Abolitionismus. Ein Reader [1. ed.] 9783518770337


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German Pages 621 [620] Year 2022

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Abolitionismus. Ein Reader [1. ed.]
 9783518770337

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Abolitionismus Ein Reader Herausgegeben von Daniel Loick und Vanessa E. Thompson

Suhrkamp

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»Abolitionismus« bezeichnet sowohl einen theoretischen Ansatz als auch eine politische und soziale Bewegung, die sich für die Überwindung staatlicher Gewaltinstitutionen wie Gefängnis und Polizei einsetzt. In der Tradition des Kampfes gegen die Versklavung schwarzer Menschen betonen Abolitionist:innen die rassistische Geschichte staatlicher Gewaltapparate und ihre Komplizenschaft mit Formen kapitalistischer Ausbeutung und patriarchaler Unterdrückung. Dieser Band macht erstmals die wichtigsten Stimmen dieser internationalen Diskussion in deutscher Sprache zugänglich. Mit Texten u. a. von Angela Davis, Michel Foucault, Mumia Abu-Jamal, Ruth Wilson Gilmore, Amna Akbar, Joy James, Klaus Günther, Assa Traoré, Geoffroy de Lagasnerie, Mimi E. Kim, Sarah Lamble, Robyn Maynard und Alex Vitale. Daniel Loick ist Associate Professor für Politische Philosophie und Sozialphilosophie an der Universität Amsterdam. Im Suhrkamp Verlag sind erschienen: Nach Marx. Philosophie, Kritik, Praxis (stw 2066, hg. zus. mit Rahel Jaeggi) und Juridismus. Konturen einer kritischen Theorie des Rechts (stw 2212). Vanessa E. Thompson ist Assistant Professor für Black Studies an der Queen’s University Kingston.

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Die Veröffentlichung dieses Bandes wurde durch die Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung und des Projekts »Überwachen und Strafen der Anderen. Eine Analyse von Racial Profiling und seinen geschlechtsspezifischen Dimensionen«, gefördert vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst, ermöglicht.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022 Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2364 © Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022 Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor. Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen. Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt eISBN 978-3-518-77033-7 www.suhrkamp.de

Inhalt Daniel Loick und Vanessa E. Thompson 7 Was ist Abolitionismus?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   I. Abolitionistische Demokratie

Angela Y. Davis Abolitionistische Demokratie. Ein Interview mit Eduardo Mendieta (2005)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  59 Andrew Dilts Krise, Kritik und Abolition  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  81 II. Strafen und Gefängnis

Mumia Abu-Jamal Weihnachten im Käfig. Mit einer Einleitung von Michael Schiffmann  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angela Y. Davis Gefängnisreform oder Abschaffung des Gefängnisses?  . . . . . Klaus Günther Kritik der Strafe  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joy James Foucaults Schweigen vom Spektakel rassistischer staatlicher Gewalt  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

  113   127   140   160

III. Polizei

Alex S. Vitale Grenzen der Polizeireform  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Robyn Maynard Über staatliche Gewalt und Schwarze Leben  . . . . . . . . . . . . . Nikhil Pal Singh Das Weißsein der Polizei  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Assa Traoré und Geoffroy de Lagasnerie Der Kampf Adama  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Amna A. Akbar Reform (der Polizei) – ein abolitionistischer Horizont  . . . . .

  191   252   275   288   316

IV. (Queer-)Feministische Perspektiven

Andrea J. Ritchie Polizeiliche Antworten auf Gewalt  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   421 Victoria Law Gegen den Strafrechtsfeminismus  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   448 Sarah Lamble Karzerale Logiken transformieren: Zehn Gründe dafür, den gefängnisindustriellen Komplex durch 455 queere/trans Analysen und Aktionen zu demontieren  . . .   V. Abolitionistische Horizonte

Michel Foucault Gefängnisse und Gefängnisrevolten. Ein Gespräch mit Bodo Morawe (1973)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angela Y. Davis Strategien zur Abschaffung des Gefängnisses  . . . . . . . . . . . . . Ruth Wilson Gilmore Was tun?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mimi E. Kim Über Kritik hinausgehen. Kreative Interventionen und Rekonstruktionen kollektiver Verantwortungsübernahme  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allegra M. McLeod Abolitionistische Demokratien entwerfen  . . . . . . . . . . . . . . . Che Gossett Abolitionistische Alternativen. Schwarzer Radikalismus und die Verweigerung von Reform  . . . . . . . . . . . . . . . . .

  495   504   515

  522   556   609

Textnachweise  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   615 Über die Autor:innen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   618

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Daniel Loick und Vanessa E. Thompson Was ist Abolitionismus? Die Demonstrationen und Rebellionen für schwarze Leben im Sommer 2020 stellten die größte politische Bewegung in der Geschichte der USA dar.1 Dabei war die Black-Lives-Matter-Bewegung nicht auf Nordamerika beschränkt, sondern reichte auch nach Lateinamerika, Europa, Australien und mehrere Länder Afrikas und mobilisierte damit auch weltweit die größten antirassistischen Proteste aller Zeiten. Im Zuge dieser globalen Aufstände wurden einer breiteren Öffentlichkeit Forderungen zugänglich gemacht, die aus dem theoretischen und praktischen Kontext des Abolitionismus stammen. Einer der weltweit resonierenden Slogans war Defund the Police: die Forderung, Ressourcen von der Polizei abzuziehen und diese in Strukturen der radikalen sozialen Gerechtigkeit (Wohnen, Gesundheitsversorgung, Bildung und Strukturen der Unterstützung) zu reinvestieren. Ebenso fordern Aktivist:innen die Entkriminalisierung von Armut, Migration oder Drogenkonsum als Teil eines breiteren Kampfes um das Zurückdrängen und Abbauen von Strafregimen und Kontrollinstitutionen wie Gefängnissen, Lagern, Polizeien und anderen Institutionen staatlicher Gewalt.2 1 Vgl. Larry Buchanan u. a., »Black Lives Matter May Be The Largest Movement in US History«, in: New York Times, 3. 6. 2020, 〈https://www.nytimes.com/interac tive/2020/07/03/us/george-floyd-protests-crowd-size.html〉, letzter Zugriff 10. 1.  2022. 2 Vgl. exemplarisch Ruth Wilson Gilmore, »Geographien des Abolitionismus und das Problem der Unschuld«, in Mike Laufenberg, Vanessa E. Thompson (Hg.), Sicherheit. Rassismuskritische und feministische Beiträge, Münster 2021, S. 160-181; Mariame Kaba, We Do This ’til We Free Us. Abolitionist Organizing and Trans­ forming Justice, hg. von Tamara K. Nopper, Chicago 2021; Angela Y. Davis u. a., Abolition. Feminism. Now, Chicago 2022; Dylan Rodríguez, »Abolition as Praxis of Human Being. A Foreword«, in: Harvard Law Review, 132 (2019), S. 1575-1612; Joy James, The New Abolitionists, New York 2005; Keeanga-Yamahtta Taylor, Von #blacklivesmatter zu Black Liberation, Münster 2017; Derecka Purnell, Becoming Abolitionists. Police, Protest, and the Pursuit of Freedom, New York 2021; im deutschen Kontext Jeanette Ehrmann, Vanessa Thompson, »Abolitionistische Demokratie. Intersektionale Konzepte und Praktiken der Gefängniskritik«, in: Rehzi Malzahn (Hg.), Strafkritik, Stuttgart 2018, S. 117-130.

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Aber was meint Abolitionismus eigentlich, was umfasst dieser Ansatz und wie wird Gesellschaft in den theoretischen und bewegungspolitischen Ansätzen des Abolitionismus gedacht?

Geschichte Abolitionismus meint wörtlich Abschaffung und geht als soziale Bewegung und theoretische Perspektive historisch sehr weit zurück. Die Anfänge der Bewegung liegen bereits in den Kämpfen gegen die Versklavung in den USA und der Karibik im 19. Jahrhundert. Die Geschichte des Abolitionismus als spezifischer politischer Ansatz ist allerdings selbst umstritten. In den dominanten Narrativen werden hier oft die weißen liberalen Bewegungen gegen die Versklavung aus dem 18. Jahrhundert in Großbritannien und den USA angeführt, die, im Anschluss an die Quäker:innen, Versklavung nicht mehr aus religiösen Gründen, sondern aufgrund aufklärerischer Ideale ablehnten. In dieser gängigen Erzählung wird der Abolitionismus als die historisch erste transnationale soziale Bewegung dargestellt, deren Ziel die Abschaffung der Versklavung aus Afrika deportierter Menschen in den Kolonien Amerikas beziehungsweise des transatlantischen Versklavungshandels war. Unter Rückgriff auf herausragende Einzelpersonen wird Abolitionismus dabei als ein moralischer Fortschritt der Menschheit dargestellt, der insbesondere von weißen Männern wie Abraham Lincoln in den USA oder Victor Schœlcher in Frankreich und ihren liberalen Idealen vorangetrieben wurde. Obschon einige solcher Darstellungen auch ehemals versklavte Menschen wie etwa Frederick Douglass oder Sojourner Truth mit Bezug auf die USA oder Olaudah Equiano mit Bezug auf Großbritannien erwähnen und einbeziehen, zeichnen sie Abolitionismus vor allem als eine weiße aufklärerische Bewegung. Gegenüber dieser Geschichtsschreibung verweisen die Wissensbestände der »Black Radical Tradition«3 darauf, dass Abolitionismus vor allem eine Bewegung und Perspektive der schwarzen Massenwiderstände gegen den Plantagenkapitalismus war. Demnach unternehmen radikale Abolitionist:innen eine Lesart des Abolitionismus 3 Vgl. Cedric Robinson, Black Marxism. The Making of the Black Radical Tradition, Chapel Hill 1983.

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»von unten«. So argumentiert der schwarze Soziologe, Kommunist, Panafrikanist und Abolitionist W. E. B. Du Bois in seinem Magnum opus Black Reconstruction in America (1935)4 – entgegen der These, dass die Abschaffung hauptsächlich eine Errungenschaft der Abolitionist:innen aus dem Norden sei –, dass schwarze versklavte Menschen, the dark proletariat, nicht nur den Dreh- und Angelpunkt andauernder kapitalistischer Akkumulation bilden,5 sondern dass sie im Süden der USA mit einem Massenstreik von vier Millionen Menschen (1861 bis 1865) und ihrem Widerstand die grundlegende Rolle in der Abschaffung der Versklavung in den USA spielten. Drei Jahre nach dem Erscheinen von Black Reconstruction veröffentlichte der schwarze radikale Historiker und Marxist C. L. R. James Die schwarzen Jakobiner, ein Grundlagenwerk über die haitianische Revolution, die als Manifestation abolitionistischen Widerstands zur Abschaffung der Plantagenökonomie zu verstehen ist. In der französischen Kolonie Saint-Domingue, der damals profitabelsten Plantagenökonomie der Welt, erkämpften die versklavten Menschen im Jahr 1793 gegen den Widerstand der westlichen Kolonialmächte die weltweit erste Abolition.6 Die haitianische Revolution gilt in den Archiven schwarzer Befreiung und internationaler Kritik am kolonialen Kapitalismus als grundlegendes Ereignis des Abolitionismus, das weit über Haiti, aber auch über afrodiasporische Widerstandsbewegungen hinauswies, wie etwa die Bezugnahme indigener Gruppen im Pazifik, wie der Maori, oder auch lateinamerikanischer Bewegungen gegen Versklavung und Kolonialismus zeigen.7 Wenn auch die haitianische Revolution die erste erfolgreiche 4 Vgl. W. E. B. Du Bois, Black Reconstruction in America 1860-1880, New York 1935. 5 Siehe auch Nikhil Pal Singh, »On Race, Violence, and ›So-Called Primitive Accumulation‹«, in: Social Text, 34/3 (2016), S. 27-43; Peter James Hudson, »Racial Capitalism and the Dark Proletariat«, in: Boston Review, 20. 2. 2018, 〈https:// bostonreview.net/forum_response/peter-james-hudson-racial-capitalism-and/〉, letzter Zugriff 18. 1. 2022. 6 Vgl. Anna Julia Cooper, L’attitude de la France à l’égard de l’esclavage pendant la révolution, Paris 1952; Jeanette Ehrmann, Tropen der Freiheit. Die Haitianische Revolution und die Dekolonisierung des Politischen, Berlin 2022, im Erscheinen. 7 Vgl. Manisha Sinha, The Slave’s Cause. A History of Abolition, New Haven 2016; Robbie Shilliam, The Black Pacific. Anti-Colonial Struggles and Oceanic Connections, London 2015.

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Revolution schwarzer versklavter Menschen war, ist es dennoch wichtig darauf zu verweisen, dass sich historischer Abolitionismus darüber hinaus auf die vielfältigen anderen Widerstände gegen Versklavung bezieht. Hier sind größere Aufstände zu nennen, wie die Rebellion um Nat Turner 1831, die New York slave revolt 1712, Rebellionen auf den Sklavenschiffen, wie die Amistad-Entführung oder das Igbo-Landing 1803, in dem sich nach der erfolglosen Befreiung eines Sklavenschiffes, angeführt von schwarzen Frauen, mehrere Igbo kollektiv umbrachten, indem sie von Bord sprangen. Auch die kollektive Flucht von den Plantagen in der Karibik und Lateinamerika und die Gründung alternativer Gesellschaftsformationen in Hügeln und Wäldern sind hier zu nennen. So haben versklavte Menschen in den Quilombos in Brasilien, der Palenque de San Basilio im heutigen Kolumbien oder den Maroon-Formationen auf Jamaika8 alternative Welten fernab der kolonial-kapitalistischen Produktions- und Reproduktionsweise erprobt und etabliert, deren utopische Dimensionen abolitionistische Kämpfe bis heute prägen. Palmares, eine der größten Quilombo-Siedlungen entflohener und freigeborener afrikanischer Menschen, gegründet um 1600 in den Hügeln Brasiliens, bestand zum Beispiel aus 25 000 Bewohner:innen, die eine sich selbst versorgende Republik gegründet hatten.9 Solche abolitionistischen Praktiken umfassten historisch vor allem zwei Prinzipien: Erstens die Abwehr, den Entzug oder die Flucht (fugitivity) aus den Ökonomien der rassifizierten Überausbeutung,10 die stets mit struktureller Gewalt und frühzeitigem Tod einherging, sowie zweitens die Bildung von neuen Verhältnissen, Rationalitäten, Beziehungs- und Produktionsweisen.11 Du Bois bringt diese Doppelbewegung auf den Begriff der »abolitionistischen Demokratie« (abolition democracy). Er beschrieb damit eine   8 Vgl. Mavis Christine Campbell, The Maroons of Jamaica, 1655-1796: A History of Resistance, Collaboration and Betrayal, Granby (MA) 1988; Robinson, Black Marxism.   9 Vgl. Robinson, Black Marxism; Christen Smith, »Beatriz Nascimento: Quilombo and Geographies of Liberation«, 〈https://decolonisegeography.com/ blog/2021/06/beatriz-nascimento-quilombo-and-geographies-of-liberation/ 〉, letzter Zugriff 18. 1. 2022. 10 Vgl. Robinson, Black Marxism. 11 Vgl. Ruth Wilson Gilmore, Golden Gulag: Prisons, Surplus, Crisis, and Opposition in Globalizing California, Berkeley, Los Angeles 2007; Davis u. a., Abolition. Feminism. Now.

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spezifische Konstellation von gesellschaftlichen Kräften in der Zeit nach dem amerikanischen Bürgerkrieg, also zwischen 1860 und 1880.12 Eine Allianz heterogener Gruppen versuchte damals, sowohl das Kapital als auch die Arbeiter:innen entschieden gegen jegliche Formen von Versklavung zu positionieren. Die Leitidee dieser Bewegung war es, dass eine bloß formale Emanzipation nicht ausreicht, sondern seitens der ehemals versklavten Menschen auch die reale Möglichkeit beinhalten muss, an der politischen Selbstregierung zu partizipieren. Die Bewegung drängte daher auf volle Staatsbürgerrechte für ehemals Versklavte und deren Beteiligung an der politischen Entscheidungsfindung. Die Bewegung erkannte zudem schnell, dass politische Macht nur dann richtig ausgeübt werden kann, wenn sie durch wirtschaftliche Macht ergänzt wird, was dazu führte, dass sie die ökonomischen Grundlagen der US-Gesellschaft selbst in Frage stellte. Bei der Abolition geht es also nicht um die Integration ehemaliger Versklavter in bereits bestehende Strukturen, sondern um die Forderung nach einer grundlegenden Rekonfiguration dieser Strukturen. Damit verfolgten abolitionistische schwarze Bewegungen, die immer auch über schwarze Subjekte hinausgingen, eine grundsätzlichere Kritik nicht nur an der Versklavung, sondern auch am racial capitalism. Es ging ihnen nicht einfach um die Überführung von Versklavung in »freie« Lohnarbeitsverhältnisse – die nach Marx zugleich eine Form der Lohnsklaverei darstellen –, wie es bei den liberalen Abolitonist:innen der Fall war,13 sondern um die Abschaffung von Verhältnissen, gesellschaftlichen Reproduktions- und Beziehungsweisen, die Versklavung, Kolonialismus und rassifizierte Überausbeutung überhaupt erst möglich gemacht haben und damit auch Bedingung für die Lohnarbeitsform waren.14 Hier setzen auch neuere abolitionistische Bewegungen und Theorien an, die die Kontinuitäten von Versklavung und Kolonialismus, wenn auch unter anderen politökonomischen Vorzeichen im 12 Vgl. Du Bois, Black Reconstruction, S. 184 f., passim. Zum Zusammenspiel der negativen und der positiven Seite des Abolitionismus siehe Dilts, »Abolitionismus, Krise und Kritik«, im vorliegenden Band. Zum Demokratieverständnis der abolitionistischen Demokratie, siehe Angela Y. Davis, »Abolitionistische Demokratie«, im vorliegenden Band. 13 Vgl. Ehrmann/Thompson, »Abolitionistische Demokratie«. 14 Vgl. Robinson, Black Marxism, Kap. 1.

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neoliberalen Kapitalismus, analysieren und kritisieren. Dabei liegt ein besonderer Fokus auf den Arbeits- und Strafregimen sowie Gewaltmodalitäten nach der formalen Abschaffung der Versklavung in Amerika und der Karibik. So analysiert Angela Davis für die USA, wie sich die slave form auch nach der formalen rechtlichen Abschaffung von Versklavung reaktualisiert hat. Von besonderer Bedeutung war dabei der 13. Zusatzartikel der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika (der Versklavung zwar verbietet, Arbeitszwang jedoch für verurteilte Straftäter:innen erlaubt) und das convict-lease-System, das es Gefängnissen ermöglichte, Gefangene als Arbeitskräfte an private Firmen »auszuleihen«. »Das convict-­ lease-System«, so Davis, »hat die Beziehungen versklavter Arbeit in die Ära der Emanzipation hinübergetragen.«15 Zusätzlich haben die durch die Jim-Crow-Gesetze16 abgesicherte Segregation und die extralegale, durch Lynchmobs ausgeübte Gewalt17 Verhältnisse von »Versklavung unter anderem Namen«18 entstehen lassen. Abolitionismus nach der formalen Abschaffung von Versklavung nimmt damit die Kontinuitäten und Reartikulationen der Überausbeutung, nekropolitischen19 Gewalt und deren Verrechtlichung in den Blick und fokussiert gleichzeitig auf die Reflexion gelebter Erfahrungen, Widerstände und Theoretisierungen ehemals versklavter und kolonisierter Menschen. Gegenwärtige abolitionistische Ansätze, die sich besonders auf Gefängnisse, Polizei, Lager und Grenzregime konzentrieren, haben sich vor dem Hintergrund der Formationen des postkolonialen und post-slavery-Kapitalismus und Imperialismus sowie der Widerstände dagegen formiert. Radikalere Teile der Bürgerrechtsbewegung, Black-Power-Bewegungen und Gruppen, wie die Black Panther Party for Self-Defense (BPP) und später die Black Liberation Army, stellen dabei eine weitere Form des Abolitionismus ab der Mitte des 20. Jahrhunderts dar, die besonders durch die Dialektik zwischen Negation und Kon­ 15 Angela Y. Davis, Blues Legacies and Black Feminism, New York 1999, S. 103. 16 Die Jim-Crow-Gesetze bezeichnen ein politisch-rechtliches Regime rassistischer Segregation, welches speziell in den Südstaaten nach der formalen Abschaffung der Versklavung eingerichtet wurde und bis Mitte der 1960er Jahre in Kraft war. Dabei ging es vor allem um die rassistische Segregation auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt sowie im Bildungssystem und in öffentlichen Einrichtungen. 17 Vgl. Ida B. Wells, Southern Horrors: Lynch Law in All Its Phases, Boston 1892. 18 Douglas A. Blackmon, Slavery by Another Name, New York 2008. 19 Achille Mbembe, Necropolitics, Durham, 2019.

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struktion gekennzeichnet war. So war der Aktivismus der Black Panthers nicht nur durch militante Programme der Selbstverteidigung gegenüber der Polizei oder rassistischen Mobs charakterisiert, sondern vor allem auch durch Praktiken der gegenseitigen Hilfe und durch community-Programme, wie dem Free-Breakfast-Programm oder Free Health-Clinics,20 die zugleich auf die Möglichkeiten neuer und anderer Produktions- und Beziehungsweisen hinwiesen. Auch zeigte sich in den abolitionistischen Politiken der BPP, dass Abolitionismus sich stets community-übergreifend und transnational artikulierte. Mit der Rainbow-Coalition, die die BPP in Chicago mit den Young Lords (eine von Latinx geprägte Organisation) sowie den Young Patriots (eine vorwiegend weiße linke Organisation) einging, formten sie eine race-übergreifende Koalition, die besonders verarmte und kriminalisierte schwarze und weitere rassifizierte, aber eben auch weiße Gruppen mobilisierte. Dass sich BPP-Gruppen auch in Großbritannien gründeten und Netzwerke transnationaler Solidarität in Ländern Lateinamerikas, auf dem afrikanischen Kontinent sowie in Südostasien spannten,21 verweist auf den transnationalen Charakter abolitionistischer Politiken nach der formalen Abschaffung der Versklavung.

Abolitionismus in Europa In Europa hat der Abolitionismus bislang nicht den Status einer breiten Bewegung beanspruchen können. In den meisten europäischen Ländern bedurfte es erst der Impulse der US-amerikanischen Black-Lives-Matter-Bewegung, um eine breitere Diskussion über Rassismus und staatliche Gewaltformen anzustoßen. So ist es erstaunlich, dass seit dem Mord an George Floyd 2020 in den USA auch auf Demonstrationen in England, Frankreich und Deutschland das vom US-Footballspieler Colin Kaepernick geprägte Hin20 Vgl. exemplarisch Robyn C. Spencer, The Revolution Has Come: Black Power, Gender, and the Black Panther Party in Oakland, Durham 2016; auch Daniel Loick, »Rechtskritik und Abolitionismus. Die rechtsphilosophischen Lektionen der Black Panthers«, in: Juridikum, 3 (2019), S. 384-395. 21 Vgl. John Narayan, »British Black Power: The Anti-Imperialism of Political Blackness and the Problem of Nativist Socialism«, in: Sociological Review, 67/5 (2019), S. 945-967.

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knien (»Taking a knee«) als Zeichen der Solidarität mit den Opfern von Polizeigewalt allgegenwärtig geworden ist, während zuvor tödliche Polizeigewalt in Europa vergleichsweise wenig mediale Aufmerksamkeit erhalten hatte.22 Erst seit kurzem bezieht sich eine Reihe extrem heterogener politischer Spektren und Milieus auf den Begriff des Abolitionismus, um das Projekt einer grundlegenden Kritik an staatlicher Gewalt zu bestimmen. Dennoch ist der Abolitionismus in Europa nicht ohne Vorläufer. In Frankreich war 1975 das Erscheinen von Michel Foucaults Buch Überwachen und Strafen ein zentrales Ereignis, nicht nur um die (akademische und außerakademische) Öffentlichkeit auf die Realität in den französischen Gefängnissen aufmerksam zu machen, sondern auch um die Geburt des Gefängnisses als Paradigma der modernen Disziplinargesellschaft zu erklären und so die gesamtgesellschaftliche Bedeutung von Straf- und Einsperrungstechniken herauszustellen.23 Foucaults Genealogie des Gefängnisses war dabei von seinem eigenen politischen Engagement in der Group de l’Information sur le prison (GIP), der Gefängnisinformationsgruppe, inspiriert und begleitet.24 Die GIP formierte sich in einer Zeit zunehmender Gefängnisrevolten in den USA und in Frankreich, die jeweils durch einen steigenden Politisierungsgrad unter Gefangenen angeheizt wurden. Foucault, der seit Ende der 1960er Jahre persönliche Verbindungen zum Milieu der militanten Linken unterhielt, solidarisierte sich mit diesen Revolten. Die GIP führte eine Reihe von Befragungen mit Gefangenen zu ihren Haftbedin22 Kaepernick kniete sich 2016 vor mehreren Spielen während der Nationalhymne im Stadion hin, um gegen rassistische Polizeigewalt zu protestieren. Als Reaktion darauf wurde er von den Teams der National Football League entlassen, er hat seit 2016 kein Football in einem Stadion mehr gespielt. Bei den Black-Lives-Matter-Protesten 2020 wurde die Geste des Niederkniens ikonisch. Inzwischen ist Kaepernick abolitionistischer Aktivist; vgl. Colin Kaepernick (Hg.), Abolition for the People: The Movement for a Future without Prisons and Police, New York 2021. 23 Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 1975. – Zu einer Darstellung abolitionistischer Kämpfe in Frankreich seit den 1970er Jahren vgl. Joel Charbit, Gwenola Ricordeau, »Prison Abolition Movement in France«, in: Michael J. Coyle, David Scott (Hg.), The Routledge International Handbook of Penal Abolition, New York 2021, S. 160-171. 24 Zu Foucaults Engagement in der GIP vgl. Kevin Thompson, Perry Zurn (Hg.), Intolerable. Writings from Michel Foucault and the Prisons Information Group (1970-1980), Minneapolis 2021.

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gungen durch und setzte sich publizistisch und politisch für deren Verbesserung ein. Auch wenn dieser Aspekt in Überwachen und Strafen selbst nicht unbedingt deutlich wird, nimmt Foucault in seinen sonstigen Äußerungen durchaus einen abolitionistischen Grundgedanken vorweg, wenn er darauf insistiert, dass man die Frage nach einer »Gesellschaft ohne Gefängnisse« nicht getrennt von der Frage der gesellschaftlichen Hierarchien, der politischen Macht, des Staats und der Staatsapparate aufwerfen könne.25 Insbesondere seitens abolitionistischer Aktivist:innen of color wurde Foucaults Ansatz jedoch aufgrund seiner Vernachlässigung der Bedeutung von Rassismus sowohl innerhalb der gesamtgesellschaftlichen Ökonomie als auch zur Analyse der spezifischen Straftechniken in Gefängnissen zum Teil scharf kritisiert.26 Allerdings unterstreicht Foucault, der in den 1970er Jahren durchaus vom Aktivismus der Black Panthers und anderen Entwicklungen in den USA inspiriert war,27 besonders nach einem Besuch des Gefängnisses von Attica 1972, selbst die Rolle der Rassifizierung, wenn er sie auch nicht dezidiert analysiert.28 In Frankreich spielen heute von ihm inspirierte Ansätze sowohl für die Kritik des Justizsystems als auch für eine Theoretisierung der rassistischen Polizeigewalt (nicht nur) in den Banlieues weiterhin eine wichtige Rolle.29 Ein für die Theoriegeschichte des europäischen Abolitionismus ähnlich einflussreiches Buch ist die in Großbritannien von Stuart Hall und seinen Mitarbeitern verfasste Studie Policing the Crisis von 1978.30 Das Buch entstand in Halls letztem Jahr als Direktor des Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) in Birmingham 25 Michel Foucault, »Gefängnisse und Gefängnisrevolten«, im vorliegenden Band. 26 Vgl. Angela Y. Davis, »Racialized Punishment and Prison Abolition«, in Tommy Lee Lott, John P. Pittman (Hg.), A Companion to African-American Philosophy, Oxford 1988; Simone Browne, Dark Matters. On the Surveillance of Blackness, Durham 2015; Joy James, »Foucaults Schweigen vom Spektakel rassistischer Gewalt«, im vorliegenden Band. 27 Vgl. Brady Thomas Heiner, »Foucault and the Black Panthers«, in: City. Analysis of Urban Change, Theory, Action, 11/3 (2007), S. 313-356. 28 Vgl. Michel Foucault, »Michel Foucault über Attica«, in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. II, Frankfurt/M. 2002, S. 653-667. 29 Vgl. Geoffroy de Lagasnerie, Verurteilen. Der strafende Staat und die Soziologie, Berlin 2017; ders., Assa Traoré, »Der Kampf Adama«, im vorliegenden Band. 30 Vgl. Stuart Hall u. a., Policing the Crisis. Mugging, the State, and Law and Order, London 1978.

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und steht exemplarisch für den Anspruch des Instituts, die eigene Forschungsarbeit mit den realen Kämpfen der Unterdrückten zu verbinden. Hall und seine Co-Autoren analysieren darin die »Erfindung« des »Mugging«-Phänomens, also des Straßenraubs. Ausgehend von dem Fall eines älteren Mannes, der 1972 an einer Metrostation von drei Jugendlichen ausgeraubt und erstochen wurde, verwendeten die Medien erstmals den Begriff des »Mugging«, der zuvor nur auf die Verbrechenswelt der USA bezogen worden war. Die Autoren zeichnen detailliert nach, dass die Einführung dieses Begriffs durch das Zusammenspiel mehrerer Akteur:innen wie der Medien, der Politik, Gewerbetreibender, Richter:innen und der Polizei eine »moralische Panik« erzeugte, die auf keinerlei statistischen Wahrheiten basiert, dafür aber reale politische Auswirkungen hatte, etwa in Form einer Umdeutung des öffentlichen Diskurses (statt etwa Armut und sozialer Desintegration wird eine mit rassistischen Konnotationen versehene US-amerikanische »Kultur der Permissivität« für Verbrechen verantwortlich gemacht), einer Intensivierung städtischer Verdrängungspolitiken und einer Verschärfung von Strafen und öffentlicher Überwachung. Die Arbeit von Hall et al. kann nicht nur deshalb als Vorläufer abolitionistischer Kritiken verstanden werden, weil sie eine umfassende Analyse der soziostrukturellen Kontexte für die Legitimierung der Intensivierung staatlicher Gewalt liefert, die sich auch noch auf zeitgenössische moralische Paniken etwa in Bezug auf Drogen- oder »Flüchtlings«-Kriminalität anwenden lässt, sondern auch, weil sie eine generell antireformistische Stoßrichtung hat: Reformistische Lösungen, so die Autoren, beteiligen sich nur am Sozialmanagement der Verelendung, anstatt die grundsätzlichen Hintergrundbedingungen sozialer Exklusion anzugreifen. Es ist dieser explizit radikale Impuls, der auch gegenwärtigen Bewegungen gegen Polizeigewalt in Großbritannien und international noch wichtige Impulse gibt, wie sie sich etwa 2011 bei den London Riots nach der Erschießung von Mark Duggan durch die Londoner Polizei formiert haben.31 In einigen westeuropäischen Ländern, insbesondere in Skandinavien, den Niederlanden und Deutschland, wird seit den 1960er 31 Zum Polizeiabolitionismus, schwerpunktmäßig mit Texten aus dem britischen Kontext, vgl. den Sammelband von Koshka Duff (Hg.), Abolishing the Police, London 2021.

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und 1970er Jahren eine internationale strafrechtskritische Diskussion geführt, die unter dem Begriff Kritische Kriminologie firmiert. In Abgrenzung zur traditionellen Kriminologie, der die Funktion einer Reproduktion und Legitimierung einer ungerechten Klassenjustiz attestiert wird, geht es der Kritischen Kriminologie um die Infragestellung fundierender Annahmen über Kriminalität und abweichendes Verhalten. Viele Kritische Kriminolog:innen folgen dabei dem von dem US-amerikanischen Soziologen Howard Becker geprägten »Etikettierungsansatz« (labeling approach),32 der davon ausgeht, dass eine Handlung erst durch seine strafrechtliche Etikettierung »kriminell« wird.33 Demzufolge reagiert das Recht nicht erst nachträglich auf schädigendes Verhalten, sondern konstruiert erst ein bestimmtes Verhalten als schädigend, wobei dominante Vorurteile ebenso eine Rolle spielen wie populistische Affekte, politische Kampagnen und materielle Herrschaftsinteressen.34 In diesem Ansatz, der sich philosophisch zwischen linkem Liberalismus und marxistischen Analysen verortet, wird staatliches Strafen als Rest eines unaufgeklärten, mythischen Rachebedürfnisses diskreditiert, das zu einer Verschärfung sozialer Ausschlüsse beiträgt.35 Zugleich bemühen sich viele dieser Ansätze darum aufzuzeigen, dass sich geltende Normen auch anders als durch Strafen darstellen und Konflikte sich auf andere Weise besser schlichten lassen. Schon früh wurden neben Forderungen nach Entkriminalisierung etwa von Drogenkonsum, Sexarbeit oder jugendlicher Devianz auch die nach Abschaffung des Strafrechts und des Gefängnissystems insgesamt erhoben,36 die zum Teil auch realpolitische Erfolgsaussichten hatten.37 32 Vgl. Howard S. Becker, Außenseiter. Zur Soziologie abweichenden Verhaltens, Frankfurt/M. 1973. 33 Vgl. exemplarisch Fritz Sack, René König (Hg.), Kriminalsoziologie, Frankfurt/M. 1968; Helge Peters, Devianz und soziale Kontrolle. Eine Einführung in die Soziologie abweichenden Verhaltens, München 1989. 34 Vgl. Helga Cremer-Schäfer, Heinz Steinert, Straflust und Repression. Zur Kritik der populistischen Kriminologie, Münster 2014. 35 Vgl. exemplarisch Klaus Günther, »Kritik der Strafe«, im vorliegenden Band. 36 Vgl. Arno Plack, Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts, München 1974; Johannes Feest, Definitionsmacht, Renitenz und Abolitionismus. Texte rund um das Strafvollzugsarchiv, Wiesbaden 2020. 37 Vgl. exemplarisch Heinz Steinert, »Gegen-Institutionen und Gegen-Wissen im Strafrecht: am Beispiel des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie«, in Juridikum, 1 (2010), S. 37-45.

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Vor allem in Skandinavien und den Niederlanden, vereinzelt auch in Deutschland wurden diese Forderungen schon in den 1970er und 1980er Jahren explizit als abolitionistisch bezeichnet.38 Neue Diskussionen um das bürgerliche Strafbedürfnis sowie um Alternativen zum Strafen und zum Gefängnissystem knüpfen an diese Forderungen an.39 Politisch verortet sich die Gefängnis- und Strafrechtskritik in Deutschland eher in der Nähe des Bürgerrechtsspektrums, repräsentiert etwa durch das Komitee für Grundrechte und Demokratie und die Humanistische Union, sowie anfänglich in der Partei der Grünen. Auf diese Weise vermochten Vertreter:innen abolitionistischer Ansätze auch realpolitische Impulse zu geben, die – wenn auch oft in abgeschwächter Form – Eingang in Reformmaßnahmen gefunden haben, etwa zur Humanisierung des Strafvollzugs, zur akzeptierenden Drogenarbeit oder zu einer breiteren zivilgesellschaftlichen Kontrolle der Polizei. Eher lose waren die Verbindungen der Kritischen Kriminologie, die institutionell ja vor allem in den rechtswissenschaftlichen Fakultäten verankert war, zu anderen heterogenen politischen Initiativen, die ebenfalls abolitionistische Anliegen vertraten. Eine lange Tradition hat die Antirepressionsarbeit etwa im Rahmen der Solidaritätsarbeit mit politischen Gefangenen, wie sie beispielsweise die Rote Hilfe und in kleinerem 38 Vgl. Nils Christie, Grenzen des Leids, Bielefeld 1986; Thomas Mathiesen, The Politics of Abolition, London 1974; Herman Bianchi, Abolitionism: Towards a Non-Repressive Approach to Crime, Amsterdam 1986; Louk H. C. Hulsman, »The Abolitionist Case: Alternative Crime Policies«, in: Israel Law Review, 25/2-4 (1991), S. 681-709. Speziell zur Begriffs- und Theoriegeschichte des Abolitionismus in Deutschland siehe exemplarisch bereits Sebastian Scheerer, Heinz Steinert, »Abolitionismus – eine unbürgerliche Tradition«, in: Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hg.), Jahrbuch 1985, Köln 1985, S. 225-232; Helmut Pollähne, »Ausbruch aus dem Gefängnis des Knastsystems. 40 Jahre republikanischer Abolitionismus«, in: Jörg Arnold, Volker Eick (Hg.), 40 Jahre RAV, Münster 2019, S. 171-180. – Wir danken Johannes Feest, Sebastian Scheerer, Helmut Pollähne und Michèle Winkler vom »Netzwerk Abolitionismus« für wichtige Hinweise zur abolitionistischen Geschichte in der Bundesrepublik. 39 Vgl. etwa Malzahn, Strafe und Gefängnis; Franziska Dübgen, »Strafe als Herrschaftsmechanismus. Zum Gefängnis als Ort der Reproduktion gesellschaftlicher Machtverhältnisse«, in: Kritische Justiz, 50/2 (2017), S. 141-152; Daniel Loick, »Strafe muss nicht sein. Zur Kritik des Strafrechts auf nationaler und internationaler Ebene«, in: Zeitschrift für Menschenrechte, 6/1 (2012), S. 30-43.

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Maßstab das Anarchist Black Cross organisierte.40 Einen ähnlichen zeitgeschichtlichen Hintergrund wie die Kritische Kriminologie hat auch die Antipsychiatriebewegung, zu deren Hauptziel von jeher ein Ende von Zwangseinweisungen, Zwangsmedikationen und Fixierungen gehört, die in Deutschland etwa von Gruppen wie dem Sozialistischen Patientenkollektiv und der Irrenoffensive vertreten wurde.41 Die Autonome Frauenbewegung wies den patriarchalen Beschützeranspruch des Staates zurück und erstritt die Einrichtung autonomer Frauenhäuser gerade als Alternative zu einem polizeilichen Umgang mit häuslicher Gewalt. Seit den 1990er Jahren hat der No-Border-Aktivismus von Kampagnen wie »Kein Mensch ist illegal« und Selbstorganisationen von Geflüchteten wie der Gruppe Women in Exile mehrere Kampagnen gegen Abschiebeknäste und Lager durchgeführt. Gruppen und Initiativen von schwarzen Menschen und people of color in Deutschland, wie die Initiative im Gedenken an Oury Jalloh oder die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD), haben sich ungefähr gleichzeitig immer stärker mit dem vorenthaltenen Schutz der deutschen Sicherheitsbehörden bei rassistischen Pogromen und dann auch mit direkter rassistischer Polizeigewalt und Diskriminierung, etwa durch racial profiling, beschäftigt. In den letzten Jahren haben sich in mehreren Städten aus diesem Spektrum copwatch-Gruppen gegründet und Kampagnen gegen racial profiling formiert.

Themen und Motive Gefängnis Besonders mit der staatlichen Zerschlagung der Black-Power-Bewegung und der Kriminalisierung weiterer linker sozialer Bewegungen in den späten 1960er Jahren in den USA begann das Gefängnis 40 Vgl. exemplarisch BAMBULE, Das Prinzip Solidarität. Zur Geschichte der Roten Hilfe in der BRD, Hamburg 2013. 41 Zur antipsychiatrischen Bewegung siehe exemplarisch David Cooper, Psychia­ trie und Antipsychiatrie, Frankfurt/M. 1971; Erving Goffman, Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt/M. 1993; Arbeitsgemeinschaft Sozialpolitischer Arbeitskreise (Hg.), Reader zur Psychiatrie und Antipsychiatrie, Berlin 1978.

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zunehmend zu einem expliziten Knotenpunkt der Kritik und der Mobilisierung zu werden. Zwar hatten viele Aktivist:innen bereits selbst Gefängniserfahrungen gemacht, jedoch wurde das Gefängnis besonders vor dem Hintergrund der staatlichen Zerschlagung radikaler sozialer Bewegungen ein Ort der Kämpfe wie der Analyse. Hier sind besonders die Arbeiten und der Aktivismus von George Jackson zu nennen, der seit seinem jungen Erwachsenenalter regelmäßig im Gefängnis war und zu den wichtigsten Gefängnisabolitionist:innen der USA gehört.42 Jackson lieferte eine tiefgehende Analyse des Gefängnisses als Ort nekropolitischer Gewalt sowie der komplexen Verbindungen zwischen Plantagengesellschaften und Gefängnissen im Spätkapitalismus. Er verstand es zudem, besonders inhaftierte Menschen zu organisieren. Im Jahre 1966 gründete er mit W. L. Nolen die Black Guerilla Family im San Quentin State Prison, trat später der BPP bei und war (neben Fleeta Drumgo und John Clutchette) einer der drei Soledad Broth­ers, einer Gruppe von Gefängnisinsassen, der man die Tötung eines Gefängnisaufsehers im Rahmen eines Aufstands vorwarf. Im Jahr 1970 veröffentlichte Jackson unter dem Titel Soledad Brother: The Prison Letters of George Jackson Gefängnisbriefe, in denen er auch die Rolle des Gefängnisses und seine Expansion als Ausdruck des Übergangs für schwarze Menschen von Plantagengesellschaften zur »ökonomischen Sklaverei« (economic slavery) beschreibt, in deren Rahmen sie auf dem konkurrierenden Arbeitsmarkt sichtlich schlechter gestellt waren als weiße Arbeiter:innen.43 Jackson liefert damit wichtige Ansätze für die Analyse der Masseninhaftierung, wie sie später von abolitionistischen Theoretiker:innen und Aktivist:innen wie Angela Davis (die mit ihm befreundet war), Joy James und Ruth Wilson Gilmore weiterentwickelt wurde. Zugleich betrachteten diese »neuen Abolitionst:innen« Inhaftierte als politische Subjekte und das Gefängnis als »Verlängerung und Ausdruck des revolutionären Untergrunds, der Arbeitscamps von Verurteilten, den Folterkammern, familiärer Desintegra42 Vgl. Joy James, »George Jackson: Dragon Philosopher and Revolutionary Abolitionist«, in: Black Perspectives, 21. 8. 2018, 〈https://www.aaihs.org/george-jack son-dragon-philosopher-and-revolutionary-abolitionist/〉, letzter Zugriff 10. 1. 2022. 43 Vgl. George Jackson, Soledad Brother. The Prison Letters of George Jackson, New York 1970, S. 68.

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tion«.44 Jacksons Tötung bei einem Ausbruchsversuch führte auch zu den historischen Attica Rebellions, bis heute eines der wichtigsten Ereignisse im Kampf um die Verbesserung von Haftbedingungen und die politischen Rechte von Gefangenen weltweit. Während Jackson Zeuge einer Verdopplung der Gefängnispopulation von 1960 bis 1970 wurde, stieg die Gefängnispopulation in den letzten vierzig Jahren um fast 700 Prozent, obwohl die Kriminalitätsrate in den USA rückläufig war.45 Dabei lassen sich vor allem zwei durchaus verschränkte politische Konjunkturen beobachten, die mit dieser zunehmenden Masseninhaftierung zusammenhängen. Zum einen – dies beschreiben besonders Theoretiker:innen, die der Black Radical Tradition nahestehen und den Wandel kapitalistischer Konjunkturen auch mit Bezug auf Widerstände analysieren – ist der eklatante Anstieg der Inhaftierungsrate nicht ohne die staatliche Kriminalisierung radikaler sozialer Bewegungen zu denken. So wurden besonders durch den War on Drugs (»Krieg gegen die Drogen«) unter Richard Nixon, der nach der Rechtswissenschaftlerin Michelle Alexander eine Reaktualisierung der systematischen rassistischen Diskriminierung à la Jim Crow darstellt,46 auch die Antikriegsbewegung und radikale schwarze, braune und indigene Bewegungen kriminalisiert. In seinem Buch Incarcerating the Crisis beschreibt Jordan T. Camp, in Anlehnung an die Arbeiten Antonio Gramscis und Stuart Halls, dass der alleinige Fokus auf den War on Drugs jedoch nicht ausreiche, um die eklatante Masseninhaftierung seit den 1970er Jahren in den USA zu erklären. Vielmehr müsse diese als Ausdruck des langen »Gegenaufstands gegen schwarze Freiheit, Gewerkschaften und sozialistische Allianzen, die sich im Kampf um die Abschaffung von rassifizierten Jim-Crow-Regimen gebildet haben«,47 verstanden werden. Zum anderen ist Masseninhaftierung in den USA als Ausdruck des neoliberalen Übergangs vom sozialen Wohlfahrtstaat zum kar44 James, »George Jackson«. 45 Vgl. American Civil Liberties Union, »Mass Incarceration: Problems«, 〈https:// www.aclu.org/files/assets/massincarceration_problems.pdf〉 und dies., »Combatting Mass Incarceration: Facts«, 〈https://www.aclu.org/combatting-mass-incarcera tion-facts-0〉, letzter Zugriff 10. 1. 2022. 46 Vgl. Michelle Alexander, The New Jim Crow. Masseninhaftierung und Rassismus in den USA, München 2016. 47 Jordan T. Camp, Incarcerating the Crisis: Freedom Struggles and the Rise of the Neoliberal State, Berkeley 2016, S. 5.

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zeralen Staat und der Bestrafung der (rassifizierten) Armen zu deuten. In seinem bekannten Werk Bestrafen der Armen diskutiert der französische Soziologe Loïc Wacquant die Expansion des strafenden Staates und führt diese auf ökonomische Deregulierung, den strukturellen Umbau des Wohlfahrtsstaates und den Ausbau restriktiver Strafpolitiken zurück.48 Als neue Regulierungsweise der sozialen Unsicherheit trifft die karzerale und punitive Wende49 Schwarze, Latinx und Indigene dabei besonders hart. So ist die Inhaftierungsrate unter schwarzen Menschen in den USA fast fünfmal so hoch wie bei weißen Menschen, bei Latinx-Personen ist sie 1,3-mal so hoch.50 In ihrem einschlägigen Werk Golden Gulag analysiert die Geographin und Abolitionistin Ruth Wilson Gilmore den massiven Anstieg der Gefängnisbevölkerung in Kalifornien seit den 1980er Jahren bis 2007 und den Bau von über 23 neuen Maximum-Gefängnissen (im Kontrast zum Bau der ersten neun Gefängnisse über Hunderte von Jahren). Gilmore arbeitet in ihrem Buch ein komplexes Zusammenspiel multipler Krisen und der Produktion von Überschuss (von Arbeiter:innen, Land, von Finanzkapital und Staatskapazität) im kalifornischen Bundesstaat heraus, denen von staatlicher Seite mit Krisenregulierung durch karzerale Expansion begegnet wird. Diese »Gefängnislösung« (prison fix) ist nach Gilmore jedoch nicht analog zur Plantagenökonomie zu verstehen – ein wesentlicher Punkt in der Diskussion um die Kontinuitäten von Versklavung und den Bezug zu Karzeralität. So gehe es bei Gefängnissen gerade nicht vorrangig um (Über-)Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft als eine Kontinuität von Versklavung, so Gilmore,51 sondern um geographische »Lösungen« multipler Krisen des Staates, der sich selbst in einer Krise befindet.52 Angela Davis spricht hier, in Anlehnung an einen Begriff von Mike Davis, von einem »gefängnisindustriellen Komplex«, um die Verflechtung von Einsperrung und Kapitalismus zu bezeichnen.53 48 Vgl. Loïc Wacquant, Bestrafen der Armen. Zur neoliberalen Regierung der Unsicherheit, Opladen 2009. 49 Vgl. James Q. Wilson, Thinking about Crime, New York 1975. 50 Vgl. The Sentencing Project, »The Color of Justice«, 2021, 〈http://cdn.cnn.com/ cnn/2021/images/10/13/the-color-of-justice-racial-and-ethnic-disparity-in-sta te-prisons.pdf〉, letzter Zugriff 18. 1. 2022. 51 Vgl. Gilmore, Golden Gulag, S. 21. 52 Ebd.; vgl. auch dies., »Was tun?«, im vorliegenden Band. 53 Mike Davis, »Hell Factories in the Field: A Prison-Industrial Complex«, in: The

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Abolitionistische Perspektiven, die von Theoretiker:innen innerhalb wie außerhalb von Gefängnissen entwickelt werden, wenden sich von Gefängnissen als vermeintlicher »Lösung« gesellschaftlicher Problemlagen ab und plädieren und kämpfen für die Transformation gesellschaftlicher Produktions- und Beziehungsweisen. Das Gefängnis wird somit nicht als Antwort auf Gewalt, sondern als gewalt(re)produzierend verstanden. In ihrem bahnbrechenden Werk Eine Gesellschaft ohne Gefängnisse? (2003) hat Davis die These aufgestellt, dass wir die Isolierung, Demütigung und Entrechtung, die Menschen in Gefängnissen widerfahren, vor allem deswegen so bereitwillig akzeptieren, weil die Individualisierung sozialer Probleme davon entlastet, strukturelle Lösungen für sozioökonomische Probleme zu finden. Ihre Forderung nach einer allgemeinen Abschaffung von Gefängnissen wiederholt die schon von Du Bois formulierte Doppelbewegung: Abolitionismus bedeutet nicht einfach, dass etwas wegfällt, sondern geht mit der Neuerfindung von Institutionen der sozialen, politischen und kulturellen Teilhabe einher. Im Kontext der Gefängnisse bedeutet das, dass an die Stelle von Einsperrung, die schädigendes Verhalten nicht nur nicht zuverlässig bekämpft, sondern sogar verschärft, soziale Infrastrukturen etwa in Form von Gesundheitsversorgung, Wohnen und demokratischer Selbstbestimmung gestärkt werden müssen.54 Dabei gehen Abolitionist:innen wohlgemerkt nichtselektiv vor, das heißt, es geht nicht einfach um diejenigen Inhaftierten, die etwa wegen gewaltloser Drogen- oder Armutsdelikte einsitzen, auch wenn dies in einigen Kontexten die Mehrheit der Gefängnisbevölkerung darstellt. Für den US-Kontext gilt jedoch, dass ein Großteil der Menschen in staatlichen und bundesstaatlichen Gefängnissen wegen sogenannter Gewaltdelikte verurteilt worden sind. Der Fokus auf die »relativ Unschuldigen« (Gilmore) geht jedoch am Pro­ blem vorbei, da es Abolitionist:innen um die Kritik an organisierter staatlicher Gewalt sowie die Ursprünge von gesellschaftlichen Pro­ blemlagen und weniger um die Frage der »Unschuld« geht.55

Nation, 260/7 (1995), S. 229-234; Angela Y. Davis, »Gefängnisreform oder Abschaffung des Gefängnisses?«, im vorliegenden Band. 54 Vgl. Davis, »Gefängnisreform oder Abschaffung des Gefängnisses?«. 55 Gilmore, »Geographien des Abolitionismus«, S. 172-175.

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Todesstrafe Vor dem Hintergrund der Kriminalisierung und Inhaftierung radikaler sozialer Bewegungen in den späten 1960er Jahren und einer zunehmenden Bestrafung der rassifizierten Armen hat sich in den USA vor allem der Kampf gegen die Todesstrafe als ein wesentlicher abolitionistischer Kristallisationspunkt herausgebildet. Während fast alle westeuropäischen Länder nach dem Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg die Todesstrafe abgeschafft haben, ist sie in den USA in nur 23 von 50 Bundesstaaten verboten. Nach einer Aussetzung der Todesstrafe durch den Obersten Gerichtshof im Jahre 1967 wurde sie 1976 wieder für verfassungsgemäß erklärt, und Verurteilungen zur Todesstrafe haben sich von 1982 bis 2010 mehr als verdreifacht. In den letzten Jahren sind die Hinrichtungszahlen zwar gesunken, dennoch befinden sich derzeit 2504 Menschen im Todestrakt (on death row). Dabei ist auch hier eine intersektionale Perspektive auf den kapitalistischen »prison fix« wichtig, da schwarze Menschen 41 Prozent der Menschen im Todestrakt ausmachen (weiße Menschen 42 Prozent), obwohl sie nur 13 Prozent der Gesamtbevölkerung bilden. In den Bundesstaaten Texas und Nebraska machen rassifizierte Gruppen 73 beziehungsweise 75 Prozent der Menschen im Todestrakt aus.56 Es wird zudem geschätzt, dass über 10 Prozent der Menschen on death row an mentalen Vulnerabilitäten oder Erkrankungen leiden. Zudem gehören sie fast alle ökonomisch prekarisierten Milieus an. Abolitionistische Perspektiven auf die Todesstrafe setzen sich dabei nicht einfach für eine »bessere« oder »humanere« Form der Todesstrafe ein, sondern für deren ersatzlose Abschaffung nicht im, sondern als Teil der Abschaffung des Gefängnisses als Ganzem. Am Beispiel der Todesstrafe lässt sich auch der radikale Unterschied zwischen liberalen reformistischen Ansätzen und abolitionistischen Ansätzen erneut verdeutlichen.57 Gerade die Forderungen, die Todesstrafe durch eine lebenslange Freiheitsstrafe ohne die Möglichkeit der Bewährung (life without parole, LWOP) zu ersetzen, haben selbst zur Expansion des gefäng56 Vgl. Death Penalty Information Center, 〈https://deathpenaltyinfo.org/policy-is sues/race/ways-that-race-can-affect-death-sentencing〉, letzter Zugriff 10. 1. 2022. 57 Oder auch: reformistischen Reformen und nichtreformistischen Reformen, eine Unterscheidung, die auf den linken Sozialphilosophen André Gorz zurückgeht, siehe weiter unten.

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nisindustriellen Komplexes beigetragen. Für Abolitionist:innen handelt es sich hierbei nur um eine andere Form der Todesstrafe, da die lebenslange Freiheitsstrafe ein Leben effektiv beendet.58 Im internationalen Kontext ist wohl der Journalist Mumia Abu-Jamal, ehemaliger Black Panther und Mitglied der ökoanarchistischen Organisation MOVE, eine der bekanntesten Personen im Kampf gegen die Todesstrafe sowie gegen LWOP.59 Abu-Jamal wird vorgeworfen, während der Verhaftung seines Bruders im Dezember 1981, bei der er selbst lebensgefährlich verletzt wurde, einen Polizisten erschossen zu haben. Am 3. Juli 1982 wurde Abu-Jamal nach einem Verfahren voller rassistischer Parteilichkeit und Intention seitens des Richters, der Staatsanwaltschaft und der Polizei sowie Falschaussagen und Manipulation von Zeug:innen einstimmig zum Tode verurteilt. Bis Januar 2012 wurde Mumia Abu-Jamal on death row und damit in Einzelhaft gehalten.60 In den Jahren 1995 und 1999 wurden zwei terminierte Exekutionen abgesagt. 2001 wurde das Todesurteil durch das Bezirksgericht aufgehoben, worauf der Staat Pennsylvania Berufung einlegte. Abu-Jamals Antrag auf eine Neuaufnahme seines Verfahrens im Jahr 2008 wurde abgewiesen. Im Dezember 2011 akzeptierte die Staatanwaltschaft die Umwandlung seiner Strafe in LWOP. Doch wie bereits angemerkt, ist auch Abu-Jamals lebenslängliche Haftstrafe eine Form der Todesstrafe. Allein die Einsperrung von Menschen in Käfigen, ob schuldig oder nicht, ist eine Form der nekropolitischen Gewalt, 58 Seit 2003 sind LWOP-Urteile bis zu 66 Prozent angestiegen, und eine von sieben Personen in US-Gefängnissen sitzt mit LWOP ein. Siehe die Daten des Sentencing Project, 〈https://www.sentencingproject.org/publications/no-end-in-sight-ameri cas-enduring-reliance-on-life-imprisonment/〉, letzter Zugriff 10. 1. 2022. 59 Auch wenn wir hier auf den Fall von Abu-Jamal eingehen, möchten wir da­ rauf hinweisen, dass viele weitere politische Aktivist:innen wie Mutulu Shakur, Leonard Peltier, Veronza Bowers und viele mehr seit mehreren Jahrzehnten inhaftiert sind und drohen hinter Gittern zu sterben. Gerade auch jüngere abo­ litionistische Bewegungen sollten diese und weitere »new abolitionists« nicht vergessen. Siehe auch Joy James, »Airbrushing Revolution for the Sake of Abolition«, in: Black Perspectives (2020); 〈https://www.aaihs.org/airbrushing-re volution-for-the-sake-of-abolition/〉, letzter Zugriff 18. 1. 2022. 60 Um Mumia Abu-Jamals unmenschliche Haftbedingungen und deren Analysen geht es auch in seinem Beitrag »Weihnachten im Käfig« sowie in der dazugehörigen Einleitung seines Freundes und Übersetzers Michael Schiffmann im vorliegenden Band.

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die auch auf den sozialen Tod abzielt, denn die Frage der Schuld ist bereits Teil der Logik von Karzeralität, wie Gilmore argumentiert.61 Zudem führt die Verweigerung jeglicher Rechte auf gesundheit­ liche Versorgung, gesunde Ernährung und sozialen Kontakt zu frühzeitigen Toden.62

Polizei Wie bereits oben verdeutlicht, beziehen sich neuere Abolitionismen nicht nur auf Gefängnisse. Seit den Black-Lives-Matter-Protesten als Reaktion auf den Mord an George Floyd 2020 hat besonders die abolitionistische Kritik der Polizei breite Aufmerksamkeit erfahren.63 Zugleich gehörten politische Mobilisierungen gegen die Polizei auch vor der Expansion des strafenden Staates bereits zum Inventar antikolonialer und antirassistischer Theorien und Kämpfe, wie auch die Arbeiten Frantz Fanons64 und Walter Rodneys65 zeigen, in denen der Zusammenhang von Polizei und kolonialer Kon­trolle sowie die Rolle der Polizei für die Zerschlagung antikolonialen Widerstands diskutiert werden.66 Auch während der Kämpfe der 1960er und 1970er Jahre in den USA, aber auch in Großbritannien oder Südafrika wurde die Kritik an der Polizei zum politischen Kristallisationspunkt. Diese Kritik lehnt sich an marxistischen Analysen der Polizei 61 Vgl. Gilmore, »Geographien des Abolitionismus«. 62 Abu-Jamal wurde erst 2017 wegen seiner Hepatitis-C-Erkrankung medizinisch behandelt, die bereits 2012 diagnostiziert wurde und infolge deren er an einer Leberzirrhose leidet. Zudem hat er eine chronische Herzinsuffizienz und schwere Diabetes, litt über längere Zeit an einem wundoffenen Hautausschlag und kämpft derzeit mit den Folgen einer Covid-19-Erkrankung. 63 Vgl. exemplarisch Kaba, We Do This; Purnell, Becoming Abolitionists; Duff (Hg.), Abolishing the Police; Vanessa E. Thompson, »There Is No Justice, There Is Just Us! Ansätze zu einer postkolonial-feministischen Kritik der Polizei am Beispiel von Racial Profiling«, in: Daniel Loick (Hg.), Kritik der Polizei, Frankfurt/M. 2018, S. 197-219; Alex S. Vitale, »Grenzen der Polizeireform«, im vorliegenden Band. 64 Vgl. Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt/M. 1981. 65 Vgl. Walter Rodney, How Europe Underdeveloped Africa, London 1973. 66 Zu einer Historisierung gegenwärtiger Kämpfe gegen rassistische Polizeigewalt als Kontinuität antikolonialer Kämpfe im UK-Kontext siehe die Arbeit von Adam Elliott-Cooper, Black Resistance to British Policing, Manchester 2021.

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und ihrer Funktion zum Erhalt und Schutz kapitalistischer Eigentumsverhältnisse sowie der Repression von Arbeiter:innenbewegungen an,67 liefert jedoch eine tiefergehende Analyse der Polizei und ihrer Artikulationsweise entlang rassifizierter Differenz.68 Dabei wird zum einen auf die Historizität der Polizei verwiesen und ihre Rolle in der Kriminalisierung der Armen, besonders rassifizierter Gruppen wie Rom:nja und Sinti:zze, und der Mobilisierung von mittellosen Personen für die kapitalistische Ausbeutung in Europa betont. Zum anderen verweisen Polizeiabolitionist:innen auch auf die exponentielle polizeiliche Gewalt zur Mobilisierung und Reproduktion von versklavten Menschen als Eigentum (auf den Sklavenschiffen und auf den Plantagen),69 die institutionellen Ursprünge der US-amerikanischen Polizei in den slave patrols (Milizen, die sich um das Einfangen entflohener versklavter Menschen kümmern sollten),70 die Rolle zwischen Polizei und Überausbeutung in den Kolonien71 sowie die Funktion der Polizei im Nationalsozialismus.72 Polizei, als allgemeines kapitalistisches Gewaltverhältnis, wirkt differentiell: Sie hat auf unterschiedliche Menschen unterschiedliche Auswirkungen. So machen rassifizierte arme und migrantische Menschen schon lange darauf aufmerksam, dass sich polizeiliche Gewalt für sie nicht auf die Teilnahme von Demonstra­ tionen oder Arbeitskämpfe beschränkt, vielmehr handelt es sich um 67 Vgl. exemplarisch Kristian Williams, Our Enemies in Blue. Police and Power in America, Oakland 2015. 68 Vgl. Robyn Maynard, »Über Staatliche Gewalt und Schwarze Leben«, im vorliegenden Band; Singh, »Das Weißsein der Polizei«; Lagasnerie/Traoré, »Der Kampf Adama«; Elliott-Cooper, Black Resistance to British Policing; Thompson, »There Is No Justice, There Is Just Us!«. 69 Vgl. Singh »Das Weißsein der Polizei«; Rinaldo Walcott, On Property: Policing, Prisons, and the Call for Abolition, Windsor 2021. 70 Vgl. Sally E. Hadden, Slave Patrols: Law and Violence in Virginia and the Carolinas, Cambridge 2001. 71 Vgl. Fanon, Die Verdammten dieser Erde; Emmanuel Blanchard u. a. (Hg.), Policing in Colonial Empires Cases, Connections, Boundaries (ca. 1850-1970), Brüssel 2017. 72 Vgl. exemplarisch die einschlägigen Studien zum berüchtigten Reservebataillon 101, das an zentraler Stelle an der Durchführung des Holocaust beteiligt war, von Christopher Browning, Ganz normale Männer: Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die »Endlösung« in Polen, Hamburg 1993, und Daniel J. Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker: Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996.

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eine alltägliche staatliche Konfrontation, die ihre gelebte Erfahrung durchzieht.73 Besser situierten weißen Menschen bietet sich die Polizei demgegenüber als Werkzeug zur Durchsetzung der eigenen ökonomischen Interessen oder phantasmatischen Sicherheitsbedürfnisse an.74 Diese Differenz hat auch eine spezifische Geographie: Während sie in manchen Gebieten wie eine Besatzungsmacht agiert, dient sie den Gated Communities als Türsteher.75 Zugleich lassen sich auch in Europa vielseitige Widerstandsformen beobachten, die nicht erst in den letzten Jahren die politische Landschaft prägen. So zeigt Adam Elliott-Cooper in seiner Arbeit zu schwarzen Widerständen gegen Polizeigewalt in Großbritannien, dass die Anwerbung von migrantischen Arbeiter:innen aus den ehemaligen Kolonien Mitte des 20. Jahrhunderts mit einem »Rückimport« polizeilicher Techniken und Strategien in die Zentren des Empires einherging. Zugleich nahmen damit auch die Aufstände in den Städten gegen Polizieren sowie Proteste migrantischer und rassifizierter Arbeiter:innen gegen Polizeigewalt zu.76 Auch in Frankreich zeigt sich besonders am polizeilichen Umgang mit algerischen Arbeiter:innen und der Zerschlagung von Protesten in Solidarität mit der algerischen Befreiungsbewegung eine Form dieses polizeilichen »Boomerang-Effekts«, um mit Aimé Césaire zu sprechen.77 Ab den 1970er Jahren kommt es regelmäßig zu Aufständen in den rassifizierten Arbeiter:innenvierteln französischer Großstädte,78 oft nach Tötungen von Jugendlichen durch die Polizei, und die polizeiliche Kriminalisierung der Vorstadtjugendlichen wird zuneh73 Siehe die Arbeit der Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt 〈https:// kop-berlin.de/〉, letzter Zugriff 18. 1. 2022; sowie das von ihr herausgegebene Buch Alltäglicher Ausnahmezustand. Institutioneller Rassismus in deutschen Strafverfolgungsbehörden, Münster 2016; für den Schweizer Kontext Mohamed Wa Baile u. a. (Hg.), Racial Profiling. Struktureller Rassismus und antirassistischer Widerstand, Bielefeld 2019; vgl. auch bereits FFM Forschungsgesellschaft Flucht und Migration, ›Sie behandeln uns wie Tiere‹. Rassismus bei Polizei und Justiz in Deutschland, Berlin 1997. 74 Vgl. Singh, »Das Weißsein der Polizei«. 75 Vgl. Lagasnerie/Traoré, »Der Kampf Adama«. 76 Vgl. Elliott-Cooper, Black Resistance. 77 Vgl. Aimé Césaire, Discourse on Colonialism, New York 2000, S. 41; Emmanuel Blanchard, La police parisienne et les Algériens 1945-1962, Paris 2011. 78 Vgl. Mustafa Dikeç, Badlands of the Republic: Space, Politics and Urban Policy, New Jersey 2007.

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mend als feindliche Belagerung wahrgenommen und thematisiert.79 Auch in der Bundesrepublik Deutschland spielt rassistisches Polizieren nicht erst seit kurzem eine Rolle. So finden sich in den gelebten Archiven von Rom:nja und Sinti:zze, Gastarbeiter:innen sowie schwarzen und braunen Menschen mit und ohne formale Staatsbürger:innenschaft Tausende Anekdoten, Erzählungen und Lieder von der Gewalt rassistischen Polizierens.80 Berichte zum sogenannten Hamburger Polizeiskandal im Jahr 1994, die Widerstände gegen Abschiebungen und polizeiliche Aggressionen in Rom:nja- und Sinti:zze-communities sowie die vielen Initiativen und Mobilisierungen von Angehörigen, die sich vor allem ab den 2000er Jahren nach der polizeilichen Tötung von vor allem schwarzen Menschen wie Oury Jalloh, Achidi John, Dominique Koumadio, Christy Schwundeck und vielen weiteren gründen, deuten auf die Geschichten und Vorläufer:innen des Widerstands gegen Polizieren auch in Deutschland. Viele der Initiativen verweisen dabei immer wieder auf die Verbindungen von polizeilichem Rassismus mit Rassismus in der Justiz und weiteren staatlichen Institutionen und haben längst die Aufklärungsarbeit der Todesfälle selbst in die Hand genommen.81 Weitere selbstorganisierte Gruppen und Initiativen wie die Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (KOP) und copwatch-Gruppen dokumentieren rassistisches Polizieren und unterstützen betroffene Personen, entwickeln Kampagnen zur Sensibilisierung dem Thema gegenüber und fordern zunehmend auch eine Definanzierung von Polizeien und weiteren Sicherheitsbehörden bei gleichzeitigem Ausbau von Strukturen sozialer Gerechtigkeit und Teilhabe sowie der radikalen Transformation gesellschaftlicher Produktions- und Beziehungsweisen. Abolitionistische Perspektiven auf die Polizei lassen sich demnach weder auf die Polizei noch auf die Umverteilung von Ressourcen reduzieren. Vielmehr geht es auch hier um einen 79 Vgl. dazu auch die Studie von Didier Fassin, Enforcing Order. An Ethnography of Urban Policing, London, New York 2013. 80 Siehe beispielsweise die Tracks »Fremd im eigenen Land« von Advanced Chemistry; »Zwei Freunde« von Duo-Z oder auch »Oury Jalloh« von Matondo sowie »Morts pour rien« von Kery James, Akhenaton, Diams, Kool Shen. 81 Siehe besonders die Initiative im Gedenken an Oury Jalloh: 〈https://initiative ouryjalloh.wordpress.com/〉, letzter Zugriff 18. 1. 2022.

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transformativen Ansatz der Gesellschaftskritik, der gesellschaftliche Strukturen in den Blick nimmt, die Polizieren überhaupt erst ermöglichen und legitimieren.82 Zudem beziehen abolitionistische Perspektiven auch Fürsorgeregime83 und weitere repressive Institutionen wie psychiatrische Einrichtungen84 ein und beschränken sich damit keineswegs auf die Polizei als Institution. Vielmehr geht es um Polizieren als institutionelle Praxis, die auch weitere gesellschaftliche Institutionen und Strukturen durchzieht. Damit geht es auch nicht einfach um einen Austausch von Polizei und Sozial­ arbeiter:innen oder den Ausbau von psychiatrischen Einrichtungen, denn auch diese Institutionen haben eine lange Geschichte der Unterdrückung und Kriminalisierung, sondern um die Herstellung von sozialer Gerechtigkeit sowie die Entindividualisierung von gesellschaftlichen Problemlagen und die Anerkennung der Selbstbestimmung betroffener Personen.

Militär Zu einem weiteren grundlegenden Themenfeld des Abolitionismus gehört, auch wenn dies oft in den Hintergrund gerät, der Antimilitarismus und der Widerstand gegen den militärisch-industriellen Komplex. Darauf verweisen beispielsweise auch die begriffliche Nähe zwischen dem militärisch-industriellen und dem gefängnis-industriellen Komplex sowie die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Polizei und zunehmender Militarisierung. Aber auch historisch betrachtet spielte der Antimilitarismus eine grundlegende Rolle in der abolitionistischen Ideengeschichte und politischen Mobilisierung. W. E. B Du Bois engagierte sich bis ins hohe Alter sehr aktiv in der internationalen Antikriegsbewegung und war in den 1950er Jahren Vorsitzender des Peace Information Center in New York, das sich für globale Entmilitarisierung und 82 Vgl. Amna A. Akbar, »Reform (der Polizei) – ein abolitionistischer Horizont«, im vorliegenden Band. 83 Dorothy Roberts, »Abolishing Policing Also Means Abolishing Family Regulation«, in: The Imprint, 16. 6. 2016, 〈https://imprintnews.org/child-welfare-2/ abolishing-policing-also-means-abolishing-family-regulation/44480〉, letzter Zugriff 18. 1. 2022. 84 Vgl. Liat Ben-Moshe, Decarcerating Disability. Deinstitutionalization and Prison Abolition, Minneapolis, London 2018.

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atomare Abrüstung einsetzte. Auch in seinen Arbeiten thematisierte er die Verknüpfung von Antirassismus, Antikolonialismus und Sozialismus mit der Notwendigkeit, globaler und imperialer Kriegsführung ein Ende zu setzen.85 Radikale schwarze antikoloniale Aktivist:innen wie Claudia Jones und Louise Thompson Patterson waren ebenfalls überzeugte Antimilitarist:innen und Teil der Tradition eines »radikalen schwarzen Friedensaktivismus«.86 Frantz Fanon betonte in Die Verdammten dieser Erde bereits den inhärenten Zusammenhang von Militär und Polizei, die in den Kolonien oftmals keine separaten Einheiten darstellten, zumindest aus Perspektive der Kolonisierten. Theoretiker:innen und Aktivist:innen der Black-Power-Bewegung sowie weitere radikale linke soziale und antikoloniale Bewegungen betonten zudem die Verbindungen zwischen internem Polizieren und externem imperialen Militarismus.87 Vor dem Hintergrund der militaristischen Globalisierung, des Disastermilitarismus und der Expansion transnationaler Kriegsökonomien,88 die zu einem erheblichen Teil für die Flucht und Vertreibung von mehr als 82,4 Millionen Menschen (neben oder auch in Verbindung mit den Folgen der Klimakatastrophe) verantwortlich sind, nehmen abolitionistische Perspektiven nicht nur die transnationalen Kontinuitäten und Verwobenheiten militärischer Strategien und Technologien in den Blick, sie argumentieren darüber hinaus, dass militärische Konflikte und Interventionen nicht nur keine Sicherheit herstellen können, sondern aktiv strukturelle Gewalt und sozioökonomische, ökologische und politische Unsicherheiten und vergeschlechtlichte Gewalt hervorbringen.89 Dabei 85 Siehe auch Charisse Burden-Stelly, »In Battle for Peace During ›Scoundrel Time‹: W. E. B. Du Bois and United States Repression of Radical Black Peace Activism«, in: Du Bois Review: Social Science Research on Race, 16/2 (2019), S. 555-574. 86 Ebd. 87 Vgl. James, »Foucaults Schweigen«. 88 Im Jahr 2019 wurde weltweit der größte Anstieg von Militärausgaben seit 1988 verzeichnet, insgesamt 1,92 Billionen US-Dollar. Zwar lassen die USA viele Länder in Bezug auf Militärausgaben weit hinter sich, im Verhältnis zu ihrem Bruttoinlandsprodukt übertreffen jedoch auch viele Länder diese Ausgaben; siehe 〈https://www.sipri.org/media/press-release/2020/global-military-expendi ture-sees-largest-annual-increase-decade-says-sipri-reaching-1917-billion〉, letzter Zugriff 10. 1. 2022. 89 Vgl. Margo Okazawa-Rey, Amina Mama, »Militarism, Conflict and Women’s

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betonen abolitionistische Theoretiker:innen und Aktivist:innen, dass sich, genau wie Gefängnisse oder Polizeien, Militär und Militarisierung nicht ethisch reformieren lassen und deshalb abgeschafft gehören, um in Sicherheit leben zu können.

Grenzen und Lager Forderungen wie »No Lager«, »Abolish All Camps«, »No Border« oder »Free Movement« wurden schon seit den 1960er Jahren von selbstorganisierten Geflüchteteninitiativen gegen die Abschottungs­ politik der »Festung Europa« in Anschlag gebracht,90 die zwischen 1993 und 2021 mindestens 44 764 Menschen das Leben gekostet hat.91 In ganz Amerika, mit der US-mexikanischen Grenze als besonderem Kristallisationspunkt migrantischer Kämpfe, verweisen Slogans wie »We Didn’t Cross the Border, the Border Crossed Us« auf den kolonialen Ursprung der modernen Nationenbildung. Im Rahmen der Black-Lives-Matter-Proteste der 2010er Jahre ist es gelungen, die Forderung »Abolish ICE«, also die Abschaffung der US-amerikanischen Abschiebepolizei Immigration and Customs Enforcement (ICE), zu einer realpolitischen Option zu machen, die sogar von großen Teilen der demokratischen Partei unterstützt wird. Der Kampf gegen die staatlich organisierte Gewalt in Form von Abschiebegefängnissen und Lagern, Stacheldraht und Personalausweisen, Deportation und Internierung ist schon auf den ersten Blick Teil der abolitionistischen Agenda. Die Kampagnenarbeit folgt dabei derselben doppelten Ausrichtung wie auch der gefängnis- und Activism in the Global Era: Challenges and Prospects for Women in Three West African Contexts«, in: Feminist Review, 101 (2012), S. 97-123. 90 Zum deutschen Kontext bereits cross the border (Hg.), Kein Mensch ist illegal. Ein Handbuch zu einer Kampagne, Berlin 1999; als Überblick Manuela Boja­ dzijev, Die windige Internationale. Rassismus und Kämpfe der Migration, Münster 2008; zum europäischen Kontext Natasha King, No Borders. The Politics of Immigration Control and Resistance, London 2016; zum britischen Kontext Leah Cowan, Border Nation. A Story of Migration, London 2021; zum nordamerikanischen Kontext Harsha Walia, Undoing Border Imperialism, Oakland 2013. 91 Die Menschenrechtsorganisation United for Intercultural Action dokumentiert diese Fälle auf Grundlage verlässlicher Daten in einer fortlaufenden Liste; siehe 〈http://unitedagainstrefugeedeaths.eu/about-the-campaign/about-the-unitedlist-of-deaths/〉, letzter Zugriff 10. 1. 2022.

