeit dann von einer Parodie im Sinne eines Zitierens sprechen, das die Möglichkeit der Verwerfung von Geschlechterbildern infolge eines verfehlten Zitierens ebenso konnotiert? Die Männer bei Tom of Finland beherrschen ihre Rollen perfekt, in ihrer maskulinen Eleganz unterlaufen ihnen keine Patzer. Fehlzitieren im Sinne einer Verfehlung von Geschlechtsidentität, wie sie etwa Drag Queens kultivieren und dadurch ihren Ruhm vermehren, kommt hier nicht vor. Anders als die sexuellen Fantasien bei Genet und Anger finden Toms Männer ihre Ermächtigung jedoch nicht in einem Kult des Bösen. So finster sie in ihren Fetisch-Klamotten auch wirken mögen: Ihre Drohgebärden stehen erkennbar im Dienste

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des Sexuellen. Ähnlich wie im Mainstream-Porno oder der Romantic Comedy ist die Pointe der Tom-Comics – wenngleich zumeist nicht auf das Paar als romantische Einheit begrenzt – ein Happy End als Zusammenfall von sexueller Befriedigung und romantischer Verschmelzung. Der spezifische Humor der Bilder scheint jedoch weniger einem Bewusstsein über die Theatralität der sexuellen Rollen geschuldet zu sein, als vielmehr einer völlig unschuldigen Darstellung wilder Obszönitäten.12 Ist es diese weniger heimliche, denn vielmehr exhibitionistische Verschwörung, die sich im Grinsen der Tom-Männer zeigt?

4. K ONFORMITÄT DER K ÖRPER Neben den aufgepumpten Körperteilen aller Beteiligten sticht vor allem noch ein anderer Wesenszug der Tom-Männer hervor: Die Kerle sehen aus wie Mutanten ein und desselben Prototyps übertriebener Männlichkeit an der Grenze zur Karikatur. Dieser Aspekt verdient Beachtung, schließlich war es ja genau dieser Wesenszug, der unter dem Stichwort Clone in der US-Schwulenkultur der 1970er Erfolge feierte. Irritierenderweise führte die Herstellung des Schwulen nach seinem Idealbild zu einer massenhaften Konformität der Körper. Und so sehr diese fleischgewordene Fantasie endloser Clone-Kopien als Potenzierung idealer Männlichkeit in der Masse an den für Schwule traditionell erotisch besetzten Orten wie Militär oder Gefängnis erotisch gefeiert werden mochte, stellt sich hier die Frage nach dem Zusammenhang von Politik und sexuellen Fantasien. Der US-amerikanische Queer-Theoretiker Leo Bersani hat in einer Diskussion des komplizierten Verhältnisses von sexuellen Fantasien und Politik darauf hingewiesen, dass schwule Männer, die in ihren Fantasien im Modus psychischer Angstabwehr Feindbilder fetischisieren, vor einer Allianz mit ihren Feinden nicht per se geschützt sind.13 Diese Fetischisierung geschieht zumeist unbewusst und damit jenseits jeder homophoben Assoziierung von Schwulen und Faschos, wie sie die europäische Linke lange betrieben hat.14 Im Fall von Tom of Finland hat diese Assoziierung tatsächlich einen biografischen Bezug: Von Freund_innen und Bekannten wird mehrfach berichtet, dass dieser während des zweiten Weltkriegs für die deutschen Soldaten schwärmte, die gemeinsam mit der finnischen Armee gegen Russland kämpften. Toms leichtfertiger Umgang mit Nazi-Symbolen bis hin zu Hakenkreuz-Abbildungen veranlassten viele seiner Kommentator_innen leider dazu, dieses Thema mit Naivität zu behandeln.15 Auch wenn es sich lohnt, diese für Schwule unbequeme Frage nicht zu vergessen, hat Bersani Vorschläge zu einer alternativen Analyse von vermeintlich konformistischer Männlichkeit gemacht, die in der Tom-of-Finland-Rezeption deshalb Beachtung verdienen, weil sie über den Ansatz, sexuelle Identitäten zu denken, performativ hinausweisen. Denn in der Nachfolge von Butler stellt sich auch die Frage, wie tragfähig die Konzepte einer parodistisch inszenierten

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Geschlechtsidentität für ein politisches Verständnis von Schwulsein tatsächlich sind. Bersani bleibt gegenüber einer Subversion skeptisch, die Judith Butler zufolge selbst im Zitathaften die Begriffe des heteronormativen Hegemonialdiskurses noch bemühen muss. Die zentrale Frage ist: Gibt es keine Entwürfe schwuler Subjektivität, die ohne die symbolische Sekundarität des Zitierten auskommen, das weniger wegen seiner Uneigentlichkeit als wegen seiner Bindung an Machthierarchien verdächtig bleiben muss? Gibt es einen symbolischen Einsatz schwuler Identitäten, der Heteronormativität queer-politisch in Frage stellt? Meine These ist, dass Tom of Finland genau dafür Anhaltspunkte bieten kann. Ausgerechnet der seinerseits unter Verdacht stehende Begriff des Clone mit seinen zu hinterfragenden möglichen Allianzen mit faschistoider Männlichkeit dient Bersani als Orientierung für ein Denken einer schwulen Position jenseits von psychoanalytischer Kastrationserzählung und Performativität. Denn es ist die phänotypische Gleichheit der Körperformen des schwulen Clones, die Bersani den Anlass bietet, über eine Erfahrung zu spekulieren, die das Spezifische schwuler Sexualität nicht verdrängt und für die das von Tom of Finland vorgezeichnete und in der Realität kopierte Bild einzustehen vermag. In Homos gibt Bersani sehr unterschiedliche Tendenzen zu bedenken, nach denen schwuler Sex jenseits heterosexueller Register als eine Begegnung zu verstehen sei, die in psychoanalytischen oder performativen Begriffen nicht mehr zu beschreiben ist, die allerdings keineswegs etwas mit der Wiedereinführung einer schwulen »Natur« zu tun hat, sondern den Versuch unternimmt, eine spezifisch schwule Position zu denken, ohne in altbekannte Essentialismen zurückzufallen. Aus dieser Perspektive Tom of Finlands Bilderreihen zu testen, macht nicht zuletzt auch deshalb Sinn, weil sie historisch als genau das rezipiert worden sind: utopische Selbstentwürfe schwuler Sexualität. So schreibt Toms Partner Dirk Dehner in der Einleitung zu Tom of Finland XXL in uneingeschränkter Euphorie: »Dabei spielte Tom of Finland die Rolle eines Befreiers, der auf seine Weise formulierte, was es hieß, homosexuell zu sein.« (Dehner 2009: 13)

5. S AMENESS Ausgangspunkt für Bersanis Lektüren von Gide, Proust und Genet in Homos ist die Annahme, dass die Spezifizität schwuler Subjektivität in einer an Begriffen von Performatitvität und Parodie orientierten Queer Theory verloren zu gehen droht.16 Referenzpunkt ist stattdessen eine Analyse »schwuler Sexualität«, die ein Denken jenseits psychoanalytischer und vor allem jenseits psychologisierender Kategorien eröffnet. Zur Orientierung dient Bersani diesbezüglich unter anderem eine Bemerkung Foucaults, der in einem Interview mit dem US-amerikanischen Schwulenmagazin Samalgundi17 behauptete, dass für eine hetero-

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sexuelle Mehrheitsgesellschaft weniger die Vorstellung von schwulem Sex irritierend sei, als vielmehr das Bild eines glücklichen schwulen Paares nach einer gemeinsam verbrachten Nacht« (Foucault, zit.n. Bersani 1995: 77). Bersani geht es in seiner Lektüre dieser Szenerie nicht etwa um die Oppositionen Sexualität/Sozialität oder anti-bürgerlich/bürgerlich, in deren Rahmen man Foucaults Bemerkungen schnell in Zweifel ziehen könnte – die bürgerrechtspolitischen Erfolge in der westlichen Welt scheinen nur zu bestätigen, dass die schwule Kopie ihrer Lebensformen für eine bürgerliche Gesellschaft keine allzu große Beunruhigung mehr darstellt. Vielmehr interessiert Bersani die von Foucault registrierte Idee von »Glück«. Es drängt sich also die Frage auf, ob das von Foucault flüchtig in den Blick genommene postkoitale schwule Paar noch innerhalb eines Kanons einer psychoanalytischen Theorie verstanden werden kann und ob hinter dem Bild des glücklichen Paares eine Fantasie lauert: Ist die zur Schau gestellte Wunscherfüllung noch an das väterliche Gesetz – und sei es als Rebellion gegen dieses – gebunden oder ist es vielmehr kurzsichtig, dieses »Glück« weiterhin im heteronormativen Vokabular der Psychoanalyse zu beschreiben? Hier ergibt sich ein deutlicher Anknüpfungspunkt zu den Zeichnungen Tom of Finlands, deren exzessive Macho-Spiele auf genau diesen Moment »leeren« Glücks zusteuern. Gehört das Grinsen der Macho-Boys lediglich zu einem wortlosen Code der Blicke und Gesten, der dennoch spezifische Anweisungen enthält, die zu ritualisierten Sexszenen und schließlich zur kollektiven Ekstase führen? Oder lauert im lächelnden Blick der Cartoon-Kerle noch ein anderes Wissen? Analog zu Bersanis Lektüren stellen Toms Kerle ein Potenzial für schwule Positionen dar, das untrennbar mit der Erfahrung schwuler Sexualität zusammenhängt und im Folgenden jenseits eines psychoanalytischen Vokabulars beschrieben werden soll. Bersani schreibt: »Homosexuality can be a privileged model of sameness.« (Bersani 1995: 6) Die überraschende Geste, den Begriff der sameness als Alternative zu difference ins Spiel zu bringen und damit den aus psychoanalytischer Perspektive oftmals gegen Homosexualität erhobenen Vorwurf narzisstischer und damit infantiler Fixierung auf den Kopf zu stellen, lädt jedoch prompt zu Missverständnissen ein.18 Ebenso wie Tim Dean (2002) in seinem Beitrag in Umbra nimmt Leo Bersani zwar das plakative Motiv von Tom of Finlands gezeichneten schwulen Clones zum Anlass, um über das Phänomen »sameness« nachzudenken; gemeint ist hier allerdings nicht das narzisstische Vergnügen an der Selbstidentität immergleicher Spiegelbilder in einer unterschiedslosen Welt, sondern eine Erfahrung, die nicht im Imaginären der Bilder verweilt. Wie also lässt sich der Homo im Modell der »sameness« als nicht-narzisstische Figur denken? Bersani schreibt: »Homosexual desire is desire for the same from the perspective of a self already identified as different from itself.« (Bersani 1995: 59) Für ein strukturell vielfältiges schwules Begehren wie Tom es in seinen Zeichnungen zeigt, kann es den Ausgangspunkt einer abgeschlossenen

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schwulen Identität nicht mehr geben. In dieser Perspektive wäre »Homosexualität« immer schon eine Position, die keine ist. Die Top/Bottom-Bilder Tom of Finlands, die nicht nur Phallizität, sondern auch Analität feiern und damit eine neue Politik der Körperöffnungen in die Wege leiten, bestätigen dies. In den schwulen Orgien immergleicher Männer kommt die phallische Ökonomie als Institution der Ausbildung von Geschlechtsidentität zu Fall. Wenn unter diesen Bedingungen nicht »difference«, sondern »sameness« das spezifisch schwule Begehren steuert, wenn der theoretisch in jeder Hinsicht sexuell offensive Clone also die Reproduktion des Clones sucht, dann kann der schwule Akt nicht als Nachstellung des mit dem Begriff des Mangels behafteten heterosexuellen Begehrens verstanden werden. »Sameness« als Begehrensprinzip bedeutet hier nicht einfach eine Potenzierung einer heterozentrischen Perspektive, sondern vielmehr die radikale Erschütterung derselben durch ein spezifisch schwules Subjekt. Wenn wir bereit sind, die Männerbilder von Tom of Finland in ihrer Ambivalenz aus sexueller Aggressivität und Passivität, in ihrer allgemeinen sexuellen versatility als spezifisch schwul zu sehen, und diese Beweglichkeit nicht auf die in einem heteronormativen Diskurs gefangenen Begriffe von männlich/weiblich und heterosexuell/homosexuell (re-)artikulieren, dann wird das Denken einer speziellen schwulen Position möglich19, die ihre Komplexität im Begehren nicht komplementär ergänzt, sondern seriell vervielfältigt.Bersanis Projekt, Homosexualität in Fortführung der Foucaultschen Geste jenseits von psychologischen Kategorien zu denken und dabei eine »identitätszersetzende« Selbst-Erschütterung zum eigentlichen Merkmal von Homosexualität zu erklären, setzt die Relektüre eines prominenten psychoanalytischen Konzeptes voraus: dem des Masochismus. Im Anschluß an Laplanche versteht Bersani Masochismus nicht im Gegensatz zum Sadismus, sondern fasst diesen vielmehr als grundlegendes Element von Sexualitäten auf20: »Self-shattering is intrinsic to the homo-ness in homosexuality. Homoness is an anti-identitarian identity.« (Bersani 1995: 101) Ich schlage mit Bersani vor, das sexuelle Theater der Tom-of-Finland-Cartoons nicht als parodistische Umschrift psychoanalytischer Kulturgesetze zu lesen, sondern als Illustration einer grundsätzlich identitätszerrüttenden Sexualität, die die Erfahrung eines Genusses bedeutet, der sich im Modus der »sameness« auf den Oberflächen der Männerkörper und ihrer Öffnungen unendlich vervielfältigt. Die vermeintlich potenten Stecher und ihre willigen Opfer stellen dieses Genießen als fragmentierenden Effekt einer grundsätzlich masochistischen und damit auf Selbstverlust angelegten Sexualität dar. Da es innerhalb der von Bersani ausgeführten Idee der »sameness« nicht länger um eine Verhandlung der Selbstbilder im Imaginären geht, können Toms Männer nicht als Vorbilder im Sinne positiver Identitätsentwürfe gelesen werden. Um diesem Missverständnis vorzubeugen, schlägt Tim Dean vor, Bersanis Ausfüh-

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rungen auf das Lacansche Register des Realen zu beziehen. Im Realen wird jene Dimension von Wirklichkeit symbolisiert, die als solche undarstellbar ist und sich lediglich als der Rest bemerkbar macht, der weder im Symbolischen noch im Imaginären aufgeht. Mit Bersanis Theorie der »sameness« liegt also ein Denken vor, das einen radikalen Bruch mit Repräsentationstheorien vollzieht, die Subjektivität stets unter den Bedingungen ihrer Darstellbarkeit im Symbolischen oder im Imaginären diskutieren. Der Preis dafür, die Figur des Homos jenseits heterosexuell strukturierter Symbolisierungen zu entdecken, ist in Bersanis Lektüre von Gide, Proust und Genet seine »Isolierung«. Um zu einem Verständnis von homoness zu gelangen, das nicht als Anderes heterosexueller Macht oder als ihre Kopie/Parodie erscheint, muss der Homo zunächst zur »asozialen« Figur werden. Erst vom Ort einer Outlaw-Existenz wird jene alternative Relationalität denkbar, die keine Wiederholung heteronormativer Machtstrukturen mehr wäre. Kündigt sich diese Utopie mit Tom of Finlands Zeichnungen an? Camille Paglia schreibt: »Toms surreale Zufallsbegegnungen demonstrieren die Vorgehensweise einer männlichen Bande oder Gruppe, die sich über rücksichtslose Abbildung 90: Der ent/differenzierte Raum der »sameness«. Tom of Finland: Untitled, 1985, Graphit auf Papier © The Tom of Finland Foundation, Los Angeles.

Neuausrichtungen und Umkehrungen von Machtverhältnissen herausbildet, auseinander bewegt und wieder zusammenfindet.« (Paglia 2009: 89) Und bei Berndt Arell heißt es: »Ein Universum, in dem Männer mit all ihren Bedürfnis-

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sen mit anderen Männern als gleichwertige Partner zusammenlebten.« (Arell 2009: 56) In Tom of Finlands Utopien findet sich nicht die Einsamkeit von Bersanis Helden; im Reich der Clones zeichnet sich stattdessen eine neue Gemeinschaft ab. Wenn wir bereit sind, diese Gemeinschaft im Sinne Bersanis als ein Bild der »sameness« zu lesen, ist es allerdings fraglich, ob hier noch von »gleichwertigen Partnern« die Rede sein kann. Denn Bersanis Utopie ist ja gerade dadurch gekennzeichnet, dass im entdifferenzierten Raum der »sameness« eine auf Identität basierende Persönlichkeit außen vor bleibt: »A community in which the other is no longer respected or violated as a person, would merely be cruised as another opportunity, at once insignificant and precious, for narcissitic pleasure.« (Bersani 1995: 129)

Toms Bilder sehen so aus, als hätte einer im Darkroom das Licht angemacht. Aber auch bei Licht spiegelt sich auf den glatten Oberflächen der Männerkörper eine Ahnung davon, was für ein genussreicher Verlust Sexualität sein kann.

A NMERKUNGEN 1 | In Tom of Finlands Werk gibt es mehrere Entwicklungslinien, die der von Dian Hanson (2009) herausgegebene Tom of Finland XXL-Band mit seiner chronologischen Behandlung der Dekaden aufzeigt. Spezielle schwule Fetische wie Leder oder sexuelle Praktiken wie Fisten spielen erst im Spätwerk der 1970er und 1980er Jahre eine wesentliche Rolle. 2 | Während eine allzu offensichtliche Hypermaskulinität in der schwulen Szene eher als ausrangiertes Modell gilt und mit den 1970ern und 1980ern assoziiert wird, hat sich seit den 1990ern eine »naturalisierte« Maskulinität im schwulen Mainstream durchgesetzt. 3 | Dass Tom of Finlands Darstellungen längst Bestandteil des populärkulturellen Mainstreams sind, zeigen nicht zuletzt die Veröffentlichungen der umfangreichen Bildbände in den vergangenen Jahren im Taschen-Verlag. 4 | Zu einer Diskussion Tom of Finlands unter Queer-Studies-Perspektive, die den hier vernachlässigten Bereich S/M miteinbezieht vgl. Ramakers, Micha (2000): Dirty Pictures. Tom of Finland, Masculinity, and Homosexuality, New York: St. Martin’s Press. 5 | Zwar hatten die Zeichnungen mit dem Feiern von rauer Männlichkeit bei Jean Genet historisch einen Zeitgenossen und ebenso Kenneth Angers Filme aus den späten 1950ern und frühen 1960ern experimentieren mit der schwulen Aneignung von Zeichen der Maskulinität wie Uniformen oder Motorrädern; dennoch konnte erst nach Stonewall die den Homos konstitutiv abgesprochene Männlichkeit performativ eingeholt werden. »In der westlichen Welt begegnet man Toms Männern heutzutage überall und sie sind längst nicht alle schwul.« Lucie-Smith, Edward (2009): »Tom of Finland«. In: Dian Hanson (Hg.), Tom of Finland XXL, Köln: Taschen, S. 29. So schreibt Edward Lucie-Smith

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P ETER R EHBERG in seinem Beitrag in dem von Taschen herausgegebenen Band Tom of Finland XXL. In Hamburg ist nicht nur die 1974 eröffnete schwule Lederkneipe »Tom’s Saloon« nach Tom of Finland benannt, auf dem Weg zum Darkroom sind an den Wänden zahlreiche Original-Zeichnungen von ihm zu sehen. 6 | Der im 19. Jahrhundert etablierte Mythos von einer weiblichen Seele im männlichen Körper war für sich als »weiblich« definierende Schwule eine Form der Legitimation ihrer Sexualität und ist bis heute für Mann-zu-Frau-Transsexuelle eine maßgebliche Selbsterzählung. 7 | Ein anderer Weg schwule Erotik oder Pornografie zu zeigen, war in den 1950ern neben dem Sport- der Kunstkontext, vor allem die Bücher und Filme von Jean Genet und Kenneth Anger. Schwule Erotik wurde auf diesem Wege zwar keinem Massenpublikum zugänglich, bekam aber gerade durch die Skandale, die diese Werke nicht zuletzt wegen der Darstellung nackter männlicher Körper noch auslösen konnten, öffentliche Aufmerksamkeit. 8 | Tom of Finlands Frauenfiguren sind nicht nur schlechter gezeichnet; während es in Toms Universum Emotionalität nur unter Männern zu geben scheint, wollen seine Frauenfiguren hingegen nichts als Sex. Zu diesem Aspekt vgl. Hanson, Dian (2009): »Die Tom-Frau«. In: Dian Hanson (Hg.): Tom of Finland XXL, Köln: Taschen, S. 121-124. 9 | Auf die Konstitution von Phallizität durch das Bild ihres fundamentalen Fehlens hat die feministische Filmwissenschaft früh hingewiesen. Vgl. Mulvey, Laura (1975): »Visuelle Lust und narratives Kino«. In: Liliane Weisberg (Hg.): Weiblichkeit und Maskerade, Frankfurt a.M.: Fischer, S. 48-65. 10 | Dieser Aspekt kommt beispielsweise im Zusammenhang mit der Darstellung osteuropäischer Jungs zum Tragen, deren Fetischisierung unter anderem das schwule Porno-Label Bel Ami forciert. 11 | Camille Paglia schlägt dies vor, wenn sie schreibt: »Toms flotte Epheben mit ihrer ausgeformten Brustmuskulatur und ihren rundlichen Gesäßen haben das Fruchtbarkeitsprinzip verinnerlicht, das normalerweise zur Welt der Weiblichkeit gehört.« (Paglia, Camille (2009): »Die Suche nach Sex bei Tom of Finland«. In: Dian Hanson (Hg): Tom of Finland XXL, Köln: Taschen, S. 86) Die konstatierte Femininisierung kann jedoch nur anhand einiger weniger Zeichnungen belegt werden, in denen der weibliche Körper schließlich durch den männlichen ausgetauscht wird. 12 | Der Humor von Tom of Finlands Comic-Strips hat auch eine erzählerische Dimension. Zum Beispiel lässt Tom in den »Kake«-Comics einen »Einbrecher« durchs Fenster steigen, der erst den Jungen rannimmt. Die beiden werden dann vom Vater überrascht, der nichts Besseres zu tun hat als den Einbrecher zu ficken, während sein Sohn dazu masturbiert. 13 | Ich möchte diese Debatte hier nicht im Einzelnen fortführen und verweise auf die Diskussion in Leo Bersanis Homos. So fragt Bersani: »How, for example, does a gay man’s erotic joy in the penis inflect, or endanger, what we might like to think of as his insubordinate relation to the paternal phallus? In what ways does that joy both qualify and fortify his investment in the Law, in partriarchal structures of dominance and sub-