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der polizeiabolitionistische Aktivismus: Einerseits richtet sie sich gegen bestehende Formen staatlicher Gewalt, wie sie sich etwa in Abschiebungen, Militarisierung der Grenzen und ökonomischer Prekarisierung für illegalisierte Menschen ausdrücken, andererseits geht es auch um die Neuerfindung von Institutionen der demokratischen und sozialen Teilhabe für Geflüchtete und Migrant:innen, also um Aufenthalts- und Mitbestimmungsrechte sowie Rechte auf Unterkunft, Arbeit und Kommunikation im Rahmen einer gesellschaftlichen Transformation, in der globale postkoloniale Reproduktionsweisen, die Migrations- und Arbeitsregime strukturieren, neu arrangiert werden – diese Doppelbewegung wird häufig auf das »Recht zu gehen und zu bleiben« zugespitzt, unterläuft aber zugleich eine Anrufung liberaler oder auch hospitalistischer Rechtsdiskurse. Aktivistische Praktiken reichen dabei von der direkten Sabotage der Abschiebe- und Abschottungsinfrastruktur über klassische Formen des zivilen Ungehorsams und der Solidaritätsarbeit bis zur privat organisierten Seenotrettung, bei der direkt vor Augen steht, dass die unmittelbare Rettung von Menschenleben nur durch einen Bruch positiven Rechts möglich ist. Der abolitionistische Ansatz formiert sich dabei in Abgrenzung zu reformistischen Strategien, die sich eher auf Inklusion, Integration, Gastfreundschaft oder humanitäre Hilfe fokussieren, dabei aber racial capitalism, den Nationalstaat und das liberale Rechtssystem als politischen Rahmen unangetastet lassen.92 No-Border-Politiken basieren auf der Analyse, dass Grenzen Teile eines imperialen Prozesses der staatlichen Formierung sind, die auf Enteignung und Vertreibung indigener Bevölkerungen und einer rassistischen Differenzierung des Erwünschtheitsgrads der Weltbevölkerungen beruhen.93 Sie insistieren ferner auf der simplen Einsicht, dass die kapitalistische Weltordnung, solange sie auf massivem Ressourcen­ extraktivismus, ökologischer Zerstörung, geostrategischen Militärinterventionen, massiver Verarmung und Vernachlässigung von großen Teilen der Weltbevölkerung beruht, weiterhin globale Migrations- und Fluchtbewegungen produzieren wird. Weil das 92 Vgl. Ida Danewid, »›These Walls Must Fall‹: The Black Mediterranean and the Politics of Abolition«, in: The Black Mediterranean Collective (Hg.), The Black Mediterranean. Bodies, Borders and Citizenship, Cham 2021, S. 145-166. 93 Vgl. Harsha Walia, Border and Rule. Global Migration, Capitalism, and the Rise of Racist Nationalisms, Chicago 2021.

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ethnozentrisch angelegte Territorialitätsprinzip des Nationalstaats gleichzeitig nicht in der Lage ist, diese Migrationsbewegungen innerhalb seiner eigenen Rationalität abzubilden, besteht die einzige Alternative zur massiven Ausgrenzung, Entrechtung und dem Sterbenlassen (und -machen) in der grundsätzlichen Neuerfindung der Institutionen der demokratischen Selbstregierung, inklusive einer Neukonzeptionen grundlegender Kategorien wie der Staatsbürgerschaft. Wer hingegen reformistisch am nationalen Rahmen festhält, trägt zur Reproduktion der Logik der Exklusion, Spaltung und potentiell der Eliminierung menschlichen Lebens bei.94 Paul Gilroy hat mit dem Begriff des »Black Atlantic« eine kulturelle Formation beschrieben, die zum einen von den Machtlinien des transatlantischen Versklavungshandels, dem Kolonialismus und dem gewaltvollen Wechselspiel von Migration und Deportation durchzogen ist, zum anderen aber auch in der Diaspora eine multinationale, multiethnische und multikulturelle Gegenkultur und -politik fabriziert, die von keinen Grenzen eingefangen werden kann und die die Grundlage eines schwarzen Widerstands gegen die Homogenisierungstendenzen des Nationalstaats bildet.95 Analog dazu sprechen Kulturtheoretiker:innen in Anlehnung an Cedric Robinson inzwischen auch von einem »Black Mediterranean« – ein Begriff, der von Alessandra Di Maio eingeführt wurde –, also dem Mittelmeer als einer spezifischen hybriden Konstellation, die von den transkontinentalen Spannungsfeldern von Handel und Eroberung, Mobilität und Internierung, Migration und Abschottung geprägt ist, in der sich Europa in Abgrenzung zu seinem afrikanischen Anderen beständig neu erfindet, dabei unweigerlich jedoch auch Räume für Aneignungen und Subversionen produziert.96 In 94 Vgl. Daniel Loick, »Das Anrecht auf Grausamkeit. Recht und Affekt; Moria, abolitionistische Strategien«, in: Kritische Justiz, 53/3 (2021), S. 348-360; Nandita Sharma, Home Rule. National Sovereignty and the Separation of Natives and Migrants, Durham 2020. 95 Vgl. Paul Gilroy, The Black Atlantic. Modernity and Double Consciousness, Cambridge (MA) 1993. 96 Vgl. SA Smythe, »The Black Mediterranean and the Politics of Imagination«, in: Middle East Report, 286 (2018), S. 3-9, Jeanette Ehrmann, »Schwarzes Mittelmeer, weißes Europa. Kolonialität, Rassismus und die Grenzen der Demokratie«, in: Zeitschrift für Praktische Philosophie, 89/1 (2021), S. 419-466; Black Mediterranean Collective (Hg.), The Black Mediterranean.

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diesem Kontext kann die flüchtige oder migrantische Konvivialität, die sich unter den gewaltförmigen Bedingungen der neokolonialen Konfrontation des Nordens und des Süden erzwungenermaßen ergibt, auch die Grundlage für ein Zusammenleben jenseits von Grenzen und Nationen bilden. Migrantische communities, ob auf der Flucht,97 in den Grenzgebieten98 oder in den Diasporas der Großstädte,99 dementieren nicht nur die nativistischen Reinheitsphantasien hegemonialer Konzeptionen von Bürgerschaft, sondern antizipieren auch Formen transnationaler Zugehörigkeit, Mobilität und Öffentlichkeit. Ein prägnantes Beispiel, abolitionistische Kämpfe gegen die Gewalt der Grenzen mit der Etablierung postterritorialer Formen von Kohabitation zu verbinden, besteht in der Erstreitung von Sanctuary oder Solidarity Cities, die sich in den letzten Jahren in Europa und Nordamerika als Gegengewicht zu der restriktiver werdenden Asyl- und Migrationspolitik vermehrt haben.100 Die Strategie, abo­ litionistische Modelle der Zugehörigkeit aus der Perspektive der Stadt heraus zu entwickeln, ermöglicht es nicht nur, lokale und globale Kämpfe miteinander zu verbinden, sondern lässt auch die Möglichkeit einer nicht länger nationenbasierten Konzeption von Solidarität und Zugehörigkeit in der konkreten Lebenswelt erfahrbar werden. Abolitionistische Demokratie bringt so die Grundidee   97 Vgl. Gloria Anzaldúa, Borderlands/La Frontera. The New Mestiza, San Francisco 1987.   98 Vgl. Viktoria Zerda, »Coyote Commune«, in: Commune, 20. 11. 2019, 〈https:// communemag.com/coyote-commune/〉, letzter Zugriff 10. 1. 2022.   99 Vgl. Paul Gilroy, After Empire. Melancholia or Convivial Culture?, London 2004. 100 Vgl. Jennifer Bagelman, Sanctuary City. A Suspended State, London 2016; Peter Nyers, »Community without Status: Non-Status Migrants and Cities of Refuge«, in William Coleman, Diana Brydon (Hg.), Renegotiating Community: Interdisciplinary Perspectives, Global Contexts, Vancouver 2008, S. 123-138; Vicki Squire, »From Community Cohesion to Mobile Solidarities: The City of Sanctuary Network and the Strangers into Citizens Campaign«, in: Political Studies, 59 (2011), S. 290-307. Zu einem Überblick über die Debatten zu Stadt und Staatsbürgerschaft im deutschen Kontext siehe Sabine Hess, Henrik Lebuhn, »Politiken der Bürgerschaft. Zur Forschungsdebatte um Migration, Stadt und citizenship«, in: Sub/urban. Zeitschrift für kritische Stadtforschung, 2/3 (2014) S. 11-34. Zur Diskussion über Sanctuary City und Perspektiven der Black Radical Tradition siehe Ananya Roy, »The City in the Age of Trumpism: From Sanctuary to Abolition«, in: Environment and Planning D: Society and Space, 37/5 (2019), S. 761-778.

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von Demokratie als solcher zum Ausdruck: die Teilhabekompetenz aller, ohne durch Titel oder Herkunft dazu autorisiert worden zu sein.

Eigentum und Kapitalismus »Schwarze Menschen«, schreibt Rinaldo Walcott in seinem Essay On Property, »die einmal selbst jemandes Eigentum waren und nun die Haupt- (wenn auch nicht die einzigen) Ziele der Massenkriminalisierung und -einsperrung und all der nicht-ganz-tödlichen und tödlichen Handlungen moderner Polizeiarbeit und ihrer Verlängerungen sind, verstehen, dass das Eigentum eines der zentralen Hindernisse bei unserer gemeinsamen Suche nach einem anderen und besseren Zusammenleben ist.«101 Die These, dass Polizei und Gefängnisse vor allem der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Eigentumsordnung dienen, ist ein klassisches Motiv in der linken Repressionskritik. Dafür gibt es gute historische Gründe: Die Entstehung der modernen Einsperrungsinstitutionen und Kontrolltechniken fällt mit der Entstehung des Kapitalismus zusammen. Historisch diente die Polizei in Europa zur Durchsetzung eines allgemeinen Zwangs zur Lohnarbeit durch Zerstörung von Allmenden, der Kriminalisierung von Landstreicherei, speziell entlang rassistischer Artikulationen, und Untätigkeit sowie der Zerschlagung von Gewerkschaften und Arbeiterassoziationen.102 Wie Foucault analysiert hat, dient das Strafrecht auch dazu, individuelle Verstöße gegen das Eigentumsrecht – statt sie als legitime Form des politischen Protests anzuerkennen – als »Straftat« zu moralisieren und zu delegitimieren und so die Arbeiter:innenschaft zu integrieren und vom unorganisierten Pöbel zu spalten.103 Es ist hingegen der internationalen Arbeiter:innenbewegung nicht verschlossen geblieben, dass die Gefängnisse von jeher von Habenichtsen bevölkert sind, wie in dem Begriff der »Klassenjustiz« bündig zum Ausdruck gebracht ist.104 Wie Loïc Wacquant detailliert 101 Walcott, On Property, S. 27. 102 Vgl. Vitale, »Grenzen der Polizeireform«; auch Williams, Our Enemies in Blue. 103 Vgl. Foucault, Überwachen und Strafen. 104 Vgl. schon Karl Liebknecht, »Rechtsstaat und Klassenjustiz«, in: ders., Gesammelte Reden und Schriften, Bd. 2, Berlin 1960, S. 17-42; theoretisch fundiert und

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nachgezeichnet hat, dienen seit dem neoliberalen Umbau der westlichen Gesellschaften die punitiven Instrumente des Staates immer stärker einer »Bestrafung der Armen« – je stärker der Sozialstaat abgebaut wird, desto mehr wird in den repressiven Staat investiert.105 Bezieht man die Rolle des Rassismus für die Herausbildung des Kapitalismus in die Analyse mit ein, so zeigt sich dieser Zusammenhang von Eigentum und staatlicher Repression zum einen mit besonderer Dringlichkeit, er muss jedoch zum anderen auch spezifiziert werden. Wie Cedric Robinson in seinem einflussreichen Werk Black Marxism gezeigt hat, formierte sich der Kapitalismus nicht als vollständige Umwälzung der ethnisch differenzierten Stratifikationen der Feudalordnung, sondern als deren Verlängerung und Modifikation; trotz seines universalistischen Expansionsdrangs hat der Kapitalismus immer auch an nationalen Abschottungen und der Rassifizierung migrantischer Arbeitskraft festgehalten.106 Zudem beruht er auf der imperialen Vernichtung indigener Bevölkerungen und der kolonialen Aneignung von Land und Ressourcen, was ebenfalls mit der Rassifizierung einer europäischen Überlegenheitsbehauptung einherging.107 Der Aufstieg der US-Ökonomie zur weltweit dominierenden Volkswirtschaft ist zudem in besonderem Maße mit dem transatlantischen Versklavungshandel und dem über drei Jahrhunderte verfestigten System der Plantagenwirtschaft verknüpft. Robinson verwendet daher den Begriff racial capitalism – diesem Begriff nach ist Kapitalismus nicht einfach »rassifiziert«, als ob es auch einen vorgängigen nichtrassifizierten, »normalen« Kapitalismus gäbe und Rassismus nur eine Modifikation oder Variante dessen wäre, sondern der Rassismus ist dem Kapitalismus immer schon strukturell eingeschrieben.108 Racial capitalism erzeugt und beruht auf rassistisch ausdifferenzierten Subjektivierungsformen. Wie Saidiya Hartman in ihrer Studie zu den »Nachleben der Sklaverei« rekonstruiert hat, waren empirisch unterfüttert dann in Georg Rusche, Otto Kirchheimer, Sozialstruktur und Strafvollzug, Frankfurt/M. 1981. 105 Vgl. Wacquant, Bestrafen der Armen. 106 Vgl. Robinson, Black Marxism. 107 Zur Bedeutung des Eigentums für den Kolonialismus und der resultierenden Forderung nach »Eigentumsabolitionismus« vgl. Brenna Bhandar, The Colonial Lives of Property. Law, Land, and Racial Regimes of Ownership, Durham 2018. 108 Siehe auch Gilmore, Golden Gulag.

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auch nach der offiziellen Abschaffung der Sklaverei die ehemals versklavten Menschen einer Reihe von pädagogischen und juridischen Techniken ausgesetzt, die die Kontinuität der weißen Verfügungsgewalt über schwarze Subjekte sicherstellte, worunter etwa die Kriminalisierung von Arbeitslosigkeit und schwarzen Überlebensstrategien zählte.109 So lässt sich, wie oben beschrieben, eine Linie vom convict-leasing-System in der Zeit der Reconstruction-Ära, das es Gefängnissen erlaubte, Gefangene als Arbeiter:innen an externe Firmen auszuleihen, bis zu den heutigen polizeilichen Disziplinierungspraktiken und dem System der Masseninhaftierung ziehen, von der weitaus überproportional schwarze arme Menschen betroffen sind.110 Staatliche Gewalt adressiert sich an weiße anders als an schwarze oder rassifizierte Menschen. Du Bois hat bereits in Black Reconstruction zu erklären versucht, warum sich nach dem Ende der Versklavung weiße Arbeiter:innen nicht auf die Seite der ehemals Versklavten, sondern auf die ihrer eigenen weißen Ausbeuter:innen geschlagen haben. Er verwendet hier den Begriff der »psychological wages«, eines »psychologischen Lohns«, den die weißen Arbeiter:innen allein für ihr Weißsein bekommen. Ausgezahlt wird dieser Lohn, indem den weißen Arbeiter:innen in der Erziehung, in der Öffentlichkeit und im Alltagsleben ein Gefühl der Überlegenheit und der Dazugehörigkeit vermittelt wird.111 Damit wird die weiße Arbeiter:innenklasse sowohl vom schwarzen Proletariat gespalten als auch in den racial capitalism integriert. Ein Aspekt dieser Zusatzlöhne für Weißsein besteht darin, dass weißen Menschen ein unmittelbarer Zugang zur Staatsgewalt eingeräumt wird: Sie können die Polizei rufen und sich dabei in der Regel nicht nur darauf verlassen, nicht selbst von ihr geschädigt zu werden, sondern auch, sie zur Durchsetzung der eigenen Interessen einsetzen zu können, und zwar auch dann, wenn sie selbst gleichzeitig vom Kapitalismus ausgebeutet und unterdrückt werden.112 Diese differentielle Sub109 Vgl. Saidiya Hartman, Scenes of Subjection. Terror, Slavery, and Self-Making in Nineteenth-Century America, Oxford 1997, v. a. Kap. 4 und 5; Lagasnerie/Traoré, »Der Kampf Adama«. 110 Heute sind mehr schwarze Menschen in Gefängnissen inhaftiert, als zur Zeit der Versklavung auf den Plantagen arbeiteten; vgl. Alexander, The New Jim Crow. 111 Du Bois, Black Reconstruction, S. 700. 112 Zur Identifikation der weißen Mehrheitsgesellschaft mit der Perspektive der Polizei siehe Singh, »Das Weißsein der Polizei«, sowie Lisa Guenther, »Seeing

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jektivierung zeigt sich prägnant in der Praxis, dass weiße Menschen die Polizei rufen, um vermeintliche oder reale Ordnungswidrigkeiten von Menschen of color sanktionieren zu lassen, etwa wenn sie im Park grillen, am Straßenrand Limonade verkaufen oder im Schwimmbad Socken tragen.113 Schwarze Menschen erscheinen hier nicht nur als Bedrohung des eigenen (wenn auch oft nur phantasmatisch vorhandenen) Eigentums, sondern selbst als Eigentum – als etwas, über das Weiße nach Belieben disponieren können.114 In einem unveröffentlichten Fragment bemerkt Du Bois, dass die Bewegungen des Abolitionismus und des Kommunismus im selben Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts entstanden sind.115 Dies ist angesichts des engen Zusammenhangs von Kapitalismus und Versklavung kein Zufall: Die beiden Bewegungen eint das Ziel einer grundsätzlichen Überwindung von Unterdrückung und Ausbeutung. Auch wenn diese Nähe in der Folge von der mehrheitlich weißen Arbeiter:innenbewegung selten so ausdrücklich verspürt wurde, gab es von Beginn an Aktivist:innen, die an die kommunistische Implikation des Abolitionismus beziehungsweise die abo­litionistische Implikation des Kommunismus erinnerten: antirassistische Bewegungen wie die Black Panthers oder die vielen Black-Lives-Matter-Gruppen weltweit, antikoloniale Befreiungsbewegungen, schwarze kommunistische Theoretiker:innen wie Claudia Jones, Assata Shakur und Angela Davis und die unzähligen Like a Cop: A Critical Phenomenology of Whiteness as Property«, in: Emily Lee (Hg.), Race and Phenomenology, London 2019, S. 189-206; Daniel Loick, Vanessa E. Thompson, »Breathing and Unbreathing: Die Würgegriffe des Rassismus«, 〈https://www.youtube.com/watch?v=zCCacz5N33M&t=2310s〉, letzter Zugriff 10. 1. 2022. 113 »Barbecue Becky«, »Permit Patty« und »Pool Patrol Paula« sind nur drei der zahlreichen in den sozialen Medien dokumentierten Fälle von »Hilfssheriffizierung« (deputization) weißer Menschen, also ihre Einbindung für die Regierung und Kontrolle schwarzer Körper; vgl. dazu auch Walcott, On Property. 114 In diesem Kontext steht auch die Stigmatisierung des riot und des Plünderns als unzivilisierte, nihilistische und unpolitische Protestformen im Zusammenhang einer phantasmatischen Verschmelzung von weißem Eigentum und Polizeiordnung; siehe dazu Vicky Osterweil, In Defense of Looting. A Riotous History of Uncivil Action, New York 2019. 115 Vgl. W. E. B. Du Bois, »Abolition and Communism«, Special Collections and University Archives, University of Massachusetts Amherst Libraries, 〈https:// credo.library.umass.edu/cgi-bin/pdf.cgi?id=scua:mums312-b214-i033〉, letzter Zugriff 10. 1. 2022.

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radikalen lokalen Initiativen, die heute dafür eintreten, was Ruth Wilson Gilmore »small c communism« nennt116 – einen Kommunismus ohne Partei, in dem die Abschaffung des Eigentums und die der staatlichen Gewalt Hand in Hand gehen.

Ökologische Zerstörung Abolitionist:innen haben seit langem auch die Verschränkung von Abolitionismus und Umweltgerechtigkeit hervorgehoben. Ruth Wilson Gilmore bringt dies auf den Punkt, wenn sie feststellt, dass Abolitionismus stets grün sein müsse.117 Diese Notwendigkeit zeigt sich umso mehr, wenn man die Klimakrise mit dem zunehmenden Militarismus und weiteren Strukturen der Versicherheitlichung in Verbindung bringt. Militär und Polizeien schützen nicht nur die Rohstoff- und Erdölindustrien sowie weitere Projekte der ökologischen Zerstörung wie Pipelines, kriminalisieren und töten Umweltaktivist:innen und Menschen, die vor Krieg und den Folgen der Klimakatastrophe fliehen müssen, sondern tragen auch selbst aktiv zur Zerstörung des Planeten bei.118 Der militärisch-industrielle Komplex und die Rüstungsindustrien gehören weltweit zu den Hauptverursachern von Treibhausgasemissionen und zu den größten Energieverbrauchern durch Kriegseinsätze, Produktion, Transport, Export und Handel. So ist das US-Militär allein im Jahre 2017 für ca. 340 Millionen Tonnen CO2-Ausstoß verantwortlich; China folgt mit 129 Millionen Tonnen.119 Auch Polizeien und Gefängnisse sind maßgeblich in die Zerstörung ökologischer Lebenswelten, Umweltverschmutzung und Projekte des Umweltrassismus eingebunden, wie beispielsweise toxische Gefängnisse zeigen.120 116 Zit. n. Nick Estes u. a., »United in Struggle«, in: NACLA Report on the Americas, 53/3 (2021), S. 255-267, hier S. 263. 117 Siehe das Panel »Abolition on Stolen Land«, 〈https://challengeinequality.lus kin.ucla.edu/abolition-on-stolen-land-with-ruth-wilson-gilmore/〉, letzter Zugriff 10. 1. 2022. 118 Vgl. Andrea Brock, Nathan Stephens-Griffin, »Policing Environmental Injus­ tice«, in: Institute of Development Studies Bulletin (2021), 〈https://opendocs.ids. ac.uk/opendocs/handle/20.500.12413/16915〉, letzter Zugriff 8. 5. 2022. 119 Vgl. Lorah Steichen, Lindsay Koshgarian, »No Warming, No War«, Institute for Policy Studies, 〈https://ips-dc.org/climate-militarism-primer/〉, letzter Zugriff 8. 2. 2022. 120 Vgl. 〈https://fighttoxicprisons.wordpress.com/〉, letzter Zugriff 10. 1. 2022.

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Zugleich gibt es zwischen abolitionistischen und radikalen ökologischen Bewegungen wichtige Verbindungslinien, die auch historisch eine bedeutsame Rolle spielen, wenn wir an die militanten ökologischen Kämpfe und jene gegen Umweltrassismus121 einiger antikolonialer Bewegungen wie beispielsweise die um Ken Saro-­Viva im Nigerdelta, die MOVE-Organisation in den USA oder an indigene Bewegungen in den Amerikas, der Karibik oder auf dem afrikanischen Kontinent wie das Green Belt Movement (Kenia) denken. In ihren Analysen wurde bereits der Zusammenhang zwischen racial capitalism und Umweltzerstörung analysiert, der auch schon in Fanons Die Verdammten dieser Erde (als gleichzeitige Verdammung der Erde) anklingt und besonders von anti- und postkolonialen sowie indigenen Feminist:innen wie Wangari Maathai, Françoise Vergès, Winona LaDuke oder Leanne Betasamosake Simp­son weiterentwickelt wurde. Auch abolitionistische Aktivist:innen machen diese Verbindungen stets deutlich. So verweisen Craig Gilmore und Rose Braz in ihrem Artikel »Joining Forces« darauf, dass jugendliche Aktivist:innen des San Jaoquin Valley die drei »Ps: police, pollution, and prisons« (»Polizei, Verschmutzung und Gefängnisse«) zu den Hauptgefahren ihrer communities erklärten und karzerale und toxische Logiken in einen Zusammenhang stellten.122 Die Campaign to Fight Toxic Prisons (FTP)123 stärkt ebenfalls Solidaritäten zwischen Antiknast- und ökologischen Bewegungen. Abolitionismus bezieht hier nicht nur relationale Beziehungsweisen und nichtmenschliche Welten mit ein, sondern betont den inhärenten Zusammenhang zwischen karzeralen und umweltzerstörenden Logiken. Ansätze der abolitionistischen Ökologien (abolition ecologies), die auf Du Bois’ »abolitionistischer Demokratie« und Gilmores »abolitionistischer Geographie« aufbauen, nehmen dabei die radikalen Praktiken des Abolitionismus mit Bezug auf ihre Verortungen in nichtmenschlichen Umwelten in den Blick.124 121 Vgl. Robert D. Bullard, Dumping in Dixie: Race, Class, and Environmental ­Quality, London 1990; Laura Pulido, »Flint, Environmental Racism, and Racial Capitalism«, in: Capitalism Nature Socialism, 3/27, S. 1-16. 122 Rose Braz, Craig Gilmore, »Joining Forces: Prisons and Environmental Justice in Recent California Organizing«, in: Radical History Review, 96 (2006), S. 95111. 123 Vgl. 〈https://fighttoxicprisons.wordpress.com/〉, letzter Zugriff 10. 1. 2022. 124 Vgl. Nik Heyen, Megan Ybarra, »On Abolition Ecologies and Making ›Freedom as a Place‹«, in: Antipode, 53/1 (2021), S. 21-35, hier S. 21.

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Neuere Entwicklungen: »Abolish Everything« In den letzten Jahren hat sich unter dem Banner des Abolitionismus ein ausgesprochen produktiver Selbstverständigungsdiskurs entwickelt, der eine Fülle von Themenfeldern, Methoden und Perspektiven umfasst. Dabei wird der Begriff des Abolitionismus – ursprünglich im spezifischen Kontext einer Kritik der Staatsgewalt als Fortsetzung von Rassismus und Unterdrückung – immer stärker ausgeweitet, ohne dabei den Anspruch aufzugeben, eine spezifische Kritik- und Transformationsvorstellung zu bezeichnen. Diese Ausweitung abolitionistischer Analysen und Kritiken auf immer mehr Herrschaftsphänomene hat vor allem zwei Gründe: Zum einen ist sie der Prämisse geschuldet, den Themenkomplex Kriminalität, abweichendes Verhalten und Strafe nicht unabhängig von seinen breiteren sozialen und ökonomischen Kontexten zu betrachten. Eine Person, die zum Beispiel aufgrund eines Drogendelikts im Gefängnis landet, hatte in der Regel bereits mit vielen anderen disziplinierenden und karzeralen Institutionen Kontakt: der Familie, der Schule und der Universität, der Fabrik, Sozial- und Arbeitsämtern, Psychiatrien, der Polizei. Eine abolitionistische Kritik, der es um die Veränderung von »allem« geht, muss diese Institutionen daher mit einbeziehen.125 Diese Einbeziehung hat für abolitionistische politische Perspektiven auch eine prekäre Konsequenz: Denn wenn etwa das wohlfahrtsstaatliche Fürsorgeregime, das Krankenhäuser, Suchtprävention oder Psychiatrien einrichtet, selbst Teil rassifizierender und disziplinierender Stratifikationen ist, dann ist die 125 Als Beispiel für Familienabolitionismus: Sophie Lewis, Full Surrogacy Now. Feminism Against the Family, London, New York 2019; als Beispiel für Abolitionismus in Bezug auf Jugendstrafen und Jugenddisziplinierung Nancy E. Dowd, »Black Lives Matter: Trayvon Martin, the Abolition of Juvenile Justice and #BlackYouthMatter«, in: University of Florida Levin College of Law Legal Studies Research Paper Series Paper No. 21-18, 31/1 (2021), S. 43-57; als Beispiel für Abolitionismus in Bezug auf Bildungsinstitutionen kirana miraya ross, »It’s Time to Abolish Schools«, in: Northwestern Magazine (2020), 〈https:// magazine.northwestern.edu/voices/its-time-to-abolish-schools/〉; Caleb Dunson, »Abolish Yale«, in: Yale News, 10. 12. 2021, 〈https://yaledailynews.com/ blog/2021/12/10/abolish-yale/〉; als Beispiel für Abolitionismus und Psychiatrien Ben-Moshe, Decarcerating Disability; Vanessa E. Thompson, »Policing in Europe: Disability Justice and Abolitionist Intersectional Care«, in: Race & Class, 62/3 (2021), S. 61-76.

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Forderung, Ressourcen von strafenden in soziale Institutionen umzuverteilen, zu kurz gegriffen. Die Reinvestition öffentlicher Mittel in diese Institutionen muss dann immer auch mit ihrer radikalen Aneignung durch marginalisierte und unterdrückte Gruppen einhergehen. Zum anderen haben sich staatliche und protostaatliche Disziplinierungs- und Kontrolltechniken inzwischen selbst von den starren Einschließungsmilieus gelöst und verflüssigt. Insbesondere die Überwachungskapazitäten sowohl des Staates und seiner sich verselbständigenden Apparate als auch privater Big-Data-Firmen haben Möglichkeiten der indirekten und kaum transparenten Verhaltenssteuerung entstehen lassen, von denen der fordistische Staat der 1960er und 1970er Jahre nur hätte träumen können. Theoretiker:innen wie Simone Browne und Ruha Benjamin haben gezeigt, dass nicht nur Einsperrung und Polizieren, sondern auch geheimdienstliche Ausspähung, biometrische Vermessung, algorithmische Diskriminierung und digitales Nudging126 von jeher in eine rassifizierende Logik eingelassen sind, so dass hier in Anlehnung an die US-amerikanische Jim-Crow-Ära von einem »New Jim Code« (Benjamin) gesprochen werden kann.127 Die fluiden Überwachungstechniken des digitalen Zeitalters tragen nicht nur eminent zur differentiellen Produktion vorzeitiger Tode bei, sondern bilden auch das neue Terrain, auf das sich abolitionistische Gegenstrategien justieren müssen. Dabei wird die Zukunft des Begriffs Abolitionismus davon abhängen, ob er sich als fähig erweisen wird, zum Leitbegriff einer Pluralität von Kämpfen zu werden, ohne dabei sein Profil als spezifischer Ansatz radikaler Theorie und Praxis zu verlieren.

Abolitionismus als Transformationstheorie »Abolitionismus setzt voraus, dass wir eine Sache ändern, nämlich alles«128 – mit diesem Slogan bringt Ruth Wilson Gilmore die Poin126 Digitales Nudging bezeichnet die subtile Stimulation und Veränderung von Gewohnheiten, Entscheidungsprozessen sowie Nutz- und Konsumverhalten durch digitale Gestaltungselemente. 127 Vgl. Browne, Dark Matters; Ruha Benjamin, Race After Technology. Abolitionist Tools for the New Jim Code, London 2019. 128 Ruth Wilson Gilmore, »Making Abolition Geography in California’s Central

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te des Abolitionismus ebenso zum Ausdruck wie die damit verbundenen Schwierigkeiten. Der Abolitionismus als politische und soziale Bewegung und als radikale kritische Theorie ist per definitionem durch einen Maximalismus gekennzeichnet. Dies impliziert zunächst eine Kritik an Reformbestrebungen. Der erste Grund für die Reformismuskritik liegt im historischen Kontext der abolition democracy: Die Institution der Sklaverei ist so grundlegend falsch, dass sie sich nicht »reformieren« lässt – die einzige moralisch vertretbare Antwort auf dieses Unrecht besteht in der grundsätzlichen Abschaffung. Darüber hinaus sind es in der jüngeren abolitionistischen Diskussion vor allem strategische Erwägungen, die eine tiefe Skepsis gegenüber Reformbemühungen in Bezug auf staatliche Gewaltinstitutionen erzeugt haben. Gefängnisse und Polizei wurden durch die Geschichte hindurch immer wieder reformiert, was aber zumeist nicht zu einer echten Verbesserung geführt hat. Im Gegenteil, häufig sind es gerade die Reformen, in deren Windschatten sich neue und perfidere Ausschluss- und Unterdrückungsmechanismen in der Gesellschaft eingenistet haben. Der Grund dafür liegt darin, dass staatliche Gewaltmechanismen innerhalb der Gesamtgesellschaft eine funktionale Rolle spielen. Wenn man nur einzelne Phänomene angreift, dabei aber den Gesamtzusammenhang intakt lässt, werden neue Gewaltformen an die Stelle der alten treten und deren Funktionen übernehmen. Angela Davis zeigt dies mit Bezug auf die Kritik der Todesstrafe: Weil der Aktivismus gegen die Todesstrafe den strafenden Staat nicht grundsätzlich in Frage stellt, sondern sich stattdessen auf die Forderung nach einer Umwandlung von Todesstrafen in lebenslange Freiheitsstrafen beschränkt hat, trägt er selbst zur Ausweitung und Legitimierung der Masseninhaftierung bei.129 Auch in den Bestrebungen zur Polizeireform lassen sich ähnliche ironische Umschlageffekte erkennen: Gut gemeinte Reformen verbessern oft nicht die Situation marginalisierter Gruppen, sondern haben ambivalente oder gar schädliche Auswirkungen. Auf technische Lösungen abzielende Reformen, wie etwa die Einführung von Bodycams in der Polizeiarbeit, geben zum Beispiel der Institution der Polizei Valley«, in: The Funambulist, 20. 12. 2018, 〈https://thefunambulist.net/maga zine/21-space-activism/interview-making-abolition-geography-california-cen tral-valley-ruth-wilson-gilmore〉, letzter Zugriff 10. 1. 2022. 129 Vgl. Davis, »Gefängnisreform oder Abschaffung des Gefängnisses?«.

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mehr Ressourcen, über deren Verwendung sie dann letztlich selbst entscheidet.130 Ebenso haben Reformmaßnahmen, die den systemischen Charakter der polizeilichen Gewaltausübung ausblenden und sich daher auf individuelle Verhaltensänderungen kaprizieren, häufig eine weitere Ausgrenzung zur Folge; so beziehen Konzepte wie Community Policing und Runde Tische zwar Angehörige lokaler communities mit ein, dies sind aber häufig Gewerbetreibende, während die am meisten marginalisierten Gruppen – Drogennutzer:innen, Sexarbeiter:innen, Wohnungslose – ausgeschlossen bleiben. Die Aktivistin Mariame Kaba hat daher eine Reihe von Reformen identifiziert, die Abolitionist:innen immer ablehnen sollten: Das sind unter anderem alle Reformen, die mehr Ressourcen in staatliche, vorwiegend technologiebasierte oder auf individualisierenden Narrativen beruhende Gewaltapparate umverteilen.131 Ein weiterer problematischer Aspekt an reformistischen Strategien besteht schließlich in ihrer Kooptierungsgefahr: Gruppen und Initiativen, die sich vor allem darum bemühen, ihre Anliegen durch Parteien und staatliche Institutionen durchzusetzen, passen sich schnell an institutionelle Logiken an, lassen sich auf realpolitische Kompromisse ein und verraten dann ihre ursprünglichen Ziele. Vor allem im US-amerikanischen Kontext hat diese Skepsis gegenüber der Gefahr der Pazifizierung und Domestizierung des politischen Kampfes zu einer grundsätzlichen Kritik an der Verwendung von Fördergeldern vom Staat oder aus der Wirtschaft geführt.132 Zugleich verweist diese Reformismuskritik jedoch auch auf eine grundsätzliche Schwierigkeit abolitionistischer Transformationsstrategien. Denn Befreiungskämpfe verlaufen nicht synchron – ein Gewinn in einem Kampf kann mit einer Niederlage in einem anderen einhergehen. Wie ist es dann jemals möglich, einen Fortschritt zu erzielen, solange nicht »alles« gleichzeitig verändert ist? Und andersherum: Wie kann jemals »alles« verändert werden, wenn nicht durch eine Verdichtung von Teilkämpfen? Eine erste Klarstellung betrifft das Verhältnis des Abolitionismus zu Reformen. Abolitionismus ist kein Quietismus, der bis zu einem messianischen Ereig130 Vgl. Vitale, »Grenzen der Polizeireform«. 131 Vgl. Mariame Kaba, »Police ›Reforms‹ You Should Always Oppose«, in: dies., We Do This, S. 70-72, hier S. 70 f. 132 Vgl. INCITE! Women of Color Against Violence (Hg.), The Revolution Will Not Be Funded. Beyond the Non-Profit Industrial Complex, Durham 2017.

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nis die Hände in den Schoß legt. Die gefängnisabolitionistische Gruppe Critical Resistance, zu deren Gründungsmitgliedern unter anderen Angela Davis und Ruth Wilson Gilmore gehörten, mobilisiert den Begriff der »nichtreformistischen Reformen«, der auf den linken Sozialphilosophen André Gorz zurückgeht. Damit sind dem Staat abgerungene Reformen gemeint, die die Bedingungen für weitergehende Veränderungen verbessern. Solche Reformen dürfen nicht selbst mit Kriminalisierung arbeiten, die Lebenssituation für marginalisierte Gruppen verschlechtern oder das unterdrückerische System ausweiten. Beispiele für nichtreformistische Reformen sind die Forderungen nach Zurückdrängung staatlicher Gewalt, etwa durch Entkriminalisierung und Entmilitarisierung. Im Polizeiabolitionismus haben nichtreformistische Reformmaßnahmen, die im Kern einen utopischen Horizont eröffnen sollen, die Form des Kampfs um »Defunding«, also die Entziehung von Finanzierung der Polizei, angenommen, was auch die Forderung nach Umverteilung von Ressourcen in Institutionen der sozialen Teilhabe, wie Wohnungen, Gesundheitsversorgung und demokratische Selbstbestimmung, beinhaltet.133 Die Transformationsstrategie des Abolitionismus lässt sich am ehesten als sozialrevolutionär beschreiben: Es geht um eine radikale Umwälzung der bestehenden Gesellschaft mitsamt ihren grundlegenden ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Institutionen. Die Bewegung sucht dabei nicht den Umweg über den Staat, etwa in Form eines Marsches durch die Institutionen oder einer Eroberung der Staatsmacht durch eine Avantgarde, sondern will die Transformation direkt in den vielfältigen Arenen der sozialen Produktion und Reproduktion selbst durchsetzen. Darin zeigt sie eine Nähe zu anderen sozialistischen, kommunistischen und anarchistischen Strömungen, wobei abolitionistische Praktiken sich durch spezifische Akzentsetzungen auszeichnen. Gilmore insistiert darauf, dass Abolition keine Abwesenheit, sondern eine Anwesenheit ist (»Abolition is presence«134) – »Abschaffung« ist kein Ereig133 Siehe Akbar, »Reform (der Polizei)«; zum selben Kontext auch dies., »Demands for a Democratic Political Economy«, in: Harvard Law Review, 134/1 (2020), S. 90-118. Ressourcen zur gegenwärtigen Diskussion um Defunding bietet die Website 〈https://www.8toabolition.com〉, die den Weg zur Abschaffung der Polizei in Form von acht Reformvorschlägen ausdrückt, letzter Zugriff 10. 1. 2022. 134 Vgl. Gilmore, »Making Abolition Geography«, vgl. auch dies., »Geographien

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nis, das in der Zukunft stattfindet, sondern eine Praxis, die bereits in der bestehenden Gesellschaft zur Realität unzähliger rebellischer communities gehört.135 Gerade die am meisten benachteiligten Gruppen haben demnach Interaktionsweisen, Umgangstechniken und Gemeinschaftsformen entwickelt, in denen Elemente der befreiten Gesellschaft vorscheinen. Diese Idee, eine befreiende Gegenmacht aus den verdeckten Spuren und Fragmenten subalterner Gemeinschaftsbildung zu entfalten, geht dabei bis auf die rebellischen Lebensformen von Gemeinschaften entflohener Versklavter, die Maroon-communities, zurück.136 Als explizit formulierte Strategie hat sie ihren bekanntesten Ausdruck in dem Versuch der Black Panthers gefunden, in den Städten eine autonome schwarze Ökonomie und Politik aufzubauen, die zur bestehenden Gesellschaft eine reale Gegenmacht von unten bilden sollte.137 Der Vorteil dieser Autonomiestrategie besteht nicht nur darin, dass experimentelle Graswurzelpraktiken die Funktionsweisen einer anderen Gesellschaft bereits in der jetzigen präfigurieren, sondern auch, dass auf diese Weise die Frage der Staatseroberung umgangen wird. Macht ist kein Ding, das man besitzen und erobern kann, sondern entsteht aus gemeinsamem Handeln, das heißt, sie kann durch politische Koalitionen und Assoziationen neu erzeugt werden.138 Für solche Praktiken gibt es unzählige Beispiele, zu denen täglich neue hinzukommen: Kostenloses Frühstück für Schulkinder und Free Community Clinics, wie sie die Panthers organisierten; selbstorganisierte dekoloniale Schulen und Weiterbildungseinrichtungen, wie sie sich in vielen ehemals kolonisierten Ländern ausbreiten; feministische Experimente mit Transformative Justice (Transformativer Gerechtigkeit) und Community Accountability (Kollektiver Verantwortungsübernahme), um einen nichtkarzeralen Umgang mit sexualisierter und häuslicher Gewalt zu finden; temporäre autonome Zonen, Platzbesetzungen und Camps, in dedes Abolitionismus«. Dazu die Beiträge in Daniel Loick, Vanessa E. Thompson (Hg.), Abolitionist Futures, in: Behemoth. A Journal on Civilisation, 1 (2022), im Erscheinen. 135 Vgl. Che Gossett, »Abolitionistische Alternativen«, im vorliegenden Band. 136 Vgl. Avery Gordon, The Hawthorn Archive. Letters from the Utopian Margins, New York 2017. 137 Vgl. Stokely Carmichael, Charles V. Hamilton, Black Power. The Politics of ­Liberation in America, New York 1967. 138 Vgl. Gilmore, »Was tun?«.

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nen ein Zusammenleben ohne Staat ausprobiert wird; gegenseitige Hilfe nach Naturkatastrophen, durch die unmittelbare Solidarität erfahrbar wird; Community Organizing gegen Ganggewalt, in dem versucht wird, (ehemaligen) Gangmitgliedern einen Ausstieg aus dem Teufelskreis von staatlicher und nichtstaatlicher Gewalt zu ermöglichen; Storytelling-Projekte, die Gewaltbetroffenen Raum dafür geben, ihre Geschichten zu erzählen; Support-Strukturen, die bei der Bearbeitung psychischer Krisen, Suchtproblematiken oder Traumatisierungen ebenso unterstützen wie in ökonomischen Notlagen.139 Auch jenseits solcher bereits schwach institutionalisierten gegengemeinschaftlichen Praktiken hat Abolitionismus den Aspekt einer Alltagspraktik oder Lebenskunst; so geben abolitionistische Toolkits und Manuals Hinweise darauf, wie man es im Alltag vermeiden kann, die Polizei zu rufen, wie man auf punitive Reaktionen in der Erziehung verzichten oder karzerale Kulturen abbauen kann.140 Dass es sich bei diesen Ansätzen und gelebten Praktiken nicht einfach um unbezahlte Arbeit handelt, die den neoliberalen Staat »entlastet«, zeigen die Forderungen nach dem Ausbau von solidarischen Infrastrukturen sowie die Auseinandersetzungen um die Frage des Staates in abolitionistischen Debatten.141

Alternativen Abolitionistische Kritik zielt also nicht bloß auf die Negation und Abschaffung karzeraler und nekropolitischer Logiken sowie der Produktionsweisen, die diese hervorbringen, sie bietet vielmehr Alternativen, die in vielen lebensweltlichen Projekten, Experimenten und Improvisationen bereits gelebt werden. Abschaffung ist kein Ereignis in der Zukunft, sondern eine Praxis in der Gegenwart: etwas, das Menschen auch bereits im Kleinen tun. Damit sind uto139 Zu einem Überblick siehe McLeod, »Abolitionistische Demokratien entwerfen«, im vorliegenden Band. 140 Vgl. etwa Critical Resistance, The Abolitionist Toolkit, 〈http://criticalresistance. org/resources/the-abolitionist-toolkit〉; siehe auch Purnell, Becoming Abolition­ ists; Sarah Lamble, »Practicing Everyday Abolition«, in: Duff (Hg.), Abolishing the Police, S. 147-160, Allegra McLeod, »Prison Abolition and Grounded Jus­ tice«, in: UCLA Law Review, 5/62 (2015), S. 1156-1239. 141 Vgl. Ruth Wilson Gilmore u. a., Abolition Geography: Selected Essays and Interviews, London 2022; William Charles Anderson, The Nation on No Map: Black Anarchism and Abolition, Oakland 2021.

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pische Horizonte des Abolitionismus stets in der Gegenwärtigkeit verortet und lassen sich nicht einfach auf ein Außerhalb bestehender Welten beziehen. Gilmore insistiert darauf, dass Alternativen möglich sind, wenn sie sagt: »Was die Welt sein wird, existiert bereits in Fragmenten und Versatzstücken, in Experimenten und Möglichkeiten. [...] Abolition ist ein Aufbau der Zukunft aus der Gegenwart, auf jede erdenkliche Weise.«142 Wie bereits Du Bois, Robinson, Nascimento und viele weitere gezeigt haben, waren die Quilombos oder die Maroon-Formationen bereits Vorreiter solcher alternativen Gesellschaftsstrukturen, die freilich nicht ohne ihre eigenen Fallstricke und Probleme – »grandiose Fehlschläge« (splendid failures),143 wie Du Bois schreibt  – waren. Aus diesen im Rahmen gegenwärtiger abolitionistischer Projekte zu lernen, wird von Abolitionist:innen dabei genauso betont, wie an sie zu erinnern und ihr alternatives Potential ernst zu nehmen. Auch indigene Praktiken der Konfliktlösung oder alternative Ökonomien, ob auf dem amerikanischen oder dem afrikanischen Kontinent, wie etwa die Ubuntu-Philosophie,144 stellen für abolitionistische Perspektiven wichtige Genealogien der radikalen Transformation dar. Besonders der deindividualisierte Umgang mit Problemen – das heißt, schädlichem Verhalten nicht mit Strafe zu begegnen, sondern mit kollektiver Verantwortungsübernahme, dem Wandel von Strukturen und dem Fokus auf betroffene Personen – erweist sich als wichtiger Ansatz auch für gegenwärtige abolitionistische Ansätze. Auch die Beziehungen zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Umwelten, die viele indigene Philosophien und Kosmologien prägen, sind wichtige Prinzipien für alternative Formen von Gerechtigkeit und Sorge.145 Besonders weit fortgeschritten ist diese Suche nach utopischen Alternativen innerhalb der Alltagspraktiken marginalisierter communities im Kontext des Kampfes von Feministinnen of color gegen 142 Gilmore, »Making Abolition Geography«. 143 Du Bois, Black Reconstruction, S. 708. 144 Vgl. Mechthild E. Nagel, »An Ubuntu Ethic of Punishment«, in: dies., Anthony J. Nocella (Hg.), The End of Prisons: Voices from the Decarceration Movement, Rodopi 2013, S. 177-186. 145 Vgl. Robyn Maynard u. a., »Every Day We Must Get Up and Relearn the World: An Interview with Robyn Maynard and Leanne Betasamosake Simpson«, in: Interfere: Journal for Critical Thought and Radical Politics, 2 (2021), S. 140-165.

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interpersonelle Gewalt, insbesondere Gewalt gegen Frauen. Frauen und LGBTQI-Personen als die Gruppen, die am stärksten von sexueller, häuslicher oder intimer Gewalt betroffen sind, bestanden zum einen auf der Dringlichkeit, ihre alltäglichen Erfahrungen ernst zu nehmen, anstatt sie anderen Themen unterzuordnen, die die traditionelle Linke als wichtiger erachtet hatte, wie etwa wirtschaftliche Gleichberechtigung. Gleichzeitig trauten insbesondere Feminist:innen of color dem Staat nicht zu, ihre Sicherheit zu garantieren, da die Inhaftierung nicht nur dabei versagt hat, verletzliche Gruppen vor patriarchaler Gewalt zu schützen, sondern auch zusätzliche staatliche Gewalt in die Gemeinschaften einlud und die patriarchale Logik des maskulinistischen Schutzes verstärkte. Im Fall der zwischenmenschlichen Gewalt wird seit der Jahrtausendwende die Suche nach Alternativen zu polizeibasierten Lösungen meist unter dem Banner der Konzepte der Transformative Justice und Community Accountability verfolgt. Im Kern dieser Modelle steht die Idee, kollektive Unterstützung für Gewaltbetroffene zu organisieren und gleichzeitig nach Wegen zu suchen, der gewaltausübenden Person zu helfen, Verantwortung zu übernehmen, ohne auf den staatlichen Gewaltapparat zurückzugreifen.146 Diese radikalen intersektionalen Interventionen und Bewegungen haben besonders zwei wichtige Punkte hervorgehoben, die sich auch von historischen Abolitionismen unterscheiden beziehungsweise in diesen nicht grundlegend reflektiert wurden: (1) Sie machten deutlich, dass abolitionistische Kritik sich nicht nur auf die gesellschaftlichen Verhältnisse und Strukturen richtet, sondern auch auf zwischenmenschliche Beziehungen, ohne die Ver146 Vgl. Communities Against Rape and Abuse (CARA), »Taking Risks: Implementing Grassroots Community Accountability Strategies«, in: INCITE! Women of Color Against Violence (Hg.), Color of Violence. The INCITE-Anthology, Durham 2016, S. 250-266; Ejeris Dixon, Leah Lakshmi Piepzna-Samarasinha (Hg.), Beyond Survival. Strategies and Stories from the Transformative Justice Movement, Oakland 2020; GenerationFive, Ending Child Sexual Abuse. A Transformative Justice Handbook, 2017, 〈http://www.generationfive.org/resources/transforma tive-justice-documents/〉, letzter Zugriff 10. 1. 2022; zu einer Übertragung dieser Konzepte auf den deutschen Kontext siehe Melanie Brazzell (Hg.), Was macht uns wirklich sicher? Ein Toolkit zu intersektionaler transformativer Gerechtigkeit jenseits von Gefängnis und Polizei, Münster 2018; RESPONS, Was tun bei sexualisierter Gewalt? Handbuch für die Transformative Arbeit mit gewaltausübenden Personen, Münster 2018.

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hältnisse hintenanzustellen. Diese Kritik zeigte sich in besonderem Maße in der Zusammenarbeit von INCITE! und Critical Resist­ ance, zweier abo­litionistischer Organisationen, die aus der Perspektive von mehrfachmarginalisierten und vulnerablen Gruppen abolitionistische Wissensproduktion und Politik betreiben. So schreiben sie in ihrem gemeinsamen Statement aus dem Jahre 2001: Wir rufen emanzipatorische soziale Bewegungen dazu auf, Strategien und Analysen zu entwickeln, die sowohl staatliche als auch interpersonelle Gewalt adressieren, insbesondere Gewalt gegen Frauen. Aktivist:innen und Bewegungen, die staatliche Gewalt thematisieren (wie etwa gefängniskritische Gruppen und Gruppen gegen Polizeigewalt), arbeiten gegenwärtig häufig getrennt von Aktivist:innen und Bewegungen, die häusliche und sexualisierte Gewalt behandeln. Dies hat zum Ergebnis, dass Frauen of ­color, die sowohl von staatlicher als auch von interpersoneller Gewalt überproportional betroffen sind, innerhalb dieser Bewegungen marginalisiert wurden. Es ist essentiell, dass wir Antworten auf vergeschlechtlichte Gewalt entwickeln, die nicht auf einer sexistischen, rassistischen, klassistischen und homophoben Strafjustiz beruhen. Es ist zugleich wichtig, dass wir Strategien entwickeln, die das Strafrechtssystem hinterfragen und die gleichzeitig Sicherheit für von sexualisierter und häuslicher Gewalt betroffene Personen bereitstellen. Um gewaltfrei zu leben, müssen wir ganzheitliche Strategien der Gewaltkritik entwickeln, welche die gegenseitige Verschränkung aller Unterdrückungsformen einbeziehen.147

Damit wenden sich diese radikal intersektionalen Ansätze gegen eindimensionale abolitionistische Politiken, die die Formen interpersoneller Gewalt, die oft auch mit staatlicher und struktureller Gewalt einhergehen, nicht in den Blick nehmen und lediglich staatliche Gewalt fokussieren. (2) Abolitionistische Feminismen wenden sich auch gegen Strafrechtsfeminismus und Formen der Antigewaltarbeit, die den Staat als sicherheitsbringend anrufen.148 Auf der Grundlage von Erfahrungen, die an den Intersektionen unterschiedlicher staatlicher Gewaltformen positioniert sind, von der Haft bis zu Formen des Überwachens und Strafens durch Polizeipraktiken, Hausarrest, Erziehungs- und Fürsorgeregime sowie der Vulnerabilität durch sexu147 Critical Resistance/INCITE! Women of Color Against Violence, »Statement zu vergeschlechtlichter Gewalt und dem Prison-Industrial-Complex«, in: Loick (Hg.), Kritik der Polizei, S. 267-279, hier S. 269. 148 Siehe Victoria Law, »Gegen den Strafrechtsfeminismus«, im vorliegenden Band.

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alisierte, vergeschlechtlichte interpersonelle Gewalt, zeigen schwarze und indigene, migrantische und Feminist:innen of color auf, dass Freiheit von Gewalt nicht mit Gewalt und Schutz nicht mit Bestrafung, Ausweisung oder Abschaffung hergestellt werden können.149 In diesen Ansätzen wird zwischenmenschliche Gewalt nicht als individuelle Schuld einzelner Täter:innen verstanden, sondern als in gesellschaftliche Strukturen eingebunden, so dass ihr entsprechend auf struktureller sowie kollektiver zwischenmenschlicher anstatt auf strafrechtlicher und karzeraler Ebene begegnet werden muss. Vor dem Hintergrund dieser doppelten und intersektionalen Vulnerabilität haben Abolitionist:innen Alternativen zu Formen staatlicher Bestrafung und zugleich Modelle der kollektiven Verantwortungsübernahme entwickelt, um auch interpersonelle Gewaltverhältnisse transformieren zu können.150 Ansätze der transformativen Gerechtigkeit zielen dabei auf (a) die Sicherheit, Heilung, Selbstbestimmung und Zentrierung der Person, die Gewalt erfahren hat, und zwar durch kollektive Unterstützung anstelle einer Bestrafungslogik, die die Tat individualisiert; (b) Verantwortungsübernahme und Transformation der Person, von der die Gewalt ausging; (c) kollektive Verantwortung und kollektive Mobilisierung von Praktiken, die sich gegen Gewalt und Unterdrückung richten; und (d) soziopolitische und strukturelle Transformation der gesellschaftlichen Bedingungen und Verhältnisse, die Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt ermöglichen und reproduzieren.151 Gleichzeitig werden die intersektionalen Machtasymmetrien, die in romantisierten Gemeinschaftskonstruktionen oft ausgeblendet werden, durch diese von mehrfach marginalisierten Subjekten entwickelten Alternativen und Konzepte der transformativen Gerechtigkeit herausgefordert. Auch in Deutschland und anderen europäischen Kontexten waren es besonders mehrfach marginalisierte Gruppen, migrantische Frauen und nichtbinäre Personen, Rom:nja und Sinti:zze, die, oft aus der Notwendigkeit heraus, Alternativen zu strafenden Ansätzen entwickelt haben, in denen zugleich von interpersoneller und sexualisierter Gewalt betroffene Personen nicht außen vor gelassen 149 Siehe Andrea J. Ritchie, »Polizeiliche Antworten auf Gewalt gegen Frauen«, und Sarah Lamble, »Karzerale Logiken durchbrechen«, im vorliegenden Band. 150 Siehe McLeod, »Abolitionistische Demokratien entwerfen«. 151 Siehe Brazzell (Hg.), Was macht uns wirklich sicher?.

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werden. Die (sich bereits über zwei Jahrzehnte erstreckenden) Interventionen und Mobilisierungen von Women in Exile und weiteren feministischen Gruppen von geflüchteten Frauen und nichtbinären Personen streben zum einen die Unterstützung von Frauen und nichtbinären Personen sowie die Mobilisierung von kollektiver Verantwortungsübernahme gegen sexualisierte und interpersonelle Gewalt in den Lagern an und haben zum anderen deren Abschaffung zum Ziel. Gruppen wie Sisters Uncut in Großbritannien setzen sich gegen die finanziellen Kürzungen von Programmen und Strukturen für von sexualisierter und häuslicher Gewalt betroffene Frauen und nichtbinäre Personen sowie für die Abschaffung von karzeralen Institutionen wie Polizei, Gefängnissen, Psychiatrien und Lagern ein. Dabei betonen abolitionistische Gruppen stets, dass Transformative Justice und Community Accountability insbesondere eine Transformation unserer Beziehungen zueinander enthalten und dass diese Arbeit ebenfalls durch Scheitern, Experimentieren und einen hohen Zeitaufwand gekennzeichnet ist.152 Verankert sind diese Praktiken in einer Ethik der Fürsorge, die auf der Grundannahme einer geteilten Abhängigkeit und Verletzlichkeit basiert und dies mit dem Grundsatz verbindet, dass für unsere Gemeinschaften niemand entbehrlich ist.153 Zugleich geht es dabei auch darum, Care-Praktiken feministisch umzuverteilen und zu kollektivieren. In dieser radikalen und konfrontativen Reformulierung der Sorge um unser Zusammenleben scheint letztlich die abolitionistische Vision als gesamtgesellschaftliche Utopie auf. Sie zeigt dabei auch, dass der Abolitionismus inzwischen einen Anspruch erhebt, der in seiner Reichweite mit den großen Sozialbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts vergleichbar ist: Er beinhaltet nicht nur eine Politik und Kultur, sondern auch ein Ethos – lebensweltlich verankerte Erwartungshaltungen, Handlungsorientierungen und Verantwortungen, die sich auf das Ideal der Solidarität ausrichten. 152 Siehe Mimi E. Kim, »Über Kritik hinausgehen. Kreative Interventionen und Rekonstruktionen kollektiver Verantwortungsübernahme«, im vorliegenden Band. 153 Reina Gossett u. a., »No One is Disposable: Everyday Practices of Prison Abolition«, Videodiskussion am 7. 2. 2014 im Barnard Center for Research on Women, 〈https://bcrw.barnard.edu/event/no-one-is-disposable-everyday-prac tices-of-prison-abolition/〉, letzter Zugriff 10. 1. 2022.

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Zum vorliegenden Band Mit dem vorliegenden Band wollen wir einige Schlüsseltexte der internationalen abolitionistischen Bewegung in deutscher Sprache zugänglich machen. Von diesem Transfer erhoffen wir uns produktive Impulse nicht nur für den deutschen wissenschaftlichen Diskurs, sondern auch (und vor allem) für die radikale politische Arbeit – die Diskussion, inwiefern die hier präsentierten Ansätze sich auf einen deutschen Kontext übertragen lassen, muss an anderer Stelle geführt werden. Bei der Textauswahl konzentrierten wir uns auf die Hauptlinien abolitionistischer Bewegung, die Kritik von Gefängnis und Polizei, erwägen die Herausforderungen, aber auch Verbindungslinien zwischen feministischer und abolitionistischer Politik und fragen nach möglichen Alternativen. Dabei erheben wir weder den Anspruch auf Vollständigkeit noch auf Repräsentativität. Ein Großteil der hier versammelten Beiträge stammt aus dem nordamerikanischen Kontext, wobei trotz einiger Texte mit internationaler Ausrichtung die Kämpfe in Asien, Afrika, Lateinamerika und Australien eher ausgeblendet werden.154 Dabei ergeben sich eine Reihe von Übersetzungsproblemen. Insbesondere ist der Begriff »Rasse« im Deutschen nicht von seinen biologistischen Konnotationen zu trennen, während der Begriff race im Englischen eher einen sowohl analytischen als auch kritischen Gehalt haben kann. Zwar blickt der Begriff race auch im angloamerikanischen Raum durchaus auf eine biologistische Geschichte zurück, jedoch gehen die Praktiken der Aneignung durch rassifizierte Gruppen, gerade mit Bezug auf Antirassismus (wie zum Beispiel der Begriff racial justice zeigt) historisch weiter zurück und sind unseres Erachtens weitaus etablierter und analytisch fundierter als bisherige Umgangsweisen mit dem Begriff »Rasse« im deutschsprachigen Raum. Dabei ist uns bewusst, dass die Verwendung des englischen Begriffs auch das Problem der Externalisierung von Rassismus insbesondere auf den US-Kontext reproduzieren kann, zumal es auch im deutschen Kontext Versuche einer kritischen Aneignung gibt und gab. Dies scheint uns jedoch analytisch und bewegungspolitisch im deutschen Kontext noch nicht grundiert genug, wes154 Zu einem Überblick siehe einige Beiträge in Royle/Scott, The Routledge International Handbook; (historisch) Manisha Sinha, The Slave’s Cause. A History of Abolition, New Haven 2016.

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wegen wir uns zum Zeitpunkt der Publikation dazu entschieden haben, den englischen Begriff race weitestgehend beizubehalten. An Stellen, an denen es um die ideologische Konstruktion rassifizierter Zuschreibungen geht, setzen wir »Rasse« in Anführungszeichen.155 Ähnliches gilt für den Begriff der Gemeinschaft, der im Deutschen einen beklemmenden konformistischen Unterton erhalten kann, der im englischen Wort community nicht unbedingt vorhanden ist; auch diesen Begriff belassen wir daher überwiegend auf Englisch. Wie es sich in der deutschsprachigen Diskussion um das Konzept der Transformative Justice etabliert hat, wird im Kontext patriarchaler Gewalt der Begriff survivor im vorliegenden Band in der Regel nicht mit »Überlebende«, sondern mit »gewaltbetroffene Person« übersetzt, um zu unterstreichen, dass es für viele Gewaltbetroffene essentiell ist, nicht ihre gesamte Persönlichkeit als durch die Tat definiert zu sehen. Die Schreibweise von race-basierten Identitätskategorien wie schwarz oder weiß wird sowohl im englischen als auch im deutschen Sprachraum weiterhin diskutiert. Während viele Autor:innen etwa Schwarz großschreiben und weiß kursivieren, um zu markieren, dass es sich bei diesen Zuordnungen nicht um (Haut-)Farben, sondern um soziokulturelle Konstrukte handelt, bevorzugen manche Autor:innen eine andere Schreibweise, da die Kursivierung wieder zu einer Rezentrierung führen kann und Schwarz den Bezug zu einer Form moderner Subjekthaftigkeit proklamiert, die viele schwarze kritische Autor:innen gerade mit der politischen Kategorie schwarz unterlaufen wollen.156 Wir folgen hier jeweils der Schreibweise des Originaltextes. Dies gilt auch weitestgehend für 155 Zur Diskussion um den Begriff »Rasse« im deutschen Kontext und die Debatte um die Streichung des Begriffs aus dem Grundgesetz siehe u. a. Cengiz Barskanmaz, Nahed Samour, »Das Diskriminierungsverbot aufgrund der Rasse« (2020), 〈https://verfassungsblog.de/das-diskriminierungsverbot-aufgrund-der-rasse/〉 und 〈https://verfassungsblog.de/rasse-im-parlamentarischen-rat-i/〉, Mathias Hong, »›Rasse‹ im Parlamentarischen Rat und die Dynamik der Gleichheitsidee seit 1776 (Teil I)« (2020), 〈https://verfassungsblog.de/rasse-im-parlamenta rischen-rat-i/〉 sowie das Forschungsprojekt »Rasse – Negotiating a Fraught German Term« von Daniel James, Leda Berio und Benedict Kenyah-Damptey, 〈https://das-r-wort.com/2021/05/rasse-and-race-negotiating-a-fraught-germanterm〉, letzter Zugriff 10. 1. 2022. 156 Siehe La Marr Jurelle Bruce, How to Go Mad without Losing Your Mind. Madness and Black Radical Creativity, Durham 2021, Einleitung.

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Begriffe, die sich auf den transatlantischen Versklavungshandel beziehen, wobei wir den Präferenzen der Übersetzer:innen ebenfalls Raum geben. Auf die Reproduktion dehumanisierender rassistischer Begriffe verzichten wir selbst dann, wenn sie in den Originaltexten vorkommen; beim N-Wort kennzeichnen wir dabei die Auslassung mit Anfangsbuchstaben des betreffenden Wortes und einem Asterisk (*). Da sich diese Kennzeichnung aus Gründen der spezifischen Ausformungen verschränkter Rassismen, die stets wandelbar sind,157 jedoch nicht auf alle dehumanisierenden rassistischen Begriffe übertragen lässt, haben wir an anderen Stellen den Begriff durch Selbstbezeichnungen ersetzt. * Wir bedanken uns bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung und dem Projekt »Überwachen und Strafen der Anderen. Eine Analyse von Racial Profiling und seinen geschlechtsspezifischen Dimensionen«, gefördert vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst (HMWK), für die Finanzierung einiger der Übersetzungen, beim Suhrkamp Verlag für die Offenheit und die Bereitschaft, den Band aufzunehmen, Gesa Steinbrink für das gründliche Lektorat und bei allen Autor:innen und Übersetzer:innen für die gute Zusammenarbeit. – Gewidmet ist der Band all denjenigen, die für eine Welt ohne staatliche Gewalt kämpfen.

157 Vgl. Stuart Hall, »Rassismus als ideologischer Diskurs«, in: Nora Räthzel (Hg.), Theorien über Rassismus, Hamburg 2000, S. 7-17; Etienne Balibar, »Gibt es einen ›Neo-Rassismus‹?«, in: ders., Immanuel Wallerstein, Rasse, Klasse, Nation, Hamburg 1992, S. 23-38.

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I.

Abolitionistische Demokratie

Angela Y. Davis Abolitionistische Demokratie. Ein Interview mit Eduardo Mendieta (2005)1 Ungeachtet der Tatsache, dass das nationale und internationale Recht uns verbietet zu foltern, konzentriert sich die Debatte in den Mainstreammedien auf die Frage, ob und wann man foltern soll, als ob das nationale und internationale Recht einfach suspendiert werden könnten, wenn die Behörden das für notwendig halten. Inwiefern stellt die Tolerierung einer solchen Form der öffentlichen Diskussion über Folter einen Angriff auf die moralische Integrität der Bürger:innen und der Demokratie dar? Hat Demokratie auch etwas mit Moral zu tun? Die öffentliche Diskussion über Folter ist durch die weit verbreitete Überzeugung begrenzt worden, der zufolge Demokratie etwas durch und durch Amerikanisches und jede Strategie zum Schutz oder zur Verteidigung der amerikanischen Version von Demokratie legitim ist. Ein weiteres Problem mit dieser Art von Diskussion besteht darin, dass die amerikanische Version der Demokratie in immer stärkerem Maß gleichbedeutend mit Kapitalismus geworden ist und dass der Kapitalismus immer mehr durch seine Fähigkeit definiert wird, sich frei auf dem gesamten Globus auszubreiten. Das ist es, was den Rahmen für die Diskussion über Folter gebildet und die Artikulation angeblicher moralischer Dilemmata im Hinblick auf Folter sowie die Auffassung, gewisse Formen von Gewalt sowohl in den USA selbst als auch im Ausland seien für den Erhalt der amerikanischen Demokratie notwendig, ermöglicht hat. Letzten Endes gelingt es diesen moralischen Positionen gegen Folter nicht, den Ausnahmestatus der USA in Frage zu stellen. Diese unhinterfragte Kluft zwischen einer moralischen Opposition gegen 1 Das Interview wurde 2005 veröffentlicht, kurz nach dem Folterskandal von Abu Ghraib, bei dem irakische Gefangene von Angehörigen der US-Armee und der CIA gefoltert und vergewaltigt wurden. Der Skandal hat eine öffentliche Diskussion über die von den USA im Rahmen des War on Terror eingesetzten Foltermethoden ausgelöst, die von der US-Regierung als »erweiterte Verhörtechniken« bezeichnet worden waren. [Anm. d. Hg.]

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bestimmte Praktiken und all die Dinge, die als unverzichtbar für die Rettung der Nation betrachtet werden, hat sowohl eine Flut verschleiernder Diskurse über den Terrorismus als auch die Praxis der Folter selbst möglich gemacht. Natürlich ist es wichtig, entschlossen gegen Folter als eine Technik der Kontrolle einzutreten, die in völligem Widerspruch zu den Idealen und dem Versprechen der US-Demokratie steht. Aber wenn die US-Demokratie zum Maßstab gemacht wird, an dem sämtliche politischen Vorgehensweisen gemessen werden, ist es nicht mehr schwer, spezifische Akte von Folter in ein tolerierbares Verhalten zu verwandeln, ein Verhalten, das nicht notwendigerweise die moralische Integrität der Gemeinschaft verletzt. Es gibt unzählige Beispiele für die Unfähigkeit der Moral, die Politik zu verändern. Wann immer menschliche Wesen, die – wie es bei den Menschen im Irak der Fall ist – als ethnisch und kulturell unterlegen betrachtet und der Folter ausgesetzt werden, ist es nicht schwer, die Gespräche über Folter auf eine allgemeinere Ebene zu lenken und so den Schaden zu ignorieren, den sie ganz bestimmten Individuen zufügt. Ich bin sehr skeptisch gegenüber dem Diskurs, der davon ausgeht, Folter füge den Täter:innen größeren Schaden zu als den Opfern. Dabei ist es gewiss richtig, dass die Enthüllungen über die brutalen Verhörtechniken in Guantánamo und die Akte physischer Gewalt und sexueller Nötigung in Abu Ghraib tiefgreifende Fragen in Bezug auf unsere Gesellschaft, ihre Regierung, ihr Militär und ihre Haftpraktiken aufwerfen. Aber wenn dieser Aspekt das schwere Leid der Männer und Frauen verdrängt, die gefoltert wurden, zeigt dies, wie sehr bestimmte moralische Überlegungen genau jenen Rassismus verstärken können, der die Folter überhaupt erst möglich gemacht hat. Wir müssen daher begreifen, dass Widerspruch gegen die Folterpraktiken der USA keineswegs immer auch Solidarität mit den Opfern bedeutet. Im selben Moment, in dem wir die Regierung und das Militär wegen ihrer Rolle bei der Praktizierung der Folter anprangern, müssen wir auch nach unserer eigenen Fähigkeit fragen, uns die Opfer als Menschen – als Individuen – vorzustellen, die in jeder Hinsicht all jenen von uns, die zufälligerweise im globalen Norden leben, gleichgestellt sind. Wie kann dann aber die Frage der Folter so gestellt werden, dass sie nicht eine Rechtfertigungspraxis autorisiert, die die Auswirkun60

gen der Folter auf einzelne Menschen, auf ihren Körper und Geist gar nicht in Betracht zieht? Hier spielen die Menschenrechte eine entscheidende Rolle – und hier ist es eine bedeutsame Tatsache, dass die USA sich jetzt in der Defensive befinden, nachdem sie jahrzehntelang fälschlich behauptet haben, die beste Menschenrechtsbilanz der Welt zu haben. Die Klagen, die vom Center for Constitutional Rights im Namen von Gefangenen innerhalb und außerhalb der USA angestrengt wurden, sind nur ein Beispiel für den Widerstand gegen die Politik und die Praktiken des Bush-Regimes. Ich habe bereits angedeutet, wie wichtig es ist, hier auch eine Analyse des Rassismus ins Spiel zu bringen. Diese hat in den Debatten, die von der Veröffentlichung der Fotos aus Abu Ghraib ausgelöst wurde, ganz klar gefehlt. Wie verändert sich die Bedeutung von Folter, je nachdem, wer das Opfer ist? Ariel Dorfman hat einmal geschrieben, eines der Probleme mit dem Diskurs über Folter in der öffentlichen Sphäre bestehe darin, dass er die Bürger:innen in eine Situation bringt, in der sie sich vom Schmerz anderer abtrennen müssen. Darum nenne ich das ein Verbrechen gegen die moralische Vorstellungskraft. Wir werden als Bürger:innen dazu aufgefordert, uns vom Leiden anderer abzutrennen und so in gewisser Weise die moralischen und emotionalen Dimensionen der Verantwortung abzutöten, die unsere Staatsbürgerschaft uns gibt. In einem früheren Gespräch haben wir den Rahmen diskutiert, in dem die Folterbilder aus Abu Ghraib im Allgemeinen gedeutet wurden – das der Öffentlichkeit gebotene Interpretationsschema, das dazu beitrug, ein bestimmtes Verständnis der Fotos zu produzieren. Ich sagte dazu, dass dieser Interpretationsrahmen die Solidarität mit den Opfern verhindert hat, indem er erst ungläubige Reaktionen und dann das Gefühl eines nationalen Traumas – eines Traumas, das unserer Nation zugefügt worden war – auslöste. Wenn man so will, zeigte das in der Tat die Grenzen unserer kollektiven moralischen Vorstellungskraft auf. Die menschlichen Wesen, die auf den Fotos zu sehen waren, wurden zu abstrakten Objekten von Arten der Folter, die man als mit der Demokratie unvereinbar betrachtete. Zu einer Pyramide aufgetürmte nackte Körper, Körper, die gezwungen wurden, sexuelle Handlungen zu vollziehen, mit Kapuzen verhüllte Köpfe – wer sind all diese Menschen? Können 61

wir sie uns als Arbeiter:innen, Angestellte, Künstler:innen, Lehrer:innen, Eltern, Kinder vorstellen? Können wir uns vorstellen, an ihrer Stelle zu sein? Ich glaube nicht, dass wir ermutigt wurden, so über diese Bilder zu denken. In gewisser Weise hatten die öffentlichen Reaktionen auf die Fotos aus Abu Ghraib die Tendenz, die Grundsatzannahme der US-Hegemonie zu reproduzieren, die die Bevölkerung des Irak – und natürlich Saddam Hussein als den exemplarischen Bewohner dieses Landes – in bloße Materialisierungen eines ideologischen Feindes verwandelte. Ich habe auch bereits gesagt, dass man in den historischen Reaktionen auf das Lynchen ein ähnliches Dilemma entdecken kann. Selbst die, die sich entschieden gegen diese Praxis wandten, tendierten oft dazu, die Menschlichkeit der schwarzen Opfer des Lynchens aus dem Bild verschwinden zu lassen. So verrichteten selbst die Gegner:innen des Lynchens am Ende oft wider Willen das Werk ihrer Widersacher:innen. Demnach tut der vorherrschende Rahmen, in dem das öffentliche Gespräch über Folter in den USA geführt wird, nichts weiter, als die bereits bestehenden – offiziellen – Annahmen über das Wesen der amerikanischen Demokratie zu bestätigen, zu verteidigen und zu bekräftigen. Damit wird gerade das menschliche Leiden, das auf den Fotos zu sehen ist, von der Diskussion ausgeschlossen und, indem ihm die Anerkennung verweigert wird, ausgelöscht. Das ist umso mehr der Fall, wenn man sich ansieht, wie sehr der vorgebliche Ausnahmestatus Amerikas die Erwartungen darüber bestimmt, wie wir über den »Krieg gegen den Terror« (War on Terror) nachzudenken haben. Diese Sichtweise auf die Folter bestätigt den Ausnahmestatus Amerikas und die Überlegenheit der US-amerikanischen Demokratie. Ich möchte mich jetzt einigen anderen Themen zuwenden und dich dabei als Erstes nach der Nützlichkeit des Begriffs »Imperium« fragen. Ich habe viel von deinem Werk gelesen, aber meiner Erinnerung nach verwendest du dieses Wort nicht sehr häufig. Dieser Terminus ist durchaus sinnvoll. Aber es ist richtig, dass ich eher den Ausdruck »Imperialismus« als das Wort »Imperium« ver62

wende. Und wenn ich über die Gründe dafür nachdenke, scheint mir, dass ich dabei eine spezifische Verbindungslinie zum Kapitalismus ziehen möchte, die dem globaleren Ausdruck »Imperium« nicht unbedingt implizit ist. Das heißt nicht, dass ich letzteres Wort für nutzlos halte, sondern ich möchte einfach unterstreichen, wie sehr die gegenwärtige militärische Aggression im Irak und die von der Bush-Administration verfolgte Politik des weltweiten Kriegs an Vorbilder in der Geschichte und besonders an den Krieg gegen Vietnam erinnern. Dabei möchte ich außerdem die geschichtliche und aktuelle Bewegung des Kapitals im Auge behalten, die all das begleitet hat. Der Diskurs über die Globalisierung erweckt manchmal den Eindruck, als habe das Kapital erst in jüngster Zeit globalen Charakter angenommen und als seien diese globalen Wanderungen ein Nebenprodukt dessen, was man heute als Informationszeitalter bezeichnet. Demgegenüber müssen wir uns daran erinnern, dass das Kapital eine lange und brutale Geschichte der Bewegung über alle nationalen Grenzen hinaus hat – wie Lenin und Rosa Luxemburg schon vor so langer Zeit erkannten, ist der Imperialismus mitnichten eine nebensächliche Begleiterscheinung des Kapitalismus, sondern ein ganz grundlegendes Merkmal seiner Entwicklung. Heute sprechen wir von der Ära des Imperialismus als einer, die durch die Macht von internationalen Finanzorganisationen wie dem IWF und der Weltbank sowie von der Fähigkeit des Kapitals definiert ist, sich nicht nur über nationale Grenzen hinwegzubewegen, sondern selbst noch die abgelegensten Wirtschaften umzustrukturieren und den sozialen Verhältnissen überall enormen Schaden zuzufügen. Dieser neue Imperialismus bedeutet, dass das Kapital selbst in die intimsten Räume eingedrungen ist und nicht nur die wirtschaftlichen Aktivitäten der Menschen (junge Mädchen im globalen Süden stellen jetzt die Kleider und die Schuhe der Welt her) transformieren, sondern auch ihre Träume von der Zukunft. Das ist vermutlich der Grund, warum ich häufig das Wort »Imperialismus« benutze. Aber obwohl ich jetzt von der Wende zum 21. Jahrhundert gesprochen habe, könnte es wichtig sein, die Entwicklungen dieser Ära mit der Wende zum 20. Jahrhundert – dem Aufstieg des Monopolkapitals und den imperialistischen Abenteuern der USA auf Kuba, Puerto Rico, Hawaii und den Philippinen – in Verbindung zu bringen. Ferner sollte die Rolle erwähnt werden, die diese militärische Aggression für die Konstruktion des rassifizierten Staa63

tes im Innern der USA gespielt hat: für die Konsolidierung von Jim Crow,2 die Industrialisierung des Südens, die Ansiedlung der Industriekapitalist:innen in den Südstaaten der USA. In meinem eigenen konzeptuellen Rahmen versuche ich, all diese historischen Momente im Gespräch zu halten, und verwende daher den eher prozessorientierten Terminus Imperialismus. Der Historiker William Appleman Williams sprach in seinem sehr wichtigen kleinen Buch Der Welt Gesetz und Freiheit geben von einer amerikanischen »imperialen Geschichte, imperialen Psychologie und imperialen Ethik«.3 Man könnte argumentieren, dass Guantánamo und Abu Ghraib Beispiele für diese imperiale Ethik und Psychologie sind. Eine Psychologie der vollkommenen Verachtung, Gleichgültigkeit, Entmenschlichung und grenzenlosen Hybris auf der einen und einer Ethik der Straflosigkeit, Asymmetrie und Gesetzlosigkeit auf der anderen Seite. Sind das nicht Aspekte eines Imperiums als Lebensweise? Ja, absolut. Aber ich bestehe dennoch auf der Anerkennung der Tatsache, dass dieses imperiale Projekt ja vorgeblich das Ziel verfolgt, die Herrschaft der Demokratie zu garantieren. Und das sollte gar nicht einmal als eklatanter Widerspruch verstanden werden: Das Streben nach globaler Vorherrschaft durch militärische Mittel wird mit dem Ziel der Verteidigung und Verbreitung der amerikanischen Demokratie rationalisiert – oder sollten wir stattdessen Kapitalismus sagen? Ich finde diese alldem zugrundeliegende Kommodifizierung noch bedrohlicher als die Hybris, die die Bush-Administration zweifellos an den Tag legt und die viele von uns widerspruchslos akzeptieren. Der Begriff der Demokratie ist in etwas verwandelt worden, das wie eine Ware exportiert und ganzen Bevölkerungen verkauft oder aufgezwungen werden kann. Die imperiale Dimension dieses Projekts wird noch offensichtli2 Die Jim-Crow-Gesetze bezeichnen ein politisch-rechtliches Regime rassistischer Segregation, welches speziell in den Südstaaten nach der formalen Abschaffung der Versklavung eingerichtet wurde und bis Mitte der 1960er Jahre in Kraft war. Dabei ging es vor allem um die rassistische Segregation auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt sowie im Bildungssystem und in öffentlichen Einrichtungen. [Anm. d. Hg.] 3 William Appleman Williams, Der Welt Gesetz und Freiheit geben. Amerikas Sendungsglaube und imperiale Politik, Hamburg 1984, S. 11.