H APPY H OMOS mission he might prefer to think of himself as only subverting?« (Bersani, Leo (1995): Homos, Cambridge und London: Harvard University Press, S. 6.) Weiter heißt es: »There can be, I suggested, a continuity between a sexual preference for rough and uniformed trade, a sentimentalizing of the armed forces, and right-wing politics.« (Bersani 1995: 63) Und weiter: »In his desires, the gay man always runs the risk of identifying with culturally dominant images of mysoginist maleness.« (Bersani 1995: 63) So wie auch Frauen? Das wäre zu fragen. Schließlich stellt Bersani klar: »I certainly don’t mean that political alignment can be wholly accounted for by fantasy identifications (…) you can be turned on by sailors, without being a right-wing militarist.« (Ebd.: 64) 14 | Für eine sehr bestechende Analyse einer Rhetorik, die – wie etwa bei Adorno – Homosexualität mit Faschismus gleichsetzt vgl. Hewitt, Andrew (1996): Political Inversions. Homosexuality, Fascism, and the Modernist Imaginary, Stanford: Stanford University Press. 15 | So schreibt etwa Edward Lucie-Smith: »Vor allem die deutschen Militäruniformen faszinierten ihn, und so tauchten sie in Abwandlungen in seiner persönlichen sexuellen Mythologie immer wieder auf.« (Lucie-Smith, Edward (2009): »Tom of Finland«. In: Dian Hanson (Hg.), Tom of Finland XXL, Köln: Taschen, S. 29) Und bei Berndt Arell heißt es im gleichen Band: »Natürlich wollte Tom die aufregenden Uniformen der deutschen Soldaten sehen, und wenn er dann manchmal als Dankeschön für einen guten Fick ein Abzeichen geschenkt bekam, war er höchst erfreut.« (Arell, Berndt (2009): »Im Freien. Öffentlicher Sex und Toms Spielwiese für große Jungs«. In: Dian Hanson (Hg.): Tom of Finland XXL, Köln: Taschen, S. 55) 16 | »My argument is that by not accepting and radically reworking the different identity of sameness – by rejecting the whole concept of identity – we risk participating in the homophobic project that wants to annihilate us. Only an emphasis on the specifics of sameness can help us to avoid collaborating in the disciplinary tactics that would make us invisible.« (Bersani, Leo (1995): Homos, Cambridge und London: Harvard University Press. S. 42.) In Bezug auf parodistische Identitäts-Entwürfe wie sie die Queer Theory hervorgebracht hat, formuliert Bersani: »Resignification cannot destroy, it merely presents to the dominant culture spectacles of politically impotent disrespect.« (Ebd.: 51) 17 | Im Interview mit James O’Higgins für die US-amerikanische Schwulenzeitschrift Samalgundi (Fall 1982-Winter 1983) äußerte sich Foucault wie folgt: »I think what most bothers who are not gay about gayness is the gay life-style, not sex acts themselves…It is the prospect that gays will create as yet unforeseen kinds of relationships that many people cannot tolerate.« (Foucault, zit.n. Bersani, Leo (1995): Homos, Cambridge und London: Harvard University Press, S. 77) 18 | Zum Thema sameness vgl. Dean, Tim (2002): »Sameness without Identity«. In: Umbra 2002, S. 25-42. 19 | Hier geht es explizit nicht um schwule Subjektivität, sondern um schwule Sexualität: »In this zone of ontological de-differentiation or sameness it no longer makes any sense to speak of the self.« (Dean, Tim (2002): »Sameness without Identity«. In: Umbra 2002, S. 37)

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P ETER R EHBERG 20 | »Psychoanalysis challenges us to imagine a non-suicidal disappearance of the subject – or in other terms, to dissociate masochsim from the death drive.« (Bersani 1995: 99)

L ITER ATUR Arell, Berndt (2009): »Im Freien. Öffentlicher Sex und Toms Spielwiese für große Jungs«. In: Hanson, Dian (Hg.), Tom of Finland XXL, Köln: Taschen, S. 53-56. Bersani, Leo (1986): The Freudian Body. Psychoanalysis and Art, New York: Columbia University Press. — (1995): Homos, Cambridge und London: Harvard University Press. Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Dean, Tim (2002): »Sameness without Identity«. In: Umbra 2002, S. 25-42. Dehner, Dirk (2009): »Versuch, den Finnen zu verstehen«. In: Hanson, Dian (Hg.), Tom of Finland XXL, Köln: Taschen, S. 13-14. Tom of Finland (1975): Kake and the Sadist, Bleistift auf Papier. Hanson, Dian (2009): »Die Tom-Frau«. In: Hanson, Dian (Hg.), Tom of Finland XXL, Köln: Taschen, S. 121-124. Hewitt, Andrew (1996): Political Inversions. Homosexuality, Fascism, and the Modernist Imaginary, Stanford: Stanford University Press. Kelley, Mike (2006): »Cross Gender/Cross Genre«. In: Diederichsen, Diedrich (Hg.), Golden Years. Materialien und Positionen zur queeren Subkultur und Avantgarde zwischen 1950 und 1974, Graz: Edition Camera Austria, S. 25-38. Lacan, Jacques (1975): »Die Bedeutung des Phallus«. In: Schriften 2, Olten, Quadriga: S. 119-132. Lucie-Smith, Edward (2009): »Tom of Finland«. In: Hanson, Dian (Hg.), Tom of Finland XXL, Köln: Taschen, S. 29-34. Maupin, Armistead (2009): »Toms Titten«. In: Hanson, Dian (Hg.), Tom of Finland XXL, Köln: Taschen, S. 95. Miller, D.A. (1992): Bringing Out Roland Barthes, Berkeley: University of California Press. Mulvey, Laura (1975): »Visuelle Lust und narratives Kino«. In: Weisberg, Liliane (Hg.), Weiblichkeit als Maskerade, Frankfurt a.M.: Fischer, S. 48-65. Paglia, Camille (2009): »Die Suche nach Sex bei Tom of Finland«. In: Hanson, Dian (Hg), Tom of Finland XXL, Köln: Taschen, S. 85-87. Ramakers, Micha (2000): Dirty Pictures. Tom of Finland, Masculinity, and Homosexuality, New York: St. Martin’s Press. Theweleit, Klaus (2000): Männerphantasien 1+2, München und Zürich: Piper. Williams, Linda (1995): Hard Core, Frankfurt a.M.: Stroemfeld.

Traumboys, Schlächter und Werwölfe Zur Visualisierung erotischer Identitäten in pornografischen Comic-Strips für homosexuelle Männer 1 Gilad Padva

Zumeist erreichen Comics die Aufmerksamkeitsschwelle des wissenschaftlichen Diskurses nicht, weil diese im Vorfeld entweder als trivial oder als unterhaltungsorientiert abqualifiziert werden. Abseits sexuell stimulierender Abenteuer und leidenschaftlicher Zusammenkünfte verhandeln erotische Gay Comics jedoch ein breites Spektrum an sozialen, kulturellen und poltischen Inhalten, die von der Konfrontation mit der Frage der sexuellen Identität über das Thema der Selbstakzeptanz bis hin zur Verhandlung von Homophobie, sexuellem Mißbrauch und der Bewältigung von Traumata reichen. Der grafischen Subkultur des Comics kommt eine nicht unbedeutende Rolle bei der Herstellung alternativer Bildwelten zu, welche durch realistische ebenso wie durch surrealistische Tendenzen in der Hoch- und Populärkultur gleichermaßen beeinflusst wurden. Gay Comic-Strips beschäftigen sich mit radikalen politischen Entwürfen, dem Streben nach Glück [pursuit of happiness] und der visuellen Umsetzung sexueller Utopien somewhere over the (illustrated) rainbow2. Erotische Gay Comics integrieren unterschiedliche Medien wie Cartoons, Animationskunst, Grafik, Körperkunst und Pornografie in ihr Darstellungsrepertoire. Dieses que(e)r zu allen Disziplinen gelagerte Medium hat selbst die Welt der technikunterstützt generierten Bilder von Kino, Video, Webcam und Internet-Sexseiten überdauert. Schwule Illustratoren wie Tom of Finland, dessen sexuell explizite Zeichnungen muskulöser Machos von den 1950ern bis zu den 1980ern über 30 Jahre hinweg in unterschiedlichen Magazinen erschienen, beeinflussten wiederum Künstler wie Robert Mapplethorpe, Bruce Weber und Rainer Werner Fassbinder (vgl. Blacke 1995). Weitere einflussreiche homosexuelle Zeichner, die – obgleich ihre Werke nicht als pornografisch gelten – erotische Szenen in ihre Arbeiten miteinbezogen haben, sind Jerry Mills und Eric Orner. Ersterer hat in seinem Comic mit dem Titel Poppers den promisken,

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schwulen Lebensstil im Californien der 1980er Jahre porträtiert. Die Hauptfigur in Poppers ist ein muskulöser Junge namens Billy, sein frustrierter Kumpel und eine Kleinerlaus, die in seinen Lenden lebt. Eric Orner hat in den späten 1990ern das soziale, kulturelle, familiäre und sexuelle Leben seiner Figur Ethan sichtbar gemacht. Zu den ersten bedeutenden queeren Comic-Anthologien zählen neben Winston Leylands homoerotischer Serie Meatmen die bekannten Gay Comics, die im September 1980 erstmals unter dem Titel Gay Comix veröffentlicht wurden. Unter den Zeichner_innen von Erotika für Männer, die ihre Arbeiten seit den 1990er Jahren in Meatmen publizierten, findet sich John Blackburn, der mit der Serie Coley Running Wild eine blonde, muskulöse und überaus sanfte Ikone der 1990er Jahre schuf, die zum Star der Kurzgeschichten im gleichnamigen Magazin avancierte. Jay Hawkins belieferte Meatmen mit Darstellungen psychedelischer Sex-Szenen, Joe entwarf in seiner Serie The Sons of Ramus eine alternative Mythologie geiler Titanen und Stepan Zubinsky fertigte Tableaus von sexuellen Begegnungen zwischen schwarzen und weißen Männern an. Julius’ ComicAnthologie mit dem Titel Private Collection behandelt ebenfalls das Thema des interracial sex3 und stellt in seinem Comic-Strip Ramon und Julian Sex zwischen einem Hispano und einem Angehörigen der weißen Mehrheitsgesellschaft dar. Craig Esposito illustrierte im pornografischen Magazin Jock hingegen die erotischen Abenteuer seines schwulen Protagonisten Jacko mitsamt den dazugehörigen bisexuellen Zwischenfällen. Im Zentrum dieses Artikels steht Jon Macys (1997: 89-103) erotischer Comic mit dem Titel Tail, der 1997 in Meatmen: An Anthology of Gay Male Comics publiziert wurde. Jon Macy begann seine Karriere als Comic-Zeichner mit einer Serie namens Tropo, die in acht Ausgaben vorliegt. Der Out in Comics-Webseite (o. A. 2003) zufolge zeichnete Macy anschließend eine erotische Gothic-Serie mit dem Titel Nefarismo, die ebenfalls acht Ausgaben zählt. Anschließend arbeitete er für die Zeitschriften Steam, Wilde, Bunkhouse und International Leatherman sowie für Meatmen und Gay Comics. Tail beinhaltet unterschiedliche Formen der Pornografie, die die Sexualisierung physischer Ungleichheiten zwischen männlichen Jugendlichen genauso einschließt wie sadomasochistische Praktiken und surreal wirkende Formen des Fetischismus. Die polysemen Qualitäten des Mediums Comic ermöglichen eine queere Relektüre von Tail, die eine erotische Politisierung von Sigmund Freuds Wolfsmann-Mythos in den Blick nimmt. Wolfboy ist der Protagonist von Tail. Dieser wird zu Beginn des Comics von angeblich heterosexuellen Männern im Badezimmer eines Colleges sexuell überrascht, bevor dieser, einen phallischen Planeten imaginierend, gegen Ende des Comics seine auf seinen Sporttrainer gerichteten masochistischen Fantasien in einem erotisch aufgeladenen, finsteren Wald realisiert.

T RAUMBOYS , S CHL ÄCHTER UND W ERWÖLFE

1. Z UR TR ANSFORMATION DES F REUD ’SCHEN WOLFSMANN -M Y THOS IM C OMIC Anders als im Fall von gefilmter oder fotografierter Pornografie, die die vermeintliche Evidenz des vor der Kamera Gezeigten beglaubigen will, gewinnt bei gezeichneter Pornografie die Fantasie an Bedeutung: »Zeichnungen« funktionieren »auf ähnliche Weise wie das Schreiben: Eher stellen sie den Betrachter_innen die Requisiten für ihre Fantasien bereit als dass diese durch reale Personen erregt werden« (Blake 1995: 344). Dementsprechend erklärt Wolfboy zu Beginn von Jon Macys Tail, dass er immer schon ein Werwolf sein wolle. Sein Environment ist das eines Campus, der tief im finsteren Wald liegt. Wolfboy muss gestehen, dass sein Begehren darum kreist, sich zu entkleiden und nackt unter den Bäumen seinen Gefährten hinterherzuheulen. Ein ähnliches Szenario findet sich in Sigmund Freuds Text »Aus der Geschichte einer infantilen Neurose« (Freud [1918] 2000), die den Traum eines russischen Patienten zum Thema hat. Als Freuds Patient sich im Alter zwischen drei und fünf Jahren befand, träumte dieser davon, dass sein Fenster sich plötzlich von selbst öffnete. Er erschrak, als er mehrere weiße Wölfe erblickte, die auf einem großen Nussbaum vor seinem Fenster saßen. Die Wölfe waren ganz weiß und sahen eher wie Füchse oder Schäferhunde aus. Sie wiesen zwei phallische Eigenschaften auf: Große Schwänze wie bei Füchsen und die gespitzten Ohren aufmerksamer Hunde. In großer Angst von den Wölfen gefressen zu werden, schrie der Träumende und wachte auf. Freuds Interpretation zufolge assoziierte sein Patient diesen Traum mit einer Kindheitserinnerung: Im Traum kehrt das Bild eines Wolfes aus einem Märchenbuch wieder, vor dem Freuds Patient in den Jahren seiner Kindheit ungeheuerliche Angst gehabt hatte. Er verband dieses mit einer Geschichte, die sein Großvater ihm erzählte. Die Geschichte handelte von einem Schneider, der in seinem Zimmer bei der Arbeit saß, als sich das Fenster öffnete und ein Wolf hereinsprang. Der Schneider packte diesen beim Schwanz und riss ihn aus, sodass der Wolf erschrocken davonrannte. Eine Weile später ging der Schneider in den Wald und sah plötzlich ein Rudel Wölfe auf ihn zukommen; um diesen zu entkommen, kletterte er auf einen Baum. Anfänglich zeigten die Wölfe sich verwirrt, doch der Versehrte unter ihnen, der sich am Schneider rächen wollte, machte seinen Gefährten den Vorschlag, solange aufeinander zu klettern, bis der Letzte unter ihnen den Schneider erreichen könne. Der schwanzlose Wolf selbst sollte die Basis der Pyramide bilden. Die Wölfe setzten den Plan in die Tat um, doch der Schneider erkannte seinen unerwünschten Besucher wieder und rief plötzlich wie damals aus: ›Packt den Grauen bei seinem Schwanz!‹ Von seiner Erinnerung erschrocken, lief der schwanzlose Wolf davon und die anderen purzelten zu Boden.4

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Freud behauptet nun, dass diese Geschichte eine unmissverständliche Anspielung auf den Kastrationskomplex sei: Der alte Wolf wurde durch den Schneider um seinen Schwanz gebracht und die im Traum wiederkehrenden Fuchsschwänze stellen ein mögliches Kompensat für die durch den Schneider verursachte Schwanzlosigkeit dar. Des Weiteren forderte der schwanzlose Wolf die anderen dazu auf, auf diesen hinaufzuklettern. Genau dieses Detail habe bei Freuds Patienten die Erinnerung an die kindliche Urszene hervorgerufen: Als dieser seine Eltern kopulieren sah, wurde er in Anbetracht dieser Szene mit der Realität der Kastration konfrontiert5 – einer Szene, die seine Fantasie bereits beschäftigt hatte. Freud zufolge resultiert »[d]ie Angst« seines Patienten aus einer »[…] Ablehnung des Wunsches nach Sexualbefriedigung durch den Vater, welches Streben ihm den Traum eingegeben hatte. Ihr Ausdruck: vom Wolf gefressen zu werden, war nur eine – wie wir hören werden: regressive – Umsetzung des Wunsches, vom Vater koitiert, d.h. so befriedigt zu werden wie die Mutter. Sein letztes Sexualziel, die passive Einstellung zum Vater, war einer Verdrängung erlegen, die Angst vor dem Vater in Gestalt der Wolfsphobie an ihre Stelle getreten.« (Freud [1918] 2000: 164)

Freud geht noch weiter und schlägt vor, dass das Sexualziel seines Patienten ein ›passives‹, nämlich jenes, an den Genitalien berührt zu werden, gewesen sei. Infolge einer Regression auf die frühere Stufe der anal-sadistischen Organisation verwandelte dieses sich später in den masochistischen Wunsch, geschlagen oder bestraft zu werden. Freuds Patient sei es angeblich egal gewesen, ob seine Wünsche mit Hilfe eines Mannes oder einer Frau erfüllt werden würden. In seiner »Geschichte einer infantilen Neurose« hat Freud Homosexualität folglich nicht nur von ihrer gleichgeschlechtlichen Objektwahl entbunden und damit entpersonalisiert, sondern auch pathologisiert und stigmatisiert; insbesondere Analsex zwischen Männern erklärte dieser damit zu einer Art geistiger ›Störung‹: zu einer Neurose. Der homophobe Mythos des Wolfsmannes wird in Jon Macys Tail auf durchdachte Weise (homo)erotisiert. Macy stellt seinen Helden, der auf den Spitznamen Wolfboy hört, gleichermaßen als fetischisiertes Objekt des Hasses sowie des Begehrens der Mitglieder eines College-Fußballteams dar. Diese beschimpfen Wolfboy, berühren ihn an intimen Körperstellen, greifen ihn aus, halten ihn auf aggressive Weise dazu an, den Körper eines anderen Mannes zu rasieren und ejakulieren sogar auf ihn. Sie bringen Wolfboy zu Joe Bob, dem Leiter des Schwimm-Teams, dessen Ruf, einen riesigen Penis zu haben, ihm den Spitznamen ›Monster‹ eingebracht hat. Wolfboy wird dazu gezwungen Joe Bob’s Körper zu rasieren. Anstatt sich dadurch erniedrigt zu fühlen, genießt er dies jedoch. Unser Protagonist betrachtet diese Anweisung nicht als entwürdigendes Ritual, sondern als außerordentliche Möglichkeit intimen Kontakt mit Joe Bob zu haben, der innerhalb der Geschichte als haarig-pelzige, wolfsähnliche

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Abbildung 91: Homosexuelle Umschrift des Wolfsmann-Mythos (Macy 1997: 103)

und phallifizierte Mythengestalt fungiert. In Tail vollzieht Jon Macy eine subversive Gegenbewegung zur dominanten Lesart des Wolfsmann-Mythos: Darin fühlt queere Subjektivität sich nicht gepeinigt, sondern erheitert, not abused but amused, an: Wolfboys Schrei ist kein Anzeichen von Todesangst, sondern ein Schrei aus Leidenschaft.