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cher, wenn man in Betracht zieht, in welchem Ausmaß Rechte und Freiheiten, die man normalerweise mit der Demokratie assoziiert, ganz unbekümmert der Behauptung von der eigenen Vormacht und Kontrolle über die Völker der ganzen Welt untergeordnet werden. Man bedenke nur, wie im Irak Wahlen für das Publikum in den USA inszeniert werden. Dabei wird natürlich das Recht zu wählen als der exemplarische Gradmesser der Demokratie präsentiert. Darum bittet man uns, für den Augenblick unsere Erinnerung an all die Dinge zu verdrängen, die diesen Wahlen den Weg gebahnt haben – das Bombardement, die Invasion und die Besatzung, die auch weiterhin Tod, Verstümmelung, die Zerstörung von Institutionen und die Entwürdigung einer der ältesten Zivilisationen der Welt zu Folge haben. Der US-Imperialismus wird so noch bedrohlicher, da er in immer stärkerem Maß unsere Fähigkeit beschränkt, uns vorzustellen, wie eine authentische Demokratie aussehen könnte. Da die Durchsetzung von Demokratie als das primäre Ziel dieser militärischen Aggression ausgegeben wird, verliert »Demokratie« jede denkbare substantielle Bedeutung und beschränkt sich auf die Ausübung des Wahlrechts als reine Formalität. Dieser – sowohl was den Irak als auch was die USA selbst angeht – beschränkte Begriff von Demokratie verhindert Konzeptionen von Demokratie, die auch auf Gleichheit und Gerechtigkeit im Hinblick auf Wirtschaft, race, Geschlecht und Sexualität insistieren. Handelt es sich hier nicht auch insofern um ein Imperium, als sich Bush der Zweite, ebenso wie Bush der Erste, nie entschuldigt hat und sich das auch gar nicht vorstellen könnte? Handelt es sich bei dieser Art von Arroganz und Unbekümmertheit nicht um eine Art von eklatanter und brutaler imperialer Hybris? Absolut. Mir scheint, dass es da schon Präsidenten gegeben hat, die etwas stärker zur Bescheidenheit geneigt haben. So wie etwa Clinton, der nach Lateinamerika gegangen ist und sich für die US-Unterstützung der nicaraguanischen Contras entschuldigt hat. Oder, um ein Beispiel aus der Innenpolitik zu nehmen, als Clinton sich für das Tuskegee-Experiment4 entschuldigt oder als er versucht 4 Das Tuskegee-Experiment war eine Studie, die das US-Gesundheitsministerium

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hat, sich für die Sklaverei zu entschuldigen. Aber mir scheint, dass die Clinton-Administration eine Menge getan hat, um der Innenund Außenpolitik Bushs den Weg zu bereiten. Das soll nicht heißen, dass es mir heute nicht lieber wäre, wenn Clinton Präsident wäre. Natürlich wäre es das, aber gleichzeitig ist die Kontinuität zwischen der Politik dieser beiden Administrationen unübersehbar. Und ich bin nicht sicher, ob es einen großen Unterschied macht, einen Präsidenten zu haben, der die globale Vorherrschaft der USA durchsetzen will und bereit ist, dafür Krieg zu führen, aber dabei eine etwas weniger provokative oder bescheidenere Haltung einnimmt. Zu viele progressive Kräfte haben sich während der Amtszeit Clintons mit ihm identifiziert und nicht die Notwendigkeit einer organisierten Opposition erkannt. Wenn wir uns stärker gegen die Angriffe der Clinton-Administration auf den Sudan und den Irak gewehrt hätten, hätte der gegenwärtige Krieg vielleicht verhindert werden können. Und vergessen wir auch nicht, dass der gefängnisindustrielle Komplex sich besonders unter der Clinton-Administration verstärkt entwickelt hat. Gerade während seiner Amtszeit wurde es immer schwieriger, zwischen der Politik der Republikaner und der der Demokraten zu unterscheiden. Und doch waren Leute, die sich als »progressiv« betrachteten, viel stärker bereit, sich hinter Clinton zu versammeln. Wir sollten inzwischen fähig sein, aus den Fehlschlägen des radikalen und progressiven Aktivismus im Lauf dieser Zeit einige wichtige Lehren zu ziehen. Ich denke, es gibt eine Art Identifikation zwischen der amerikanischen Bevölkerung und dem Präsidenten. Das ist es, was Williams die imperiale Psychologie nennt. Ich finde es einfach erschütternd, dass es Bush trotz seiner Lügen, Täuschungen und Manipulationen gelungen ist, wiedergewählt zu werden. Arundhati Roy schreibt, dass die Tatsache, dass Staatsbeamt:innen und Präsidenten Wahrheit und Recht mit Füßen treten können, bedeutet, dass wir uns in einem Imperium befinden.5 Die Amerikaner:innen haben ihn wiedergewählt. Warum? Ist das nicht auch Teil jener imperialen Psychologie? zwischen 1932 und 1972 in Alabama durchführte. Dabei wurden 400 schwarze Männer ohne ihre Einwilligung vorsätzlich mit Syphilis infiziert, über 100 von ihnen starben, obwohl die Krankheit medizinisch hätte geheilt werden können. 1997 hat sich Präsident Bill Clinton für das Experiment entschuldigt. [Anm. d. Hg.] 5 Vgl. Arundhati Roy, Public Power in the Age of Empire, New York 2004.

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Nach dem 11. September 2001 und dem damit heraufziehenden Schreckgespenst des Terrorismus wurde eine moralische Panik erzeugt, die die Sicherheit ins Zentrum sämtlicher Diskurse stellt – sowohl derjenigen, die den Krieg gegen den Irak befürworten, als auch derjenigen, die ihn ablehnen. Dieser Fokus auf die Sicherheit in Gestalt innerer und äußerer Überwachung und Kontrolle trägt zur Erzeugung einer allgegenwärtigen Furcht bei, die die Menschen jene Dimensionen von Sicherheit vergessen lässt, bei der es um Dinge wie Gesundheitsversorgung, Bildung und Wohnen geht. Das Problem mit dem Präsidenten besteht nicht in erster Linie darin, dass er die Leute täuscht – die meisten Leute gehen unabhängig von ihrem politischen Standpunkt oder ihrem Bildungsniveau ohnehin davon aus, dass Politiker lügen und betrügen. Das ist nun einmal das Spiel, und ich bin nicht sicher, ob Bush sich durch eine besondere Fähigkeit zur Täuschung auszeichnet. Bush wurde wegen genau der Panik wiedergewählt, die von den Angriffen am 11. September 2001 erzeugt wurde. Ein weiterer Grund war die Leichtigkeit, mit der wir alle von den Bildern und der Rhetorik des Nationalismus, die mit dem Status als US-Bürger:in verbunden sind, verführt wurden. Der amerikanische Ausnahmestatus wird als gegeben hingenommen, und es gibt keinen breiten Diskurs, der es uns ermöglichen würde zu verstehen, dass die Überlegenheit der USA auf Ausbeutung und Unterdrückung basiert. Nach dem 11. September wurde uns die »Nation« als das wichtigste Modell der Solidarität angeboten. Das heißt, man forderte die Menschen dazu auf, in ihrem »Amerikanismus« Zuflucht zu suchen, statt sich als Akteur:innen zu sehen, die solidarisch mit den Menschen auf der ganzen Welt sind, darunter auch mit jenen in den Ländern, die später als die »Achse des Bösen« gebrandmarkt wurden. Warum hatten wir es so eilig, die Nation als die Grenze der menschlichen Solidarität zu betrachten – und das ausgerechnet in einem Augenblick, als Menschen auf der ganzen Welt sich mit unserem Schmerz und unserem Leid identifizierten? Warum haben wir es nicht geschafft, diese Solidarität auf eine Weise entgegenzunehmen, die es uns ermöglichte, sie zu erwidern und uns in einem weiteren Sinne als Weltbürger:innen zu verstehen? Das hätte auch die Einbeziehung derjenigen Menschen in den USA möglich gemacht, die rechtlich nicht als »Bürger:innen« gelten. Die Nation als 67

Hauptinstrument und Hauptmodus der Solidarität schloss all jene im Inneren und im Äußeren aus, die keine US-Bürger:innen waren. Die brutalen Angriffe auf Menschen, die als muslimisch oder arabisch betrachtet wurden, zeigten, dass der Rassismus in den USA nach wie vor sehr lebendig ist und sich jetzt auf neue Ziele richtet. Daher mache ich mir größere Sorgen über die Leichtigkeit, mit der sich diese moralische Panik entwickelte, als über die Unehrlichkeit und die Lügen des Präsidenten. Aber ganz allgemein, wenn ich auf meine politische Geschichte zurückblicke, kann ich sagen, dass radikalen Aktivist:innen immer klar gewesen ist, dass Regierung und Bevölkerung nicht ein und dasselbe sind. Auch wenn das ein sehr simpler Punkt zu sein scheint, muss diese Unterscheidung heute vielleicht besonders unterstrichen werden. Die Identifikation, von der du gesprochen hast, wird gerade durch das Fehlen eines starken Gemeinschaftssinns im Kampf ermöglicht, der sich nicht an den Standpunkten der Regierung orientieren muss, schon gar nicht in Zeiten des Kriegs. In der Zeit vor dem internationalen Zusammenbruch des Sozialismus hat man die Gemeinschaften, die für die Rechte der Arbeiter:innen, gegen Rassismus und für Gerechtigkeit, Frieden und Gleichheit kämpften, als das »andere Amerika« bezeichnet. Heute hingegen scheint es, dass viele Gegner:innen der Politik und der Praktiken der Bush-Administration offenbar immer noch sehr stark von der Ideologie des amerikanischen Ausnahmestatus beeinflusst sind. Daher das Gefühl der Lähmung nach dem 11. September 2001 und die gefährliche Unterstützung der schlimmsten Arten von Nationalismus. Das beunruhigt mich mehr als alles andere, denn wenn wir uns eine Hoffnung auf eine bessere Zukunft bewahren wollen, müssen wir die Fähigkeit entwickeln, uns selbst als Bürger:innen einer neuen Weltordnung zu verstehen, was sehr wohl bedeuten kann, dass wir eine Führungsrolle von Menschen im Irak und anderen Menschen akzeptieren müssen, die sich derzeit an vorderster Front der Kämpfe befinden. Das könnte als rückwärtsgewandte Sehnsucht nach einer politischen Vergangenheit erscheinen, die weniger kompliziert war als unsere Zeit. Aber tatsächlich versuche ich hier nur dingfest zu machen, wie oft wir Ideologien verhaftet bleiben, von denen wir glauben, wir hätten sie hinter uns gelassen. Eine unserer Hauptaufgaben besteht in einer Neukonzipierung 68

des Begriffs der »Sicherheit«. Wie können wir dazu beitragen, die Welt zu einem Ort zu machen, der gegen die Verwüstungen des globalen Kapitalismus gesichert ist? Zu diesem weiter gefassten Verständnis von Sicherheit könnte ein Schuldenerlass für Afrika gehören. Das würde ein Ende des Molochs der Privatisierung bedeuten, der die neue Gesellschaft, die die Menschen in Südafrika aufzubauen versucht haben, bedroht. Es würde außerdem bedeuten, dass unsere Prioritäten vom gefängnisindustriellen Komplex auf die Bereiche Bildung, Wohnen und Gesundheit verlagert werden. Bush wurde ja gerade aufgrund der moralischen Panik wiedergewählt (oder besser gesagt: gewählt, weil er zu seiner ersten Amtszeit ernannt und nicht gewählt wurde), die die Aufmerksamkeit der Menschen von den komplizierteren Fragen über unsere Zukunft abgelenkt hat. Er wurde nicht nur wegen der Angst vor einem weiteren »terroristischen« Angriff gewählt, sondern auch wegen der Angst, dass es mit der amerikanischen Überlegenheit bald vorbei sein könnte. Ich möchte dir eine Frage zum Verhältnis zwischen der Produktion des Rechts und der Verletzung des Rechts in den USA stellen. Man kann ja von dem eklatant selbstsüchtigen Charakter einiger Rechtsmemoranden, präsidentiellen Verfügungen und Entscheidungen nur angeekelt sein.6 Nehmen wir den Ausdruck »feindlicher Kombattant« und die Außerkraftsetzung der Genfer Konventionen für Leute, die von den USA in Gewahrsam genommen werden. Wie Barbara Olshansky vom Center for Constitutional Rights gezeigt hat, gibt es die Kategorie »feindlicher Kombattant« im internationalen Recht gar nicht.7 Dennoch schafft der Ausdruck eine rechtliche Fiktion, die dazu dient, feindliche Soldat:innen und angebliche Terrorist:innen vom Schutz durch das Recht auszuschließen. Diese rechtlichen Auslegungen und Memoranden erwecken den Eindruck von Legalität und Rechtmäßigkeit. So stehen wir vor dem Paradox, dass man sich auf das Recht beruft, um Ausnahmen vom Recht zu schaffen. 6 Mendieta spielt hier darauf an, dass viele der Maßnahmen, die die USA im Rahmen des War on Terror ergriffen haben, in Form von Exekutivanordnungen und -verfügungen erlassen wurden. Dazu zählt etwa die Internierung sogenannter »feindlicher Kombattanten«, für die die Genfer Konvention außer Kraft gesetzt wurde. [Anm. d. Hg.] 7 Vgl. Rachel Meeropol (Hg.), America’s Disappeared: Secret Imprisonment, Detainees, and the »War on Terror«, New York 2004, S. 179-225.

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Das verschrobene legalistische Vokabular, das der Krieg gegen den Terror hervorgebracht hat, gäbe großartiges Material für Komiker:innen ab, wenn es nicht so brutale Konsequenzen hätte. Diese neuen Kategorien sind verwendet worden, als wären sie fest in der Geschichte des Rechts und des Sprachgebrauchs verwurzelt und verstünden sich quasi von selbst, und ihre strategische Wirkung – die Aushebelung der Genfer Konventionen und einer Reihe weiterer Menschenrechtsinstrumente – basiert auf dem für die USA typischen Verständnis, dass unser Land über den Vereinten Nationen, dem Weltgerichtshof und allen anderen Institutionen steht. Ich frage mich, ob diese Strategie nicht auf ein allgemeineres Problem verweist, nämlich den neuen polemischen Diskurs, den die Bush-Administration begonnen hat. Das Bush-Vokabular, das vorgibt, komplexe Ideen auf die simpelste und primitivste Art auszudrücken, ist sowohl verführerisch als auch furchterregend. Es ist verführerisch, weil es so leicht verständlich zu sein scheint; es ist gefährlich, weil es damit zugleich alles auslöscht, was wirklich wichtig ist. Genau wie die Bedeutung des Ausdrucks »feindlicher Kombattant« erklären sich die Bedeutungen der Wörter »Freiheit« und »Demokratie« angeblich von selbst. Diese Einebnung des politischen Diskurses auf ein Niveau, auf dem sein Verständnis angeblich keine Mühe mehr erfordert und auf dem er selbsterklärend, unanfechtbar und logisch erscheint, öffnet Aggression und Gewalttätigkeit Tür und Tor. Das gilt für das häufig grob vereinfachende und plumpe Vokabular Bushs, es gilt für seine beständige Wiederholung der Begriffe Freiheit und Demokratie auf eine Weise, die ihnen jeden ernsthaften Inhalt nimmt, und es gilt für seine Darstellung der Terrorist:innen als »Übeltäter:innen« (evildoers). Aber es gilt auch für legalistische Begriffe wie »feindliche:r Kombattant:in« und »außerordentliche Auslieferung«. Wie schon erwähnt, bedeutet »außerordentliche Auslieferung«, dass Gefangene in andere Länder gebracht werden, um sie dort verhören zu lassen. Was der Ausdruck verbirgt, ist die Tatsache, dass von den Ländern, denen diese Gefangenen »ausgeliefert« werden, bekannt ist, dass sie foltern. Jane Mayer hat in ihrem kürzlich erschienenen Artikel im New Yorker darauf hingewiesen, dass es sich dabei um eine sehr weit verbreitete Praxis handelt.8 Diese 8 Vgl. Jane Mayer, »Outsourcing Torture«, in: The New Yorker, 14. 2. 2005, 〈https://

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Praxis erlaubt der US-Regierung, Folter zu betreiben, wenn auch nur indirekt. Auch hier würde ich argumentieren, dass diese Art von politischem Diskurs, die mittels eines fadenscheinigen rechtlichen Jargons die Diskussion vernebelt, auslöscht und abschneidet, die moralische Panik über den Terrorismus mit anfacht. Diese Begriffe sind dazu gedacht, Diskurs und Diskussion sinnlos zu machen. Einerseits ist es also so, dass die Analyse der sogenannten Bushismen Gelächter und das Gefühl der Komik auslöst, was uns daran hindert, sie ernst zu nehmen. Andererseits haben wir diesen legalistischen Jargon, der den Anschein erweckt, er sei im Rahmen etablierter und unwiderleglicher rechtlicher Erwägungen entwickelt worden, und er wird daher oft zu ernst genommen. Ich kann mich an keine Zeit in meinem Leben erinnern, in der der politische Diskurs so verwickelt war. Wir sollten uns große Sorgen darüber machen, dass das eine umfangreiche kritische Auseinandersetzung mit der Politik und den Praktiken des weltweiten Kriegs verhindern könnte. Ein britisches Gericht hat die Vorgänge in Guantánamo und Abu Ghraib als »rechtliches schwarzes Loch« bezeichnet.9 Was sind die Konsequenzen dieses schwarzen Lochs für die Menschenrechtsaktivist:innen auf der ganzen Welt? Vielleicht liegt die Lehre aus alldem in der Einsicht, dass wir Wege finden müssen, die absolute Autorität des Rechts in Frage zu stellen. Wir könnten etwa die folgende Frage stellen: Wie setzen wir das Recht als Instrument progressiver Veränderungen ein, während wir gleichzeitig unterstreichen, wie wichtig es ist, die Grenzen des Rechts anzuerkennen – die Grenzen des nationalen Rechts ebenso wie die Grenzen des internationalen Rechts? So gehen wir ja spontan von der Annahme aus, dass Gerechtigkeit und Gleichheit notwendigerweise durch das Recht hervorgebracht werden. Aber das Recht kann nicht aus sich heraus Gerechtigkeit und Gleichheit schaffen. Hier in den USA schlagen wir uns dreißig Jahre nach der Verabschiedung einer damals als beispiellos betrachteten Bürgerrechtsgewww.newyorker.com/magazine/2005/02/14/outsourcing-torture〉, letzter Zugriff 15. 2. 2022. 9 Michael Ratner, Ellen Ray, Guantánamo: What the World Should Know, Vermont 2004, S. 23.

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setzgebung immer noch mit vielen derselben Arten von Ungleichheit im Hinblick auf Wirtschaft, race und Geschlecht herum. In vielen Bereichen sind sie sogar noch fester in der gesellschaftlichen Ordnung verankert als zuvor. Das Recht kann durchaus erfolgreich strategisch eingesetzt werden und so breite Bewegungen und Kampagnen ermöglichen. Der Fokus der Bürgerrechtsbewegung lag ja auf der Veränderung der bestehenden Gesetze. Aber gleichzeitig produzierte das Recht auch die Grenzen der möglichen Veränderungen; wir können das jetzt daran sehen, wie die Gesetzgebung zur gezielten Förderung von Minderheiten in Staaten wie Kalifornien ihren eigenen Niedergang herbeigeführt hat. Es war die große Errungenschaft der Bürgerrechtsbewegung, das Recht von seiner Bezugnahme auf bestimmte Arten von Körpern zu befreien und auf diese Art »Rassengleichheit« vor dem Gesetz herzustellen. Aber gleichzeitig ermöglichte dieser Prozess auch rassiale Ungleichheit in dem Sinn, dass das Recht nun seiner Fähigkeit beraubt war, Menschen als rassifiziert, als aus rassifizierten Gemeinschaften kommend, anzuerkennen. Weil die Person, die vor dem Gesetz steht, ein abstraktes, mit Rechten ausgestattetes Subjekt ist, kann das Gesetz sich nicht mit den ungerechten sozialen Verhältnissen auseinandersetzen, in denen viele Menschen leben. Oder um ein konkreteres Beispiel zu geben, das mit der Herausbildung des gefängnisindus­ triellen Komplexes zu tun hat: Gerade weil das Recht die sozialen Bedingungen, die in gewissen Gemeinschaften in viel höherem Maß zu Gefängnisstrafen führen, nicht in Betracht ziehen kann, rechtfertigt der Mechanismus des formal fairen Prozesses letztlich die rassistische und klassistische Zusammensetzung der Gefängnisbevölkerung. Das Recht kümmert sich nicht darum, ob dieses oder jenes Individuum Zugang zu einer guten Bildung hatte oder nicht, ob er oder sie arm ist, weil die örtlichen Unternehmen geschlossen haben und in ein Land der Dritten Welt gegangen sind, oder ob zuvor noch erhältliche soziale Transferleistungen jetzt verschwunden sind. Das Recht kümmert sich nicht um die Bedingungen, die dazu geführt haben, dass einige Gemeinschaften in eine Situation geraten, die das Gefängnis für viele ihrer Mitglieder zu einem unvermeidlichen Schicksal macht. Obwohl jeder Einzelne das Recht auf ein faires Verfahren hat, sorgt gerade das, was als die Blindheit der Justiz bezeichnet wird, dafür, dass am Ende Rassismus und Klassismus die Frage beantworten, wer ins Gefängnis kommt und wer nicht. 72

Während ich bis jetzt spezifisch vom Kontext der USA gesprochen habe, würde ich außerdem vorschlagen, dass auch Menschenrechtsaktivist:innen ihre Aufmerksamkeit auf diese Fragen richten. Im Kampf für globale Gerechtigkeit können Menschenrechtsin­ strumente zu strategischen Werkzeugen werden. Aber wir dürfen auch die umfassenderen Prozesse wie die weltweite Bewegung des Kapitals, das ganze Bevölkerungen seinen Angriffen unterwirft, nicht ignorieren. Kampagnen zur Verteidigung der Rechte von Immigrant:innen in den postkolonialen städtischen Zentren in Europa und den USA müssen auf den Menschenrechten der afrikanischen, lateinamerikanischen, asiatischen und arabischen Einwanderer:innen bestehen. Gleichzeitig ist es wichtig, sich gegen die Auswirkungen des weltweiten Kapitalismus zu wenden, die zwar nicht der einzige, aber ein zentraler Grund dafür sind, dass Menschen sich über Grenzen hinwegbewegen. Darin besteht heute eine bedeutende Herausforderung für Menschenrechtsaktivist:innen. Und tatsächlich haben Organisationen wie Amnesty International, die sich zuvor auf die Verteidigung individueller Menschenrechtsansprüche konzentriert hatten, ihre Arbeit inzwischen auf die Verteidigung nicht nur Einzelner, sondern ganzer Bevölkerungen und Gemeinschaften ausgedehnt. Das erfordert eine Doppelstrategie, die sich des Rechts bedient, aber seine Beschränkungen anerkennt, um auch diejenigen Fragen anzugehen, die das Recht nicht lösen kann. Du hast zuvor vom gefängnisindustriellen Komplex und der Vision einer »abolitionistischen Demokratie« (abolition democracy) gesprochen. Kannst du das näher erläutern? Erstens ist der gefängnisindustrielle Komplex das Ergebnis der Tatsache, dass keine abolitionistische Demokratie geschaffen wurde. »Abolitionistische Demokratie« ist ein Ausdruck, den Du Bois in seinem Werk Black Reconstruction, seiner Studie über die unmittelbar auf die Sklaverei folgende Periode, prägte. George Lipsitz verwendet ihn heute in einem auf unsere Zeit bezogenen Kontext. Ich will versuchen, kurz seine Anwendbarkeit auf drei verschiedene Formen des Abolitionismus zu skizzieren: die Abschaffung der Sklaverei, die Abschaffung der Todesstrafe und die Abschaffung des Gefängnisses. Du Bois argumentierte, die Abschaffung der Sklave73

rei sei nur im negativen Sinn erfolgt. Um eine umfassende Abschaffung der Sklaverei zu erreichen, nachdem die Institution für illegal erklärt worden war und die schwarzen Menschen aus ihren Ketten befreit wurden, hätten neue Institutionen geschaffen werden müssen, um die Schwarzen in die gesellschaftliche Ordnung einzubeziehen. Der Gedanke, dass jeder ehemalige Sklave 16 Hektar Land und ein Maultier bekommen sollte, wird manchmal als primitives Gerücht verlacht, das die Sklav:innen sich bloß ausgedacht hätten. Aber tatsächlich geht diese Idee auf einen Militärbefehl zurück, der verlassenes Land der Konföderierten in einigen Teilen des Südens den befreiten Schwarzen zuteilte. Und die kontinuierliche Forderung nach Land und den Tieren, die notwendig waren, um es zu bearbeiten, spiegelten das Verständnis unter den ehemaligen Sklav:innen wider, dass die Sklaverei nicht wirklich abgeschafft werden konnte, solange die Menschen nicht die wirtschaftlichen Mittel für ihr Überleben besaßen. Außerdem brauchten sie Zugang zu Bildungsinstitutionen und mussten das Wahlrecht und andere politische Rechten erobern, ein Prozess, der während der kurzen Periode radikaler Rekonstruktion im Süden von 1865 bis 1877 begann, aber unvollständig blieb. Du Bois insistiert also darauf, dass eine ganze Reihe demokratischer Institutionen notwendig ist, um die vollständige Abschaffung der Sklaverei durchzusetzen – von daher sein Ausdruck »abolitionistische Demokratie«. Was würde es dann bedeuten, die Todesstrafe abzuschaffen? Das Problem ist, dass die meisten Leute denken, die einzige Alternative zur Todesstrafe bestünde in lebenslänglicher Haft ohne Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung. Aber wenn wir die Todesstrafe als eine Erbschaft der Sklaverei verstehen, würde ihre Abschaffung ebenfalls die Schaffung der Art von Institutionen erfordern, über die Du Bois schrieb – Institutionen, die es heute, hundertvierzig Jahre nach der Abschaffung der Sklaverei, immer noch nicht gibt. Wenn wir die Abschaffung der Todesstrafe mit der Abschaffung der Gefängnisse verbinden, müssen wir die lebenslängliche Haft ohne vorzeitige Entlassung als Alternative fallenlassen. Und wenn wir den Ansatz der abolitionistischen Demokratie auf die Abschaffung der Gefängnisse anwenden, sollten wir dazu die Schaffung einer ganzen Reihe sozialer Institutionen vorschlagen, die sich mit der Lösung der sozialen Probleme befassen würden, die die Menschen auf den Weg ins Gefängnis befördern, und die somit dazu 74

beitragen würden, Gefängnisse überflüssig zu machen. Es gibt hier einen direkten Bezug zur Sklaverei: Als die Sklaverei abgeschafft wurde, wurden die Menschen in die Freiheit entlassen, aber sie hatten keinen Zugang zu den materiellen Ressourcen, die ihnen erlaubt hätten, sich ein neues, freies Leben aufzubauen. Die Gefängnisse hatten im Lauf der letzten hundert Jahre gerade deshalb Hochkonjunktur, weil diese Ressourcen fehlten und etliche Tiefenstrukturen der Sklaverei weiterbestanden. Sie können daher nicht beseitigt werden, ohne dass den communities, aus denen die Gefängnisbevölkerung zum großen Teil kommt, neue Institutionen und Ressourcen zugänglich gemacht werden. Wenn ich dein Argument richtig verstehe, sagst du damit, dass die Todesstrafe ein Teil des »Lohns des Weißseins« ist, der gezahlt werden muss, um eine rassifizierte Demokratie, eine Demokratie, die aus dem uneingelösten Versprechen der Abschaffung der Sklaverei hervorgegangen ist, aufrechtzuerhalten? Das hängt davon ab, was man mit »Lohn des Weißseins« meint. Wenn wir uns auf Roedigers Analysen stützen, definieren wir »Lohn des Weißseins« als die Privilegien jener, die vom Fortbestehen des Rassismus profitieren. Auch wenn das kontraintuitiv scheinen könnte, würde ich argumentieren, dass die Todesstrafe so etwas wie eine »Rückkehr des verdrängten« Rassismus der Sklaverei ist, der jetzt auf alle losgelassen wird, die sich zufälligerweise innerhalb seines Zugriffs befinden, ganz gleich, ob sie als Schwarze, Latinx, Native Americans oder Weiße rassifiziert werden. Die überzeugendste Erklärung für das Weiterbestehen der Todesstrafe in den USA – außer Japan das einzige fortgeschrittene Industrieland, das regelmäßig seine eigenen Bürger:innen hinrichtet – liegt in ihren Wurzeln in der Sklaverei und darin, wie der Rassismus der Sklaverei zu ihrer überproportionalen Anwendung auf Schwarze geführt hat. Nach der Sklaverei wurde die Todesstrafe in das Rechtssystem integriert, während ihr offener Rassismus zunehmend in den Hintergrund trat. In dieser Ära der »gleichen Möglichkeiten« richtet sie sich jetzt über schwarze und Latinx-Gemeinschaften hinaus auch noch auf weitere Ziele. In diesem Sinne könnte man argumentieren, dass die Hinrichtung weißer Menschen eher ein Anzeichen der Rache des Rassismus als ein Zeichen für den »Lohn des Weißseins« darstellt. 75

Ich möchte das ein wenig untermauern und ein paar Worte über den Rassismus in unserer heutigen Ära, den Rassismus nach der Bürgerrechtsbewegung, über die Mutationen und Wandlungen des Rassismus und über den Rassismus in einer Zeit sagen, in der Angehörige unterrepräsentierter rassifizierter Gruppen in mächtige Führungspositionen aufgerückt sind. Wie würde sich eine brauchbare Analyse des Rassismus mit der Tatsache auseinandersetzen, dass eine schwarze Frau, die zuvor nationale Sicherheitsberaterin war, jetzt Außenministerin ist und dass der US-Justizminister ein Latino ist?10 Natürlich wird diese neue Integration uns als das Antlitz einer perfekt multiethnischen Nation präsentiert. Dieses scheinbare Dilemma lässt sich nur erklären, indem wir anerkennen, dass Rassismus viel tiefer als all die Probleme reicht, die durch Diversifizierungsprozesse und Multikulturalismus gelöst werden können. Es gibt weiterbestehende Strukturen des Rassismus, wirtschaftliche und politische Strukturen, die die ihnen zugrundeliegenden Diskriminierungsstrategien nicht offen zur Schau stellen, aber nichtsdestoweniger dazu dienen, communities of color in einem Zustand der Unterlegenheit und Unterdrückung zu halten. Daher bin ich der Meinung, dass die Todesstrafe die historischen Hinterlassenschaften des Rassismus in den Rahmen eines Rechtssystems integriert, aus dem der offene Rassismus entfernt wurde, das aber dennoch auch weiterhin eine Zuflucht für das Erbe des Rassismus ist. So lässt es sich erklären, dass die Todesstrafe in einem Land, das sich selbst als weltweiter Bannerträger der Demokratie betrachtet, immer noch äußerst aktiv ausgeübt wird. Gegenwärtig befinden sich über 3500 US-Bürger:innen in den USA im Todestrakt – zu einem Zeitpunkt, zu dem sämtliche europäischen Länder die Todesstrafe abgeschafft haben und zu dem die Europäische Union die Abschaffung der Todesstrafe zu einer Vorbedingung für die Mitgliedschaft gemacht hat. Die Todesstrafe ist ein Auffangbecken für die Hinterlassenschaften des Rassismus, doch jetzt, unter der Herrschaft rechtlicher Gleichheit, kann sie gegen jede:n und unabhängig vom race-Status der Person angewendet werden. Du hast auf Condoleezza Rice, Alberto Gonzales und Colin Powell als Personen hingewiesen, die den Anschein erwecken, als lebten die Ame10 Gemeint sind Condoleezza Rice und Alberto Gonzales. [Anm. d. Hg.]

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rikaner:innen in einer rassenblinden Demokratie. Kannst du etwas zu der Beziehung zwischen abolitionistischer Demokratie und Identitätspolitik sagen? Natürlich meine ich es sarkastisch, wenn ich – jetzt, wo wir people of color in hohen Positionen in der Regierung und in den Großkonzernen haben – von den USA als einer »rassenblinden Demokratie« spreche. Einzelne Individuen sind nicht notwendigerweise in die Strukturen der Unterdrückung eingebunden, die ihre Herkunft zunächst einmal impliziert. Vor vielen Jahren hat Dr. Martin Luther King schwarze Menschen kritisiert, die aus dem matschigen Sumpf auf dem Rücken ihrer Schwestern und Brüder herausklettern. Ohne den Druck der Bewegung für Bürgerrechte und rassenblinde Demokratie wäre gar nicht vorstellbar, dass diese Leute heute da wären, wo sie sind, und so scheint in der Behauptung, people of color könnten bei der Aufrechterhaltung des heutigen Rassismus eine entscheidende Rolle spielen, ein Widerspruch zu liegen. Aber in Wirklichkeit ist das eine unvermeidliche Folge des Kampfs für Gleichheit. Die Lehre daraus ist, dass wir unser Verständnis von Rassismus modifizieren müssen. In einer früheren Ära war das Fehlen von people of color in führenden Positionen in Staat und Wirtschaft eines der offensichtlichsten Anzeichen des Rassismus; dieses Fehlen spiegelte seinerzeit die allgemeineren Formen offener Diskriminierung wider. Aber nur weil jetzt einzelne people of color in den Institutionen, die die Verantwortung für die konkreten Formen des Rassismus tragen, auftauchen, verschwindet der Rassismus nicht unbedingt. Tatsächlich bin ich der Meinung, dass der Rassismus heute sogar noch effektiver und zerstörerischer ist als während der Ära, die zur Bürgerrechtsbewegung führte. Die Gefängnisse unseres Landes sind ein dramatisches Beispiel dafür: Unter den mehr als zwei Millionen Menschen, die sich derzeit im Gefängnis befinden, sind mehr als siebzig Prozent people of color. Ich weiß nicht, ob du die Bestätigungsanhörungen von Condoleezza Rice oder Alberto Gonzales gesehen hast, aber sie waren eine unglaubliche Zurschaustellung machiavellistischer Identitätspolitik. Tatsächlich hätte man fast von einer republikanischen Identitätspolitik sprechen können. 77

Diese Entwicklungen zeigen die Grenzen der Strategien des Multikulturalismus und der Diversität, die derzeit die offiziellen Bemühungen um die Eliminierung des Rassismus definieren. Identität ist für sich genommen nie eine angemessene Achse gewesen, um die herum sich Kampfgemeinschaften organisieren konnten – nicht einmal zu den Zeiten, als wir Identität für den kraftvollsten Motor politischer Bewegungen hielten. Gemeinschaften sind immer politische Projekte, und politische Projekte können sich nicht ausschließlich auf Identität stützen. Selbst in der Zeit, als die Einheit der Schwarzen als unabdingbare Voraussetzung des Kampfes galt, war sie eher eine Fiktion als alles andere. Die Spaltungen entlang von Klasse, Geschlecht und sexueller Orientierung, die unmittelbar unter der Oberfläche dieses Einheitskonstrukts lauerten, brachten diese und andere Heterogenitäten unerbittlich zum Vorschein und machten eine »Einheit« zu einem unmöglichen Traum. Es ist interessant, wie viel schwerer es ist, Diskurse zu transformieren, als neue Institutionen aufzubauen. Viele Jahrzehnte nachdem sich die Fiktion einer schwarzen Einheit als Illusion erwies, geht man in den schwarzen Gemeinschaften immer noch fast unisono davon aus, dass nur eine solche Einheit uns Fortschritt bringen wird. Selbst jetzt, wo wir auf Figuren wie Condoleezza Rice und Clarence Thomas verweisen können, halten die Menschen an diesem Traum von der Einheit fest. Junge Menschen, die gerade erst beginnen, ein Gefühl für sich in der Welt zu entwickeln, glauben weiterhin, die einzige Art, wie wir für die vielen schwarzen Menschen, deren Leben wirtschaftlich und intellektuell verarmt ist, eine bessere Zukunft schaffen können, sei die Vereinigung der gesamten schwarzen Gemeinschaft. Ich höre das immer wieder. Aber was soll der Zweck einer solchen Vereinigung sein? Wie sollte man überhaupt Menschen über all die komplizierten Trennlinien von Politik und Klasse hinweg zusammenbringen? Es wäre heute vergeblich, eine einzige schwarze Gemeinschaft schaffen zu wollen. Aber es ist sehr wohl sinnvoll, sich zum Ziel zu setzen, Gemeinschaften zu organisieren, allerdings nicht einfach um ihr Schwarzsein, sondern in erster Linie um politische Ziele herum. Bei politischem Kampf ist es nie so sehr um die Frage gegangen, an welchen Identitäten er sich festmacht oder andere ihn festmachen, sondern um die Frage, welches Verständnis er davon hat, wie »Rasse«, Geschlecht, Klasse oder Sexualität sich auf die Konstruktion menschlicher Beziehun78

gen in dieser Welt auswirken. Während des Black History Month und des Women’s History Month reden wir immer gerne von den »Ersten«: der ersten schwarzen Astronautin, der ersten schwarzen Richterin am Obersten Gerichtshof, dem ersten schwarzen Chirurgen und so weiter. Condoleezza Rice war die erste schwarze Frau, die Außenministerin wurde. Wie ich inzwischen schon oft gesagt habe, würde ich die Gelegenheit, das als Sieg zu feiern, mit Freuden gegen einen weißen Außenminister tauschen, der sich an die Spitze all derer von uns stellen würde, die dem weltweiten Krieg ein Ende machen wollen. Kannst du etwas über das Verhältnis sagen, in der eine amerikanische Demokratie von falschen Gleichheiten und leeren Universalien zu jener Art von Folter und von geschlechtlich diversifizierten Folterer:innen steht, die wir in Guantánamo und Abu Ghraib gesehen haben? Was sich hinter dem von den Bush-Administrationen propagierten Modell von »Demokratie« verbirgt, ist die falsche Gleichheit des kapitalistischen Marktes, der illusorischen Freiheit, die sie allen vorgaukelt. Marx hat schon vor langer Zeit die tiefsitzenden Ungleichheiten enthüllt, die die Basis dessen bilden, was ich immer noch gerne als bürgerliche Demokratie bezeichne. Aber die Politik und die Verkündigungen der Bush-Administration laufen auf eine Parodie selbst dieser Zerrbilder hinaus. Wenn Demokratie auf die schlichte Tatsache von Wahlen reduziert wird und man dabei auch noch vergisst, dass diese Wahlen durch die massenhafte Brutalität und Zerstörung, die das US-Militär dem Irak zugefügt hat, herbeigeführt wurden, dann ist alles, was wir vielleicht als Freiheit betrachten könnten, bereits verschwunden. Diejenigen, die die geschlechtliche und rassiale Zusammensetzung der US-Armee als dramatisches Beispiel für die Gleichheit präsentieren, die durch Demokratie ermöglicht wird, haben offensichtlich alles aus dem Auge verloren, was die Demokratie an Zukunftsversprechen bereithalten könnte. Geschlechtergleichheit im Militär wird als das gleiche Recht präsentiert, an jedem Aspekt des militärischen Lebens teilnehmen zu können, einschließlich der gleichen Möglichkeit, sich an der Gewalt zu beteiligen, die bis dahin als das Vorrecht der Männer betrachtet worden war. Diese Herangehensweise an Gleichheit lässt keinen Raum für die Herausforderung des Status 79

quo. Die Ironie der Tatsache, dass Frauen dazu beitrugen, Gefangenen in Abu Ghraib physische, mentale und sexuelle Folter zuzufügen, liegt darin, dass ihre Beteiligung darauf verweist, in welchem Maß diese abstrakte, formale Demokratie im Militär erfolgreich Einzug gehalten hat. Wenn Gleichheit am Zugang zu repressiven Institutionen gemessen wird, die unverändert bleiben oder durch die Zulassung jener, denen der Zutritt zuvor verwehrt war, sogar noch gestärkt werden, scheint mir, dass wir auf anderen Kriterien für Demokratie beharren müssen: substantiellen ebenso wie formalen Rechten, dem Recht auf Freiheit von Gewalt, dem Recht auf Arbeit, Wohnen, Gesundheitsfürsorge und gute Bildung. Kurz, auf sozialistischen statt kapitalistischen Konzeptionen von Demokratie. Übersetzt von Michael Schiffmann

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Andrew Dilts Krise, Kritik und Abolition In einer Reihe von Essays in der Boston Review, veröffentlicht im Jahr nach der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten, zieht der Historiker Robin D. G. Kelley eine Bilanz jener Krise, die durch den Wahlerfolg des Trumpismus entstanden ist.1 Trumps Wahl, so Kelley, sei alles andere als auf die leichte Schulter zu nehmen. »Dass Donald J. Trump gewählt wurde«, stellt er fest, »war ein nationales Trauma, eine Katastrophe von historischem Ausmaß, die Millionen in den Vereinigten Staaten und auf der ganzen Welt in den Zustand eines enormen Schocks, einer Unsicherheit, tiefen Depression und echten Furcht versetzt hat.« Aber, so fährt er fort, »das Ergebnis hätte uns nicht überraschen dürfen«.2 Als Historiker afroamerikanischer Kultur und Politik hat Kelley stets darauf aufmerksam gemacht, dass die Erfahrungen und das Denken von Schwarzen Menschen in den Vereinigten Staaten zeigen, dass – mit dem Philosophen Charles Mills gesprochen – die white supremacy (weiße Vorherrschaft) »das namenlose politische System ist, das die moderne Welt zu dem gemacht hat, was sie heute ist«.3 Kelleys Analyse leugnet nicht, dass wiedererstarkte und wachsende faschistische Bewegungen derzeit Wahlerfolge ausnutzen, um ihre Macht zu konsolidieren und zu legitimieren. Aber es wäre falsch, insistiert Kelley, dies als eine gänzlich »neue« Krise zu sehen. »Wir stehen nicht vor einer Anomalie«, schreibt er, »einer unerwarteten Krise in einem System, das ansonsten eine astrein laufende Demokratie wäre.«4 Wenn die Krise des Trumpismus »neu« erscheint, dann liegt das weniger an einem radikalen Bruch 1 Robin D. G. Kelley, »Trump Says Go Back, We Say Fight Back«, in: Boston Review, 15. 11. 2016, 〈https://bostonreview.net/forum_response/robin-d-g-kelley-trump-saysgo-back-we-say-fight-back〉; ders., »Births of a Nation«, in: Boston Review, 6. 3. 2017, 〈https://bostonreview.net/articles/robin-d-g-kelley-births-nation/〉; ders., »One Year Later«, in: Boston Review, 8. 11. 2017, 〈https://bostonreview.net/race-po litics/robin-d-g-kelley-one-year-later〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 2 Kelley, »Trump Says Go Back, We Say Fight Back«. 3 Charles W. Mills, The Racial Contract, Ithaca (NY) 1997, S. 1. 4 Kelley, »One Year Later«.

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mit den in den USA tradierten Formen von Herrschaft und Unterdrückung als vielmehr daran, dass wir eine Rückkehr zu der ungeschminkten und offenen Form der white supremacy als politisches System erleben. Kelley erinnert uns daran, dass wir diese Krise als die jüngste in einer langen Reihe von Krisen verstehen sollten, mit denen vermeintlich demokratische Nationen konfrontiert sind, die durch Massenausgrenzung, Zwangsarbeit, Kolonialismus und Völkermord gegründet und aufrechterhalten wurden. Oder wie Kelley es während eines Plenarvortrags im Sommer 2017 noch prägnanter formulierte: »Eine Krise für wen? Meine Leute haben schon Jahre vor Trump in einer Krise gelebt.«5 In seinen Aufsätzen diskutiert Kelley, dass das Gefühl der Krise, das viele Menschen in den Vereinigten Staaten verspüren, nicht nur unter den politisch Linken am ausgeprägtesten war, sondern auch eine Krise innerhalb der Linken darstellte. Als der Wahlausgang übereilt als Resultat »wirtschaftlicher Angst« erklärt wurde (und so übersehen wurde, dass rassistische Ressentiments ein weitaus stärkerer Prädiktor für die Unterstützung von Trump waren), richteten viele politisch links Eingestellte ihre Wut gegen Aktivist:innen of color und linke Kritiker:innen der etablierten demokratischen Politik. »Die Reaktion seitens hochkarätiger Liberaler und Linker«, schrieb Kelley kurz nach Trumps Amtseinführung, »bestand darin, ›Identitätspolitik‹ dafür verantwortlich zu machen, dass das Potential für Solidarität in der Arbeiter:innenklasse untergraben wurde.«6 Nach einer solchen Darstellung »entfremdeten people of color, queere Menschen, feministisch gesinnte Frauen und progressive Demokrat:innen die weiße Arbeiter:innenklasse und trieben sie in die Arme von Trump«.7 Dieses Argument, wie Kelley bemerkt, »ist sowohl unangebracht als auch verquer«: Die Bewegungen, die mit dem »Identitätsliberalismus« assoziiert werden, konzentrieren sich nicht auf Gruppenidentitäten in einem eng verstandenen Sinn, sondern auf Formen der Unterdrückung, Ausgrenzung und Marginalisierung. Und diese Bewegungen sind nicht ausgrenzend – weder Black Lives Matter noch Gefängnisabolitionismus noch Bewegungen für LGBTQ, migrantische, muslimische und reproduktive Rechte. Sie sind viel5 Kelley, »Trumpism and the Crisis of the Left«. 6 Kelley, »Births of a Nation«. 7 Ebd.

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mehr ernsthafte Bemühungen, die Ursachen der zähen Ungleichheit zu hinterfragen, die Barrieren für Chancengleichheit und die Strukturen und die Politik, die einigen Gruppen auf Kosten anderer Schaden zufügen.8

Mit beunruhigender Häufigkeit scheinen diejenigen, die sonst darauf bestehen, dass sie »Verbündete« von Bewegungen für Schwarze, queere, indigene und geschlechtliche Befreiung sind, zu den Ersten zu gehören, die die Forderungen nach einem Ende der Polizeigewalt, nach einem Ende der Inhaftierung (in all ihren Formen und nicht nur ihrer »Massenausformung«), nach einem Ende der Grenzen, des Kapitalismus, des Patriarchats und des Siedlerkolonialismus zurückweisen. Solche Forderungen, so das Argument, seien nicht nur unmöglich zu erfüllen, sondern angesichts des aufkommenden Faschismus unverantwortlich. Schon lange vor den US-Präsidentschaftswahlen 2016 kamen übertriebene Formen der Besorgnis innerhalb der Linken auf, die darauf bestanden, dass Kritik und Vorwürfe zu Wahlverlusten für die Linke führen würden und dass die Kritiker:innen selbst für so etwas wie »linke Wählerunterdrückung« verantwortlich wären.9 Überraschend ist dies vielleicht nicht: Wenn traditionell liberale und Mitte-links-Positionen direkt angegriffen werden, besteht die Tendenz, radikalere politische Positionen zu meiden und sich in eine Nostalgie für den Wohlfahrtsliberalismus, in dem die Normen des Multikulturalismus und der Integration unter den neoliberalen Konsens zwischen der linken Mitte und dem reaktionären Konservatismus subsumiert wurden, zurückzuflüchten. Als Teil dieser jüngsten Wiederholung linker Melancholie gibt es einen starken Anreiz, in Wahlpolitik zu investieren (anstatt radikale Konfrontationen mit Faschist:innen zu unterstützen), »realistisch« zu sein (anstatt das Unmögliche zu fordern) und die Reform von Polizei oder Gefängnissen zu unterstützen (anstatt sie abzuschaffen). Was aber, wenn die spezifische Gefahr dieser Krise darin besteht, dass unsere 8 Ebd. 9 Dieser spezielle Vorwurf stammt aus einem vielgelesenen Artikel von Rebecca Solnit aus dem Jahr 2012, in dem sie argumentiert, dass Kritik innerhalb der Linken selbst eine Quelle der politischen Demobilisierung sei. Vgl. Rebecca Solnit, »Rain on Our Parade: A Letter to the Dismal Left«, in: Common Dreams, 27. 9. 2012, 〈https:// www.commondreams.org/views/2012/09/27/rain-our-parade-letter-dismalleft〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022.

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Reaktionen darauf tief in den imperialistisch-kolonialistisch-heteropatriarchalen white-supremacist-Institutionen und -Praktiken verhaftet bleiben? Was wäre, wenn wir diese Bindungen nicht aufbrechen, sondern sie angesichts dessen, was in einer Krise »derzeit möglich« ist, als notwendig reartikulieren? Wenn es sich bei der aktuellen Krise um eine neue Krise handeln soll – und nicht um eine Fortsetzung der andauernden Krise, die durch die sich überschneidenden Ausschlüsse von indigener Bevölkerung, Schwarzen Menschen und Frauen gekennzeichnet ist –, dann ist von einer Krise zu sprechen, die in hohem Maße eine des Mitte-links-Liberalismus ist. Zudem ist es eine Krise, die dringend einer radikalen Kritik bedarf. In diesem Essay vertrete ich die Ansicht, dass eine Form der radikalen Kritik, die für diesen Moment besonders geeignet ist, bereits vorhanden ist. Es handelt sich um eine Tradition der historischen und kritischen Analyse, die (teilweise) auf dem Werk von W. E. B. Du Bois aufbaut, theoretisch von der Philosophin Angela Davis (unter anderem) erweitert und von Aktivist:innen sozialer Bewegungen unter dem Namen einer abolitionistischen Politik weithin praktiziert wird. Der Name, den Du Bois dem kurzlebigen Zeitraum in den Jahren nach dem Bürgerkrieg gab, in dem die Abschaffung der Sklaverei sowohl die »negative« Emanzipation Schwarzer Menschen aus der Sklaverei als auch den »positiven« Aufbau von Institutionen, Praktiken und Ressourcen umfasste, die für die Freiheit Schwarzer Menschen notwendig waren, lautet »Abolition Democracy«. Wie vielfach von abolitionistischen Denker:innen und Aktivist:innen des 20. Jahrhunderts angemerkt, stellt »Abolition Democracy« das Grundkonzept für die breitere abolitionistische Bewegung (die sich in der Regel auf die Abschaffung der Gefängnisse und der Polizei konzentriert, aber mit einer Vielzahl von Bewegungen für Selbstbestimmung und Befreiung zusammenarbeitet). Und, wie ich hier argumentieren werde, der Abolitionismus bietet ein robustes Modell der Kritik, das für unsere gegenwärtige Situation besonders geeignet ist, gerade weil es ein Projekt des Aufbaus einer Welt mit offenem Ende ist.10 10 Ich bin wohl kaum die erste Person, die direkte Verbindungen zwischen abolitionistischer Politik und den Traditionen der kritischen Theorie und Kritik herstellt. Zu einer Reihe von Quellen, die diese Verbindung explizit machen, siehe Che Gossett »Abolitionist Imaginings: A Conversation with Bo Brown, Reina Gossett, and Dylan Rodríguez«, in: Eric A. Stanley, Nat Smith (Hg.), Captive

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Ich gliedere meine Darstellung der abolitionistischen Kritik in drei Teile, wobei ich mich von höheren Abstraktionsebenen zum Konkreten bewege. Zunächst gebe ich eine allgemeine Einführung in die abolitionistische Theorie und verbinde Du Bois’ historische Darstellung der »Abolition Democracy« mit einer dialektischen Theorie der Kritik und Analyse. Im zweiten Schritt verenge ich meinen Fokus auf die zeitgenössische abolitionistische Praxis und zeige, wie abolitionistische Kritik immer mit spezifischem politischen und sozialen Handeln verbunden ist, wobei das Handeln besser als eine fortlaufende Praxis oder Organisationsstrategie verstanden werden sollte, in der positiver Aufbau und negativer Abbau ineinander übergehen. Drittens stelle ich die Verbindung zwischen abolitionistischer Theorie und Praxis am Beispiel von Critical Resistance, einer der bekanntesten und ältesten Organisationen zur Abschaffung von Gefängnissen in den Vereinigten Staaten, heraus. Meine These ist, dass die Arbeit und das Denken von Critical Resistance die Menschen durch – und nicht trotz – ihres Engagements für eine schonungslose Kritik am Reformismus mobilisiert, anstatt sie zu demobilisieren. Insofern schließe ich mit der Überlegung, was dies für diejenigen von uns bedeuten sollte, die sich nicht nur um die Angemessenheit der »Kritik« angesichts des Faschismus und des liberalen Rückzugs sorgen, sondern auch für diejenigen, denen es um die fortlaufende Arbeit der Befreiung von siedlungskolonialen, von white supremacy geprägten und heteropatriarchalen Systemen geht, in denen wir uns weiterhin befinden.

Genders: Trans Embodiment and the Prison Industrial Complex, Oakland 2011, S. 323-342; siehe auch: Liat Ben-Moshe u. a., »Critical Theory, Queer Resistance, and the Ends of Capture«, in: Geoffrey Adelsberg u. a. (Hg.), Death and Other Penalties: Philosophy in a Time of Mass Incarceration, New York 2015, S. 266-295.

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Abolition Democracy und abolitionistische Kritik Denn wir haben die alten Muster der Erwartung und Reaktion verinnerlicht, und diese alten Strukturen der Unterdrückung müssen verändert werden, wenn wir die Lebensbedingungen ändern wollen, die sich aus diesen Strukturen ergeben. – Audre Lorde11

Der Imperativ der Abolition, ihre politische und theoretische Kraft, besteht darin, aus den bestehenden Unterdrückungssystemen heraus abzubauen, aufzubauen und umzubauen. Es geht darum, die gegebenen Bedingungen als real, materiell und zwingend anzuerkennen. Doch erkennt der abolitionistische Imperativ dabei an, wie diese Bedingungen ihre Realität, ihre Materialität und ihre Kraft erhalten haben. Abolition ist eine Weigerung, diese Bedingungen als natürlich oder unumstößlich zu betrachten, selbst wenn das Projekt des Abbaus, des Aufbaus und des Umbaus unmöglich erscheint. Sie lässt nicht zu, dass es der gegenwärtigen Krise gelingt zu verhindern, die andauernde Krise wahrzunehmen. Abolition ist das Werk einer radikalen Negation, eines maßlosen und beinahe fanatischen »Nein«. Es ist das »Nein« zur gegenwärtigen Ordnung, das den Weg für andere Lebens- und Handlungsweisen bereitet, die sich nicht auf Logik oder die Forderungen des derzeit Gegebenen stützen. Als politisches und theoretisches Projekt identifiziert Abolition bestimmte Institutionen (wie etwa die Polizei oder das Gefängnis) und stellt ihre konstitutiven Praktiken und Denkweisen heraus, wobei diese Praktiken und Episteme als Objekte markiert werden, die abgebaut und transformiert werden müssen. Sie benennt diese Institutionen selbst als Probleme, die es zu konfrontieren gilt, auch wenn sie nicht als Probleme erscheinen. Viel zu oft werden »Probleme« bereits in verdaulichen und verständlichen Begriffen dargestellt, als Dinge, mit denen wir bereits vertraut sind und die uns insofern beunruhigen, als sie den normalen Fluss von Praktiken und Ereignissen stören. In einem solchen Rahmen scheinen die Probleme offensichtlich zu sein. Doch diese scheinbare Offen11 Audre Lorde, »Age, Race, Class, and Sex: Women Redefining Difference«, in: dies., Sister Outsider: Essays and Speeches, Freedom (CA) 1984, S. 114-123, hier S. 123.

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sichtlichkeit dessen, was ein Problem ist (und was nicht), ist selbst eine Möglichkeit, unser Denken über sie und unser Handeln als Reaktion auf sie zu lenken. Probleme als gegeben hinzunehmen, bedeutet, sie als eine Domäne des »politischen« Fachwissens zu betrachten, was oftmals die kritische Analyse ausschließt.12 Die Frage ist, wie sich jene Probleme als »ebensolche« darstellen können. Die Philosophin Sarah Tyson beschreibt es so: Kritik ist die Praxis, sich etwas auf sinnvolle Weise anzueignen, so dass man lernt, wo und wie diese Sache zusammenbricht, und dann im nächsten Schritt diesen Zusammenbruch als Gegenstand des Denkens und Handelns zu verfolgen.13 Kritik ist, wenn man über die normative Beschreibung oder Bewertung einer Sache, eines Ereignisses oder einer Praxis hinausgeht und die Dinge einbezieht, die bei der Bewertung dieser Sache als selbstverständlich angesehen werden. Kritik ist eine Spurensuche nach dem Zusammenbruch, um herauszufinden, wie ein Problem zu einem solchen wurde: eine Genealogie des Problemwerdens. Und sie erfordert eine Immanenz (ein Verweilen, einen engen Kontakt) mit dem Objekt der Kritik, die notwendigerweise unangenehm, beunruhigend und riskant ist. So stellt Kritik »Probleme« und die entsprechenden »Lösungen« als Ergebnisse politischer Projekte dar und nicht als natürliche Gegebenheiten. Dass eine solche Analyse immer schon historisch ist, sollte angesichts der engen Verbindungen, in der sich die zeitgenössische abolitionistische Theorie mit ihren historischen Vorläufern sieht, nicht überraschen. Im US-Kontext wird diese Verbindung als das »unvollendete« oder »unerfüllte« Projekt der Abschaffung der Sklaverei verstanden. Wie der Ethnic-Studies-Forscher und Abolitionist Dylan Rodríguez erörtert: Es ist sowohl eine enorme Verpflichtung als auch eine Ehre, die unabgeschlossene Arbeit der besten unserer abolitionistischen Vorläufer:innen fortzusetzen – jener, die nicht nur die Abschaffung der white-supremacist-Sklaverei und der normalisierten anti-Schwarzen Gewalt wollten, sondern die auch erkannten, dass das größte Versprechen des Abolitionismus eine umfassende Transformation einer Zivilisation war, in der die Unantastbarkeit der weißen Zivilgesellschaft durch ihre Fähigkeit bestimmt 12 Vgl. Stefano Harney, Fred Moten, »Policy and Planning«, in: Social Text, 27/3 (2009), S. 182-187, hier S. 183. 13 Persönliche Korrespondenz, 1. Juni 2018.

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wurde, »Gemeinschaft« und »Sicherheit« durch ihre Kapazität zu rassistisch motivierten Völkermorden zu definieren. Die heutige Arbeit der […] Abolition muss mit einer substantiellen Anerkennung ihrer historischen Wurzeln in den Befreiungskämpfen gegen Sklaverei, Kolonisierung und Eroberung fortfahren.14

Ein solcher historischer Ansatz stützt sich ganz unmittelbar auf Du Bois’ Darstellung der Abolition Democracy. Neben Rodríguez haben auch Theoretiker:innen wie Angela Davis, Robin D. G. Kelley, George Lipsitz und Joel Olson auf Du Bois’ Darstellung der Abolition Democracy verwiesen, um ein Projekt mit offenem Ende zu beschreiben, in dem die Befreiung Schwarzer Menschen über die negative Freiheit der Emanzipation von der Sklaverei im 19. Jahrhundert positiv hinausgeht. Du Bois führt den Begriff Abolition Democracy in Black Recon­ struction ein, seiner materialistischen Geschichte des 20-jährigen Zeitraums nach dem Bürgerkrieg, der sich von 1860 bis 1880 erstreckt. Der politische Theoretiker Cedric Robinson – einer der sorgfältigsten Analytiker der historischen und konzeptionellen Verbindungen zwischen race und Kapitalismus – hält fest, dass es sich gemäß Du Bois’ Beschreibung in Black Reconstruction bei der US-amerikanischen Sklaverei um »eine besondere historische Entwicklung des Kapitalismus [handelte], wodurch die Ausbeutung des Mehrwerts der Arbeit afroamerikanischer Arbeiter:innen organisiert wurde. Sie war ein Subsystem des weltweiten Kapitalismus.«15 Du Bois zeigt, dass die Abolition der Sklaverei sowohl eine »negative« Gestalt (die Befreiung von der Sklaverei) als auch eine »positive« (den Aufbau von Institutionen, Praktiken und Ressourcen, die für die Freiheit Schwarzer Menschen notwendig sind) hatte.16 Doch das Projekt der positiven Abolition war nur von kurzer Dauer. Wäre die positive Emanzipation der Schwarzen Arbeiter:innen fortgeführt worden, wäre nicht nur das politische Leben (einschließlich ech14 Liz Samuels, David Stein, »Perspectives on Critical Resistance«, in: Critical Resistance (Hg.), Abolition Now! Ten Years of Strategy and Struggle Against the Prison Industrial Complex, Oakland 2008, S. 1-14, hier S. 8. 15 Cedric Robinson, »A Critique of W. E. B. Du Bois’ Black Reconstruction«, in: Black Scholar, 8/7 (1977), S. 44-50, hier S. 45. 16 Zu Du Bois’ Unterscheidung zwischen »positiven« und »negativen« Abolitionist:innen im 19. Jahrhundert siehe Jasmine Noelle Yarish, »#IfIDieInPoliceCustody: Neo-Abolitionism, New Social Media, and Queering the Politics of Respectability«, in: National Political Science Review, 19/2 (2018), S. 50-68.

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ter politischer Partizipation, wenn auch nicht darauf beschränkt), sondern auch das wirtschaftliche und soziale Leben einer radikalen Neuordnung und Umgestaltung unterzogen worden. Wie Robinson in deutlicher Anlehnung an Du Bois’ Analyse feststellt, wurde der moderne Kapitalismus durch die Integration der Schwarzen Arbeiter:innen in die industrielle Wirtschaft durch die Sklaverei ermöglicht und dann durch »die Demontage und Zerstörung der ›Diktatur der Arbeit‹, die während der Reconstruction im Süden der USA errichtet wurde«, neu formiert.17 Das Scheitern der Abolition Democracy und ihres Programms der Neuinstitutionalisierung und wirtschaftlichen Umgestaltung im Interesse der Befreiung Schwarzer Menschen brachte auch einen »neuen Kapitalismus und eine neue Versklavung der Arbeit« hervor.18 Wie Robin Kelley uns erinnert, zeigt Du Bois’ Analyse, wie vorübergehende Räume positiver Schwarzer Befreiung im gesamten Süden durch einen Konsens zwischen liberalen und konservativen Weißen untergraben wurden. Der politische Theoretiker Joel Olson beschreibt diesen Moment in seiner eigenen Lektüre von Du Bois so: Die »klassenübergreifende Allianz«, die zwischen den angehenden weißen Arbeiter:innen und den kapitalistischen Klassen geschmiedet wurde – deren Ziel in der fortgeführten Ausbeutung der Arbeiter:innen (im Süden und im Norden) auf Kosten der Schwarzen Arbeiter:innen, der weißen Arbeiter:innen und der rassenübergreifenden Solidarität zwischen allen Arbeiter:innen bestand – setzte der obengenannten »positiven« Emanzipation ein Ende.19 Bis 1876 wichen die Errungenschaften der Abolition Democracy dem, was Du Bois als das »glänzende Scheitern« der Emanzipation bezeichnete.20 Von denjenigen, die sich auf Du Bois’ Begriff berufen haben, ist es allen voran die Philosophin und Gefängnisabolitionistin Angela Davis, die Abolition Democracy als Analyserahmen populär gemacht hat. In ihrem Buch Abolition Democracy: Beyond Empire, Prisons and Torture beschreibt Davis die Zusammenhänge zwischen 17 Robinson, »A Critique of W. E. B. Du Bois’ Black Reconstruction«, S. 46. 18 W. E. B. Du Bois, Black Reconstruction in America: Toward a History of the Part of Which Black Folk Played in the Attempt to Reconstruct Democracy in America, 1860-1880, New Brunswick 2012, S. 566; Robinson, »A Critique of W. E. B. Du Bois’ Black Reconstruction«, S. 46. 19 Vgl. Joel Olson, The Abolition of White Democracy, Minneapolis 2004. 20 Du Bois, Black Reconstruction in America, S. 633.

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dem sogenannten Krieg gegen den Terror (War on Terror), wie er von den (und innerhalb der) USA geführt wird, und der weitaus längeren Geschichte von Freiheitsentzug, Inhaftierung und körperlicher Folter, die von den (und innerhalb der) USA praktiziert wird. Aufbauend auf ihren früheren Studien über den rassistischen Charakter von Inhaftierung und strafrechtlicher Bestrafung in den Vereinigten Staaten stellt Davis eine direkte Verbindung zwischen dem Ende der Sklaverei im 19. Jahrhundert und dem Einsatz von Gefängnissen in der Zeit nach dem Bürgerkrieg her. Diese historischen und funktionalen Verbindungen zwischen der Sklaverei und dem US-amerikanischen Strafvollzugssystem haben in den letzten Jahren sowohl in akademischen als auch in populären Kreisen große Wellen geschlagen. Populäre Konzepte und Begriffe wie »gefängnisindustrieller Komplex« (Prison Industrial Complex), Masseninhaftierung oder »das neue Jim Crow«21 haben Einzug in eine Vielzahl von politischen Diskussionen gehalten – wenn auch oft unzulänglich artikuliert und missverstanden. Nichtsdestotrotz weist jeder dieser Begriffe darauf hin, dass »das Gefängnis« ein Ort ständiger Krisen, anhaltender rassistischer und sexistischer Unterordnung ist und unbedingt der »Reform« bedarf. Die Frage lautet dann allerdings, ob das Gefängnis (beziehungsweise die anderen entsprechenden Gegenstände der Kritik) »reformiert« werden kann, ohne sich mit den zugrundeliegenden Praktiken zu befassen, die es hervorgebracht haben. Sobald uns Forderungen nach der »Reform« einer Praxis oder Institution intelligibel erscheinen, hat die Arbeit der Problemdefinition nicht begonnen, sondern bereits aufgehört. Insofern darf nicht vergessen werden, dass Davis den Begriff der Abolition De­ mocracy von Du Bois als Analyserahmen nicht nur für das Verständnis des »Gefängnisses« als eines Orts, sondern als eine Denkweise über Einsperr- und Folterpraktiken sowie rassistische und sexistische Unterdrückung heranzieht. So hält sie Du Bois’ grundlegende Einsicht in Black Reconstruction – dass 1865 die Sklaverei nur negativ 21 Die Jim-Crow-Gesetze bezeichnen ein politisch-rechtliches Regime rassistischer Segregation, welches speziell in den Südstaaten nach der formalen Abschaffung der Versklavung eingerichtet wurde und bis Mitte der 1960er Jahre in Kraft war. Dabei ging es vor allem um die rassistische Segregation auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt sowie im Bildungssystem und in öffentlichen Einrichtungen. [Anm. d. Hg.]

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beseitigt war, jedoch eine »umfassende« Abolition ausblieb – wach und überträgt dieses Argument auf zwei nachfolgende Abolitionsbewegungen in den Vereinigten Staaten: die für die Abschaffung der Todesstrafe und der Gefängnisse. Davis schreibt: Um eine umfassende Abschaffung der Sklaverei zu erreichen, nachdem die Institution für illegal erklärt worden war und die schwarzen Menschen aus ihren Ketten befreit wurden, hätten neue Institutionen geschaffen werden müssen, um die Schwarzen in die gesellschaftliche Ordnung einzubeziehen.22

Genauso wie die negative Beseitigung der Sklaverei ohne Transformation zu entsprechenden Institutionen und Praktiken der Freiheit ein produktives Scheitern war, wird die bloße Beendigung der Hinrichtung und des Einsperrens ohne die Schaffung neuer sozialer, wirtschaftlicher und politischer Institutionen zur Emanzipation der vom Staat kriminalisierten Personen ebenfalls eine Fortsetzung dieses Scheiterns sein. Davis fährt fort: [W]enn wir den Ansatz der abolitionistischen Demokratie auf die Abschaffung der Gefängnisse anwenden, sollten wir dazu die Schaffung einer ganzen Reihe sozialer Institutionen vorschlagen, die sich mit der Lösung der sozialen Probleme befassen würden, die die Menschen auf den Weg ins Gefängnis befördern, und die somit dazu beitragen würden, die Gefängnisse überflüssig zu machen. Es gibt hier einen direkten Bezug zur Sklaverei: Als die Sklaverei abgeschafft wurde, wurden die Menschen in die Freiheit entlassen, aber sie hatten keinen Zugang zu den materiellen Ressourcen, die ihnen erlaubt hätten, sich ein neues, freies Leben aufzubauen. Die Gefängnisse hatten im Lauf der letzten hundert Jahre gerade deshalb Hochkonjunktur, weil diese Ressourcen fehlten und etliche Tiefenstrukturen der Sklaverei weiterbestanden.23

Für Davis beschreibt Abolition Democracy nicht nur eine Periode in der Geschichte der USA, sondern auch einen bestimmten »Ansatz« kritischer Analyse. Als Rahmenkonzept steht Abolition Democracy für ein dialektisches Verständnis davon, wie die Erreichung einer sinnvollen Freiheit den Aufbau neuer Institutionen benötigt, der nur in und durch die Abolition alter Institutionen möglich ist. Indem Davis die negativen und positiven Aspekte der Abolition 22 Angela Davis, »Abolitionistische Demokratie«, im vorliegenden Band, S. 74. 23 Ebd., S.  75.

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als eine fortlaufende Bewegung hin zu einem neuen Horizont anerkennt, verdeutlicht sie, dass das »Wie« für die Abolition von zentraler Bedeutung ist. Wenn man, wie Davis anmerkt, die Abschaffung der Todesstrafe isoliert von der Abschaffung der Gefängnisse betrachtet, ist es beispielsweise möglich, eine Ausweitung der Gefängnisse als Weg zur »Abschaffung« der Todesstrafe zu befürworten: Lebenslänglich ohne die Möglichkeit der Bewährung (life without the possibility of parole, LWOP) anstelle des »Todes«. Aber der Tausch von »Tod« (Hinrichtung) gegen »Leben« (lebenslange Haft) ist keine Abolition, die diesen Namen verdient, sondern ein »glänzendes Scheitern«. Eine solche »Abolition« führt nicht nur nicht zur Abschaffung des Tötens (sie tauscht eine Todesart gegen eine andere aus: Tod im Gefängnis statt Hinrichtung), sondern sie verstärkt auch die Praxis der Strafhaft und die Logik des »unverbesserlichen Straftäters«. Ungeachtet dessen wird die Verurteilung zu lebenslänglicher Haft ohne Bewährung von vielen Gegner:innen der Todesstrafe in den Vereinigten Staaten routinemäßig als Teil der »Abschaffung« oder »Beendigung« der Todesstrafe und als politisch »pragmatisch« propagiert. Um solchen Verlockungen leerer »Reformen« zu widerstehen, bedarf es einer radikaleren Abolition, einer gründlicheren Kritik und einer Vision des fortlaufenden Projekts der Freiheit. Abolition Democracy bietet einen kritischen Analyserahmen, in dem die Erschließung eines spezifischen Problems (der Todesstrafe) durch seine Beziehung zu anderen konkreten Problemen historisch, genealogisch und theoretisch verfolgt wird (von der Todesstrafe zur Inhaftierung und von der Inhaftierung zur rassifizierten Kriminalität). So wird eine andere Einschätzung der gegenwärtigen Situation ermöglicht (etwa die Feststellung, dass die wirkliche Abolition der Todesstrafe nicht erreicht werden kann, ohne den Horizont der Abschaffung der Gefängnisse im Auge zu behalten). Dabei geht es darum, das, was der Kriminologe Thomas Mathiesen »unabgeschlossene Lösungen« nennt, als Teil des fortlaufenden dialektischen Prozesses abolitionistischer Politik zu begreifen. Unabgeschlossene Lösungen sind solche, bei denen eine »Alternative« zu den gegenwärtigen Praktiken und Bedingungen nie als vollständig oder endgültig angeboten wird. Wie die Theoretikerin und Rechtswissenschaftlerin Allegra McLeod erklärt, eröffnet die Hinwendung zu partiellen und unvollendeten Lösungen für bestehende ungerechte 92

soziale Praktiken, die als »notwendig« angesehen werden, einen Raum der (Un-)Möglichkeit, weil es nicht möglich ist, eine Alternative zu schaffen, die sich wirklich und vollständig vom Status quo unterscheidet, da unsere Vorstellungskraft immer auch an unsere bestehenden sozialen Arrangements gebunden ist. Die unabgeschlossene Alternative entsteht, wenn wir uns weigern, »über das zu schweigen, worüber wir nicht sprechen können«.24

McLeods Revision von Mathiesen zeigt, dass Abolition Möglichkeiten bietet, über das Leben mit anderen zu sprechen, die diese Arbeit als ein notwendigerweise fortlaufendes und offenes Projekt anerkennen. Der Wunsch nach Abschluss und Endgültigkeit unterbricht – als Teil der Gewalt des Staates – dieses Projekt. So verstanden – nicht nur als historische Periode umfassender Abschaffung, sondern auch als Rahmen für die kritische Analyse ineinandergreifender Probleme – bezeichnet Abolition Democracy ein fortlaufendes, dialektisches und immer auch flüchtiges Projekt der gegenseitigen Befreiung. Es mag sich unserem Zugriff entziehen, aber es tut dies, indem es auf einen demokratisch konzipierten Horizont verweist, in dem, wie Abolitionist:innen stets betonen, niemand entbehrlich ist. Es ist ein genuin kritisches Projekt, das sich weigert, auf einen festen Bezugspunkt, ein teleologisches Ende oder eine fertige Lösung zu verweisen. Als solches Unterfangen agiert Abolition Democracy immer in Bezug sowohl auf die Welt, wie sie geworden ist, als auch auf eine Welt, die anders ist. Auch wenn Abolition Democracy zutiefst materialistisch ist, ist sie auch ein Projekt zur Erweiterung unserer politischen Vorstellungskraft. Sie theoretisiert, was möglich werden könnte, und interessiert sich daher besonders für das, was als unmöglich gilt. Abolition Democracy zeigt auf, dass jene Praktiken, Arrangements des politischen Lebens und des Lebens überhaupt, die als unmöglich angesehen werden, in Wirklichkeit bereits vorhanden sind und eine lebendige Quelle für kollektive Mobilisierung darstellen.25 Eine solche begriffliche 24 Allegra M. McLeod, »Confronting Criminal Law’s Violence: The Possibilities of Unfinished Alternatives«, in: Harvard Unbound, 8 (2013), S. 109-132, hier S. 121, unter Berufung auf Mathiesen. 25 Betrachten wir hierzu beispielsweise die Rhetorik und die Aktionen von queeren und trans Gefängnisabolitionist:innen wie Reina Gossett und Dean Spade, die in jüngster Zeit dafür plädiert haben, das Unmögliche zu akzeptieren und

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Umkehrung zeigt die zugleich kritische und pragmatische Stoßrichtung des abolitionistischen Imperativs, wie Lorde es im Eingangszitat dieses Abschnitts formuliert: Wir müssen die unterdrückerischen Institutionen verändern und gleichzeitig Wege finden, innerhalb dieser Institutionen zu überleben. Ein solcher Ansatz ist alles andere als rein theoretisch oder abstrakt, auch wenn er uns dazu zwingt, weitreichend und in scheinbar unmöglichen Begriffen zu denken. Abolitionistische Kritik und die Bewegung für Abolition Democracy nehmen die Negativität der Abschaffung als Motivation für positive politische, soziale und zwischenmenschliche Aktionen.

Abolitionistische Aktion Abolition bedeutet im Wesentlichen die Rückgabe von Ressourcen, nicht allein deren Aufhebung. Die Abschaffung von Polizei und Gefängnissen ist bedeutungslos, wenn sie nicht durch die Mittel ersetzt werden, die Gewalt verhindern – Wohnraum, Gesundheitsversorgung, psychologische Betreuung, öffentliche Bildung, gute Lebensmittel, ein hinreichendes Transportwesen etc. Wenn wir von »Abolition« sprechen, meinen wir die Rückführung jener Ressourcen, die unseren Gemeinschaften entzogen und in ihre Militarisierung gesteckt wurden. Wir sprechen davon, sie zurückzufordern und sie in die Optionen und Möglichkeiten umzuleiten, die unsere Gemeinschaften gesünder, glücklicher und stärker machen. Das ist die Sicherheit, auf die wir hinarbeiten. Polizei und Gefängnisse haben damit nichts zu tun. – Benji Hart26

Das »Gefängnis« und die »Polizei« sind nicht schlichtweg gegeben oder natürlich. Wenn sie so erscheinen, dann deshalb, weil sie sich eine Bewegung von Nobodys aufzubauen (anstatt das neoliberale Framing zu akzeptieren, dass jeder immer schon jemand ist). Siehe Reina Gossett, »Commencement Address at Hampshire College« (2016), 〈https://www.youtube. com/watch?v=6fwrJjkxEec〉; siehe auch: Sarah Lazare, »Now Is the Time for ›Nobodies‹: Dean Spade on Mutual Aid and Resistance in the Trump Era«, in: AlterNet, 9. 1. 2017, 〈https://www.alternet.org/2017/01/now-time-nobodies-deanspade-mutual-aid-and-resistance-trump-era/〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 26 Benji Hart, »To Fight For Black Lives Is To Be Anti-Police«, in: Radical Faggot, 2016, 〈https://radfag.com/2016/07/21/to-fight-for-black-lives-is-to-be-anti-pol ice/〉, letzter Zugriff 4. 3. 2022.

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in einer bestimmten Form und mit einer identifizierbaren materiellen Geschichte etabliert haben und somit als gegeben erscheinen. Und wie Benji Hart im obigen Geleitzitat anmerkt, werden Polizei und Gefängnisse durch einen umfangreichen Bestand an Ressourcen unterstützt, der auch anders genutzt werden könnte. Die Skepsis (und manchmal auch die Feindseligkeit und Ablehnung), die abolitionistischen Projekten entgegengebracht wird, beruht häufig auf der Vorstellung, dass die Abolition weitaus mehr Ressourcen erfordern würde, als derzeit zur Verfügung stehen: Abolition sei unmöglich, weil sie impraktikabel ist, heißt es. Im Bereich des Möglichen, so wird argumentiert, läge allenfalls eine marginale Reform der Haftbedingungen und der polizeilichen Praktiken. Und die andauernde Legitimitäts- und Effizienzkrise von Polizei und Gefängnissen eröffnete eine politische Chance für eine solche marginale Reform, die diese »natürlichen« Institutionen wieder ins Gleichgewicht bringt. Die Frage einer umfassenderen Umverteilung von Ressourcen und Macht, die mit der Schließung von Gefängnissen oder der Auflösung der Polizei einhergehen würde, scheint damit vom Tisch. Der reformistischen Position, die der Abolition ablehnend gegenübersteht, liegen jedoch fast immer zwei unausgesprochene Annahmen zugrunde: erstens, dass der gegenwärtige Zustand weitgehend gerecht ist und nur geringfügig angepasst werden muss, um zur »Normalität« zurückzukehren, und zweitens, dass die von Polizei und Gefängnis ausgehenden Schäden Ausnahmen von ihrer normalen Funktionsweise sind. Die stille Bestätigung dieser Annahmen ist die Art und Weise, wie sich die Naturalisierung von Gefängnis und Polizei vollzieht. Als eine radikale Kritik nimmt sich der abolitionistische Ansatz diese Prämissen jedoch direkt anhand der konkreten Begriffe der Sicherheit und der Gesundheit und Stärke der Gemeinschaft vor. Erstens ist der gegenwärtige Zustand weit davon entfernt, gerecht oder auch nur annähernd im Gleichgewicht zu sein. Die Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Zustands erfordert in der Tat eine ständige Ausweitung der wirtschaftlichen, politischen und affektiven Ressourcen. Man denke nur an den Anteil der staatlichen und kommunalen Haushalte, der für Polizeiarbeit und Gefängnisse aufgewendet wird und der in den letzten vierzig Jahren ständig gestiegen ist. Wie Hart anmerkt, sind dies Ressourcen, die anderswo eingesetzt werden können. Zweitens betrachtet 95

abolitionistischer Aktivismus die Schäden des »Gefängnisses« oder der Polizei nicht als Ausnahmen von der normalen Gewaltanwendung des Staates oder als Beweis für ein lediglich dysfunktionales System. Vielmehr ist diese Gewalt beispielhaft für und integraler Bestandteil des staatlichen genozidalen, kolonialen und heteronormativen Projekts der white supremacy (selbst ein politisches Projekt hierarchischer Herrschaft). Abolitionistische Aktivist:innen fragen: Was, wenn das Gefängnis gar nicht dysfunktional ist? Was, wenn es gerade genau so funktioniert, wie es soll? Die abolitionistische Kritik bietet insofern eine weitaus realistischere Darstellung der enormen Kosten – in Form von Menschenleben, Talent, Geldern, Zeit und Energie –, die entstehen, wenn die Dinge so bleiben, wie sie jetzt sind. Reformer:innen hingegen, die ganz vernarrt ins Schema der ökonomischen Kosten-Nutzen-Analyse sind, messen Wohlfahrtsgewinne und -verluste oft im Rahmen einer Grenzwertanalyse. Dieser Denkweise zufolge wird der gegenwärtige Stand der Dinge als »Nullpunkt« imaginiert, von dem aus nun zu fragen sei, ob die soziale Wohlfahrt im Verhältnis zu diesem Punkt entweder erhöht oder verringert werden solle. Die Folge ist, dass der Status quo als neutral normalisiert wird, statt realistischerweise zu zeigen, dass wir in einer zutiefst stratifizierten und ungleichen Welt leben, in der eine große Anzahl von Menschen (wenn nicht sogar die meisten) zusehen müssen, wie sie in einer unterdrückenden, dominierenden und ungerechten Gesellschaft überleben können. Der Ausgangspunkt einer abolitionistischen Perspektive ist, dass der gegenwärtige Zustand in der Tat unerträglich ist und abgebaut, wiederaufgebaut und transformiert werden muss, um Gemeinschaften zu helfen, zu überleben und zu gedeihen. In diesem Sinne steht Abolition immer auch bereits in der Tradition der nichtidealen Theorie, eher materiell als abstrakt, eher historisch als kontrafaktisch. Während »Abolition« (als theoretischer Rahmen und als Gegenstand der Analyse) in der akademischen Welt nur am Rande vorkommt, ist sie vor allem in der Praxis zu finden, als Rahmen für sozialen und politischen Aktivismus. Abolition stellt sowohl einen Organizing-Ansatz dar als auch ein Ziel, das die Abolitionist:innen realisieren wollen. Viele abolitionistische Organisationen in den Vereinigten Staaten organisieren sich zu spezifischen Themen oder um konkrete öffentliche Dienste neben der Polizei und den Ge96

fängnissen zu leisten – und tun dies auf abolitionistische Weise. Die Gefängnisabolitionistin Rose Braz drückt dies wie folgt aus: Abolition definiert sowohl das Ziel, das wir erreichen wollen, als auch die Art und Weise, wie wir heute unsere Arbeit tun. Abolition steht für eine Welt, in der wir Gefängnisse, Polizeiarbeit und das größere System des gefängnisindustriellen Komplexes nicht als ›Antwort‹ auf soziale, politische und wirtschaftliche Probleme benutzen. Abolition ist nicht nur ein Endziel, sondern eine konkrete Strategie für heute.27

Dies ist, was Allegra McLeod als »abolitionistische Ethik« bezeichnet. In ihren Worten ist die abolitionistische Ethik eine »moralische Orientierung […], die sich dafür einsetzt, die Praxis des Wegsperrens von Menschen in Käfige zu beenden und die Menschenkontrolle durch die unmittelbar drohende polizeiliche Gewaltanwendung zu beseitigen«.28 Diese Ethik kann in fast jeder politischen Bewegung als Prinzip der Übereinstimmung zwischen den Mitgliedern über die Verfolgung ihrer Ziele herangezogen werden. Abolitionistischer Aktivismus im Rahmen einer solchen Ethik erkennt an, dass »das Gefängnis« (sowohl als abstrakte Form wie auch als sehr realer und materieller Ort der Gefangenschaft und des Leidens) und »die Polizei« tief in soziale und politische Projekte eingebettet sind, die ihnen eigentlich entgegengesetzt sein sollten. Dies zeigt sich ganz unmittelbar an der Zunahme von »Lösungen« für Probleme wie Drogenmissbrauch, sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt, reproduktive Gesundheit, Wohnungslosigkeit oder psychische Gesundheit. Die entsprechenden Gegenbewegungen haben sich daher zu Recht eine abolitionistische Ethik zu eigen gemacht und lehnen die Anwendung staatlicher Gewalt als Mittel zur Lösung von derlei Problemen ab. Organisationen wie das Black Youth Project 100 (BYP100), das Sylvia Rivera Law Project (SRLP), Survived and Punished, generationFIVE und Southerners on a New Ground (SONG) lassen sich alle als abolitionistische Bewegungen verstehen (insofern sie die Abschaffung von Gefängnissen und der Polizei anstreben und sich in einer abolitionistischen Weise organisieren, indem sie Koalitionen bilden, ohne sich auf die Gewalt des 27 Samuels/Stein, »Perspectives on Critical Resistance«, S. 11. 28 Allegra M. McLeod, »Prison Abolition and Grounded Justice«, in: UCLA Law Review, 62 (2015), S. 1156-1239, hier S. 1161 f.

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Staates zu verlassen), aber gleichzeitig leisten sie spezifische Dienste und Mobilisierungsarbeit, die über einen direkten Bezug auf Gefängnisse oder Polizei hinausgehen. Um ein Beispiel zu geben: Die BYP100, die aus dem Black Youth Project an der University of Chicago (einem von Cathy Cohen gegründeten Langzeitforschungsprojekt) hervorgegangen ist, beschreibt sich selbst als »mitgliederbasierte Organisation Schwarzer Jugendaktivist:innen, die sich für Gerechtigkeit und Freiheit für alle Schwarzen Menschen einsetzt«. Gegründet wurde die BYP100 2013 unmittelbar nach dem Freispruch für George Zimmerman von der Ermordung Trayvon Martins und setzt sich seither für ein breites Spektrum an politischen Themen ein, die (zuletzt) um ein Modell der Desinvestition/Investition organisiert sind. Sie fordern den umfassenden (und sofortigen) Ausstieg aus Institutionen und Praktiken, die die Lebenschancen Schwarzer Jugendlicher (und aller Schwarzen Menschen) verringern, und eine entsprechende Reinvestition in »Black Futures« (»Schwarze Zukünfte«). Als Reaktion auf die Gewalt der Polizei (insbesondere in Chicago nach der Ermordung von Laquan McDonald durch Officer Jason Van Dyke vom Chicago Police Department im Jahr 2014) organisierte die BYP100 eine Kampagne zur Definanzierung von Polizeibehörden im ganzen Land und zur Umwidmung der entsprechenden Mittel in Wohnraum, Bildung, Arbeitsplätze und Gesundheitsversorgung für Schwarze Menschen. Sie bezeichnen sich ausdrücklich als Abo­ litionist:innen und schreiben: »Als abolitionistische Organisation, die versucht, die gegenwärtigen Systeme des Polizierens, der Inhaftierung und Bestrafung abzubauen, hat sich BYP100 stets der direkten Konfrontation mit der Polizeigewalt verpflichtet.«29 Neben dem bemerkenswerten Erfolg der Organisation bei der Veränderung politischer Diskussionen, der Entmachtung von Politiker:innen (einschließlich einer Bezirksstaatsanwältin und möglicherweise des Bürgermeisters von Chicago)30 und der Neuausrichtung der Ziele Schwarzer Politik (insbesondere in Chicago) ist bezeichnend, auf welche Weise die Organisation abolitionistische Politik als festen Bestandteil des umfassenderen Projekts zum Aufbau einer Schwar29  BYP100 Website: 〈https://www.byp100.org/〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 30 Gemeint sind die Staatsanwältin Anita Alvarez und der Bürgermeister Rahm Emanuel. [Anm. d. Hg.]

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zen Zukunft und zur kollektiven Befreiung aller Menschen versteht.31 Auch wenn man in den Selbstbeschreibungen von Organisationen wie den obengenannten bisweilen nach der ausdrücklichen Formulierung »Abolition« suchen muss, so sind sie doch in ihrem Engagement exemplarische (und nicht nur exzeptionelle) abolitionistische Kritiker:innen des Status quo. Das liegt daran, dass die Praxis der abolitionistischen Kritik (die zwar von der abolitionistischen Ethik zu unterscheiden sein mag, aber doch untrennbar mit ihr verbunden ist) sich auf die Institutionen der Polizei und der Gefängnisse konzentriert, dies aber niemals losgelöst von anderen sozialen und politischen Räumen tut. Dem Ansatz der Abolition Democracy im weiten Sinne folgend, in dem Institutionen und Praktiken immer als durch eine materielle Geschichte des Kampfes hervorgebracht verstanden werden, konzentriert sich abolitionistische Kritik auf die Infragestellung und Konfrontation mit den Bedingungen der Möglichkeit von Polizei und Gefängnissen. Im Gegensatz zu reformistischen Positionen, die davon ausgehen, dass die Krisen der Polizeigewalt oder der Masseninhaftierung nur das Produkt der gegenwärtigen Bedingungen (und somit reformierbar) sind, versteht abolitionistische Kritik das Gefängnis und die Polizei sowohl als Produkt wie auch als Reproduktionsmoment historisch bestimmter Bedingungen. So gehen positiver Aufbau und negativer Abbau in der abolitionistischen Kritik notwendigerweise Hand in Hand. Eine abolitionistische politische Agenda zielt also darauf ab, eine Welt zu schaffen, in der Gefängnisse und Polizei selbst unmöglich werden, weil die Funktionen, denen sie dienen, obsolet geworden sind (wie Angela Davis es ausdrückt). Abolition will eine Welt schaffen, in der die staatliche Gewaltanwendung nicht als »Lösung« für ein Problem angesehen wird, sondern selbst als Problem. Organisationen der Abolitionsbewegung beschränken sich also nicht auf ein enges Verständnis von Polizei oder Gefängnissen als Institutionen, die von einer breit angelegten sozialen und politischen Organisation isoliert sind. Vielmehr mag es bisweilen den Anschein haben, dass sie sich nicht primär auf die Abolition von 31 Zu einer ausgezeichneten Darstellung der Gründung von BYP100 und ihrer abo­ litionistischen Grundlage siehe Barbara Ransby, Making All Black Lives Matter: Reimagining Freedom in the Twenty-First Century, Oakland 2018.

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Gefängnissen und Polizei konzentrieren und abolitionistische Prinzipien nicht in ihre Praxis einbeziehen. Da es sich bei Abolition jedoch um ein politisches Projekt mit offenem Ende handelt (das auf Horizonte und nicht auf statische Ziele ausgerichtet ist), praktizieren diese Organisationen Abolition als kritische Form und Praxis. Dan Berger, Mariame Kaba und David Stein geben einen Überblick darüber, was Abolitionist:innen tun: Abolitionist:innen haben sich für die Abschaffung von Einzelhaft und Todesstrafe eingesetzt, den Bau neuer Gefängnisse gestoppt, die Kaution abgeschafft, die Befreiung von Menschen aus dem Gefängnis organisiert, sich gegen die Ausweitung der Bestrafung durch Gesetze gegen Hassverbrechen und Überwachung gewehrt, sich für eine allgemeine Gesundheitsversorgung eingesetzt und alternative Formen der Konfliktlösung entwickelt, die sich nicht auf das staatliche Strafsystem stützen.32

Entsprechend ist die vielleicht wichtigste Art und Weise, wie ein kritischer abolitionistischer Verständnisrahmen das Praktische und das Theoretische miteinander verbindet, die Praxis der Mobilisierung.

Critical Resistance Ungeachtet des jeweiligen Ansatzes oder der jeweiligen politischen Neigungen sollte eines ganz klar sein: Wenn wir uns vorstellen, dass eine Welt ohne Gefängnisse so aussehen wird, wie die Welt, in der wir jetzt leben, dann denken wir nicht wirklich abolitionistisch. – The Critical Resistance Abolitionist Toolkit33

Die abolitionistische Kritik ist sowohl eine kraftvolle Form der kritischen Analyse als auch ein Mobilisierungsinstrument für politisches Handeln. Sie eignet sich besonders für Fälle von akuten Kri32 Dan Berger, u. a., »What Abolitionists Do«, in: Jacobin, 24. 8. 2017, 〈https:// jacobinmag.com/2017/08/prison-abolition-reform-mass-incarceration〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 33 Critical Resistance, Abolitionist Organizing Toolkit, S. 24, 〈http://criticalresis tance.org/wp-content/uploads/2012/06/CR-Abolitionist-Toolkit-online.pdf〉, letzter Zugriff 4. 5. 2022.

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sen innerhalb einer anhaltenden Krise. Während einige der zuvor besprochenen Organisationen ihre abolitionistische Kritik implizit durch ein geteiltes Grundinteresse (an der Abolition des Gefängnisses oder der Polizei) und durch Organisationsweisen, die die Hilfe des Staates ablehnen, artikulieren, gibt es einige wichtige abolitionistische Organisationen, die als ihr primäres Ziel ausdrücklich die Abschaffung des Gefängnisses selbst deklarieren und sich eigens um dieses Projekt herum organisieren. Eine der bekanntesten solcher Organisationen ist Critical Resistance (CR). Gegründet 1997 als nichthierarchisches Kollektiv, das sich für die Abolition des Prison Industrial Complex (PIC; dt. gefängnisindustrieller Komplex) einsetzt, zählt Critical Resistance zu den wichtigsten abolitionistischen Organisationen in den Vereinigten Staaten. Das nationale Büro befindet sich in Oakland (sowie regionale Sektionen in Los Angeles, New York und Portland). Darüber hinaus verfügt Critical Resistance über eine offene Mitgliederstruktur, einen professionellen Organisationsstab und einen Beirat, dem Aktivist:innen, Organisator:innen und Wissenschaftler:innen angehören. Die Vielzahl von Projekten, an denen diese arbeiten, umfasst offene Treffen zur politischen Bildung, Briefkampagnen, die Herausgabe einer Zeitung mit inhaftierten Mitgliedern namens The Abolitionist, die Produktion von Büchern und Videos für Organizing-Zwecke, die Unterstützung anderer abolitionistischer Kampagnen mit direkten materiellen Ressourcen und die Ausrichtung von nationalen Konferenzen. Ari Wohlfeiler (ein frühes Mitglied von Critical Resistance) fasst die Breite dieser Arbeit und ihren zentralen Organisationspunkt in folgenden Worten zusammen: »Wir haben daran gearbeitet, an jedem Punkt des PIC anzusetzen: Antiexpansionsarbeit, Lesegruppen, Rechtsberatung, Partys, Radiosendungen, Copwatching, Lobbying, politische Bildung, Veröffentlichungen, Graswurzelfundraising, Körperarbeit und Projekte des Heilens, Briefeschreiben mit Gefangenen, Organisieren von Wohnraum und Umweltgerechtigkeit.«34 Das Grundsatzprogramm von Critical Resistance ist sowohl in seiner Form als auch in seinem Inhalt aufschlussreich. Es liest sich als ein klares Bekenntnis zur Ablehnung des PIC sowie der damit verbundenen Überzeugungen, Praktiken und Mentalitäten, mit 34 Samuels/Stein, »Perspectives on Critical Resistance«, S. 5.

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denen Gefängnisse und alle Formen des »Einsperrens« befürwortet werden: Ziel von Critical Resistance besteht darin, eine internationale Bewegung aufzubauen, um den Prison Industrial Complex [PIC] zu beenden, indem wir der Überzeugung widersprechen, dass das Einsperren und Kontrollieren von Menschen uns sicher machen. Wir glauben, dass das Befriedigen von Grundbedürfnissen wie Nahrung, Unterkunft und Freiheit das ist, was unsere Gemeinschaften wirklich sicher macht. Unsere Arbeit ist so gesehen Teil globaler Kämpfe gegen Ungleichheit und Machtlosigkeit. Der Erfolg der Bewegung erfordert, dass sich in ihr die Gemeinschaften widerspiegeln, die am meisten vom PIC betroffen sind. Da wir die Abschaffung des PIC anstreben, können wir keine Arbeit unterstützen, die dessen Lebensdauer oder Geltungsbereich erweitert.35

An erster Stelle steht im Fokus von CR der Aufbau einer Bewegung, der politische Veränderungen nachgelagert sind. Die Arbeit ist eine des unmittelbar praktischen Organizing, das auf ein erklärtes Ziel ausgerichtet ist: die Beendigung des Prison Industrial Complex. Dieses Ziel wird in spezifisch kritischen Begriffen gefasst: die Infragestellung der weit verbreiteten ideologischen Überzeugung, dass eine Reihe bestimmter Praktiken (Einsperren und Kontrollieren von Menschen) ein gewünschtes Ergebnis (Sicherheit) hervorbringen. CR steht so gesehen für eine alternative Antwort auf die Frage, wie Sicherheit hergestellt wird (durch die Bereitstellung von Nahrung, Unterkunft und Freiheit, die alle als Grundbedürfnisse definiert sind). Die unausgesprochene Implikation dieser Neudefinition beruht auf der Behauptung, dass es vielen communities an der Befriedigung dieser grundlegenden Bedürfnisse mangelt, insbesondere jenen, deren Ungleichheit und Machtlosigkeit durch das Funktionieren des PIC erzeugt werden. Auf allen Stufen dieser Erklärung übt CR also eine Art Ideologiekritik, die nicht nur auf der Ebene der Politik oder der Gesetzesänderung ansetzt, sondern auch auf der Ebene der Überzeugungen und ideologischen Bindungskräfte, die diese Politik und Gesetze unterstützen. Entscheidend ist, dass die Strategie auf zwei Leitprinzipien beruht: (1) dass der »Erfolg« aus der Sicht der am stärksten betroffenen Gemeinschaften bemessen wird (das heißt, dass die Kriterien dafür, was als Erfolg zählt, nicht 35 Critical Resistance, »Our Mission«, 〈http://criticalresistance.org/〉, letzter Zugriff 4. 5. 2021.

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von denjenigen aufgestellt werden, die vom PIC profitieren) und (2) dass jede Politik, jedes Projekt oder jeder Vorschlag, dem sich CR verschreibt, empirisch daraufhin geprüft wird, ob dieser letztlich nicht doch »die Lebensdauer oder den Geltungsbereich« des PIC unterstützt. Schon in dieser kurzen Erklärung sind die Kernmerkmale der Kritik ersichtlich: Sie geht in erster Linie von materiellen und nicht von abstrakten Überlegungen aus, sie ist eine normativ situierte Reflexion und startet bei den Bedürfnissen derjenigen, die am meisten von einem konkreten politischen Problem betroffen sind. Die relativ abstrakten Analysebegriffe beruhen auf einem Bewusstsein von den materiellen (und globalen) Bedingungen von Ungleichheit und Machtlosigkeit sowie der mangelnden Erfüllung von Grundbedürfnissen (zu denen auch die Freiheit als grundlegendes menschliches Bedürfnis zu zählen ist). Darüber hinaus beinhaltet die Kritik eine Neudefinition der vorherrschenden Analysebegriffe (zum Beispiel Sicherheit) sowie das Verständnis, dass der PIC ein breiteres Spektrum von Problemen widerspiegelt, die globaler Natur sind (und, wie wir folgern können, auch historisch bedingt, insofern es sich beim PIC aus ihrer Sicht um eine partikulare Manifestation eines längeren und größeren historischen Zusammenhangs politischer Krisen der Herrschaft und Unterwerfung handelt). Nicht zuletzt folgt die Kritik Tysons obengenannter Definition: Das Projekt der CR zielt auf die Aufhebung des PIC ab, der als eine dysfunktionale und »gescheiterte« Institution verstanden wird: Diese Aufhebung selbst wird dabei von einem fragenstellenden Standpunkt angegangen. Es geht weniger darum, das »Scheitern« der Institution zu beschreiben, als vielmehr darum, welche konstitutiven Begriffe (Sicherheit, Schaden, Freiheit und dergleichen) unserem Verständnis von Scheitern zugrunde liegen. Am bekanntesten geworden ist Critical Resistance vielleicht durch ein gemeinsames Statement, das 2001 mit INCITE! Women of Color Against Violence veröffentlicht wurde.36 INCITE!, eine nationale Organisation, die ein ähnliches Organisationsmodell wie 36  INCITE! Women of Color Against Violence/Critical Resistance, »Vergeschlechtlichte Gewalt und der Prison-Industrial-Complex«, in: Daniel Loick (Hg.), Kritik der Polizei, Frankfurt/M., New York 2018, S. 267-278; Seitenangaben werden im Text in Klammern zitiert.

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CR verfolgt, setzt sich für die Beendigung der Gewalt gegen Frauen of color durch direkte Basisarbeit ein. Ihre gemeinsame Erklärung »Vergeschlechtlichte Gewalt und der Prison Industrial Complex« ist in den critical carceral studies, den gender studies und der critical race theory kanonisch geworden und heute ein weithin zitiertes Zeitdokument – sowohl als Artefakt der Praxis der beiden Organisationen wie auch als fortdauerndes Organizing-Instrument. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass die trennscharfe Unterscheidung zwischen »Texten« und »Aktionen« nur schwer aufrechtzuerhalten ist. Sowohl CR als auch INCITE! beteiligen sich an einer Vielzahl von Organisationspraktiken, unter denen das Verfassen von Reflexionen in Textform nur eine ist. Wenn ich mich hier solchen Texten zuwende, dann deshalb, weil sie – sowohl in ihrer Produktion als gemeinschaftlich erarbeitete Erklärungen als auch in ihrer rhetorischen Form – das Verschwimmen von Theorie und Praxis zum Ausdruck bringen, die ich als wesentlich für die abolitionistische Kritik (und für Kritik im Allgemeinen) ansehe. Die gemeinsame Erklärung, die 2001 (hauptsächlich) von Frauen of color beider Organisationen verfasst wurde, ist eine gegenseitige »Rechenschaftslegung« der beiden Bewegungen für ihre gemeinsamen organisatorischen Versäumnisse. Einerseits hatte es die Antigefängnisbewegung weitgehend versäumt, die Frage der geschlechtsspezifischen Gewalt gegen Frauen als zentrale Aufgabe ernst zu nehmen, und andererseits hatte sich die Bewegung zur Beendigung sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen viel zu oft auf die Gewalt des Staates verlassen, was die Sicherheit marginalisierter Menschen, insbesondere Frauen of color, eher beeinträchtigt als gefördert hat. In der Erklärung heißt es: Wir rufen emanzipatorische soziale Bewegungen dazu auf, Strategien und Analysen zu entwickeln, die sowohl staatliche als auch interpersonelle Gewalt adressieren, insbesondere Gewalt gegen Frauen. Aktivist:innen und Bewegungen, die staatliche Gewalt thematisieren (wie etwa gefängniskritische Gruppen und Gruppen gegen Polizeigewalt), arbeiten gegenwärtig häufig getrennt von Aktivist:innen und Bewegungen, die häusliche und sexualisierte Gewalt behandeln (269).

Insofern fungiert die gemeinsame Erklärung mit ihrer durch eine Reihe gemeinsamer Eckpunkte strukturierten Analyse sowohl als kritische Diagnose der Widersprüche zwischen zwei radikalen Be104

wegungen als auch als deren wechselseitige Solidaritätsbekundung, in welcher sie ihre geteilte Aufgabe, sinnvolle Sicherheit für alle Menschen zu schaffen, kollektiv bekräftigen. Gegliedert ist die Erklärung in drei Abschnitte. Zunächst wird die Antigewaltbewegung unter die Lupe genommen, wobei fünf spezifische Weisen aufgezeigt werden, wie die Berufung dieser Bewegung auf die Anwendung von Gewalt durch den Staat (das heißt die Konzentration auf Strafverfolgung, Kriminalisierung, Gefängnisse, staatliche Finanzierung und das Strafrechtssystem) die Sicherheit von Frauen (insbesondere von Frauen of color) eher beeinträchtigt als gefördert hat. Im zweiten Abschnitt der Erklärung wird die populäre Antigefängnisbewegung angegangen, wobei wiederum anhand von fünf konkreten Beispielen aufgezeigt wird, wie diese es versäumt hat, das Leben und die Erfahrungen derjenigen, die am stärksten von sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen sind, in ihrer Arbeit zu berücksichtigen (etwa indem sie Frauen in ihren Analysen unsichtbar macht; indem sie alltägliche Formen von Belästigung und sexueller Gewalt, denen Frauen ausgesetzt sind, nicht anspricht; indem sie nicht die Gewalt gegen LGBTTI-Personen adressiert; indem sie Sorgen über Serienmorde und Vergewaltigungen beiseite schiebt; und indem sie sich auf »romantisierte« Vorstellungen von Gemeinschaft als Antwort auf reale Sicherheitsbedenken von Opfern sexueller und häuslicher Gewalt verlässt). Auf diese pointierte und direkte Kritik folgen im dritten und letzten Abschnitt elf konkrete Vorschläge für die Akteur:innen, um diese Widersprüche zwischen den beiden Bewegungen zu adres­ sieren. Die Autor:innen schließen mit der Erklärung ihres Ziels: Wir versuchen, Bewegungen aufzubauen, die nicht nur die Gewalt beenden, sondern auch eine Gesellschaft erschaffen, die auf radikaler Freiheit, gegenseitiger Verantwortungsübernahme und leidenschaftlicher Reziprozität basiert ist. In dieser Gesellschaft werden Sicherheit und Schutz nicht auf Gewalt oder der Androhung von Gewalt beruhen, sondern auf einem kollektiven Streben danach, das Überleben für und die Sorge um alle Menschen zu gewährleisten. (277)

Der Aufbau der Erklärung selbst kann als Modell einer selbstreflexiven und kritischen Bewertung der Arbeit des Organizings gelesen werden, indem er die gegensätzlichen Perspektiven der beiden Bewegungen als neue Grundlage für das gegenseitige Zuhören 105

und Entgegnen nutzt. Was aus dieser Konfrontation entsteht, ist wieder­um eine neue Koalition für zukünftiges Organizing. 2008 wurde die Erklärung neu aufgelegt als Teil von CRs Sammelband Abolition Now: Ten Years of Strategy and Struggle Against the Prison Industrial Complex (Zehn Jahre Strategie und Kampf gegen den gefängnisindustriellen Komplex) und mit einer genealogischen Erläuterung ihrer Entstehungsgeschichte versehen sowie einer kurzen Darstellung ihrer Rezeption, ihrer Wirkgeschichte und einer Reihe offener Leitfragen für die (erneute) Lektüre in den kommenden Jahren. Wie die Herausgeber:innen des Bandes anmerken, machten die konkreten Schritte der ursprünglichen Erklärung und ihr offener Aufruf zum Handeln sie zu einem wirkmächtigen Werkzeug des Organizings. Sie schreiben, dass diese Schritte es »jeder Bewegung [ermöglichen], die widersprüchliche Position zwischen den unterschiedlichen Bewegungen in den Standpunkt einer kritisch integrierten Politik zu verwandeln«.37 Anstatt lediglich die Unzulänglichkeiten und Schwächen der einzelnen Bewegungen anzugehen, bestehe die Arbeit eines gemeinsamen Statements darin, diese Widersprüche in einer Weise aufzuheben, die eine neue politische Einheit hervorbringt. Obwohl die Neuauflage bereits im Vorfeld der Konferenz im Jahr 2008 veröffentlicht wurde, dient die Aufnahme eines konkreten Fragenkatalogs für zukünftige Diskussionen auch weiterhin diesem dialektischen Zweck. Die Verwendung von Diskussionsfragen ist ein Markenzeichen des Ansatzes von Critical Resistance (sowie von INCITE!) für die Abolition von Gefängnissen, für den Kampf um mehr Geschlechtergerechtigkeit und für die Form des Organizings mit dem Ziel einer allgemeinen Emanzipation. Als Fragen motivieren sie sowohl die theoretische Analyse als auch das kollektive Handeln. Was wie eine rein rhetorische Wahl der Darstellung erscheinen mag, ist selbst Teil der fortlaufenden Arbeit, tiefer zu graben, stets weiterführende kritische Fragen zu stellen und sich auf einen offen dialektischen Ansatz als Teil des Organizings einzulassen. Wie selbstreflektierend festgehalten wird, müssen die radikalen sozialen Bewegungen, die wir gemeinsam aufbauen, [...] sich der Herausforderung stellen, kritische und potentiell bewegungsverändern37  CR 10 Publication Collective (Hg.), Abolition Now! Ten Years of Struggle Against the Prison Industrial Complex, Oakland 2008, S. 16.

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de Programme und Praktiken zu integrieren. Vielleicht werden wir beim nächsten zehnjährigen Jubiläum feiern, wie diese reichhaltigen und transformativen bewegungsübergreifenden Kollaborationen einzigartige und produktive Wege zur Befreiung für uns alle eröffnet haben. (269)

Anstatt die Schwierigkeit einer starken Kritik aus den eigenen Reihen zu beklagen, feiert die CR/INCITE!-Erklärung (in ihren verschiedenen Iterationen) diese Herausforderungen, weil hinter ihr die Überzeugung steht, dass emanzipatorisches Organizing aus kritischen Reaktionen auf die jeweiligen Unzulänglichkeiten und Widersprüche zwischen den Bewegungen hervorgeht. Zusätzlich zu den Fragen, die den Rahmen für das CR/INCITE!Statement bilden, bietet das Critical Resistance Abolitionist Toolkit – ein frei verfügbares Online-PDF mit einem Umfang von mehr als hundert Seiten, das ausdrücklich dazu gedacht ist, das Verständnis des Konzepts der Abolition zu erleichtern, um Einzelpersonen zu organisieren, die konkrete Maßnahmen gegen den PIC ergreifen wollen – theoretische Analysen in Verbindung mit Fragen, die Gespräche entweder zwischen realen Menschen, die an einem Abolitionist:innentreffen teilnehmen, oder mit sich selbst als vereinzelte Leser:in anregen sollen. Die Fragen sind pädagogisch (sie helfen, Konzepte und Definitionen zu klären), inhaltlich (sie zwingen die Leser:innen, sich mit ihren eigenen Annahmen, Anhaftungen und Überzeugungen auseinanderzusetzen) und praktisch (sie fordern konkrete Handlungsvorschläge, zum Beispiel was man in Notfällen tun kann, anstatt die Polizei zu rufen). Solche Fragen, die in zugängliche theoretische Diskussionen eingestreut sind, zeigen, wie kritisches Denken im Dialog mit anderen stattfindet. Und es ist ein solcher Dialog, der unmittelbar zu Verantwortlichkeit und Solidarität zwischen den Menschen führt. Es ist also ein Kennzeichen des Ansatzes von Critical Resistance, dass hier unerbittliche Kritik und Mobilisierung miteinander verbunden werden. Dieses Muster lässt sich in ihrer gesamten Arbeit wiederfinden. Zunächst organisiert CR durch enge Verbindungen zu inhaftierten Menschen in der Nähe von Ortsgruppen oder durch ihre landesweit verbreitete Zeitung (The Abolitionist) Aktionen zur direkten Unterstützung von inhaftierten Menschen. Dem folgen theoretische und empirische Analysen, die durch das Hinterfragen spezifischer politischer Vorschläge und Strategien eingerahmt und artikuliert werden. Dabei ist die Arbeit von klaren Prinzipien ge107

leitet: Keine Strategien oder Vorschläge, die der Lebensdauer oder dem Geltungsbereich des PIC zugutekommen, sind akzeptabel, und die Selbstbestimmung derjenigen, die am meisten vom PIC betroffen sind – also die inhaftierten Menschen und ihre Angehörigen –, hat unbedingten Vorrang. Die elementare Frage, ob eine politische Maßnahme oder ein Projekt der Lebensdauer oder dem Geltungsbereich des PIC dienlich sein könnte, wird kontinuierlich gestellt. Wie mir eine CR-Organizer:in erklärte, wird diese Frage oft folgendermaßen formuliert: »Was passiert, wenn wir gewinnen? Werden wir in zehn Jahren gegen das kämpfen, was wir gefordert haben?« Zuletzt wird die Konfrontation mit der erweiterten Reichweite der PIC organisiert und der Prozess der Kritik von neuem begonnen. Da CR Abolition sowohl als ein zu erreichendes Ziel (eine Welt ohne Gefängnisse und Polizei) wie auch als eine Art der Organisation versteht, produziert sie gewissermaßen die Welt, die sie aufbauen will. *** Das soll nicht heißen, dass Liberale nicht irgendwann bei radikalen Konzepten wie dem der Abolition angelangen könnten. Ich selbst war einmal ein Liberaler. Aber es bedeutet, dass der Radikalismus ein Exorzismus des Liberalismus ist, keine Weiterentwicklung desselben. – Hari Ziyad38

Was ich in diesem Essay zu zeigen versucht habe – ausgehend von der Frage der Krise über den Ansatz der Abolition Democracy im Allgemeinen bis hin zur Abolition von Gefängnissen und Polizei im Besonderen, bezogen auf eine Handvoll von Texten einer abo­ litionistischen Organisation –, ist, dass wir bereits über die notwendigen Ressourcen verfügen, um der Kritik der Kritik und der gegenwärtigen Krise des Linksliberalismus zu begegnen. Es mag eine Praxis des Organizings sein, die denjenigen von uns unbekannt ist, die noch nicht an kollaborativer Arbeit teilgenommen haben, 38 Hari Ziyad, Buchautor und Chefredakteur der Platform RaceBaitr, in einem nicht mehr abrufbaren Beitrag vom 12. 10. 2017 auf Twitter, auf den der Verf. dieses Beitrags reagierte, 〈https://twitter.com/ProfDilts/status/1304529109498785792〉. [Anm. d. Hg.]

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die nicht über die Gesetzgebungspolitik oder die Wahlurne hinausgedacht haben und deren Vorstellungen von Massenmobilisierung sich immer noch in erster Linie aus nostalgischen Erinnerungen speist, wie direkte Aktion vor dem Aufkommen der Masseninhaftierung aussah. Gerade jetzt, wo wir womöglich zu Recht das Bedürfnis verspüren, die schonungslose Kritik alles Bestehenden aufzugeben, und wo Forderungen laut werden, die »Linke« um liberale Prinzipien herum zu vereinen, die die Systeme von Herrschaft und Unterdrückung intakt lassen, sollten wir diesem Gefühl und dieser Forderung widerstehen. Denn gerade jetzt ist es an der Zeit, sich (wieder) zu einer radikalen Haltung und zu einer entschiedenen Ablehnung jener ungerechten Institutionen zu bekennen, deren Anwesenheit sich so selbstverständlich anfühlt, dass es unmöglich erscheint, sich ihnen zu widersetzen. Abolitionistische Politik als Kritik ist in diesem Moment eine mächtige Ressource: Sie ist eine Möglichkeit, Menschen zu organisieren und zu mobilisieren. Sie ist eine Perspektive und eine Praxis des kritischen Denkens und der Auseinandersetzung mit der Welt, die die konkreten politischen Probleme, denen sich marginalisierte und unterdrückte Menschen gegenübergestellt sehen, analysiert, bewertet und kontestiert. Und sie ist seit Generationen bekannt. Weit davon entfernt, uns in eine Sackgasse politischer Lähmung zu führen, bringt Abolition, so wie sie von ihren Praktiker:innen theoretisiert wurde, Kritik und Mobilisierung zusammen, indem sie beides demokratisiert. Hier lohnt es sich, auf die demokratische Kraft der historischen Abolition Democracy zurückzukommen. Auch wenn sie begrenzt war (insbesondere hinsichtlich Geschlecht und disability), war die von Du Bois dokumentierte Periode der Abolition Democracy radikal, weil sie das Gemeinwesen in Richtung einer wahrhaftigeren, tieferen und sinnvolleren demokratischen Praxis bewegte. Sie war nicht nur die bloße Inklusion ehemals versklavter Menschen in das Gemeinwesen unter den gegebenen Bedingungen, sie war zwangsläufig eine Neugestaltung dieser Bedingungen selbst. Es war eine Zeit, in der die Emanzipation der Schwarzen Arbeiter:innen politische und wirtschaftliche Gleichberechtigung und die Ablehnung von Herrschaft in all ihren Formen bedeutete. Es war eine Zeit der Selbstbestimmung, wie es sie in der Geschichte der Aufklärung nur selten gegeben hat. Das liegt daran, dass das Versprechen und die Kraft der Abolition Democracy in der Arbeit an ihrer Errichtung 109

gründeten, und zwar nicht, obwohl dies unmöglich, unpraktisch und in höchstem Grade kritisch war, sondern gerade weil sie es war. Die abolitionistische Kritik lehrt uns, dass die Arbeit der politischen und der Gefängnis-Abolition, während sie sicherlich auf den Horizont einer Welt ohne Gefängnisse oder Polizei ausgerichtet ist, im Aufbau von Gemeinschaften der Sicherheit, der wechselseitigen Verantwortung und der gemeinsamen Befreiung besteht. Es geht um den demokratischen Aufbau von Demokratie. Auch wenn man ein Ziel vor Augen hat, ist die Verfolgung dieses Ziels unter abolitionistischen Gesichtspunkten stets zugleich eine Störung der eigentlichen Bedingungen des politischen Erfolgs. In diesem Sinne handelt es sich um einen Aufstand von innen. Da abolitionistische Kritik eine Form konkreter politischer Aktion ist, im Zuge derer Menschen sich organisieren, um konkrete politische Probleme durch politische Arbeit anzugehen, ist sie ein Werk der negativen und positiven Transformation. Abolitionistische Kritik bietet uns eine Alternative zu den Verlockungen des eingefahrenen Liberalismus und Reformismus, insbesondere dann, wenn die Versuchung des Rückzugs durch die Krisen des jeweiligen historischen Moments noch verstärkt wird. Aber gerade in solchen Momenten ist unbändige und aufrührerische politische Aktion notwendiger denn je. Und auch wenn wir uns Sorgen machen, dass radikale Kritik zu viel verlangt oder die Gefahr birgt, die politischen Akteur:innen zu demoralisieren, zeigt uns die Tradition der abolitionistischen politischen Aktion und Theorie, dass solche Sorgen ausgeräumt werden können und dass ein anderer Weg bereits beschritten werden konnte. Da die abolitionistische Kritik verlangt, dass wir uns direkt mit white supremacy, dem Heteropatriarchat und dem zeitgenössischen Faschismus auseinandersetzen und sie zu überwinden versuchen, erkennt sie zum einen die aktuelle Krise an und ist zum anderen ein Bollwerk gegen sie. Dabei geht es um nicht weniger als um die Veränderung der gegenwärtigen Welt durch den Aufbau einer neuen. Übersetzt von Marvin Ester und Ann-Katrin Kastberg

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II.

Strafen und Gefängnis

Mumia Abu-Jamal Weihnachten im Käfig. Mit einer Einleitung von Michael Schiffmann Einleitung: Zu Besuch bei Mumia Abu-Jamal1 Eine Stahltür gleitet fast lautlos zur Seite, und wir gehen hindurch, während die Tür sich hinter uns wieder schließt. Ein langer Gang mit Fenstern zum Innenhof führt uns zu einem Raum, in dem drei Beamte hinter Panzerglas sitzen und unsere Passagierscheine kon­ trollieren. Im Vergleich zu der relativ lockeren Atmosphäre bei den vorigen Prozeduren sind Stimmung und Ton der »Überwacher« hier schon deutlich angespannter. Offenbar gibt es bei den Papieren irgendeine Verwechslung, für die sie uns die Schuld zu geben scheinen, aber die Angelegenheit löst sich schnell auf, und nach Passieren einer weiteren Stahltür gehen wir durch einen Gang, der vielen aus Filmen wie Hinter diesen Mauern bekannt ist und dessen Panzerglaswände schon den Blick auf das Ziel unseres Besuchs zulassen, den Todestrakt. Auf den letzten Metern können wir die Fenster einiger Gefängniszellen sehen. Die Zellen, die zu den Fenstern gehören, scheinen Fertigkonstruktionen aus Stahlrahmen zu sein, die einfach aufeinandergestapelt sind. An mehreren Fenstern sehen wir Gefangene. Wir haben keine Zeit, ihnen länger Aufmerksamkeit zu widmen, denn nach noch einer weiteren Schleuse mit Stahltüren sind wir plötzlich in der Besuchereingangshalle. Dort reihen sich links 1 Dieser Bericht basiert auf einem Besuch bei Mumia Abu-Jamal, den mein Co-Autor Anton Reinert und ich Ende April 2010 machen konnten. Obwohl zwischen diesem Bericht und dem Text von Abu-Jamal in diesem Band etwas mehr als 28 Jahre liegen, ungefähr dieselbe Zeit, die Abu-Jamal in den USA in Einzelhaft in der Todeszelle verbracht hat, hat sich die Brutalität der Behandlung von Häftlingen in diesen fast drei Jahrzehnten nicht wesentlich geändert. Allerdings betrug die Zahl der Eingekerkerten in den USA 1982 etwas über 500 000 und 2010 fast 2 ½ Millionen, und auch die Zahl der zum Tod Verurteilten hatte sich zwischen 1982 und 2010 mehr als verdreifacht. Zum Fall um Mumia Abu-Jamal siehe auch Michael Schiffmann, Facts Matter. Why the Philadelphia D.A.’s Office Should Drop the Case Against Mumia Abu-Jamal, Heidelberg 2021.

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und rechts von uns kleine H-förmige Doppelkabinen, in denen wir – natürlich durch Panzerglasscheiben – auf der einen Seite Besucher:innen und auf der anderen, noch weiter entfernten Seite sehr deutlich auch Gefangene erkennen können: Ihre Overalls sind von einem leuchtenden Orange, wie in Guantánamo. Die Beamten schicken uns in Kabine 18, und plötzlich stehen wir vor dem Mann, von dem wir schon so oft gesprochen, über den wir schon so viel geschrieben und für den sich zu engagieren wir schon so viele andere aufgefordert haben – den wir aber selbst noch gar nicht persönlich kennen.

Haftbedingungen und Alltag Wir befragen Mumia Abu-Jamal über den Alltag im SCI Greene. Dabei beschreibt er uns zunächst seine Zelle: Sie ist abgesperrt durch eine Stahltür ohne Türgriff (er sagt lachend: »So was brauchen wir hier nicht«) mit einer Essensdurchreiche und zwei länglichen, schmalen Panzerglasscheiben zum Gang. Die Zelle ist schlauchförmig und ca. 1,80 Meter breit und 3,20 Meter lang. An der Stirnseite gegenüber der Tür befindet sich ein kleines Fenster, das etwa 60 mal 80 Zentimeter groß ist. Wand und Decke sind durchgehend in einem Weiß gestrichen, das mittlerweile schon sehr alt und vergilbt ist. Wenn man hineinkommt, beginnt rechts der Tür nach etwa einem Meter sein Bett und geht bis zur Außenwand durch. Links befindet sich eine Edelstahleinheit aus Waschbecken und Klo sowie einem stumpfen Spiegel, ebenfalls aus Stahl, in dem kaum etwas zu sehen ist. Laut Mumia kann man aber im Gefängnisladen für 75 Cent einen kleinen Glasspiegel kaufen; aus irgendeinem Grund fragen wir ihn nicht, ob er das gemacht hat. Außerdem befindet sich auf der linken Zellenseite noch ein Metallschrank, in dem er alle seine persönlichen Sachen aufbewahren muss. Bilder an die Wand zu hängen, ist verboten. Das restliche Mobiliar erschöpft sich in einem Stuhl. Mumia hat nicht einmal einen Tisch, an dem er essen und schreiben kann; er tut das beides sitzend auf dem Bett. Das elektrische Deckenlicht ist 24 Stunden am Tag an. Zum Glück wird es wenigstens nachts etwas heruntergedimmt. 114

Mumia hat einen Fernseher und ein Radio in der Zelle, über die er zwei Anstaltskanäle empfangen kann, auf denen Verlautbarungen der Gefängnisleitung, Gottesdienste für katholische, protestantische und muslimische Gläubige sowie sehr schlechte Spielfilme laufen. Da er auch Kabelempfang hat, ist das Fernsehen zu einer wichtigen Informationsquelle für ihn geworden. Allerdings kostet das 16 Dollar monatlich, und der soziale Mindestsatz für Gefangene ohne Unterstützung von draußen beträgt ganze 17 Dollar – was Mumia zu dem Scherz veranlasst, dass der Normalgefangene sich zweimal im Monat den Luxus erlauben kann, sich mit einem im Knastladen erworbenen Schokoriegel (die 50 Cent das Stück kosten) vor den Fernseher zu setzen. Seit 2005 hat Mumia endlich eine elektrische Schreibmaschine (eine Brother 500), nachdem er sich zehn Jahre lang darum bemüht hatte, eine zu bekommen. Allerdings ging sie Anfang des Jahres kaputt und ist immer noch »in Reparatur«, ob und wann er sie wiedererhält, weiß er nicht. Seitdem schreibt er alles (wie zum Beispiel seine Rede für die 1.-Mai-Demos in Europa) wie zuvor mit einer Kugelschreibermine per Hand. Außer dem vergilbten Weiß und der metallischen Reflexion der Stahlmöbel gibt es in Mumias Zelle keine Farben. Dieser Mangel an Farben ist für Mumia ein großes Problem. Er erzählt uns, wie er zu Frühlingsbeginn Anfang April für Ewigkeiten in die wenigen Quadratmeter Gras unter seinem Zellenfenster versunken war, weil ihn das kräftige Grün und das Gelb der Osterglocken so erfreuten. Natürlich fragen wir ihn, ob es denn gar nichts Farbiges im Knast gibt. Er sagt, er sei wie alle verpflichtet, Anstaltskleidung zu tragen; Privatkleidung ist nicht erlaubt. Es gibt aber nur die orangefarbenen Overalls, braune Trainingshosen und Pullover (die Mumia nicht hat, weil er sie hässlich findet) sowie helle Thermounterwäsche. In diesem Zusammenhang erwähnt Mumia die vielen bunten Postkarten aus Deutschland, die seit zwei Jahren zahlreich bei ihm ankommen. Gerade das Gelb der ersten Auflage unserer Postkartenaktion habe ihm sehr gefallen, aber daneben zählen auch Rot und Grün zu seinen Lieblingsfarben. Post bekommt er sehr viel. Er sagt, dass er seit knapp einem Jahr täglich zwischen fünf bis zehn Postkarten aus der BRD erhält. Diese Karten kommen tatsächlich bei ihm an, und meist erhält er sie etwa fünf Tage nach dem Datum des Poststempels. An sei115

nem Geburtstag bekam er über 100 Karten, darunter etwa 50 aus Deutschland. Wir fragen Mumia, ob es aufgrund der vielen Post und seines weltweiten Bekanntheitsgrades Neid oder Probleme mit anderen Gefangenen gebe. Er sagt, in einer großen und erzwungenen Gemeinschaft gebe es zwangsläufig immer Menschen, die nicht miteinander klarkommen. Aber es sei nicht seine Aufgabe, darüber zu urteilen. Verantwortlich für etwaige Spannungen unter Gefangenen seien letztlich die Behörden, die die Knäste betreiben. Er persönlich versucht, jedem Gefangenen mit Respekt zu begegnen, und sagt, das werde von allen anerkannt, auch wenn einige ihn sicherlich dennoch nicht mögen. Letzterem hält er gegenüber, dass er sehr viele Freunde habe. Diese Charakterisierung seines Verhältnisses zu anderen Gefangenen bestätigt sich für uns unmittelbar, denn wir erleben während des Besuchs mehrfach, wie andere Gefangene auf dem Weg zu ihren Besuchszellen vom Gang aus laut von draußen an die Tür hämmern und Grüße an Mumia durch Stahltür und Panzerglas brüllen, die dieser genauso erwidert. Der Tag »on death row« beginnt um sechs Uhr morgens mit dem Frühstück, bestehend aus Tee oder Kaffee sowie einem Muffin. Manchmal bekommen die Gefangenen auch Müsli. Zwischen sieben bis neun Uhr morgens hat Mumia – ebenso wie die anderen Gefangenen im Trakt – »Hofgang«: Zwei Wärter fesseln ihn an Händen und Füßen sowie mit einer Kette zwischen Hand- und Fußgelenken und führen ihn durch Stahltürschleusen bis in den Hof. Die Zellen der anderen Gefangenen sind dabei alle verschlossen. Mumia hat diese Zellen noch nie von innen gesehen. Im Hof gibt es kleine, etwa drei mal vier Meter »große« Käfige, in die jeweils maximal zwei Gefangene gesperrt werden. Früher gab es einen Hof für alle Gefangenen. Als sich jedoch einmal mehrere Gefangene aus Protest gegen eine Verordnung der Anstaltsleitung weigerten, zurück in ihre Zellen zu gehen, wurde der Hof in viele kleine Käfige unterteilt, damit die Gefangenen einzeln für die Wächter erreichbar sind und sich nicht gemeinschaftlich wehren können. Da es in dieser Gegend während eines Großteils des Jahres morgens noch sehr kalt ist, verbringt Mumia dort viel Zeit mit sportlichen Übungen und spielt auch gerne Handball. Als wir uns wundern, wie das bei diesen kurzen Distanzen gehen soll, meint er trocken, das sei ein hervorragendes körperliches Training. Im Hof werden alle überlebenswichtigen juristischen und per116

sönlichen Informationen ausgetauscht, da im Gefängnis selbst eine wirkliche Kommunikation wegen der eigens so angelegten Knastarchitektur nicht möglich ist. Es ist nur möglich, auf dem Hof mit den Gefangenen im Käfig direkt nebenan zu reden. Mit allen, die weiter weg sind, ist es sehr schwierig, da insgesamt recht viele Gefangene im Hof sind und dieser von einer hohen Mauer umgeben ist, so dass es stark hallt. Um zehn Uhr gibt es Mittagessen. Dieses wird durch die Zellentür geschoben. Eine beliebte Schikane von Seiten der Wärter ist dabei, das Essen sofort wieder wegzuziehen, wenn die Gefangenen nicht »rechtzeitig« an der Tür sind, um es entgegenzunehmen, und dann höhnisch zu sagen: »Ach so, du hast keinen Hunger.« Bei Gefangenen, die krank sind oder – wie es oft geschieht – zuvor von den Wärtern zusammengeschlagen wurden, komme dies nicht selten vor, so Mumia. Das Essen selbst ist von zweifelhaftem Nährwert. Es gibt so gut wie nie irgendetwas Frisches in der Plastikgarnitur, in der das Essen gebracht wird. In der Mikrowelle Aufgewärmtes, bestehend aus Reis oder Kartoffeln, zerkochtem und gehacktem Gemüse sowie etwas Fleisch, selten ergänzt durch etwas Obst oder einen matschigen Obstsalat – das sind die immer wiederkehrenden Bestandteile. Mumia und einige andere Gefangene versuchen seit Jahren, wenigstens ab und zu Dinge wie Knoblauch oder frisches Obst zu bekommen. Dabei betreibt die unweit des Gefängnisses gelegene Bruderhofgemeinde eine Ökofarm und hat schon vor Jahren angeboten, für alle Gefangenen frisches Obst und Gemüse zum gleichen Preis zu liefern wie die Firma, die das kaum genießbare Fertigessen liefert. SCI Greene lehnte ab … Vor diesem Hintergrund zeigt sich Mumia sehr erfreut über die große Knoblauchkampagne von 2003, als Hunderte von Unterstützer:innen in Berlin und anderswo ihm Briefe mit Knoblauchzehen und beiliegenden Schreiben an die Anstaltsleitung geschickt haben, in dem sie seine Forderung nach gesunder Ernährung unterstützen.2 2 Viele der Briefe kamen damals Monate später mit dem Vermerk »Annahme verweigert« an die Absender:innen zurück. Aber auch wenn Mumia keinen einzigen dieser Briefe erhalten hat, wird das Problem der Knastadministration durch den starken Knoblauchgeruch in ihrer Poststelle bestimmt in ständigem Bewusstsein gewesen sein.

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Der Schichtwechsel der Wärter ist um 14 Uhr. Gegen 16 Uhr gibt es dann Abendessen, das Mumia uns nicht mehr extra beschreibt. Wir gehen davon aus, dass es leider auch hier keine positiven Überraschungen gibt. Danach ist der Tag im Todestrakt beendet, einige Stunden später wird das Licht gedimmt, aber, wie bereits erwähnt, nie ganz gelöscht.

Der Trakt und die Wärter Wir fragen Mumia auch nach der Anlage des Todestrakts als ganzer, und er liefert uns geduldig eine detaillierte Beschreibung. Der death row im SCI Greene besteht aus vier Einheiten oder Units, in deren Mitte sich ein Überwachungsterminal befindet, von dem vier Gänge zu den Units abgehen. Alles ist durch Stahltüren separiert und von Kameras überwacht. Jede Einheit hat zwei Stockwerke mit jeweils mehreren Einzelzellen auf jeder Seite des Ganges. Mumia ist in der G-Unit. Bis wenige Tage vor unserem Besuch waren auf Mumias Einheit auch Langzeitgefangene untergebracht. Jetzt sind es nur noch Todeshäftlinge. Warum die anderen verlegt wurden, weiß er nicht. In zwei anderen Einheiten befinden sich ausschließlich zum Tod Verurteilte. Außerdem gibt es noch das »Loch«, in dem Gefangene 24 Stunden ohne Tageslicht und sonstige »Privilegien« isoliert sind. Zum »Loch« erzählt Mumia uns eine Episode aus dem Leben seines Freunds Russell »Maroon« Shoats, der wie Mumia Mitglied der Black Panther Party in Philadelphia war und, ebenfalls wegen angeblichen Mordes an einem Polizisten, Anfang der 1970er Jahre zu lebenslänglicher Haft verurteilt wurde. 1975 gelang ihm ein Ausbruch, aber er wurde schnell wieder verhaftet. In den 1990er Jahren kam er nach SCI Greene und wurde in den gerade beschriebenen Trakt verlegt. Dort versicherte ihm der Chefschließer, solange er den Trakt unter sich habe, werde er für keine Minute das »Loch« verlassen. Wie sich herausstellte, handelte es sich um denselben Schließer, den Shoats bei seinem Ausbruch zwanzig Jahre zuvor niedergeschlagen hatte … Auch Mumia hat wiederholt mit dem »Loch« Bekanntschaft gemacht, aber darüber sprechen wir bei diesem Besuch nicht. So kommen wir, zwanglos sozusagen, zum Thema Häftlinge 118

und Wärter. Zum einen meint Mumia, dass die Arbeit im Todestrakt für die Wärter im Vergleich zum Normalvollzug sehr attraktiv sein muss, da sie fast nichts zu tun haben und nie mit mehr als zwei Gefangenen auf einmal konfrontiert sind. Aber das heißt mitnichten, dass die Wärter deswegen ein freundliches Verhältnis zu den Gefangenen pflegen würden. Schon zu Beginn unseres Besuchs, als wir erwähnen, dass die fast manisch praktizierte Reinlichkeit des Gefängnisses irgendwie an ein Krankenhaus erinnert, rät uns Mumia, uns nicht von der äußeren Erscheinung täuschen zu lassen. Ja, es sei in der Tat so, dass man hier vermutlich vom Boden essen könne, aber das sei kaum ratsam, da man dann nicht sehen könne, wer hinter einem steht. »Das hier ist ein übler Ort, an dem schlimme Dinge geschehen.« Nach diesem Besuch verstehen wir noch besser, warum Mumia SCI Greene so oft als »helle, glänzende Hölle« bezeichnet hat. Mumias Einschätzung nach sind etwa zwei Drittel der Wärter im Todestrakt stark rassistische und brutale Menschen. Er habe zwar unlängst einen Wärter gehabt, der ihm ein bei einem Urlaub in Berlin aufgenommenes Foto von einem »Free Mumia«-Wandbild gezeigt habe, aber dieser Mann sei kaum für die Mehrheit seiner Kollegen charakteristisch. Dabei verstünden die meisten Schließer sich darauf, formal korrekt zu arbeiten. Das heißt, sie seien, anders als im Normalvollzug, vorsichtig mit rassistischen Beschimpfungen, da sie wüssten, dass die Todeshäftlinge lange Zeit da sein werden, und deshalb auch wüssten, wie man eine Beschwerde formuliert und »dranbleibt«, wenn die Bürokratie versucht, sie im Sand verlaufen zu lassen. Zu viele Beschwerden könnten ja am Ende den leichten Job gefährden, bei dem der Schließer bis auf die Essensausgabe und den Hofgang praktisch keine Arbeit hat. Mumia berichtet auch, dass die Wärter im Todestrakt nicht selten gewalttätig seien – aber natürlich darauf achteten, sich abzusichern, und es vermieden, ihre Gesetzesverstöße vor Zeugen zu begehen. Angesprochen auf Charles Graner, einen der im Rahmen des Gefängnisskandals von Abu Ghraib verurteilten Folterer, der früher im Todestrakt in SCI Greene Wärter war, erklärt uns Mumia, er habe ihn vermutlich getroffen, wenn auch nicht persönlich kennengelernt, aber seiner Einschätzung nach sei dieser Mann auch nicht anders als die meisten anderen Schließer. Nachdem Graner 119

2005 formell angeklagt worden war, habe die Anstaltsleitung sinngemäß erklärt, Graner könne seine Arbeit in Greene jederzeit wiederaufnehmen, falls er seinen Job bei der Armee verlieren sollte. Auch im nahe gelegen Waynesburg, wo Graner gewohnt hatte, sei er nach wie vor ein geachteter Bürger, um dessen Taten nach Ansicht etlicher Bewohner:innen definitiv zu viel Wind gemacht werde und den viele mit Freuden zum Barbecue einladen würden.

Abschied Nach knapp sechs Stunden Gespräch werden wir darauf hingewiesen, dass wir nun gehen müssten. Anfangs überhören wir diese Aufforderung von außerhalb der Besucherkabine, da wir zu sehr ins Gespräch mit Mumia vertieft sind, doch der Aufseher wird schnell deutlicher. Wir halten die Hände an der Scheibe aneinander und Mumia verabschiedet uns mit einem Lächeln und dem »On a Move«-Gruß mit erhobener Faust. Wir müssen uns regelrecht losreißen, und während wir durch die Stahltür wieder den Weg nach draußen antreten, sehen wir, wie Mumia nun die Faust an sein Herz hält. Wir tun das Gleiche. Es wirkt unvorstellbar, dass dieser höchst lebendige Mensch nun wieder in die »helle, glänzende Hölle« zurückgebracht wird, während wir nach unserem Rückweg durch die vielfachen Schleusen in die nachmittägliche Frühlingssonne treten. Michael Schiffmann

Weihnachten im Käfig Kurz vor sechs Uhr morgens brüllt der Lautsprecher in dieser winzigen kahlen Zelle eine Botschaft, die vom Inspektor der Gefängnisbehörde, David Owens, stammen soll: »Frohe Weihnachten für alle Gefangenen der Gefängnisse Philadelphias. Wir hoffen, dass dies die letzten Festtage sein werden, die Sie mit uns verbringen.« Ein Wachbeamter liest Owens Namen vor, und der Lautsprecher verstummt für eine halbe Stunde. Ich wundere mich über die seltsamen Worte und grüble über mein erstes Weihnachtsfest 120

im Krankenhausflügel der Zentralen Haftanstalt. Weihnachten in einem Käfig. Inzwischen habe ich endlich die Presseberichte über den Vorfall lesen können, der zum Tod eines Polizisten und beinah zu meinem Tod geführt hat, und dazu, dass ich jetzt des Mordes an dem Polizisten angeklagt bin. Es ist ein Alptraum, dass mein Bruder und ich jetzt in dieser widerwärtigen Lage sind, besonders, weil meine Hauptankläger – die Polizei – gleichzeitig meine Angreifer waren. Mein wirkliches Verbrechen scheint darin zu bestehen, dass ich ihre Angriffe überlebt habe, denn wir waren in jener Nacht die Opfer. Als wäre dem nicht genug, habe ich erfahren, dass die Kräfte von »Recht und Ordnung« meine Mutter bedroht und den Straßenstand meines Bruders in Brand gesteckt oder es geschehen lassen haben. Und sie reden von der »Justiz der Straße«! Laut einigen Presseberichten standen die Polizisten um das Feuer herum und machten Witze, um das Ganze dann auf der Wache weiter zu feiern. Nirgends habe ich etwas darüber gelesen, wie auf mich geschossen wurde, wie eine Kugel bis dicht an meine Wirbelsäule kam, eine Rippe zerschmetterte, eine Niere zerlöcherte und beinah mein Zwerchfell zerstörte. Und da fragen manche, wieso ich kein Vertrauen in ein »faires Verfahren« habe! Nirgends war zu lesen, dass eine Kugel ein Loch in meine Lunge riss und die Lunge sich mit Blut füllte! Nirgends habe ich gelesen, wie die Polizei mich in einer Lache meines Bluts vorfand, unfähig zu atmen, und sofort anfing, mich zu prügeln, zu treten und auf mir herumzutrampeln – statt mir Fragen zu stellen. Ich erinnere mich, wie mich die Polizisten, die mich an beiden Armen festhielten, gegen einen Mast oder Hydranten rammten. Ich erinnere mich an Tritte an den Kopf, ins Gesicht, gegen die Brust, in den Bauch, in den Rücken und andere Körperteile. Aber dazu habe ich keine Presseberichte gelesen und keine Zeug:innenaussagen gehört. Nirgends habe ich gelesen, wie ich gefesselt, in einen Polizeitransporter geworfen und geschlagen, getreten, verprügelt und verdroschen wurde. Wo sind die Zeug:innen für den Hauptmann oder Inspektor, der in den Transporter kam, mit einem Funkgerät auf mich einschlug und mich dabei die ganze Zeit einen »schwarzen Hurensohn« nannte? Wo sind die Zeug:innen für die Schläge, die eine zehn Zentimeter lange Narbe auf meiner Stirn hinterlassen haben? Einen geschwollenen Kiefer? Halb abgebrochene Zähne? 121

Und um nicht zu früh aufzuhören: Wer hat gesehen, wie ich aus dem Polizeiauto gezerrt, einen Meter tief auf die kalte, harte Erde fallengelassen, wieder geschlagen, ins Jefferson-Krankenhaus geschleift und im Krankenhaus nochmals geschlagen wurde, während ich mit einem halben Lungenflügel um Atem rang? Nach meiner Operation wachte ich auf, nur um zu sehen, dass mein Bauch von oben bis unten aufgeschnitten war, zusammengeheftet mit Metallklammern, die überall herausstanden. Mein Penis, der mit einem Schlauch verbunden war, und die Schläuche, die aus beiden Nasenlöchern Gott weiß wohin führten, sind meine erste Erinnerung. Das Zweite, was ich wahrnahm, war ein intensiver Schmerz und Druck in meiner ohnehin schon ramponierten Niere, während ein Polizist mit abgenommenem Namensschild und verdeckter Marke mit einem Grinsen auf den schnurrbärtigen Lippen in der Tür zum Flur stand. Warum grinste er, und woher kamen die Schmerzen? Er stand auf einem viereckigen Plastikbeutel, dem Behälter für meinen Urin! Sollte ich diesen Leuten vertrauen, die mitten in einem öffentlichen Krankenhaus erneut versuchten, mich umzubringen? Kurz darauf wurde ich durch einen Tritt ans Fußende meines Betts ins Bewusstsein zurückgeholt. Ich öffnete die Augen und sah einen Polizisten mit einer Uzi-Maschinenpistole in der Hand in der Tür stehen. »Unschuldig bis zum Beweis des Gegenteils«?

Hochwasserhosen und Kälte Tage später, nachdem ich unter bewaffneter Polizeibegleitung ins Giuffre Medical Center in städtische Haft verlegt worden war, wurde ich in einen Raum (#202) in der Hafteinheit im Keller verlegt, die der kälteste Teil des ganzen Gebäudes ist. Nachdem ich also an den Ort verlegt wurde, der scherzhaft als der »neue Krankenhausflügel« der Zentralen Haftanstalt bezeichnet wird, fand ich heraus, was Kälte wirklich bedeutet. Während der ersten beiden Tage fiel die Temperatur so tief, dass die Häftlinge Decken über ihren Gefängnisjacken trugen. Mir hatte man offiziell ein kurzärmliges Hemd und ein Paar enge Hochwasserhosen ausgehändigt, und in der ersten Nacht war mir so kalt, dass ich nicht schlafen konnte. Andere Häftlinge rette122

ten mich vor der Kälte. Einer fand eine Gefängnisjacke für mich. (Ich hatte einen Wärter gefragt, aber der sagte mir, ich würde warten müssen, bis ein anderer Insasse verlegt wird oder rauskommt. So viel zu Versuchen, »das System zu nutzen«.) Andere Häftlinge und eine freundliche Krankenschwester sorgten dafür, dass ich es nachts warm hatte. Vom Gefängnis bekam ich ein Bettlaken und eine dünne Wolldecke. Als ich mich bei einer Sozialarbeiterin beschwerte, erklärte sie mir abwehrend: »Ich weiß, dass es kalt ist, aber ich kann da nichts machen. Der Direktor weiß schon von dem Problem.« Warum mache ich hier so ein Aufheben von der Kälte? Weil der Arzt, der mich im Jefferson-Krankenhaus behandelte, mir erklärte, die einzige echte Gefahr für meine Gesundheit sei eine Lungenentzündung, wegen der Schusswunde in meiner Lunge. Ist es da nur ein Zufall, dass ich im Lauf der darauffolgenden Woche einige der kältesten Tage und Nächte meines Lebens verbracht habe? Versucht die Stadt, mich durch das Gefängnissystem zu töten, noch bevor sie mich vor Gericht stellen? Wovor haben sie Angst? Ich erzählte all das meiner Sozialbetreuerin im Gefängnis, einer gewissen Barbara Waldbaum, aber sie wollte nichts davon wissen: »Nein, Mr. Jamal, wir hoffen, dass es Ihnen bald besser geht.« »Sieht kaum so aus«, antwortete ich. Wundersamerweise fand nach meinen Beschwerden wenigstens ein Anschein von Wärme seinen Weg in die Zellen auf meiner Seite des Flurs. Wenigstens genug, um schlafen zu können. Aber ist es auch reiner Zufall, dass die Heizung an genau dem Abend zu funktionieren begann, als mir Inspektor David Owens einen Besuch abstattete? »Wir hoffen, dass dies die letzten Festtage sein werden, die Sie mit uns verbringen.« Owens Worte gehen mir nochmals durch den Kopf – steckt hinter diesen scheinbar so harmlosen Feiertagsgrüßen auch noch eine andere, viel finsterere Bedeutung?

Echos von Pedro Serrano Es gibt noch einen anderen Aspekt dieses umstrittenen Falls, von dem die meisten nichts wissen. Meine Zelle liegt ganz in der Nähe des Orts, an dem Pedro Serrano brutal geschlagen und zu Tode gewürgt wurde. Ich habe mit Augenzeugen gesprochen – einige sind 123

Bekannte von mir. Diese Brüder haben ihre Geschichten unter beträchtlichem persönlichen Risiko der Polizei und Vertretern:innen des Gefängnisses, dem Disponenten der Stadt W. W. Goode, der Puerto Rican Alliance und mir erzählt. Einige von ihnen sind deswegen von Wärtern bedroht worden, aber sie haben es trotz der Bedrohungen getan. Mehreren Berichten zufolge rüttelte Serrano, der schon vorher von den Wärtern geschlagen worden war, an seiner Zellentür und machte Lärm, um Aufmerksamkeit zu erregen. Die Wärter waren wütend über den Lärm und ordneten die Einschließung aller Gefangenen an. Die meisten gehorchten. Einer, ein gelähmter, an den Rollstuhl gefesselter Häftling, tat es nicht. Er fuhr seinen Rollstuhl an eine Wand und sah mucksmäuschenstill zu. Die Wärter öffneten Serranos Zelle, zerrten ihn raus und fingen an, ihn zu schlagen, zu treten, und auf ihm herumzutrampeln. Er schrie vor Schmerz und Angst, aber die anderen Häftlinge, die eingeschlossen waren, konnten nichts tun. Es wird berichtet, dass ein Wärter, der für seine Gewalttätigkeit bekannt ist, ihn mit seiner langen Schlüsselkette geschlagen hat, was dünne, rote Striemen auf Serranos Haut hinterlassen hat. Vor diesem jüngsten Angriff auf meinen Bruder und mich war ich bei einer von der Puerto Rican Alliance und Mitgliedern der Familie Serrano einberufenen Pressekonferenz zugegen. Ich sah Fotos von Pedro Serrano, dessen Gesicht selbst im Tod noch geschwollen war. Ich sah einen Körper, der von Schwellungen, Blutergüssen und Striemen übersät war. Ich erinnere mich an die dicken, dunklen Blutergüsse unten an seinem Hals, und ich weiß noch, wie ich David Owens anrief, um einen Kommentar zu bekommen. »Mumia«, antwortete er, »nach allen Berichten, die ich bekommen habe, wurde Mr. Serrano nicht zu Tode geprügelt.« »Der Gerichtsmediziner ist derselben Meinung«, erklärte Owens autoritativ. »Mr. Serrano wurde von keinem Angestellten meiner Behörde geschlagen«, behauptete er dann gegenüber den Hörer:innen meiner Radiosendung. Und was war mit den dunklen Ergüssen rund um Serranos Hals? Owens sagte mir, Serrano sei offenbar an einem ledernen Fesselgurt erstickt, indem er sich bis zum Tod gegen diesen presste. Augenzeugen unter den Häftlingen sagten, ein Wärter habe den Ledergurt um Serranos Hals gelegt und ihn zurück in die Zelle gezogen, wo 124

er erneut geschlagen und mit Gurten angeschnallt wurde. Serrano, der wegen Einbruchs verhaftet worden war, wurde von seiner Frau als Mensch beschrieben, der das Leben liebte, und bestimmt nicht als der Selbstmordkandidat, als den ihn die Gefängnisbeamten hinstellen wollen. Warum habe ich diese Details eines Falls aufgezählt, der doch öffentlich bekannt ist? Ich will euch sagen, warum: Weil meine Kerkermeister, die Männer, die darüber entscheiden, ob ich meine Zelle zum Essen, für Telefonanrufe, für Schmerzmedikation, für einen Besuch von Angehörigen oder Freund:innen verlassen darf, genau dieselben Männer sind, die man des Mordes an Pedro Serrano beschuldigt! Erinnert sich noch jemand an die Behauptung der Staatsanwaltschaft, die Polizei hätte genügend Beweise für eine Mordanklage gegen mich? Wie viel mehr Beweise haben sie gegen die, die beschuldigt werden, Serrano ermordet zu haben? Aber sie kommen jeden Tag zur Arbeit, verrichten ihren Job und gehen nach Hause zu ihrer Familie …, während andere allein und elendig in Haft sitzen. Was für ein Szenario – Mordverdächtige, die Mordverdächtige bewachen! Wie irrsinnig ist das – aber wie typisch auch für die Brutalität des Systems.