2. Z UR E ROTISIERUNG UNGLEICHER M ÄNNLICHKEITEN IN J ON M ACYS TAIL In Jon Macys gegenkulturellem Text werden Wolfboys Peiniger zugleich als grausame Männer und himmlische Körper dargestellt, die die Aufmerksamkeit der homosexuellen Betrachter_innen auf sich ziehen. Die Figur des straighten6 Mannes wird in ihrer Ultra-Virilität, Mega-Maskulinität, Hyper-Muskulösität und Super-Phallizität überstrapaziert und dadurch für homosexuelle Männer begehrenswert gemacht. Waugh zufolge zählt die Erotisierung des straighten Mannes zu einem charakteristischen Merkmal des Schwulenpornos: »Der straighte Mann wird zur erotischen Oberfläche, zum gleichzeitig idealisierten und abgewerteten Objekt erotischer Obsession« (vgl. 1995: 326).7

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Die Begeisterung für den straighten, männlichen Körper mag für einige heterosexuelle Betrachter_innen verstörend wirken; auf ein queeres Publikum, das zu den eigentlichen Adressant_innen des pornografischen Comic-Strips gehört, kann dies jedoch stimulierend wirken. Die homosexuelle Stilisierung des straighten Mannes kann nicht nur als sexy Kunstgriff wahrgenommen werden, sondern auch als Akt der Politisierung von Hetero-Kategorien und als Form der Konfrontation mit naturalisierten, die Faszination an gleichgeschlechtlicher Lust betreffenden Tabus. Der heterosexistische Mann bezeichnet den queeren Körper in Tail als außergewöhnlichen Körper, als mit dem Wolfsmann assoziierten ›monströsen‹ Körper, als unersättlichen Körper, der sich durch seinen voyeuristischen Blick straighte Männerkörper aneignet, als zwanghaften Körper, der – wie ein Mitglied des Teams bemerkt – »gar nicht anders kann«; als unkontrollierten, von seinen Peinigern inspizierten Körper, als invasiven Körper, der potentiell penetriert, als begehrenden Körper, der Interesse an den Körpern anderer Männer signalisiert, als verführenden Körper, penetrierten Körper, dominierten Körper, der dazu dient Joe Bob’s mythenumwobenem Körper zu dienen, als transgressiven, rebellischen Körper, der in einer späteren Ejakulations-Szene rituell domestiziert wird, und als isolierten Körper, mit dem Augenkontakt zu unterhalten nach Wolfboys ›Verstoß‹ selbst sein einziger Freund Max meidet. In Tail werden Ungleichheiten zwischen Männern im Sinne von asymmetrischen Machtverhältnissen, die Gewaltfantasien auslösen können, nicht nur politisiert, sondern auch erotisiert. Wenngleich es so wirkt, als ob die älteren Jungen den Jüngeren ausschließlich gegen seinen Willen tyrannisieren, könnte dies auch der Befriedigung einiger seiner masochistischen Phantasien sowie jener der Leser_innen dienen. Diese Wünsche, auf die ich an anderer Stelle dieses Textes noch zu sprechen kommen werde, basieren auf der bewussten Erotisierung von Ungleichheiten zwischen unterschiedlichen Männlichkeiten – so etwa jenen zwischen der ›virilen‹ Maskulinität der straighten Jungen und der ›femininen‹ Männlichkeit der schwulen Jungen. Im analysierten Comic geht es nicht um eine Herstellung von Differenz zwischen männlichen und weiblichen Körpern; vielmehr besteht diese zwischen unterschiedlichen sexuellen Identitäten von Männern entlang der Differenzierungsachse von heteromännlichen und queeren Körpern. In heterosexuellen Mainstream-Pornos werden selbst straighte männliche Darsteller kaum beim Orgasmus gezeigt; die Zuckungen und das Stöhnen der weiblichen Partner_in wird stattdessen zum konventionellen cinematografischen Code für den heterosexuellen Höhepunkt (vgl. Bordo 1999: 191). In heterosexuellen Pornofilmen fungiert der Körper der weiblichen Sexarbeiter_in lediglich als Oberfläche für eine Ejakulation, durch die der Mann sich seiner Macht versichert: Indem der Frauenkörper als machtlos, wertlos, konvulsiv, unfreiwillig und außer Kontrolle geraten dargestellt wird, wird dieser vom Privi-

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leg der ejakulativen Einschreibung ausgeschlossen (vgl. Thomas 1996: 22f.). In ähnlicher Weise nehmen auch die Männer, die auf Wolfboys Körper ejakulieren, dieses soziale Privileg der Machtausübung über diesen in Anspruch. Es ist jedoch keine mit dem binären Geschlechterdualismus verbundene Anmaßung von Überlegenheit, die diese demonstrieren, sondern vielmehr jene, die infolge von Hierarchien zwischen Männern entsteht. John Stoltenberg (1999 [1989]) zufolge sind die daraus restultierenden Machtasymmetrien keineswegs frei von Brutalität und Diskriminierung. Stoltenberg argumentiert, dass die mit der Darstellung von Sex im Schwulenporno transportierten Werte jene Werte sind, die schwule Männer haben; es sind dieselben, die auch straighte Männer haben; es sind jene Werte, durch die männliche Vorherrschaft sich mithilfe von sexueller Machtausübung reproduziert. In gezeichneten Darstellungen von Schwulenpornografie sind die Akteur_innen aus Fleisch und Blut jedoch abwesend. Wenn gezeichneten Porno-Bildern irgend etwas Missbräuchliches anhaftet, dann lediglich auf symbolischer Ebene: Kein ›realer‹ menschlicher Körper wurde von der Pornoindustrie dafür physisch ausgebeutet, prostituiert oder misshandelt. Bezeichnender Weise beinhaltet die Erzählung von Wolfboys ambivalentem sexuellem ›Elend‹ bis zum Ende der Geschichte keinerlei Analverkehr. Guy Hocquenghem (1978) betont, dass es der Phallus ist, der männliche Identität herstellt; der nicht-sublimatorische Gebrauch des Anus geht hingegen mit dem Risiko des Identitätsverlusts einher. Leo Bersani (1987) merkt an, dass das schwule Subjekt sich beim Analsex jene Passivität eingestehen muss, die sich antithetisch zu patriarchalen Fantasien männlicher Dominanz und Autorität verhält. Diese Unterscheidungen werden erst in der letzten Szene von Tail mit den Mitteln der Erotik politisiert. Als Wolfboy am Ende von seinem Trainer in den Wäldern verzehrt wird, genügen beide ihrer wechselseitigen ›animalischen‹ Attraktion. Wolfboy hat nicht das Gefühl, durch diesen Akt seine männliche Identität zu verlieren. Vielmehr genießt dieser die fantasievolle Verwandlung seiner selbst und seines Trainers in einen menschlichen Wolf, mit der das Zelebrieren ihrer Homosexualität beginnt. Wolfboy fühlt, dass seine wölfische Identität erst im Akt des Penetriert-Werdens durch seinen angebeteten Sporttrainer zur Gänze zum Vorschein kommt. Das Paar ist wild, unkontrolliert und undiszipliniert. Es unterwandert bzw. invertiert lustvoll die homophoben Implikationen jener »sexuellen Abirrungen«, die Freuds Analyse des Wolfsmannes sowie seine »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« (Freud [1914] 1964) beinhalten.

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3. Z UR E ROTISIERUNG VON MÄNNLICHEM M ASOCHISMUS Thomas Waugh (1995) geht davon aus, dass der männliche Körper im Schwulenporno zugleich gefeiert und entrindet [decorticated]8 wird. Man(n) gibt sich den Riten der Männlichkeit hin und unterläuft diese im selben Augenblick. Waugh betrachtet den exhibitionistischen Raum des Schwulenpornos als Zone der Befreiung und zugleich als Erweiterung des Schwulen-Ghettos, als Zufluchtsort vor heterosexistischem Territorium, als bevorzugten Raum für anonyme Kontakte und als Ort für Individuen, die sich in Bars und Saunas nicht den sexuellen Normen entsprechend verhalten. Des Weiteren attestiert dieser dem Schwulenporno eine progressive, erzieherische, ideologische und bewusstseinsbildende Kraft, die Zustände wie jene der Selbstunterdrückung und der Isolation in the closet herausfordere: Waugh geht so weit zu behaupten, dass derartige Erotika isolierten Jugendlichen dazu dienen können, erste Verbindungen zur Gay Community herzustellen. Richard Dyer (1999 [1992]) betont, dass im Gegensatz zum straighten Porno im Schwulenporno alle Schauspieler schwule Männer und Bestandteil einer schwulen Subkultur sind – eine Situation, die mit jener des heterosexuellen Pornos keineswegs vergleichbar ist. Infolgedessen verklärt schwule Pornografie – im Guten wie im Schlechten – keineswegs patriarchale Hegemonien. Dyer nimmt weiters an, dass jedwede Form der Pornografie Bestandteil davon ist, wie wir unsere Sexualität leben: Die Art und Weise wie wir Sexualität darstellen, ist Teil davon, wie wir diese im Alltag ausagieren und der Porno nimmt im Moment fast den gesamten Markt der sexuellen Repräsentationen ein. Tim Edwards (1994) stimmt mit Dyer dahingehend überein, dass es dann eine klare qualitative Differenz im Verhältnis zwischen dem_der Betrachter_in und dem Betrachteten gibt, wenn es sich dabei nicht um Personen des entgegengesetzten, sondern um solche desselben Geschlechts handelt. Er betont, dass es unter Vertretern desselben Geschlechts die starke Tendenz gibt, Ungleichheiten zu erotisieren und miteinander konkurrierende Vorstellungen von Männlichkeit zu hierarchisieren. Infolgedessen ist die Kontrolle von ›Weiblichkeiten‹ dem schwulen Männerporno immanent und macht diesen im Hinblick auf die Herstellung von Geschlechterverhältnissen dem straighten Männerporno ähnlicher als dies vorerst den Anschein hatte (vgl. Edwards 1994; Padva 2004). Die verherrlichten Machtverhältnisse und die Akte der Gewalt, die in Tail bebildert werden, sind durchaus mit Waughs Annahme vereinbar, dass »der Schwulenporno Sexismus und andere mit gewalttätigen Verhaltensweisen einhergehende Diskriminierungen aufgrund des Aussehens [lookism], der Körpergröße [sizeism], der ›Rassen‹-Zugehörigkeit [racism], des Alters [ageism] und weiterer Faktoren positiv bewertet« und infolgedessen eine »rückschrittliche Kraft« (Waugh 1995: 319) darstellt. In Wolfboys sadomasochistischen Fantasien wird der verehrte Super-Mann zur stimulierenden Triebkraft, dem idealen

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Abbildung 92: Kollektive Akte der Körperpflege (Macy 1997: 93)

(weißen) Mann – ultra-viril, himmlischer Körper, größter Schwanz, übergeordnete Autorität – zu dienen. Diese Figur wird durch Joe Bob verkörpert, der als ›monströs‹, ›riesig‹, ›aufgedonnert‹ und ›stark behaart‹ – kurz: als muskulöser Mann mit riesigem Schwanz – dargestellt wird. Als Wolfboy den Befehl erhält, diesen zu rasieren, empfindet er dies nicht als Akt der Degradierung, sondern als Genugtuung. In ihrer Studie zum Verhältnis von männlicher Subjektivität und Masochismus fragt Kaja Silverman (1993) danach, was genau den Masochisten auszeichnet und was die Konsequenzen seines Sich-Selbst-Aussetzens sind. Sie schlägt vor, männlichen Masochismus als kulturelle Voraussetzung für Prozesse der Subjektivierung zu deuten, die normalerweise verdrängt, im Masochismus aber auf beharrliche und überzeichnete Weise ausagiert werden. Der Masochist ruft laut aus, dass er seine Existenzberechtigung ausschließlich anderen verdanke, unterwirft sich dem Blick dieser anderen selbst dann, wenn er darum bitten muss, macht seine ›Kastriertheit‹ für alle sichtbar und schwelgt in der Opferlogik des Gesellschaftsvertrages. »Der männliche Masochist strapaziert unter Zurückweisung jeglicher Form von nachträglicher Vernähung [suture] oder Entschädigung die Verluste und Trennungen, die der Prozeß der Formierung kultureller Identität zur Voraussetzung hat. Kurzerhand strahlt er eine Negativität aus, die die Grundfesten der sozialen Ordnung erschüttert.« (Silverman 1993: 53)9

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Aus diesem Grund wird der männliche Masochist unter gesellschaftlichen Bedingungen heterosexueller Dominanz als Bedrohung wahrgenommen. Er lebt marginalisierte, alternative Konzepte von Männlichkeit aus, indem er den passiven, durchdrungenen und penetrierten männlichen Körper feiert und dadurch das heterosexuelle Regime dichotomisierter Körper unterwandert. Ein weiterer von Wolfboy insgeheim angebeteter übermännlicher Held ist der Fussballtrainer, der im Vergleich zu diesem männlicher, ›tougher‹, erfahrener und reifer wirkt. Sein durch Sport geformter, ›arischer‹ [›aryan‹] Körper ist komplett enthaart. Diesen stellt der Fußballtrainer in einem Dialog mit Wolfboy unverdeckt zur Schau und verspricht auch ihm einen ›perfekten‹ Körper: »We’re going to help you boy, by remaking your body« (Macy 1997: 97). Der folgende ›Einzelunterricht‹ beruht auf der Erotisierung der Ungleichheit zwischen dem als perfekt dargestellten Körper des Trainers und jenem des Jungen, der als jugendlich, unerfahren und ohne Muskeln gezeichnet wird. Der Trainer spekuliert sogar darüber, ob Wolfboy von den anderen aufgrund seiner Körpergröße verspottet wird. Er empfiehlt ihm wenig später zu einem speziellen Training zu kommen, das das Ausschöpfen seines ›gesamten Potentials‹ ermöglichen soll. Als Wolfboy erneut den Raum betritt, entpuppt sein Erziehungsverhältnis sich als sadomasochistische Unterweisung. Bei der Neukonstitution seines Körpers scheint es sich um eine Degradierung zum ›femininen‹ Sklaven zu handeln. Wolfboy betritt ein fantastisches Wunderland der Macht und der Lüste, in dem alle Männer sadomasochistische Lederklüfte tragen. Im Hinblick auf die Grenzen und Möglichkeiten sadomasochistischer Praktiken und ihrer politischen Implikationen für das Denken schwuler Sexualität ist die Gay Community stark geteilt. Menschen, die Sadomasochismus praktizieren, sind Foucault zufolge in einen Prozess des Erfindens von Möglichkeiten involviert, mithilfe ungewöhnlicher Teile ihres Körpers Lust zu generieren: »Sadomasochismus ist ein kreatives Unterfangen, zu dessen zentralen Merkmalen die – wie ich es nenne – Desexualisierung von Lust zählt« (Foucault 1984: 27).10 Diese sexuelle Praxis ist allerdings zugleich ein verurteiltes Verlangen sowie ein Verlangen nach Verurteilung: »Unterminiert das Verlangen nach Verurteilung eben diese Verurteilung oder bekräftigt es lediglich diese Verurteilung?« (Edwards 1994: 77)11 Aus schwuler Perspektive wurde das Ausleben von Sadomasochismus kritisiert, weil sowohl das Festhalten am Aktiv-Passiv-Dualismus als auch die spielerische Erniedrigung seiner selbst und anderer zur Unterdrückung der Homosexualität beitrage: Damit gehe zwangsläufig auch eine Entwertung des Begehrens für andere Männer einher. Im Gegensatz dazu sehen Sadomasochist_innen in ihren Aktivitäten jedoch den Ausdruck einer Pro-Sex-Attitude: Sie verweisen auf die kathartischen Qualitäten sadomasochistischer Praktiken beim Lindern von Schuldgefühlen und sozialen Stigmatisierungen. Insofern im S/M Sexualitäten im Rahmen von theatralen Skripts und vorab festgelegten

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Rollenspielen ausagiert werden, sind diese vielleicht sogar einzigartig im Hinblick auf ihre konstruktionistischen Qualitäten [constructionist qualities of sexuality]. Die Sexualisierung der Ernsthaftigkeit durch die Teilnehmer_innen scheint das spielerische Element jedoch auszuhebeln. Dazu schreibt Edwards: »Während sie für Außenstehende mit der Idee von Parodie oder Spiel verknüpft zu sein scheint, beruht sadomasochistische Sexualität notwendigerweise auf der individuellen Internalisierung ernst gemeinter sexueller Fantasien durch die Insider: Lachen ist nicht sexy.« (Edwards 1994: 78)12

Im Gegensatz dazu hebt Anne McClintock (1993) die mit dem Theatralen, dem Camp und der Maskerade13 assoziierten Qualitäten sadomasochistischer Rollenspiele hervor: In übermäßiger Betonung von Kostüm und Bühne wird gesellschaftliche Macht als sexuelles Skript reinszeniert und dadurch verändert. Ohne aus dem magischen Kreis der Bezauberung herauszutreten, verkehrt und verwandelt das sadomasochistische Theater der Konversion die sozialen Bedeutungen, von denen es Anleihen nimmt: »Im Sadomasochismus wird das Paradoxe nicht gelöst, sondern zur Schau gestellt.« (McClintock 1993: 208) Damit einhergehend führt Joe Bob Wolfboy wie ein gut erzogenes Hündchen (oder einen trainierten Wolf) an einem metallenen Halsband mit Kette vor den nackt an die Wand geketteten Trainer. Der Prozess der Konversion findet hier in Form einer Transformation von Initiator zu Initiiertem statt: Der Trainer wurde nicht etwa aufgrund seiner Promiskuität ›verhaftet‹, sondern vielmehr, weil er sich zu zurückhaltend verhalten hatte. Joe Bob erklärt seinem angeketteten Jungen, dass es das ultimative Ziel seines Befehls gewesen sei, »alle Männer von der Tyrannei der Hemmung« zu befreien und ergänzt, dass es geplant sei, den Trainer noch in diesem Frühling in die Wildnis zu entlassen. Wolfboy betrachtet seinen Trainer nunmehr als ein sich in Gefangenschaft befindliches wildes Tier, als »verheerenden Wolf, der nach seiner_seinem bitch14 heult, um ihn_sie zu beißen und in hemmungsloser Selbstaufgabe mit diesem_dieser unter den Bäumen zu vögeln.« Wolfboys Märtyrertum stellt in diesem Zusammenhang das Pendant zu einer masochistischen Ökonomie dar, die sich um den zur Erlösung führenden Todeswunsch dreht: Freud zufolge ist der Tod die fantasierte Antwort auf das Begehren der_des Masochist_in (vgl. Studlar 1983: 606). Allerdings ist Wolfboys durch Ersticken verursachter Tod im imaginären Porn-Utopia nicht endgültig: Vielmehr führt dieser zu einem neuen Leben. Von den Toten auferstanden, findet Wolfboy sich in einer vom Rest der Narration durch ein höheres Maß an Fiktionalität abgehobenen phallischen Welt der Fantasie wieder – oder aber in einer Fantasie in der Fantasie [fantasy-within-a-fantasy], die einen unerwarteten Wendepunkt innerhalb einer Entdeckungsreise ins Unbewusste der homoerotischen Ängste und Lüste markiert.

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4. Z UR E ROTISIERUNG GROTESKER K ÖRPER UND PHALLISCHER R EGIME Jon Macys Bilder eines schrägen und gegen Ende von Tail unerwartet auftauchenden Planeten sind durch die Werke der Surrealisten Salvador Dali, Pablo Picasso, Max Ernst und René Magritte inspiriert. Sorgfältig integriert Macy die ›hohe‹ Kunst in die Bilderwelt des Porno-Comics und damit auch die Elemente der Hochkultur in den Bereich des Populären. In seiner imaginierten Welt zeigt sich ein nackter Junge erstaunt über den Anblick von phallischen Felsen, muskelartigen Steinen und Spalten, die wie schlaffe Schwänze und wohlgeformte Abbildung 93: Ferne Planeten mit erotischen ›Monstern‹ (Macy 1997: 102, Detail)

Gesäßhälften gegliedert sind. Unter den grotesken, transgressiven Körpern, die die Landschaft dieses Planeten bevölkern, befinden sich ebenso augenartige Nippel und unterschiedliche Genitalien, die wütenden Gesichtern ähneln. Zu einem früheren Zeitpunkt der Erzählung wurde von pubertierenden Jungen, einem mächtigen Fussball-Trainer, von Sadomasochist_innen und letztlich von Wolfboy selbst ein Phallus verehrt. In der verque(e)ren Szene auf dem Planeten wird dieser zugleich umschwärmt und parodiert, unterwandert und gefeiert, glorifiziert und ins Lächerliche gezogen sowie bewundert und verniedlicht. Dieser Phallus wirkt lustvoll, witzig und seltsam zugleich. Er steht

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nicht länger für männliche Vorherrschaft oder Körper-Faschismus [body-facism]. Vielmehr ist dieser vielgeschlechtlich, androgynisiert, reformiert, deformiert und transformiert; er wurde invertiert, pervertiert und konvertiert. Zum Beispiel: Ein kalhköpfiges Trans*-Individuum mit einem Ohrring, sinnlichen Lippen und geschminkten Augenpartien trägt einen ›Schal‹ um den Hals, der aus miteinander verbundenden ejakulierenden Phalli besteht. Sie_ er_es trägt zwei Nadelstiche auf der flachen Brust und einen anderen oberhalb Abbildung 94: Trans* Person mit phallifiziertem Schal (Macy 1997: 102, Detail)

ihres_seines riesigen Phallus. Sexueller Essentialismus und/oder Determinismus wird durch Strategien des genderfuck und des gender-bending unterwandert und fordert die Freud'schen Kategorisierungen und Klassifizierungen heraus. Elizabeth Grosz (1995: 289) glaubt, dass die Vielheit libidinöser Schauplätze nicht länger durch Rückgriff auf eine psychoanalytische Terminologie beschrieben werden kann, deren Vertreter_innen im nostalgischen Rekurs auf die erotogenen Zonen einer präödipalen, infantilen Körperorganisation nur mehr die Bewegung einer Regression erkennen können. Vielmehr begreift Grosz die Herstellung libidinöser Zonen als kontinuierlichen Prozess der Erneuerung und der Transformation von Körpern im Experimentieren, Üben und Neuer-

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finden; durch die Kontingenzen des Lebens, das Zusammenkommen von Oberflächen, durch einschneidende Praktiken und leibliche Reinskriptionen. Im Anschluss an die surrealistisch anmutenden Spektakel in Tail streift Wolfboy durch die Wälder, die als Wolf zu durchwandern er sich immer schon erträumt hatte. Dort trifft er den nackten Trainer und schläft mit ihm. Im Wissen um die politische Dimension des Freud’schen Mythos erinnert Jon Macys Held daran, dass »die Herrlichkeiten des Es uns aufgezehrt hätten«.15 Als sie ihren wechselseitigen Hunger aufeinander stillen, erscheint der Trainer in einem Bild als behaarter Werwolf, der am Hals eines lächelnden Jungen heult – eine Pose, die das Bild eines homoerotisierten Vampirs evoziert. In der letzten Szene des Comics sieht man eine Darstellung von Analsex aus der Totalen. Jon Macy bringt den sozialen Sinn dieser Szene vollständig auf den Punkt: Die Hingabe und Erfüllung zweier Werwölfe – marginalisierte Körper (und Seelen), die ihre Sexualität – zumindest in Wolfboys Fantasie – feiern: »Ja, wir waren TIERE«, bemerkt der Junge. »Der Weiseste unter uns ist aber derjenige, der weiß wonach er wirklich hungert.«16 Die Darstellung schwuler Pornografie in Jon Macys Tail dient gleichermaßen der sexuellen Stimulation der Leser_innen und einer emanzipatorischen Praxis. Diese befördert queere Sichtbarkeit ebenso wie die Herstellung libidinöser Simulakren, jouissance auf Basis des Konsenses aller Beteiligten genauso wie die orgasmische Aufführung. Gross und Woods (1999: 3-22) zufolge ist die kollektive Herstellung und Konsumption eigener medialer Bilder ein deutliches Anzeichen für die Unabhängigkeit einer Minderheit vom Mainstream. Die von Minderheiten am meisten konsumierten Medien sind Zeitschriften und Magazine. Als unabhängiges queeres Medium werden erotische Gay Comics der Forderung nach einer (Gegen-)Kultur mitsamt ihren unabhängigen Formen von Sichtbarkeit, Selbst-Repräsentation und autonomen Bilderwelten, Fantasien und Narrativen gerecht. Vielmehr noch leistet dieses Medium mit seiner einzigartigen Kombination aus gezeichneter Fantasie und surrealer Pornografie einen eigenständigen Beitrag zum alternativen Diskurs über Sexualität, Leidenschaft, Körperkult und gegenwärtigen phallischen Regimen.