Gerechtigkeit für wen? Worin liegt der Unterschied? Darin, dass Serrano ein »Maisfresser«, ein »dreckiger P. R.« [Puerto-Ricaner] war und sein Leben deswegen gerade mal die Ausflüchte eines Systems wert ist, das von Gerechtigkeit spricht, aber Völkermord praktiziert. Ich werde beschuldigt, einen Polizeibeamten getötet zu haben, der noch dazu weiß war. In so einem Fall ist nicht einmal die Vortäuschung von Gerechtigkeit nötig. »Schlagt ihn, erschießt ihn, erfindet Beweise, jagt seiner Familie Angst ein« ist das ungeschriebene, aber sehr reale Drehbuch. Man hat mich wie einen Sklaven an Händen und Füßen gefesselt, weil ich es gewagt habe zu überleben. Denen, die es gewagt haben, die offizielle Version in Frage zu stellen, hat man mit Entlassung, einigen auch mit dem Tod gedroht. Warum haben sie so viel Angst vor einem einzelnen Mann? Nicht weil sie sein angebliches »Opfer« geliebt haben – sondern 125

weil sie jede Infragestellung ihrer Rolle als Ankläger und gelegentlich auch Henker fürchten. Wer sorgt für Ordnung bei den »Ordnungshütern«? Bezirksstaatsanwalt Ed Rendell ist wohlbekannt als Typ, der nur an hohen politischen Ämtern interessiert ist – natürlich ist er da gegen einen Sonderankläger, weil er den Ruhm, »den radikalen Journalisten« des Mordes anzuklagen, für seine eigene Behörde beanspruchen will. Wo war Ed Rendell, als Winston C. X. Hood und Cornell Warren ohne Larifari mit auf den Rücken gefesselten Händen hingerichtet wurden? Wie viel Glauben schenkte er den Zeug:innen für diese Morde? Wo war er bei dem offenen, kaltblütigen Mord an dem siebzehnjährigen William Johnson Greene? Oder der mit Absicht im Fernsehen gezeigten Misshandlung von Delbert Africa? Wo war sein unstillbarer Durst nach Gerechtigkeit damals? Müssen wir nochmals Pedro Serrano erwähnen? Machen wir uns nichts vor! Für einen N* oder Maisfresser gibt es nicht mal den Anschein von Gerechtigkeit, und wir hören besser auf, uns selbst in die Tasche zu lügen. Wem sollen wir daran die Schuld geben? Niemandem außer uns selbst. Denn wir machen mit und lassen zu, dass all das passiert. Wir sind immer noch eingesperrt in der Sklavenmentalität der vergangenen Jahrhunderte, weil wir uns immer noch mehr um unsere Unterdrücker:innen sorgen als um uns selbst. Wie viele Märtyrer:innen werden noch ihren letzten Blutstropfen geben, bevor wir aufwachen, aufstehen und Gerechtigkeit verlangen und um sie kämpfen? Und Gerechtigkeit, echte Gerechtigkeit, ist nicht Resultat des guten Willens des Polizei-Departements von Philadelphia, des Büros der Bezirksstaatsanwaltschaft, des Gerichtssystems oder des netten, freundlichen Rechtsanwalts von nebenan. Sie kommt von Gott, dem Spender unseres Lebens, unserer Gesundheit, unserer Luft und unserer Nahrung. Übersetzt von Michael Schiffmann

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Angela Y. Davis Gefängnisreform oder Abschaffung des Gefängnisses? In den meisten Teilen der Welt wird es als selbstverständlich betrachtet, dass Menschen, die eines schweren Verbrechens für schuldig befunden werden, ins Gefängnis kommen. In einigen Ländern, in denen die Todesstrafe noch nicht abgeschafft worden ist – wie in den Vereinigten Staaten –, wird eine kleine, aber nicht unerhebliche Zahl von Menschen wegen Verbrechen, die als besonders gravierend gelten, zum Tode verurteilt. Viele Leute wissen inzwischen von der Kampagne zur Abschaffung der Todesstrafe, und tatsächlich ist sie mittlerweile in den meisten Ländern schon abgeschafft. Selbst die entschiedensten Verfechter:innen der Todesstrafe räumen ein, dass sie in vielerlei Hinsicht angreifbar ist. Kaum jemand findet es schwierig, sich ein Leben ohne die Todesstrafe vorzustellen. Auf der anderen Seite wird das Gefängnis als unvermeidlicher und dauerhafter Bestandteil unseres sozialen Lebens angesehen. Die meisten Leute sind ziemlich überrascht, wenn sie hören, dass auch die Bewegung zur Abschaffung der Gefängnisse auf eine lange Geschichte zurückblickt – eine Geschichte, die bis auf die historische Herausbildung des Gefängnisses zur Hauptform der Bestrafung zurückgeht. Tatsächlich ist es wohl das Naheliegendste, von der Annahme auszugehen, dass Gefängnisaktivist:innen – und sogar diejenigen unter ihnen, die sich selbst bewusst als »Antigefängnis­ aktivist:innen« bezeichnen – schlicht und einfach die Bedingungen im Gefängnis verbessern oder vielleicht eine noch grundsätzlichere Reform des Gefängnisses herbeiführen wollen. In den meisten Kreisen gilt die Abschaffung des Gefängnisses selbst als absolut undenkbar und unplausibel. Derart radikale Gefängnisgegner:innen werden als Utopist:innen und Idealist:innen abgetan, deren Ideen bestenfalls unrealistisch und unpraktikabel, schlimmstenfalls aber irreführend und unsinnig sind. Daran zeigt sich, wie schwer es ist, sich eine gesellschaftliche Ordnung vorzustellen, die sich nicht auf die Drohung stützt, Menschen an schrecklichen Orten einzusperren, die dazu geschaffen sind, sie aus ihrem sozialen Umfeld und ihren Familien herauszureißen. Das Gefängnis wird als so »natürlich« angesehen, dass ein Leben ohne es fast unmöglich scheint. 127

Ich hoffe, dass ich meine Leser:innen ermutigen werde, ihre eigenen Annahmen über das Gefängnis zu hinterfragen. Zahlreiche Menschen sind bereits zu der Schlussfolgerung gelangt, dass die Todesstrafe eine überholte Form der Bestrafung ist und gegen fundamentale Prinzipien der Menschenrechte verstößt. Es ist meines Erachtens an der Zeit, im Hinblick auf das Gefängnis vergleichbare Diskussionen in Gang zu bringen. Während meiner eigenen Arbeit als Antigefängnisaktivistin musste ich zusehen, wie die Gefängnisbevölkerung in den USA derart rasch anwuchs, dass viele Menschen aus den communities der Afroamerikaner:innen, Latinx und Na­ tive Americans heute eine größere Chance haben, ins Gefängnis zu kommen, als eine ordentliche Bildung zu erhalten. Wenn etliche junge Männer und Frauen sich entschließen, ins Militär einzutreten, um einer sonst unvermeidlichen Zeit hinter Gittern zu entgehen, müssen wir uns allmählich die Frage stellen, ob wir nicht anfangen sollten, nach besseren Alternativen zu suchen. Angesichts der Tatsache, dass heute (bei einer Gesamtzahl von neun Millionen weltweit) mehr als zwei Millionen Menschen die Gefängnisse, Strafanstalten, Jugendhafteinrichtungen und für Einwanderer:innen bestimmten Arrestzentren der USA bevölkern, ist die Frage, ob das Gefängnis zu einer überflüssigen und untauglichen Institution geworden ist, besonders dringlich. Sind wir willens, eine immer größere Zahl von Menschen aus den der Rassendiskriminierung unterworfenen communities zu einer isolierten Existenz zu verurteilen, die durch autoritäre Reglementierung, Gewalt, Krankheit und Hafttechnologien gekennzeichnet ist, die ihre geistige Stabilität zerstören? Laut einer jüngst publizierten Studie ist die Zahl der an Geisteskrankheiten leidenden Menschen in Haftanstalten und Gefängnissen möglicherweise doppelt so hoch wie die der Geisteskranken in sämtlichen psychiatrischen Krankenhäusern der Vereinigten Staaten zusammen.1 1 Katherine Stapp, »Prisons Double as Mental Wards«, in: Ashville Global Report, 164 (7.-13. März 2002), 〈http://www.ipsnews.net/2002/03/health-prisons-doubleas-mental-wards-researchers/〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. Stapps Artikel beschreibt eine Studie von Seena Fazel von der Oxford University und John Danesh von der Cambridge University, die in der britischen medizinischen Zeitschrift The Lancet veröffentlicht wurde. Stapp umreißt die Schlussfolgerungen der Forscher:innen wie folgt: »In der Studie heißt es, einer von sieben Häftlingen leide unter einer Geisteskrankheit, die einen selbstmordgefährdenden Faktor darstellen könnte.

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Als ich mich Ende der 1960er Jahre erstmals in der Antigefängnisbewegung engagierte, war ich erschüttert zu erfahren, dass sich zu diesem Zeitpunkt an die 200 000 Menschen in Haft befanden. Wenn mir damals jemand gesagt hatte, dass dreißig Jahre später zehnmal so viele Menschen in Käfigen weggesperrt sein würden, hätte ich mich geweigert, das zu glauben. Ich hätte darauf vermutlich ungefähr Folgendes geantwortet: »So rassistisch und undemokratisch dieses Land auch sein mag« – und man erinnere sich, dass zu dieser Zeit die Forderungen der Bürgerrechtsbewegung noch keineswegs endgültig durchgesetzt waren –, »glaube ich dennoch nicht, dass der US-Staat es sich leisten können wird, so viele Leute einzusperren, ohne dass es heftigen öffentlichen Widerstand dagegen gibt. Nein, das wird nie passieren, es sei denn, dieses Land fällt dem Faschismus anheim.« So etwa hätte ich wohl vor dreißig Jahren reagiert. Tatsächlich müssen wir uns jedoch bei unserem Eintritt in das 21. Jahrhundert der Tatsache stellen, dass zwei Millionen Menschen – mehr als etliche Länder der Erde Einwohner:innen haben – ihr Leben an Orten wie Sing Sing, Leavenworth, San Quentin und dem Alderson Federal Reformatory for Women fristen. Welch gravierende Bedeutung diese Zahlen haben, wird noch offensichtlicher, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass die Bevölkerung der USA weniger als fünf Prozent der Weltbevölkerung ausmacht, während sich mehr als zwanzig Prozent der gesamten Gefängnisbevölkerung der Welt in Gefängnissen in den Vereinigten Staaten befinden. In Elliott Curries Worten ist das Gefängnis in unserer Gesellschaft in einem Ausmaß zur dauernden Präsenz geworden, das weder in unserer Geschichte noch in der irgendeiner anderen industriellen Demokratie eine Parallele hat. Von großen Kriegen abgesehen, hat sich diese Art der Masseneinkerkerung als das am gründlichsten in die Praxis umgesetzte staatliche Programm gesellschaftlicher Regulierung in jüngerer Zeit erwiesen.2 Das sind mehr als eine Million Menschen allein in den Ländern des Westens. Die Autor:innen der Studie [...] werteten Daten über die geistige Gesundheit von 23 000 Gefangenen in zwölf westlichen Ländern aus einem Zeitraum von dreißig Jahren aus. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass Gefangene mit einer mehrfach größeren Wahrscheinlichkeit als die Durchschnittsbevölkerung unter Psychosen und schweren Depressionen litten und dass die Wahrscheinlichkeit einer antisozialen Persönlichkeitsstörung bei ihnen etwa zehnmal so groß war.« 2 Elliot Currie, Crime and Punishment in America, New York 1998, S. 21.

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Wenn wir darüber nachdenken, ob wir heute noch Gefängnisse brauchen, sollten wir uns fragen, wie es kommt, dass so viele Menschen ins Gefängnis gesperrt werden konnten, ohne dass dies größere Debatten über die Effizienz von Haftstrafen ausgelöst hatte. Als der Trend zum Bau von mehr Gefängnissen und zur Inhaftierung von immer mehr Menschen in den 1980er Jahren, also während der Zeit, die als die Reagan-Ära bekannt ist, begann, behaupteten die Politiker:innen, eine »harte Haltung gegenüber dem Verbrechen« – wie zum Beispiel durch zwingend vorgeschriebene Haftstrafen und längere Haftzeiten – werde dafür sorgen, dass die betroffenen communities von Kriminalität verschont würden. In Wirklichkeit hat die seitdem praktizierte Masseneinkerkerung sich jedoch nur wenig bis gar nicht auf die offizielle Kriminalitätsrate ausgewirkt. Was am meisten ins Auge sprang, war im Gegenteil, dass das Wachstum der Gefängnisbevölkerung nicht zu mehr Sicherheit in den communities geführt hat, sondern nur zu einer immer noch größeren Gefängnisbevölkerung. Jedes neue Gefängnis zog am Ende den Bau eines weiteren Gefängnisses nach sich. Und mit der Erweiterung des US-Gefängnissystems wurde auch die Beteiligung der Großkonzerne am Bau von Gefängnissen, ihrer Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen und an der Ausbeutung von Gefängnisarbeit immer größer. Wegen der gewaltigen, an die Entstehung des militärisch-industriellen Komplexes erinnernden Kapitalien aus der Bau-, Nahrungsmittel- und Gesundheitsindustrie, die der Bau und der Unterhalt der Gefängnisse anzogen, begannen wir, von einem »gefängnisindustriellen Komplex« zu sprechen.3 Nehmen wir beispielsweise Kalifornien, dessen Landschaft in den letzten zwanzig Jahren mit zahlreichen Gefängnissen übersät worden ist. Das erste Staatsgefängnis Kaliforniens war das im Jahr 1852 eröffnete San Quentin.4 Folsom, eine weitere wohlbekannte Institution, nahm 1880 den Betrieb auf. Zwischen 1880 und 1933, als in Tchachapi eine neue Anstalt für Frauen eröffnet wurde, wurde in Kalifornien kein einziges neues Gefängnis gebaut. 1952 wurde die California Institution for Women eingeweiht und Tchachapi 3 Mike Davis, »Hell Factories in the Field: A Prison-Industrial Complex«, in: The Nation, 260/7 (1995), S. 229-234. 4 Die obigen Informationen zu den Jahren, in denen die Gefängnisse Kaliforniens in Betrieb genommen wurden, stammen von der Website des California Department of Corrections, 〈https://www.cdcr.ca.gov/〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022.

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in ein Männergefängnis umgewandelt. Insgesamt wurden von 1852 bis 1955 in Kalifornien neun Gefängnisse gebaut. Von 1962 bis 1965 wurden dann neben dem California Rehabilitation Center noch zwei Gefängnislager eingerichtet. Weder in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre noch in den gesamten 1970er Jahren wurde auch nur ein einziges neues Gefängnis eröffnet. In den 1980er Jahren – das heißt während der Amtszeit Präsident Reagans – wurde jedoch mit einem massiven Gefängnisbauprojekt begonnen. Allein zwischen 1984 und 1989 wurden neun Gefängnisse gebaut, darunter die Northern California Facility for Women. Man erinnere sich dabei, dass es über hundert Jahre gedauert hatte, bis die ersten neun Gefängnisse Kaliforniens gebaut waren. Nun hatte sich die Zahl der kalifornischen Gefängnisse in weniger als zehn Jahren verdoppelt. Und in den 1990er Jahren wurden wieder zwölf neue Gefängnisse eingerichtet, darunter auch zwei weitere für Frauen. 1995 wurde das Valley State Prison for Women in Betrieb genommen. Seinem programmatischen Statut zufolge »stellt es 1980 Frauenbetten für das überfüllte Gefängniswesen in Kalifornien bereit«. Im Jahr 2002 gab es dort jedoch bereits 3570 Gefangene, und die beiden anderen Frauengefängnisse Kaliforniens waren ähnlich überbelegt. Gegenwärtig gibt es in Kalifornien 33 Gefängnisse, 38 Lager, 16 Gemeindestrafanstalten und fünf winzige Einrichtungen für inhaftierte Mütter. Im Jahr 2002 befanden sich 157 979 Menschen in diesen Institutionen in Haft, darunter etwa 20 000 Personen, die der Staat wegen Verstoßes gegen die Einwanderungsbestimmungen festhält. Die ethnische Zusammensetzung dieser Gefängnisbevölkerung ist aufschlussreich: Die inzwischen in der Mehrheit befindlichen Latinx machen 35,2 Prozent aus, Afroamerikaner:innen 30 Prozent und weiße Gefangene 29,2 Prozent. Heute befinden sich im Staat Kalifornien mehr Frauen im Gefängnis als Anfang der 1970er Jahre im gesamten Land. Tatsächlich kann sich Kalifornien mit dem Valley State Prison for Women, das über 3500 Insassinnen hat, sogar des größten Frauengefängnisses der Welt rühmen. In derselben Stadt und praktisch auf der gegenüberliegenden Straßenseite befindet sich in Gestalt der Central California Women’s Facility das zweitgrößte Frauengefängnis der Welt, das im Jahr 2002 ebenfalls mit etwa 3500 Frauen belegt war. Schaut man sich eine Landkarte von Kalifornien an, auf der die 131

33 Staatsgefängnisse eingezeichnet sind, sieht man sofort, dass die einzige Gegend mir nur relativ wenigen Gefängnissen das Gebiet nördlich von Sacramento ist. Dennoch gibt es auch dort in der Stadt Susanville zwei Gefängnisse, und eines der berüchtigtsten Ultrahochsicherheitsgefängnisse des Staates, Pelican Bay, befindet sich hier, in der Nähe der Grenze zum Bundesstaat Oregon. Der kalifornische Künstler Sandow Birke ließ sich von der Kolonisierung der Landschaft durch Gefängnisse zur Herstellung einer Serie von 33 Landschaftsmalereien inspirieren, auf denen diese Institutionen und ihre Umgebung abgebildet sind. Sie sind in seinem Buch Incarcerated: Visions of California in the Twenty-First Century versammelt.5 Ich gebe diese kurze Skizze von der Ausbreitung von Gefängnissen in die letzten Winkel Kaliforniens, damit die Leser:innen begreifen können, als wie leicht es sich erwiesen hat, mit der stillschweigenden Zustimmung der Bevölkerung ein massives System der Einkerkerung zu schaffen. Warum konnte man die Menschen so leicht davon überzeugen, dass die Einsperrung immer größerer Teile der US-Bevölkerung dem in der freien Welt verbliebenen Teil dazu verhelfen würde, sich sicherer und weniger verwundbar zu fühlen? Diese Frage kann auch ganz generell gestellt werden: Warum verleiten Gefängnisse Menschen zu dem Glauben, ihre eigenen Rechte und Freiheiten seien durch sie sicherer als ohne sie? Und welche weiteren Gründe könnte es für das Tempo geben, mit der die Gefängnisse nach und nach die Landschaft Kaliforniens kolonisiert haben? Die Geographin Ruth Gilmore bezeichnet die Ausbreitung des Gefängniswesens in Kalifornien als »geographische Lösung für sozioökonomische Probleme«.6 In ihrer Analyse des gefängnisindus­ triellen Komplexes in Kalifornien beschreibt sie diese Entwicklung als Reaktion auf den Überschuss von Kapital, Land, Arbeit und staatlichen Kapazitäten:

5 Sandow Birk, Incarcerated: Visions of California in the Twenty-First Century, San Francisco 2001. 6 Ruth Wilson Gilmore, »Globalisation and U. S. Prison Growth: From Military Keynesianism to Post-Keynesian Militarism«, in: Race and Class, 40/2-3 (1999), S. 171-188, hier S. 174.

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Die neuen Gefängnisse Kaliforniens befinden sich auf entwertetem Kulturland, das tatsächlich zuvor größtenteils bewässert und landwirtschaftlich genutzt wurde. Der Staat kaufte Ländereien, die von den Großgrundbesitzern abgestoßen wurden. Und der Staat versicherte den kleinen, mit wirtschaftlichem Niedergang kämpfenden Städten, die nun im Schatten der Gefängnisse lagen, dass der neue, krisensichere, umweltverträgliche Gewerbezweig für einen neuen Aufschwung der lokalen Wirtschaft sorgen würde.7

Gilmore weist jedoch darauf hin, dass sich weder die neuen Arbeitsplätze noch die allgemeine wirtschaftliche Wiederbelebung, die man sich von den Gefängnissen erhofft hatte, materialisiert haben. Dennoch helfen diese Fortschrittsversprechen zu verstehen, weshalb das Parlament und die Wähler:innen Kaliforniens dem Bau all dieser neuen Gefängnisse zugestimmt haben. Die Menschen wollten nur zu gerne glauben, dass die Gefängnisse nicht nur die Kriminalität eindämmen, sondern auch für Arbeitsplätze sorgen und die wirtschaftliche Entwicklung in von den wirtschaftlichen Zentren weitab gelegenen Gebieten stimulieren würden. Letzten Endes geht es hier um eine ganz grundlegende Frage: Warum nehmen wir das Gefängnis als gegeben hin? Während nur ein relativ kleiner Teil der Gesamtbevölkerung direkt und von innen mit dem Leben im Gefängnis Bekanntschaft gemacht hat, trifft dies für die Menschen aus den armen Schwarzen- oder Latinxvierteln nicht zu. Und es gilt mit Sicherheit auch nicht für die communities der Native Americans und teilweise auch nicht für die Amerikaner:innen asiatischer Herkunft. Aber selbst die – vor allem jüngeren – Menschen, für die die Verurteilung zu einer Haftstrafe ein bedauerlicher, aber normaler Aspekt ihres sozialen Lebens ist, sehen öffentliche Diskussionen über das Gefängnisleben oder ein Eintreten für radikale Alternativen zum Gefängnis kaum als eine gangbare Perspektive an. Es ist, als wäre das Gefängnis ebenso wie die Geburt oder der Tod eine unvermeidliche Lebenstatsache. Alles in allem tendieren die Menschen also dazu, Gefängnisse als selbstverständlich zu betrachten. Sich ein Leben ohne sie vorzustellen, ist schwer. Gleichzeitig begegnen wir einem Widerstreben, sich mit den hinter ihren Mauern verborgenen Realitäten auseinanderzusetzen, einer Angst, darüber nachzudenken, was dort geschieht. 7 Gilmore, »Globalisation«, S. 184.

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So ist das Gefängnis gleichzeitig anwesend und abwesend in unser aller Leben. Wenn wir an diese simultane An- und Abwesenheit denken, wird uns allmählich klar, welche Rolle ideologische Vorstellungen für unsere Interaktion mit unserer sozialen Umgebung spielen. Wir nehmen die Gefängnisse als gegeben hin, haben aber oft Angst, uns den von ihnen produzierten Realitäten zu stellen. Weil es zu quälend wäre, mit der Möglichkeit zu rechnen, dass jede:r, also auch wir, ins Gefängnis kommen könnte, denken wir uns Gefängnis am liebsten als etwas von unserem Leben völlig Abgetrenntes. Und das gilt sogar für einige von uns, Frauen wie Männer, die bereits selbst Erfahrungen mit dem Gefängnis gemacht haben. Wir stellen uns also Gefangenschaft als ein Schicksal vor, das für andere oder, um einen in jüngster Zeit durch George W. Bush popularisierten Ausdruck zu verwenden, für »Bösewichter« (evil­ doers) reserviert ist. Aufgrund der fortdauernden Kraft des Rassismus werden »Kriminelle« und »Bösewichter« in der kollektiven Vorstellung als »Farbige« phantasiert. Das Gefängnis fungiert daher ideologisch als abstrakter Ort, an dem die unerwünschten Personen deponiert werden, was uns von der Verantwortung befreit, über die wirklichen Probleme der communities nachzudenken, aus denen die Gefangenen in so überproportionaler Zahl kommen. Das ist die ideologische Arbeit, die das Gefängnis leistet – es erlöst uns von der Verantwortung, uns ernsthaft mit den Problemen unserer Gesellschaft, darunter besonders jenen, die vom Rassismus und in wachsendem Maß auch vom weltweiten Kapitalismus hervorgebracht werden, auseinanderzusetzen. Was übersehen wir beispielsweise, wenn wir uns mit der Expansion des Gefängniswesens beschäftigen wollen, ohne uns für die wichtigeren Entwicklungen im Bereich der Wirtschaft zu interessieren? Wir leben in einer Ära migrierender Großkonzerne. Um der gewerkschaftlichen Organisation der Arbeitskräfte in unserem Land – und damit höheren Löhnen, Sozialleistungen und so weiter – zu entgehen, wandern die Konzerne auf der Suche nach Ländern, in denen Arbeitskraft billig zu haben ist, über die ganze Welt. Diese Wanderbewegung der Kapitalgesellschaften lässt regelmäßig ganze Gemeinwesen in Trümmern zurück. Zahlreiche Menschen verlieren ihre Arbeit und jede Aussicht auf einen Arbeitsplatz. Die Zerstörung der wirtschaftlichen Basis dieser Gemeinwesen zieht zugleich das Bildungswesen und andere noch bestehende sozial134

staatliche Einrichtungen zutiefst in Mitleidenschaft. Dieser Prozess macht aus den in diesen beschädigten Gemeinden lebenden Männern, Frauen und Kindern perfekte Kandidat:innen für das Gefängnis. Derweil profitieren die in der Bestrafungsindustrie tätigen Konzerne von dem System, unter dessen Obhut die Gefangenen stehen, und entwickeln ein unzweideutiges Interesse am fortgesetzten Wachstum der Gefängnisbevölkerung. Ganz einfach gesagt, leben wir in der Ära des gefängnisindustriellen Komplexes. Das Gefängnis ist zu einem schwarzen Loch geworden, in dem der Auswurf der heutigen kapitalistischen Gesellschaft gelagert wird. Die Masseneinkerkerung erzeugt Profite, indem sie sozialen Reichtum verschlingt, und reproduziert so tendenziell genau die Bedingungen, aufgrund derer Menschen ins Gefängnis kommen. Es bestehen demnach reale und oft sehr komplexe Beziehungen zwischen der Entindustrialisierung der Wirtschaft – einem Prozess, der im Lauf der 1980er Jahre seinen Höhepunkt erreichte – und der Expansion der Masseneinkerkerung, die ebenfalls während der Reagan-BushÄra mit aller Macht einsetzte. Die Forderung nach mehr Gefängnissen wurde der Öffentlichkeit jedoch in Form einer groben Vereinfachung präsentiert: Man brauche mehr Gefängnisse, weil die Kriminalität zugenommen habe. Aber etliche Wissenschaftler:innen haben gezeigt, dass die Verbrechensstatistiken zu der Zeit, als der Boom im Bau von Gefängnissen einsetzte, bereits rückläufig waren. Zusätzlich wurden drakonische neue Drogengesetze eingeführt, und viele Staaten verabschiedeten »Three-Strikes«-Gesetze, nach denen zum dritten Mal straffällig gewordene Täter:innen automatisch mit lebenslänglicher Haft bestraft werden. Um die Expansion des Gefängniswesens und das Wachstum des gefängnisindustriellen Komplexes zu verstehen, könnte es nützlich sein, ein wenig mehr über die Gründe zu reflektieren, weshalb uns Gefängnisse als etwas so Selbstverständliches erscheinen. Wie wir gesehen haben, wurden in Kalifornien beinahe zwei Drittel der heute bestehenden Gefängnisse in den 1980er und 1990er Jahren eröffnet. Warum gab es keinen großen Aufschrei dagegen? Warum führte die Aussicht auf viele neue Gefängnisse stattdessen zu einer so offenkundigen Zufriedenheit? Die Antwort auf diese Frage hat zum Teil damit zu tun, wie wir die Medienbilder vom Gefängnis konsumieren, während die tatsächlichen Realitäten des Gefange135

nendaseins fast allen verborgen bleiben, denen nie das Missgeschick zuteil wurde, selbst eine Haftstrafe absitzen zu müssen. Die Kulturkritikerin Gina Dent hat darauf hingewiesen, dass unser Gefühl der Vertrautheit mit dem Gefängnis zum Teil aus den Darstellungen von Gefängnissen im Kino und anderen visuellen Medien stammt: Die Geschichte der mit dem Gefängnis verbundenen Visualität stellt zugleich eine bedeutsame Untermauerung der Institution des Gefängnisses als naturalisierter Teil unserer gesellschaftlichen Landschaft dar. Die Geschichte des Films ist immer eng mit der Darstellung von Haft verbunden gewesen. Thomas Edisons erste Filme (die mit der Wochenschauversion von Execution of Czolgosz with Panorama of Auburn Prison von 1901 beginnen) zeigten Drehmaterial aus den finstersten Winkeln dieses Gefängnisses. So ist das Gefängnis außerordentlich eng mit unserer Erfahrung von Visualität verbunden, was zugleich ein Gefühl seiner Dauerhaftigkeit als Institution schafft. Außerdem kommt aus Hollywood ein beständiger Strom von Gefängnisfilmen, der sie tatsächlich längst zum Genre gemacht hat.8

Einige der bekanntesten Gefängnisfilme sind I Want to Live! (dt. Laßt mich leben), Papillon, Cool Hand Luke (dt. Der Unbeugsame) und Escape from Alcatraz (dt. Flucht von Alcatraz). An dieser Stelle sollte auch die wachsende Überflutung des Fernsehens mit Gefängnisbildern erwähnt werden. So wurden beispielsweise in jüngerer Zeit im Rahmen der A&E-Serie The Big House Dokumentarberichte gezeigt, die sich mit San Quentin, Alcatraz, Leavenworth und dem Alderson Federal Reformatory for Women befassen. Die langjährige HBO-Serie Oz hat viele Zuschauer:innen zu der Überzeugung gebracht, sie wüssten genau, was in den Hochsicherheitsgefängnissen für Männer vor sich geht. Aber selbst Zuschauer:innen, die nicht bewusst entscheiden, sich eine Dokumentation oder einen Spielfilm zum Thema Gefängnisse anzusehen, konsumieren unvermeidlich und ob sie wollen oder nicht einfach dadurch, dass sie überhaupt ins Kino gehen oder fernsehen, Bilder vom Gefängnis. Es ist so gut wie unmöglich, dem Konsum von Bildern vom Gefängnis aus dem Weg zu gehen. Als ich 1997 in drei kubanischen Gefängnissen Interviews mit Frauen machte, erzählten mir die meisten von ihnen zu meiner nicht geringen Überraschung, wie sie ihr bis bisheriges, vor der eigenen 8 Gina Dern, »Stranger Inside and Out: Black Subjectivity in the Women-in-Prison Film«, unveröffentlichtes Manuskript.

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Haft entstandenes Bild vom Gefängnis aus den vielen Hollywoodfilmen geschöpft hatten, die sie gesehen hatten. Das Gefängnis ist einer der wichtigsten Bestandteile unserer visuellen Umwelt. Darum nehmen wir seine Existenz als selbstverständlich hin. Das Gefängnis ist zu einem wesentlichen Merkmal unseres Weltverständnisses geworden. Es ist da, überall um uns herum. Wir stellen uns nicht die Frage, ob es existieren sollte. Es ist so sehr zu einem Teil unseres Lebens geworden, dass wir unsere Phantasie sehr anstrengen müssen, um uns ein Leben vorzustellen, in dem es keine Gefängnisse mehr gibt. Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass sich die Art, wie in der Öffentlichkeit über das Gefängnis gesprochen wird, tiefgreifend verändert hat. Als das Expansionstempo des Gefängnissystems vor zehn Jahren seinen Höhepunkt erreicht hatte, gab es nur sehr wenig öffentliche Kritik an diesem Prozess. Tatsächlich war das ungeheure Ausmaß dieser Expansion den meisten Menschen unbekannt. Dies war die Periode, in der sich das Gefängnissystem der USA – zum Teil durch die Verwendung neuer Technologien – aufgrund interner Veränderungen in eine weitaus repressivere Richtung entwickelte. Während zuvor lediglich ein Dreiklassensystem aus Niedrig­-, Mittel- und Hochsicherheitsgefängnissen bestanden hatte, wurde nun eine neue Kategorie erfunden, nämlich das Ultrahochsicherheitsgefängnis, kurz Supermax. Die immer weiter verschärfte Repression in einem Gefängnissystem, das schon von Anbeginn durch seine repressiven Reglementierungen gekennzeichnet war, veranlasste einige Journalist:innen, bekannte Intellektuelle und progressive Institutionen dazu, gegen den immer stärkeren Rückgriff auf das Gefängnis zur Lösung sozialer Probleme aufzutreten – sozialer Probleme, die durch diese Art von Masseneinkerkerung in Wirklichkeit nur noch verschärft werden. 1990 veröffentlichte das in Washington ansässige Sentencing Project eine Studie darüber, wie viele US-Amerikaner:innen in Gefängnissen und Haftanstalten saßen oder auf Bewährung verurteilt oder entlassen waren. Die Studie kam zu dem Schluss, dass ein Viertel aller schwarzen Männer im Alter zwischen 20 und 29 Jahren sich in einer dieser Kategorien befand.9 Fünf Jahre später zeigte eine 9 Vgl. Mare Mauer, Young Men and the Criminal Justice System: A Growing National Problem, Washington, D. C., 1990.

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zweite Studie, dass dieser Anteil auf beinahe ein Drittel, nämlich auf 32,2 Prozent, hochgeschnellt war. Darüber hinaus befand sich auch ein Zehntel aller hispanischen Männer im selben Alter in einer Haft- oder Strafanstalt oder war auf Bewährung verurteilt oder entlassen worden. Diese zweite Studie zeigte auch, dass die Gruppe, die den höchsten Anstieg zu verzeichnen hatte, die der inhaftierten schwarzen Frauen war, deren Zahl um 87 Prozent gestiegen war.10 Laut dem Amt für Gerichtsstatistik stellen Afroamerikaner:innen nun insgesamt die Mehrheit der Staats- und Bundesgefangenen, bei einer Gesamtzahl von 803 400 schwarzen Häftlingen – 118 600 mehr als die Gesamtzahl der weißen Gefangenen.11 Ende der 1990er Jahre erschienen ausführliche Artikel über die Expansion des Gefängniswesens in Newsweek, Harper’s, Emerge und Atlantic Monthly. Selbst Colin Powell stellte in seiner Rede vor dem Nationalkonvent der Republikaner im Jahr 2000, auf dem George W. Bush zum Präsidentschaftskandidaten erklärt wurde, die Frage, warum so viele schwarze Männer im Gefängnis sitzen. Während der letzten Jahre ist das Nichtvorhandensein kritischer Positionen zur Expansion des Gefängniswesens in der politischen Arena durch Vorschläge zur Gefängnisreform abgelöst worden. Der öffentliche Diskurs ist zwar flexibler geworden, richtet sich aber praktisch immer auf die Herbeiführung von Veränderungen, deren Ergebnis ein besseres Gefängnissystem ein soll. Damit beschränkt die größere Flexibilität, durch die eine kritische Diskussion der mit der Ausdehnung des Gefängniswesens verbundenen Probleme überhaupt erst möglich wurde, diese Diskussion zugleich auf die Frage der Gefängnisreform. So bedeutsam einige Reformen – wie zum Beispiel die Unterbindung sexueller Misshandlungen und medizinischer Vernachlässigung in Frauengefängnissen – auch sein mögen, trägt doch ein Diskussionsrahmen, der ausschließlich von Reformen ausgeht, zur Verfestigung des von geistiger Trägheit gekennzeichneten Gedankens bei, dass es jenseits des Gefängnisses nichts geben kann. Wenn ausschließlich die Frage der Reform ins Zentrum gerückt wird, werden die Debatten über Strategien der Entkerkerung, die den Kern 10 Vgl. Mare Mauer, Tracy Huling, Young Black Americans and the Criminal Justice System: Five Years Later, Washington, D. C., 1995. 11 Vgl. Allen J. Beck u. a., »Prison and Jail Inmates at Midyear 2001«, in: Bureau of Justice Statistics Bulletin, Washington, D. C.: U.S. Department of Justice, Office of Justice Programs, April 2002, NCJ 191702), S. 1-16, hier S. 12.

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unserer Gespräche über die Gefängniskrise bilden sollten, mehr oder weniger marginalisiert. Heute ist die wichtigste Frage die, wie sich das weitere Anwachsen der Gefängnisbevölkerung verhindern lässt und wie wir so viele der eingekerkerten Frauen und Männer wie möglich zurück an den Ort bekommen können, den die Gefangenen »die freie Welt« nennen. Wie können wir die Anwendung von Drogen und den Handel mit sexuellen Dienstleistungen entkriminalisieren? Wie können wir mit Strategien zu einer resozialisierenden statt ausschließlich bestrafenden Justiz Ernst machen? Um effektive Alternativen zu entwickeln, brauchen wir sowohl veränderte Techniken des Umgangs mit »dem Verbrechen« als auch eine Veränderung der sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen, aufgrund derer so viele Kinder aus armen, besonders aus communities of color in das System der Jugendstrafjustiz und von dort aus ins Gefängnis geraten. Derzeit besteht unsere schwerste und dringlichste Herausforderung darin, kreativ neue Wege der Justiz auszuloten, bei denen wir uns zur Lösung unserer Probleme nicht mehr hauptsächlich auf das Gefängnis stützen. Übersetzt von Michael Schiffmann

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Klaus Günther Kritik der Strafe Dass häufiger und härter gestraft werden sollte, dass Kriminalität drastisch zunehme und Staat und Gesellschaft zu wenig dagegen tun würden, dass das Kriminaljustizsystem sich zu viel um die Täter:innen kümmern und dabei zu zimperlich mit ihnen umgehen würde, während es die Opfer mit ihrem bemitleidenswerten Schicksal alleinlasse – es gibt zurzeit wenige Forderungen und Überzeugungen, die so breit und umfassend in den Bevölkerungen Westeuropas und Nordamerikas akzeptiert werden wie diese. In der westlichen Welt ist ein allgemeines Strafbedürfnis allgegenwärtig, wie ein Gespenst nistet es auf allen Altersstufen, in allen Gesellschaftsschichten und Klassen, in allen Berufen und auf allen Bildungsgraden sowie in fast allen politischen Gruppierungen. Bemerkenswert ist dabei ein latenter, stiller Affekt, der in Kontroversen über dieses Thema regelmäßig manifest zu werden pflegt, wobei es nur Unterschiede im Ton und in der Elaboriertheit des sprachlichen Ausdrucks gibt, nicht jedoch im semantischen Gehalt. Es wäre eine bildungselitäre Selbstüberschätzung, solche Affekte nur in der Boulevardpresse und bei ihren regelmäßigen Leser:innen zu vermuten. Gewiss, dort war es schon immer so, dass vor allem nach spektakulären Verbrechen schärfere Strafen gefordert wurden. Zurzeit werden solche Forderungen jedoch auch in den anspruchsvolleren Tageszeitungen erhoben. Die skandalisierende Präsentation spektakulärer Kriminalfälle im Fernsehen übt inzwischen vermutlich eine noch viel massivere Wirkung aus, nicht zuletzt auch auf die kritischeren und reflektierteren Medienkonsument:innen. Sogar Studierende der Rechtswissenschaft mokieren sich in Lehrveranstaltungen über ein vermeintlich täterfreundliches Strafrecht und kritisieren statistisch begründete Zweifel am Abschreckungseffekt der Todesstrafe in den USA.1 Inzwischen schreiben auch ansonsten erkenntnis1  Diese Feststellung beruht auf eigener Beobachtung. Statistische Erhebungen unter Studierenden der Rechtswissenschaft an verschiedenen Universitäten belegen diesen Trend, vgl. dazu Franz Streng, »Das Legitimationsdilemma sichernden Freiheitsentzugs – Überlegungen zur neueren Rechtsentwicklung«, in Dieter

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kritische und methodenbewusste Rechtsprofessor:innen empörte Leser:innenbriefe an Zeitungen, in denen sie mit Beispielen von Kriminalfällen aus der Nachbarschaft oder dem Bekanntenkreis die absolute Gewissheit des selbst und unmittelbar Erlebten gegen die Anonymität und Abstraktion von Statistiken ausspielen. Kein Geringerer als Hans Magnus Enzensberger hatte diesen populistischen Affekten schon vor einigen Jahren seine Stimme geliehen.2 Die Politik hat längst erkannt, welches Potential in diesen Affekten für Machtgewinn und Machterhalt liegt. In Wahlkämpfen geht es auch und vor allem um den kriminalpolitischen Wettbewerb, wer sich für die schlagkräftigsten und erfolgreichsten Methoden der Kriminalitätsbekämpfung und den härtesten Strafvollzug einsetzt. Den Agent:innen des politischen Systems fällt es leicht, sich in pseudodemokratischer Einstellung auf den erklärten Wunsch der Mehrheit zu berufen, dass endlich härter gegen Kriminalität vorgegangen werde. Die Gesetzgebung hat inzwischen nachgezogen, indem sie das Strafrecht immer weiter ausdehnt, die Strafen verschärft und den Kreis der zulässigen, in die Grundrechte der Bürger:innen eingreifenden Ermittlungsmethoden immer größer werden lässt – inzwischen auch auf europäischer Ebene.3 Einzelne Bundesländer schränken der Resozialisierung dienende Lockerungen des Strafvollzuges ein oder schaffen sie faktisch ganz ab. Nichts wird von der Politik zurzeit mehr gefürchtet als ein:e vorzeitig aus der Haft entlassene:r oder im Ausgang befindliche:r Strafgefangene:r, der/die erneut Straftaten begeht. Erst recht gilt dies für solche Straftäter:innen, die sich eines spektakulären Verbrechens wie einer Sexualstraftat schuldig gemacht haben und entweder gar keiner oder einer zu kurz andauernden sichernden Maßnahme unterzogen wurden. Eine gewaltige Beschleunigung haben diese Tendenzen zuletzt durch die Bedrohungen des internationalen Terrorismus erfahren. Hier geht das obsessiv gewordene Strafbedürfnis freilich auf unklare Weise eine Verbindung mit dem Bedürfnis nach Sicherheit ein, für dessen Erfüllung man die herkömmlichen rechtsstaatlichen Dölling (Hg.), Jus humanum – Grundlagen des Rechts und Strafrecht. Festschrift für Ernst-Joachim Lampe zum 70. Geburtstag, Berlin 2016, S. 611-642. 2 Vgl. Hans Magnus Enzensberger, Aussichten auf den Bürgerkrieg, Frankfurt/M. 1993. 3 Vgl. Peter-Alexis Albrecht, Die vergessene Freiheit – Strafrechtsprinzipien in der europäischen Sicherheitsdebatte, Berlin 2003.

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Grenzen zwischen Strafverfolgungsbehörden, Polizei, Geheimdiensten und Militär niederreißt, um Interventionen rechtlich zu ermöglichen, die zugleich Strafverfolgung, polizeiliche Prävention und Krieg sind. Die »neue Lust auf Strafe«4 verwundert vor allem deshalb, weil sie nicht mit einem dramatischen Anstieg der Kriminalität korreliert, am wenigsten mit einer Zunahme derjenigen schweren Verbrechen, die im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen.5 Zwar gibt es statistische Schwankungen bei einigen, vor allem eher leichteren Deliktsarten, doch sind diese nicht so dramatisch, dass sich die steigende Intensität des allgemeinen Strafbedürfnisses damit begründen ließe. Diejenigen, die statistisch am wenigsten durch Kriminalität gefährdet sind, hegen die größte Kriminalitätsfurcht. Angesichts dieses Befundes liegt es nahe, die Ursachen bei einer wechselseitigen Beeinflussung von Medien und Politik zu suchen. Die skandalisierende Darstellung einzelner spektakulärer Verbrechen (vor allem tödliche Sexualstraftaten) lässt den Eindruck einer sprunghaft ansteigenden Kriminalitätsrate entstehen6 und provoziert den Ruf nach politischer Intervention – und das andauernde politische Dramatisieren der Kriminalitätsbekämpfung lässt den Eindruck entstehen, dass immer noch nicht genug getan werde und immer noch mehr getan werden könnte. Ein solcher »politisch-publizistischer Verstärkerkreislauf«7 konfrontiert die Bevölkerung ununterbrochen mit Kriminalität. So plausibel diese Erklärung auch sein mag, sie setzt voraus, dass in der Bevölkerung ein breites Strafbedürfnis vorhanden sei und dieses durch die selektive Präsentation spektakulärer Einzelfälle und wiederholte politische Thematisierung immer wieder aktiviert und gesteigert werde. Das erklärt jedoch noch nicht, warum das Verlangen nach Strafe so intensiv und das Vertrauen in die Strafe und ihre vermuteten Wirkungen so groß ist. Eine ähnliche Kluft wie zwischen tatsächli4  Winfried Hassemer, »Die neue Lust auf Strafe«, in: Frankfurter Rundschau, 20. 12. 2000, S. 16. 5 Vgl. Christian Pfeiffer, »Die Dämonisierung des Bösen«, in: Frankfurter Allge­ meine Zeitung, 5. 3. 2004. 6 Vgl. ebd. 7 Sebastian Scheerer, »Der politisch-publizistische Verstärkerkreislauf. Zur Beeinflussung der Massenmedien im Prozeß strafrechtlicher Normbildung«, in: Kriminologisches Journal, 10 (1978), S. 223-227; vgl. Pfeiffer, »Die Dämonisierung«.

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cher Gefährdung durch Kriminalität und subjektiver Kriminalitätsfurcht gibt es auch zwischen dem subjektiven Strafbedürfnis und der tatsächlichen Wirksamkeit der Strafe. Obwohl alle Evidenzen dafür sprechen, dass Strafe zwar in vielerlei Hinsichten wirkt, aber am wenigsten in der beabsichtigten, nämlich einer Verminderung oder Beseitigung der Kriminalität, bleibt der Glaube an das Strafen virulent und persistent. Fast scheint es so, dass sich das Strafbedürfnis um den Widerspruch zwischen den tatsächlichen und vermuteten Wirkungen der Strafe gar nicht kümmert, ja an Wirkungen gleich welcher Art gar nicht interessiert ist, sondern nur auf seiner bloßen Erfüllung durch Exekution der Strafe insistiert. Angesichts der unerschütterlichen Selbstgewissheit, mit der sich gegenwärtig ein obsessiv gewordenes Strafbedürfnis öffentlich präsentiert, soll wenigstens an die gängigsten Einwände gegen das Strafen im Sinne einer staatlich angeordneten und vollstreckten Übelzufügung noch einmal erinnert werden. Keine der für das Strafen öffentlich vorgebrachten Rechtfertigungen hält näherer Prüfung stand – dies gilt für die Vergeltung ebenso wie für die verschiedenen Präventionstheorien. Angesichts dieses Streitstandes hat sich die Strafgesetzgebung ohnehin nicht auf eine Begründung und einen Zweck der Strafe festgelegt. Die Rechtsprechung versucht, im Wege einer »Vereinigungstheorie« verschiedene Strafzwecke in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander zu bringen, wobei die reine Vergeltung kaum noch ein Gewicht erhält, sondern weitgehend von der Deutung der Strafe als Schuldausgleich ersetzt wird.8

Kritik der herkömmlichen Rechtfertigungen des Strafens Seitdem gestraft und über das Strafen nachgedacht wird, gibt es im Wesentlichen zwei Rechtfertigungen der Strafe: Sie soll das in der Vergangenheit liegende Unrecht ausgleichen, sühnen, vergelten, oder sie soll künftigen Straftaten vorbeugen (Prävention). Von Seneca stammt die berühmte Sentenz, die er selbst Platon zuschreibt: 8 Herbert Tröndle, Thomas Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze. Kommentar, München 512003, § 46 Rdr. 2.

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»nemo prudens punit, quia peccatum est, sed ne peccetur.«9 Präventive Zwecke werden der Strafe in wenigstens drei Hinsichten zugeschrieben: Sie soll mögliche künftige Straftäter:innen davon abschrecken, ihren Plan in eine Straftat umzusetzen (negative Generalprävention), sie soll die Delinquentin so negativ beeindrucken, dass sie beim nächsten drohenden Rückfall die beabsichtigte Straftat aus Furcht unterlässt (negative Spezialprävention), sie soll in der Straftäterin Reue, Einsicht und Umkehr motivieren und fördern, sie bessern und so auf den Weg einer rechtstreuen Lebensführung bringen (positive Spezialprävention), und sie soll die Sitte und Moral einer Gesellschaft stärken und stabilisieren, damit die rechtstreuen Bürger:innen sich nicht um ihre guten Motive betrogen fühlen, wenn sie erleben müssen, dass jemand seinen bösen Motiven nachgibt (positive Generalprävention). Während die Vergeltung mit dem Ausgleich des in der Vergangenheit liegenden Unrechts vollendet ist und darüber hinaus keine weiteren Zwecke anstrebt (absolute Straftheorie), beanspruchen die Präventionstheorien, die Strafe an rational nachprüfbare Zwecke zu binden (relative Straftheorien). Mit der vor allem durch die Aufklärung gegen die Vergeltung gerichteten Forderung, die Strafe müsse sich an vernünftigen Zwecken messen lassen, war freilich schon der Weg zur Kritik der Strafe beschritten. Denn jetzt musste sich beweisen lassen, dass die Strafe ihre Zwecke auch tatsächlich verwirklicht. Bis heute ist dieser Beweis indes nicht gelungen. Und warum und wozu vergolten werden soll, bleibt ebenso eine offene Frage, wie sich bezweifeln lässt, dass jemals ein Unrecht durch Strafe tatsächlich ausgeglichen worden sei.

(a) Vergeltung Ihr Ursprung liegt in der Restitution, im Ausgleich des Schadens durch die Schädigende. Wo eine Wiedergutmachung jedoch nicht möglich ist, soll der Täterin das Gleiche genommen werden, was sie dem Opfer genommen hat – Auge um Auge, Zahn um Zahn, 9 »Kein Kluger straft, weil gefehlt worden ist, sondern damit in Zukunft nicht gefehlt werde.« [Anm. d. Hg.] – Vgl. dazu Claus Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. I: Grundlagen. Der Aufbau der Verbrechenslehre. München 31997, S. 45.

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und zwar durch das Opfer selbst oder dessen Angehörige. In ihrem Ursprung ist die Vergeltung daher noch ganz an das Verhältnis von Täter:in und Opfer sowie die Familienverbände gebunden, denen beide jeweils angehören. In dieser Kontextgebundenheit lauern zugleich die Gefahren der Eskalation. Die historische Erfahrung der Vergeltung zeigt, dass es keine wirkliche Äquivalenz zwischen dem geraubten oder zerstörten Gut und dem zur Vergeltung Genommenen gibt. Weil keine Vergeltung genau dem entspricht, was sie ausgleichen soll, schafft sie neues Unrecht und gebiert damit das Bedürfnis nach neuer Vergeltung. Aber nicht nur wegen des untilgbaren Rests an Ungleichheit in jeder Vergeltung ist dieses Bedürfnis potentiell maßlos. Weil Vergeltung ursprünglich nur in der intersubjektiven Beziehung zwischen Täter:in und Opfer sowie dessen Angehörigen praktiziert wird, strömen unweigerlich alle Affekte in sie hinein, die sich bewusst oder unbewusst an den Begleitumständen von Tat und Vergeltung entzünden. Die bloße wertmäßige Restitution vermag niemals das subjektiv von Fall zu Fall schwankende Maß an Schmach, Erniedrigung und Demütigung auszugleichen, welche das Opfer erlitten hat. Und umgekehrt mag ein besonders beleidigender Vollzug der Vergeltung bei der so Bestraften die Überzeugung reifen lassen, nun ihrerseits Unrecht erlitten zu haben, das nach Ausgleich verlange. Daraus entsteht ein ruhe- und auswegloser Kreislauf der Blutfehden, der ganze Gesellschaften so okkupieren kann, dass alle sozialen Funktionssysteme gelähmt werden. Die Geschichte des Vergeltungsprinzips ist daher die Geschichte seiner Begrenzungen. Das Talionsprinzip war schon als eine Begrenzung des subjektiv maßlosen Rachebedürfnisses gedacht – für ein verlorenes Auge nicht mehr und nicht weniger als ein Auge. In dem Maße, wie das Genugtuungsbedürfnis die Grenzen der Äquivalenz durchbricht und sich in Affektübertragungen der Verletzten auf die Delinquentin hineinsteigert, bis der Kreislauf der Rache in Gang kommt, tritt der mächtige Dritte auf den Plan, der die Rolle des alleinzuständigen Rächers an sich reißt und alle Gewaltmittel monopolisiert. Das Recht zu strafen wird der Verletzten aus der Hand genommen; der gewaltmonopolisierende strafende Staat kann seine Macht nur bewahren, wenn er die Verfolgung und Ahndung des Verbrechens in die eigene Hand nimmt.10 Er 10 Vgl. Klaus Lüderssen, Abschaffen des Strafens?, Frankfurt/M. 1995, S. 22 ff.

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bestraft das Verbrechen im eigenen Namen (staatlicher oder öffentlicher Strafanspruch) – dafür müssen die Untertan:innen auf ihr Selbsthilferecht verzichten. Damit wird auch die Vergeltung aus der konkreten Beziehung zwischen der Schädigenden und der Verletzten gelöst. Durch Strafe ausgeglichen werden soll jetzt die Verletzung des Rechts, und zwar des allgemeinen und öffentlichen, durch den Staat und seine Vollstreckungsorgane, ohne dass das Opfer aus dem unmittelbaren Straferlebnis noch seine Genugtuung schöpfen könnte. Das Opfer wird aus der Strafverfolgung und -vollstreckung gedrängt, es wird marginalisiert.11 Damit verliert die Vergeltungsstrafe freilich auch ihren letzten Bezugspunkt in der durch die Täterin konkret verursachten Verletzung – worin soll dann noch die ausgleichende Gleichheit oder Proportionalität zwischen Tat und Strafe bestehen? Mit der Verallgemeinerung und Verstaatlichung des Strafanspruchs erfährt die Vergeltung also eine zweifache Abstraktion: Anstelle der konkreten individuellen Verletzung einer Person wird die Verletzung einer allgemeinen Rechtsnorm, ein Unrecht, durch Strafe ausgeglichen, und an die Stelle der äußerlichen Gleichartigkeit oder -wertigkeit der Strafe im Verhältnis zur Verletzung tritt die Strafe als ein bloßes Symbol für den Unrechtsausgleich. Kant und Hegel haben diese Abstraktion so gedeutet, dass die Täterin mit ihrem Verbrechen nicht nur eine andere Person individuell verletze, sondern damit zugleich eine Art Gegennorm aufstelle, welche dieses Verhalten allgemein erlaube, und der Gesellschaft demons­ triere, dass diese Gegennorm auch praktiziert werden könne: Es ist das Verbrechen, »das sonst gelten würde«.12 Strafe soll diese sonst geltende Gegennorm verneinen und beseitigen – und damit die ursprüngliche Rechtsnorm in ihrer Verbindlichkeit bestätigen und bekräftigen. Damit vollzieht die Strafe freilich nur das, was in dieser von der Verbrecherin behaupteten Gegennorm schon enthalten ist. Diese Gegennorm widerspricht sich nämlich als Norm selbst. Wer eine Sache stiehlt, will sie für sich behalten – als allgemein geltende Norm betrachtet, besagt diese Tat jedoch, dass Diebstahl allgemein erlaubt sei; wenn dies aber der Fall wäre, könnte niemand 11 Vgl. Winfried Hassemer, Jan Philipp Reemtsma, Verbrechensopfer – Gesetz und Gerechtigkeit, München 2002, S. 16 ff. 12 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt/M. 1970, S. 187 (§ 99).

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mehr, auch die Diebin nicht, eine Sache für sich behalten. Ebenso verwirkt seine eigene Freiheit oder sein eigenes Leben, wer einer anderen die Freiheit oder das Leben raubt, denn in jedem Fall stellt er oder sie mit seiner oder ihrer Untat das Gesetz auf, dass niemand (und auch die Täterin nicht) ein Recht auf Freiheit oder Leben habe13 – Strafe verneint die sich selbst verneinende Gegennorm –, sie ist Negation der Negation. Vollzogen wird dies dadurch, dass der Täterin ihrerseits genommen wird – also an ihr selbst der Widerspruch ausgetragen wird, den sie mit ihrer Handlung aufgestellt hat. Doch lässt die äußere Gleichheit der Vergeltung, mit welcher die Täterin unter ihr eigenes Gesetz subsumiert wird, nur augenfällig werden, dass »jener Zusammenhang der Notwendigkeit, dass das Verbrechen, als der an sich nichtige Wille, somit seine Vernichtung – die als Strafe erscheint – in sich selbst enthält. Die innere Identität ist es, die am äußerlichen Dasein sich für den Verstand als Gleichheit reflektiert.«14 Damit glaubt Hegel das Problem der nie ganz erreichbaren Äquivalenz zwischen Tat und Strafe zu einem bloß äußerlichen Aspekt der Strafe marginalisiert zu haben, der nur noch dazu dient, die Botschaft der doppelten Negation als Beseitigung des Unrechts und Wiederherstellung des Rechts zu vermitteln. Spätestens auf dieser Abstraktionsstufe zeigt sich freilich, dass nun in die Vergeltungsstrafe allerlei Botschaften hineingedeutet werden, die durch die Übelszufügung zum Ausdruck gebracht werden sollen. Das Strafübel wird zu einem Kommunikationsmedium, das der Bestraften und der Allgemeinheit verständlich machen soll, dass die von der Täterin behauptete Gegennorm nicht gelte und auch nicht praktiziert werden könne.15 In dem Maße jedoch, wie die Strafe zu einem bloßen performativen Akt verdünnt wird, der einen propositionalen Gehalt übermitteln soll, lässt sich fragen, ob die Botschaft auch zwingend auf dieses Medium angewiesen ist oder ob es nicht andere und vielleicht angemessenere gibt. Ein 13 Vgl. im gleichen Sinne Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Darmstadt 1975, S. 435 f. 14 Hegel, Grundlinien, S. 193. 15 Vgl. Günther Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Berlin, New York 21991, S. 9 f.; ders., Der strafrechtliche Handlungsbegriff, München, 1992, S. 27 f.; Antony Duff, »Penal Communications: Recent Work in the Philosophy of Punishment«, in: Crime and Justice: An Annual Review of Research, 1995, S. 1-97, hier S. 20.

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Unrecht soll öffentlich verneint werden, die verletzte Norm soll in ihrer Geltung bestätigt und bekräftigt werden – aber warum sollen diese Ziele nur auf dem Wege eines Strafübels erreichbar sein können? Gibt es nicht mildere und vielleicht sogar effizientere Kommunikationsmittel? Wenn es nur darauf ankommen soll, öffentlich festzustellen, dass Unrecht geschehen ist und dass dieses Unrecht einer Person zur Verantwortung zuzurechnen ist, dann würde eine öffentliche Deklaration der Schuld dieser Person, der Schuldspruch im Strafurteil, genügen. Warum diese Botschaft zusätzlich mit einer staatlichen Übelszufügung gekoppelt werden soll, bleibt eine offene Frage.16 Bestenfalls lässt sich antworten, dass das Strafen mit seiner aktuellen Symbolik eine historisch tradierte, durch Gewohnheiten stabilisierte Konvention sei, derer die Gesellschaften sich regelmäßig zu bedienen pflegen, wenn sie jene Botschaften übermitteln wollen.17 Eine rationale Prüfung der Strafe müsste jedoch fragen, ob modernen Gesellschaften nichts Besseres einfallen könnte, als bloß eingefleischten und bequemen Gewohnheiten nachzugeben.

(b) Negative Generalprävention Androhung und Vollzug von Strafe sollen auf die Allgemeinheit so einwirken, dass potentielle Straftäter:innen von ihrem Vorhaben ablassen – vorzugsweise aus den Motiven der Furcht und des Schreckens, die von der Strafdrohung und ihrer erlebten Exekution hervorgerufen werden. Gegen sie gibt und gab es immer schon normative Gründe: Die Bestrafung der Delinquentin ist nur ein Mittel, um bei Dritten etwas zu bewirken – das heißt aber, man instrumentalisiert die Bestrafte für Zwecke, die mit ihr und ihrer Tat nichts zu tun haben. Die Straftat bietet nur den Anlass, um ein Exempel für die anderen zu statuieren. Die Entscheidung, ob und wie gestraft wird, hängt dann allein davon ab, welche Erfolge man bei Dritten erzielen will. Höhe und Härte der Strafe richten sich nach der Intensität des Präventionsbedürfnisses. Deshalb 16 Dazu ausführlicher Klaus Günther, »Die symbolisch-expressive Bedeutung der Strafe«, in: Cornelius Prittwitz u. a. (Hg.), Festschrift für Klaus Lüderssen, Baden-Baden 2002, S. 205-219; zum Schuldspruch vgl. Stefanie Schork, Ausgesprochen schuldig, Diss. jur. Frankfurt/M. 2004. 17 Joel Feinberg, »The Expressive Function of Punishment«, in: R. Antony Duff, David Garland (Hg.), A Reader on Punishment, Oxford 1994, S. 73-89, hier S. 86 f.

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wird gegenwärtig Verkehrsunfallflucht unnachsichtiger bestraft als Ladendiebstahl – auch wenn im Einzelfall die Schadenssumme gleich ist. Auf dieser Linie müssten alle Delikte, bei denen ein starkes Präventionsbedürfnis besteht (zum Beispiel die massenhaft vorkommenden Verkehrsstraftaten), härter bestraft werden als die viel selteneren schweren Delikte. Außerdem käme es weniger auf Art und Ausmaß der Verschuldung einer Straftat durch die Täterin an, sondern viel eher auf die normverletzende Tat als äußeres Ereignis und den durch sie verursachten Schaden. Wenn Fahrlässigkeitstaten häufiger vorkommen und größere Schäden verursachen als vorsätzliche, dann müssten diese milder bestraft werden als jene. In dem Maße jedoch, in dem sich die Präventionsstrafe von der Tat und der Schuld der Täterin entfernt, um nur noch die für notwendig gehaltenen Abschreckungseffekte zu erzeugen, wird sie gegenüber der Täterin ungerecht. Genauere Überlegungen zeigen indes, dass negative Generalprävention, wenn überhaupt, nur dann funktioniert, wenn sie Rücksicht auf die Gerechtigkeitsvorstellungen der Allgemeinheit nimmt. Wenn ein proportionales Verhältnis zwischen der Tat sowie Art und Ausmaß ihrer Verschuldung durch die Täterin auf der einen und der Strafhöhe auf der anderen Seite als gerecht empfunden wird, dann ist eine hohe Strafe für ein geringfügiges oder mit geringer Schuld begangenes Delikt ungerecht. Eine solcherart als ungerecht empfundene Strafe vermag jedoch auch nicht abzuschrecken.18 Das unter den Normadressat:innen jeweils vorherrschende Gerechtigkeitsbewusstsein setzt also der Generalprävention Grenzen. Freilich bleibt diese Grenze kontingent, sie lässt sich nicht aus den die generalpräventive Strafe selbst rechtfertigenden Gründen herleiten, sondern hängt davon ab, welche Gerechtigkeitsvorstellungen bei den Normadressat:innen zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt zufällig vorherrschen. Die straflimitierenden Effekte des Gerechtigkeitsbewusstseins treten spätestens dann nicht mehr ein, wenn hartes Strafen schlechthin als gerecht empfunden wird. In dieser Situation befinden wir uns heute. Auch wird immer wieder bezweifelt, dass die behauptete Zweck-Mittel-Relation von Legalverhalten und abschreckender Strafe empirisch nachweisbar sei. Bisher gibt es keine Gewissheit 18 Vgl. Lüderssen, Abschaffen des Strafens?, S. 99 ff.

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darüber, dass Strafe tatsächlich abschreckend wirke.19 Wer davon überzeugt ist, überträgt zumeist Erfahrungen aus dem sozialen Nahbereich, dem Familienalltag und der Sozialisation von Kindern auf das staatliche Strafen. Berühmt sind jedoch die Gegenbeispiele von den Taschendieb:innen, die ihre größten Erfolge immer dann verbuchen konnten, wenn sie die gebannt auf die tödlichen Martern starrenden Zuschauer:innen öffentlicher Hinrichtungen bestohlen haben. Die Vergleiche zwischen den nordamerikanischen Bundesstaaten mit und ohne Todesstrafe lassen nicht erkennen, dass härtere Strafen auch erfolgreicher abschrecken würden. Abgesehen davon ist aus der Pädagogik und der psychologischen Forschung zur moralischen Entwicklung bekannt, dass Furcht und Schrecken schlechte Lehrmeister sind. Sie bewirken allenfalls äußerliche Anpassung, ein opportunistisches und okkasionelles Umgehungs- und Vermeideverhalten. Um tatsächlich abschreckend zu wirken, müsste jeder Fall abweichenden Verhaltens auch entdeckt und sanktioniert werden, und die Sanktion müsste in ihren negativen Folgen intensiver erlebt werden als die positiven Folgen der abweichenden Handlungsalternative.20 Sobald die Wahrscheinlichkeit ansteigt, dass eine Tat unentdeckt bleibt, sinkt entsprechend der Abschreckungseffekt der angedrohten Strafe. So belegen die wenigen empirischen Befunde zur negativen Generalprävention eher eine abschreckende Wirkung der polizeilichen Kontrolle als der Strafandrohung oder des exemplarischen Vollzugs einzelner Strafen selbst21 – vor der Trunkenheitsfahrt lässt man sich weniger durch das strafgesetzliche Verbot und die angedrohte Strafe abschrecken als viel eher durch den Umstand, dass an diesem Abend auf dem Heimweg die Polizei eine Verkehrskontrolle durchführt. Abschreckende Strafen sind schließlich auch deshalb fragwürdig, weil sie über den negativen Effekt hinaus nichts bewirken, was die Wahrscheinlichkeit normgemäßen Verhaltens unter den Betroffenen erhöhen würde. Sie bieten keine konstruktive Lösung für die Probleme und Konflikte an, die man anders als durch Begehen einer 19 Vgl. Ulrich Eisenberg, Kriminologie, München 42000, S. 569 f. 20 Vgl. Leo Montada, »Moralische Entwicklung und moralische Sozialisation«, in: Rolf Oerter, ders. (Hg.), Entwicklungspsychologie, Weinheim 41998, S. 862-894, hier S. 867. 21 Vgl. Eisenberg, Kriminologie, S. 573 ff.

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Straftat nicht glaubt bewältigen zu können, sie schafft keine Alternativen zu dem als erfolgversprechend eingeschätzten delinquenten Verhalten. Schließlich vermitteln sie wegen ihrer ausschließlichen Fixierung auf negative Effekte auch keine Einsicht in die Berechtigung der Norm oder zumindest in die Legitimität des eine Norm erzeugenden Verfahrens, auf deren Verletzung sie reagieren.22 Wenn Normtreue in mehr bestehen soll als einem mechanischen Abwehrreflex, der immer dann eintritt, wenn sich eine Gelegenheit zur Normverletzung ergibt, und sich auf die kritischen Überzeugungen von Staatsbürger:innen gründen soll, die zwar im Einzelfall auch einmal die negativen Folgen von Sanktionen meiden, aber ihre generelle Normbefolgungsbereitschaft doch vor allem von der Überzeugung abhängig machen, dass die Rechtsnormen im Großen und Ganzen legitim sind, dann ist die Abschreckungsprävention eine falsche Alternative.

(c) Negative Spezialprävention Dies gilt erst recht dann, wenn die Strafe nicht primär auf die Einstellungen Dritter, sondern auf die Delinquentin selbst abschreckend wirken, sie also davor bewahren soll, künftig erneut Straftaten zu begehen. Entweder soll sie, wie im Reiz-Reaktions-Schema des Behaviorismus, einen hinreichend intensiven Gegenreiz bilden, der die Delinquentin künftig gleichsam reflexartig hemmt, die geplante Straftat auszuführen. Oder sie soll zumindest ein strategisches Kalkül im Sinne einer Kosten-Nutzen-Rechnung in Gang setzen, nach dem sich das Verbrechen nicht lohnt, weil die Kosten (Strafe) höher sind als der von der Straftat erwartete Gewinn. Je nachdem, wie hartnäckig eine Delinquentin an abweichenden Verhaltensmustern festhält und wie stabil ihre zur Delinquenz neigende Identität ausgebildet ist, müsste die Strafe höher oder niedriger sein, um einen hinreichend starken Gegenreiz zu bilden. Damit würde sie sich wiederum von einem proportionalen Verhältnis zur Tat und zu Art und Ausmaß des Verschuldens lösen, um allein auf die Einstellungen der Täterin zu zielen, die künftig in Schach gehalten werden sollen. Entsprechend müsste bei gleichen Straftaten jede Täterin anders bestraft werden. Die Variante, die auf ein rationales 22 Vgl. Montada, »Moralische Entwicklung«, S. 867.

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Kosten-Nutzen-Kalkül setzt, leidet darunter, dass sich die wenigsten Straftäter:innen tatsächlich so rational verhalten und dies auch gar nicht könnten. Die gesellschaftlichen und ontogenetischen Bedingungen, unter denen sich die Fähigkeit zur rationalen Wahl ausbilden könnte, werden nicht berücksichtigt.23 Außerdem steigt die Wahrscheinlichkeit irrationalen Verhaltens mit der Schwere des Verbrechens an. Die meisten Morde finden innerhalb von dramatischen Beziehungskonflikten statt, in denen die Beteiligten sich in eine ausweglose Situation verstrickt haben. Die relevanten Informationen über andere Handlungsmöglichkeiten, also kostengünstigere und damit nützlichere Konfliktlösungsalternativen, die für eine rationale Wahl erforderlich wären, fehlen den Täter:innen gerade in belastenden, spannungsgeladenen, ausweglosen Situationen. Schließlich verführt gerade das rationale Kalkül dazu, das Risiko der Strafverfolgung in die Kosten-Nutzen-Berechnung mit einzubeziehen. Wenn die Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden, nach Einschätzung der Täterin gering ist (oder die Täterin glaubt, geeignete Vorkehrungen getroffen zu haben), kann die geplante Straftat plötzlich als viel gewinnträchtiger erscheinen.24 Furcht und Schrecken ermutigen zudem zu keinen moralischen Lernprozessen durch konstruktive Auseinandersetzung mit der begangenen Tat, sondern provozieren Abwehrreaktionen, mit denen die Strafgefangene das von ihr verschuldete Unrecht und das Leiden des Opfers verleugnet oder durch vermeintliche Rechtfertigungen oder Entschuldigungen vor sich selbst neutralisiert.25 Das bloße Absitzen einer Freiheitsstrafe in einer solchen Abwehrhaltung lässt die Strafgefangene außerdem allein mit ihren ungelösten Alltagsproblemen, die sie nur durch abweichendes Verhalten zu lösen glaubte. Sobald sie wieder in die Freiheit entlassen wird, sind auch die Probleme wieder da – und damit auch die erlernten und mangels selbst erlebter und praktizierter Verhaltensalternativen stabil verinnerlichten Lösungsmuster des abweichenden Verhaltens. Dagegen hinterlassen kurze Freiheitsstrafen, der berüchtigte »Schuss vor den Bug«, mit wachsendem zeitlichen Abstand und verblassen23 Vgl. Karl-Ludwig Kunz, Kriminologie, Bern u. a. 32001, S. 199. 24 Vgl. ebd., S. 201 f. 25 Vgl. Gresham M. Sykes, David Matza, »Techniken der Neutralisierung: Eine Theorie der Delinquenz«, in: Fritz Sack, René König (Hg.), Kriminalsoziologie, Frankfurt/M. 1974, S. 360-371, hier S. 360 ff.

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der Erinnerung kaum nachhaltige Spuren. Wenn überhaupt, befördern sie nur die Sozialisation ins kriminelle Milieu.

(d) Positive Spezialprävention Strafe soll Reue, Einsicht und Umkehr bewirken – also einen Einstellungswandel herbeiführen, der zumindest für eine äußerliche Anpassung an die Legalordnung sorgt. Die Empirie des Gefängnisalltags spricht freilich dafür, dass solche Wirkungen unwahrscheinlich sind – auch wenn es immer mal wieder Einzelfälle geben mag, in denen der gewünschte Erfolg tatsächlich eintritt. Die Erfahrung spricht eher dafür, dass potentiell gutwillige Strafgefangene im Gefängnis überhaupt erst nachhaltig in ein kriminelles Milieu sozialisiert werden, dessen Werte und Einstellungen sie verinnerlichen und so eine delinquente Identität überhaupt erst ausbilden. Anstatt sich innerlich mit der Tat auseinanderzusetzen, gerät die Strafgefangene vor allem bei länger andauerndem Freiheitsentzug in einen Zustand der Abstumpfung und Gleichgültigkeit. Deshalb erwartete man sich schon bald von der Strafe selbst keinerlei positive Effekte mehr, sondern nur noch von Maßnahmen, die den Freiheitsentzug ausgestalten und so begleiten, dass die Strafgefangene sich wieder in die Gemeinschaft eingliedern und ein straffreies Leben führen kann, dass sie resozialisiert wird. Von allen Rechtfertigungen der Strafe hat die Resozialisierung freilich in den letzten Jahrzehnten das traurigste Schicksal erlitten. Ihr galten die großen Hoffnungen, die im Strafvollzugsgesetz aus dem Jahre 1977 kulminierten, das in § 2 den Vollzug der Freiheitsstrafe an dem Ziel der Resozialisierung ausrichtete: »Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen.« Der Schutz der Allgemeinheit wurde im folgenden Satz nur nachrangig als Vollzugsaufgabe bestimmt. Dies entsprach der Kriminalpolitik des Sozial- und Wohlfahrtsstaates, welche die Ursachen der Kriminalität nicht im freien Willensentschluss der Täterin, sondern in Defiziten der Sozialisation und Sozialstruktur suchte und korrigieren wollte. Diese Kriminalpolitik hatte wenigstens noch eine Ahnung davon, dass die Gesellschaft nicht unschuldig an der Kriminalität ist. Inzwischen ergießt sich über die Resozialisierung populistischer Spott. »Therapeutische Gespräche« gelten exemplarisch als Ausdruck einer la153

schen Haltung gegenüber Straftäter:innen, die nichts bewirke und die Kriminellen als schmunzelnde Sieger:innen aus dem Gefängnis entlasse, damit diese weiter ihr Unwesen als Betrüger:innen, Handtaschenräuber:innen, Drogendealer:innen oder Kinderschänder:innen treiben könne. Wo die Kriminalität die Stufe der Organisation erreiche, als Mafia oder als terroristische Gruppe, werde Resozialisierung ohnehin nichts ausrichten. Erhebungen unter Studierenden der Rechtswissenschaft in den ersten Semestern belegen diesen Einstellungswandel gegenüber der Resozialisierung.26 Wiederum nimmt die Politik bereitwillig diesen Trend auf und verwandelt ihn in eine Münze für das Spiel um die Macht. Auf Antrag des Landes Hessen brachte im vergangenen Jahr der Bundesrat einen Vorschlag zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes beim Bundestag ein, der direkt auf die Beseitigung jenes Vorrangverhältnisses zwischen Resozialisierung und Schutz der Allgemeinheit zielte: Weil das Resozialisierungsgebot »in dieser Form nicht mehr der Vollzugswirklichkeit« entspreche und »dem gewachsenen Schutzbedürfnis der Bevölkerung nicht ausreichend Rechnung« trage, müsse dem Schutz der Allgemeinheit »durch Anerkennung als weiteres Vollzugsziel« ein »angemessener Stellenwert« zukommen.27 In der Konsequenz würde dies freilich auf eine faktische Umkehrung des Vorrangverhältnisses hinauslaufen. Im Zweifel hätte dann nämlich der Schutz der Allgemeinheit immer Vorrang vor der Resozialisierung. Auch ohne Verwirklichung dieses Reformvorhabens gehen immer mehr Bundesländer dazu über, die im Strafvollzug vorgesehenen Resozialisierungsmaßnahmen restriktiv zu handhaben oder ganz abzuschaffen. Die am populistischen Affekt der Kriminalitätsfurcht ausgerichtete politische Begründung, die unter anderem verlangt, dass »die vorrangige Ausrichtung des Vollzugs auf die Bedürfnisse des Gefangenen [...] gegenüber einem erhöhten Schutzbedürfnis der Bevölkerung zurücktreten« müsse,28 übersieht freilich, dass eine gelungene Resozialisierung die Allgemeinheit auch am besten und vor allem langfristig schützt. Auf die Bedürfnisse der Gefangenen einzugehen, ist daher nicht Selbstzweck oder vermeintliche Wohltat aus falsch 26 Vgl. Franz Streng, »Die heranwachsende Juristengeneration und die Aufgabe des Strafrechts«, in: Bewährungshilfe, 4 (2000), S. 422-435, hier S. 425 f. 27  BTDrucks. 15/778. 28 Ebd.