A NMERKUNGEN 1 | A. d. Hg.: Der Originaltext ist unter dem Titel „Dreamboys, Meatmen and Werewolves: Visualizing Erotic Identities in All-Male Comic Strips“ in der Zeitschrift Sexualities 5/2005 erschienen. Vgl.: Gilad Padva: »Dreamboys, Meatmen and Werewolves: Visualizing Erotic Identities in All-Male Comic Strips«. In: Sexualities 5/2005, S. 587-599. Gilad Padva dankt Naomi Paz/University of Tel Aviv für nötige Anregungen und Kritik. Die erstmalige Übersetzung aus dem Englischen von Barbara Eder und der Wiederabdruck erfolgt mit leichten Kürzungen und freundlicher Genehmigung des Autors.

T RAUMBOYS , S CHL ÄCHTER UND W ERWÖLFE 2 | A. d. Ü.: Die im Originaltext verwendete und in der Übersetzung erhalten gebliebene Phrase Somewhere over the rainbow bezieht sich auf einen Song, den die amerikanische Schauspielerin Judy Garland (1922-1969) im Fantasy-Film The Wizard of Oz (USA 1939, R: Victor Feming) in einer Musical-Sequenz zum Besten gibt. Für schwule und Trans* sowie für Drag Queens war Garland bis in die späten 60er Jahre eine bedeutsame Identifikationsfigur. Aufgrund ihres tragischen Lebensverlaufes wurde diese zur Projektionsfläche für die zu dieser Zeit oftmals ein Doppelleben erfordernde Existenz von Queers, die auch in the closet rechtlicher Verfolgung und öffentlicher Diskriminierung ausgesetzt waren. Die deutsche Zeitschrift Gigi-Zeitschrift für sexuelle Emanzipation konstatiert sogar einen Zusammen-hang zwischen den Ereignissen von Stonewall und dem Tod Judy Garlands: Die Trauer um den fünf Tage zuvor in einer öffentlichen Toilette verstorbenen Filmstar war maßgeblich für die widerständigen Aktionen von vornehmlich proletarischen Lesben, Schwulen und Trans* bei der Polizei-Razzia im New Yorker Stonewall-Inn am 28. Juni 1969. Vgl. Klauda, Georg und Eike Stedefeldt (2010): »Somewhere over the Rainbow«. In: Gigi – Zeitschrift für sexuelle Emanzipation, No.65. Online unter: www.gigi-online.de/stonewall2.html (letzter Abruf: 23.01.2010). 3 | A. d. Ü.: Der Term interracial im Sinne von »zwischen Menschen unterschiedlicher Hautfarben« wird im Original beibehalten, da eine Übersetzung rassifizierende und sozialdarwinistische Konnotationen aufrufen würde, die stärker im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit im deutschsprachigem Raum stehen als mit der hier primär intendierten (post-)kolonialen Geschichte Amerikas. 4 | A. d. Ü.: Padva hält sich in diesem Abschnitt des Textes weitgehend an den Wortlaut der Freudschen Falldarstellung. Vgl. Freud, Sigmund ([1918] 2000): »Aus der Geschichte einer infantilen Neurose«. In: Ders.: Zwei Kinderneurosen. Studienausgabe Band VIII, hg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag, S. 150-151. 5 | A. d. Ü.: Padva spricht im Original von »the conviction of castration« (ebd. 590), die Freuds russischem Patienten angeblich zu Bewußtsein kommt. Dazu heißt es im Original: »Auf die Annahme, daß das Kind einen Koitus beobachtet, durch dessen Anblick es die Überzeugung gewonnen, dass daß die Kastration mehr sein könne als eine leere Drohung, können wir nicht verzichten.« (Freud, Sigmund ([1918] 2000): »Aus der Geschichte einer infantilen Neurose«. In: Ders.: Zwei Kinderneurosen. Studienausgabe Band VIII, hg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag, S. 174) 6 | A. d. Ü.: Padvda verwendet das englische »straight« im Gegensatz zu »gay«, das wir aufgrund der Spezifität seiner Bedeutung und in Ermangelung eines angemessenen deutschen Pendants in der Übersetzung beibehalten. »Straightness« impliziert eine Perspektive auf Heterosexualität vom homosexuellen Blickwinkel aus und konnotiert zudem mehr als nur eine sexuelle Orientierung. Die lesbische Theoretiker_in Monique Wittig bezieht »straightness« in ihrem Essay »The straight Mind« auch auf wissenschaftliche Begriffe wie » ›woman‹, ›man‹, ›sex‹, ›difference‹ and all those series of concepts which bear this mark, including such concepts als ›history‹, ›culture‹ and ›the real‹«

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G IL AD P ADVA (Wittig [1980] 1992: 27), die im Bereich der Gay/Lesbian Community mit anderen Bedeutungen versehen sind als innerhalb der straighten Wissensproduktion. 7 | Originalzitat: »The straight man becomes an erotic surface, objectified, both idealized and debased, the object of erotic obsession.« 8 | A. d. Ü.: Die eigentümliche Verwendung des Begriffs ›decorticated‹ (›entrindet‹) beinhaltet Anspielungen auf das Freudsche Modell von Ich, Es und Über-Ich. Freud konzipiert das Ich wörtlich als von der ›Rindenschicht‹ des Es umgeben, das im Fall einer Entrindung unverhohlen zum Vorschein kommt. 9 | Originalzitat: »The male masochist magnifies the losses and divisions upon which cultural identity is based, refusing to be sutured orrecompensed. In short, he radiates a negativity inimical to the social order.« 10 | Originalzitat: »Sadomasochism is a creative enterprise which has as one of its main features what I call the Desexualisation of pleasure.« 11 | Originalzitat: »Does, then, a desire for damnation undermine that damnation or even provide opposition to it, or merely erinforce that damnation?« 12 | Originalzitat: »Sadomasochism sexuality, whilst perhaps appearing to parody or play with ideas concerning sex to an outsider, necessarily also relies on a serious individual internalization of sexual fantasy for its insiders: laughter isn’t sexy.« 13 | A. d. Ü.: Camp rekurriert auf einen spezifisch queer konnotierten Humorbegriff, die Maskerade ist eine eher weiblich konnotierte Strategie des gender-drag. Als termini technici wurden die Begriffe aus dem Original übernommen. 14 | A. d. Ü.: Padva verwendet an dieser Stelle das weiblich konnotierte Schimpfwort ›bitch‹, um eine Person zu bezeichnen, deren Geschlecht (sex) männlich ist. 15 | Originalzitat: »We were consumed by the glories of the id.« 16 | Originalzitat: »Yes, we were ANIMALS (…) Still the wisest is the man who knows what he truly hungers for.«

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Homophile Heterosexualität oder: Warum lieben heterosexuelle Frauen japanische Mangas mit scheinbar homosexuellen Inhalten? 1 Mark McLelland

Wenn ich gelegentlich erwähne, dass die Darstellung männlicher Homosexualität in Japan abseits der Schwulenpresse am häufigsten in Mangas vorkommt, die von und für Frauen geschrieben werden, schlägt mir für gewöhnlich ein ungläubiges »Warum?« entgegen. Dies erscheint mir bemerkenswert, denn nur wenige Menschen reagieren überrascht auf die Tatsache, dass Pornographie für Männer voll von ›lesbischem‹2 Sex ist. Wenn heterosexuellen Männern die Idee gefällt, dass Frauen es miteinander tun, warum sollten dann heterosexuelle Frauen keinen Gefallen an Männern finden, die miteinander Sex haben? In englischsprachigen Gesellschaften ist bei vielen Frauen genau dies der Fall und darüber hinaus schreiben und illustrieren sie dies auch durch slash fictions (vgl. Penley 1992; Cicioni 1998). Dieses beinahe ausschließlich von Frauen produzierte Genre nimmt die männlichen Hauptrollen aus populären Fernsehserien ins Visier. Indem diese geslasht werden, wird der implizit homosoziale und bisweilen homoerotische Subtext der Serien zu einem explizit homosexuellen gemacht. Ausgangspunkt dafür war die Subkultur der Star TrekFangemeinde, die zur Mitte der 1970er Jahre erstmals sexuell explizite Kirk/ Spock (K/S) Geschichten anfertigte. Das Genre ist seither so weit verbreitet, dass es beinahe alle TV-Serien umfasst, in denen die Beziehung zwischen männlichen Charakteren ausreichend intensiv ist, um sexuelle Lesarten derselben denkbar werden zu lassen. In den späten 1970er Jahren waren Starsky/HutchSerien eine zeitlang populär, über die 1980er Jahre hinweg wurden vorzugsweise die männlichen Mitglieder der Besetzung von Blake 7 – eine britische Science-Fiction-Serie – geslasht und in einem aktuelleren Beispiel wurde Mulder von X-Files im Duo mit gleich zwei Männern – seinem Chef Skinner und seinem Erzfeind Krycek – zu einer explizit homosexuellen Figur umgedeutet. Die Geschichten werden von Frauen geschrieben, gesammelt, herausgegeben

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und verbreitet. Dies geschieht vor allem über Fanzines und zunehmend auch über das Internet. In Japan hat die kulturelle Bevorzugung von »home dramas«3 dazu geführt, dass nur wenige auf Dauer populäre TV-Programme existieren, deren männliche Hauptrollen charismatisch genug wären, um geslasht zu werden. Science-Fiction, die westlichen weiblichen slash-Fans einen besonders fruchtbaren Boden bereitet hat, ist im japanischen Fernsehen kaum verbreitet, stattdessen sind es jedoch Stapel an Mangas und ihre animierten Ableger. Daher waren es in Japan nicht primär TV-Held_innen, sondern populäre Manga- und AnimeCharaktere, die von Schriftsteller_innen und Künstler_innen geslasht worden sind. Japans Manga-Industrie ist immens: Sie umfasst zirka 39 Prozent aller Publikationen (Kinsella 1999: 568) und ihre als manga-ka bekannten Autor_innen sind bisweilen so berühmt wie Film- oder Popstars und werden auch wie solche behandelt. Ebenso haben die von ihnen geschaffenen Charaktere – die Held_innen der Mangas – eine Fangemeinde unter Erwachsenen, die in westlichen Ländern, in denen Comics selten als wichtiges Kulturgut und noch seltener als Kunstform angesehen werden, undenkbar wäre. Parallel zum immens profitablen offiziellen Manga-Business existiert eine am Rande geduldete Welt an Amateur-Künstler_innen, die sich der durch Copyright geschützten MangaOriginale bedienen, um ihre eigenen Fanmagazine (doojinshi) über dieselben zu produzieren. Japanische Copyright-Gesetze sind weniger strikt als jene in Europa oder Amerika und die großen Verlage begreifen, dass die Fanpublikationen von Amateur_innen das Verkaufspotential eher steigern als gefährden. Deshalb unterstützt der Amateur_innen-Markt einen großen Pool an Talenten, aus dem schon viele professionelle manga-ka hervorgegangen sind. Trotz der Tatsache, dass das Phänomen des Manga in Japan sehr viel akademische Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat (vgl. Schodt 1983 und 1996; Buruma 1984; Allison 1996; Kinsella 2000), wurde das weibliche boy-love-Genre größtenteils übersehen. Die existierenden Analysen haben bis dato dazu tendiert, das Genre als problematisch anzusehen und an ihm jene sexistischen Eigenschaften der japanischen Gesellschaft aufzuzeigen, die japanische Frauen zu Fantasien über homo- und nicht etwa über heterosexuelle Romanzen veranlassten. Diesem Argument unterliegt die Annahme, dass in einer nicht-sexistischen Welt Frauen ›normalerweise‹ heterosexuelle fantasy wählen würden – eine in sich sexistische Annahme mit Blick auf die Popularität von Darstellungen ›lesbischen Sexes‹ unter heterosexuellen Männern.

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1. H OMOSE XUALITÄT UND JAPANISCHE F R AUENKULTUR Einerseits sind japanische Frauen seit langer Zeit begeisterte Konsumentinnen von populärkulturellen Produkten der Unterhaltungsindustrie, die sexuell und geschlechtlich fixierte Grenzen zu verschieben scheinen, andererseits bleiben diese in ihrem Alltagsleben in normativen Gender-Performances verhaftet. In der Periode der frühen Moderne waren etwa die onnagata des Kabuki-Theaters – männliche Schauspieler, die Frauenrollen verkörperten – populäre Vorbilder für viele bürgerliche Frauen, die den Modetrends folgten, die von diesen Frauen darstellenden Männern gesetzt wurden (vgl. Dalby 1993: 275). Während der Taisho-Periode (1912-1927) erlangten später die otokoayku – Schauspielerinnen, die Männerrollen verkörperten – der ausschließlich aus Frauen zusammengesetzten Takarazuka Revue bei einem rein weiblichen Publikum nationale Berühmtheit (vgl. Robertson 1998). Sowohl Kabuki als auch Takarazuka haben heute nichts von ihrer Popularität eingebüßt und das Spiel mit Geschlechterrollen ist auf japanischen Bühnen und im Fernsehen nach wie vor weit verbreitet. Tatsächlich fand in den frühen 1990er Jahren ein regelrechter gay boom in den japanischen Medien statt. Im Zuge dessen wurde die bis dahin verheimlichte homosexuelle Subkultur plötzlich durch eine große Bandbreite an Medienformaten – angefangen bei Artikeln in Zeitungen und Magazinen bis hin zu Dokumentationen, TV-Dramen und Filmen – repräsentiert (vgl. McLelland 2000a: 32-37). Ein Großteil dieses Materials – wie etwa zwei der berühmtesten gay boomFilme4 – war deutlich auf ein weibliches Publikum zugeschnitten. In beiden Filmen verlieben sich die Protagonistinnen in schwule Männer und heiraten diese sogar (vgl. McLelland 1999, 2000a: 98-102). Der vielleicht verblüffendste und konsequenteste Beweis für die Faszination, die Transsexualitäten und Homosexualitäten bei japanischen Frauen auslöst, ist allerdings in Comics für Frauen/ Mädchen5 (shōjo manga) zu finden, die boy-love thematisieren (shoonen’ai). Romantische Geschichten über »male love« (nanshoku), die üblicherweise die Anziehungen zwischen einem Priester oder Samurai (nenja) und seinem Akolythen (chigo) oder Pagen (wakashu) zum Thema machen, haben eine lange Tradition in Japan. Allerdings wurden diese frühen Geschichten von männlichen Autoren_innen für ein männliches Publikum verfasst. Manga-Künstlerinnen und -Autorinnen befassen sich erst seit den frühen 1970er Jahren mit dem Thema der Liebesbeziehungen zwischen beautiful boys (bishoonen). Diese frühen, von Midori Matsui (1993) trefflich als Bildungsromane bezeichneten Romanzen, sind lange, wunderschön angefertigte Erzählungen, die oft in privaten Jungenschulen des vorigen Jahrhunderts spielten. Pionierin auf diesem Gebiet war Ikeda Riyoko, deren Lady Oskar oder Die Rose von Versaille6 einer der ersten Mangas war, die die Darstellung heterosexueller Liebe durch jene der ›homosexuellen‹7 ersetzte. In ihrer Geschichte ist die Held_in ein ›Mädchen‹ in drag8, dem sowohl von Frauen als auch von Männern in der Annahme, sie sei

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ein Junge, der Hof gemacht wird. Ikeda war nicht zu verhalten, um Sex direkt zu thematisieren und folgerichtig beinhaltet ihr Werk eine Vielzahl an Bettszenen (beddo shiin). Solche Szenen wurden in den Mangas von Frauen im Verlauf der 1970er Jahre immer expliziter gemacht. Überraschenderweise waren es also nicht männliche Künstler_innen, die für ein männliches Publikum schrieben, sondern vielmehr für ein weibliches Publikum produzierende Autorinnen, die die Richtlinien der Zensur im Hinblick auf die Repräsentation von Sex ausreizten: Die von Frauen beschriebenen sexuellen Handlungen waren nicht heterosexuell, sondern eindeutig homosexuell (vgl. Buckley 1991: 173). Die homosexuellen Handlungen in Frauen-Mangas der 1970er Jahre waren eher ein Nebenaspekt der Erzählung, in der es hauptsächlich um die Suche des_der Held_in nach Liebe, Akzeptanz und Identität ging. Die Doyenne des Manga-Bildungsromans ist unzweifelhaft Hagio Moto, deren vom Leben an einer europäischen öffentlichen Schule des frühen 20. Jahrhunderts handelnde homoerotische Mangas November Gymnasium (1971) und Thomas’ Heart (1972) bis heute zu den beliebtesten zählen. Der 1993 publizierte erste Band von Hagio’s letzter Arbeit A Cruel God Reigns handelt von einem männlichen Jugendlichen, der von seinem bösen Stiefvater sexuell missbraucht wird, während er sich insgeheim von seinem schönen Stiefbruder angezogen fühlt. 1997 hatte der erste Band von A Cruel God Reigns bereits die 10. Auflage erreicht und in weiterer Folge wurde dieser um neun Bände erweitert.