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verstandenem Mitleid für Bösewichter, sondern Voraussetzung für einen nachhaltigen Einstellungs- und Verhaltenswandel der Delinquentin. Unter allen Optionen, die eine Gesellschaft hat, um auf Kriminalität zu reagieren, ist eine gelingende Resozialisierung eigentlich die einzige, die sich überhaupt rational rechtfertigen lässt. Als solche wäre sie freilich keine Strafe mehr, und vermutlich auch deshalb ist sie bisher Utopie geblieben. Zu groß sind die Widersprüche und Widerstände, auf die sie bei ihrer Verwirklichung trifft. Eine der Anwendungs- und Erfolgsbedingungen für eine gelingende Resozialisierung ist ihre Freiwilligkeit – und gerade daran fehlt es, solange die Delinquentin hinter Gefängnismauern sitzt. Fehlt es aber an der Freiwilligkeit, dann verfehlen resozialisierende Maßnahmen ihr Ziel und treffen entweder auf den inneren Widerstand der Delinquentin oder bestenfalls auf das strategische Kalkül, sich zum Schein auf solche Maßnahmen einzulassen, um Vergünstigungen im Strafvollzug, vor allem eine vorzeitige Entlassung, zu erlangen. Zwar kann es vorkommen, dass in diesem Fall eine strategisch agierende Strafgefangene von positiven Wirkungen resozialisierender Maßnahmen gleichsam überrumpelt wird – doch sind solche Wirkungen zufällig und lassen sich nicht kalkulieren. Vor allem aber kann Resozialisierung nur dann gelingen, wenn die Ursache für das abweichende Verhalten auch tatsächlich bei der Delinquentin und ihrer Fehlsozialisation liegt und wenn die Therapien und Hilfsangebote geeignet sind, diese Ursachen zu beseitigen oder ihre delinquenten Auswirkungen zu vermindern. Wenn die Ursachen aber eher in einer ungerechten, diskriminierenden und benachteiligenden Sozialstruktur zu suchen sind oder in einem Rechtssystem, das illegitim ist (zum Beispiel Nürnberger Gesetze, Apartheid) oder dessen Normen Unzumutbares gebieten, dann wird Resozialisierung zur Dressur und zur fremdgesteuerten Disziplinierung. Es spricht einiges für die Vermutung, dass bei einigermaßen gerechter Sozialstruktur und im Großen und Ganzen legitimem Rechtssystem die Ursache für einige Kategorien schwerer Verbrechen oder auch für hohe Rückfallquoten bei mittlerer Eigentums- und Vermögenskriminalität in erheblichen Sozialisationsdefiziten, vor allem in narzisstischen Persönlichkeitsstrukturen, liegt.29 Doch ist die Neigung der Gesellschaft, das nötige Geld in 29 Vgl. Klaus Lüderssen, Kriminologie – Einführung in die Probleme, Baden-Baden 1984, S. 103 ff.

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aufwendige Soziotherapien zu stecken, mit denen solche Defizite überwunden oder doch zumindest in ihren negativen Auswirkungen vermindert werden könnten, gering. Auf der Agenda gesellschaftspolitischer Zukunftsinvestitionen kommt Resozialisierung nicht vor. Warum, so wird von vielen gefragt, soll der Staat so viele Steuergelder für Verbrecher:innen ausgeben?

(e) Positive Generalprävention Die üblichen Rechtfertigungen der Strafe, dass sie Dritte abschrecken oder die Delinquentin bessern würde, hatte Émile Durkheim bereits in seinem Buch über die Arbeitsteilung aus dem Jahre 1930 in Zweifel gezogen. Strafe diene »nicht oder nur sehr zweitrangig dazu, den Schuldigen zu korrigieren oder mögliche Nachahmer einzuschüchtern. Unter diesem zweifachen Gesichtspunkt ist ihre Wirksamkeit zu Recht zweifelhaft und auf alle Fälle mäßig.«30 Er spürte einem Verdacht nach, der sich vor allem dann einstellt, wenn man sich über das erstaunliche Missverhältnis zwischen der tatsächlichen Wirkungslosigkeit der Strafe und der Hartnäckigkeit des Strafbedürfnisses zu wundern beginnt. Warum halten so viele Menschen an der Strafe fest, auch wenn sie die behaupteten Ziele nicht erreicht? Erklären lässt sich dies nur damit, dass Strafe vor allem bei denjenigen etwas bewirkt, die gar nicht Gefahr laufen, Straftaten zu begehen, und die selbst an Strafe glauben. Nach Durkheim hat die Strafe eine wichtige Wirkung auf die Gesellschaft, also die eigentlich an der Tat nicht beteiligten Dritten, die aber auch nicht wegen potentiell delinquenter Neigungen abschreckungsbedürftig, sondern eigentlich rechtstreu sind. »Ihre wirkliche Aufgabe ist, den sozialen Zusammenhalt aufrechtzuerhalten, indem sie dem gemeinsamen Bewusstsein seine volle Lebensfähigkeit erhält.«31 Mit der Strafe feiern die guten Bürger:innen, die gesellschaftliche Werte ohnehin schon teilen, ihre gemeinsamen Wertüberzeugungen, indem sie einander an einem exemplarischen Fall bestätigen und bekräftigen, dass sie zusammen auf der richtigen Seite sind, dass es sich weiterhin lohnt, an den gemeinsamen Werten festzuhalten, und dass derjenige, der sich abweichend verhält, auf der falschen 30 Émile Durkheim, Über die Teilung der sozialen Arbeit, Frankfurt/M. 1977, S. 149. 31 Ebd.

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Seite steht. Deswegen ist das Verbrechen für die Integration der Gesellschaft geradezu notwendig, denn nur durch das Straftheater vermag sie ihr eigenes Kollektivbewusstsein immer wieder zu reaktivieren und zu restabilisieren. Anderenfalls würden die gemeinsamen Normen und Werte in Vergessenheit geraten, brüchig werden, individualisiert und privatisiert, und ihr verhaltenssteuernder Einfluss würde zunehmend schwächer. Am Ende drohte die Desintegration der Gesellschaft. Dies gilt insbesondere für moderne, arbeitsteilig organisierte Gesellschaften. Die dort vorherrschende organische Solidarität stützt sich im Wesentlichen auf vertraglich vereinbarte Kooperationen. Verletzungen der organischen Solidarität werden vornehmlich zivilrechtlich, durch Schadensersatz, ausgeglichen. Eine solche Gesellschaft wird den Umfang des Strafrechts zwar zugunsten des Zivilrechts einschränken, doch sie droht zu zerfallen, wenn nicht ein Kernbestand an gemeinsam geteilten Wertüberzeugungen lebendig erhalten wird, um den sich das Kollektivbewusstsein zentriert – und die repressive Sanktion des Strafrechts, die eigentlich für die vormoderne Stufe der mechanischen Solidarität konstitutiv ist, reaktiviert in einzelnen dramatischen Fällen immer wieder dieses innere Wertzentrum einer Gesellschaft. Diese auf positive Effekte in der Allgemeinheit zielende Rechtfertigung der Strafe tritt in verschiedenen Varianten auf. Für die Theorie der positiven Generalprävention ist Strafe ähnlich wie in den moderneren Versionen der Vergeltungstheorie »Widerspruch gegen die Desavouierung der Norm auf Kosten des Täters«.32 Gegen die Demonstration der Täterin, dass der Normbruch möglich und die mit der Tat implizit behauptete Gegennorm auch praktizierbar sei, muss die ursprüngliche Norm wiederhergestellt, ihre Geltung bestätigt werden. Dies ist jedoch anders als bei den Vergeltungstheorien kein Selbstzweck, sondern auf positive Wirkungen in der Allgemeinheit gerichtet. Dritte können durch die Erfahrung, dass die allgemein geteilten normativen Erwartungen der Gesellschaft enttäuscht werden, in ihrem Glauben an die Geltung und Unverbrüchlichkeit der Norm irritiert werden. Deshalb muss etwas geschehen, das diese Irritation wieder beseitigt. Die von der Strafe ausgehenden Wirkungen lassen sich in drei Hinsichten unterscheiden: 32 Jakobs, Strafrecht, S. 10.

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Adressaten der Strafe sind primär überhaupt nicht einige Menschen als potentielle Täter, sondern alle Menschen, da alle ohne soziale Interaktionen nicht auskommen können. Insoweit erfolgt Strafe zur Einübung in Normvertrauen. Zudem belastet die Strafe das normbrechende Verhalten mit Kostenfolgen und erhöht deshalb die Chance, daß dieses Verhalten als nicht diskutable Verhaltensalternative gelernt wird. Insoweit erfolgt Strafe zur Einübung in Rechtstreue. Zumindest aber wird durch die Strafe der Konnex von Verhalten und Kostentragungspflicht gelernt, mag auch die Norm trotz des Gelernten übertreten werden; insoweit geht es um Einübung in die Akzeptation der Konsequenzen. – Die drei genannten Effekte lassen sich als Einübung in Normanerkennung zusammenfassen.33

Damit erweist sich die Strafe als funktional notwendig für die Stabilität des Normensystems, von dem die Funktionsfähigkeit moderner Gesellschaften insgesamt abhängt. Die Theorie der Integrationsprävention orientiert sich vor allem an Durkheims Einsicht, dass rechtstreues Verhalten in allgemein geteilte Wertüberzeugungen eingebettet sei. Strafe ist hier nicht nur Einübung in Normanerkennung, sondern darüber hinaus Bestätigung und Bekräftigung der vielfältigen Werte, Normen und Institutionen einer Gesellschaft, die insgesamt rechtstreue Einstellungen stabilisieren, die aber ihrerseits auch durch andere Formen der sozialen Kontrolle stabilisiert werden. Strafe wirkt daran nur als eine Instanz sozialer Kontrolle neben anderen mit. Das Konzept ruht auf der Strafrechtstheorie: daß das Strafrechtssystem, als Teilbereich sozialer Kontrolle, auf seine Weise ebenso mitwirkt an der Enkulturation und Sozialisation von Menschen wie Schule und Elternhaus, daß es auf das Vertrauen der Bevölkerung in die Bestandskraft der Normen angewiesen ist und daß die praktische Strafrechtspflege, in der Wechselbezüglichkeit mit anderen Bereichen sozialer Kontrolle, Konsequenzen für die Geltung sozialer Normen und deren Bestandskraft hat.34

Der Vorzug dieses Konzepts besteht darin, dass es im Gegensatz zu den anderen Präventionstheorien die Eigenschaften des rechtsstaatlichen Strafrechts integrieren kann: die Begrenzung, Limitierung und Formalisierung des generellen Strafbedürfnisses. Soziale Kontrolle findet in der Gesellschaft täglich und überall auf ver33 Ebd., S. 14 f. 34 Winfried Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, München 2 1990, S. 325.

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schiedene Weisen statt – das Strafrecht stabilisiert das Vertrauen auf die Normgeltung dadurch, dass es zugleich die rechtsstaatlichen Werte eines an Prinzipien der Menschenwürde, der Formalisierung und der ultima ratio verpflichteten Strafrechts vermittelt. Die Strafe liefert also die Botschaft ihrer eigenen Begrenzung gleich mit. Wie in den moderneren Varianten der Vergeltungstheorie wird auch in den Theorien der positiven Generalprävention die Strafe als staatlich angeordnete und vollstreckte Zufügung eines Übels zu einem Kommunikationsmedium verdünnt. Warum diese Botschaften ausgerechnet durch Strafe vermittelt werden müssen, bleibt wiederum eine offene Frage. Ihr propositionaler Gehalt ließe sich auch durch andere performative Akte, durch einen Schuldspruch in einem öffentlichen, formalisierten Verfahren der Tatsachenfeststellung und Zurechnung, vermitteln. Der Zusammenhang zwischen kommunikativ vermittelter Botschaft und Kommunikationsmedium Strafe bleibt kontingent; eine notwendige Beziehung wird nicht nachgewiesen. Nur wenn und soweit die Normadressat:innen die Sprache der Strafe schon gelernt haben, können sie die so übermittelten Botschaften verstehen und sich keine andere Sprache zur Übermittlung der Botschaft vorstellen. Die Theorie der positiven Generalprävention nimmt das Faktum der Strafe bloß auf, kann es aber nicht selbst rechtfertigen. Dies gilt erst recht dann, wenn die Strafe nur ein Medium der Einübung in Normanerkennung neben anderen sein soll. Warum dann nicht nach besseren und wirksameren Alternativen suchen? Für Hassemer sollen Strafe und Strafrecht durch ihre rechtsstaatliche Formalisierung »als ein Muster humanen Umgangs mit der Abweichung sozial vermittelt« werden und insoweit »auf die Autonomie der Menschen setzen«.35 Wenn dies die übermittelte Botschaft sein soll, stellt sich spätestens jetzt die Frage, ob sie noch auf Strafe als Übertragungsmedium angewiesen ist. Autonome Menschen, die von ihrer Vernunft öffentlich Gebrauch machen können, müssen nicht durch Strafe angesprochen werden, um einzusehen, dass in einer demokratischen und rechtsstaatlich verfassten Gesellschaft mit Abweichung human umzugehen sei. Dafür genügen gute Gründe.

35 Ebd., S.  327.

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Joy James Foucaults Schweigen vom Spektakel rassistischer staatlicher Gewalt Unsere Gesellschaft ist keine des Spektakels, sondern eine der Überwachung. […] Wir stehen nicht im Amphitheater, weder auf der Bühne noch auf den Rängen, sondern finden uns eingeschlossen in die panoptische Maschine […]. [D]ie glänzenden Feste der Souveränität, die notwendigerweise spektakulären Manifestationen der Macht, verloschen Stück für Stück im Zuge der täglichen Ausübung der Überwachung. – Michel Foucault, Überwachen und Strafen.1

Einige Postmodernist:innen sehen in Michel Foucaults Analyse staatlicher Bestrafung und strafrechtlicher Verfolgung von Körpern in Überwachen und Strafen eine Meistererzählung und Kritik gegenwärtigen staatlichen Polizierens. Dabei ist dieses Werk Foucaults selbst ein Beitrag zur Verschleierung rassistischer Gewalt. Hinsichtlich des Polizierens und der Strafpraktiken in den USA verdrängt das Metanarrativ von Überwachen und Strafen den historischen und zeitgenössischen rassistischen Terror, die Bestrafung und die Kontrolle in den Vereinigten Staaten. Es verzerrt und verdeckt den Blick auf Gewalt in Amerika überhaupt. Nur durch eine Untersuchung dieser Auslassungen bezüglich der Körperpolitik, des Lynchens und Polizierens, der strafrechtlichen Hinrichtungen und der Folter sowie des Terrors in der US-Außenpolitik – allesamt Themen, die Foucault in seiner Diskussion über die Geschichte 1 Michel Foucault, Überwachen und Strafen, Frankfurt/M. 1977, S. 278 f. Die bei Suhrkamp erschienene deutsche Übersetzung von Foucaults Surveiller et punir weicht stellenweise deutlich von der englischen Version, auf die Joy James sich bezieht, ab. Um dem Sinn und Argumentationsgang dieses Beitrags möglichst gerecht zu werden, sind einzelne der von James zitierten Passagen daher aus dem Englischen rückübersetzt und entsprechend gekennzeichnet. Das obige Zitat findet sich auf S. 217 der englischen Ausgabe Discipline and Punish. The Birth of the Prison. Die entsprechende Stelle in der Suhrkamp-Ausgabe befindet sich auf S. 278 f. [Anm. d. Übers.]

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des Polizierens in den Vereinigten Staaten übergeht – gelangen wir zu einem Verständnis der tief verankerten Spektakel staatlichen Machtmissbrauchs.

Die Leerstelle in Foucaults Körperpolitik Mit der Beschreibung des »Verschwinden[s] der Martern als öffentliches Schauspiel«2 – ohne jegliche Erwähnung ihrer Kontinuitäten in den europäischen und amerikanischen Kolonien, verübt an den indigenen Gesellschaften des afrikanischen und des amerikanischen Kontinents – entwickelt Foucault eine historische Perspektive, in der die (»westliche«) Gegenwart letztendlich als frei von »Martern« erscheint.3 Sein Text führt vor, wie leicht es ist, die Spezifität des Körpers und der Gewalt auszulassen, während zugleich der Diskurs ganz auf sie zentriert wird. Indem sich Foucaults Blick von der Gewalt vom und im Namen des Souveräns löst, wie er sich zeitweise als Teil einer dominanten race manifestierte, universalisiert er den Körper des weißen besitzenden männlichen Individuums. So beschreibt er in Überwachen und Strafen den Körper ohne ebenjene Merkmale, mit denen rassifizierte oder sexualisierte Bestrafung verbunden sind. Über die staatliche Repression legt sich ein Anstrich bourgeoiser Anständigkeit, der die rassistische Gewalt gegen schwarze, braune und indigene Körper verschwinden lässt. Foucault erklärt uns: »Der historische Augenblick der Disziplinen ist der Augenblick, in dem eine Kunst des menschlichen Körpers das Licht der Welt erblickt […].« (ÜS, S. 176) Doch da er diese »Kunst des menschlichen Körpers« nicht konkretisiert, bleibt zu fragen: Welcher Körper dient hier als Prototyp? Von wem stammt dieses repräsentative Modell oder dieser Typus? In seiner vordergründigen Diskussion des Körpers übergeht Foucault gerade dessen Einzigartigkeit und reduziert Fragen des Polizierens lediglich auf die Dimension des Verhaltens. Behauptet man, dass die »Einführung des ›Biographischen‹ […] von großer Bedeutung in der Geschichte des Strafwesens [ist], weil sie den ›Kriminellen‹ vor dem Verbrechen 2 Foucault, Überwachen und Strafen [im Folgenden mit ÜS gekennzeichnet und direkt im Text in Klammern angegeben], S. 14. Übersetzung geändert. 3 Foucault, Überwachen und Strafen, S. 14.

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und letzten Endes sogar unabhängig vom Verbrechen schafft« (ÜS, S. 324), könnte man doch auch feststellen, dass das Biographische in komplexer Weise mit dem Biologischen verbunden ist – dass also der (oder die) »Kriminelle« nicht nur durch sein (oder ihr) Verhalten, sondern auch durch sein (oder ihr) Aussehen identifiziert wird.4 Werfen wir einen Blick darauf, wie Foucaults Erläuterungen über Nichtkonformität als Straftat den Körper maskiert: Unter das Strafsystem der Disziplin fällt die Nichtbeobachtung, die Abweichung von der Regel. Strafbar ist alles, was nicht konform ist: der Soldat begeht einen ›Fehler‹, wenn er das vorgeschriebene Niveau nicht erreicht; der ›Fehler‹ des Schülers kann ein kleiner Verstoß sein oder die Unfähigkeit, eine Aufgabe zu erfüllen. (ÜS, S. 231)

Nichtbeachtung und Nonkonformität werden oft als biologisch determiniert verstanden, gerade angesichts des Umstands, dass die Abweichung von der Norm sich nicht nur im Verhalten, sondern auch visuell in Bezug auf rassifizierte physikalische Merkmale abzeichnet. Foucaults exklusiver Fokus auf Handlungen scheint von undifferenzierten Körpern auszugehen. Die physische Erscheinung kann jedoch als Ausdruck von Konformität oder Rebellion angesehen werden. Da einige Körper an der physiologischen Anpassung scheitern, werden unterschiedliche Körper geradezu erwartet und müssen sich daher nach staatlichem oder polizeilichem Blick unterschiedlich verhalten. Größerer Gehorsam wird von denen verlangt, deren physische Differenz sie als abweichend, beleidigend oder bedrohlich kennzeichnet. Umgekehrt erscheinen einige Körper fügsamer als andere, da sie den idealisierten und konformen 4 Eine Fernsehdokumentation aus dem Jahr 1994 von Michael Moore, dem Produzenten von Roger and Me, zeigte, wie Kriminalität in den USA als rassifzierender Marker konstruiert wird. Die Produzenten filmten einen afroamerikanischen Mann aus der Mittelklasse, der versuchte, ein Taxi zu rufen, während ein Block hinter ihm ein europäisch-amerikanischer Mann, ein Ex-Sträfling, der wegen Gewaltverbrechen lange Haftstrafen verbüßt hatte, ebenfalls versuchte, dieselben Taxis zu rufen. Überwiegend übergingen die Taxifahrer den schwarzen Mann, um den weißen Mann mitzunehmen. Offensichtlich genießen in dieser rassifizierten Gesellschaft weiße Sträflinge (und Ex-Sträflinge) einen höheren sozialen Status als schwarze Nichtkriminelle und Kriminelle. Weiß zu sein entlastet und steht für das »Normale«, wohingegen Schwarzsein Abweichungen impliziert und markiert. Darüber hinaus behalten einzelne weiße Menschen, die von der gesetzlichen Norm abweichen, durch ihren Gruppenstatus ihre normative Stellung.

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Bildern von Klasse, Hautfarbe und Geschlecht entsprechen; ihren Körpern wird ein größerer Spielraum eingeräumt, um sich selbst zu überwachen oder ohne physische Gewalt poliziert zu werden. Um dies zu veranschaulichen: Ein weißer männlicher Manager in einem Armani-Anzug wird als fügsamer, zivilisierter angesehen, als benötige er weniger invasives Polizieren als ein schwarzer männlicher Jugendlicher in einem Kapuzenpullover und einer angesagten Baggy-Jeans. (Wieder anders werden weiße Jugendliche, die mit rückwärts gedrehten Baseballmützen, »X«-T-Shirt und tief sitzenden Hosen racial-cross-dressing betreiben, im Allgemeinen nicht aggressiv von Polizist:innen angegriffen, da diese zwischen Modekonsum und race-Zugehörigkeit zu unterscheiden gewohnt sind.) Frantz Fanon hebt hervor, inwiefern körperliche Erscheinung als Marker von Devianz und Kriminalität konstruiert wird, wenn er in »Der N* und die Psychopathologie« schreibt: »Der N* stellt die biologische Gefahr dar. […] Wer eine N*phobie hat, hat Angst vor dem Biologischen.«5 Schwarze zu fürchten bedeutet, den Körper zu fürchten; Schwarze zu verehren bedeutet im Gegenzug, den Körper zu idealisieren. Foucault schreibt über soziale Angst und Polizieren, ausgedrückt in einer »Zweiteilung und Stigmatisierung«, welche wiederum die polarisierten sozialen Entitäten »wahnsinnig – nichtwahnsinnig, gefährlich – harmlos, normal – anormal« hervorbringen (vgl. ÜS, S. 256). Diese »zwanghafte Einstufung« durch Kennzeichnen, Kategorisieren und Identifizieren stelle das Individuum unter eine »stetige Überwachung« (vgl. ebd.). Jedoch erwähnt Foucault keine sexualisierenden und rassifizierenden binären Gegensätze, durch welche soziale Minderwertigkeit und Abweichung biologisch in die Körper von Nichtmännern oder Nichtweißen eingeschrieben sind. Wenn er in Überwachen und Strafen die »Machtmechanismen, die heute das Anormale umstellen, um es zu identifizieren und modifizieren«, erörtert, werden damit rassistische und sexuelle Probleme umgangen (vgl. ebd.). Zu schreiben, dass jene Dominanzmechanismen auf dem Panoptizismus beruhen, den die disziplinierenden 5 Frantz Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken, Frankfurt/M. 1985, S. 117. Auch wenn Fanon in diesem Werk seine Wortwahl mit großer Genauigkeit und Absicht abwägt, wird in dieser Übersetzung davon abgesehen, das N-Wort beziehungsweise den Begriff N* (in beiden Formen) vollausgeschrieben zu reproduzieren. [Anm. d. Übers.]

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und ausschließenden Praktiken für die »Einsperrung der Pest« und die »Verbannung der Lepra« produzieren (welche für Foucault die »politischen Träume« einer »disziplinierten Gesellschaft« einerseits und einer »reinen Gemeinschaft« andererseits repräsentieren), ohne dabei die Rolle von race für die Formation dieser disziplinierten Gesellschaft und reinen Gemeinschaft zu berücksichtigen, heißt, die Vereinigten Staaten durch Scheuklappen zu sehen (vgl. ÜS, S. 255). In rassifizierten Gesellschaften wie den Vereinigten Staaten ist die »Pest« der Kriminalität, Abweichung, Unmoral und Korruption durch schwarze Menschen verkörpert, da sowohl sexuelle als auch soziale Pathologie durch Hautfarbe markiert werden (sowie nach Geschlecht und sexueller Orientierung). Wo Pest und Lepra als »schwarz« kodifiziert sind, drehen sich die Träume und Wünsche von Gesellschaft und Staat um die Kontrolle des schwarzen Körpers. Die binären Gegensätze und der Panoptizismus werden somit rassistisch strukturiert. In der zweigeteilten Gegenüberstellung hat der anti-schwarze Rassismus eine entscheidende historische Rolle bei der Rationalisierung (und Umkehrung) der Hierarchien von Unterdrückenden und Unterdrückten gespielt: verrückt/gesund, gefährlich/harmlos und normal/deviant. Während andere Theoretiker:innen wie Frantz Fanon und Sander Gilman dieses Phänomen untersuchen, wird es von Foucault ignoriert.6 Auch der Panoptizismus und der polizierende Blick sind von rassistischen und sexuellen Vorurteilen geprägt; die Werkzeuge des Beobachtens und Untersuchens, denen Foucault nachspürt, werden innerhalb von Weltanschauungen konstruiert, die von rassifizierten und sexuellen Mythologien und politischen Ideologien geprägt sind. Sie leiten auch die Untersuchung des »Kerkersystems« – Foucaults Bezeichnung für ein Netzwerk aus Reglementierung und Disziplinierung, ein Gefängnis ohne Mauern, bestehend aus sozialen Systemen der Überwachung. Indem er entrechtete ethnische Minderheiten ignoriert, die sowohl vom Staat als auch von dominanten Kasten poliziert werden, produziert Foucault in Überwachen und Strafen seine eigenen binären Trennlinien. Er reproduziert die Spaltung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten und maskiert diesen Dualismus zugleich, 6 Siehe etwa Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken; Sander Gilman, Difference and Pathology: Stereotypes of Sexuality, Race, and Madness, Ithaca (NY) 1985.

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indem er den privaten Bereich und die dort polizierten Körper verdeckt – etwa die von schwulen Männern, Lesben, Bisexuellen, Armen, Frauen, Kindern und Menschen nichtweißer Hautfarbe. Deren Verschwinden beziehungsweise theoretische Auslöschung lässt den repräsentativen Körper – bei Foucault als weiß und männlich angelegt – als universell erscheinen. Diese (Fehl-)Einschätzung des Menschen, naturalisiert und universalisiert als maskulin und europäisch, bestimmt die geschlechts- und »farb«-blinde Untersuchung in Überwachen und Strafen, wie etwa anhand von Foucaults Bezug auf ein männliches, militärisches Modell, dessen Ungleichheit nur bedingt ist durch den durch individuelle Leistung erlangten Rang, deutlich wird. Seine (falschen) Gleichheitsvorstellungen verhindern Diskussionen über rassistische Gewalt von vornherein. Historisch offenbaren die Disziplinierung und das Strafen in Haushalten und Sklavenunterkünften sowie ihre postindustriellen Manifestationen gegenüber domestizierten oder rebellischen Kindern, Frauen, Bediensteten und Inhaftierten neue Dimensionen von Dominanz und Terror. Im Bereich des Privaten oder innerhalb der inoffiziellen Ökonomie der Gefängnisse oder der Workfare7 treten verschiedene gewaltintensivere Formen der Bestrafung hervor. Wenn, wie Foucault argumentiert, »die Kunst der Bestrafung« im »System der Disziplinarmacht« nicht darauf ausgelegt ist, zu sühnen oder zu unterdrücken, sondern zu normalisieren, dann muss zugleich anerkannt werden, dass einige Körper nicht normalisiert werden können, egal wie sehr sie diszipliniert werden, es sei denn, die vorherrschenden sozialen und staatlichen Strukturen, welche buchstäblich die Rangfolge der Körper bestimmen, würden aufgebrochen (ÜS, S. 236). In Nazideutschland stand denjenigen, die als biologisch abnormal eingestuft wurden – dem behinderten Körper, dem schwulen Körper, dem jüdischen Körper, dem Körper der Sinti:zze und Romn:ja, dem kommunistischen oder sozialistischen Körper und dem schwarzen Körper –, Sterilisation, Euthanasie oder Ausrottung bevor. Als defekt oder als Unterart des Menschen betrachtet, konnten diese Körper gemäß der staatlichen Ideologie nicht normalisiert werden. So strukturiert der Begriff normal seiner politischen Funktion nach Hierarchien und maskiert durch Workfare ist ein seit den 1990er Jahren in den USA verfolgtes Konzept, das sozial7  staatliche Transferleistungen mit einem Arbeitszwang verknüpft. [Anm. d. Hg.]

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Projektion illusorischer objektiver Normen zugleich die damit verbundenen Ausschlüsse. Was für Foucault die Bedrohung darstellt, ist nicht »die Verletzung eines allgemeinen Interesses, sondern die Abweichung«: »Aus dem Gegner des Souveräns und dann dem Feind der Gesellschaft ist ein Abweichler geworden, der durch Ausschreitung, Verbrechen oder Wahnsinn gefährlich ist.« (ÜS, S. 387) Der Normalisierungsprozess selbst wird dabei eingeschränkt und diszipliniert entlang der Linien einer Vorstellung der Norm – des weißen, männlichen, besitzenden Heterosexuellen. Wo der Verbrecher oder die Wahnsinnige so konstruiert sind, als gehörten sie einer anderen race an, erscheinen der schwarze Verbrecher oder die schwarze Verrückte als doppelte Gefahr, gekennzeichnet sowohl durch ein Verhalten als auch eine Biologie, die von der Norm abweicht. (Obwohl Foucault die rassistische Kriminologie von Cesare Manuel de Lombroso kritisiert, verwendet er selbst keine antirassistische oder critical-race-Theorie.) Mit dieser Konstruktion eines unspezifischen Körpers ist Foucault in der Lage, staatliche Repression zu verharmlosen, wenn er behauptet, die Manifestationen der Macht und die Schauspiele der Gewalt seien überwunden. Im Gegenteil werden diese in den Vereinigten Staaten überall dort gewahrt, wo die Bedrohung und das Versprechen staatlicher Gewalt effektive Überwachung erst ermöglichen. Die Komplexität der Kriminalisierung sogenannter dark-skinned Menschen; die Destruktivität von Gangmitgliedern, die sich weder selbst als Mitglieder der Gesellschaft wahrnehmen noch als solche dargestellt werden; der Abbau von Finanzierungen für Jugendzentren (Foucaults »Kerkersystem«) zugunsten des Aufund Ausbaus von Gefängnissen; und die für staatliche Gewalt in der Innen- und Außenpolitik ethnisch und sexuell markierten Körper – nichts davon analysiert Foucault. Anders als er es uns vermittelt, sind einige von uns weiter von jenem »vollkommenen Lager« entfernt, in dem »die Machtausübung auf einem System der genauen Überwachung« und in dem »jeder Blick […] ein Element im Gesamtgetriebe der Macht« ist, als andere (vgl. ÜS, S. 221). Denn die »genaue Überwachung« wird durch die Androhung von Gewalt durch den Staat erzwungen, wobei Arme und people of color die am stärksten gefährdeten Ziele sind. Die gewalttätigen staatlichen Strafen, die Foucault als Phänomene einer vergangenen Zeit verallgemeinert, tauchen in der Politik unserer postmodernen Ära wieder auf. 166

Lynchen und Polizieren Wie wir aus Überwachen und Strafen lernen, verschwand zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Zuge von Strafreformen der »gemarterte, zerstückelte, verstümmelte, an Gesicht oder Schulter gebrandmarkte, lebendig oder tot ausgestellte […] Körper« als öffentliches Spektakel und mithin auch der »Körper als Hauptzielscheibe der strafenden Repression« (ÜS, S. 15). Doch im 19. Jahrhundert existierte der gefolterte, amputierte Körper durchaus – zum Beispiel in der französischen Kolonialherrschaft über Senegales:innen und versklavte Martinikaner:innen. Selbst in der postemanzipatorischen Ära begegnen wir dem entmenschlichend zugerichteten Körper. So war beispielsweise in den USA der bestrafte, verstümmelte Körper vom Ende des Bürgerkriegs bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts der tief verankerte Marker für die ritualisierte Barbarei des Lynchmordes. Der Zusammenschluss von Mob und Sheriffs überschaute dabei den markierten, verstümmelten schwarzen Körper, der als Symbol für die Wut und Rechtfertigung der strafenden Menge und des Staates diente – die sogenannte Wiedergutmachung der weißen Viktimisierung. Insoweit Schwarzsein und Gewalt in der US-Gesellschaft zu Synonymen werden, tritt das Gespenst des Lynchmordes als Ausdruck einer amerikanischen Wut und Vergeltung auf. Ironischerweise wurden dabei schwarze Menschen, historisch selbst Opfer staatlicher Gewalt durch Sklaverei und Reconstruction,8 mit dem Aufkommen des Ku-Klux-Klans und der Jim-Crow-Gesetze9 als die eigentlichen Aggressor:innen porträtiert. Das Zeitalter der Läuterung in Bezug auf das Strafen, das Foucault zufolge um 1830 herum begann, wird durch die schwindelerregende Hysterie an Lynchmorden widerlegt, die nach dem Bürgerkrieg rassistisch aufgeladen wurde und stetig steigende Zahlen verzeichnete. Auf bemerkenswert ahistorische Weise argumentiert Foucault, dass das 8 Die Reconstruction-Ära ist die Zeit unmittelbar nach dem amerikanischen Bürgerkrieg, also von 1863 bis 1877. [Anm. d. Hg.] 9 Die Jim-Crow-Gesetze bezeichnen ein politisch-rechtliches Regime rassistischer Segregation, welches speziell in den Südstaaten nach der formalen Abschaffung der Versklavung eingerichtet wurde und bis Mitte der 1960er Jahre in Kraft war. Dabei ging es vor allem um die rassistische Segregation auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt sowie im Bildungssystem und in öffentlichen Einrichtungen. [Anm. d. Hg.]

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»Verschwinden des Strafschauspiels« (ÜS, S. 15) eine Verschiebung hin zu einer verdeckteren, systemischeren Anwendung von Bestrafung und Einsperrung hervorhebt, bei der gerade das Fehlen offener staatlicher Gewalt zu einer Besänftigung der Mobs und Massen führte, die zuvor den Spektakeln als aktives Publikum beigewohnt hatten: Als ob die Funktionen der Strafzeremonie immer weniger verstanden würden, verdächtigt man nun diesen Ritus, der das Verbrechen ›abschloss‹, mit diesem schielende Verwandtschaften zu unterhalten: ihm an Unmenschlichkeit nicht nachzustehen, ja es darin zu übertreffen, die Zuschauer an eine Grausamkeit zu gewöhnen, von der man sie fernhalten wollte, ihnen die Häufigkeit der Verbrechen vor Augen zu führen, den Henker einem Verbrecher gleichen zu lassen und die Richter Mördern, im letzten Augenblick die Rollen zu verkehren und den Hingerichteten zum Gegenstand von Mitleid oder Bewunderung zu machen. (ÜS, S. 16.)

Selten jedoch wurden afroamerikanische Lynchopfer für den dominanten Teil der Gesellschaft zum Gegenstand des Mitleids oder der Bewunderung, obgleich sie unter Lynchgegner:innen betrauert und gepriesen wurden. Anstelle eines Verschwindens der körperlichen Marter zugunsten eines Kerkersystems der sich selbst polizierenden Bürger:innen, wie Foucault es beschreibt, wurde die Straffolter in den Vereinigten Staaten in den schwarzen Körper eingeschrieben. Die Lynchopfer der Zeit vor dem Bürgerkrieg waren überwiegend weiß: Von den 300 zwischen 1840 und 1860 verzeichneten Lynchmorden waren nur 10 Prozent der Opfer Afroamerikaner:innen.10 In der Zeit nach dem Bürgerkrieg, als die Mehrheit der Lynchopfer schwarz war, wurden Folter, Verstümmelung, Zerstückelung und Kastration sowie das Konservieren von Körperteilen als Souvenirs zu wiederkehrenden Bestandteilen des Lynchmordes. Als staatlich-sanktionierte Massenphänomene verschwanden Lynchmorde nicht bis in die 1920er und 1930er Jahre (ihr Fortbestehen als geheime Gräueltaten wird vom Klanwatch Project des Southern Poverty Law Center dokumentiert). Eine Studie aus dem Jahr 1933 der Commission on Interracial Cooperation über das Lynchen in den 1930er Jahren berichtet, was die meisten klarsichtigen Antirassist:innen und schwarzen Amerikaner:innen zu dieser Zeit 10 Vgl. Paula Giddings, When and Where I Enter: The Impact of Black Women on Race in America, New York 1986, S. 79.

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bereits wussten: Der Tod des Opfers war nicht das Hauptmotiv beim Lynchen. Eher begründete die Verbreitung von Folter und Verstümmelung das Lynchen als terroristische Kampagne zur Kontrolle einer ethnischen Gruppe, die als minderwertige race unterworfen wurde. Lynchen war nicht nur eine Form der Strafe (für kriminelle Übergriffe und Diebstähle sowie etwa den verbotenen wirtschaftlichen Wettbewerb mit Weißen oder auch einfach dafür, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein), sondern auch eine sadistische Fixierung auf den Körper, konzentriert auf den schwarzen Körper, welche zu ungeheuren Vergeltungsmaßnahmen befeuerte. Der gemarterte »Körper als Hauptzielscheibe der strafenden Repression« (ÜS, S. 15) – ausgeführt durch selbsternannte Gesetzesvertreter:innen und Regierungsangestellte – ging oft mit dem Mythos einer raubtierhaften, schwarzen, männlichen sexuellen Wildheit, gerichtet gegen weiße Frauen, einher. Doch auch schwarze Frauen und Mädchen wurden in der Zeit nach dem Bürgerkrieg gelyncht. Lynchgewalt, wie Polizeibrutalität, mag normalerweise mit schwarzen männlichen Opfern in Verbindung gebracht werden, beispielsweise mit den Angriffen gegen Rodney King, welche die kulturelle Rolle eines tiefgreifenden Spektakels von Polizeirassismus, Bestrafung und Folter spielen. Allerdings sind Männer nicht die einzigen Ziele der Polizeidisziplin. Vier Jahre bevor es zu jenem Symbol für Polizeirassismus und -brutalität kam (für so unterschiedliche Kanäle wie akademische Texte und städtische Unruhen) veröffentlichte das Center for Law and Social Justice 1988 den Bericht Black Women under Siege by New York City Police (dt. Schwarze Frauen unter Belagerung durch die New Yorker Polizei).11 Das Center dokumentierte hier die Gewalt der weißen, männlichen Polizei gegen schwarze Frauen und befand, dass die Polizei und das Rechtssystem eine funktionale Rolle für repressive Gewalt spielen und polizeiliche Angriffe oftmals von Rassismus motiviert sind. Der Bericht zitiert gewalttätige Aktionen weißer Polizisten, darunter das absichtliche Anfahren einer Frau mit einem Streifenwagen; das Schlagen einer Frau, die Zeugin eines Polizeiangriffs auf einen Afroamerikaner geworden war; das Sprühen von Pfefferspray ins Gesicht einer Frau, deren Hände hinter ihrem Rücken mit Handschellen gefesselt waren; sowie der Ein11 Center for Law and Social Justice, Black Women under Siege by New York City Police, Brooklyn, New York 1988.

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satz von Waffen gegen eine unbewaffnete Frau, die, nachdem sie die Polizisten in ihr Haus gelassen hatte, fragte, warum diese dort seien. Nur wenige Medien- und Regierungsvertreter:innen nehmen laut dem Center solche Gewalt in den Blick: »Die massive Berichterstattung angesichts des Falles Tawana Brawley hat die Flut von polizeilichen und rassistischen Angriffen auf schwarze Frauen im Allgemeinen verschleiert […] und so den Eindruck erzeugt, dass […] die Tode von Eleanor Bumpurs und Yvonne Smallwood […] Einzelfälle seien und nicht Teil eines historischen und in jüngster Zeit zunehmenden Trends.« Tawana Brawleys unsubstantiierte Anschuldigungen gegen die weiße Polizei und lokale Beamte wegen Körperverletzung und Vergewaltigung wurden allgemein als Schwindel angesehen, obwohl die Anklage des afroamerikanischen Teenagers ein Sprungbrett für ihre Medien-»Handler« Al Sharpton, Alton Maddox und Vernon Mason darstellte. Eleanor Bumpurs, eine 67-jährige arthritische, adipöse Großmutter, wurde 1984 in ihrer Wohnung durch Schrotflintenschüsse getötet, als die Polizei versuchte, sie wegen Nichtzahlung der rückständigen Miete gewaltsam zu entfernen. Weil Bumpurs ein Küchenmesser auf die weißen Polizisten gerichtet hatte, die ihre Wohnungstür aufbrachen, wurde der Mord als Selbstverteidigung gewertet. Yvonne Smallwood war eine afrokaribische Frau, die 1988 von der Polizei zu Tode geprügelt wurde, nachdem sie den Beamten, die ihrem schwarzen männlichen Begleiter ein Verkehrsticket ausstellten, mitgeteilt hatte, dass sie stattdessen Drogendealer verhaften sollten. In Fällen wie diesen oder ähnlichen wie dem Tod des Graffitikünstlers Michael Stewart wurde keine Polizei angeklagt. Der Tod von Frauen in Polizeigewahrsam durch Straf- und Disziplinierungsmaßnahmen ist ein seltenes Thema feministischer Untersuchungen über Frauen und Gewalt oder in maskulinistischen Arbeiten zu Rassismus und Polizei. Obwohl diese Morde außerhalb der Öffentlichkeit stattfanden, tendiert die örtliche Polizei im Allgemeinen dazu, die Überwachung in ein Spektakel zu verwandeln. Der Einsatz von crowd control (Ansammlungskontrolle) und supervision (Aufsicht) in Gegenden, in denen überwiegend schwarze Menschen leben, unterstreicht diesen Punkt. Die Proteste, die dem Freispruch der Polizei im Fall Rodney King12 folgten (wobei landesweit die meisten Demonstrant:innen 12 Rodney King war ein Afroamerikaner, der 1991 in Los Angeles nach einer Geschwindigkeitskontrolle von der Polizei brutal misshandelt wurde, was auf-

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und Randalierer:innen nicht-schwarz waren), sowie während der Days of Outrage13 (Tage der Empörung) waren wohl nicht das, was Foucault im Sinn hatte, als er schrieb, »dass die Leute die Strafgewalt akzeptieren oder ganz einfach das Bestraftwerden ertragen« (ÜS, S. 391). Mitte der 1980er Jahre, nach den Days of Outrage, erschien die New Yorker Polizei am Labor Day während des Caribbean Carnival auf Brooklyns Grand Army Plaza und demonstrierte eine »Haltung der Härte«. Die Festwagen und Steeldrum-Bands, die am Eastern Parkway an Straßentänzer:innen und Verkäufer:innen vorbeizogen, wurden von dem Polizeihubschrauberlärm über ihnen begleitet. Jede:r Bewohner:in oder Tourist:in auf der Straße musste nur zu den Dächern der Apartmenthäuser Brooklyns entlang der Parade aufschauen, um dort die uniformierte Polizei zu erblicken, einschließlich Scharfschütz:innen, die Kolben ihrer Gewehre auf die Hüften gestützt. Die Parade sollte offiziell zu einer bestimmten Stunde enden. In der Vergangenheit hatten, wie bei anderen Umzügen durch die Stadt, die letzten Nachzügler:innen und Nachtschwärmer:innen gemächlich einpacken und von dannen ziehen können. In diesem Jahr jedoch ritt die Polizei dicht an dicht zu Pferd – eine unnachgiebige Wand blau-weißer Zenturios hinter dem letzten Festwagen bildend, welche die nachkommenden Tänzer:innen, Zuschauer:innen und Fußgänger:innen von der Allee fegte. Nicht nur die Überwachten, sondern auch die Polizei selbst ist offensichtlich der Überzeugung, dass schwarze Menschen der staatlichen »Strafgewalt« nicht mit jener Toleranz entgegentreten, die Foucault sich vorstellt. Obwohl Foucault zu suggerieren scheint, dass es wenig Leben außerhalb des Kerkersystems gibt, ist der Staat offensichtlich anderer Meinung, was sich in seinem Misstrauen gegenüber der schwarzen Bevölkerung ausdrückt, sich selbst zu verwalten, und in seinem Vertrauen auf die symbolische oder reale Drohgewalt der Polizei zum Zweck der Disziplinierung schwarzer communities. Unterstrichen werden diese staatlichen Vorannahmen grund von Videoaufnahmen an die Öffentlichkeit gelang. Der Freispruch für die Beamten war der Auslöser tagelanger Rebellionen in LA und den gesamten USA. [Anm. d. Hg.] 13 Die Days of Outrage bezeichnen die Proteste nach dem Urteil im Fall von Michael Griffith, der am 20. Dezember 1986 in Howard Beach, New York City, auf der Flucht vor einem rassistischen Mob auf einem Highway von einem Auto angefahren wurde und dabei zu Tode kam. [Anm. d. Hg.]

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durch Umfragen aus dem Jahr 1995, die während des O.-J.-Simp­ son-Prozesses14 durchgeführt wurden und denen zufolge mehr schwarze als weiße Menschen Unsicherheit bezüglich Simpsons Schuldigkeit zum Ausdruck brachten. Darüber hinaus legt die Berichterstattung im August und September 1995 über den pensionierten Polizeidetektiv des Los Angeles Police Department Mark Fuhrman, der in einem aufgezeichneten Interview mit seinem Hass gegenüber und seiner Belästigung von schwarzen Menschen sowie dem Unterschieben von Beweisen für Anklagen prahlte, nahe, dass schwarze Menschen, wie auch andere, dem Justizsystem zunehmend misstrauen. Jedoch wird das tödliche Spektakel des rassistischen Zuschlagens der Polizei – der Disziplinierung der armen und feminisierten communities of color – von noch spektakuläreren Zurschaustellungen letaler staatlicher Gewalt überschattet. Die Bilder des 1985 in einem schwarzen Viertel in Philadelphia von der Polizei verübten Bombenanschlags und der Verbrennung von Zivilist:innen sorgten für weitaus weniger Aufmerksamkeit und soziale Empörung als die Konfrontation und der Tod der Branch Davidians in Waco, Texas.15 Der Sprengstoffanschlag auf das Hauptquartier von MOVE, einer radikalen schwarzen, naturverbundenen Organisation (mit einigen weißen Mitgliedern), wurde von einem schwarzen ehemaligen Militäroffizier und weißen Polizeibeamten angeleitet und vom schwarzen Bürgermeister Wilson Goode genehmigt, der öffentlich den Entschluss gefasst hatte, die verfahrene Situation zwischen Polizei und MOVE-Mitgliedern »mit allen erforderlichen Mitteln« zu beenden. Der Sprengstoff, den die Polizei bei dieser Konfrontation mit MOVE einsetzte, ähnelte jenem, welcher in Vietnam zum Einsatz kam. Ein 14 Der bekannte schwarze Footballspieler O. J. Simpson wurde 1994 angeklagt, seine Ehefrau Nicole Brown Simpson und ihren Freund Ronal Goldman ermordet zu haben. Der Mordprozess wurde landesweit mit großer medialer Aufmerksamkeit verfolgt. Simpson wurde im Strafprozess freigesprochen, im anschließenden Zivilprozess jedoch schuldig befunden. [Anm. d. Hg.] 15 Die Branch Davidians sind eine religiöse Sekte in den USA. Sie wurden vor allem dadurch bekannt, dass 1993 ihre Ranch in der Nähe der Stadt Waco in Texas 51 Tage lang von der Bundespolizei belagert wurde, wobei 82 Menschen ums Leben kamen. Diese Belagerung erhielt medial eine sehr viel größere Aufmerksamkeit als die Polizeiaktion, bei der 1985 die Polizei in Philadelphia aus einem Helikopter Bomben auf ein schwarzes Wohnviertel warf, in dem sich das Hauptquartier der MOVE-Organisation befand. [Anm. d. Hg.]

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Block von Reihenhäusern wurde niedergebrannt. Elf Menschen, darunter vier Kinder, starben. Anwohner, die Zeug:innen des Bombenanschlags waren, und einer der beiden Überlebenden berichten von Kindern, die auf der Flucht aus der Hinterseite eines brennenden Hauses, das von der Polizei umstellt war, verschwanden. Auch gaben schwarze Bewohner:innen unbelegte Berichte über in der Gasse stationierte Schütz:innen der Polizei ab, die Überlebende erschossen und ihre Körper zurück in das brennende Haus warfen. Umgekehrt behauptet die Polizei in Philadelphia, dass die Eltern und Betreuer:innen der Kinder für ihren Tod verantwortlich seien und dass die Polizei sich keiner kriminellen Aktivitäten schuldig gemacht hätte. Anders als die Branch Davidians (die in die Exekution von Erwachsenen und Kindern und die Brandstiftung verwickelt waren, die ihr Waco-Gelände letztlich vernichtete) wurden diejenigen, die bei den MOVE-Bombenangriffen starben, keine Märtyrer:innen unter den extremen Rechten oder im amerikanischen Mainstream als Opfer des eindringlichen Föderalismus und der Polizeigewalt. Ebenso wenig wurde ihr Tod als Motivationsfaktor der Extremist:innen bei den Bombenanschlägen von Oklahoma City im April 1995 angeführt.16 Und schließlich lösten ihre Todesfälle auch keinen öffentlichen Aufschrei aus, der zu Anhörungen im Kongress geführt hätte, wie etwa der Fall des weißen Separatisten Randy Weaver und der Tod seiner Frau und seines Sohnes durch eine Schießerei mit Agent:innen des Bureau of Alcohol, Tobacco, and Firearms. Nie wurde die Polizei wegen der MOVE-Todesopfer oder der Zerstörung der überwiegend von schwarzen Menschen bewohnten Häuser in der Osage Avenue in Philadelphia angeklagt oder diszipliniert (obwohl im Juni 1996 eine Zivilklage beigelegt wurde).

Gefängnisse und Hinrichtungen Angesichts seiner mangelnden Thematisierung des rassistischen Bias beim historischen Lynchen und des zeitgenössischen Polizierens erscheint Foucaults Schweigen über die Rassifizierung der Gefängnisse und der Todesstrafe in den Vereinigten Staaten vorherseh16 Das Oklahoma City Bombing von 1995 war ein Terroranschlag weißer Rassisten auf ein Regierungsgebäude, bei dem mindestens 168 Menschen ums Leben kamen. [Anm. d. Hg.]

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bar. Foucault zufolge war »die endlose Zerstückelung des Körpers des Königsmörders« im Ancien Régime die Manifestation »der stärksten Macht am Körper des größten Verbrechers, dessen vollkommene Zerstörung das Verbrechen in seiner Wahrheit aufblitzen läßt« (ÜS, S. 291). Diese dominierende, totalisierende Macht, so argumentiert er, erscheint in der heutigen Gesellschaft als »eine Befragung ohne Ende« oder »eine Ermittlung, die bruchlos in eine minutiöse und immer analytischer werdende Beobachtung überginge; ein Urteil, mit dem ein nie abzuschließendes Dossier eröffnet würde; die kalkulierte Milde einer Strafe, die von der erbitterten Neugier einer Überprüfung durchsetzt wäre« (ÜS, S. 291). Ständige Überwachung, bürokratische Dokumentation und Analyse sowie endlose Verhöre sind in der Tat Merkmale amerikanischer Gefängnisse. Und doch üben die Vereinigten Staaten durch ihre Polizei und strafrechtlichen Hinrichtungen auch eine Gewalt aus, die sich grundlegend von der unaufhörlichen Befragung unterscheidet. So war etwa beim Bombenangriff auf die MOVE-Mitglieder in Philadelphia ein Verhör nie beabsichtigt. Das polizeiliche Ziel war vielmehr der Tod des oder der Zielperson(en). Andere Beispiele, etwa die Belästigung und Ermordung von schwarzen und indigenen Wortführer:innen während der Bürgerrechts-, Black-Panther- und indigenen Bewegungen durch das FBI Counterintelligence Program, einschließlich der Erschießungen von Fred Hampton und Mark Clark durch die Chicagoer Polizei und das FBI im Jahr 1969, die Erschießungen am Wounded Knee,17 sowie die Tötungen von nichtaktivistischen Schwarzen, amerikanischen Ureinwohner:innen und Latinx durch die Polizei weisen auf ein (in der akademischen Welt nur selten berücksichtigtes) Ausmaß an Gewalt in der US-Innenpolitik hin, das wohl kaum auf gesteigertes Interesse an Verhören schließen lässt.18 Man mag mit Foucault argumentieren, dass das »Kerkernetz […] den Unanpaßbaren nicht in eine vage Hölle [verstößt]; es hat 17 Vgl. Ward Churchill, Jim Van der Wall, Agents of Repression: The FBI’s Secret Wars against the Black Panther Party and the American Indian Movement, Boston 1988. 18 Die Black-Panther-Aktivisten Fred Hampton (21) und Mark Clark (22) wurden 1969 im Schlaf bei einer Erstürmung ihrer Wohnung durch die Polizei erschossen. 1973 wurden zwei Sioux-Aktivisten von der Bundespolizei während der Besetzung der Stadt Wounded Knee durch Mitglieder des American Indian Movement erschossen. [Anm. d. Hg.]

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kein Außen. […] Es geht mit allem haushälterisch um, auch mit seinem Sträfling.« (ÜS, S. 388) Das US-amerikanische Kerkernetz jedoch tötet. Und in seinen Gefängnissen tötet es mehr schwarze Menschen als jede andere ethnische Gruppe. Amerikanische Gefängnisse stellen ein »Außen« des politischen Lebens in den USA dar. Tatsächlich zeigt unsere Gesellschaft Wellen konzentrischer Außenkreise mit zunehmender Entfernung vom bürgerlichen Selbstpolizieren. Der Staat überwacht routiniert das Unassimilierbare in der buchstäblichen Hölle des Lockdowns, der Isolationszellen, der Kontrolleinheiten und der Löcher für politische Gefangene. In Überwachen und Strafen schweigt Foucault von der Vulnerabilität der inhaftierten Person für Polizeiangriffe, von Vergewaltigungen, von Schockbehandlungen und vom Todestrakt. Haftstrafen und Hinrichtungen sind die Verfahren des Staates, um sich der Unassimilierbaren in ein externes Inferno der Nichtexistenz zu entledigen. Weder alles noch alle werden gerettet. Foucaults These, dass das Ende der öffentlichen Hinrichtungen für einen nachlassenden Fokus auf das Spektakel und den Körper steht, zieht – wie in Bezug auf den rassistischen Bias der Todesstrafe dargestellt – nicht in Betracht, dass Körper in rassistischen Systemen von einer anderen Bedeutung sind. Der Wert, der auf rassifizierte, ökonomische und sexuelle Unterschiede gelegt wird, bestimmt hier über die Lockerung oder Verengung des Griffs um den Körper. Unter Berufung auf die Literatur zum Strafrechtskongress, um zu argumentieren, dass der Staat »nicht mehr an den Körper rühren [sollte] – oder jedenfalls so wenig wie möglich und um in ihm etwas zu erreichen, was nicht der Körper selber ist«, bemerkt Foucault auch nicht, wie das Wesen in Verbindung zur physischen Erscheinung konstruiert wurde (ÜS, S. 18). Wenn von einer Seele die Rede ist, sollte man bedenken, dass in der nationalen rassistischen Mythologie angenommen wurde, dass Afrikaner:innen und Indigene entweder keine Seele haben oder eine, die entwertet ist und der Bekehrung und Disziplinierung bedarf. Foucaults Behauptung, dass das »physische Leiden, der Schmerz des Körpers selbst […] nicht mehr die wesentlichen Elemente der Strafe [bildeten]« und dass die »Züchtigung […] eine Ökonomie der suspendierten Rechte« geworden sei, blendet die Tatsache aus, dass nicht jede:r als Staatsmitglied mit einheitlich durchgesetzten und gleichen Rechten anerkannt wird (ÜS, S. 18 f.). 175

Überflüssige oder entbehrliche Körper, institutionelle Ungleichheiten und Rassismus als Bestandteile von Überwachung und Strafen in den Vereinigten Staaten bedeuten, dass das Kerkersystem auf die rassistische Körperpolitik zugeschnitten ist und dass race ein Marker für Kriminalität und Unterdrückung ist. Das Center for the Study of Psychiatry organisierte einen öffentlichen Protest gegen die Federal Violence Initiative, welche von dem National Mental Health Advisory Council genehmigt und vom Bund finanziert wurde, »um mindestens 100 000 Kinder in den Innenstädten zu identifizieren, deren angebliche biochemische und genetische Defekte sie in ihrem späteren Leben gewalttätig machen werden […]. Die Behandlung wird aus Verhaltensmodifikationen in der Familie, speziellen ›Tageslagern‹ und medikamentöser Behandlung bestehen.«19 Derzeit versuchen die Gesetzgeber:innen, die Finanzierung für dieses Programm wiederaufzunehmen. Für eine kritische Lesart des Foucault’schen Paradigmas müssen wir uns nur vergegenwärtigen, wie Gouverneur Nelson Rockefeller die New Yorker Staatsgarde einsetzte, um den Aufstand im Attica Prison in den frühen 1970er Jahren niederzuschlagen. Oder etwa die Entscheidung von Bundesrichter Barrington D. Parker in den 1980er Jahren, dass die Lexington Control Unit, ein Gefängniszentrum mit dem Auftrag der Verhaltensmodifikation politischer Revolutionär:innen, aufgrund der Praktiken der US-Regierung geschlossen werden musste, politische Ansichten und Zugehörigkeiten durch Folter zu beeinflussen. Oder auch nur die Berichte von US-Gefängnisinsass:innen über Brutalität und Folter in den 1990er Jahren. Weil Foucaults Paradigma das Gefängnis in einer höchst spezifischen Form normalisiert und universalisiert, können seine Leser:innen leicht dazu verleitet werden, das gegenwärtige Wiederauftauchen anderer Kontrolleinheiten, aneinandergekettete Kolonnen von (schwarzen) Sträflingen in Alabama (und anderen Staaten) sowie die in der Bevölkerung verbreitete Befürwortung der Todesstrafe zu übersehen oder abzutun. Abgeschirmt hinter Gefängnismauern, finden staatliche Hinrichtungen als privates Schauspiel statt. Theoretisch soll die Todesstrafe die Abschreckung potentieller Straftäter:innen bewirken 19 Peter Breggin, »News and Views on Psychiatry: The ›Violence Initiative‹ – A Rac­ ist Biomedical Program For Social Control«, in: The Rights Tenet [Newsletter der National Association for Rights Protection and Advocacy], Sommer 1992, S. 3-8.

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(obwohl bislang kein solcher Zusammenhang belegt wurde). In der Praxis jedoch fungieren staatliche Hinrichtungen als Strafspektakel, das vor dem Blick der Bürger:innen geschützt, aber in ihr Bewusstsein projiziert wird. Einer der eloquentesten Schriftsteller über die Todesstrafe in der Gegenwart ist Mumia Abu-Jamal. Als Journalist und ehemaliges Mitglied der Black Panther Party und MOVE wird er von vielen Befürworter:innen fairer Gerichtsverfahren als politischer Gefangener angesehen, der fälschlicherweise für den Mord an einem Polizisten in Philadelphia beschuldigt und zum Tode verurteilt wurde. Er beginnt seine Memoiren Live from Death Row mit einem Zitat Albert Camus’: Eine Gleichwertigkeit bestünde erst, wenn der mit dem Tode zu bestrafende Verbrecher sein Opfer vorher davon in Kenntnis gesetzt hätte, an welchem Ort er es in einen gräßlichen Tod schicken werde, und es von diesem Augenblick an monatelang gnadenlos eingesperrt hätte. Ein solches Ungeheuer findet sich nicht im Privatleben.20

Als die Generalversammlung der Organisation Amerikanischer Staaten 1987 die Abschaffung der Todesstrafe als vertragliche Ergänzung zur Amerikanischen Menschenrechtskonvention erörterte, wurde festgestellt, dass das Europäische Parlament bereits zwei Jahre zuvor einen ähnlichen Vertrag angenommen und die US-Politik zugunsten der Todesstrafe verdammt hatte. Die Versammlungsmitglieder stellten also fest, dass die Vereinigten Staaten an der Todesstrafe festzuhalten schienen, während andere Länder diese abschafften. Im Jahr 1995, im selben Monat, in dem Südafrika die Todesstrafe verboten hatte, unterzeichnete der Gouverneur von Pennsylvania den Hinrichtungsbefehl für Abu-Jamal. Laut Amnesty International können in über 26 US-Bundesstaaten Personen über 18 Jahren legal hingerichtet werden, wobei die Anzahl staatlicher Hinrichtungen zunimmt. Vielfach wird die Todesstrafe mit Verweis auf Befangenheit bei der Urteilsverhängung angefochten. Zwischen 1977 und 1986 waren fast 90 Prozent der hingerichteten Gefangenen wegen Mordes an weißen Menschen verurteilt worden, obwohl unter den Opfern schwarze und weiße Menschen etwa gleich verteilt waren. Im Januar 1985 argumentierte 20 Mumia Abu-Jamal, Live from Death Row, Reading 1995, S. 3. Abu-Jamal zitiert hier Albert Camus’ »Betrachtungen zur Todesstrafe«, in: ders., Fragen der Zeit, Reinbek bei Hamburg 1997, S. 103-156, hier S. 125.

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der wegen Mordes an einem weißen Polizisten aus Atlanta zum Tode verurteilte Warren McClesky im Fall McClesky gegen Kemp, dass seine verfassungsmäßigen Rechte verletzt worden seien, insofern Rassismus bei der Rechtsprechung in Georgia statistisch nachweisbar sei. Zuerst hatte McClesky beim Bundesberufungsgericht für den elften Bundeskreis eine Petition eingereicht und darin die Behauptung vorgebracht, die Todesstrafe in Georgia sei diskriminierend.21 Laut Berichten über den Fall McClesky von Amnesty International war es in den 1970er Jahren elfmal wahrscheinlicher, dass Gerichte in Georgia diejenigen zum Tode verurteilten, die des Mordes an weißen Menschen für schuldig erklärt wurden, als diejenigen, denen Mord an schwarzen Menschen angelastet wurde. Insgesamt führten Morde an europäischstämmigen Amerikaner:innen mit 20 Prozent höherer Wahrscheinlichkeit zur Todesstrafe als solche mit afroamerikanischen Opfern. Auch erhielten schwarze Angeklagte in ähnlichen Fällen häufiger die Todesstrafe als Weiße. In der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs gegen McClesky wurde zwar eingeräumt, dass Georgias Verhängung des Todesurteils rassistisch voreingenommen war. Die Mehrheitsmeinung befand die 20-prozentige Diskrepanz jedoch für akzeptabel und erklärte sie als »marginale« Abweichung im Vergleich zu früheren rassistischen Todesurteilen. Auch lehnte das Gericht die Berufung mit der Begründung ab, dass der Kläger nicht nachweisen könne, dass der Richter, die Jury oder der Staatsanwalt persönlich und absichtlich aus Rassismus gehandelt hätten. In Ermangelung derartiger Rassismuseingeständnisse seitens des Strafvollzugssystems hatte McClesky keine Beweise dafür, dass Georgia die Absicht verfolge, seine Grundrechte zu verletzen. Wo sich keine Absicht beweisen lässt, 21 Alpha Otis Stephens, verurteilt wegen Mordes an einem weißen Mann, wurde im Dezember 1984 in Georgia hingerichtet, während das Bundesberufungsgericht Fälle prüfte, bei denen Rassismus in der Verhängung der Todesstrafe durch den Bundesstaat Georgia unterstellt wurde. Stephens hatte 1983 beim Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten Berufung eingelegt, um einen Hinrichtungsaufschub zu erwirken, bis einer der Rassismusvorwurfsfälle vor dem Berufungsgericht entschieden sei. Plötzlich und ohne Erklärung hob der Oberste Gerichtshof den Aufschub im November 1984 auf. Stephens Anwält:innen sind der Überzeugung, dass die gerichtliche Entscheidung hier aus technischen Gründen getroffen wurde und dass Stephens die Problematik rassistischer Voreingenommenheit früher in seinem Berufungsverfahren hätte thematisieren sollen. Vgl. Amnesty International USA, The Death Penalty Briefing, London 1988.

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scheint rassistische Gewalt lediglich eine theoretische Möglichkeit oder Unwahrscheinlichkeit von Seiten des Staates darzustellen. Solche Unwahrscheinlichkeit aber reichte dem Gericht nicht aus, einen Aufschub der Hinrichtung zu gewähren. Strafende Institutionen sind also außerhalb des innenpolitischen Lebens der USA verortet, in welchem die Strafgewalt, die den Inhaftierten zugefügt wird, von der allgemeinen Bevölkerung selten in Betracht gezogen wird. Es gibt andere Formen von äußeren oder externen Infernos. Ein Ausmaß von Terror erreichte die Bestrafung von Menschen in nationalen Unabhängigkeitsbewegungen im Zuge der US-Außenpolitik der 1980er Jahre durch die Finanzierung von Contras mit dem Ziel eines stellvertretenden Polizierens.

Terror in der Außenpolitik In den 1980er Jahren wurden das Polizieren im Inland und die allgemeine Polizeibrutalität, einschließlich des MOVE-Bombenanschlags von 1985, durch das grausige Spektakel des Terrorismus in der US-Außenpolitik noch in den Schatten gestellt. In dieser Zeit repräsentierte die Tötung von mehr als 30 000 Nicaraguaner:innen und 10 000 Angolaner:innen durch Contras sowie mehr als 100 000 Mosambikaner:innen durch Südafrikaner:innen (in Verbindung mit Mitteln der CIA) den Einsatz von Staatsterrorismus und Folter von Zivilist:innen zwecks Destabilisierung sozialistischer Regierungen und revolutionärer Kämpfe. Während der Reagan-Regierung erschien der gefolterte, zerstückelte Körper regelmäßig als Folge der vom US-Kongress oder der CIA finanzierten salvadorianischen und guatemaltekischen Todesschwadronen. In El Salvador und Guatemala wurden Folter und terroristische Morde eingesetzt, um soziale, politische und Guerillabewegungen von Arbeiter:innen und indigenen Gruppen zu Fall zu bringen. In den Contra Wars in Nicaragua und Angola waren öffentliche Folter und Terrorismus Mittel, um die Souveränität der sozialistischen Regierungen in Frage zu stellen. Mittlerweile wissen wir, dass ein US-Präsident oder Oberbefehlshaber die verdeckte Unterstützung von Gewalt finanzieren oder zumindest demgegenüber ein Auge zudrücken konnte, wenn es nur der Durchsetzung der US-Hegemonie in einer bestimmten Region diente. In der Ära nach dem Zweiten Weltkrieg 179

regierten die Vereinigten Staaten als globale militärische und wirtschaftliche Macht. Mit ihrem Status als transnationaler Souverän übten sie (sich selbst als »Amerika« bezeichnend) ihren Einfluss auf den gesamten amerikanischen Kontinent aus und verstanden dabei Mexiko, Zentral- und Südamerika sowie die Karibik als ihren »Hinterhof«. Nach Angaben des in Washington, D. C., ansässigen Center for Defense Information und des American Defense Monitor begannen die Vereinigten Staaten 1946 mit Sprach- und Militärschulen für Regierungen des gesamten amerikanischen Doppelkontinents. Heute werden im Rahmen des International Military Education and Training-Programms (IMET) militärisches Führungspersonal und Truppen ausgebildet und die School of the Americas (SOA) in Fort Benning, Georgia, finanziert – auch bekannt als die »low-intensity conflict school«.22 Sowohl IMET als auch SOA waren Bildungsstätten einiger der berüchtigtsten Diktator:innen und Militarist:innen in Lateinamerika und der Karibik. (Nach dem Abzug der US-Besatzungsmächte aus den lateinamerikanischen und karibischen Ländern blieb dort das hoch professionalisierte Militär an der Macht.) Anstatt jedoch die nationalen Grenzen gegen von außen kommende Aggressionen zu sichern, polizierten die SOA-Absolvent:innen die inneren Grenzen und unterdrückten lokale, indigene oder studentische Widerstände gegen staatliche Gewalt und Kontrolle. Seit den 1950er Jahren hat die SOA mehr als 5000 salvadorianische Militärangehörige geschult, denen zügellose Folter und Ermordung von Zivilist:innen, Mitgliedern der Farabundo Martí National Liberation (FMLN) sowie die weithin bekannt gewordene Hinrichtung von vier öffentlichkeitswirksamen Jesuitenpriestern und ihrer Haushälter:innen angelastet werden. Zu den Absolvent:innen der SOA gehören einige der bekanntesten Diktatoren der Region: Fulgencio Batista in Kuba; Rafael Trujillo in der Dominikanischen Republik; Anastasio Somoza in Nicaragua. Weiter gehören zur »Hall of Fame« der SOA El Salvadors Roberto D’Aubisson, bekannt als Architekt der Todesschwadronen, und Panamas Manuel Noriega, der als derart berüchtigter Drogenbaron gilt, dass das US-Militär Panama 1989 angeblich bombardierte, um seine 22 Der demokratische Abgeordnete Joseph Kennedy schlug mit der Verordnung H.R.2652 vor, die SOA zu schließen und in eine Akademie für Demokratie und zivil-militärische Beziehungen umzuwandeln.

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Auslieferung für einen Prozess in Miami zu bewirken. Die Schule instruierte auch das Offizierskorps des haitianischen Militärs, das 1991 einen Militärputsch gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Jean-Bertrand Aristide durchführte. 1994 mussten die Vereinigten Staaten eigens Truppen senden, um SOA-Absolvent:innen dazu zu bringen, Aristides Präsidentschaft wiederherzustellen (und die Einwanderung haitianischer – vor Folter und Hinrichtung in ihrem eigenen Land fliehender – Bootsflüchtlinge einzudämmen). In den 1980er Jahren nannten die Mainstreammedien Reagan »den großen Kommunikator« und seinen Nachfolger George Bush den Anwalt einer »freundlicheren, sanfteren Nation« – in den Worten seiner Redenschreiberin Peggy Noonan. Linke Progressive verspotteten die Gewalt ihrer Regierungen, indem sie die Präsidenten als »Ron, den freundlichen Faschisten« und »Dirty Harry« beziehungsweise »Make-My-Day George« bezeichneten. Jedoch wurde der bittere Humor der marginalisierten Linken von den US-Präsidenten der 1980er Jahre kontinuierlich in den Schatten gestellt. Mit einer Geste, die viele als fehlgeleitete Reue betrachteten, legte Reagan Kränze auf einen Friedhof, auf dem die Gräber der ­Nazi-Sturmtruppen in Bitburg lagen. In einem Artikel der New York Times vom März 1985 wurde er mit der Aussage zitiert, dass die nicaraguanischen »Contras […] das moralische Äquivalent unserer Gründerväter sind«. In einem Artikel vom 6. März berichtete die Times über die Anerkennung, dass »die Contras dazu neigen, junge Mädchen zu entführen«, durch einen hochrangigen Beamten der Reagan-Regierung.23 1987, einige Jahre später, deckten die US-Medien die Existenz einer CIA-Folteranleitung für die nicaraguanischen Contras auf. Darüber hinaus war Bush sowohl in die Iran-Contra-Affäre als auch in den Konflikt um Manuel Noriega verwickelt, für dessen Land er eine Invasion zur Eindämmung des Kokainschmuggels genehmigte. Gemeinsam brachten die Regierungen von Reagan und Bush die größte Waffenaufrüs23 Gerald M. Boyd, »Reagan Terms Nicaraguan Rebels ›Moral Equal of Found­ ing Fathers‹«, in: The New York Times, 2. 3. 1985, Section 1, S. 1, 4; 〈https:// www.nytimes.com/1985/03/02/world/reagan-terms-nicaraguan-rebels-moralequal-of-founding-fathers.html〉; Joel Brinkley, »Rights Report on Nicaragua ­Cites Recent Rebel Atrocities«, in: The New York Times, 6. 3. 1985, Section A, S. 10; 〈https://www.nytimes.com/1985/03/06/world/rrights-report-on-nicaragua-ci tes-recent-rebel-activities.html〉, letzter Zugriff 16. 2. 2022.

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tung in Friedenszeiten in der Geschichte der USA zustande, trieben das derzeitige Defizit in die Höhe und finanzierten terroristische Aktivitäten durch diverse verdeckte Konflikte unterhalb der Kriegsschwelle in Afrika und Lateinamerika. Gefoltert und vergewaltigt von US-finanzierten Todesschwadronen in Guatemala, überlebte die amerikanische Nonne Dianna Ortiz mit mehr als hundert Verbrennungen an ihrem Körper. Das Center for Constitutional Rights verhandelte den Fall, in dem ein Bundesrichter aus Boston Ortiz und acht Guatemaltek:innen, die in den 1980er Jahren vom Militär ihres Landes terrorisiert worden waren, 47,5 Millionen US-Dollar zusprach.24 Das Schweigen über das Spektakel der rassistischen staatlichen Gewalt ist einfacher, wenn man politische Strategien ignoriert. Stattdessen könnte man jedoch auch die Bildung und Finanzierung der Commission on Integrated Long-Term Strategy durch die US-Regierung untersuchen, die im Januar 1988 einen Bericht mit dem Titel Discriminate Deterrence (dt. Diskriminierende Abschreckung) herausgab.25 Zu den Teilnehmer:innen der Kommission aus beiden großen Parteien gehörten Anne L. Armstrong, Zbigniew Brzezinski, William P. Clark, W. Graham Claytor jr., Samuel P. Huntington, Henry A. Kissinger und Albert Wohlstetter. Vor dem Zerfall der Sowjetunion räumte Discriminate Deterrence ein, dass ein gewinnbarer Atomkrieg ein nicht zu vermarktendes Konzept sei. Obwohl Reagan während seiner zwei Amtszeiten das Image Russlands als böses Imperium mobilisierte, argumentierte Discrim­ inate Deterrence, dass der Ost-West-Konflikt an Bedeutung verlieren müsse, damit US-Konflikte mit der Dritten Welt die Politik bis 24 Vgl. Tim Weiner, »U.S. Judge Orders Ex-Guatemala General to Pay $ 47.5 Million«, in: The New York Times, 13. 4. 1995, Section A, S. 1; 〈https://www.nytimes. com/1995/04/13/world/us-judge-orders-ex-guatemala-general-to-pay-47.5-million. html〉. Das Präsidialgremium, das Intelligence Oversight Board, veröffentlichte einen 67-seitigen Bericht über die CIA-Finanzierung guatemaltekischer Militäroffiziere im Zusammenhang mit Attentaten und Folter. Siehe auch ders., »Panel Faults C.I.A. on Hiring Violent Agents in Guatemala«, in: The New York Times, 29. 6. 1996, Section 1, S. 2; 〈https://www.nytimes.com/1996/06/29/world/reportfaults-cia-on-hiring-of-informers-in-guatemala.html〉, letzter Zugriff 16. 2. 2022. 25 The Commission On Integrated Long-Term Strategy (1988), Discriminate Deterrence: Report of the Commission on Integrated Long-Term Strategy, Washington, D. C.: Government Printing Office.

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ins 21. Jahrhundert hinein formen könnten. Der ehemalige Staatssekretär Reagans, George Shultz, bemerkte in den 1980er Jahren, dass die USA seit dem Ende des Ersten Weltkriegs mehr als 30-mal militärisch in die Dritte Welt eingegriffen hätten. Diese Interventionen umfassten die Invasion Grenadas sowie die Bombardierung Libyens und Panamas. Laut Discriminate Deterrence hatten die Vereinigten Staaten seit dem Zweiten Weltkrieg ihr militärisches Engagement auf die Dritte Welt beschränkt. (Diese Politik änderte sich mit dem Konflikt in Bosnien Mitte der 1990er Jahre.) Diese Kriege, geführt ohne formelle Kriegserklärungen, spiegelten üblicherweise die konterrevolutionäre Ideologie der USA und Konflikte mit (zumeist von der Sowjetunion unterstützten) Befreiungsbewegungen in Afrika, Asien, Lateinamerika und der Karibik wider. Insoweit die Vereinigten Staaten den größten Teil ihrer Mittel für terroristische Aktivitäten in Ländern der Dritten Welt reservierten, richteten sich diese Kriege häufig gegen Zivilist:innen. Im Discriminate-Deterrence-Bericht wurde behauptet: Um »die Interessen und Verbündeten der USA in der Dritten Welt zu schützen, brauchen wir mehr nationalen Konsens über Mittel und Zwecke […] [einschließlich] Sicherheitshilfe auf höherer Ebene und weniger gesetzliche Beschränkungen, die ihre Wirksamkeit beeinträchtigen«.26 26 In Discriminate Deterrence wurde ein parteiübergreifender Kontext angestrebt, um ein Metaparadigma für die US-Außen-(und Innen-)Politik zu etablieren, das Kontinuität zwischen republikanischen und demokratischen Regierungen gewährleisten sollte. Die ehemaligen Staatssekretäre der Regierungen Nixon, Ford und Carter, Henry Kissinger und Cyrus Vance, befürworteten einen politisch gemäßigten Kurs der Kontinuitäten und drängten zu einem Schulterschluss zwischen Parteien und Regierungszweigen, um »gemeinsame politische Ziele« und »innerstaatlichen Konsens« zu erreichen. Die Rufe nach der Verringerung von Sozialleistungen und -programmen im Inland gingen dabei mit der Forderung einher, die Unterschiede zwischen den beiden Parteien hinsichtlich außenpolitischer Initiativen zu minimieren, wobei Kissinger und Vance argumentierten, dass »Schwächen der US-Wirtschaft zu den schwerwiegendsten und dringendsten außenpolitischen Herausforderungen zu zählen seien […]. [E]s bedarf zügig angewendeter Haushaltskürzungen, um die Erosion unserer internationalen Position zu stoppen.« Henry Kissinger, Cyrus Vance, »Bipartisan Objectives for American Foreign Policy«, in: Foreign Affairs (1988), S. 899-921, hier S. 910. Siehe auch The Commission On Integrated Long-Term Strategy, Discriminate Deterrence: Report of the Commission on Integrated Long-Term Strategy, Washington, D. C., 1988. In Anlehnung an diese politische Haltung forderte George Bush in

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Amerikanische wirtschaftliche Militärhilfen flossen an Verbündete in der Dritten Welt, die regelmäßig von der internationalen Gemeinschaft wegen Menschenrechtsverletzungen verurteilt wurden: El Salvador, Guatemala, Israel sowie die nicaraguanischen und angolanischen Contras. Ebenso finanzierten die Vereinigten Staaten jene, die sich vornehmlich Frauen, Kinder und Nichtkombattant:innen – sogenannte soft targets (weiche Ziele) – in landwirtschaftlichen Genossenschaften, Schulen, Kindertagesstätten und Krankenhäusern zur Zielscheibe nahmen. Michael Klare verspottet die Popularität dieser Kriegsführung von Contra wars oder »low-intensity conflicts« (Konflikte von geringer Intensität) unterhalb der Kriegsschwelle unter den US-Bürger:innen, die sich somit einverstanden mit jener Ausübung staatlicher Gewalt zeigten: Low-intensity conflict bezieht sich per definitionem auf jenes Ausmaß an Mord, Verstümmelung, Folter, Vergewaltigung und Brutalität, das aufrechterhalten werden kann, ohne zu Hause eine weit verbreitete öffentliche Missbilligung auszulösen. Anders ausgedrückt: LICs sind die ultimative »Yuppie«-Kriegsführung – sie erlauben es privilegierten Amerikaner:innen, weiterhin Eigentumswohnungen zu kaufen, schicke Designerkleidung zu tragen, teure Mahlzeiten in noblen Restaurants zu essen und im Allgemeinen stilvoll zu leben, ohne ihr eigenes Leben zu riskieren, ohne einberufen zu werden, ohne höhere Steuern zu zahlen und vor allem ohne von grauenhaften Szenen auf dem Fernseher abgelenkt zu werden.27

Bis 1988 waren US-finanzierte Contras für rund 45 000 Kriegsopfer in Nicaragua verantwortlich. Der Kongress stellte den Contras in Nicaragua mehr als 100 Millionen US-Dollar zur Verfügung, und weitere Millionen wurden illegal durch die CIA und andere private Operationen transferiert, wie später in den Anhörungen der Iran-Contra-Affäre ans Licht kam. Im südlichen Afrika, einer Region weit entfernt von den Vereinigten Staaten, nichtsdestotrotz jedoch zu deren Einflussbereich gerechnet, waren die Opferzahlen ebenfalls immens. Im Zuge der Aufhebung des Clark Amendment, welches die Unterstützung der UNITA (União Nacional para a Independência Total de Angola; dt. Nationale Union für die völseiner Antrittsrede ein gesteigertes Maß an Überparteilichkeit in einer Nation mit mehr »Willen als Geldbeutel«. 27 Michael Klare, »Low-Intensity Conflict: The War of the ›Haves‹ against the ­›Havenots‹«, in: Christianity and Crisis, 1. 2. 1988, S. 12 f., hier S. 12.

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lige Unabhängigkeit Angolas) durch die CIA, geheim oder durch den Kongress bestätigt, untersagte, leitete die Reagan-Regierung in den Jahren 1986 und 1987 15 Millionen US-Dollar beziehungsweise 27 Millionen US-Dollar direkt an UNITA weiter. In Angola wurden durch die UNITA unter der Leitung von Jonas Savimbi Zehntausende getötet oder zu Invaliden gemacht. Die Verlegung von Landminen auf landwirtschaftlichen Feldern, Straßen und Schulhöfen führte zu einer der weltweit größten Amputationsraten in der Bevölkerung. Der Einsatz von Folter, Vergewaltigung und Verstümmelung waren keine außergewöhnlichen Mittel zur Destabilisierung sozialistischer Regierungen oder Bewegungen in diesen Contra Wars. Auch in der sogenannten Friedenszeit der 1980er Jahre, so Klare, befand sich »Amerika im Krieg – umfangreich, aggressiv und allen Anzeichen nach durch die Fortsetzung jener Aktivitäten«.28 Klare erläuterte diesbezüglich vier Arten von low-intensity conflicts: (1) Aufstandsbekämpfung, das heißt Kämpfe gegen revolutionäre Guerillas, wie sie gegenwärtig in El Salvador und auf den Philippinen geführt werden; (2) Aufstandsunterstützung, das heißt US-Unterstützung für antikommunistische Aufständische wie beispielsweise die Contras in Nicaragua und die UNITA in Angola; (3) Notfalloperationen in Friedenszeiten, das heißt polizeiartige Aktionen wie die US-Invasion in Grenada und die Bombardierung von Tripolis im April 1986; und zuletzt (4) militärische »Machtdemonstration«, das heißt bedrohliche militärische Manöver, wie sie die USA […] im Persischen Golf durchführen.29

Die Flächenbombardements Panamas und des Irak in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren waren solche Machtdemonstrationen des US-Militärs, dessen intelligente Hightech-Bomben den Medien und Patriot:innen ein Spektakel boten. In den frühen 1990er Jahren scheinen die mittlerweile weithin bekannt gewordenen, wenn nicht in publizistische Sensationen verwandelten Aspekte der US-Verstrickung in friedenserhaltende Missionen in Somalia und Haiti von den Polizierungsmethoden der low-intensity conflicts gerade unterhalb der offiziellen Kriegsführung abzuweichen. Insbesondere in Haiti, das als ehemalige französische Kolonie für Foucault von besonderem Interesse hät28 Ebd. 29 Ebd.

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te gewesen sein können, treten Destabilisierung und low-intensity conflicts in verschiedenen Formen auf. Zum Beispiel finanzierte die CIA 1987 Kandidat:innen für haitianische Wahlen, und Aristides Anhänger:innen vertreten die Ansicht, dass sie ebenso den Putsch von 1991 vorantrieb, der ihn ins Exil zwang. Von der US-Regierung wird dies bestritten. Jedoch wurde der Militärputsch, der den demokratisch gewählten Aristide stürzte, von in den Vereinigten Staaten ausgebildeten Militäroffizieren geleitet. Mainstream­medien wie das Time-Magazin berichteten über die Verbindungen zwischen der US-Regierung und terroristischen Organisationen in George Churchs 1994 erschienener Story »Lying Down with Dogs«.30 Dieser Artikel enthüllte, dass Emmanuel »Toto« Constant, der die FRAPH (Front Révolutionnaire Armé pour le Progrès d’Haiti) leitete – eine Terrororganisation, welche die Tontons Macoutes von »Papa Doc« (François Duvalier) und »Baby Doc« (Jean-Claude Duvalier) ablöste –, auf der Gehaltsliste der CIA und der Defense Intelligence Agency stand, als er 1993 die FRAPH organisierte. Bezahlt wurde Constant sogar noch nach dem Eingeständnis seiner Verbindung zur FRAPH, die dafür berüchtigt ist, Demokratiebefürworter:innen mit Macheten zu verstümmeln. Die US-Präsenz in Haiti, vorgeblich zu dem Zweck, Menschen vor Mord, Folter und Vergewaltigung durch das Militär, die Polizei und die paramilitärische FRAPH zu schützen, steht im Widerspruch zur verdeckten Finanzierung der haitianischen Polizei und des Paramilitärs durch die Vereinigten Staaten. Die haitianische Staatsbürgerin Alerte Belance verklagt mit dem Center for Constitutional Rights die haitianischen paramilitärischen Terrorist:innen, die sie zur Invalidin machten. Im Oktober 1994 beschrieb National Public Radio die Angriffe der US-Bataillone gegen die FRAPH und die Versuche, die Folterungen und Ermordungen der FRAPH einzudämmen, um die Präsidentschaft von Aristide wiederherzustellen. Im gleichen Beitrag wurden Presseberichte damit zitiert, dass die CIA die FRAPH geschaffen habe, um die prodemokratische Bewegung zu untergraben, die Aristide gewählt hatte.

30 George J. Church, »Lying Down with Dogs«, in: Time, 17. 10. 1994, S. 26-29; 〈http://content.time.com/time/subscriber/article/0,33009,981621,00.html〉, letzter Zugriff 13. 1. 2022.

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Fazit Politisches Terrain zu kartographieren, ist ein ungenaues Handwerk. Durch politische Konflikte, Kompromisse und Resignation werden die Grenzen kontinuierlich neu gezogen. Die Orientierung zu verlieren, ist dabei der Normalfall, folgt man veränderten Karten mit Abstraktionen über Polizieren und polizierte Körper – Abstraktionen, die, wenn sie nicht die Auseinandersetzung mit der Rassifizierung von Körpern und Bestrafung suchen, zu falschen Vorstellungen von Körperpolitik und Repression führen. Um den disziplinierten Körper zu romantisieren oder zu verfälschen, muss man ihn nur als unstrukturiert durch race, Geschlecht und Klasse darstellen. Lehnt man hingegen die Illusion eines Individuums in einer kastenlosen Gesellschaft ab, welche aus race-losen und geschlechtslosen Körpern besteht, kann man rassistischer und sexistischer Gewalt in staatlichen Praktiken und Theorien, die solche Gewalt maskieren, entgegentreten. Die Teile oder Gegenstücke des US-Militärs – die örtliche Polizei, die Texas Rangers, der Immigration and Naturalization Service, die Drug Enforcement Agency, das Federal Bureau of Investigation und die Central Intelligence Agency – sowie der Einsatz von Söldner:innen und Contras deuten auf eine Ausweitung von Gewalt in der Polizierung hin, welche Überwachen und Strafen nicht zu fassen bekommt. Es dürfte große Schwierigkeiten bereiten, sich auf Foucaults Theoretisierung zu berufen, um jene Verbreitung rassistisch motivierter staatlicher Gewalt zu kritisieren, die wohl die dem politischen Terrorismus ähnlichste Form ist, die die Vereinigten Staaten bislang demonstriert haben. Aus zwei Gründen liefert Überwachen und Strafen nur begrenzte theoretische Ressourcen für den Widerstand gegen staatliche Gewalt in den USA. Erstens verunklart oder verschweigt Foucault die vom Staat verübte rassistische Gewalt. Zweitens unterscheidet sein Argument, dass der bürokratische Staat und das atomisierte Individuum die kollektive Gemeinschaft verdrängen und den politischen Widerstand durch gemeinschaftliche Macht verringern, nicht zwischen Macht und Herrschaft, wodurch suggeriert wird, nur der Staat sei mächtig. (Foucault behauptet, dass die »privaten Individuen« und »der Staat« »die Gemeinschaft und das öffentliche Leben« als Schlüsselelemente sozialer Beziehungen abgelöst haben; ÜS, 187

S. 278.) Überwachen und Strafen zeichnet das hobbesianische Bild einer politischen Gesellschaft, in der die politischen Träume von der Parzellierung der Pest oder der Verbannung der Lepra geprägt werden. Diese Politik der Parzellierung und Verbannung bringt jedoch nicht die Entwicklung, sondern den Niedergang eines politischen Traums von Gemeinschaft zum Ausdruck. Ganz anders argumentiert Hannah Arendt. Von der Annahme ausgehend, dass Macht eher gemeinschaftlicher Praxis entspringt als Dominanz und dass in Gemeinschaft Pluralität und Vielfalt zum Ausdruck kommen, kritisiert Arendt die Weigerung der Nationalstaaten, ihren Expansionismus einzuschränken: Wären Souveränität und Freiheit wirklich dasselbe, so könnten Menschen tatsächlich nicht frei sein, weil Souveränität, nämlich unbedingte Autonomie und Herrschaft über sich selbst, der menschlichen Bedingtheit der Pluralität widerspricht. Kein Mensch ist souverän, weil Menschen, und nicht der Mensch, die Erde bewohnen […].31

Diese Pluralität und Macht manifestieren sich in der Tat in den Herausforderungen gegenüber der Weigerung seitens des Staats, sich durch internationales Recht und Menschenrechtskonventionen disziplinieren zu lassen. Vielleicht weil Foucault keine Möglichkeit für Opposition sucht oder sieht, widmet sich Überwachen und Strafen nicht dem Widerstand gegen Gewalt. Dies scheint darauf hinzudeuten, dass nur die soziale Arbeit innerhalb des Kerkersystems Lebensfähigkeit erhält. Das Foucault’sche Schweigen hinter sich lassend, gelingt es denjenigen, die das politische Leben außerhalb des Kerkersystems in den Blick nehmen, um rassistisch motivierte staatliche Gewalt im In- und Ausland zu analysieren, die weitgehend verdeckte oder abgestrittene Existenz von Terror und Widerstand in den durch die US-Politik verursachten Infernos zu erfassen. Übersetzt von Marvin Ester

31 Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1994, S. 229.

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III.

Polizei

Alex S. Vitale Grenzen der Polizeireform Tamir Rice und John Crawford wurden beide in Ohio erschossen, weil es der erste Impuls eines Polizisten war zu schießen. Anthony Hill außerhalb von Atlanta, Antonio Zambrano-Montes in Pasco, Kalifornien, und Jason Harris in Dallas wurden alle von Polizist:innen erschossen, die ihre psychischen Erkrankungen missverstanden. Oscar Grant in Oakland, Akai Gurley in Brooklyn und Eric Harris in Tulsa wurden alle »aus Versehen« erschossen, weil Polizist:innen nicht vorsichtig genug mit ihren Waffen umgingen. In North Charleston, South Carolina, schoss der Polizeibeamte Michael Slager Walter Scott in den Rücken, weil er vor einer Verkehrskontrolle und einer möglichen Verhaftung wegen versäumter Unterhaltszahlungen geflohen war – und schob ihm dann im Rahmen einer Vertuschung, die von anderen Beamt:innen gestützt wurde, Beweise unter. Auf Staten Island wurde Eric Garner unter anderem aufgrund einer übermäßig aggressiven Reaktion der Polizei auf seinen angeblichen Verkauf loser Zigaretten getötet. Die jüngsten Tötungen so vieler unbewaffneter schwarzer Männer durch die Polizei unter so vielen verschiedenen Umständen haben das Thema Polizeireform in einer Weise auf die nationale Agenda gesetzt, wie es seit über einer Generation nicht mehr der Fall war.1 Gibt es einen explosionsartigen Anstieg der Polizeigewalt? Es steht außer Frage, dass die amerikanische Polizei ihre Waffen häufiger einsetzt als die Polizei in jeder anderen entwickelten Demokratie. Leider haben wir keine genauen Informationen über Anzahl oder Art der Tötungsdelikte durch die Polizei. Trotz eines Gesetzes aus dem Jahr 2006, das die Meldung dieser Informationen vorschreibt (und das 2014 neu autorisiert wurde), halten sich viele Polizeidienststellen nicht daran. Forscher:innen müssen auf unabhängige Informationen wie lokale Nachrichtenberichte zurückgreifen, um die Zahlen zusammenzustellen. Eine Untersuchung des Guardian und der Washington Post dokumentierte 1100 Todesfälle 1 Teile dieses Kapitels sind zuvor in Nation, Gotham Gazette und Al Jazeera America erschienen.

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im Jahr 2014, 991 im Jahr 2015 und 1080 im Jahr 2016 – weniger als in den 1960er und 1970er Jahren, aber immer noch viel zu viele.2 Afroamerikaner:innen sind überproportional häufig Opfer von Polizeischüssen; schwarze Teenager:innen werden bis zu 21-mal wahrscheinlicher als weiße Jugendliche von der Polizei getötet,3 auch wenn dies oftmals proportional der race von bewaffneten Täter:innen und Opfern von Schießereien generell entspricht.4 Racial profiling ist nach wie vor weit verbreitet, und viele communities of color erleben invasive und respektlose Polizeiarbeit. Die prominenten Fälle von Ferguson und North Charleston sind kaum Ausnahmen; Schwarze und Latinx bilden die überwältigende Mehrheit der Zielpersonen bei geringfügigen polizeilichen Interaktionen, von Strafzetteln über Durchsuchungen bis hin zu Verhaftungen wegen kleiner Vergehen. Sie berichten häufig, dass sie feindselig und entwürdigend behandelt werden, obwohl sie nichts falsch gemacht haben.5 In New York City sind 80 bis 90 Prozent der Zielpersonen solcher Interaktionen people of color.6 Diese Form der Polizeiarbeit basiert auf der Vorstellung, dass people of color mehr Verbrechen begehen und deshalb härteren Polizeitaktiken unterworfen werden müssen. Die Polizei argumentiert, dass Anwohner:innen in communities mit hoher Kriminalität oft 2 Vgl. »Police Shootings Database 2015-2022« [o. V.], in: Washington Post, laufend aktualisiert; 〈https://www.washingtonpost.com/graphics/investigations/policeshootings-database/〉; »The Counted« [o. V.], in: The Guardian, laufend aktualisiert, 〈https://www.theguardian.com/us-news/series/counted-us-police-killings〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 3 Vgl. Nicole Flatow, »Report: Black Male Teens Are 21 Times More Likely to Be Killed by Cops than White Ones«, in: ThinkProgress, 10. 10. 2014, 〈https://archi ve.thinkprogress.org/report-black-male-teens-are-21-times-more-likely-to-be-kil led-by-cops-than-white-ones-72fb08a1dbda/〉; Jeff Kelly Lowenstein, »Killed by the Cops«, in: ColorLines.com, 4. 11. 2007, 〈https://www.colorlines.com/authors/ jeff-kelly-lowenstein〉, letzter Zugriff 16. 2. 2022. 4 Vgl. Jaeah Lee, »Exactly How Often Do Police Shoot Unarmed Black Men?«, in: Mother Jones, 15. 8. 2014, 〈https://www.motherjones.com/politics/2014/08/ police-shootings-michael-brown-ferguson-black-men/〉, letzter Zugriff 16. 2. 2022. 5 Vgl. Jennifer H. Peck, »Minority Perceptions of the Police: A State-of-the-art Review«, in: Policing: An International Journal of Police Strategies and Management, 38/1 (2015), S. 173-203. 6 Vgl. Victoria Bekiempis, »Why Do NYC’s Minorities Still Face So Many Misde­ meanor Arrests?«, in: Newsweek, 28. 2. 2015, 〈http://www.newsweek.com/nypd-racearrest-numbers-309686〉, letzter Zugriff 16. 2. 2022.

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polizeiliche Maßnahmen fordern. Dabei wird übersehen, dass diese communities auch bessere Schulen, Parks, Bibliotheken und Arbeitsplätze fordern, diese Leistungen aber selten erbracht werden. Ihnen fehlt die politische Macht, um echte Dienstleistungen und Unterstützung zu erhalten, die ihre communities sicherer und gesünder machen. In Wahrheit würden weiße communities der wohlhabenden und Mittelklasse der ständigen Belästigung und Demütigung, wie sie die Polizei in den communities of color praktiziert, ein Ende setzen, unabhängig von der Kriminalitätsrate. Diejenigen, die die Polizei oder ihre Autorität in Frage stellen, sind häufig verbalen Drohungen und physischen Angriffen ausgesetzt. Im Jahr 2012 filmte der junge Alvin Cruz aus Harlem, der wiederholt von der Polizei ohne Rechtfertigung angehalten und durchsucht worden war, eine Interaktion mit der Polizei, in der er den Grund für die Kontrolle hinterfragte. Daraufhin beschimpfte ihn der Polizeibeamte, verdrehte ihm den Arm hinter seinem Rücken und sagte: »Alter, ich werde dir deinen verdammten Arm brechen, dann werde ich dir in die verdammte Fresse schlagen.« (»Dude, I’m gonna break your fuckin’ arm, then I’m gonna punch you in the fuckin’ face.«)7 Selbst wohlhabende und einflussreiche people of color sind nicht immun: 2009 wurde Harvard-Professor und PBS-Persönlichkeit Henry Louis Gates jr. von der Polizei in Cambridge, Massachussetts, in seinem eigenen Haus verhaftet; er hatte seine Schlüssel verloren, und ein Nachbar hatte die Polizei gerufen, um einen Einbruch zu melden. Der Vorfall veranlasste Präsident Obama zu einer Erklärung: Ich denke, es ist fair zu sagen, dass erstens jeder von uns ziemlich wütend wäre; dass zweitens die Polizei von Cambridge dumm gehandelt hat, als sie jemanden festnahm, obwohl es bereits Beweise dafür gab, dass er in seinem eigenen Haus war, und dass es drittens, was wir meiner Meinung nach unabhängig von diesem Vorfall wissen, in diesem Land eine lange Geschichte gibt, in der Afroamerikaner:innen und Latinx unverhältnismäßig oft von der Polizei angehalten werden.8 7 Zit. n. Shane Dixon Kavanaugh, »NYPD Officers Stop-and-Frisk Harlem Teen, Threaten to Break His Arm: Audio Recording«, in: nydailynews.com, 9. 10. 2012, 〈https://www.tribpub.com/gdpr/nydailynews.com/〉; letzter Zugriff 16. 2. 2022. 8 Zit. n. Helene Cooper, »Obama Criticizes Arrest of Harvard Professor«, in: The New York Times, 22. 7. 2009, 〈https://www.nytimes.com/2009/07/23/us/polit ics/23gates.html〉; letzter Zugriff 16. 2. 2022.

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Ein Teil des Problems rührt von einer »Kriegermentalität«9 her. Die Polizei sieht sich selbst oft als Soldat:innen in einem Kampf mit der Öffentlichkeit und nicht als Hüter:innen der öffentlichen Sicherheit. Die Tatsache, dass sie mit Panzern und anderen militärischen Waffen ausgestattet sind, dass viele von ihnen Militärveteran:innen sind10 und dass militarisierte Einheiten wie SWAT (Special Weapons and Tactics) während des War on Drugs (»Krieg gegen die Drogen«) in den 1980er Jahren und des War on Terror (»Krieg gegen den Terror«)11 nach dem 11. September 2001 wuchsen, fördert diese Wahrnehmung ebenso wie den Glauben, dass ganze Bevölkerungsgruppen ordnungswidrig, gefährlich, verdächtig und letztlich kriminell sind. Wenn diese Vorstellung vorherrscht, ist die Polizei zu schnell bereit, Gewalt anzuwenden. Exzessive Gewaltanwendung ist jedoch nur die Spitze des Eisbergs überbordender Polizeiarbeit. Derzeit befinden sich mehr als zwei Millionen Amerikaner:innen im Gefängnis oder im Strafvollzug und weitere vier Millionen auf Bewährung. Viele haben das Wahlrecht verloren; die meisten haben große Schwierigkeiten, nach ihrer Entlassung eine Arbeit zu finden, und werden sich nie von dem Verdienstausfall und der verlorenen Berufserfahrung erholen. Bei vielen wurden die familiären Beziehungen unwiderruflich zerstört, und sie wurden in schwerere und gewalttätige Kriminalität getrieben. Trotz zahlreicher gut dokumentierter Fälle von falschen Verhaftungen und Verurteilungen wurde die überwiegende Mehrheit dieser Verhaftungen und Verurteilungen rechtmäßig und nach einem ordnungsgemäßen Verfahren durchgeführt – aber ihre Auswirkungen auf Einzelpersonen und communities sind unglaublich zerstörerisch.

  9 Sue Rahr, Stephen Rice, »From Warriors to Guardians: Recommitting American Penal Culture to Democratic Ideals«, in: New Perspectives in Policing (April 2015), 〈https://www.ojp.gov/pdffiles1/nij/248654.pdf〉. 10  Vgl. Simone Weichselbaum, Beth Schwartzapfel, »When Veterans Become Cops, Some Bring War Home«, in: USA Today, 30. 3. 2017, 〈https://eu.usatoday. com/story/news/2017/03/30/when-veterans-become-cops-some-bring-war-ho me/99349228/〉. 11 Vgl. Radley Balko, Rise of the Warrior Cop: The Militarization of America’s Police Forces, New York 2003.

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Reformen Jegliche Bemühung, Polizeiarbeit gerechter zu gestalten, muss die Probleme der exzessiven Gewalt, des overpolicing und der Respektlosigkeit gegenüber der Öffentlichkeit angehen. Ein Großteil der öffentlichen Debatte konzentriert sich auf neue und verbesserte Ausbildungsmaßnahmen, die Diversifizierung der Polizei und den Einbezug von Bürger:innen in die Polizeiarbeit als Reformstrategien, zusammen mit verstärkten Maßnahmen zur Rechenschaftspflicht. Die meisten dieser Reformen gehen jedoch an den grundlegenden Problemen der Polizeiarbeit vorbei.

Training Der auf Video festgehaltene Tod von Eric Garner wegen des angeblichen Verkaufs von losen Zigaretten ließ sofort Rufe nach einer zusätzlichen Ausbildung von Polizist:innen in der Anwendung von Gewalt bei Verhaftungen laut werden. Die Beamt:innen wurden beschuldigt, einen verbotenen Würgegriff angewandt und nicht auf seine Bitten reagiert zu haben, dass er nicht atmen könne. Als Reaktion darauf kündigten Bürgermeister Bill de Blasio und Polizeipräsident William Bratton an, dass alle Beamt:innen des New York Police Department (NYPD) ein zusätzliches Training zur Anwendung von Gewalt absolvieren würden, damit sie in Zukunft Verhaftungen auf eine Art und Weise vornehmen könnten, die weniger wahrscheinlich zu schweren Verletzungen führen würde, ebenso wie ein Training in Methoden zur Deeskalation von Konflikten und zur effektiveren Kommunikation mit der Öffentlichkeit. Eine solche Ausbildung ignoriert zwei wichtige Faktoren bei Garners Tod. Der erste ist die ungerührte Missachtung seines Wohlbefindens durch die Beamten, die seine Schreie »Ich kann nicht atmen« ignorierten, und ihre anscheinend gleichgültige Reaktion auf seine Beinahe-Leblosigkeit, während sie auf einen Krankenwagen warteten. Dies ist ein Problem von Werten und trifft den Kern der Behauptung, dass für zu viele Polizist:innen das Leben von Schwarzen nicht zählt. Die zweite ist die Broken-Windows-Polizeiarbeit,12 12 Mit Broken Windows (»zerbrochene Fenster«) ist eine polizeiliche Nulltoleranzstrategie gemeint, die zuerst in New York City angewandt wurde. [Anm. d. Hg]

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die sich auf geringfügige Verstöße konzentriert und diese intensiv, invasiv und aggressiv verfolgt. Diese Theorie wurde erstmals 1982 von den Kriminologen James Q. Wilson und George Kelling dargelegt.13 Sie präsentierten bestehende Verhaltensforschung, die zeigte, dass ein Auto, das unbeaufsichtigt auf einer Straße steht, normalerweise in Ruhe gelassen wird, aber wenn nur eine Scheibe des Autos zerbrochen ist, wird das Auto schnell vandalisiert. Die Lektion: Das Versäumnis, Pflege und Wartung zu signalisieren, entfesselt die latenten zerstörerischen Tendenzen der Menschen. Wenn Städte also kriminalitätsfreie Nachbarschaften schaffen oder erhalten wollen, müssen sie aktiv dafür sorgen, dass die Bewohner:innen den Druck verspüren, sich zivilisierten Normen des öffentlichen Verhaltens anzupassen. Der beste Weg, dies zu erreichen, ist der Einsatz der Polizei, um Menschen auf subtile und weniger subtile Weisen daran zu erinnern, dass ordnungswidrige, ungehorsame und unsoziale Verhaltensweisen nicht akzeptiert werden. Wenn dies nicht geschieht, werden die niederen Instinkte der Menschen die Oberhand gewinnen und räuberisches Verhalten herrschen, in einer Rückkehr zu einem Hobbes’schen »Krieg aller gegen alle«. Die Entstehung dieser Theorie im Jahr 1982 ist mit einem größeren Strang des städtischen neokonservativen Denkens verbunden, der bis in die 1960er Jahre zurückreicht. Wilsons ehemaliger Mentor und Mitarbeiter Edward Banfield, ein enger Bekannter des neoliberalen Ökonomen Milton Friedman an der University of Chicago, hat viele der Ideen entwickelt, die den neuen konservativen Konsens über Städte ausmachen. In seinem wegweisenden Werk The Unheavenly City von 1970 argumentiert Banfield, dass die Armen in einer Kultur der Armut gefangen sind, die sie weitgehend immun gegen staatliche Hilfe macht: Obwohl er mehr »Muße« hat als fast jeder andere, ist die Gleichgültigkeit (»Apathie«, wenn man so will) des Unterschichtmenschen so groß, dass er selten auch nur die einfachsten Reparaturen an dem Ort vornimmt, an dem er lebt. Schmutz und Verfall stören ihn nicht, und er kümmert sich nicht um die Unzulänglichkeit öffentlicher Einrichtungen wie Schulen, Parks, Krankenhäuser und Bibliotheken; ja, wo solche Dinge vorhanden 13 Vgl. James Q. Wilson, George Kelling, »Broken Windows: The Police and Neigh­ borhood Safety«, in: The Atlantic, März 1982, 〈https://www.theatlantic.com/ magazine/archive/1982/03/broken-windows/304465/〉, letzter Zugriff 16. 2. 2022.

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sind, kann er sie durch Nachlässigkeit oder sogar durch Vandalismus zerstören.14

Anders als Banfield, der sich in vielerlei Hinsicht für die Abkehr von Städten einsetzte, beklagte Wilson den Niedergang der städtischen Gebiete. Zusammen mit Autor:innen wie Fred Siegel15 wies er auf die doppelte Bedrohung durch das Versagen der liberalen Führung und die angeblichen moralischen Mängel der Afroamerikaner:innen hin. Alle drei argumentierten, dass die Liberalen unwissentlich das urbane Chaos entfesselt hätten, indem sie die formalen sozialen Kontrollmechanismen untergruben, die das Leben in der Stadt ermöglichen. Indem sie die radikaleren Forderungen der späteren städtischen Ausprägungen der Bürgerrechtsbewegung unterstützten, hätten sie die Polizei, Lehrer:innen und andere staatliche Kräfte der Verhaltensregulierung so geschwächt, dass nun Chaos herrsche. Wilson schloss sich Banfield an und glaubte fest daran, dass die Möglichkeiten des Staates, den Armen zu helfen, stark begrenzt waren. Finanzielle Investitionen in sie würden vergeudet; neue Dienste würden ungenutzt bleiben oder zerstört werden; sie würden in ihrer trägen und zerstörerischen Art weitermachen. Da die Wurzel des Problems entweder ein grundlegendes moralisches und kulturelles Versagen war oder ein Mangel an externen Kontrollen, um die inhärent destruktiven menschlichen Triebe zu regulieren, musste die Lösung die Form von bestrafenden sozialen Kontrollmechanismen annehmen, um Ordnung und nachbarschaftliche Stabilität wiederherzustellen.16 Wilsons Ansichten waren von einem grenzwertigen Rassismus geprägt, der sich als eine Mischung aus biologischen und kulturellen Erklärungen für die »Minderwertigkeit« der armen Schwarzen herausstellte. Zusammen mit Richard Herrnstein schrieb er das Buch Crime and Human Nature, in dem die beiden argumentierten, dass es wichtige biologische Determinanten der Kriminalität 14 Edward Banfield, The Unheavenly City: The Nature and the Future of Our Urban Crisis, Boston 1970, S. 63. 15 Vgl. Frederick Siegel, The Future Once Happened Here: New York, D. C., L. A., and the Fate of America’s Big Cities, New York 1997. 16 Vgl. James Q. Wilson, Richard Herrnstein, Crime and Human Nature: The De­ finitive Study of the Causes of Crime, New York 1985.

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gebe.17 Während race nicht zu den Kerndeterminanten gehörte, öffnete die Sprache über IQ und Körperbau die Tür zu einer Art Soziobiologie, die Herrnstein dazu veranlasste, zusammen mit Charles Murray, der ebenfalls ein enger Bekannter von Wilson war, das offen rassistische Buch The Bell Curve zu verfassen.18 Um den Niedergang der Zivilisation aufzuhalten, erklärten sie, müsse die Polizei dazu befähigt werden, nicht nur Verbrechen zu bekämpfen, sondern zu einer moralischen Autorität auf den Straßen zu werden. Die neue Rolle der Polizei bestand darin, in die alltäglichen Störungen des städtischen Lebens einzugreifen, die zu dem Gefühl beitrugen, alles sei erlaubt. Die Broken-Windows-Theorie kehrt auf magische Weise die tatsächliche kausale Beziehung zwischen Kriminalität und Armut um und argumentiert, dass Armut und soziale Desorganisation das Ergebnis und nicht die Ursache von Kriminalität seien und dass das ordnungswidrige Verhalten der wachsenden »Unterschicht« das Gefüge der Städte selbst zu zerstören drohe. Broken Windows Policing ist im Kern ein zutiefst konservativer Versuch, die Verantwortung für die sich verschlechternden Lebensbedingungen auf die Armen selbst abzuwälzen und zu behaupten, die Lösung für alle sozialen Missstände seien immer aggressivere, invasivere und restriktivere Formen der Polizeiarbeit, die mehr Verhaftungen, mehr Schikanen und letztlich mehr Gewalt beinhalten. Solange die Ungleichheit weiter zunimmt, werden auch Obdachlosigkeit und öffentliche Unruhen zunehmen, und solange die Menschen weiterhin den Einsatz der Polizei zur Bewältigung von Unruhen akzeptieren, werden wir eine kontinuierliche Ausweitung der polizeilichen Macht und Autorität auf Kosten der Menschenund Bürger:innenrechte erleben. Der Befehl, Eric Garner zu verhaften, kam von der obersten Abteilungsebene, als Reaktion auf Beschwerden lokaler Händler:innen über illegale Zigarettenverkäufe. Dies als ein Verbrechen zu behandeln, das den Einsatz einer Spezialeinheit in Zivil, zweier Sergeants und uniformierter Verstärkung erfordert, erscheint übertrieben und sinnlos. Garner hatte mehr als ein Dutzend früherer Polizeikontakte unter ähnlichen Umständen erlebt, einschließlich 17 Vgl. ebd. 18 Richard Herrnstein, Charles Murray, The Bell Curve: Intelligence and Class Structure in American Life, New York 2010.

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Aufenthalten im Gefängnis; dies hatte nichts an seinem Verhalten geändert oder seine Situation oder die der community verbessert. Kein noch so gutes Verfahrenstraining wird diesen grundlegenden Makel der öffentlichen Ordnung beheben. Viele Befürworter:innen von Reformen fordern auch Schulungen zur kulturellen Sensibilität, um rassistische Vorurteile abzubauen. Der Großteil dieser Art von Trainings basiert auf der Idee, dass die meisten Menschen zumindest einige ungeprüfte Stereotypen und Vorurteile haben, die sie nicht bewusst wahrnehmen, die aber ihr Verhalten beeinflussen. Kontrollierte Experimente zeigen immer wieder, dass Menschen in Simulationen schneller und eher auf eine schwarze Person schießen als auf eine weiße. Schulungen wie »Fair and Impartial Policing« nutzen Rollenspiele und Simulationen, um den Beamt:innen zu helfen, diese Vorurteile zu erkennen und bewusst zu korrigieren.19 Diversity- und multikulturelles Training sind weder neue Ideen noch besonders effektiv. Die meisten Beamt:innen haben bereits irgendeine Form von Diversity-Training durchlaufen und beschreiben es teilweise als politisch motiviertes Wohlfühlprogramm, das nichts mit der Realität der Polizeiarbeit zu tun hat. Forscher:innen haben keine Auswirkungen auf Pro­ bleme wie rassistische Unterschiede bei Verkehrskontrollen oder Verhaftungen wegen Marihuana festgestellt; sowohl implizite als auch explizite Voreingenommenheit bleiben bestehen, selbst nach gezielten und intensiven Schulungen. Das liegt nicht unbedingt daran, dass die Polizist:innen ihren rassistischen Vorurteilen treu bleiben – obwohl dies der Fall sein kann20 –, sondern daran, dass der institutionelle Druck bestehen bleibt. US-amerikanische Polizist:innen erhalten umfangreiches Training. Fast alle Beamt:innen besuchen eine organisierte Polizeiakademie, und viele haben vorher College- und/oder Militärerfahrung. Es gibt auch fortlaufende Schulungen; große Abteilungen haben ihr eigenes Schulungspersonal, während kleinere Abteilungen sich auf staatliche und regionale Schulungszentren verlassen. In vielen (US-amerikanischen) Bundesstaaten gibt es einheitliche Behörden 19  Vgl. »Fair and Impartial Policing«, 〈https://fipolicing.com/〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 20 Vgl. Joaquin Sapien, »Racist Posts on NY Cop Blog Raise Ire at Time of Tension«, in: ProPublica, 16. 4. 2015, 〈http://www.propublica.org/article/racist-postson-ny-cop-blog-raise-ire-at-time-of-tension〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022.

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für die Ausbildung von Polizeibeamt:innen (Police Officer Standards and Training, POST), die Mindeststandards festlegen, Ausbildungspläne entwickeln und über bewährte Verfahren beraten. Obwohl die Ausbildungsstandards für Polizist:innen in den USA immer noch dezentraler sind als in vielen Ländern mit nationalen Polizeikräften und -akademien, hat das neue POST-System viel dazu beigetragen, die Standards zu erhöhen und Verfahren zu vereinheitlichen. Doch auch nach der Ausbildung haben die Beamt:innen oft nur unzureichende Kenntnisse über die Gesetze, die sie durchsetzen sollen. Die Polizei vertreibt regelmäßig junge Menschen ohne rechtliche Grundlage von Straßenecken, führt Durchsuchungen ohne hinreichenden Verdacht durch und ergreift in einigen Fällen Durchsetzungsmaßnahmen, die auf ungenauer Kenntnis der Gesetze beruhen. In Victoria, Texas, griff ein Beamter einen älteren Mann an, den er angehalten hatte, weil er keinen Zulassungsaufkleber auf seinem Nummernschild hatte. Der Mann versuchte zu erklären, dass das Fahrzeug ein Händlerkennzeichen hatte, das in Texas von der Aufkleberpflicht befreit. Als der Beamte sich weigerte zuzuhören, versuchte der Mann, seinen Chef in dem Autohaus herbeizurufen, in dem die Konfrontation stattfand. Anstatt an der Aufklärung des Fehlers zu arbeiten, versuchte der Beamte, den Mann zu verhaften, und verletzte ihn dabei mit einem Taser so schwer, dass er ins Krankenhaus eingeliefert wurde.21 Bei der anschließenden Befragung bestand der Beamte darauf, dass der passive Widerstand des Mannes eine Bedrohung dargestellt habe, die er habe neutralisieren müssen. Da der Vorfall auf der Kamera am Armaturenbrett des Polizeiwagens aufgezeichnet wurde, wurde der Beamte entlassen. Die Ausbildung, die Polizist:innen an der Akademie erhalten, ist oft ganz anders als das, was sie von ausbildenden Beamt:innen und Kolleg:innen lernen. Der Schwerpunkt liegt auf strenger Disziplin und dem Auswendiglernen von Gesetzen und Regeln, und es wird mehr Wert auf ein korrektes Erscheinungsbild als auf das inhaltlich 21 Vgl. Melissa Crowe, Bianca Montes, »Victoria Police Officer Investigated for Tasing Driver, 76«, in: Victoria Advocate, 13. 12. 2014, 〈https://www.victoriaadvo cate.com/news/local/victoria-police-officer-investigated-for-tasing-driver-76/ar ticle_e7a77ef9-54b7-5026-bd00-58241bf7e024.html〉, letzter Zugriff 20. 2. 2022.

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Wesentliche gelegt. Kadett:innen erhalten wenig substantielle Ratschläge, wie sie in einem komplexen Umfeld Entscheidungen treffen können, erinnern sich zwei erfahrene Polizeibeamte.22 Selbst sympathisierende Darstellungen wie die Reality-TV-Show The ­Academy zeigen ein militarisiertes Trainingsumfeld, das von Drill-Sergeants geleitet wird, die versuchen, die Rekrut:innen durch Strafdrill und demütigende persönliche Angriffe zu »brechen«. Wenn Polizist:innen ihren Dienst antreten, sagen ihnen ihre Kolleg:innen oft als Erstes, dass sie alles vergessen sollen, was sie in der Akademie gelernt haben. In gewisser Weise ist die Ausbildung sogar Teil des Problems. In den letzten Jahrzehnten hat sich der Schwerpunkt stark in Richtung Sicherheitstraining für Polizist:innen verschoben. Seth Stoughton, ein ehemaliger Polizeibeamter, der inzwischen Juraprofessor ist, zeigt, wie Beamt:innen immer wieder Szenarien ausgesetzt sind, in denen scheinbar harmlose Interaktionen mit der Öffentlichkeit – wie etwa Verkehrskontrollen – tödlich enden.23 Der endlos wiederholte Punkt ist, dass jede Begegnung im Bruchteil einer Sekunde tödlich enden kann, wenn die Beamt:innen nicht jederzeit bereit sind, tödliche Gewalt anzuwenden. Wenn Polizist:innen in jeden Einsatz mit der Vorstellung hineingehen, dass es ihr letzter sein könnte, behandeln sie die Menschen, denen sie begegnen, mit Angst und Feindseligkeit und versuchen, sie zu kontrollieren, anstatt mit ihnen zu kommunizieren – und sind viel schneller bereit, bei der geringsten Provokation oder Unsicherheit Gewalt anzuwenden. Nehmen wir den Fall von John Crawford, einem afroamerikanischen Mann, der von einem Beamten in einem Walmart in Ohio erschossen wurde. Crawford hatte ein Luftgewehr aus einem Regal genommen und trug es beim Einkaufen durch den Laden. Ein anderer Kunde rief den Notruf und meldete einen Mann mit einer Waffe im Laden. Die Videokamera des Ladens zeigt, dass einer der 22 Vgl. Peter Moskos, Cop in the Hood: My Year Policing Baltimore’s Eastern District, Princeton 2008; David Couper, Arrested Development: A Veteran Police Chief Sounds Off about Protest, Racism, Corruption, and the Seven Necessary Steps to Improve our Nation’s Police, CreateSpace Independent Publishing Platform 2012. 23 Vgl. Seth Stoughton, »Law Enforcement’s ›Warrior‹ Problem«, in: Harvard Law Review, 128 (2015), S. 225-234.

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gerufenen Beamten ohne Vorwarnung schoss, während Crawford telefonierte.24 In Ohio ist es legal, eine Waffe offen zu tragen, aber der Beamte war darauf trainiert worden, beim Anblick einer Waffe tödliche Gewalt anzuwenden. Der involvierte Polizeibeamte wurde nicht angeklagt, und Crawfords Freundin wurde noch während ihrer Befragung zu dem Vorfall eingeschüchtert und bedroht.25 In ähnlicher Weise fuhr in South Carolina ein State Trooper in seinem Auto an einer Tankstelle auf einen jungen Mann zu und fragte ihn nach seinem Führerschein. Dieser lehnte sich in das Auto, um der Aufforderung nachzukommen, und der Beamte schoss ohne Vorwarnung auf ihn: bei unerwarteter Bewegung schießen.26 Ein Teil dieser Betonung tödlicher Gewaltanwendung ist auf den Aufstieg unabhängiger Schulungsunternehmen zurückzuführen, die sich auf die Ausbildung von ehemaligen Polizei- und Militärangehörigen spezialisiert haben. Einige dieser Unternehmen bedienen sowohl militärisches als auch polizeiliches Klientel und fokussieren militärisch geprägte Ansätze und die »Kriegermentalität«. Das Unternehmen CQB (Close Quarters Battle) rühmt sich, tausende von lokalen, staatlichen und bundesstaatlichen Polizeikräften sowie amerikanische und ausländische Militäreinheiten wie die US-Marines, Navy Seals und auch dänische, kanadische und peruanische Spezialeinheiten ausgebildet zu haben. Der Schwerpunkt liegt auf »kampferprobten Taktiken«.27 Trojan Securities bildet sowohl militärische als auch polizeiliche Einheiten aus und bietet Polizeischulungen für eine Vielzahl von Waffen in zahlreichen Umgebungen an, darunter der fünftägige Kurs »Police Covert Surveillance and 24 Vgl. Jon Swaine, »Ohio Walmart Video Reveals Moments Before Officer Killed John Crawford«, in: The Guardian, 25. 9. 2014, 〈https://www.theguardian.com/ world/2014/sep/24/surveillance-video-walmart-shooting-john-crawford-police〉, letzter Zugriff 20. 2. 2022. 25 Vgl. Jon Swaine, »Video Shows John Crawford’s Girlfriend Aggressively Questioned After Ohio Police Shot Him Dead at Walmart«, in: The Guardian, 14. 12. 2014, 〈https://www.theguardian.com/us-news/2014/dec/14/john-crawfordgirlfriend-questioned-walmart-police-shot-dead〉, letzter Zugriff 20. 2. 2022. 26 Vgl. Jason Hanna u. a., »Video Shows Trooper Shooting Unarmed Man, South Carolina Police Say«, in: CNN, 26. 9. 2014, 〈https://edition.cnn.com/2014/09/25/ justice/south-carolina-trooper-shooting/index.html〉, letzter Zugriff 20. 2. 2022. 27 »Close Quarters Battle: SRT Training, CQB Training, SWAT Training, High Risk Entry Training, Combat Training, Hand-to-Hand Combat«, 〈www.cqb.cc〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022.

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Intelligence Operations« (»verdeckte Überwachungs- und Geheimdienstoperationen«).28 Dieses Problem ist besonders akut, wenn es um SWAT-Teams geht. Ursprünglich in den frühen 1970er Jahren für den Umgang mit seltenen extremistischen Gewalttaten, verbarrikadierten Verdächtigen oder bewaffneten Konfrontationen mit der Polizei geschaffen, befassen sich diese Einheiten heute fast ausschließlich mit der Vollstreckung von Haftbefehlen im Drogenbereich und gehen sogar mit automatischen Waffen und Schutzwesten auf Streife. Diese Einheiten verletzen regelmäßig die verfassungsmäßigen Rechte von Menschen, töten und verstümmeln Unschuldige – oft als Folge davon, dass diese sich am falschen Ort aufhalten – und töten ihre Haustiere.29 Diese paramilitärischen Einheiten werden zunehmend eingesetzt, um auf Protestaktivitäten zu reagieren. Die militarisierte Reaktion auf die Proteste in Ferguson hat möglicherweise zur Eskalation des Konflikts dort beigetragen; es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass der Polizeichef von Saint Louis County zuvor Leiter des SWAT-Teams war. Diese Einheiten durchlaufen ein umfangreiches Training, das zum Teil durch die Beschlagnahme von angeblichem Drogengeld finanziert wird. Als die US-amerikanische Bundesregierung begann, die Ausbildung und Ausrüstung von SWAT-Teams im Rahmen der letzten großen nationalen Polizeireform in den 1970er Jahren zu finanzieren, die eigentlich die Beziehungen zwischen Polizei und der Bevölkerung verbessern und die Polizeibrutalität durch optimiertes Training verringern sollte, flossen stattdessen Millionen in Trainingsprogramme, die zum Aufstieg von SWAT-Teams, Drogenbekämpfung und militarisierten Taktiken zur Kontrolle von Menschenmengen führten.

Diversität Es steht außer Frage, dass die rassifizierte Differenz zwischen der überwiegend weißen Polizei und den überwiegend afroamerikanischen Polizierten in Ferguson, Missouri, zur Intensität der Proteste 28 Vgl. »Trojan Securities International«, 〈https://www.trojansecurities.com/〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 29 Vgl. Balko, Rise of the Warrior Cop.

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gegen die Tötung von Mike Brown beigetragen hat. Reformer:innen fordern oft, mehr Polizist:innen of color einzustellen, in der Hoffnung, dass sie die communities mit mehr Würde, Respekt und Fairness behandeln. Leider gibt es wenig Belege, die diese Hoffnung stützen. Selbst die diversesten Einsatzkräfte haben große Probleme mit racial profiling und Voreingenommenheit, und einzelne schwarze und Latinx-Polizist:innen scheinen sehr ähnlich wie ihre weißen Kolleg:innen zu arbeiten. Auf nationaler Ebene entspricht die Zusammensetzung der Polizei in Bezug auf rassifizierte Gruppen weitgehend den nationalen Bevölkerungszahlen. Die US-Bevölkerung ist zu 72 Prozent weiß; 75 Prozent der Polizist:innen im Land sind weiß. Schwarze Personen machen 13 Prozent der Bevölkerung und 12 Prozent der Polizei aus. US-amerikanische Asiat:innen und Latinx sind im Verhältnis zu ihrer Bevölkerungszahl etwas weniger vertreten, aber nicht sehr viel weniger.30 In den größten Abteilungen sind nur 56 Prozent der Beamt:innen weiß. Die Ungleichheiten scheinen in nichtweißen communities größer zu sein, weil es dort eine tiefgreifende Segregation gibt. In diesen Fällen gibt es stets eine große Anzahl weißer Polizist:innen, die in erster Linie in nichtweißen Vierteln patrouillieren. Dieser Kontrast fällt stärker auf als beim umgekehrten Verhältnis, da Weiße selten über Kontrollen durch nichtweiße Polizist:innen besorgt sind und tendenziell weniger negative Interaktionen mit der Polizei haben. Es gibt inzwischen eine Vielzahl von Untersuchungen darüber, ob die rassifizierte Positionierung einzelner Polizist:innen ihre Gewaltanwendung beeinflusst. Die meisten Studien zeigen keinen Effektzusammenhang.31 Noch beunruhigender ist der Hinweis 30 Vgl. Brian A. Reaves, »Local Police Departments, 2007«, US Department of Justice: Office of Justice Programs, Bureau of Justice Statistics (2010). 31 Vgl. Robert Friedrich, The Impact of Organizational, Individual, and Situational Factors on Police Behavior, University of Michigan: Ph. D. Dissertation, 1977; Joel Garner u. a., »Measuring the Continuum of Force Used by and Against the Police«, in: Criminal Justice Review, 20 (1994), S. 146-168; James McElvain, Augustine Kposowa, »Police Officer Characteristics and Internal Affairs Investigations for Use of Force Allegations«, in: Journal of Criminal Justice, 32/3 (2004), S. 265-279; William Terrill, Stephen Mastrofski, »Situational and Officer-Based Determinants of Police Coercion«, in: Justice Quarterly, 19/2 (2002), S. 215-248; John McCluskey u. a., »Peer Group Aggressiveness and the Use of Coercion in Police-Suspect Encounters«, in: Police Practice and Research, 6/1 (2005), S. 19-37;

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einiger weniger darauf, dass schwarze Polizist:innen mit größerer Wahrscheinlichkeit Gewalt anwenden oder Verhaftungen vornehmen, insbesondere bei schwarzen Zivilist:innen.32 Eine neue Studie deutet darauf hin, dass kleine Erhöhungen der Diversität zu schlechteren Ergebnissen führen, während sich bei großen Erhöhungen erste Verbesserungen zeigen; aber nur eine Handvoll Dienststellen erfüllte dieses Kriterium. Am Ende kommen die Autor:innen zu dem Schluss: »Es gibt keine Beweise dafür, dass die Erhöhung des Prozentsatzes schwarzer Polizist:innen eine direkte Lösung darstellt.«33 Gewaltanwendung tritt stark konzentriert bei einer kleinen Gruppe von Beamt:innen auf, die in der Regel männlich und jung sind und in Gegenden mit hoher Kriminalität arbeiten.34 Diese hohe Konzentration der Gewaltanwendung kann sich durch schwache Mechanismen der Rechenschaftspflicht und eine Kultur des Machismo, die aggressives polizeiliches Handeln formell und informell belohnt, verschärfen. Dieselben kulturellen und insti­tutionellen Kräfte verhindern, dass nichtweiße Polizist:innen sich anders verhalten. Auf der Ebene des Departments erzielen diverser aufgestellte Polizeikräfte keine höhere Zufriedenheit in den communities, insbesondere bei nichtweißen Einwohner:innen. Diese Departments haben oft auch systematische Probleme mit exzessiver Gewaltanwendung, wie die föderalen Interventionen in Detroit, Miami und Brian Lawton, »Levels of Nonlethal Force: An Examination of Individual, Situational, and Contextual Factors«, in: Journal of Research in Crime and Delinquency, 44/2 (2007), S. 163-184. 32 Vgl. Bernard Cohen, Jan Chaiken, Police Background Characteristics and Performance: Summary, Santa Monica 1972; Ivan Sun, Brian Payne, »Racial Differ­ ences in Resolving Conflicts: A Comparison between Black and White Police Officers«, in: Crime and Delinquency, 50/4 (2004), S. 516-541. Robert Brown, James Frank, »Race and Officer Decision Making: Examining Differences in Arrest Outcomes between Black and White Officers«, in: Justice Quarterly, 23/1 (2006), S. 96-126. 33 Ryan Martin, »Having More Black Officers Not a ›Direct Solution‹ for Reducing Black Killings by Police, IU Research Show«, in: Indy Star, 27. 2. 2017, 〈https://eu.indystar.com/story/news/crime/2017/02/27/having-more-blackofficers-not-direct-solution-reducing-black-killings-police-iu-researchshows/98164296/〉, letzter Zugriff 20. 2. 2022. 34 Vgl. Steven Brand, Meghan Stroshine, »The Role of Officer Attributes, Job Char­ acteristics, and Arrest Activity in Explaining Police Use of Force«, in: ­Criminal Justice Policy Review, 24/5 (2014), S. 551-572.

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Cleveland in den letzten Jahren gezeigt haben. Sowohl New York als auch Philadelphia haben sehr divers zusammengesetzte Polizeikräfte (wenn auch nicht so divers wie ihre Bevölkerung), und doch sind beide wegen exzessiver Gewaltanwendung und diskriminierender Praktiken wie Stop and Frisk (»Anhalten und Filzen«) unter intensive Beobachtung geraten. Das liegt zum großen Teil daran, dass die Prioritäten der Departments von den lokalen politischen Führungspersonen gesetzt werden, die die Einführung einer Vielzahl von intensiven, invasiven und aggressiven Maßnahmen zur Verbrechensbekämpfung vorangetrieben haben, die sich naturgemäß unverhältnismäßig stark gegen communities of color richten. Dazu gehören die Broken-Windows-Polizeiarbeit mit ihrem Schwerpunkt auf Störungen öffentlicher Ordnung und der War on Drugs, der fast ausschließlich in nichtweißen Vierteln geführt wird. Mehr schwarze und people-of-color-Polizeibeamt:innen zu haben, mag wie eine verlockende Reform klingen, aber solange die größeren Systeme der Polizeiarbeit bestehen bleiben, gibt es keine Anhaltspunkte, die eine signifikante Verringerung der Brutalität oder übermäßiger polizeilicher Kontrolle erwarten lassen würden.

Verfahrensgerechtigkeit Die Verfahrensgerechtigkeit befasst sich damit, wie das Gesetz durchgesetzt wird, im Gegensatz zur materiellen Gerechtigkeit, bei der es um die tatsächlichen Ergebnisse der Funktionsweise des Systems geht. Der Bericht von Präsident Obamas »Task Force on 21st Century Policing« (»Sonderkommission zur Polizeiarbeit im 21. Jahrhundert«) konzentriert sich auf verfahrenstechnische Reformen, wie zum Beispiel Schulungen, und ermutigt Beamt:innen, sich mehr darum zu bemühen, angehaltenen, befragten oder verhafteten Menschen Erklärungen zu liefern.35 Den Departments wird geraten, einheitliche Richtlinien für den Einsatz von Gewalt sowie Mechanismen für zivile Aufsicht und Transparenz zu schaffen. Der Bericht impliziert, dass mehr Training, Vielfalt und Kommunikation zu verbesserten Beziehungen zwischen Polizei und Zivilbevölkerung, effektiverer Verbrechensbekämpfung und größerer Legitimität der Polizei führen werden. 35 Siehe »President’s Task Force on 21st Century Policing, Final Report of the President’s Task Force on 21st Century Policing«, Washington, D. C., 2015.

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Ähnliche Ziele wurden in den späten 1960er Jahren gesetzt. Der Katzenbach-Bericht von 1967 argumentierte, dass die Wurzeln der Kriminalität in Armut und rassistischer Ausgrenzung lägen. Er erklärte aber auch, dass ein zentraler Teil der Lösung die Entwicklung eines robusteren und verfahrensmäßig fairen Strafrechtssystems sei, das das Recht aller Menschen auf Freiheit von Kriminalität aufrechterhält. In diesem Sinne forderte der Bericht eine erhebliche Ausweitung der Ausgaben auf Bundesebene für die Strafjustiz. Genauso wie lokale Wohnungsbau- und Sozialprogramme brauchten auch Gefängnisse, Gerichte und die Polizei Unterstützung der US-Bundesregierung. »Jeder Teil des Systems ist unterernährt. Es gibt zu wenig Arbeitskräfte, und diejenigen, die es gibt, sind nicht gut genug ausgebildet oder gut genug bezahlt.«36 Die Kommission drängte auf eine verbesserte Ausbildung, racial diversity, programmatische Innovationen und Forschung. Die Kerner Commission on Civil Disorders kam zu einer ähnlichen Schlussfolgerung und forderte »Training, Planung, adäquate nachrichtendienstliche Systeme und Wissen über Ghetto-communities«.37 In ähnlicher Weise verlangte Präsident Johnsons erster Entwurf des »Safe-Streets«-Gesetzes von 1968 Ressourcen für die Rekrutierung und Ausbildung von Polizeikräften, die Modernisierung der Ausrüstung, eine bessere Koordination zwischen den Strafverfolgungsbehörden und den Beginn innovativer Präventions- und Rehabilitationsmaßnahmen; er hatte dabei die Unterstützung der American Civil Liberties Union (ACLU) und anderer liberaler Reformgruppen.38 Nachdem der US-Kongress damit fertig war, gewährte das Gesetz den Staaten in erster Linie große Summen zur freien Verfügung. Johnson unterzeichnete das Gesetz trotzdem und behauptete, dass die Kernziele der Professionalisierung der Polizei erreicht werden würden. In den nächsten zehn Jahren führte dies zu einer massiven Ausweitung der Polizeiausrüstung, der SWAT-Teams 36 »President’s Commission on Law Enforcement and Administration of Justice, The Challenge of Crime in a Free Society: A Report by the President’s Commission on Law Enforcement and Administration of Justice«, Washington, D. C., 1967. 37 National Advisory Commission on Civil Disorders, Report of the National Advisory Commission on Civil Disorders, New York 1968. 38 Omnibus Crime Control and Safe Streets Act of 1968, Pub. L. 90-351, 90th Cong. (19. Juni 2007).

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und der Drogenbekämpfungseinheiten – und kaum zu Investition in Prävention und Rehabilitation. Indem sie das Problem der Polizeiarbeit als eines der unzureichenden Ausbildung und Professionalisierung konzeptualisieren, versäumen es Reformer:innen, direkt anzusprechen, wie das Wesen der Polizeiarbeit und des Rechtssystems dazu dient, rassistische Ungleichheit aufrechtzuerhalten und zu verschärfen. Indem sie »Recht und Ordnung« im Rahmen einer »farbenblinden« (colorblind) Ideologie fordern, stärken sie ein System, das Menschen of color strukturell benachteiligt und zu ihrer tiefen sozialen und rechtlichen Entfremdung beiträgt.39 Im Grunde genommen verkennen sie, dass das fundamentale Wesen des Gesetzes und der Polizei seit ihren frühesten Ursprüngen darin besteht, ein Werkzeug zur Verwaltung von Ungleichheit und zur Aufrechterhaltung des Status quo zu sein. Polizeireformen, die diese Realität nicht direkt angehen, sind dazu verdammt, sie zu reproduzieren. Das Justizministerium macht in seinem Bericht über das Ferguson Police Department den gleichen Fehler.40 Es stützt sich stark auf die Verbesserung der Ausbildung und die Ausweitung von Community-Policing-Initiativen, um rassistische Vorurteile und übermäßige Gewaltanwendung zu bekämpfen. Es fordert auch, dass die Polizei ihre historische Rolle im Zusammenhang mit rassistischer Unterdrückung anerkennt, wie es 2015 der FBI-Direktor James Comey und in geringerem Maße der Polizeipräsident William Bratton in New York getan haben.41 Ansonsten enthält das Dokument größtenteils Verfahrensreformen, die polizeiliche Vorgänge demokratischer gestalten sollen, nämlich intern durch Konsultationen mit Beamt:innen und ihren Gewerkschaften sowie extern durch Konsultationen mit der Öffentlichkeit. Die Departments werden angehalten, sich über die Außenwirkung ihrer Handlungen Gedan39 Vgl. Monica Bell, »Police Reform and the Dismantling of Legal Estrangement«, in: Yale Law Journal, 126/7 (2017), S. 2054-2150. 40 Civil Rights Division of the United States Department of Justice, Report on the Investigation of the Ferguson Police Department, Washington, D. C., 4. 3. 2015. 41 Vgl. James Comey, »Speech at Georgetown University«, Washington, D. C., 12. 2. 2015; Christopher Mathias, »Bratton Says Police to Blame for ›Worst Parts‹ of Black History, but Reform Advocates Are Unimpressed«, in: Huffington Post, 24. 2. 2015, 〈https://www.huffpost.com/entry/william-bratton-nypd-slavery-historybroken-windows_n_6746906〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022.

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ken zu machen und nichtstrafende Begegnungen mit Menschen zu schaffen, um Vertrauen aufzubauen. Diese Reformen können die Effizienz polizeilicher Vorgänge sowie die Beziehungen zwischen der Zivilbevölkerung und der Polizei verbessern. Sie werden jedoch wenig dazu beitragen, die rassistisch ungleichen Ergebnisse der Polizeiarbeit anzugehen. Das liegt daran, dass selbst eine – in Bezug auf Rassfizierung – neutrale Durchsetzung von Verkehrsgesetzen unweigerlich ärmere Bevölkerungsgruppen bestraft, die am wenigsten in der Lage sind, ihre Fahrzeuge zu warten und Bußgelder zu bezahlen. Selbst bestens ausgebildete Polizist:innen, die ordnungsgemäß vorgehen, werden immer noch Menschen für meist geringfügige Vergehen verhaften, und diese Last wird weiterhin hauptsächlich auf communities of color liegen, nicht aufgrund von Vorurteilen oder Unverständnis von Beamt:innen, sondern weil das System so angelegt ist.

Community Policing Eine allseits beliebte Vorstellung ist die eines:r Polizeibeamt:in aus der Nachbarschaft, der:die die Gemeinschaft kennt und respektiert. Leider ist dies ein mythisches Verständnis von der Geschichte und dem Wesen der urbanen Polizeiarbeit, wie wir im zweiten Teil dieses Beitrags sehen werden. Was die Polizei von anderen städtischen Behörden unterscheidet, ist, dass sie legal Gewalt anwenden kann. Während wir notwendigerweise von der Polizei verlangen, dass sie Gesetze befolgt und sich bei der Anwendung von Gewalt zurückhält, können wir nicht erwarten, dass sie angesichts ihrer derzeitigen Rolle in der Gesellschaft wesentlich freundlicher vorgeht, als es gegenwärtig der Fall ist. Wenn ihre Aufgabe darin besteht, jegliches ordnungswidrige Verhalten zu kriminalisieren und lokale Regierungsbehörden durch massive Strafzettelkampagnen zu finanzieren, wird ihr Umgang mit der Öffentlichkeit in Gegenden mit hoher Kriminalität bestenfalls ruppig und distanziert und schlimmstenfalls feindselig und gewalttätig sein. Die Öffentlichkeit wird sich ihr widersetzen und ihre Bemühungen als aufdringlich und illegitim ansehen; die Polizei wird auf diesen Widerstand mit Abwehrhaltung und verstärktem Durchsetzungswillen reagieren. Community Policing ist unter diesen Bedingungen nicht möglich. 209

Ein anderer Teil des Problems liegt in der Beschaffenheit von Gemeinden. Steve Herbert hat gezeigt, dass Gemeindeversammlungen in der Regel von langjährigen Mitgliedern der Gemeinde besucht werden, die ihr Zuhause eher besitzen als mieten, ebenso wie von Gewerbetreibenden und Vermieter:innen.42 Die Perspektiven von Mieter:innen, Jugendlichen, Obdachlosen, Migrant:innen und den sozial am stärksten Ausgegrenzten sind selten vertreten. Infolgedessen konzentrieren sie sich in der Regel auf Probleme der »Lebensqualität«, die eher mit geringfügigem ordnungswidrigen Verhalten als mit schwerer Kriminalität zu tun haben. In den gesamten USA basieren Community-Policing-Programme auf der Idee, dass Gemeindemitglieder alle möglichen Sorgen um die Zustände ihrer Nachbarschaft an die Polizei herantragen sollen, die dann gemeinsam mit ihnen Lösungen entwickelt. Die Werkzeuge, die der Polizei zur Lösung dieser Probleme zur Verfügung stehen, beschränken sich jedoch in der Regel auf Strafverfolgungsmaßnahmen wie Verhaftungen und Strafzettel. Community-Polic­ ing-Programme fordern regelmäßig einen stärkeren Rückgriff auf die Police Athletic Leagues,43 positive und gewaltfreie Aktivitäten mit Jugendlichen und einen stärkeren Fokus auf das Kennenlernen von Gemeindemitgliedern. Es gibt jedoch kaum Forschungsergebnisse, die darauf hindeuten, dass diese Bemühungen die Kriminalität reduzieren oder helfen, übermäßiges Polizieren (overpolicing) zu überwinden. Geringfügiger Drogenhandel und -konsum führen zu einer enormen Anzahl von Anrufen bei der Polizei. Die Kriminalisierung dieser Aktivitäten hat nichts dazu beigetragen, die Verfügbarkeit und die negativen Auswirkungen von Drogen auf Individuen oder communities zu verringern. Sie hat jedoch erhebliche negative Folgen für die Verhafteten und stellt eine große Belastung für die lokalen und staatlichen Ressourcen dar. Die Forschung zeigt, dass Community Policing Gemeinschaften nicht in sinnvoller Weise stärkt. Es erweitert zwar den Zugriff der 42 Vgl. Steve Herbert, Citizens, Cops, and Power: Recognizing the Limits of Community, Chicago 2006. 43 Police Athletic Leagues sind in vielen Polizeirevieren eingeführte Programme, im Rahmen derer Polizeibeamt:innen Jugendliche im Sport trainieren und ihnen bei den Hausaufgaben helfen. Das Ziel dieser Programme ist die Stärkung der Beziehungen zwischen Polizei und communities. [Anm. d. Hg.]

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Polizei, trägt aber nicht dazu bei, die Belastung durch overpolicing für nichtweiße und arme Menschen zu verringern. Es ist an der Zeit, stattdessen in die Gemeinschaften zu investieren. Partizipative Gestaltung von Haushaltsbudgets und verstärkte politische Verantwortlichkeit auf lokaler Ebene werden mehr zum Wohlergehen der Zivilbevölkerung beitragen als die Ausweitung von Macht und Umfang der Polizeiarbeit.

Mehr Verantwortlichkeit Die Polizei zur Verantwortung zu ziehen, ist ein weiterer Ansatz von Reformer:innen. Aktivist:innen haben in vielen Fällen verlangt, dass Polizist:innen strafrechtlich verfolgt werden, obwohl dies selten erfolgreich ist, weshalb zum Teil neue Formen der polizeilichen Verfolgung gefordert werden. Viele Reformer:innen, die von der Untätigkeit von lokalen Behörden frustriert sind, drängen auf Interventionen seitens der Bundesregierung, obwohl diese Strategie bisher selten zielführend war. Schließlich haben sich Körperkameras der Polizei als mögliche technische Lösung etabliert, die jedoch wiederum ernsthafte Bedenken hinsichtlich der Privatsphäre aufwerfen.

Unabhängige Staatsanwaltschaft Es gibt erhebliche rechtliche, institutionelle und soziale Hindernisse für die Strafverfolgung von Polizeibeamt:innen. Zwar liegen hierzu wenig harte Zahlen vor, aber es ist sehr selten, dass ein:e Polizist:in erfolgreich strafrechtlich wegen Tötung eines Menschen im Dienst zur Verantwortung gezogen wird, ohne dass Vorwürfe von Korruption im Spiel sind. Ein kürzlich veröffentlichter Bericht zeigte, dass in den letzten zehn Jahren nur 54 Polizist:innen wegen tödlicher Schüsse im Dienst angeklagt und von diesen lediglich elf verurteilt wurden.44 Ihre durchschnittliche Strafe beträgt nur vier Jahre, bei einigen waren es sogar nur ein paar Wochen. Die wenigen Verurteilungen, die es gab, resultierten hauptsächlich 44 Vgl. Kimberly Kindy, Kimbriell Kelly, »Thousands Dead, Few Prosecuted«, in: Washington Post, 11. 4. 2015, 〈https://www.washingtonpost.com/sf/investigative/ 2015/04/11/thousands-dead-few-prosecuted/〉, letzter Zugriff 20. 2. 2022.

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aus eindeutigen Videobeweisen oder den Zeug:innenaussagen von Polizeikolleg:innen. Sobald nach einer polizeilichen Schießerei ermittelt wird, werden strukturelle Hindernisse für eine Anklage und Strafverfolgung sichtbar. Wenn Grund zu der Annahme besteht, dass Schüsse möglicherweise nicht gerechtfertigt waren, tendieren Staatsanwält:innen dazu, eine größere Rolle zu übernehmen. Sie müssen sich jedoch auf die Kooperationsbereitschaft der Polizei verlassen, um notwendige Beweise zu sammeln, einschließlich Zeug:innenaussagen. Polizeibeamt:innen am Tatort sind manchmal die einzigen Zeug:innen des Geschehens. Die enge Arbeitsbeziehung zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft, die normalerweise bei Morduntersuchungen von Vorteil ist, führt daher in den meisten dieser Fälle zu einem grundlegenden Interessenkonflikt. Infolgedessen zögern Staatsanwält:innen oft, Fälle von polizeilichen Schießereien aggressiv zu verfolgen. Dazu kommt, dass Staatsanwält:innen in den USA in der Regel gewählt werden und daher häufig nicht als Behinderung für die Polizei angesehen werden wollen, zumal sie in der Öffentlichkeit als Verteidiger:innen von Recht und Ordnung gelten. Selbst in Zeiten erhöhter Besorgnis über polizeiliches Fehlverhalten behalten die meisten Bürger:innen eine starke Voreingenommenheit zugunsten der Polizei bei. Die Auswirkungen dessen zeigen sich im Fall von Darren Wilson, dem Polizisten, der Michael Brown in Ferguson erschossen hat. Die Staatsanwält:innen verbrachten Monate damit, Beweise zu sammeln und zu präsentieren. Dies ließ sie zwar gründlich erscheinen, schuf aber auch eine öffentliche »Abkühlungs­ phase«, in der Forderungen nach Strafverfolgung abebben konnten. Außerdem entschied sich der Staatsanwalt von Saint Louis County, in diesem Fall einen radikal anderen Ansatz zu wählen. Normalerweise präsentieren Staatsanwält:innen die Beweise kurz vor der Grand Jury und fordern diese dazu auf, konkrete Anschuldigungen in Betracht zu ziehen. Angesichts der niedrigen Schwelle des hinreichenden Verdachts und der Einseitigkeit des Verfahrens sind erfolgreiche Anklagen die Regel. In diesem Fall präsentierte der Staatsanwalt der Grand Jury zahlreiche widersprüchliche Beweise, bot aber nur wenig Rahmen für deren Bewertung, und er ließ sie ohne jede konkrete Aufforderung entscheiden, ob eine Anklage gerechtfertigt war und für welches Vergehen. Diese Strategie 212

ermöglichte es dem Staatsanwalt, sich von jeglicher Verantwortung für das Ergebnis freizusprechen, und diente der Verwirrung und Behinderung der Grand Jury, die mit großer Wahrscheinlichkeit vorsichtig reagieren und sich mit einer Anklage zurückhalten würde. Normalerweise erhält eine Grand Jury klare Vorgaben und entscheidet nur in extremen Fällen gegen die Staatsanwaltschaft. Eine Alternative, die in mehreren Staaten verfolgt wird, ist die Einrichtung einer unabhängigen Polizeistaatsanwaltschaft, die weiter von der lokalen Politik entfernt ist. Dabei ist die Hoffnung, dass solche unabhängigen Strafverfolgungen als legitimer angesehen werden, unabhängig vom Ergebnis. Außerdem könnten solche sogenannten blue desks zu Kompetenzzentren für Fachwissen über polizeiliche Verfolgungen werden. Obwohl diese Büros immer noch mit der Politik auf staatlicher Ebene verbunden sind, könnten sie sich aufgrund ihres einzigartigen Fokus besser gegen den Vorwurf einer übermäßig aggressiven Strafverfolgung sowie gegen den Vorwurf, die Polizei nicht zu unterstützen, absichern – denn dies ist ihr Hauptzweck. Doch selbst wenn die Staatsanwaltschaft motiviert ist, gibt es enorme rechtliche Hürden. Gesetze auf Staatenebene, die Gewaltanwendung erlauben, gestützt durch Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs, geben der Polizei bei der Anwendung tödlicher Gewalt einen erheblichen Spielraum. Im Fall Graham v. Connor aus dem Jahr 1989 entschied der Oberste Gerichtshof, dass Beamt:innen Gewalt anwenden dürfen, um eine rechtmäßige Verhaftung durchzuführen oder wenn sie vernünftigerweise annehmen, dass die Person eine ernsthafte physische Bedrohung für sich selbst oder andere darstellt.45 Das bedeutet, dass die Polizei bei jeglichem Widerstand gegen eine Festnahme Gewalt anwenden darf. In Missouri und an vielen anderen Orten rechtfertigt jeder wahrgenommene Versuch, einem:r Beamt:in die Waffe abzunehmen, die Anwendung tödlicher Gewalt. Das Gericht erklärte auch, die Gesamtheit der Umstände müsse mit einem Verständnis dafür beurteilt werden, dass Polizist:innen Entscheidungen notwendigerweise in Sekundenschnelle treffen. Daher sind Erwägungen wie die Körpergröße und die vorangegangenen Handlungen des:der mutmaßlichen Täter:in sowie die Ausbildung und Führung des:der Beamt:in Faktoren, die 45  Graham v. Connor, 490 U. S. 386 (1989).

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eine Jury berücksichtigen kann. In einigen Fällen spiegeln die Gesetze der Bundesstaaten nicht einmal die neuen Bundesstandards wider. Jüngste Polizeiverfolgungen in Missouri und South Carolina wurden durch staatliche Gesetze erschwert, die es der Polizei erlauben, auf fliehende Verdächtige zu schießen. Eine weitere Herausforderung, die nicht durch unabhängige Staatsanwält:innen gelöst werden kann, ist die Geisteshaltung der Geschworenen. Populäre Kultur und politischer Diskurs sind von Aussagen über die zentrale Bedeutung der Polizei für die Aufrechterhaltung der grundlegenden strukturellen Integrität der Gesellschaft sowie über die Gefährlichkeit ihrer Arbeit durchdrungen – so fehlgeleitet beides auch sein mag. Der rechtliche Standard für die Verurteilung von Polizist:innen verstärkt diese Tendenz, sich mit ihr zu identifizieren. Schließlich sind Rassismus und Voreingenommenheit trotz der Rhetorik der post-racial society in der amerikanischen Gesellschaft allgegenwärtig – insbesondere im Bereich der Strafjustiz. Es gibt zahlreiche Beweise dafür, dass die Voreingenommenheit von Geschworenen die rassistischen Unterschiede in den Ergebnissen der Strafjustiz verschärft, einschließlich falscher Verurteilungen, der Verhängung der Todesstrafe und Verurteilungen wegen Drogendelikten. Jüngste Forschungen zeigen: je näher Weiße bei schwarzen Personen wohnen, desto positiver sind ihre Ansichten über die Polizei – was kein gutes Vorzeichen für eine Anklage an einem Ort wie Saint Louis County bedeutet. Weiße Geschworene sind viel wahrscheinlicher auf der Seite der Polizei, unabhängig von der race des:der Polizist:in und der getöteten Person.