2. B OY - LOVE UND DIE M ANGA -F ANKULTUR DER A MATEUR _ INNEN Seit den frühen 1980er Jahren haben Manga-Fans beider Geschlechter eigene Versionen ihrer Lieblings-Mangas produziert und diese auf den riesigen ComicBörsen (komiketto) vertrieben, die regelmäßig in ganz Japan abgehalten werden. Das 57. Treffen dieser Art fand 1999 in Tokio statt und zog in drei Tagen die Aufmerksamkeit von 300 000 Besuchern auf sich. Auf komikettos treffen sich Fans und Künstler_innen, Professionelle und Amateur_innen, bilden ›Zirkel‹ (saakuru), die spezifischen Mangas oder Genres gewidmet sind und verkaufen oder tauschen ihre Arbeiten. Viele Fans erscheinen im Gewand9 ihrer LieblingsManga-Charaktere, ihre Fotos und Profile erscheinen auf der komiketto-Homepage. Diese riesigen Treffen von Manga-Fans sind das japanische Äquivalent zu den zu großen kommerziellen Unternehmen angewachsenen Fantasy- und Science-Fiction-Conventions, die in den USA und in Europa abgehalten werden. 1991 wurden 30 Millionen Dollar am komiketto umgesetzt (Schodt 1996: 43). Obwohl die große Mehrheit der Mangas von und für Männer und Jungen geschrieben werden, ist die Mehrheit der Fans auf diesen Messen weiblich: Am Höhepunkt ihrer Popularität in den frühen 1990er Jahren waren nur circa 35 Prozent aller Teilnehmer_innen der komikettos männlich (vgl. Kinsella 1998:

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300). Einer der Gründe für die Beliebtheit derartiger Treffen unter Frauen ist der Umstand, dass dort ursprünglich für Männer bestimmte Mangas so umgeschrieben wurden, dass sie auch die sexuellen Wünsche und Interessen von Frauen erfüllten. Häufig setzte dies das Miteinbeziehen eines homosexuellen Subplots zwischen den männlichen Hauptcharakteren voraus, der im Original so nicht existierte. Einer der ersten Mainstream-Comics, der auf diese Weise geslasht wurde, war der von einem Fußballteam in einer Schule handelnde Manga mit dem Titel Captain Tsubasa. Weibliche Manga-Fans beschränken sich nicht auf einfaches slashen von Mainstream-Mangas, sondern kreieren eigene homosexuelle Charaktere. Dieses Genre ist bekannt als YAOI, ein Akronym des japanischen Satzes »Yama nashi, Ochi nashi, Imi nashi«, was soviel heißt wie ›kein Höhepunkt, kein Zweck, kein Sinn« – eine Bezeichnung, die anzeigt, dass es in diesen Geschichten um nicht viel mehr als um Sex geht. YAOI stehen in einer Reihe mit den »PWP« (»Plot? What Plot?«)-Szenarien von manchen westlichen slash-Autor_innen, die ihre männlichen Charaktere unter jedem noch so kleinen Vorwand miteinander ins Bett stecken. Diese Comics zirkulieren unter den weiblichen Fans sowohl im Original (orijinaru) als auch in Form von Parodien (parodi) auf den komikettos, per Mail und in letzter Zeit auch verstärkt über Webseiten. Der YAOI-Webring for Girls (vgl. o. A. 2010a) – nur eine unter vielen japanischen YAOI-Seiten – verzeichnete im Mai 2000 alleine 727 Links. Auch männliche Fans produzieren ihre eigenen Amateur-Mangas. Ähnlich wie bei den Mangas von und für Frauen kreisen auch diese um sexuelle Themen – wenngleich mit dem maßgeblichen Unterschied, dass die Charaktere hier keine Jungen, sondern ›schöne junge Mädchen‹ (bishoojo) sind. Schodt (vgl. 1996: 37) weist darauf hin, dass manche dieser Mangas in Nordamerika als kiddie porn eingestuft werden würden. Westliche slash-Fiktion hat nie eine kommerzielle Tragweite erreicht und die meisten slash- Magazine für weibliche Fans bringen kaum genug ein, um ihre Kosten zu decken. Profitorientierte japanische Verlagsgesellschaften engagierten hingegen schon sehr bald einige der vielversprechendsten YAOI-Künstler_innen der frühen 1980er Jahre und publizierten deren Arbeiten. Eines der frühesten boy-love-Monatsmagazine war June (ju-neh), das erstmals 1978 veröffentlicht wurde. 1995 wurde June immer noch publiziert, nunmehr in einem zweimonatlichen 300 Seiten umfassenden Format mit einer Stärke von 80 000 bis 100 000 Exemplaren pro Ausgabe (vgl. Schodt 1996: 120). Im Vergleich dazu verkauft eines der populärsten Schwulenmagazine Japans mit dem Titel G-Men nur 20 000 Stück pro Monat (vgl. McLelland 2000a: 140). June war mit seinem neuen Stil der boy-love-Stories so erfolgreich, dass der Ausdruck »June-mono« (»June-Zeugs«) heute als Synonym für boy-love-Stories benutzt wird. Viele andere boy-love-Mangas folgten diesem Beispiel, wobei das erfolgreichste darunter die von Biblos publizierte B-Boy-Serie ist. Das ursprüngliche monatlich veröffentlichte B-Boy-Comic wird heute gemeinsam mit Gekkan

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Shoosetsu B-Boy – ein monatlich in Fortsetzungsfolge erscheinender B-Boy-Roman – und dem alle zwei Monate erscheinendem B-Boy Gold10 herausgegeben. Zudem publiziert Biblos vierteljährlich einen Liebesroman für Männer mit dem Titel Beast – ein massives ›Telefonbuch‹ voller sexy Illustrationen, Geschichten und Comics über Schuljungen und junge Männer, die es miteinander tun. Dessen ungeachtet wird der Großteil der YAOI-Mangas nach wie vor von weiblichen Fans produziert und entweder in der Form von doojinshi oder über das Internet veröffentlicht. Das Interesse japanischer Frauen an Amateur_innenYAOI ist so groß wie ihre Anzahl an Titeln und hat mittlerweile dazu geführt, dass landläufige Manga- und Animations-Magazine boy-love-Sondereditionen herausgeben. Ein Beispiel dafür ist die im Februar 1999 erschienene boy-love-Special-Ausgabe von Pafu. Diese enthält Zusammenfassungen und Illustrationen einer großen Bandbreite von nach Genres gruppierten boy-love-Comics. Diese Genres reichen von »lovely love«, »requited love«, »secret love« und »naive love« bis hin zu »sexual love«. Die Sonderedition beinhaltet zudem einen Frage-AntwortKatalog, der weiblichen Fans helfen soll zu verstehen, warum diese sich vom besagten Genre so angezogen fühlen. Einige der vorgeschlagenen Gründe sind etwa: »Du bist von einer reinen Form der Liebe angezogen« oder »Du möchtest in den Freuden der Lust vergehen«. Ebenso sind auf der Internetseite YAOI-A Laboratory Rezensionen zu vielen auf den komikettos oder im Raritätenhandel erhältlichen Amateur_innen-Mangas zu finden, die nach der ›sexyness‹ ihres Inhalts gereiht werden. Weiters beinhaltet die Laboratory-Seite auch ein Quiz zur Evaluierung des Abhängigkeitsgrades der boy-love-Leserinnen. Darin befinden sich Fragen wie »Gibst du dich müßigen Tagträumen hin, in denen du dir vorstellst, dein Partner wäre homosexuell?« oder »Wenn du einen süßen Jungen triffst, denkst du manchmal daran, ob er oben oder unten liegen würde?« Für den Fall, dass einige Leser_innen nun glauben, die Geschichten von und für Frauen hätten eher einen Hang zum Homoerotischen denn zur tatsächlichen Homosexualität, sei hier an eine alternative Leseweise des Akronyms YAOI erinnert. Viele Webseiten interpretieren YAOI als »Yamete, Oshiri ga Itai!« (»Hör auf, mein Arsch tut weh!«). Einige der Illustrationen wie etwa jene Szene aus B-Boy, die zwei Jungen bei einem french kiss anlässlich ihres Highschool-Abschlusses zeigt, sind zwar durchaus romantisch; andere Geschichten hingegen sind durch und durch sexuell wie zum Beispiel der Manga I want to loose myself in a rude kiss in derselben B-Boy-Ausgabe. Darin geht es um einen HighschoolJungen, der von seinem Lehrer verführt wird. Der Lehrer schüttet absichtlich Kaffee auf die Hose des Schülers, damit dieser sie ausziehen muss. Sobald der Junge dies getan hat, befriedigt der Lehrer ihn oral. Die Betonung von Sex ist keineswegs auf das boy-love-Genre beschränkt, sondern taucht auch in anderen Frauen-Mangas auf. So zieht etwa das Genre der ladies-Comics, das von und für Frauen in den 1990ern entwickelt wurde, die Annahme in Zweifel, daß Mangas männliche Medien seien, die entwürdigen-

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Abbildung 95: Verliebte Schüler beim French Kiss © Biburosu Publications

de Bilder von Frauen hervorbrächten. Schodt macht deutlich, dass »einige der pikantesten Arbeiten eben in von Frauen gezeichneten Magazinen für Frauen und nicht in solchen für Männer erschienen sind«11 (Schodt 1996: 126) und auch Sharon Kinsella weist darauf hin, dass »Pornographie im Nachkriegs-Japan weniger stark abgeschirmt wurde, als dies in Amerika oder Großbritannien während der Nachkriegszeit der Fall war. Pornographische Bilder tauchten in Japan sowohl in den landläufigen Medien als auch in speziellen pornographischen Produktionen auf«12 (2000: 46). Medien für Frauen stellten diesbezüglich keine Ausnahme dar. YAOI-Mangas sind weit davon entfernt, in Plastikhüllen eingeschweißt in den obersten Regalen irgendwelcher Fachgeschäfte versteckt zu werden, um vor dem Blick der Öffentlichkeit abgeschirmt zu werden. Vielmehr werden diese, gemeinsam mit anderen shōjo mangas oder Mädchen-Comics, in Einkaufszentren in ganz Japan vertrieben. Außerdem sind YAOI-Themen nicht auf einige wenige spezielle Publikationen beschränkt, sondern können in beinahe jedem japanischen Mädchen-Comic vorkommen. Unter den bekannten Comic-Serien, die gelegentlich YAOI-Geschichten publizieren, befinden sich etwa das zweiwöchentlich erscheinende Margaret (Erstveröffentlichung 1963 von Shueisha), Hana to Yume (Erstveröffentlichung 1975 von Hakunsensha) und Princess (Erstveröffentlichung 1975 von Akita Shoten). All diese Comics haben in erster Linie Schülerinnen als Zielpublikum, werden aber auch von erwachsenen Frauen gelesen. Die Beliebtheit von boy-love unter japanischen, aber zunehmend auch unter westlichen Frauen ist in der westlichen Schwulenpresse nicht unbemerkt ge-

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blieben. Ein Artikel im amerikanischen Schwulenmagazin The Advocate vom 4. Februar 1997 bespricht das ›schwule‹ Verhältnis zwischen Ranmaru und Enjoji im japanischen Anime Kizuna, das auf einem Manga der Künstlerin Kazuma Kodaka basiert. Die Rezension bemängelt, dass die gayness der Protagonisten weder befragt noch erklärt worden sei. Dies ist jedoch darauf zurückzuführen, dass Ranmaru und Enjoji nicht homosexuell sind: Sie sind einfach zwei junge Männer, die zufälligerweise ineinander verliebt sind. Dies ist ein wichtiger Punkt, der ebenso für slash-fiction zutreffend ist. Die von und für Frauen geschriebenen Geschichten über vögelnde Männer (boys bonking) können schwules Leben gar nicht bagatellisieren, weil sie eben nicht von schwulen Männern handeln. In YAOI-fiction von Frauen wird homosexuelle Liebe naturalisiert. Viele dieser Geschichten spielen deshalb in futuristischen Fantasy-Gesellschaften, wo die politischen Diskrepanzen im Hinblick auf die Geschlechterverhältnisse der Gegenwart vielfach als überflüssig und überholt erscheinen. Dies heißt nicht, dass viele Autor_innen von YAOI-Mangas nicht trotzdem hin und wieder auf die Lebenswelten von schwulen Männern verweisen. Der erste Ansatz, AIDS zu thematisieren, findet sich in der Manga-Serie Tomoi, in der es um einen schwulen japanischen Arzt geht, der in New York arbeitet. Diese lange und letztlich tragisch endende Liebesgeschichte wurde Mitte der 1980er Jahre im zweimonatlich erscheinendem Frauen-Manga Petite Flower veröffentlicht (vgl. Schodt 1996: 193). Ein aktuelleres Manga, nämlich Ragawa Marimos New York New York (1998), spielt ebenfalls in New York und erzählt das von Schwierigkeiten geprägte Leben eines schönen Strichers, der nach Liebe und Akzeptanz sucht. Szenen über Homophobie, Schwulenmobbing, Depression und Selbstmordversuche werden anrührend beschrieben, bis die Geschichte schließlich in einem herzzerreißend sentimentalen Finale endet. Dennoch soll noch einmal darauf hingewiesen werden, dass YAOI nicht von und für schwule Männer geschrieben wird, demnach also nicht dafür kritisiert werden kann, deren Anliegen nicht adäquat zu repräsentieren. YAOI ist ein fantasy-Genre für Frauen, und schließlich sollte doch – wie männliche Leser heterosexueller Pornographie so gerne argumentieren – die Fantasie frei sein.

3. E NGLISCHSPR ACHIGE YAOI-F ANKULTUREN YAOI sind nicht nur unter japanischen Mädchen und Frauen beliebt, sondern ziehen mittlerweile auch eine beträchtliche Anzahl westlicher Frauen in ihren Bann. Sucht man das Schlagwort YAOI über Yahoo, wird man auf Links zu über 1000 Fanseiten in einer Vielzahl an Sprachen – angefangen von Spanisch und Deutsch über Italienisch bis hin zu Englisch – stoßen. Eine der ersten und besten Webseiten, die ein englischsprachiges Publikum in dieses Genre einführt, ist Aestheticism. Einige japanischsprachige westliche Frauen haben der YAOI-

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Community des Westens einen großen Dienst erwiesen, indem sie Szenen der beliebtesten YAOI-Geschichten eingescannt und übersetzt sowie für Zusammenfassungen vieler weiterer Geschichten gesorgt haben. Als Antwort auf die Nachfrage seitens der nicht-japanischsprachigen Leser_innen führen komiketto sowie einige Verlagshäuser nun englische Webseiten, die es Interessierten ermöglichen, Exemplare ihrer Lieblings-Mangas online direkt aus Japan zu bestellen. Außerdem geben sich viele westliche weibliche Fans nicht damit zufrieden, die Arbeit japanischer YAOI-Künstler_innen einfach nur zu beschreiben. In Anlehnung an japanische Mainstream-Manga- und Anime-Serien kreieren sie ihre eigenen YAOI-Charaktere und veröffentlichen diese im Internet. Zwei der bekanntesten englischen YAOI-Webrings sind BOYs Heaven (vgl. o. A. 2010b) mit 230 Links und Bishounen Underground Webring (vgl. o. A. 2010c) mit 245 weiterführenden Links. Angesichts der steigenden Anzahl ausländischer Fans des YAOI-Genres werden Liebesgeschichten mit und über männliche Homosexuelle zu einem der größten kulturellen Exportgüter Japans. Allerdings unterscheidet sich der Grundtenor vieler englischer YAOI-Fanseiten stark von jenem der japanischen Originale: Da die Verbindung von Homosexualität und minderjährigen Jungen im derzeitigen angloamerikanischen Sexualregime als problematisch erachtet wird, sehen sich englischsprachige YAOI-Autor_innen und Illustrator_innen dazu gezwungen, defensiv zu agieren: Sie stellen Warnungen auf ihre Seiten und sperren mit Hilfe von Passwörtern den Zugang für Minderjährige. Die Webseite Aestheticism, die bereits weiter oben erwähnt wurde, geht sogar so weit, ein ›Legal FAQ‹-Forum anzubieten, in dem YAOI-Fans ihre Fragen bezüglich der Zensur und der Legalität ihrer Werke posten können. Die Problematik der Legalität von Homosexualität findet sich in der Regel auf japanischen boy-love-Seiten nicht, da heterosexueller Geschlechtsverkehr in Japan bereits ab 13 Jahren erlaubt ist und Homosexualität im japanischen Strafgesetzbuch des Weiteren nicht erwähnt wird (vgl. West und Green 1997).

C ONCLUSIO : W ARUM VÖGELNDE M ÄNNER ? Wie der Journalist Richard McGregor (1996) erwähnt, »kann in Japan beinahe alles, was mit Homosexualität zu tun hat, ein rein weibliches Publikum anziehen.«13 Dies betrifft nicht nur Mangas, sondern schließt auch Filme mit ein. So zeigte sich die lesbische Aktivist_in Sarah Schulman erstaunt darüber, in einem großen Einkaufszentrum von Tokio 1992 ein Lesben- und SchwulenFilmfestival zu entdecken, dessen »Publikum zu 80  % aus heterosexuellen Frauen bestand« (Schulman 1994: 245). Sobald die zeitgenössischen Beziehungen zwischen japanischen Frauen und Männern im Licht des historischen Kontextes gesehen werden, macht dies jedoch Sinn: Die Idee der romantischen

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Abbildung 96: Bild des Mann-zu-Frau-Trans*-Sängers IZAM der japanischen cross-dressing-Boygroup SHAZNA (Mitte). Online unter: http://4.bp.blogspot. com/_fIO-NOf10tU/R_-4QBPOSKI/AAAAAAAAAO0/tKYHKF5rlC0/s1600-h/ shanz.jpg (Letzter Zugriff: 08.12.2010)

Liebe, die am Ende des 19. Jahrhunderts gemeinsam mit dem europäischen Roman importiert wurde, erreichte die japanische Kultur erst sehr spät. Im konfuzianischen Japan wurde die Sexualität von Frauen hingegen über lange Zeit hinweg ausschließlich in Verbindung mit familialer Reproduktion wahrgenommen. Dies machte es schwierig, Frauen in romantischen Geschichten als gleichwertige Partnerinnen von Männern darzustellen. In diesem Kontext ist auch die Aussage eines weiblichen japanischen Fans von ›Homosexualität‹ im Gespräch mit Sara Schulman zu verstehen: »Darstellungen männlicher Homosexueller sind die einzigen Repräsentationen von Männern, die jemanden als Gleichgestellten lieben, die wir kennen. Dies ist die Art von Liebe, die wir haben wollen.« 14 (Schulman 1994: 245)

Solche und viele andere Gründe für die Faszination, die männliche Homosexualität auf japanische Frauen ausübt, wurden bereits vielfach dargelegt (vgl. Aoyama 1988; Buckley 1991; Matsui 1993; McLelland 2000b). Ein gängiges Argument ist, dass schöne junge Männer Projektionen für die Feminität des größtenteils weiblichen Publikums darstellen. Die dem zugrundeliegende Idee ist die, dass in einer so sexistischen Gesellschaft wie der Japans Frauen sich nur mit wirklich autonomen, und daher männlichen Figuren identifizieren können. Trotzdem bleibe ich skeptisch in Bezug auf akademische Erklärungen, die dieses extensive und komplexe Phänomen der japanischen Frauenkultur nur dann erklären können, wenn sie beides – die weiblichen Leser_innen und die japani-

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sche Kultur im Allgemeinen – pathologisieren (vgl. McLelland 2000c). Solche Erklärungen können reduktionistisch sein und verleugnen das komplexe Zusammenspiel zwischen Begehren und Identifikation. Abschließend möchte ich die Frage, die ich im Titel dieses Artikels bereits gestellt habe, reformulieren: Warum sollten die Comics von und für japanische Frauen nicht voll vögelnder Männer sein? Es ist aufschlussreich sich daran zu erinnern, dass ›lesbian play‹ (rezupurei) im Kontext der japanischen Sex-Industrie nicht gleichbedeutend ist mit der Befriedigung eines heterosexuellen männlichen Publikums, sondern vielmehr Männer in drag bezeichnet, die ihre ›lesbischen‹ Phantasien mit weiblichen Sexarbeiter_innen ausleben (McLelland 2000a: 34). Nicht anders als sonst wo wird auch in Japan Männern ein größerer Freiraum beim Experimentieren mit ihrer Sexualität zugesprochen als Frauen. Wieso aber sollte das Interesse von Männern am ›Lesbischen‹ als legitim gelten, während das Interesse von Frauen an männlicher Homosexualität immer noch einer Erklärung zu bedürfen scheint? Es ist wichtig, zu bedenken, dass die japanische Populärkultur voll von homosexuellen Darstellungen ist, die in westlichen Gesellschaften ausgegrenzt werden. So lebt zum Beispiel IZAM, ein Mitglied von Japans berühmtester Boygroup SHAZNA, als Cross-Dresser im weiblichen Geschlecht, eine der angesagtesten japanischen TV-›Hostessen‹ mit dem Namen Peter ist ein Transvestit und Abbildung 97: Drag Queens (okama) beim Neujahresfest in einer Bar in Tokyo. Online unter: http://intersections.anu.edu.au/issue3/mclelland2.html (Letzter Zugriff: 08.12.2010)

die verblüffend schöne Trans*Person Maruyama Akihiro, deren_dessen Karriere in den 1960er Jahren begann, tritt nach wie vor in TV-Werbesendungen auf, die darauf ausgerichtet sind, Make-up, Kimonos und andere Luxusgüter von hoher Qualität an reiche japanische Hausfrauen zu verkaufen. Mikawa Ken’ici, Japans bekanntester männlicher Sänger traditioneller Lieder (enka), erscheint

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auf der Bühne mit Lippenstift und geschmückt mit farbenfrohen Kostümen und Juwelen. Er_sie benutzt eine weiblich konnotierte Sprache, um komische Effekte zu erzielen. Bedenkt man die Beliebtheit dieser Stars unter weiblichen Fans sowie die positive Einstellung zu Homosexualität in anderen Frauenmedien, ist es wenig überraschend, dass Frauenmagazine häufig Artikel abdrucken, die heterosexuelle Männer stark kritisieren und homosexuelle idealisieren bzw. sie als besten Freund und Partner der Frauen darstellen. Natürlich beschreiben Repräsentationen in den Medien, die im sicheren Raum der Unterhaltungsindustrie situiert sind, nicht wirklich die gelebte Realität ›echter‹ Schwuler; das sollen sie ja auch gar nicht. In diesem Sinne schreibt ein japanischer Fan auf ihrer boy-loveHomepage: »[boy-love-]Comics sind wie ein fantasy-Film von Steven Spielberg, sie sind ein imaginärer Spielplatz, auf dem ich den Realitäten des alltäglichen Lebens entfliehen kann«.15 Diese weit verbreitete Präsenz von männlicher Homosexualität in der japanischen Populärkultur, die selbst in Comics für Schulmädchen vorkommt, wäre in angloamerikanischen Gesellschaften undenkbar und ist ein wichtiger Beweis für die Relativität sexueller Wertvorstellungen sowie die soziale Konstruiertheit von Sexualität. Vielleicht wären die in diesem Sinne relevanteren Fragen die folgenden: »Warum sind homosexuelle Darstellungen in zeitgenössischen westlichen Kulturen so strikt abgesondert?« und »Welchen Interessen dient diese Segregation?«

A NMERKUNGEN 1 | A. d. Hg.: Der Originaltext ist unter dem Titel „Why are Japanese Girls‘ Comics full of Boys Bonking“ in der Zeitschrift Intensities – The Journal of Cult Media 1/2007 erschienen. Vgl.: Mark McLelland: »Why are Japanese Girls’ Comics full of Boys Bonking«. In: Intensities- The Journal of Cult Media 1/2007 (School of Arts at Brunel University, London). Online unter: http://intensities.org/Essays/McLelland.pdf (letzter Zugriff: 09.12.2010). Die erstmalige Übersetzung aus dem Englischen von Laura Fuchs-Eisner und der Wiederabdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors. 2 | A. d. Ü.: Die einfachen Anführungszeichen werden vom Autor an dieser Stelle im Sinne einer Distanzierung von einem ›uneigentlichen‹ Begriff verwendet, da der für Männer inszenierte Sex zwischen Frauen keine Form des lesbischen Sexes darstellt. 3 | Nach Auskunft der japanischen Fanbase-Seite kann das japanische Genre des »home dramas« am ehesten mit Familien-Soap übersetzt werden. Vgl. o. A. (2010d): Homepage von Jodorama. Online unter: www.jdorama.com/ (Letzter Zugriff: 08.12.2010) 4 | Eine im Zuge des gay boom der 1990er bekannt gewordener Filme ist Okoge (Jap 1992, R: Takehiro Murata). Ins Englische wurde der Filmtitel mit der queeren Vokabel Fag-hag übersetzt – ein Begriff, der zur Bezeichnung von sich als schwul definierenden

H OMOPHILE H ETEROSEXUALITÄT Männern verwendet wird. Ein weiterer populär gewordener Film, der homosexuelle Themen behandelt, ist Kira Kira Hikaru (Jap 1992, R: Matsuoka George). 5 | A. d. Ü.: Das japanische Wort shĿjo bezeichnet alle Frauen zwischen Pubertät und Heirat. Zur Problematik der Übersetzung von shĿjo mit dem deutschen Begriff ›Frau‹ vgl. den Artikel von Verena Maser in diesem Band. 6 | Ikeda Riyokos 1972 zum ersten Mal veröffentlichter Manga erschien im Englischen unter dem Titel Rose of Versaille. 7 |A. d. Ü.: Das Wort ›homosexuell‹ wurde im Original unter einfache Anführungszeichen gesetzt, da es im Manga nicht eigentlich um sich als homosexuell definierende Männer geht. 8 | A. d. Ü.: Die Wendung »cross-dressed girl« wurde hier mit ›Mädchen‹ in drag übersetzt. Da jedoch unklar bleibt, ob es sich bei der betreffenden Person um eine temporäre Cross-Dresser_in oder aber um eine Female-to-Male-Trans*-Identität handelt, haben wir die Bezeichnung ›Mädchen‹ unter Anführungszeichen gesetzt. 9 | Die Verkleidung als Mangacharakter wird im Japanischen kosupure (englisch: cosplay) genannt. 10 | ›Gold‹ wird gelegentlich den Titeln von Manga-Produktionen hinzugefügt und verweist darauf, dass diese Hardcore-Pornographie beinhalten. 11 | Originalzitat: »[…] Some of the raciest material [is] in magazines not for men but for women [and drawn by women].« 12 | Originalzitat: »Pornography has not been as strongly compartmentalised in postwar Japan as it has in post-war America or Britain […] Pornographic images have tended to appear throughout the media as well as in specifically pornographic productions.« 13 | Originalzitat: »In Japan almost anything can attract an all-female audience.« 14 | Originalzitat: »Images of male homosexuality are the only pictures we have of men loving someone as an equal, it’s the kind of love we want to have.« 15 | Originalzitat: »[Boy-love] comics are like a Spielberg movie, they are an imaginary playground in which I can flee the realities of everyday life.«

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Zwischen Fantasie und Alltagsleben Sexualitäten zwischen Frauen/Mädchen im Manga Verena Maser

An Literatur über die Darstellung von Sex1 zwischen schönen Jungen (bishônen) im Manga mangelt es nicht.2 Dass das Thema sexuellen Handelns zwischen Frauen/Mädchen, dem ich mich in diesem Text annähere, bisher zumeist ausgespart wurde, ist nicht nur auf ein theoretisches Defizit zurückzuführen, sondern vor allem darauf, dass es bis weit in die 1990er Jahre kaum Anschauungsmaterial gab. Als Material für die vorliegende Untersuchung ziehe ich die zur Mitte der 2000er Jahre erschienenen Mangas3 von CHI-RAN, Yamaji Ebine und Kurogane Kenn heran.4 Alle im folgenden Text analysierten Werke behandeln zwar das Thema der Liebe zwischen Frauen/Mädchen, richten sich aber an unterschiedliche nach Geschlechtszugehörigkeit und Alter ausdifferenzierte Zielgruppen. Diese spezifische Form der Adressierung kommt unter anderem in der Art der Darstellung von Sexualitäten zwischen Frauen/Mädchen zum Ausdruck. Die Verwendung des Begriffs des ›lesbischen‹ Sexes oder der ›lesbischen‹ Liebe erscheint mir mit Blick auf einige der genregebundenen Darstellungen dennoch problematisch: Ungeachtet der Tatsache, dass es immer zwei Frauen sind, die sich lieben, bezeichnen die Protagonistinnen sich in den analysierten yuri- und ero-Mangas selbst nicht als lesbisch. Das Wort ›Lesbe‹ kommt in diesen Geschichten lediglich als Schimpfwort vor, nicht aber als Referenz für eine spezifische Identität oder Selbstidentifizierung. Aus diesem Grund verwende ich im Folgenden den Begriff ›Lesbe‹ oder ›lesbisch‹ nur im Kontext von Mangas für Lesben und von Mangas mit Protagonistinnen, die sich selbst als lesbisch definieren. Ansonsten benutze ich zumeist das im Deutschen nur unzureichende Äquivalent ›Mädchen‹ für den japanischen Begriff shôjo. Shôjo heißt übersetzt soviel wie »›not-quite-female‹-female« (Robertson 1992: 426) und bezeichnet alle Frauen zwischen Pubertät und Heirat. Dieser Begriff ist sehr viel breiter gefasst als das deutsche Wort ›Mädchen‹ und inkludiert Frauen unterschiedlicher Altersund Statuszugehörigkeiten. Wenn die Protagonistinnen das Alter von 18 Jahren

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bereits erreicht haben, spreche ich von ›Frauen‹; sofern sich diese unterhalb dieser Altersgrenze bewegen, verwende ich das Wort ›Mädchen‹.

1. K ULTURELLE K ONVENTIONEN UND RECHTLICHE R EGUL ATIONEN SE XUELLER D ARSTELLUNGEN IM M ANGA Bis ins 20. Jahrhundert wurden innerhalb der japanischen Gesellschaft Beziehungen zwischen Frauen als spirituell (seishinteki), Beziehungen zwischen Männern hingegen als fleischlich (nikutaiteki) eingestuft (vgl. McLelland 2005: 88). Sexualität von Frauen wurde auf den Bereich familiärer Reproduktion oder jenen der Prostitution beschränkt. Zumeist war es heterosexuellen Frauen unmöglich, nicht-hierarchische Formen von Sexualität zu praktizieren (vgl. McLelland 2001: 6). Infolgedessen werteten viele Frauen gleichgeschlechtliche Sexualität zwischen Jungen/Männern in ihren Fantasien unbewusst auf, was im populärkulturellen Manga-Genre beredten Ausdruck erhält. Mit Blick auf die vorzugsweise von heterosexuellen Frauen konsumierten Darstellungen männlicher ›Homosexualität‹ im Manga konstatiert Mark McLelland, dass »love between members of the same sex, although difficult and ultimately tragic, is seen as somehow more pure than sex between men and women« (McLelland 2000c: 17). Die Grenzen zwischen den unterschiedlichen Manga-Genres, die körperliche Liebe und/oder Verliebtheit zwischen Frauen thematisieren, sind fließend und eindeutige Definitionen sind nur schwer zu treffen. Zunächst einmal kann man die Vielzahl der Werke grob in drei Kategorien einteilen: yuri, Mangas für Lesben und erotische Mangas. Yuri ist eine Unterkategorie des shôjo-Manga, ein Genre, das sich an ›Frauen‹ im Sinne von shôjo richtet (vgl. Schodt 2000: 88ff.). Das japanische Wort yuri bedeutet »Lilie«. Die Verwendung als Genre-Begriff geht vermutlich auf den Titel einer Rubrik in der ersten schwulen Zeitschrift Japans zurück. In dieser Zeitschrift mit dem Titel Barazoku – zu Deutsch »RosenClan« – wurden ab 1976 unter der Rubrik yurizoku no heya (»Zimmer des LilienClans«) auch Briefe von Leserinnen abgedruckt (vgl. Welker 2006b: 864). Eine eindeutige Definition dessen, was zum yuri-Genre gehört und was nicht, ist nur schwer zu treffen. Da es sich um eine Unterkategorie des shôjo-Manga handelt, zeichnet sich die Darstellung von Frauenkörpern durch sehr schlanke Figuren mit den charakteristischen überdimensionierten Augen aus. Als erster yuri-Manga gilt Yamagishi Ryôkos im Februar 1971 erschienenes Werk Shiroi heya no futari (»Die zwei Mädchen in dem weißen Zimmer«), in dem das Thema der Liebe zwischen Mädchen erstmals einen prominenten Platz einnimmt. Die weitere Geschichte des yuri-Genres ist hingegen eine ambivalente: Im Gegensatz zu seinem die Liebe zwischen Jungen/Männern behandelnden Pendant – dem shônen ai, yaoi oder auch boys-love-Genre – erfreuten sich die Geschichten über Liebe zwischen Frauen/Mädchen nicht im-

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mer großer Beliebtheit bei den Leser_innen (vgl. Maser 2009: 7ff.). Allerdings zeigt sich im Verlauf der Zeit eine bemerkenswerte Entwicklung: Waren die Geschichten der 1970er Jahre meist Romanzen, die mit dem tragischen Tod von mindestens einer der Hauptfiguren endeten5, steht heute die Suche nach Liebe und Geborgenheit unabhängig von einer bestimmten sexuellen Orientierung im Mittelpunkt der meisten yuri-Mangas. Orte des Geschehens sind oftmals geschlechtlich segregierende Räume wie Mädchenschulen oder -internate, die Mädchen bleiben folglich unter sich (ebd.: 18f.). Von der Darstellung weiblicher Homosexualitäten im yuri-Manga zu sprechen, ist – selbst wenn viele Fans außerhalb Japans das gerne so sehen würden – jedoch nicht möglich, da es im yuri-Genre nicht um lesbische Identität geht (ebd.: 42f.)6: Keine der Protagonistinnen identifiziert sich selbst als lesbisch. In Abgrenzung von tatsächlichen Mangas für Lesben wird im yuri-Genre keineswegs die reale Situation lesbischer Frauen aufgegriffen. Das Thema der Sexualität fand erst sehr spät Einzug in das yuri-Genre. Die erste Bettszene in einem shôjo-Manga findet sich in Ikeda Riyokos 1973 erschienenem Berusaiyu no bara (»Die Rosen von Versailles«)7 (vgl. Fujimoto 1991: 55). Im Verlauf der Medienentwicklung des yuri-Genres wurden diese Szenen expliziter (vgl. McLelland 2000b: 275). Dennoch war und ist Sex im shôjo-Manga in der Regel kein Hauptelement der Geschichte, denn der Fokus liegt auf der psychologischen Entwicklung der Figuren (vgl. Miura 2006: 155). Im yuri-Genre wird Sex auf der Ebene der Darstellung meist nur angedeutet und von vornherein wird auf die explizite Darstellung von Genitalien oder Schambehaarung verzichtet. Beispielsweise ist in Fujii Mihonas Himitsu no hanazono (»Der geheime Blumengarten«) die Hauptfigur Misono nur in ein Bettlaken gewickelt im Raum sehen, um eine vorherige sexuelle Aktivität anzudeuten (vgl. Fujii 1999: 134). Das Manga-Magazin8 Yuri shimai (»Lilienschwestern«) stellte seinem Erotik-Spezial in Ausgabe drei noch die Anweisung voran, dass Leser_innen, die den ›vernünftigen‹ (mottomo) Anspruch haben, »solche dreckigen (kegarawashii) Seiten« nicht sehen zu wollen, die Seiten zusammenkleben sollen (o. A. 2004: 146). Inzwischen scheint es jedoch eine gewisse Nachfrage nach derartigen Inhalten zu geben: Der Verlag Ichijinsha, der für den Großteil aller derzeitigen yuri-Publikationen verantwortlich ist, bringt ein- bis zweimal im Jahr das Manga-Magazin Yuri hime Wildrose (»Lilienprinzessin Wildrose«) heraus, in dem nur yuri-Mangas mit sexuellen Inhalten zu finden sind. Ungefähr 70 Prozent der Leser_innen und Autoren_innen9 von yuri-Mangas sind weiblich (vgl. Maser 2009: 34f.). Neben dem yuri-Genre gibt es in Japan ebenso an Frauen gerichtete Mangas, die sich mit lesbischen Frauen beschäftigen, aber nicht nur von lesbischen Frauen gelesen werden. Selbst wenn es sich dabei um ein relativ kleines Genre handelt, verfügt dieses über eine Vielfalt an Stilen. So gibt es sowohl realistisch gehaltene Mangas als auch Mangas mit sehr einfachem Zeichenstil. Einige Autor_innen setzen dabei auch ihre eigene Biographie zeichnerisch um.10

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Schätzungen zufolge gibt es in Japan 70 bis 100 Manga-Magazine mit Spezialisierung auf erotische Inhalte. Diese werden entweder als seinen-Manga (Mangas für Erwachsene) oder als ero-Manga (erotische Mangas) kategorisiert und richten sich mehrheitlich an Männer (vgl. Schodt 2000 [1986]: 133ff.). Erhältlich sind die Magazine zu geringen Preisen11 fast überall und auch gelesen werden sie fast überall (vgl. Allison 1996: 54). Der Stil ist je nach Magazin unterschiedlich, häufig findet man darin aber Darstellungen sehr schlanker Frauen/ Mädchen mit großen Augen und überdimensionierten Brüsten. Das dominante Muster in diesen Mangas ist Allison zufolge »male conquest, rape, and female victimization« (1996: 54). Wie wir im Verlauf dieses Textes sehen werden, machen auch die im Folgenden exemplarisch behandelten erotischen Werke über Sex zwischen Frauen/Mädchen dahingehend nur wenige Ausnahmen. Die Darstellung von Sexualität im Manga unterliegt in Japan starken Zensurbestimmungen. Der Artikel 175 des japanischen Strafgesetzbuches schreibt das Verbot von »obscene printed matter« (Schodt 2000 [1986]: 129) vor, die Interpretation dieser Vorschrift wird in Ermangelung einer eindeutigen Definition in der Praxis jedoch sehr flexibel gehandhabt. Was in jedem Fall zensiert wird, sind »adult genitalia, pubic hair, and certain slang words […]; children’s genitals and extremely ›cartoony‹ renderings are permissible, however« (ebd.: 133). Dies hat zur Konsequenz, dass Schamhaare und Genitalien im Manga entweder retuschiert12 werden oder erst gar keinen Eingang in den Bereich des Darstellbaren finden (vgl. McLelland 2000b: 275). In vielen realistisch gezeichneten Mangas wird Schambehaarung nur andeutungsweise gezeigt, auf die Darstellung von Genitalien wird hingegen oft verzichtet. Die Figuren ähneln infolgedessen nicht selten Barbiepuppen ohne Genitalien.

2. I T ’S ALL ABOUT LOVE – Z UR D ARSTELLUNG VON S E XUALITÄT Z WISCHEN M ÄDCHEN IM YURI -M ANGA Im Folgenden möchte ich die Darstellung von Sexualitäten zwischen Mädchen im yuri-Genre anhand von drei Kurzgeschichten der Autor_in CHI-RAN13 analysieren. Die Autor_in arbeitet unter anderem für den Verlag Ichijinsha, der mit Komikku yuri hime – was in der deutschen Übersetzung soviel wie »Lilienpinzessinnen-Comic« heißt – und Komikku yuri hime S die beiden einzigen yuri-Manga-Magazine Japans publiziert. Zudem war die Autor_in für das vorangegangene Magazin Yuri shimai tätig. Ihre Geschichten wurden bisher in zwei Sammelbänden mit den Titeln Shôjo bigaku (»Mädchenästhetik«) und Himitsu shôjo (»Geheime Mädchen«)14 veröffentlicht. Ersterer wurde als einer der wenigen yuri-Mangas überhaupt ins Deutsche übersetzt15 und 2006 unter dem Titel »Girls love – shojo bigaku«16 bei Egmont Manga & Anime adult veröffentlicht.17

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Die drei Kurzgeschichten Purançto emerisu (»Planet Aimeris«), Kanojo ni naritai! (»Ich möchte ihre feste Freundin werden!«) und Kanojo no hatsukoi (»Ihre erste Liebe«) erzählen allesamt vom Beginn einer Liebesbeziehung zwischen zwei Mädchen. In Purançto emerisu trifft das Schulmädchen Yuma auf eine Außerirdische namens Eme. Eme stammt vom Planeten Famu18, auf dem es nur Frauen gibt und Liebe automatisch zu Sex führt. Sie kommt auf die Erde, um zu erfahren, was Romantik ist. Kanojo ni naritai! erzählt von Kaede, die mit dem Supermodel Matsuri im selben Haus lebt und heimlich in diese verliebt ist. In Kanojo no hatsukoi verliebt sich die Schülerin Natsuki in Kanae, der sie jeden Morgen auf dem Schulweg begegnet. Aufgrund der gesellschaftlich forcierten Abbildung 98: Lautmalerische Äußerungen in Sprechblasen – »Ich nehme alles an, auch Yumas Liebe« (CHI-RAN 2008a: 75)

und infolgedessen als Zwangsheterosexualität zu bezeichnenden Orientierung ihrer Angebeteten entwickelt sich Natsuki zum Jungen. Im anderen Geschlecht kann Natsuki Kanae näher kommen und mit dieser zusammen sein. »In the world of boy-boy love [im shôjo-Manga, Anm. d. Autorin], rape, S&M, incest, prostitution – in fact every kind of sexual taboo – made its appearance« (Fujimoto 1991: 56). Im Gegensatz dazu findet die Betrachter_in eines yuri-Man-

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gas derartige Darstellungen nicht. Sexuellen Handlungen kommt hier nur eine Nebenrolle zu: Diese sind lediglich in ein bis zwei Bildpanels zu sehen. Sexualität im yuri-Manga basiert zudem auf dem Konsens beider Partnerinnen. Die Protagonistinnen scheinen diese als befriedigend wahrzunehmen, da sie sich anschließend lächelnd in den Armen halten. Sex ist – so geht auch aus der mimischen und sprachlichen Konversation der Figuren hervor – hier nicht mit ›Angst‹ verbunden, sondern mit ›Lust‹ (vgl. Fujimoto 1998: 220). Im pornographischen Manga häufig zu findende Ausrufe wie »Hör auf!« (yamete) oder »Es tut weh!« (itai) kommen im yuri-Manga nicht vor. Die in Sprechblasen angebrachten Äußerungen beschränken sich stattdessen auf Lautmalereien, die lustvolles Stöhnen anzeigen. Sex findet im yuri-Genre stets im Rahmen einer Liebesbeziehung statt: Entweder münden sexuelle Handlungen in eine Beziehung wie etwa in Kanojo ni naritai! oder sie sind Teil einer bereits bestehenden Liebesbeziehung wie in Kanojo no hatsukoi. Auffällig ist, dass die Darstellung sexueller Handlungen zwischen Mädchen mit der eindeutigen Zuweisung der Rollen von entweder aktiv oder passiv einhergehen. Die Rollenaufteilung entspricht dabei dem Charakter des jeweiligen Mädchens: Aufgeweckte und/oder erwachsen wirkende Figuren wie Matsuri oder Natsuki übernehmen die aktive Rolle, zurückhaltenden und/ oder jüngeren Figuren kommt die passive Rolle zu.19 Obwohl es sich um eine egalitäre Beziehung zwischen zwei Personen des gleichen Geschlechts handelt, die sich gleichberechtigt lieben sollen, ist weiterhin die Idee präsent, dass eine der beiden innerhalb des sexuellen Arrangements die dominante Rolle übernimmt: Sich gleichgeschlechtlich zu lieben heißt keineswegs als Gleiche miteinander Sex zu haben. Das yuri-Genre markiert einen klaren Bruch mit traditionellen japanischen Auffassungen von Sexualität: Sexualität von Frauen findet im yuri-Manga weder im Kontext von familiärer Reproduktion noch im Kontext von Prostitution statt. Die Lektüre dieser Geschichten ist folglich auch mit einer Flucht20 vor dem gesellschaftlich hegemonialen heterosexistischen Geschlechterverhältnis in der japanischen Gesellschaft verbunden. Im Kontrast dazu transportiert das yuri-Genre das Versprechen, dass jedes Mädchen (auch) mit anderen Mädchen glücklich werden kann und dass das aktive Ausleben der eigenen Sexualität dennoch möglich ist.

3. S E X ALS K ONVERSATION – S E XUALITÄTEN Z WISCHEN LESBISCHEN F R AUEN IM M ANGA Wie eingangs bereits angedeutet, ist die Auswahl an japanischen Comics für sich als lesbisch definierende Frauen vergleichsweise klein. Eigens für ein lesbisches Publikum produzierte kommerzielle Zeitschriften wie Furîne (»Phryné«) und Anise erschienen erstmals Mitte der 1990er Jahre, hatten aber stets

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eine kurze Lebensdauer von nur wenigen Ausgaben.21 In diesen Magazinen war man mit der Darstellung sexuell expliziter Szenen sehr zurückhaltend.22 Dies ist möglicherweise darauf zurückzuführen, dass die für Lesben geschriebenen Comics andernfalls als Unterhaltung für heterosexuelle Männer wahrgenommen worden wären, die sich auch in Japan nicht selten an Darstellungen von Frauen, die miteinander Sex haben, voyeuristisch delektieren. An dieser Stelle möchte ich den Manga Love my life der Autorin Yamaji Ebine23 genauer betrachten. Er ist Yamajis erstes und zugleich bekanntestes Werk, das sich mit weiblicher Homosexualität beschäftigt. Der Manga Love my life erschien erstmals von 2000 bis 2001 im Magazin Feel Young des Verlags Shôdensha. Dieses monatlich erscheinende Magazin richtet sich vorwiegend an junge Frauen im Alter zwischen 20 und 30 Jahren. Love my life wurde also nicht speziell für ein lesbisches Publikum geschaffen, hat aber eine große lesbische Fangemeinde. Im Jahr 2005 wurde der Manga für den Verlag Asuka éditions ins Französische übersetzt.24 2006 wurde er in Japan in einen Realfilm umgesetzt, der 2008 unter dem Titel Love my life – Du bist mein Herzschlag als untertitelte Originalversion in einer von Pro-Fun Media herausgegebenen deutschen DVDFassung veröffentlicht wurde. Love my life erzählt von der 18-jährigen Izumiya Ichiko und ihrer Liebesbeziehung zur 21-jährigen Studentin Jôjima Erî. Seit dem Tod ihrer Mutter lebt Ichiko mit ihrem Vater zusammen. Dieser konfrontiert seine Tochter nach ihrem eigenen Coming-out mit seiner Homosexualität sowie der lesbischen Orientierung ihrer Mutter. Daraufhin beginnt Ichiko sich stärker mit dem Thema der Homosexualität und ihrer eigenen Liebe zu Erî auseinander zu setzen. Genauso wie im yuri-Genre finden sich auch in diesem Werk keinerlei brutale sexuelle Handlungen. Im Gegensatz zum yuri-Genre wird dem Thema der Sexualität hier aber etwas mehr Raum gegeben. An insgesamt acht Stellen sind teilweise über mehrere Seiten hinweg sexuelle Handlungen zu sehen. An einigen weiteren Stellen sieht man Ichiko und Erî (halb-)nackt im selben Raum, was auf ein vorangegangenes sexuelles Geschehen zwischen den beiden hindeuten könnte (vgl. Yamaji 2003 [2001]: 8f.). Sex findet in diesem Werk im Rahmen einer festen Beziehung statt. Durch die Art der Darstellung sexueller Handlungen überlässt die Autorin an den meisten Stellen viel der Vorstellungskraft der Leser_innen – auch wenn Yamaji sehr viel detaillierter zeichnet als beispielsweise CHI-RAN. So sieht man zumindest an einer Stelle Ichikos Schambehaarung. Was im Bett passiert, ist aber auch in diesem Manga nicht genau zu sehen. Wie im yuri-Genre ist Sex in diesem Manga eine konsensuale Angelegenheit beider Partnerinnen. Obgleich es keinerlei Hinweise auf lautliche Äußerungen gibt, nehme ich an, dass beide Figuren den Akt genießen. Die Initiative kommt dabei zumeist von Erî, die die ältere der beiden Protagonist_innen ist. Auch Yamaji kann sich also nicht ganz von der Idee der klaren Rollenaufteilung nach tachi und neko25 lösen. Auffällig an der Darstellung von Sexualitäten in Love

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Abbildung 99: Bettszene und erotische Kummunikation – »Ich spüre dich zu jeder Zeit. Egal wie weit wir voneinander entfernt sind, du bist immer bei mir« (Yamaji 2003: 12)

my life ist, dass die Autorin Sex wie nebenbei in die Handlung einfließen lässt. Somit billigt sie den sexuellen Aktivitäten ihrer Figuren keine besondere Bedeutung zu, sondern lässt diese als Teil des geteilten lesbischen Alltagslebens erscheinen. Sugino (vgl. 2008: 74) vergleicht die Art der Darstellung von Sex mit einer alltäglichen Konversation, durch die die Figuren ihre gegenseitige Liebe zum Ausdruck bringen. Die Leser_innen finden im lesbischen Manga Love my life die Darstellung einer wenig hierarchisierten Beziehung, in der die Protagonistinnen ihre Sexualität frei ausleben können.

4. V ARIATIONEN BEK ANNTER M USTER – S E XUELLE D ARSTELLUNGEN IM ERO -M ANGA Erotische Mangas erzählen meist von Begegnungen zwischen Männern und Frauen. Wie groß der Anteil an Darstellungen ist, die sexuelle Handlungen zwischen Frauen zeigen, konnte im Zusammenhang mit dem vorliegenden Text nicht eruiert werden. An dieser Stelle möchte ich die Darstellung von Sex in der

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Serie Shôjo sekuto von Kurogane Kenn26 exemplarisch analysieren. Shôjo sekuto erschien von 2003 bis 2005 im Magazin Komikku Megasutoa, das vom Verlag Koa Magajin herausgegeben wurde. Die Leser_innenschaft dieses erotischen Magazins besteht zu 100 Prozent aus Männern im Alter zwischen 20 und 50 Jahren.27 Die Serie wurde in zwei Taschenbüchern veröffentlicht und 2008 in eine Original Video Animation28 mit drei DVDs à 30 Minuten umgesetzt. Der Autor Kurogane zeichnet nicht ausschließlich pornographische Mangas für Erwachsene, sondern war auch schon für das yuri-Magazin Komikku yuri hime S tätig. Wie Allison (1996: 60f.) feststellt, dominieren Darstellungen der Körper von Frauen den Bildbestand der erotischen Mangas. In manchen Erzählungen scheint es ausschließlich darum zu gehen, immer mehr Fleisch zur Schau zu stellen. Auch Shôjo sekuto ist diesbezüglich keine Ausnahme. Es gibt nur relativ wenig Handlung, Sex ist die einzige Motivation für den Fortgang der Geschichte, deren Protagonistinnen die Schülerinnen des Kagome-Mädcheninternats sind. Thema von Shôjo sekuto sind die sexuellen Abenteuer der Elftklässlerin Naitô Momoko und ihrer Mitschülerinnen. Den Genrekonventionen entsprechend füllen sexuelle Handlungen etwa zwei Drittel des gesamten Mangas aus. Die Art der Darstellung überlässt der Vorstellung der Leser_innen wenig bis nichts. Wie ich bereits angemerkt habe, verbietet das japanische Strafgesetzbuch eine explizite Darstellung von Genitalien. Nicht von diesem Verbot betroffen sind hingegen Brüste, deren Darstellung im pornographischen Manga überstrapaziert wird.29 Die Vulva wird ebenfalls, wenn auch zensiert, graphisch explizit dargestellt. Auch Schambehaarung ist zu sehen, wenngleich die Haare sehr fein sind. McLelland (2000b: 281) hat darauf hingewiesen, dass es keinerlei gesetzliche Restriktionen im Hinblick auf die Darstellung von Körperflüssigkeiten im japanischen Manga gibt. Aus diesem Grund sind auch in Shôjo sekuto an vielen Stellen Pfützen von Scheidenflüssigkeit zu sehen. Sex findet in Shôjo sekuto stets außerhalb einer bestehenden Beziehung zwischen den Protagonistinnen statt und führt keineswegs zu einer Beziehung. Die Rollenverteilung beim Sex spiegelt auch in diesem Manga Charakter und Alter der Figuren: Die jung und unerfahren wirkenden Mädchen wie Mazri sind passiv, während die älteren Mädchen wie Shinob als aktive Partnerinnen fungieren. Shôjo sekuto beinhaltet im Vergleich zu anderen erotischen Mangas eine verhältnismäßig große Vielfalt an sexuellen Aktivitäten. Neben Händen und Zunge kommen auch Mini-Vibratoren und ein Kugelschreiber zum Einsatz. Nicht nur im Hinblick auf den Einsatz penetrativ verwendeter Geräte unterscheidet sich dieser Manga kaum von Darstellungen heterosexueller Begegnungen in ero-Mangas. Allison bescheinigt diesen einen höchst monotonen Ablauf: Die Standard-Sequenz besteht in »pulling a woman’s pants down and forcibly inserting things into her anus« (Alison 1996: 74). In Shôjo sekuto sind die sexuellen Aktivitäten der Protagonistinnen stets mit Schmerz verbunden. Regelmäßig rufen diese Wörter wie »Hör auf!«, »Es

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Abbildung 100: Darstellung von explizitem Sex und Körperflüssigkeiten in Shōjo sekuto – »Also Marya! Die Finger tun dir nicht weh« (Kurogane [2005] 2008: 49)

tut weh!« oder »Das geht nicht!« (dame). Die inhaltliche Dimension dieser Äußerungen lässt auf den demütigenden Charakter der dargestellten sexuellen Handlungen schließen, die an den Darsteller_innen scheinbar gegen ihren Willen vollzogen werden. Sie haben zudem keine Möglichkeit, sich zu wehren. So wird Asafki von Setska gefesselt, bevor sie vergewaltigt wird (vgl. Kurogane 2008 [2005]: 120). Nach der Vergewaltigung werden die Opfer meist alleine gelassen – Chikaes Partnerin entpuppt sich gar als Geist, der sich nach dem Sex in Luft auflöst (vgl. Kurogane 2008 [2005]: 149).30 Die Darstellung sexueller Handlungen zwischen Mädchen/Frauen im eroManga gleich damit jener, die bereits aus pornographischen Mangas, die Sexualität zwischen Männern und Frauen thematisieren, bekannt ist: »The male simply takes the female regardless of or against her will, thereby making sex is an act of violation and making violation the condition, usually if not always, for sex« (Allison 1996: 62). Auch wenn die sexuellen Handlungen zwischen Mädchen/Frauen im ero-Manga auf der Ebene der Darstellung anders als jene im heterosexuellen pornographischen Manga sind, so wird Sexualität seitens der Frauen/Mädchen als »something that is done to them« (Allison 1996: 62) er-

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lebt. Die aktiven Partnerinnen diktieren die Regeln, sie sind stets auf der Suche nach der nächsten sexuellen Gelegenheit (vgl. McLelland 2000a: 15).31 Obgleich der Vielzahl an stark gewalttätigen sexuellen Darstellungen lässt sich keineswegs behaupten, dass der ero-Manga weibliche Leser_innen überhaupt nicht anspricht. Schodt zitiert den Herausgeber eines erotischen MangaMagazins für Frauen mit den Worten »in erotic manga magazines for females it’s necessary to depict some psychological interaction, to show the relationship between characters« (Schodt 1996: 124). So wird auch in Shôjo sekuto zumindest kurz am Anfang auf die Beziehung zwischen den Figuren eingegangen. Es findet sich sogar so etwas wie eine Liebesgeschichte zwischen den Hauptfiguren Momoko und Shinob. Somit darf es nicht verwundern, dass auch die mehrheitlich weibliche Leser_innenschaft des Magazins Komikku yuri hime die Serie auf Platz drei der besten yuri-Werke 2006 wählte (vgl. Sugino 2008: 141). Über die tieferen Gründe kann nur spekuliert werden: Zum einen bieten eroMangas eine Darstellung aktiver Sexualität, die sich, wie bereits ausgeführt, in anderen Manga-Genres nicht findet. Es könnte also sein, dass die Leser_innen die Gewalt akzeptieren (oder ignorieren), um überhaupt eine detaillierte Darstellung aktiver weiblicher Sexualität zu konsumieren. Tiefere Ursache wäre somit die auf der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern basierende japanische Gesellschaftsordnung. Im vorliegenden Fall könnte man die Popularität aber eventuell auch darauf zurückführen, dass es 2006 keine große Auswahl an (neu publizierten) Werken über Liebe zwischen Mädchen gab und Shôjo sekuto damit eine große Medienpräsenz hatte. Dafür würde auch sprechen, dass die Leser_innen nach yuri-Werken gefragt wurden, Shôjo sekuto aber eindeutig nicht zu diesem Genre zählt.

F A ZIT UND A USBLICK Es bleibt festzuhalten, dass dem Thema Liebe und Sex zwischen Frauen/Mädchen im Manga immer noch nicht genug Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Dieser Aufsatz kann nur der Anfang für weitere Analysen que(e)r durch die unterschiedlichen Manga-Genres sein. Ich habe demonstriert, dass die Darstellung sexueller Handlungen zwischen Frauen/Mädchen je nach Manga-Genre sowie der dazugehörigen Zielgruppe erheblich differiert. Welker (vgl. 2006a: 164) behauptet, dass offen gelebte lesbische Beziehungen im shôjo-Manga weibliche Leserinnen per se mit der Möglichkeit konfrontierten, gemeinsam mit anderen Mädchen zu sexuellen Akteurinnen werden zu können. Dieser Umstand stellt Welker zufolge ein beängstigendes Angebot32 sowohl für Manga-Autor_innen als auch für ihre Leser_innen dar. Ich habe hingegen gezeigt, dass die Beantwortung der Frage, ob die Darstellung von Sex im Manga mit Angst oder mit Lust assoziiert werden kann, nicht nur vom Geschlecht der Akteur_innen

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abhängig ist. Das, was eine sexuelle Darstellung bewirkt, ist ebenso stark an die Konventionen des jeweiligen Manga-Genres gebunden. Selbst wenn die Darstellung von Sexualitäten im Manga viel über die Strukturierung der Geschlechterordnung in der heutigen japanischen Gesellschaft verrät, so sind Mangas keineswegs als bloßes Abbild derselben zu betrachten. Anders als im Fall von indexikalischen Medien geht es im Manga immer auch um die Artikulation von (sexuellen) Fantasien, die realiter zumeist nicht ausgelebt werden. Dies zeigt sich besonders deutlich in den gesellschaftlichen Gebrauchsweisen von Mangas im heutigen Japan: In von Fans für Fans gezeichneten dôjinshi (»Zeitschrift für Menschen mit gleichen Interessen«) gestalten Amateur_innen die vorgefertigten Manga- oder Anime-Originale so um, dass diese ihren Bedürfnissen und Erwartungen entsprechen (vgl. Kinsella 2000: 104ff.).33 Populäre Serien werden von Fans uminterpretiert und somit in einen neuen Kontext gestellt. So werden zum Beispiel aus Figuren, die sich im Original nicht leiden können, offen homo- oder heterosexuelle Liebespaare. Und aus im Original unschuldigen Liebesbeziehungen, die über kurze Küsse kaum hinausgehen, werden schnell sexuell explizite Darstellungen. Beim Gebrauch von Mangas durch Fans geht es primär darum, die eigene Begeisterung für eine bestimmte Serie mit anderen zu teilen – und sei es, indem man die Geschichte in eine ganz andere Richtung weiterspinnt als von ihren Schöpfer_innen ursprünglich intendiert.

A NMERKUNGEN 1 | Mit Dank an Barbara Eder für zusätzliche inhaltliche Kommentare und Anregungen. 2 | Zu diesem Aspekt vgl. McLelland, Mark (2000a): »The Love Between ›Beautiful Boys‹ in Japanese Women’s Comics«. In: Journal of Gender Studies 9/1, S. 13-25 und McLelland, Mark (2000b): »No Climax, No Point, No Meaning? Japanese Women’s Boy-Love Sites on the Internet«. In: Journal of Communiation Inquiry 24/3, S. 274-291. 3 | Im Japanischen gibt es keine Deklinationen und keinen Plural, das Wort ›Manga‹ ist zudem geschlechtslos. Obgleich die korrekte Übersetzung aus dem Japanischen eine plurale Formulierung im Sinne von »Mangas« ausschlösse, folge ich diesbezüglich dem deutschen Mainstream, so etwa der Schreibweise bei Arnold (2009). 4 | Japanische Personennamen werden im Folgenden in der traditionellen Reihenfolge Nachname Vorname angegeben. Japanische Begriffe stehen kursiv, sofern sie nicht schon in die deutsche Sprache eingegangen sind. Alle Übersetzungen stammen, soweit nicht anders angegeben, von der Autorin. 5 | Auch Doppelselbstmorde oder Morde an Frauen können im yuri-Manga eine Form der narrative closure darstellen. Ein Beispiel dafür stellt das Ende von Shiroi heya no futari dar, in dem die am Ende ermordete Simone sich in Resine verliebt hatte. 6 | Gleiches gilt auch für die Liebe zwischen Jungen im Manga, zu diesem Aspekt vgl. McLelland (2001): »Why Are Japanese Girls’ Comics full of Boys Bonking?« In: Inten-

Z WISCHEN F ANTASIE UND A LLTAGSLEBEN sities 1. Online unter: http://intensities.org/Essays/McLelland.pdf (Letzter Zugriff: 23.11.2009). 7 | Dieser shôjo-Manga existiert in deutscher Übersetzung auch unter dem Titel Lady Oscar. 8 | Mangas werden in Japan gemeinhin kapitelweise in wöchentlich, monatlich oder quartalsmäßig erscheinenden, teilweise telefonbuchdicken Manga-Magazinen veröffentlicht. Geschichten, die besonders populär sind, werden anschließend als Taschenbuch veröffentlicht (vgl. Schodt [1986] 2000: 146). 9 | Die geschlechtliche Identifizierung von Manga-Autor_innen ist keineswegs einfach, da viele Autor_innen ein geschlechtsneutralisierendes Pseudonym verwenden. 10 | Zum Thema lesbischen Lebens in Japan gibt es nur wenige Untersuchungen wie etwa Summerhawk, Barbara (Hg.) (1998): Queer Japan. Personal Stories of Japanese Lesbians, Gays, Bisexuals and Transsexuals, Norwich: New Victoria Publishers. 11 | Je nach Dicke des Magazins und Anzahl an Farbseiten liegen die Preise etwa zwischen 600 und 1.000 Yen. Laut dem japanischen Statistics Bureau lag das Monatseinkommen im Jahr 2008 bei knapp 460.000 Yen. Vgl. Statistics Bureau (2009): »Average of Monthly Receipts and Disbursements per Household«. Online unter: www.stat.go.jp/ english/data/sousetai/es08.htm (Letzter Zugriff: 30.01.2010). 12 | Im Gegensatz zum yuri-Manga werden im pornographischen Manga – wenngleich nachträglich durch weiße Streifen oder ähnliches retuschiert – Schambehaarung und Genitalien gezeigt. Da die Streifen der Zensur oftmals nur sehr schmal sind, wird der Vorstellungskraft der Leser_innen jedoch nicht allzu viel überlassen. 13 | Der Name an sich ist zwar geschlechtsneutral, in ihren Selbstporträts zeichnet sich CHI-RAN aber immer als Frau. Es ist aber ebenso möglich, dass es sich bei CHI-RAN um einen Mann handelt. 14 | Im Titel wird die Silbe mitsu statt mit dem üblichen Zeichen für ›Enge‹ mit dem Zeichen für ›Honig‹ geschrieben. 15 | Carlsen Comics übersetzte 2003 Shôjo kakumei Utena von Saitô Chiho als Utena. Revolutionary Girl. Zwar wurden auch schon Nananan Kirikos Blue und Urushihara Satoshis Chirality, die sich beide mit Liebe zwischen Frauen/Mädchen beschäftigen, ins Deutsche übersetzt. Ob man diese Werke zum yuri-Genre zählen kann ist aber diskussionswürdig. Leider waren keine Informationen darüber zu bekommen, ob Egmont Manga & Anime oder ein anderer deutscher Verlag die Übersetzung weiterer yuri-Titel plant. Über die Gründe für den wohl mangelnden Erfolg – ich nehme an, dass dies der Grund ist, auch wenn mir Egmont Manga & Anime per Mail versichert hat, die Reaktionen von Leser_innen und Handel seien positiv gewesen – lässt sich nur spekulieren. Möglicherweise suchten die deutschen Leser_innen nach ernsthafteren Auseinandersetzungen mit dem Thema Homosexualität (vgl. Maser 2009: 42ff.). 16 | Der Verlag schien sich beim Titel unsicher zu sein. Im Impressum ist dieser mit Girl’s Love angegeben, im Manga steht im Untertitel shoujo bigaku, was eine mögliche Transkription des Originaltitels ist.

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V ERENA M ASER 17 | Zur Analyse wurden die japanischen Originale herangezogen, da die deutsche Übersetzung an einigen Stellen zu frei ist. 18 | Hierbei handelt es sich um die japanische Umschrift des französischen Wortes femme. 19 | Manchmal spricht man in diesem Zusammenhang auch von einer Unterteilung in o-nç-sama (ältere Schwester) und imôto (jüngere Schwester) beziehungsweise neko (Katze) (vgl. Welker 2008: 53f.). In Mangas, die Liebe zwischen Jungen thematisieren, werden die Partner in ähnlicher Weise in seme (aktiv, von semeru – angreifen) und uke (passiv, von ukeru – empfangen) unterteilt (vgl. McLelland 2000b: 280). 20 | Als Gründe für das eigene Fan-Sein werden von Leser_innen vor allem Begriffe wie »Schönheit« und »Reinheit« angegeben, die Vorstellungen dahinter können durchaus eskapistisch motiviert sein (vgl. Maser 2009: 36ff.). 21 | Furîne erschien 1995 und wurde nach zwei Ausgaben eingestellt, Anise erschien von 1996-1997, eine Wiederaufnahme erfolgte in den Jahren 2001-2003. Inzwischen scheint es keine einzige japanische Zeitschrift für ein rein lesbisches Publikum mehr zu geben. 22 | So kommt zum Beispiel im in Furîne und Anise erschienenen Manga Rikatte kanji!? – zu Deutsch in etwa »Das Rika-Gefühl!?« – Sex nur in einer Bonusstory vor, die nur in der Taschenbuchausgabe enthalten ist. Diese Geschichte wurde ursprünglich für eine amerikanische yuri-Anthologie verfasst (vgl. Takashima 2003: 211ff.). 23 | Zwar behauptet die französischsprachige Wikipedia, Yamaji wäre lesbisch, es war aber unmöglich, eine japanischsprachige Quelle zu finden, die dies bestätigen kann. Vgl. o. A. (2009b): Eintrag in der französischsprachigen Wikipedia zu Ebine Yamaji. Online unter: http://fr.wikipedia.org/wiki/Ebine_Yamaji (Letzter Zugriff: 27.11.2009). 24 | Auch hier wurde für die Analyse das japanische Original herangezogen. 25 | Es ist anzumerken, dass in der japanischen Lesben-Szene mehrheitlich eine klare Rollenaufteilung zwischen tachi (Wortherkunft unklar, männlicher Part) und neko (»Katze«, weiblicher Part) gelebt wird. 26 | Die Schreibweise der Personennamen orientiert sich in diesem Fall an der latinisierten Schreibweise in der Taschenbuchausgabe von Shôjo sekuto. Diese weicht teilweise stark von der üblichen Transkription nach Hepburn ab. 27 | Diese Information entnehme ich der Homepage für Anzeigenkunden von Komikku Megasutoa. Vgl. Komikku Megasutoa (2009b): Homepage für Anzeigenkunden von »Komikku Megastoa«. Online unter: www.ad-room.net/ (Letzter Zugriff: 27.11.2009). 28 | Die in Japan gebräuchliche Abkürzung für Original Video Animation ist OVA. Diese Art von Animes wird direkt für den Verkauf auf Video/DVD produziert. 29 | Auffällig ist, dass die Brüste der Darstellerinnen für das Alter und den Körperbau der Protagonistinnen sehr groß sind. In anderen pornographischen Mangas wie auch auf der Homepage des Magazins Komikku Megasutoa werden diese sogar in gänzlich überdimensionierter Form gezeigt. 30 | In fast allen Geschichten werden die Betrachter_innen Zeug_innen einer Vergewaltigung. Meistens wird die als passiv dargestellte Partnerin zum Sex gezwungen.

Z WISCHEN F ANTASIE UND A LLTAGSLEBEN McLelland (2000c: 275) führt die auf der Ebene der Darstellung stattfindende extreme Gewalt in pornographischen Mangas darauf zurück, dass aufgrund der Zensur der Genitalien auf andere Weise Interesse generiert werden muss. An anderer Stelle begründet er die Darstellung gewaltsamer sexueller Akte von Männern an Frauen damit, dass in der japanischen Gesellschaft eine extreme Asymmetrie zwischen den Geschlechtern herrscht: Der Mann, dessen Körper meist als größer und muskulöser dargestellt wird, muss seine Vormachtstellung auch bei sexuellen Begegnungen bewahren und die Frau unterwerfen. Zu diesem Aspekt vgl. McLelland, Mark (2000b): »No Climax, No Point, No Meaning? Japanese Women’s Boy-Love Sites on the Internet«. In: Journal of Communiation Inquiry 24/3, S. 285f. 31 | Bezeichnenderweise heißt Shinob, eine der aktiven Figuren, mit Nachnamen Hunter. 32 | Im Original spricht Welker von einer »frightening proposition«. Vgl. Welker, James (2006a): »Drawing Out Lesbians: Blurred Representations of Lesbian Desire in Shôjo Manga«. In: Subhash, Chandra (Hg.): Lesbian Voices: Canada and the World. Theory, Literature, Cinema, New Delhi: Allied Publishers, S. 164. 33 | Dazu meine Diskussion der dôjinshi zur yuri-Serie Simoun in Maser, Verena (2009): Utsukushikereba sore de ii? Das yuri-Genre und der Gegenentwurf der Serie »Simoun«, unveröffentlichte Magisterarbeit, Universität Trier, S. 76ff.

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Bei den restlichen Aufsätzen handelt es sich um Originalbeiträge.

Autor_innen

Jens Balzer lebt in Berlin und arbeitet als Popkritiker und stellvertretender Feuilletonchef bei der Berliner Zeitung. Autor der Comics »Salut Deleuze« und »Neue Abenteuer des unglaublichen Orpheus« (1998/2001, Zeichnungen: Martin tom Dieck), Übersetzer u.a. von Art Spiegelman und Scott McCloud, Verfasser zahlreicher Aufsätze und Essays zur Comic-Ästhetik, Lehraufträge u.a. in Zürich, Berlin, Potsdam, Jena. Letzte Veröffentlichung: Outcault. Die Erfindung des Comic (2010) (gemeinsam mit Lambert Wiesing). Barbara Eder, Lektorin an den Universitäten Wien und Klagenfurt, freie Publizistin und Referentin der AIDS-Hilfe Wien. Studium der Soziologie, Philosophie, Theater-, Film- und Medienwissenschaften und der Gender Studies in Wien und Berlin, Doktorarbeit über Comic-Darstellungen in Verbindung mit repräsentationskritischen Aspekten und (post-)kolonialen Theorien. Letzte Publikationen: »Ein ver-rückter Ort des Films: Alice in Wonderland und die queeren Nachleben des Porno-Musicals«, in: Frauen und Film, Frankfurt a.M.: Stroemfeld 2011; Co-Herausgeberin von Die Linke und der Sex. Klassische Texte zur wichtigsten Frage (gemeinsam mit Felix Wemheuer, 2011). Ole Frahm ist Mitgründer der Arbeitsstelle für Graphische Literatur, Universität Hamburg (ArGL) sowie Mitglied der Künstlergruppe LIGNA. Er hat Aufsätze zu Theorie, Geschichte, Ästhetik von Comics und Radio publiziert. Bücher: Genealogie des Holocaust. Art Spiegelman’s MAUS – A Survivor’s Tale (2006), Die Sprache des Comics (2010), Von LIGNA: An Alle (im Erscheinen). Christine Hermann studierte Übersetzung (Französisch, Spanisch), Nederlandistik und Kunstgeschichte und ist zurzeit an der Universität Wien (Abteilung für Nederlandistik) als Assistentin und Dozentin im Bereich niederländische Literaturwissenschaft tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Intermedialität, Übersetzung und Ideologie, Topologie und postmoderne Literatur. Mitherausgeberin des Tagungsbandes Heimatliteratur 1900-1950 – regional, national, inter-

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national (2009). Veröffentlichungen zu den Themen Heimatliteratur, Übersetzung in Nazi-Deutschland, postmoderne Literatur und Literatur als Comic. Elisabeth Klar studiert Vergleichende Literaturwissenschaft, Translationswissenschaft und Romanistik in Wien und Paris. Mitarbeit beim Verein Jugendliteraturwerkstatt Graz, Ko-Leitung der Jugendliteraturwerkstatt Wien. Sie sprach 2010 bei der Konferenz »Intercultural Crossovers, Transcultural Flows: Manga/Comics« in Köln zum Thema des Körpers im erotischen Comic und Manga. Publikation zum Heldenkonzept der Comic-Figur Blueberry in der Anthologie Comic. Film. Helden (Hg.: Barbara Kainz) (2009). Literarische Veröffentlichungen. Randolph Kluver ist Direktor des Institute for Pacific Asia und Assistenzprofessor am Department of Communication der Texas A&M University und Assistenzprofessor an der School of Communication and Information an der Nanyang Technological University in Singapore. Er ist Gründer und geschäftsführender Direktor des Singapore Internet Research Centre. Für seinen Essay The Logic of New Media in International Relations erhielt er im Jahr 2003 den renommierten »Walter Benjamin Award« der Media Ecology Association. Letzte Publikation: The Internet and National Elections: A Comparative Study of Web Campaigning (Ko-Hg.) (2007), Asia.com: Asia Encounters the Internet (2003). Pascal Lefèvre studierte Sozialwissenschaften und Amerikanistik an der K.U. Leuven. 2003 schloss er seinen Ph.D. in Sozialwissenschaften ab. Als forschender Mitarbeiter der BRTN (Belgische Radio en Televisie) begann er zu publizieren und Konferenzen zu organisieren. Von 1996 bis 1999 arbeitete er als wissenschaftlicher Berater für das Belgische Comic-Zentrum in Brüssel. Seit 1998 lehrt er zum Thema Comic und visuelle Medien an verschiedenen flämischen Kunstuniversitäten (Brüssel, Antwerpen, Genk). Seit 2008 ist er Gastforscher an der K.U. Leuven. Susanne Lummerding, PD Dr. phil., Kunst- und Medienwissenschaftlerin. Sie lehrt am Institut für Theater-, Film-, und Medienwissenschaft der Universität Wien, war 2009 Gastprofessorin für Gender Studies an der Universität Klagenfurt und 2008/09 Gastprofessorin für Intermedialität am Institut für Theater-, Film-, und Medienwissenschaft an der Universität Wien. Seit 2005 ist sie am Aufbau der internationalen Forschungsplattform »Visuelle Kultur im Feld des Politischen« beteiligt. Sie ist Autorin von agency@? Cyber-Diskurse, Subjektkonstituierung und Handlungsfähigkeit im Feld des Politischen (2005).

A UTOR _ INNEN

Anne Magnussen ist außerordentliche Professorin am Institut für Geschichte an der University of Southern Denmark. Sie hat eine Reihe an Artikeln in Englisch und Dänisch zum Thema Comic publiziert, darunter (in Englisch) »Imagining the dictatorship, Argentina 1981 to 1982« in der Zeitschrift Visual Communication, London: Sage. Vol 5, No. 3, 2006, S.  323-344; und »Spanish Comics and Family« in der Zeitschrift International Journal of Comic Art, Vol. 5, No. 2 (Herbst 2003), S. 66-84. Gemeinsam mit Hans-Christian Christiansen hat sie 2000 den Sammelband Comics and Culture. Analytical and Theoretical Approaches to Comics bei Museum Tusculanum Press herausgegeben. Lucia Marjanovic studierte Vergleichende Literaturwissenschaft in Wien und Aix-en-Provence, Frankreich. Sie schrieb ihre Diplomarbeit zum Thema »Enid Blytons Fünf Freunde auf Deutsch – Übersetzungen, Neubearbeitungen, Fortführungen«. Kathleen Martindale (1947-1995) war Professorin am English Department der Faculty of Arts der York University (Toronto) sowie Koordinatorin des dortigen Women’s Studies Program. Sie bezeichnete sich selbst als »lesbian theory queen« und war Mitbegründerin des Canadian Journal of Feminist Ethics. 1995 verstarb sie an Brustkrebs. Letzte posthume Veröffentlichung: »Un/popular Culture. Lesbian writing after the Sex Wars«, New York: State University of New York Press (1997). Verena Maser studierte Japanologie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, der Tokyo University of Foreign Studies und der Universität Trier. Ihre Magisterarbeit beschäftigte sich mit dem Thema des yuri-Genres. Im September 2010 sprach sie auf der Konferenz »Intercultural Crossovers, Transcultural Flows: Manga/Comics« zum Thema yuri-Manga. Mark McLelland ist Associate Professor für Soziologie an der School of Social Sciences, Media and Communication der University Wollongong. Zu seinen Forschungsgebieten zählt die kulturwissenschaftliche Analyse von Sexualitäten, Geschlechterverhältnissen und neuen Medien in Japan. Er ist der Autor von Male Homosexuality in Modern Japan: Cultural Myths and Social Realities (2000) und hat viel über Manga-Fandom publiziert, erst kürzlich im The Journal of Gender Studies und The Journal of Communication Inquiry. Gilad Padva ist Lektor am Film- und TV-Department der Tel Aviv University. Seine Doktorarbeit hatte die Repräsentation sexueller Minoritäten im amerikanischen und britischen Film und TV während der 1990er und 2000er Jahre zum Thema. Er ist Autor zahlreicher Artikel im Bereich der Gender Studies, der

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Queer Theory, der Populärkulturforschung und der Visual Studies im Bereich von Film- und Television-Studies. Peter Rehberg ist Chefredakteur des schwulen Monatsmagazins »Männer«. Er hat einen Roman (»Fag Love«) und einen Band mit Kurzgeschichten (»Play«) veröffentlicht. Neben Queer Studies hat er Literaturwissenschaft an den Universitäten Bonn, Brown, Northwestern, Cornell und New York University unterrichtet, wo er mit einer Arbeit über Franz Kafka promovierte (»Lachen lesen. Zur Komik der Moderne bei Kafka«, Bielefeld: transcript 2007). Ramón Reichert, Professor für Neue Medien am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Universität Wien. Er lehrt »Kulturwissenschaft der Medien« an der Johannes Kepler Universität Linz, »Medientheorie« am Mozarteum Salzburg und ist Faculty-Member des Lehrgangs »Crossmedia Design & Development« des Departments für Bildwissenschaften der Donau-Universität Krems. Er hat zahlreiche Forschungs- und Lehraufenthalte u.a. in Berlin (HU), Bochum, Canberra (ANU), Columbia (SC), London und Zürich vorzuweisen. Im Jahr 2008/09 war er Research Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) in Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Soziale Medien, Online-Medien, Gaming-Kultur, Digitale Ästhetik, Netzkritik, Visuelle Politik. Veröffentlichungen (Auswahl): Governmentality Studies. Analysen liberal-demokratischer Gesellschaften im Anschluss an Michel Foucault (2004); Reader Neue Medien (2006); Im Kino der Humanwissenschaften. Studien zur Medialisierung wissenschaftlichen Wissens (2007); Amateure im Netz. Selbstmanagement und Wissenstechnik im Web 2.0 (2008); Das Wissen der Börse. Medien und Praktiken des Finanzmarktes (2009). Rosa Reitsamer, Soziologin, hat derzeit eine Post-Doc-Stelle an der Universität Salzburg im Forschungsprojekt »Feminist Media Production in Europe« inne. Letzte Publikationen: »Anthologie New Feminism: Worlds of Feminism, Queer and Networking Conditions«, Wien: Löcker Verlag 2008 (gemeinsam mit Marina Grzinic), die Anthologie »They Say I am Different… Popularmusik, Szenen und ihre Akteur/innen« erschien im Herbst 2010, (gemeinsam mit Wolfgang Fichna). Ihre Monographie When Will I Be Famous? Die Do-It-Yourself-Karrieren von DJs wird Anfang 2011 erscheinen; gemeinsam mit Maria José Belbel gründete sie das digitale Archiv DIG ME OUT. Discourses on Popular Music, Gender and Ethnicity (http://www.digmeout.org). Martina Rosenthal studierte Komparatistik sowie Comic & Animation in Wien und Frankreich und arbeitet derzeit in Paris zum Thema autobiografische Comics. Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich der aktuellen Entwicklungen in Comic und bande dessinée.

A UTOR _ INNEN

Florian Schmidlechner beendete 2007 sein Studium der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Derzeit arbeitet er am Institut für Zeitgeschichte (Schwerpunkt Visuelle Zeit- und Kulturgeschichte) an seiner Dissertation zum Thema »Internationale Propagandatrickfilme während dem Zweiten Weltkrieg«. Neben journalistischen Artikeln v.a. Veröffentlichungen zur Animationsfilmgeschichte. Johann N. Schmidt ist emeritierter Professor für Anglistische Literaturwissenschaft und Medienwissenschaft an der Universität Hamburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Satire, das Melodram und die moderne amerikanische Architektur. Im Bereich Film zahlreiche Publikationen und Radiosendungen zu Hitchcock, Kubrick, Resnais u.a. Mehrere Jahre Leiter der Arbeitsstelle Graphische Literatur in Hamburg. Georg Seeßlen ist Autor, Feuilletonist und Filmkritiker. Er studierte Malerei, Kunstgeschichte und Semiologie und war Dozent an verschiedenen Hochschulen im In- und Ausland. Er schreibt als freier Autor über Kino und Film und andere Aspekte der populären Kultur für u.a. Die Zeit, taz, Frankfurter Rundschau, konkret, Jungle World und epd-Film. Für das Radio schreibt Seeßlen regelmäßig Features, die sich mit aktuellen Tendenzen des Kinos und der populären Kultur auseinandersetzen. Letzte Publikationen: George A. Romero und seine Filme (2010), Träumen Androiden von elektronischen Orgasmen?: Sex-Fantasien in der Hightech-Welt (2011), Blöd-Maschinen: Die Fabrikation der Stupidität (2011). Matthew J. Smith ist außerordentlicher Professor für Kommunikation an der Wittenberg University in Springfield, Ohio. Er ist Autor der vergleichenden Feldstudie The Power of Comics: History, Form & Culture (http://www.powerofcomics.com/fieldstudy). 2009 wurde er von der Wittenberg University mit dem Distinguished Teaching Award ausgezeichnet. Letzte Publikation: The Power of Comics: History, Form and Culture (2009) (gemeinsam mit Randy Duncan). Felix Strouhal studiert vergleichende Literaturwissenschaft in Wien und beschäftigt sich unter anderem mit Erzähltechnik und -theorie von Comic und bildenden Künsten, Illustration und Computerspiel. Arbeitet im Sozialbereich, sowie bei diversen wissenschaftlichen Projekten und als Musikant. Schreibt Skripts für Comics und Pen & Paper, Trashromane, Songs und Lyrik. Thomas A. Vogler ist emeritierter Professor in Englisch und vergleichender Literaturwissenschaft an der University of California, Santa Cruz. Er ist Mitbegründer des History of Consciousness Program der University of California und hat zu William Blake, James Joyce und zu vielen anderen Themen publiziert.

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Elke Zobl ist Hertha-Firnberg-Stipendiatin und forscht am Fachbereich Kommunikations-wissenschaft an der Universität Salzburg zum Thema »Young women as creators of new cultural spaces« und zu »Feminist Media Production in Europe« (Einzelprojekt). Nach dem Studium in Salzburg, North Carolina (Duke University) und Wien, hatte sie von 2004 bis 2006 ein Erwin Schrödinger-Stipendium an der University of California in San Diego, USA, inne. Seit 2001 betreibt sie das Online-Archiv Grrrl Zine Network (http://grrrlzines.net) und seit 2008 die Web 2.0 Plattform Grassroots Feminism: Transnational archives, resources and communities (http://www.grassrootsfeminism.net).

Kultur- und Medientheorie Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien Dezember 2011, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5

Sven Grampp, Jens Ruchatz Die Fernsehserie Eine medienwissenschaftliche Einführung Mai 2012, ca. 200 Seiten, kart., ca. 16,80 €, ISBN 978-3-8376-1755-9

Sebastian Hackenschmidt, Klaus Engelhorn (Hg.) Möbel als Medien Beiträge zu einer Kulturgeschichte der Dinge Juni 2011, 316 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1477-0

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Kultur- und Medientheorie Annette Jael Lehmann, Philip Ursprung (Hg.) Bild und Raum Klassische Texte zu Spatial Turn und Visual Culture Dezember 2011, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1431-2

Oliver Leistert, Theo Röhle (Hg.) Generation Facebook Über das Leben im Social Net Oktober 2011, ca. 280 Seiten, kart., ca. 21,80 €, ISBN 978-3-8376-1859-4

Roberto Simanowski Textmaschinen – Kinetische Poesie – Interaktive Installation Zum Verstehen digitaler Kunst November 2011, ca. 320 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-89942-976-3

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Kultur- und Medientheorie Christina Antenhofer (Hg.) Fetisch als heuristische Kategorie Geschichte – Rezeption – Interpretation November 2011, ca. 346 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1584-5

Clemens Apprich, Felix Stalder (Hg.) Vergessene Zukunft Radikale Netzkulturen in Europa Dezember 2011, ca. 370 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1906-5

Rainer C. Becker Blackbox Computer? Zur Wissensgeschichte einer universellen kybernetischen Maschine November 2011, ca. 394 Seiten, kart., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1555-5

Vittoria Borsò (Hg.) Die Kunst, das Leben zu »bewirtschaften« Biós zwischen Politik, Ökonomie und Ästhetik Januar 2012, ca. 400 Seiten, kart., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1756-6

Sandra Evans, Schamma Schahadat (Hg.) Nachbarschaft, Räume, Emotionen Interdisziplinäre Beiträge zu einer sozialen Lebensform Dezember 2011, ca. 280 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1653-8

Susi K. Frank, Cornelia Ruhe, Alexander Schmitz (Hg.) Integration und Explosion Perspektiven auf die Kultursemiotik Jurij Lotmans Dezember 2011, ca. 298 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1785-6

Lutz Hieber, Stephan Moebius (Hg.) Ästhetisierung des Sozialen Reklame, Kunst und Politik im Zeitalter visueller Medien Oktober 2011, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1591-3

Henry Keazor, Thorsten Wübbena Video thrills the Radio Star Musikvideos: Geschichte, Themen, Analysen September 2011, 478 Seiten, kart., 250 Abb., 31,80 €, ISBN 978-3-89942-728-8

Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.) Kulturen in Bewegung Beiträge zur Theorie und Praxis der Transkulturalität Januar 2012, ca. 260 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1729-0

Dorit Müller, Sebastian Scholz (Hg.) Raum Wissen Medien Zur raumtheoretischen Reformulierung des Medienbegriffs November 2011, ca. 366 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1558-6

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