Intervention des Bundes Viele Anwält:innen haben die Bundesregierung dazu aufgefordert, sich stärker für die Rechenschaftspflicht der lokalen Polizei und für die Untersuchung von systematischen Maßnahmen und Praktiken einzusetzen. Dabei berufen sie sich auf die Konflikte, die wir in Bezug auf die örtliche Polizei und die Bezirksstaatsanwaltschaften festgestellt haben.46 Zur Zeit der Bürgerrechtsbewegung musste die 46 Vgl. Judith Browne Dianis, »Why Police Shootings Are a Federal Problem«, in: Politico, 13. 4. 2015, 〈https://www.politico.com/magazine/story/2015/04/policeshootings-federal-problem-116927/〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022.

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Bundesregierung anerkennen, dass lokale Gerichte die Verfolgung rassistischer Gewalt verweigerten, weshalb seitdem das Justizministerium (Department of Justice, DOJ) befugt ist, Strafverfahren gegen einzelne Beamt:innen im Rahmen von Bürgerrechtsklagen zu führen. Lokale Aktivist:innen wenden sich seitdem auch an das DOJ, wenn sie den Eindruck haben, dass lokale Polizei- und politische Beamt:innen nicht auf ihre Forderungen nach systemischen Reformen reagieren. Seit 1994 – im Zuge des Rodney-King-Vorfalls – ist es dem DOJ erlaubt, bei Hinweisen auf ein Muster von Verfassungsverletzungen Untersuchungen, Berichte und sogar Gerichtsverfahren durchzuführen.47 Die Fähigkeit des DOJ, Probleme aufzudecken und Druck auf lokale Departments auszuüben, wird als eine wichtige Kontrolle der lokalen politischen und polizeilichen Macht gesehen. Darüber hinaus hoffen viele Aktivist:innen, dass die Intervention des Bundes ihnen mehr Handlungsmacht im täglichen Umgang mit der lokalen Polizei gibt. In der Praxis sind solche Strafverfolgungen und Ermittlungen selten. Örtliche Polizeidepartments zögern oft zu kooperieren, und einige weigern sich sogar, Vorschriften einzuhalten. Letzteres erzwingt zusätzliche Gerichtsverfahren, die Kosten verursachen und Reformen verzögern. Die Bürgerrechtsabteilung des DOJ hat nur fünfzig Anwält:innen, von denen einige mit anderen Aufgaben betraut sind.48 Bei Einzelklagen erfordert das Beweismaß den Nachweis der Absicht, jemanden seiner:ihrer Rechte zu berauben. In der Hektik des Moments unternommene Handlungen und jedes Anzeichen einer möglichen Bedrohung für den:die Polizist:in untergraben im Allgemeinen solche Strafverfolgungen. Darüber hinaus trägt die Besorgnis über ein starkes Eingreifen der Bundesbehörden in das lokale Justizsystem dazu bei, dass nur die eindeutigsten Fälle vor Gericht verhandelt werden – nur etwa hundert pro Jahr. Die etwa 17 000 unabhängigen Polizeidepartments des Landes haben alle ihre eigenen Verfahrensweisen und dabei eine bemerkenswerte Autonomie. Ein politischer oder juristischer Sieg, 47 Vgl. Cause of Action, U. S. Code 42 (1994), § 14141. 48 Vgl. Simone Weichselbaum, »Policing the Police«, in: Marshall Project, 26. 5. 2015, 〈https://www.themarshallproject.org/2015/04/23/policing-the-police〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022.

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der einer lokalen Polizeibehörde Änderungen auferlegt, hat möglicherweise keinen Einfluss auf die Polizeibehörde nebenan. Selbst wenn Fälle in freiwilligen Vereinbarungen oder gerichtlichen Verordnungen enden, sind die Ergebnisse selten signifikant oder von Dauer. Im Jahr 1999 schloss das DOJ eine Vereinbarung mit der Polizei des Bundesstaates New Jersey, um das Problem überproportionaler Kontrollen von schwarzen Autofahrer:innen – bekannt unter dem Stichwort driving while black – anzugehen: Vereinbart wurden einige Änderungen bezüglich der Ausbildung der Beamt:innen, ihrer Zuteilung zum Dienst, der Durchführung von Kontrollen und Durchsuchungen sowie der Verwaltung der Unterlagen. Eine Studie über ihre Praktiken fünf Jahre später zeigte jedoch, dass 75 Prozent aller Kontrollen immer noch gegen schwarze und Latinx-Autofahrer:innen gerichtet waren.49 In Cleveland brachte das DOJ die örtliche Polizei dazu, dem Verbot zuzustimmen, auf flüchtende Fahrzeuge zu schießen, es sei denn, es besteht eine unmittelbare Lebensbedrohung. Diese Vereinbarung hatte jedoch wenig Wirkung, als Beamt:innen einen unbewaffneten Fahrer und Beifahrer töteten, indem sie 137 Schüsse auf die beiden abgaben, weil sie eine Fehlzündung des Motors für einen Schuss hielten.50 Das DOJ hat die Befugnis, Bundeszuschüsse von Departments zurückzuhalten, die Änderungen verweigern, jedoch kommt das in der Praxis nie vor. Anstatt oft kosmetische Schritte zu unternehmen, um die Legitimität der Polizei zu steigern, sollte das DOJ eine langfristige Überprüfung der sich ausweitenden Rolle der Polizei bei rassistischer und Klassenungleichheit fordern. Ein Teil der Schwäche dieses Verfahrens besteht darin, dass die auferlegten Maßnahmen dazu neigen, die in diesem Kapitel skizzierten gescheiterten Reformen widerzuspiegeln: verbesserte Ausbildung, Einbau von Armaturenbrett- und Körperkameras und Verbesserung der Aktenführung. Der Bericht des DOJ über die Polizeipraktiken in Ferguson trug zwar dazu bei, inadäquate bundesstaatliche und staatliche Finanzierung für kommunale Aktivitäten 49 Vgl. David Harris, Driving While Black: Racial Profiling on our Nation’s Highways, New York 1999. 50 Vgl. Mark Berman, »Six Cleveland Police Officers Fired for Fatal ›137 Shots‹ Car Chase in 2012«, in: Washington Post, 26. 1. 2016, 〈https://www.washingtonpost. com/news/post-nation/wp/2016/01/26/six-cleveland-officers-fired-for-137-shotscar-chase-in-2012-that-led-to-deaths-of-two-unarmed-people/〉, letzter Zugriff 20. 2. 2022.

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und rassistisch voreingenommene, qualitativ schlechte Polizeiarbeit und Gerichtsverfahren aufzudecken. Er empfahl sogar, den Einsatz von gerichtlichen Vorladungen mit hohem Ermessensspielraum und Verhaftungen wegen geringfügiger Delikte einzuschränken sowie den Polizeieinsatz in Schulen zu reduzieren. Leider bestand die Hauptempfehlung darin, ein System von Community Policing zu implementieren, ohne auf alle damit verbundenen Probleme einzugehen. Es wurde nicht diskutiert, den War on Drugs, die Militarisierung der Polizei oder die Strategie des Broken Windows Policing einzuschränken. Unter der Trump-Administration gab es noch weniger Grund, sich auf die Strategie bundesweiter Intervention zur Kontrolle lokaler Polizeidepartments zu verlassen. Generalstaatsanwalt Jeff Sessions hatte deutlich gemacht, dass er der lokalen Polizei freie Hand lassen wird und dass bundesstaatliche Ermittlungen und Strafverfolgungen ebenso selten sein werden, wie sie es unter George W. Bush waren. Stattdessen müssen wir lokale Beamt:innen für das Verhalten und den Einsatz lokaler Polizist:innen direkt zur Verantwortung ziehen.

Körperkameras Reformer:innen haben auf Körperkameras als eine Möglichkeit hingewiesen, Polizist:innen von unangemessenem Verhalten abzuhalten und sie zur Verantwortung zu ziehen. Die Obama-Regierung hat diese Reform begrüßt und dafür mehrere zehn Millionen Dollar in die Polizeibudgets investiert. Kameras auf dem Armaturenbrett, die es schon länger gibt, sind auf dem Vormarsch; die Polizeidienststellen haben gerne ein Auge auf die Beamt:innen, und die Kameras scheinen die Zahl der Beschwerden von Zivilist:innen und Klagen gegen Beamt:innen reduziert zu haben. In einigen Fällen haben sie auch bei der Strafverfolgung geholfen. Es gibt aber ein Problem mit der Einhaltung der Vorschriften durch die Beamt:innen. In zahlreichen Fällen von Schießereien versäumten es die Polizist:innen, ihre Kameras einzuschalten. Zum Beispiel hatte einer der Beamten, der bei der Erschießung von Walter Scott in Charleston anwesend war, seine Kamera nicht eingeschaltet. Kein einziger der anwesenden Beamten bei einer Schießerei in Washington, D. C. im Jahr 2016 hatte seine Kamera 217

eingeschaltet. Der 18-jährige Paul O’Neil wurde in Chicago ebenfalls von Polizisten getötet, die ihre Kameras nicht eingeschaltet hatten.51 Eine Studie fand sogar heraus, dass Departments, die Kameras verwenden, eine höhere Rate an Schießereien aufwiesen.52 Letztlich sind Körperkameras nur so effektiv wie die vorhandenen Rechenschaftsmechanismen. Wenn lokale Staatsanwälte und Grand Juries nicht bereit sind, auf die von den Kameras gelieferten Beweise zu reagieren, dann werden die Gerichte kein effektives Werkzeug zur Rechenschaftslegung sein. Lokalen Untersuchungsausschüssen Zugang zu den Kameraaufnahmen zu gewähren, könnte einige Untersuchungen unterstützen, oft aber haben diese Ausschüsse nur begrenzte Befugnisse. Körperkameras werfen auch wichtige Bedenken hinsichtlich des Datenschutzes und der Grundrechte auf. Was passiert mit den Videoaufnahmen? In der Vergangenheit hat die Polizei die gesammelten Informationen verwendet, um Gruppendatenbanken – sogenannte rote Akten – von politischen Aktivist:innen anzulegen, ebenso wie riesige Datenbanken über Personen, die nicht eines kriminellen Verhaltens beschuldigt werden. Wer hat Zugang zu diesen Bildern? In einigen Fällen kann die Öffentlichkeit dieses Material einsehen. In Seattle, wo der Bundesstaat Washington gesetzlich streng zu Transparenz verpflichtet ist, hat die Polizei damit begonnen, Videos auf YouTube mit unscharfen Bildern von Personen zu veröffentlichen. Obwohl dies ein gewisses Maß an Anonymität bietet, ist es für mit den Umständen vertraute Personen durchaus möglich, Individuen zu identifizieren. Wenn der Hauptgrund für öffentliche Forderungen nach Körperkameras darin besteht, die Rechenschaftspflicht zu verbessern, dann sollte das Filmmaterial vielleicht unter der Kontrolle einer unabhängigen Stelle und nicht der der Polizei stehen.53 51  Vgl. Robin Meyer, »Body Cameras are Betraying their Promise«, in: The Atlantic, 30. 9. 2016, 〈https://www.theatlantic.com/technology/archive/2016/09/ body-cameras-are-just-making-police-departments-more-powerful/502421/〉, letzter Zugriff 20. 2. 2022. 52 Vgl. Min-Seok Pang, Paul A. Pavlou, »Armed with Technology: The Impact on Fatal Shootings by the Police«, in: Fox School of Business Research Paper No. 60020, 8. 9. 2016, S. 1-48. 53 Vgl. Alex S. Vitale, »A New Approach to Body Cameras«, in: Gotham ­Gazette, 2. 5. 2017, 〈https://www.gothamgazette.com/opinion/6899-a-new-approach-topolice-body-cameras〉, letzter Zugriff 20. 2. 2022.

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Alternativen Jede Hoffnung, die Polizei stärker zur Verantwortung zu ziehen, muss auf größerer Offenheit und Transparenz beruhen. Polizeidepartments sind notorisch defensiv und abgeschottet. Der besondere Status von Polizist:innen als einzig legitime Gewaltanwender:innen hat zu einer Mentalität des »sie gegen uns« beigetragen und folglich eine Kultur der Geheimhaltung hervorgebracht. Zu lange hat sich die Polizei von öffentlicher Einsicht, offener akademischer Forschung und Medienuntersuchungen abgeschottet. Festgefahrene Praktiken ohne legitimen Zweck, gescheiterte Maßnahmen, impliziter und expliziter Rassismus in den eigenen Reihen und eine Kultur der Feindseligkeit gegenüber der Öffentlichkeit müssen überwunden werden. Die Polizei sollte aufhören, Informationsanfragen aus der Öffentlichkeit, von Forschenden und den Medien zu bekämpfen. Sie sollte mehr öffentliche Aufsicht fördern, indem sie Zivilist:innen in wichtige Entscheidungsgremien einbezieht. So wie viele Krankenhäuser, Universitäten und Unternehmen von externen Direktor:innen geleitet werden, die aus den Gemeinden kommen, denen sie dienen, sollte die Polizei Menschen einbeziehen, anstatt sie auszuschließen. Dies wird an Orten wie Seattle und Oakland bereits praktiziert, wo die Einrichtung ziviler Polizeikommissionen zu ermutigenden Ergebnisse geführt hat. Idealerweise sollten diese Leute von den Gemeinden und nicht etwa von der Polizei oder gar von Politiker:innen gewählt werden. Dies ist eine Grundvoraussetzung für demokratische Polizeiarbeit. Wie Barry Friedman, Professor für Rechtswissenschaften an der NYU, festgestellt hat, bringt der Mangel an angemessener Kontrolle polizeilicher Handlungen unsere Gesellschaft in Gefahr, zumal neue Technologien der Polizei immer umfassendere Einblicke in unser Privatleben ermöglichen.54 Wir können uns nicht auf einige wenige wohlmeinende Einzelpersonen verlassen, um exzessive Polizeigewalt einzudämmen. Es müssen gegenläufige institutionelle Kräfte geschaffen werden, um die Polizei aktiv und sorgfältig zu kontrollieren.

54 Vgl. Barry Friedman, Unwarranted: Policing Without Permission, New York 2017.

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Polizei entwaffnen Seit 1900 hat die Polizei in Großbritannien insgesamt fünfzig Menschen getötet. Allein im März 2016 hat die US-Polizei einhundert Menschen getötet.55 Ja, es gibt mehr Menschen und mehr Waffen in den Vereinigten Staaten, aber das Ausmaß der Morde durch die Polizei geht weit über diese Differenz hinaus. Die US-Polizei verfügt über ein verblüffendes Arsenal an Waffen, von halbautomatischen Handfeuerwaffen über vollautomatische AR-15-Gewehre bis hin zu Granatwerfern und 50-Kaliber-Maschinengewehren. Ein Großteil der militärischen Waffen kommt direkt vom Pentagon durch das 1033-Programm, ein 1997 begonnenes Waffentransferprogramm. Dieses hat zur Verteilung von Ausrüstung im Wert von vier Milliarden US-Dollar geführt. Lokale Polizeidepartments können überschüssige Waffen kostenlos erhalten – ohne dass Fragen zu deren Verwendung gestellt werden. Kleine Gemeinden haben nun Zugang zu gepanzerten Mannschaftstransportern, Sturmgewehren, Granatwerfern und einer Vielzahl von »weniger tödlichen« Waffen, wie Gummigeschossen und Pfefferspray. Das Ministerium für Innere Sicherheit (Department of Homeland Security, DHS) hat außerdem 34 Milliarden US-Dollar an »Terrorismus-Zuschüssen« vergeben. Dies bedeutet einen enormen Gewinn für Militärunternehmen, die ihre Reichweite auf zivile Polizeiarbeit auszuweiten versuchen.56 SWAT-Teams sind die Hauptabnehmer von militarisierten Waffen und Einsatztaktiken geworden.57 Diese schwer bewaffneten Teams werden fast nie für ihren ursprünglichen Zweck eingesetzt, nämlich den Umgang mit Geiselnahmen oder verbarrikadierten Tatverdächtigen. Stattdessen besteht ihre Funktion mittlerweile darin, Haftbefehle zu vollstrecken, kleinere Buy-and-Bust-Drogen­ operationen zu unterstützen und in Gebieten mit hoher Kriminalität zu patrouillieren.58 Ein Großteil dieser Ausweitung wurde 55 Vgl. »The Counted« [o. V.]. 56 Vgl. American Civil Liberties Union (ACLU), War Comes Home: The Excessive Militarization of American Policing New York, 2014. 57 Vgl. Peter B. Kraska, Militarizing the American Criminal Justice System: The Changing Roles of the Armed Forces and the Police, Boston 2001. 58  Buy and Bust bezeichnet das Vorgehen der Polizei, Verdächtige undercover zu fragen, ob sie Drogen verkaufen, und diese dann im Falle eines Angebots zu verhaften. [Anm. d. Hg.]

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durch die Bundespolitik vorangetrieben, die die Ausrüstung für solche Teams entweder direkt oder durch Gesetze zum Einzug von Vermögenswerten finanziert. Der verstärkte Einsatz paramilitärischer Einheiten hat zu Dutzenden von Vorfällen geführt, bei denen die Polizei zu Unrecht Menschen getötet oder verletzt hat – darunter der Wurf einer Blendgranate in die Wiege eines Kleinkindes während einer Drogenrazzia in Georgia im Mai 2014.59 Das Kind erlitt schwere Verbrennungen und fiel ins Koma. Weder wurden Drogen gefunden noch gab es Verhaftungen. Ein Beamter wurde wegen Meineids angeklagt, jedoch vor Gericht für nicht schuldig befunden. Der örtliche Staatsanwalt drohte sogar damit, Familienmitglieder wegen der Verletzungen des Kindes anzuklagen. Die fehlende Verantwortlichkeit für verfehlte Razzien, übermäßige Gewaltanwendung und die Entmenschlichung von Verdächtigen muss behoben werden. Die Abschaffung der militärischen Ausrüstung wäre ein Anfang, aber auch Handfeuerwaffen stellen ein großes Problem dar. Sind bewaffnete Polizist:innen in den meisten Fällen wirklich das am besten geeignete Mittel? Selbst wenn Beamt:innen verletzt oder getötet werden, trägt der Besitz ihrer Waffe manchmal zu ihrer Viktimisierung bei. Straftäter:innen, die sich der Polizei entziehen wollen, tendieren eher zur Anwendung tödlicher Gewalt, wenn sie wissen, dass die Beamt:innen bewaffnet sind. Das bedeutet, die Bewaffnung macht für heftige Eskalation anfällig. Ein:e bewaffnete:r Verdächtige:r ist viel weniger geneigt, eine:n unbewaffnete:n Beamt:in zu erschießen. Heißt das, manche Menschen könnten sich einer Festnahme entziehen? Ja. Aber es bedeutet auch, viele Leben zu retten, einschließlich der Leben von Polizist:innen, und die Legitimität der Polizei insgesamt zu erhöhen. Verkehrskontrollen wären sowohl für Beamt:innen als auch die Bevölkerung weniger tödlich, wenn die Polizei nicht bewaffnet wäre.60 Während die Polizei auf der Notwendigkeit von Schusswaffen 59 Vgl. Tina Chen, »Baby in Coma after Police ›Grenade‹ Dropped in Crib During Drug Raid«, in: ABC News, 30. 5. 2014, 〈https://abcnews.go.com/blogs/head lines/2014/05/baby-in-coma-after-police-grenade-dropped-in-crib-during-drugraid〉, letzter Zugriff 20. 2. 2022. 60  Vgl. Greg Smithsimon, »Disarm the Police«, in: MetroPolitics, 29. 9. 2015; 〈https://metropolitics.org/Disarm-the-Police.html〉, letzter Zugriff 20. 2. 2022.

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besteht, feuert die große Mehrheit der Beamt:innen ihre Waffen nie ab. Manche Polizist:innen prahlen auch damit, während ihrer langen Laufbahn niemals im Dienst eine Waffe gezogen zu haben. Einige meinen, dass die Waffe abschreckend wirkt und die Autorität der Polizei stärkt, so dass keine weitere Gewalt notwendig ist. Das mag zwar bis zu einem gewissen Grad stimmen, aber sich auf die Androhung tödlicher Gewalt zu verlassen, um gesetzeskonformes Verhalten zu erreichen, widerspricht dem Prinzip von »Polizeiarbeit durch Zustimmung«. Die Tatsache, dass Polizist:innen das Bedürfnis haben, ihre Autorität ständig mit der Androhung tödlicher Gewalt zu untermauern, deutet auf eine grundlegende Legitimationskrise der Polizei hin.

Die Rolle der Polizei Was wir vor allem brauchen, ist ein grundsätzliches Überdenken der Rolle der Polizei in der Gesellschaft. Die Ursprünge und die Funktion der Polizei sind eng mit dem Management von rassistisch begründeten und ökonomischen Ungleichheiten verbunden. Die Unterdrückung von Arbeiter:innen, die strenge Überwachung und das Mikromanagement von schwarzen und people-of-color-Leben standen schon immer im Zentrum der Polizeiarbeit. Jede Polizeireformstrategie, die sich nicht mit dieser Realität auseinandersetzt, ist zum Scheitern verurteilt. Wir müssen aufhören, uns auf verfahrenstechnische Reformen zu fokussieren und die tatsächlichen Effekte der Polizeiarbeit kritisch bewerten. Wir müssen ständig neu evaluieren, was von der Polizei verlangt wird und welche Auswirkungen die Polizeiarbeit auf das Leben der Kontrollierten hat. Ein freundlicher, sanfter und divers aufgestellter Krieg gegen die Armen ist immer noch ein Krieg gegen die Armen. Wie Chris Hayes betont hat, untergräbt die Organisation von Polizeiarbeit rund um die Erhebung von Gebühren und Bußgeldern zur Finanzierung der lokalen Regierung die grundlegenden Ideale der Demokratie.61 Und solange die Polizei den Auftrag hat, gleichzeitig Kriege gegen Drogen, Kriminalität, die Störung öffentlicher Ordnung und Terrorismus zu führen, wird ihre Arbeit aggressiv und invasiv bleiben und unverhältnismäßig viele junge, arme, 61 Vgl. Chris Hayes, A Colony in a Nation, New York 2017.

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männliche und nichtweiße Menschen kriminalisieren. Wir müssen uns gegen diese gewaltige Ausweitung der Polizeimacht und ihre zentrale Rolle bei der Masseninhaftierung, dem sogenannten New Jim Crow, wehren. Was wir erleben, ist eine politische Krise. Auf allen Ebenen und in beiden Parteien haben sich unsere politischen Führungspersonen eine neokonservative Politik zu eigen gemacht, die sämtliche sozialen Probleme als Polizeiprobleme begreift. Sie haben es aufgegeben, im Rahmen ihres Regierens rassistisch begründete und wirtschaftliche Ungleichheit zu verbessern, und scheinen fest entschlossen, diese Ungleichheiten zu verschlimmern und mithilfe der Polizei die Folgen zu verwalten. Jahrzehntelang wurde die Polizei gegen die Öffentlichkeit aufgehetzt, während sie gleichzeitig freundlicher sein und die Beziehungen zu den communities zu verbessern sollte. Die Polizei kann nicht beides tun. Immer mehr Führungspersonen in der Polizei äußern sich zum Scheitern dieses Ansatzes. Nach dem tragischen Tod von fünf Polizeibeamt:innen in Dallas erklärte Chief David Brown: Wir verlangen zu viel von den Polizist:innen in diesem Land. Das tun wir. Jedes gesellschaftliche Versagen schieben wir auf die Polizei ab. Nicht genug Geld für die Psychiatrie, soll sich die Polizei darum kümmern […]. Hier in Dallas haben wir ein Problem mit streunenden Hunden; lassen wir die Polizei streunende Hunde jagen. Wenn die Schulen versagen, soll es die Polizei machen […]. Das ist zu viel verlangt. Polizeiarbeit war nie dazu gedacht, all diese Probleme zu lösen.62

Uns wird gesagt, dass die Polizeikräfte für Gerechtigkeit sorgt. Dass sie dazu da seien, die soziale Ordnung aufrechtzuerhalten, damit niemandem Gewalt angetan werden könne. Dass die neutrale Durchsetzung des Gesetzes uns alle frei mache. Dieses Verständnis von Polizeiarbeit ist jedoch weitgehend ein Mythos. Die US-amerikanische Polizei funktioniert, entgegen allen guten Absichten der Polizist:innen, als Werkzeug zur Verwaltung tief verwurzelter Ungleichheiten in einer Weise, die systematisch Ungerechtigkeiten 62 Zit. n. Brady Dennis u. a., »Dallas Police Chief Says ›We’re Asking Cops to Do Too Much in This Country‹«, in: Washington Post, 11. 7. 2016, 〈https://www.wa shingtonpost.com/news/post-nation/wp/2016/07/11/grief-and-anger-continueafter-dallas-attacks-and-police-shootings-as-debate-rages-over-policing/〉, letzter Zugriff 20. 2. 2022.

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für die Armen, sozial Marginalisierten und nichtweißen Menschen produziert. Ein Teil des Problems besteht darin, dass unsere Politiker:innen, Medien und Strafjustizinstitutionen Gerechtigkeit allzu gerne mit Rache gleichsetzen. Die Populärkultur ist von Rachephantasien durchdrungen, in denen die Geschädigten grausame Vergeltung an denjenigen üben, die sie verletzt haben. Oft handelt es sich dabei um eine Phantasie, in der die Marginalisierten auf die Mächtigen zielen; es ist eine Phantasie der Ermächtigung durch Gewalt. Polizei und Gefängnisse sind zu unseren bevorzugten Werkzeugen für die Verhängung von Strafen geworden. Unser gesamtes Strafrechtssystem ist zu einer gigantischen Vergeltungsfabrik geworden. Bei Three-Strikes-Gesetzen,63 Sexualstraftäter:innenregistern, der Todesstrafe und der Abschaffung der Bewährung geht es um Vergeltung, nicht um Sicherheit. Ganze Bevölkerungsgruppen werden als immer schon schuldig angesehen. Das ist keine Gerechtigkeit, sondern Unterdrückung. Echte Gerechtigkeit würde darauf abzielen, Menschen und communities wiederaufzubauen, Vertrauen und sozialen Zusammenhalt wiederherzustellen, den Menschen einen Weg nach vorne zu bieten, die Kriminalität fördernden sozialen Kräfte zu reduzieren und sowohl Opfer als auch Täter:innen als vollwertige Menschen zu behandeln. Unsere Polizei und unser allgemeines Justizsystem versagen in dieser Hinsicht nicht nur, sondern sehen die genannten Aspekte auch selten als ihre Aufgaben an. Es gibt Polizist:innen und andere Vertreter:innen der Strafjustiz, die ihre Macht dazu nutzen wollen, communities und Individuen zu stärken und die »guten« Menschen vor den »schlechten« zu schützen. Aber dies beruht auf der gleichen abwertenden Vorstellung von Strafe als Gerechtigkeit und läuft den politischen Imperativen der Institutionen zuwider, in denen sie arbeiten. Immer mehr unzufriedene Polizeibeamt:innen im ganzen Land sind zutiefst frustriert über den Auftrag, der ihnen erteilt wurde, und über die Werkzeuge, die sie dabei benutzen sollen. Sie sind es leid, Teil eines Systems der Massenkriminalisierung und -bestrafung zu sein. Dies 63 Three-Strikes-Gesetze sind Gesetze, die bei der dritten Straftat verpflichtend extrem hohe Mindeststrafen vorsehen, egal worin das Vergehen besteht. Der Ausdruck stammt aus dem Baseball. [Anm. d. Hg.]

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ist besonders akut unter afroamerikanischen Polizist:innen, die die verheerenden Konsequenzen der Polizeiarbeit in ihren communities sehen. Einige beginnen, ihre Stimme zu erheben, wie die NYPD Twelve, die eine Klage gegen ihre Abteilung wegen der Anwendung illegaler Quoten einreichten.64 Viele andere haben jedoch Angst, sich zu äußern. Aber nicht alle Polizist:innen meinen es gut. Zu viele beteiligen sich an Übergriffen aufgrund von Rassismus, Geschlecht, Religion oder ökonomischer Lage. Expliziter und absichtlicher Rassismus ist in der amerikanischen Polizeiarbeit allgegenwärtig. Wir sollen glauben, dass diese Vorfälle die Verfehlungen von Einzeltäter:innen sind. Doch warum schirmt die Institution der Polizeiarbeit diese Vergehen so konsequent ab? Allzu oft, wenn vorurteilsbehaftete Polizeiarbeit aufgedeckt wird, wird mit Ausflüchten reagiert, jeglicher Vorsatz der Schädigung geleugnet und jegliche Disziplinarmaßnahme der beteiligten Beamt:innen blockiert. Darin artikuliert sich die unmissverständliche Botschaft, dass die Beamt:innen über dem Gesetz stehen und ihre Befangenheit ohne Konsequenzen ausleben können. Es zeugt auch davon, dass die Institution mehr mit ihrer Verteidigung beschäftigt ist als mit der Lösung ihrer Probleme. Wird unsere Gesellschaft wirklich sicherer und gerechter, wenn Millionen von Menschen eingesperrt werden? Führt es wirklich zu einer besseren Gesellschaft, die Polizei als führende Behörde im Umgang mit Obdachlosigkeit, psychischen Erkrankungen, Schuldisziplin, Jugendarbeitslosigkeit, Immigration, Jugendgewalt, Sexarbeit und Drogen zu beauftragen? Kann die Polizei wirklich so ausgebildet werden, dass sie all diese Aufgaben professionell und ohne Gewalt erfüllt? Auf den folgenden Seiten lege ich dar, warum die Antwort auf diese Fragen nein lautet, und skizziere einen Entwurf für den Aufbau einer Alternative. Jede echte Polizeireform muss die Polizei durch handlungsfähige communities ersetzen, die daran mitarbeiten, ihre eigenen Probleme zu lösen. Arme communities of color mussten die Konsequenzen von hoher Kriminalität und Unordnung tragen. Es sind ihre Kinder, die erschossen und ausgeraubt werden. Sie tragen bis heute die Haupt64 Vgl. Saki Knafo, »A Black Police Officer’s Fight Against the NYPD«, in: The New York Times, 18. 2. 2016, 〈https://www.nytimes.com/2016/02/21/magazine/a-blackpolice-officers-fight-against-the-nypd.html〉, letzter Zugriff 20. 2. 2022.

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last der aggressiven, invasiven und demütigenden Polizeiarbeit. Sie wird niemals ein gerechtes oder effektives Mittel zur Stärkung der community sein, geschweige denn für das Ende rassistischer Ungerechtigkeit und das Erreichen von racial equality. Die communities müssen sich direkt mit den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen auseinandersetzen, die die enormen Differenzen zwischen den Bevölkerungsgruppen und die wachsende Kluft zwischen den Besitzenden und den Besitzlosen verursachen. Wir brauchen keine leeren Polizeireformen; wir brauchen eine robuste Demokratie, die Menschen dazu befähigt, von ihrer Regierung und von sich selbst echte, nicht strafende Lösungen für ihre Probleme zu verlangen.

Die Polizei ist nicht da, um dich zu schützen Die Polizei existiert, damit wir sicher sind. Jedenfalls erzählen uns das die Mainstreammedien und die Mehrheitsgesellschaft. Fernsehserien übertreiben regelmäßig die Zahl von ernsthaften Verbrechen und bauschen jene Art der Arbeit auf, die die meisten Polizist:innen den ganzen Tag tatsächlich verrichten. Verbrechensbekämpfung ist und war schon immer nur ein kleiner Teil der Polizeiarbeit. Verhaftungen wegen schwerer Verbrechen sind eine Seltenheit: Die meisten Polizist:innen führen nur eine Festnahme im Jahr wegen schwerer Verbrechen durch. Wenn ein:e Polizist:in tatsächlich eine:n Gewalttäter:in auf frischer Tat festnimmt, ist das ein besonderer Moment in ihrer Karriere. Der größte Teil der Polizei arbeitet als »Streife«. Dabei nehmen die Polizist:innen Berichte und Beschwerden auf, patrouillieren, kümmern sich um Park- und Verkehrsverstöße und Lärmbelästigung, schreiben Strafzettel und nehmen Menschen wegen geringfügiger Vergehen – wie das Trinken von Alkohol in der Öffentlichkeit, der Besitz kleiner Mengen von Drogen oder wegen vager Vorwürfe der Ruhestörung oder des ungebührlichen Benehmens – fest. Polizist:innen, die ich bei ihrer Patrouille begleiten durfte, beschreiben ihre Tage als »99  Prozent Langeweile und 1 Prozent pure Angst« – und sogar dieses eine Prozent scheint für die meisten Polizist:innen eine kleine Übertreibung zu sein. Sogar Detectives (die nur etwa 15 Prozent aller Polizeibeamt:innen ausmachen) verbringen ihre Zeit vor allem damit, Be226

richte über Straftaten zu schreiben, die sie nie aufklären werden – und zu denen sie oft nicht einmal ermitteln. Es ist der Polizei überhaupt nicht möglich, allen gemeldeten Straftaten nachzugehen. Sogar Mordermittlungen können schnell eingestellt werden, wenn nicht innerhalb von 48 Stunden eine verdächtige Person gefunden wird, wie auch die Reality-TV-Serie The First 48 betont. Die Wahrscheinlichkeit, dass in Fällen von Raub oder Diebstahl gründlich oder überhaupt ermittelt wird, ist noch geringer. Die meisten untersuchten Verbrechen werden nie gelöst.

Das liberale Verständnis von Polizeiarbeit Ich bin mit Serien wie Adam-12 aufgewachsen, die die Polizei als unvoreingenommene Hüterin des Gesetzes zeigt. Hollywood hat dem Los Angeles Police Department (LAPD) in den 1960er und 1970er Jahren infolge der Watts-Unruhen 1965 im gleichnamigen Stadtteil dabei geholfen, ein professionelles Image aufzubauen. Heute werden wir geradezu mit Polizeidramen und Reality-TV-Serien überschwemmt, die einen ähnlichen Ethos und Zweck verfolgen. Manche dieser Serien sind zwar nuancierter als andere, aber zum Großteil zeigen sie Polizeikräfte als Verbrechensbekämpfer:innen in einer schwierigen und manchmal moralisch widersprüchlichen Umwelt. Selbst wenn Polizist:innen als korrupt oder brutal dargestellt werden, wie zum Beispiel in Dirty Harry oder The Shield – Gesetz der Gewalt, ist eindeutig, dass die primäre Motivation der Polizist:innen in der Verhaftung der ›Bösen‹ besteht. Die Annahme, die Polizei existiere, um uns vor den Bösen zu beschützen, ist vor allem eine liberale Phantasie. Wie der langjährige Polizeiwissenschaftler David Bayley argumentiert: Die Polizei schützt uns nicht vor Gewalt. Das ist eines der bestgehüteten Geheimnisse des modernen Lebens. Expert:innen wissen es, die Polizei weiß es, aber die Öffentlichkeit weiß es nicht. Dabei gibt die Polizei vor, dass sie die beste Verteidigung der Gesellschaft gegen Gewalt ist, und argumentiert fortwährend, dass sie communities besser gegen Verbrechen schützen könnte, wenn ihr mehr Ressourcen – besonders Personal – zur Verfügung gestellt würden. Das ist ein Mythos.65 65 David Bayley, Police for the Future, Oxford 1996, S. 25-28.

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Bayley führt weiterhin aus, dass es keine Korrelation zwischen der Anzahl von Polizeibeamt:innen und der Kriminalitätsrate gibt. Liberale denken, die Polizei sei der legitime Mechanismus, um Gewalt im Sinne der ganzen Gesellschaft einzusetzen. Für sie repräsentiert der Staat durch Wahlen und andere demokratische Prozesse den allgemeinen Willen der Gesellschaft besser als jedes andere System; diejenigen, die gegen diese Interessen handeln, sollten daher die Polizei zum Feind haben. Die Polizei muss ihre Legitimität in der Öffentlichkeit aufrechterhalten, indem sie in einer Weise handelt, die von der Öffentlichkeit respektiert wird und im Einklang mit der Rechtsstaatlichkeit steht. Für Liberale geht es bei Polizeireformen immer darum, diese Legitimität wiederherzustellen. Das unterscheidet die Polizei in einer liberalen Demokratie von der Polizei in einer Diktatur. Das bedeutet nicht, dass Liberale glauben, Polizeiarbeit in den Vereinigten Staaten sei unproblematisch. Sie erkennen an, dass Polizeibeamt:innen manchmal ihre Prinzipien verletzen, betrachten dies aber als individuelles Versagen, das durch Disziplinarverfahren oder Verbesserungen bei Ausbildung und Aufsicht behoben werden kann. Wenn ganze Polizeidepartments sich diskriminierend, missbräuchlich oder unprofessionell verhalten, dann setzen sie sich dafür ein, Befangenheit und problematische Praktiken durch Schulungen, Veränderungen in Führungspositionen und eine Vielzahl von Aufsichtsmechanismen auszumerzen, bis die Legitimität wiederhergestellt ist. Sie argumentieren, dass rassistische oder brutale Polizeibeamt:innen aus dem Dienst entfernt und ein unparteiisches System der Strafverfolgung im Interesse der gesamten Gesellschaft wiederhergestellt werden kann. Aus ihrer Sicht sollte die Polizei besser ausgebildet werden, mehr Verantwortung übernehmen und weniger brutal und rassistisch sein. Dies sind lobenswerte Ziele, aber sie lassen die grundlegenden institutionellen Funktionen unangetastet, bei denen es nie tatsächlich um öffentliche Sicherheit oder Verbrechensbekämpfung ging. Die Politikwissenschaftlerin Naomi Murakawa weist darauf hin, dass dieses liberale Missverständnis zu den inadäquaten Polizei- und Strafrechtsreformen der Vergangenheit geführt hat.66 Laut 66 Vgl. Naomi Murakawa, The First Civil Right: How Liberals Built Prison America, Oxford 2014.

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Murakawa wollen Liberale das tiefgreifende Erbe des Rassismus ignorieren. Anstatt die zentrale Rolle von Sklaverei und Jim Crow in der Produktion von Reichtum für weiße und der Verweigerung grundlegender Lebenschancen für schwarze Menschen anzuerkennen, konzentrieren sie sich auf wenige Abhilfeprogramme – die auf ein robustes Strafrechtssystem gestützt sind, um die Haltung schwarzer Menschen zu verändern, so dass sie auf dem Arbeitsmarkt besser konkurrieren können. Das Resultat ist allerdings, dass schwarze Amerikaner:innen auf dem Arbeitsmarkt eine schlechtere Ausgangsposition haben, wahrscheinlicher mit den Strafverfolgungsbehörden in Kontakt kommen und von diesen schlechter behandelt werden. Was dem liberalen Ansatz fehlt, ist eine kritische Bewertung der Frage, welche Probleme der Staat durch die Polizei lösen lassen möchte und ob sie tatsächlich am besten dazu geeignet ist. In der Realität existiert die Polizei vor allem als ein System, das Ungleichheiten verwaltet und sogar produziert, indem sie soziale Bewegungen unterdrückt und das Verhalten armer und nichtweißer Personen streng kontrolliert: derjenigen, die auf der Verliererseite von sozialen und politischen Arrangements stehen. Bayley argumentiert, dass Polizieren historisch entstand, als sich neue politische und ökonomische Formationen bildeten und diese ein soziales Aufbegehren hervorbrachten, das sich nicht länger durch existierende private, kommunale und informelle Verfahren beherrschen ließ.67 Dies lässt sich an den frühen Ursprüngen des Polizierens zeigen, die an drei fundamentale Formen von Ungleichheit im 18. Jahrhundert gebunden sind: Sklaverei, Kolonialismus und die Kontrolle der neuen Arbeiter:innenklasse in der Industrie. Diese Entwicklungen erzeugten die von Allan Silver so bezeichnete »polizierte Gesellschaft«, in der staatliche Macht angesichts sozialer Unruhen und Forderungen nach Gerechtigkeit signifikant ausgebaut wurde.68 Wie es auch Kristian Williams beschreibt: »Die Polizei stellt den Berührungspunkt zwischen dem Zwangsapparat des 67 Vgl. David Bayley, »The Development of Modern Policing«, in: Larry K. Gaines, Gary W. Cordner (Hg.), Policing Perspectives: An Anthology, Oxford 1998, S. 5978, hier S. 67. 68 Allan Silver, »The Demand for Order in Civil Society«, in: David J. Bordua (Hg.), The Police, New York 1976, S. 1-24, hier S. 21.

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Staates und dem Leben seiner Bürger:innen dar.«69 In den Worten von Mark Neocleous ist die Polizei dazu da, »soziale Ordnungen herzustellen«, doch beruht diese Ordnung auf Systemen der Ausbeutung – und wenn Eliten das Gefühl haben, dass dieses System in Gefahr ist, ob durch Sklav:innenaufstände, Generalstreiks oder Kriminalität und Unruhen auf den Straßen, verlassen sie sich auf die Polizei, um diese Aktivitäten zu kontrollieren.70 Sofern es möglich ist, verhindert die Polizei auf aggressive und proaktive Weise die Bildung von Bewegungen und die öffentlichen Bekundungen von Wut, allerdings setzt sie, wenn notwendig, auch rohe Gewalt ein. Während sich also die spezifischen Formen der Polizeiarbeit mit der Natur der Ungleichheit und den Formen des Widerstands dagegen im Laufe der Zeit verändert haben, bleibt die grundlegende Funktion der Verwaltung der Armen, Fremden und Nichtweißen im Namen eines Systems ökonomischer und politischer Ungleichheit bestehen.

Der ursprüngliche Polizeiapparat Die meisten liberalen und konservativen Akademiker:innen begegnen diesem Argument, indem sie auf die London Metropolitan Police hinweisen, die als die »ursprüngliche« Polizei gilt. Im Jahr 1829 von Robert Peel gegründet, von dem die Bobbies ihren Namen haben, war dieser neue Polizeiapparat effektiver als die informellen und unprofessionellen »Wachen« oder die oft extrem gewalttätigen und verhassten Milizen und das Militär. Aber sogar dieses noble Unternehmen hatte nicht vor allem Verbrechensbekämpfung zum Ziel, sondern sollte die Störungen des öffentlichen Lebens unterbinden und die besitzenden Klassen vor dem Pöbel schützen. Peel entwickelte seine Ideen, während er die britische Kolonialbesatzung in Irland verwaltete und auf der Suche nach neuen Formen sozialer Kontrolle war, die trotz wachsenden Aufruhrs, Unruhen und politischer Aufstände eine stetige politische und ökonomische 69 Kristian Williams, Our Enemies in Blue: Police and Power in America, Oakland 2004, S. 119. 70 Mark Neocleous, The Fabrication of Social Order: A Critical Theory of Police ­Power, London 2000.

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Dominanz ermöglichen würden.71 Über Jahre waren diese »Ausschreitungen« von der örtlichen Miliz oder, wenn nötig, von der britischen Armee in Schach gehalten worden. Nun war die Verfügbarkeit dieser Truppen durch die napoleonischen Kriege erheblich eingeschränkt, während der Widerstand gegen die britische Besatzung wuchs. Darüber hinaus waren die Möglichkeiten von bewaffneten Truppen im Umgang mit Unruhen und anderen Formen von Massenaufständen begrenzt. Zu oft wurden sie aufgefordert, das Feuer auf Menschenmengen zu eröffnen, obwohl sie dadurch Märtyrer:innen schufen und damit den irischen Widerstand weiter anheizten. Peel war gezwungen, eine günstigere und besser legitimierte Form des Polizierens zu finden: eine »Truppe zur Friedenserhaltung«, zusammengestellt aus professionellen Polizist:innen, die Menschenmengen zu kontrollieren versuchten, indem sie sich besser in rebellische Orte integrierten, dann Unruhestifter:innen und Rädelsführer:innen identifizierten und diese durch Drohungen und Verhaftungen neutralisierten. Dies führte schließlich zu der Einrichtung der Royal Irish Constabulary, die über etwa ein Jahrhundert die wichtigste Polizeitruppe in ländlichen irischen Gebieten war. Sie spielte für die Erhaltung der britischen Herrschaft und des repressiven Landwirtschaftssystems, das durch britische Loyalisten dominiert war, eine wichtige Rolle; ein System, das weit verbreitete Armut, Hunger und Vertreibung zur Folge hatte. Das zündende Ereignis, das den Bedarf an einer professionellen Polizei verdeutlichte, war das Peterloo Massacre von 1819. Angesichts der weit verbreiteten Armut, verbunden mit der Verdrängung von Facharbeit durch die Industrialisierung, entstanden im ganzen Land Bewegungen, die politische Reformen forderten. Im August 1819 versammelten sich Zehntausende Menschen im Zentrum von Manchester, nur um zu erfahren, dass ihre Versammlung als illegal deklariert wurde. Ein Kavallerieangriff mit Säbeln tötete ein Dutzend Protestierende und verletzte einige hundert mehr. Als Reaktion darauf entwickelte der britische Staat eine Reihe von Gesetzen gegen Vagabundentum, die darauf zielten, Menschen in »produktive« Arbeit zu zwingen. Gebraucht wurde eine neue Kraft, die sowohl politische Kontrolle erhalten als auch die Etablierung 71 Vgl. Galen Broeker, Rural Disorder and Police Reform in Ireland, 1812-36, Abingdon 2015.

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der neuen Wirtschaftsordnung des Industriekapitalismus unterstützen konnte.72 Als Innenminister schuf Peel für diese Aufgabe die Metropolitan Police. Die wichtigsten Funktionen der neuen Polizei, unabhängig von ihrem Anspruch auf politische Neutralität, waren der Schutz von Eigentum, die Unterdrückung von Aufständen, die Niederschlagung von Streiks und anderen Formen des Arbeitskampfes und die Erzeugung einer disziplinierten industriellen Arbeiter:innenschaft. Dieses System wurde auf ganz England ausgedehnt, das von Bewegungen gegen die Industrialisierung überschwemmt war. Technikfeind:innen, sogenannte Ludditen, widersetzten sich der Ausbeutung durch Sabotage am Arbeitsplatz. Durch die Französische Revolution inspirierte Jakobiner:innen waren ein ständiger Anlass zur Sorge. Die größte Bedrohung ging allerdings von den Chartist:innen aus, die sich im Namen der verarmten englischen Arbeiter:innen für grundlegende demokratische Reformen einsetzen. Lokale und nichtprofessionalisierte Polizist:innen und Milizen waren nicht in der Lage, mit diesen Bewegungen einen effektiven Umgang zu finden oder die Gesetze gegen das Vagabundieren durchzusetzen.73 Zuerst fragten sie bei der Londoner Polizei an, die sich als durchaus fähig erwiesen hatte, Unruhen und Streiks mit minimaler Gewalt niederzuschlagen. Diese Einsätze trugen allerdings immer den Beigeschmack eines Eingriffs der Zentralregierung, was die Proteste oft weiter anheizte. Deshalb etablierten Städte mit der Zeit nach dem Londoner Modell ihre eigenen professionalisierten hauptamtlichen Polizeiwachen. Das Londoner Modell wurde 1838 nach Boston, Massachusetts, importiert und verbreitete sich während der folgenden Jahrzehnte in den Städten im Norden der USA. Das Modell musste allerdings den US-amerikanischen Verhältnissen angepasst werden, in denen massive Immigration und rasante Industrialisierung für noch chaotischere soziale und politische Verhältnisse sorgten. Bostons wirtschaftliche und politische Machthaber:innen brauchten eine neue Polizei, um Aufstände und die weit verbreiteten, mit der Arbeiterklasse assoziierten sozialen Unruhen zu kontrollieren.74 72 Vgl. Donald Read, Peterloo: The ›Massacre‹ and its Background, Manchester 1958; Robert Walmsley, Peterloo: The Case Re-Opened, Manchester 1969. 73 Vgl. Frederick C. Mather, Public Order in the Age of the Chartists, Manchester 1984. 74 Vgl. Roger Lane, Policing the City: Boston, 1822-1885, New York 1971.

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1837 wurden bei den Broad Street Riots irische Immigrant:innen von einem Mob von 15 000 Menschen angegriffen. Erst durch ein hinzugerufenes Regiment der Miliz – inklusive 800 Mann Kavallerietruppen – konnte der Aufstand niedergeschlagen werden. Nach diesem Ereignis bemühte sich der Bürgermeister Samuel Elliot um die Einrichtung einer professionellen zivilen Polizei. 1844 überholte New York Boston, indem es eine größere und formalisiertere Polizei schuf. New York war voll von neuen Immigrant:innen, die von der rasanten und häufig grausamen Industrialisierung eingesaugt wurden. Dies produzierte soziale Unruhen und Verelendung, die sich in Kriminalität, rassifizierten und ethnischen Konflikte und Arbeiter:innenaufständen artikulierten. Weiße und schwarze Hafenarbeiter:innen streikten und unternahmen Sabotageaktionen in den Jahren 1802, 1825 und 1828. Größere Streikwellen von Facharbeiter:innen, die durch Massenproduktion vertrieben worden waren, ereigneten sich 1809, 1822 und 1829. Diese gipfelten 1829 in der Gründung der Workingmen’s Party, die einen Zehn-Stunden-Tag forderte, und führten 1833 zur Gründung der General Trade Union. Weniger eindeutig politische Aufstände waren ebenso verbreitet und traten zeitweise in monatlichen Abständen auf. Während des Christmas Riot 1828 marschierten 4000 Arbeiter:innen durch die wohlhabenderen Bezirke, verprügelten dabei schwarze Menschen und plünderten Geschäfte. Die Nachtwache versuchte, den Aufstand aufzuhalten, gab dann aber nach – zum Schrecken der städtischen Elite, die die Ereignisse von ihren Villen und einer Party im City Hotel aus beobachtete. Als Reaktion begannen Zeitungen, den starken Ausbau und die Professionalisierung der Wachen zu fordern, was mit der Gründung der Polizei endete.75 Wohlhabende protestantische Nativist:innen fürchteten und verachteten die neuen Immigrant:innen, die oft katholisch, ungebildet, aufrührerisch und politisch militant waren und tendenziell die demokratische Partei wählten. Sie versuchten, diese Bevölkerungsgruppe zu kontrollieren, indem sie Alkoholkonsum, Glücksspiel und Prostitution einschränkten, aber auch viel banalere Verhaltensweisen und Konventionen wie die Frisuren von Frauen, die Länge von Badeanzügen und öffentliches Küssen.76 Die Gründung 75 Vgl. Paul Gilje, The Road to Mobocracy: Popular Disorder in New York City, 17631834, Chapel Hill 1987. 76 Vgl. Raymond Blaine Fosdick, Crime in America and the Police, New York 1920.

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der Chicagoer Polizei war direkt mit solchen Bemühungen verbunden. Der Bürgermeister der Law-and-Order-Partei, Levi Boone, etablierte nach seiner Wahl 1855 die »Spezialpolizei« mit der ausdrücklichen Absicht, eine Reihe von nativistischen Moralgesetzen durchzusetzen, darunter auch Einschränkungen des Alkoholkonsums. In Reaktion auf die Verhaftung von mehreren Dutzend Gastwirt:innen versuchte eine Gruppe vor allem deutscher Arbeiter:innen, die Gastwirt:innen zu befreien, was zu den Lager Beer Riots führte. Laut dem Historiker Sam Mitrani reagierten die lokalen Eliten mit einem Law-and-Order-Treffen und forderten eine noch größere und professionellere Polizei. Die Stadtregierung reagierte in der darauffolgenden Woche mit der Gründung von Chicagos erster offizieller Polizeieinheit.77 Die Einrichtung der Polizei ermöglichte erstmals die flächendeckende Durchsetzung von Sittengesetzen und sogar des Strafrechts.78 Das Sittengesetz gab dem Staat größere Macht, in das Sozialleben der neuen Immigrant:innen einzugreifen, und öffnete der Korruption die Tür. Korruption innerhalb der Polizei war im ganzen Land verbreitet. Zwar waren in den Kellern von Polizeiwachen oft Obdachlose untergebracht, und die Beamt:innen verwalteten eine große Zahl verwaister Jugendlicher. Diese Bemühungen dienten jedoch, wie der Historiker Eric Monkkonen zeigt, in erster Linie der Überwachung und Kontrolle dieser Bevölkerungsgruppen, anstatt ihnen sinnvolle Unterstützung zu bieten.79 Die frühe Polizei in den Städten der USA war korrupt und inkompetent. Polizeibeamt:innen wurden in der Regel aufgrund politischer Verbindungen und Bestechung ausgewählt. Es gab an den meisten Orten keine Prüfungen oder auch nur formale Ausbildungen. Polizeikräfte wurden von politischen Parteien auch benutzt, um die Stimmabgabe der Opposition ebenso wie Organisationen, Versammlungen und Streiks von Arbeiter:innen auszuspionieren und zu unterdrücken. Wenn ein:e ortsansässige:r Unternehmer:in gute Verbindungen zur Politik hatte, musste er/sie nur zur Polizeiwache gehen, und schon wurde ein Polizeitrupp geschickt, um Arbeiter:innen nach Bedarf zu bedrohen, zu verprügeln und zu ver77 Vgl. Sam Mitrani, The Rise of the Chicago Police: Class and Conflict, 1850-1894, Chicago 2013. 78 Vgl. Lane, Policing the City. 79 Vgl. Eric Monkkonen, Policing Urban America: 1860-1920, Cambridge 1981.

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haften. Zahlungen von Glücksspieler:innen und später auch von Schmuggler:innen waren eine wichtige Einnahmequelle für Polizeibeamt:innen, wobei die Beträge in der Befehlskette nach oben hin stiegen. Dieses System der Bestechung war Standard in vielen großen Polizeidepartments, bis sich in den 1970er Jahren Widerstand in Form von Whistleblowern wie Frank Serpico regte. Korruption ist nach wie vor ein Problem, vor allem im Zusammenhang mit Drogen und Sexarbeit. Aufgrund der Arbeit liberaler Reformer:innen, die die Legitimität der Polizei stärken wollten, ist sie jedoch eher isoliert, weniger systemisch und unterliegt einigen internen disziplinarischen Kontrollen. Die primäre Aufgabe von frühen Detectives war es, radikale Aktivist:innen und andere Unruhestifter:innen auszuspionieren und privatwirtschaftlich tätige »Diebesfänger:innen« zu ersetzen, die Diebesgut gegen Bezahlung wieder aufspürten. Interessanterweise wurden nur wenige Dieb:innen durch die neue Polizei festgenommen. In vielen Fällen arbeiteten die Polizist:innen eng mit Dieb:innen zusammen, nahmen einen Teil ihrer Einnahmen oder fungierten als Hehler:innen, die das Diebesgut gegen eine Belohnung eintauschten, so dass die Beute nicht mehr deutlich billiger auf dem Schwarzmarkt verkauft werden musste. Frühe Detectives wie Alexander »Clubber« Williams häuften durch diesen Handel ein beachtliches Vermögen an.80 Das Ausmaß von Polizeikorruption war so groß, dass Unternehmer:innen, Journalist:innen und geistliche Würdenträger:innen sich zusammenschlossen, um Korruption und Ineffizienz aufzudecken und um zu fordern, dass die Polizei sich professionalisieren und effektiver gegen Verbrechen, Laster und radikale Politik vorgehen solle.81 Als Antwort auf diese und ähnliche Bemühungen wurde Polizeiarbeit im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert mittels Prüfungen für den öffentlichen Dienst, zentralisierter Anstellungsprozesse, Schulungen und neuer Technologien professionalisiert. Offensichtliche Korruption und Brutalität wurden gezügelt und Verwaltungswissenschaften eingeführt. Reformer:innen wie August Vollmer entwickelten polizeiwissenschaftliche Kurse und Lehrbü80 Vgl. Roger G. Dunham, Geoffrey P. Alpert, Critical Issues in Policing: Contemporary Readings, Long Grove 2015. 81 Vgl. Daniel Czitrom, New York Exposed: The Gilded Age Police Scandal that ­Launched the Progressive Era, Oxford 2016.

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cher, nutzten neue Transport- und Kommunikationstechnologien und führten die Abnahme von Fingerabdrücken sowie Polizeilabore ein. Wie im weiteren Verlauf zu sehen ist, entwickelten sich viele von Vollmers Ideen aufgrund seiner Erfahrung als Teil der US-amerikanischen Besatzungskräfte auf den Philippinen.

Von den Philippinen nach Pennsylvania In einigen Fällen wurden frühe Polizeikräfte geschaffen, um Arbeiter:innenbewegungen zu unterdrücken. Pennsylvania war das Zuhause einiger der militantesten Gewerkschaftsorganisationen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Die lokale Polizei hatte zu wenig Personal und sympathisierte hin und wieder mit den Arbeiter:innen. Daher wandten sich Minen- und Fabrikbesitzer:innen an den Bundesstaat, damit dieser ihnen bewaffnete Truppen zur Kontrolle von Streiks und Aufständen zur Verfügung stellte. Die erste Reaktion des Staates war die Genehmigung eines vollständig privatisierten Polizeikommandos, der Coal and Iron ­Police.82 Lokale Arbeitgeber:innen mussten eine Auftragsgebühr von einem Dollar pro Person bezahlen, um eine von ihnen gewählte Person als offizielle:n Vertreter:in des Gesetzes zu ernennen. Diese Kommandos arbeiteten direkt für die Arbeitgeber:innen, oft unter der Aufsicht von sogenannten Pinkertons83 oder anderen privaten Sicherheitskräften. Sie wurden typischerweise als Streikbrecher:innen und Provokateur:innen eingesetzt, die gezielt Gewalt provozierten, um Arbeiter:innenbewegungen zu spalten und ihre eigene Lohnfortzahlung zu rechtfertigen. Die Coal and Iron Police war an vielen Gräueltaten beteiligt, unter anderem an dem Latimer-Massaker von 1897, in dem 19 unbewaffnete Bergleute getötet und 32 weitere von privaten Sicherheitskräften verletzt wurden. Das Fass zum Überlaufen brachte der Anthracite Coal Strike von 1902, ein offener Kampf, der fünf Monate andauerte und für Kohleknappheit im ganzen Land sorgte. Infolgedessen entschieden führende Politiker:innen und Arbeit82 Vgl. Spencer J. Sadler, Pennsylvania’s Coal and Iron Police, Chicago 2009. 83 Die Pinkerton-Detektei ist ein privater Sicherheitsdienst, der häufig gegen Gewerkschaften eingesetzt wurde und regelmäßig brutal gegen Streikende vorging. [Anm. d. Hg.]

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geber:innen, dass ein neues System des Arbeitsmanagements – bezahlt aus öffentlicher Kasse – für sie billiger und effektiver wäre und eine größere öffentliche Legitimität und Wirksamkeit hätte. Das Ergebnis war die Einrichtung der Pennsylvania State Police im Jahr 1905, die erste staatliche Polizei des Landes. Die Pennsylvania State Police war nach dem Vorbild der Philippine Constabulary aufgebaut, die die US-Besatzung auf den Philippinen aufrechterhielt und zu einem Labor für neue Polizeitechniken und -technologien wurde.84 Die dortige lokale Bevölkerung lehnte die US-amerikanische Besatzung ab und entwickelte antikoloniale Organisationen und Kämpfe. Der nationale Polizeiapparat versuchte, enge Beziehungen zu den ansässigen communities aufzubauen, um subversive Aktivitäten überwachen zu können. Die Vereinigten Staaten waren auch rasch bemüht, Telefone und Telegraphenkabel zu installieren, um schnelle Kommunikation geheimdienstlicher Informationen zu ermöglichen. Wenn es zu Demonstrationen kam, konnte die Polizei durch ein großes Netzwerk von Informant:innen diese antizipieren und Spion:innen und Provokateur:innen unter den Demonstrierenden platzieren, die für Dissens sorgten und so ermöglichten, dass Anführer:innen und andere Agitator:innen schnell verhaftet und neutralisiert werden konnten. In Pennsylvania bedeuteten die neuen paramilitärischen Truppen eine wichtige Machtumverteilung weg von den lokalen communities. Diese Umverteilung begünstigte eindeutig die Interessen großer Arbeitgeber:innen, die signifikant mehr Einfluss auf Politiker:innen auf bundesstaatlicher Ebene nehmen konnten. Obwohl vermeintlich unter ziviler politischer Kontrolle, blieb die bundesstaatliche Polizei vor allem eine wichtige Kraft bei der Niederschlagung von Streiks, wenn auch oft mit weniger Gewalt und größerer rechtlicher und politischer Autorität. Die Folgen waren jedoch weitgehend dieselben, da sie sich weiterhin am Streikbrechen und der Tötung von Bergarbeiter:innen beteiligten, wie zum Beispiel im Westmoreland County Coal Strike von 1910 und 1911. Die häufigen Angriffe führten dazu, dass slowakische Bergleute ihnen den Spitznamen »Pennsylvania Cossacks« (»Pennsylvania-Kosaken«) gaben, und veranlassten den sozialistischen Staatsabgeordneten James 84 Vgl. Alfred McCoy, Policing America’s Empire: The United States, The Philippines, and the Rise of the Surveillance State, Madison 2009.

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H. Maurer dazu, massenweise Schriftverkehr zu sammeln und zu veröffentlichen, der ihre brutalen Taktiken unter dem Titel The American Cossack beschrieb.85 Interessanterweise betonen viele der Briefe, dass die neuen Polizist:innen gewöhnlich kein Interesse an Verbrechensbekämpfung zeigten, sondern ausschließlich als öffentlich finanzierte Streikbrecher:innen dienten. Die State Commission on Industrial Relations beschrieb sie 1915 als eine äußerst effiziente Kraft, um Streiks zu zerschlagen, aber […] nicht erfolgreich darin, Gewalt im Zusammenhang mit Streiks zu verhindern, darin, die Rechte und Grundrechte der verschiedenen Parteien des Disputs aufrechtzuerhalten, oder darin, die Öffentlichkeit zu schützen. Ganz im Gegenteil, Gewalt scheint eher zu- als abzunehmen, wenn die Polizei eingesetzt wird, die Rechte und Grundrechte von Arbeiter:innen wurden in vielen Fällen verletzt.86

Jesse Garwood, eine zentrale Figur in der US-amerikanischen Besatzung der Philippinen, nutzte die Methoden militarisierter Spionage und politischer Unterdrückung, um Druck auf Berg- und Fabrikarbeiter:innen auszuüben. Diese Praktiken flossen auch in das inländische US-amerikanische Polizieren ein. Der wichtigste Polizeichef des 20. Jahrhunderts, August Vollmer, wurde nach seinem Dienst auf den Philippinen Leiter der Polizei in Berkeley, Kalifornien, und schrieb das einflussreichste Lehrbuch der modernen Polizeiarbeit. Vollmer führte die Nutzung von Funkstreifenwagen, Fingerabdrücken und andere Techniken ein, die heute zum Standard der Polizeipraxis gehören. Marinegeneral Smedley Butler, der die haitianische Polizei aufgebaut hatte und eine große Rolle in der US-Besatzung von Nicaragua spielte, diente als Polizeichef von Philadelphia im Jahr 1924 und führte eine Reihe neuer Technologien und militärischer Praktiken ein. Er wurde nach einem öffentlichen Aufschrei angesichts seiner repressiven Methoden seines Amtes enthoben.87 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bauten die USA weitere Kolonial­ polizeien in Mittelamerika und der Karibik auf. Jeremy Kuzmarov 85 Siehe Pennsylvania State Federation of Labor, The American Cossack, New York 1971. 86 »Pennsylvania State Police [Politics] Historical Marker«, 〈https://explorepahisto ry.com/hmarker.php?markerId=1-A-3BB〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 87 Vgl. Jeremy Kuzmarov, Modernizing Repression: Police Training and Nation-Build­ ing in the American Century, Amherst 2012, S. 39.

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dokumentiert das Engagement der USA bei der Einrichtung repressiver Polizeikräfte in Haiti, der Dominikanischen Republik und Nicaragua.88 Diese Kräfte sollten Teil eines progressiven Programms zur Modernisierung und zum Aufbau der Nation sein, wurden aber schnell zu Kräften der brutalen Unterdrückung im Dienste der von den USA unterstützten Regime. Diese in den USA ausgebildeten Sicherheitskräfte begingen entsetzliche Menschenrechtsverletzungen wie Folter, Erpressung, Entführung und Massenmord. Auch in der Nachkriegszeit setzten die USA weiterhin Polizeikommandos als Teil ihrer Außenpolitik ein. In Japan, Südkorea und Südvietnam gab es von den USA kreierte Polizeitruppen, deren wichtigste Ziele Geheimdienstarbeit und Aufstandsbekämpfung waren. O. W. Wilson, Oberst der Militärpolizei im Zweiten Weltkrieg, war nach dem Krieg an der Entnazifizierung Deutschlands beteiligt. Danach lehrte er Polizeiwissenschaft in Berkeley, wurde 1960 zum Leiter der Chicagoer Polizei ernannt und beeinflusste mit seinen Ideen von präventiver Polizeiarbeit eine ganze Generation von Polizeiführungskräften.

Die Texas Rangers Die USA hatten auch ihre eigene Version einer inländischen Kolonialpolizei: die Texas Rangers. Ursprünglich eine lose, inoffizielle Gruppe, wurden die Rangers angestellt, um die Interessen von neuangekommenen weißen Kolonist:innen durchzusetzen – erst unter der mexikanischen Regierung, dann in der unabhängigen Republik Texas und schließlich im Bundesstaat Texas. Ihre Hauptaufgaben waren etwa die Jagd auf indigene Bevölkerungsgruppen, denen Angriffe auf weiße Siedler:innen vorgeworfen wurden, und die Untersuchung von Verbrechen wie Viehdiebstahl. Die Rangers agierten ebenfalls oft als Bürgerwehr im Namen von Weißen im Disput mit spanischen oder mexikanischen Bevölkerungsgruppen. Über ein Jahrhundert waren sie eine wichtige Kraft der weißen, kolonialen Expansion, indem sie Mexikaner:innen durch Gewalt, Einschüchterung und politische Einflussnahme vertrieben. In einigen Fällen raubten Weiße Rinder von mexika88 Vgl. ebd.

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nischen Ranches und riefen dann, wenn mexikanische Vaqueros (berittene Rinderhirten) das Vieh zurückzuholen versuchten, die Rangers, um ihr »gestohlenes Eigentum« zu bergen. Mexikaner:innen und indigene Bevölkerungsgruppen, die sich den Rangers widersetzten, konnten eingeschüchtert, festgenommen, zusammengeschlagen oder getötet werden. Mike Cox beschreibt dies als nichts weniger als eine Vernichtungskampagne, in der die indigene Bevölkerung fast vollständig getötet oder aus dem Territorium vertrieben wurde.89 Forgotten Dead: Mob Violence against Mexicans in the United States 1848-1928 90 von Carrigan und Webb ist Teil des Versuchs von Familien, Wissenschaftler:innen und der größeren Tejanx-Gemeinschaft,91 diese Geschichte aufzudecken, die zu der Ausstellung »Life and Death on the Border« im Bullock State History Museum führte. Die Ausstellung dokumentierte viele der Misshandlungen von Texaner:innen mit mexikanischer Familiengeschichte, die von Weißen mithilfe der Texas Rangers vertrieben worden waren.92 Dazu gehört auch das schreckliche Porvenir-Massaker von 1918, bei dem die Rangers fünfzehn unbewaffnete Einwohner:innen töteten und die restliche Gemeinde unter Androhung weiterer Gewalt über die Grenze nach Mexiko vertrieben. Dies führte 1919 zu einer Reihe von Anhörungen der staatlichen Legislative über außergesetzliche Tötungen und rassistisch motivierte Brutalität im Auftrag weißer Rancher. Diese Anhörungen zogen keinen formellen Änderungen nach sich; die anschaulichen Aufzeichnungen der Gewalt wurden für die nächsten fünfzig Jahre versiegelt, um die »heldenhafte« Geschichte der Rangers nicht zu beschmutzen. Die erbitterte Gewalt wurde zum Teil auch von Separatist:innen 89 Vgl. Mike Cox, The Texas Rangers: Wearing the Cinco Peso, 1821-1900, London 2008. 90 Vgl. William Carrigan, Clive Webb, Forgotten Dead: Mob Violence against Mexicans in the United States, 1848-1928, Oxford 2013. 91 Tejanx ist eine Selbstbezeichnung vor allem US-amerikanischer Mexikaner:innen. [Anm. d. Übers.] 92 Vgl. Aaron Cantu, »The Chaparral Insurgents of South Texas«, in: New Inquiry, 7. 4. 2016, 〈https://thenewinquiry.com/the-chaparral-insurgents-of-southtexas/〉, letzter Zugriff 20. 2. 2022; Rebecca Onion, »America’s Lost History of Border Violence«, in: Slate, 5. 5. 2016, 〈https://slate.com/news-and-poli tics/2016/05/texas-finally-begins-to-grapple-with-its-ugly-history-of-border-vio lence-against-mexican-americans.html〉, letzter Zugriff 26. 2. 2022.

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in der mexikanischen Bevölkerung verstärkt, die von der konstanten widerrechtlichen Aneignung ihres Landes, den Politiken der Segregation und dem Ausschluss aus politischen Prozessen frus­ triert waren – all diese Praktiken wurden durch die Rangers und die lokale Polizei durchgesetzt. Diese Bewegung der Sediciosos (dt. Aufständische) erzeugte eine entsetzliche Gegenreaktion, die in den lokalen Zeitungen gefeiert wurde: »Die bekannten Banditen und Geächteten werden nun gejagt wie Kojoten und einer nach dem anderen getötet […]. Der Vernichtungskrieg wird fortschreiten, bis jeder Mann, von dem wir wissen, dass er Teil des Aufstands war, ausgelöscht ist.«93 In den 1960er und 1970er Jahren wurden die Rangers von lokalen und staatlichen Eliten eingesetzt, um die politischen und ökonomischen Rechte von mexikanischen Amerikaner:innen einzuschränken. Sie spielten darüber hinaus eine zentrale Rolle bei der Unterwanderung der Bewegungen von Landarbeiter:innen, indem sie Versammlungen unterbrachen, Unterstützer:innen einschüchterten sowie Streikposten und gewerkschaftliche Anführer:innen festnahmen und misshandelten.94 Sie wurden auch immer wieder gerufen, um mexikanische Amerikaner:innen durch Einschüchterung von der Teilnahme an lokalen Wahlen abzuhalten. Die meisten Latinx wurden einer Art »Juan Crow«-Regime unterworfen, durch das ihnen das Wahlrecht und der Zugang zu privaten und öffentlichen Einrichtungen wie Hotels, Restaurants, Warteräumen an Busstationen, öffentlichen Schwimmbädern und Toiletten verweigert wurden. Der erste direkte Angriff auf dieses System erfolgte 1963, in Crystal City, einer kleinen bäuerlichen Stadt, in der die Tejanx zwar die Mehrheit der Bevölkerung bildeten, aber keine politische Vertretung hatten. Das weiße politische Establishment setzte die Segregation durch, verlangte höhere Steuern von Latinx und versorgte sie mit zweitklassigen Dienstleistungen. 1962 versuchten mexikanische Amerikaner:innen sich für Wahlen zu regis­trieren und sahen sich dabei mit Schikanen und Einschüchterungen durch die örtliche Polizei und die Arbeitgeber:innen konfrontiert. Nach längeren Bemühungen, an denen externe Beobachter:innen, die Presse und Ge93 Vgl. Benjamin Johnson, Revolution in Texas: How a Forgotten Rebellion and Its Bloody Suppression Turned Mexicans into Americans, New Haven 2005. 94 Vgl. Julian Samora u. a., Gunpowder Justice: A Reassessment of the Texas Rangers, Notre Dame 1979.

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richtsverhandlungen beteiligt waren, ließen sie sich registrieren und traten 1963 mit einer eigenen Liste für den örtlichen Stadtrat an. Als Reaktion darauf starteten die Texas Rangers ein Einschüchterungsprogramm. Sie versuchten, Wähler:innenversammlungen zu verhindern, bedrohten Kandidat:innen und ihre Unterstützer:innen und machten sogar vor physischen Attacken und Verhaftungen nicht halt. Am Ende mussten die Rangers wegen der anhaltenden Presseaufmerksamkeit nachgeben, die Kandidat:innenliste erhielt zahlreiche Stimmen und läutete eine Ära der Durchsetzung umfassenderer Grundrechte für mexikanische Amerikaner:innen ein. 1935 schrieb Walter Webb eine umfangreiche Geschichte der Rangers, The Texas Rangers – a Century of Frontier Defense, in der er sie uneingeschränkt lobte und als vorbildlich für US-amerikanische Polizeiarbeit darstellte.95 Präsident Lyndon B. Johnson schrieb sogar das Vorwort zu einer späteren Ausgabe.96 Webbs Buch inspirierte eine ganze Generation von Filmen und Romanen, die die Rangers heroisierten. Diese Entwicklung gipfelte schließlich in der Fernsehserie Walker, Texas Ranger aus den 1990er Jahren mit dem rechten Kampfkunstexperten Chuck Norris.

Die Rolle der Sklaverei Sklaverei war ein weiteres wichtiges Element, das frühes US-amerikanisches Polizieren formte. Lange vor der Gründung der London Metropolitan Police hatten in den US-amerikanischen Südstaaten Städte wie New Orleans, Savannah und Charleston vollbeschäftigte Polizeikräfte, die Uniformen trugen, den lokalen zivilen Regierungsbeamt:innen Rechenschaft ablegen mussten und in ein breiteres Strafrechtssystem eingebettet waren. Diese frühen Polizeitruppen entwickelten sich nicht aus informellen Wachen, wie es zum Beispiel im Nordosten der USA der Fall war, sondern entstanden aus Sklav:innenpatrouillen und sollten Aufstände verhindern.97 Sie waren befugt, Privatgrundstücke zu betreten, um sicherzustel95 Vgl. Walter Webb, The Texas Rangers: A Century of Frontier Defense, Boston 1935. 96 Vgl. Walter Webb, The Texas Rangers: A Century of Frontier Defense, Austin 21965. 97 Vgl. Sally Hadden, Slave Patrols: Law and Violence in Virginia and the Carolinas, Cambridge 2001.

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len, dass Versklavte keine Waffen versteckten oder Geflüchtete beherbergten, keine Treffen abhielten und nicht lesen und schreiben lernten. Sie spielten auch eine wichtige Rolle bei der Verhinderung der Flucht von Sklav:innen in den Norden, indem sie regelmäßig auf Landstraßen patrouillierten. Während die meisten Sklave:innenpatrouillen ländlich und unprofessionell waren, wurden städtische Patrouillen wie die Charleston City Guard and Watch bereits 1783 professionalisiert. 1831 zählte die Polizei in Charleston 100 bezahlte Stadtwachen und 60 Staatswachen, die 24 Stunden am Tag im Dienst waren, einschließlich Fuß- und Reiterpatrouillen. Versklavte Menschen arbeiteten oft nicht auf dem Grundstück ihrer Besitzer:innen, sondern im Zuge der Industrialisierung zum Beispiel in Warenhäusern, Werk- und anderen Arbeitsstätten. Dies bedeutete, dass viele versklavte Menschen ohne Begleitung in der Stadt unterwegs sein durften, sofern sie die entsprechenden Papiere hatten. Sie konnten sich mit anderen treffen, illegale Untergrundkneipen besuchen und oft sogar zusammen mit freien schwarzen Menschen wohltätige oder religiöse Institutionen etablieren, was enorme soziale Ängste unter Weißen erzeugte. Daher wurde eine professionelle Polizeitruppe als essentiell erachtet. Wade zitiert einen Bürger Charlestons aus dem Jahr 1845: Auf dem dünn besiedelten Land, wo Gruppen von N* sich nur auf den Plantagen und unter der direkten Kontrolle und Zucht ihrer Eigentümer:innen bewegen dürfen, war es Sklav:innen nicht erlaubt, müßig herum­zulaufen und Unfug zu treiben. […] Hier mag das bloße gelegentliche Herumreiten und die allgemeine Überwachung einer Patrouille ausreichend sein. Ein energischeres und sorgfältigeres System ist jedoch in Städten absolut notwendig, wo aufgrund der hohen Bevölkerungsdichte und der eng aneinandergrenzenden Siedlungen eine engmaschigere und sorgfältigere Überwachung erforderlich ist.98

Wade zufolge war das Resultat »ein anhaltender Kampf, um die Verbrüderung von N* und besonders das Anwachsen einer organisierten colored community zu verhindern«.99 Dies geschah durch konstante Überwachung und Kontrolle der schwarzen Bevölkerung. 98 Richard Wade, Slavery in the Cities: The South 1820-1860, Oxford 1967, S. 80. 99 Ebd., S.  82.

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Die schwer bewaffnete Polizei kontrollierte regelmäßig die Pässe von Versklavten und die Papiere von freien schwarzen Personen. Sie führte einen andauernden Kampf, um Untergrundbars, Lerngruppen und religiöse Versammlungen zu schließen. Die einzige Einschränkung der Polizeigewalt war die Tatsache, dass versklavte Menschen jemand anderes Eigentum waren; sie zu töten, konnte in Haftbarkeit gegenüber dem Eigentümer resultieren. In ländlichen Gegenden war der Übergang von Sklav:innenpatrouillen zur Polizei langsamer, die funktionale Verbindung aber ebenso stark.100 Mit der Sklaverei wurde auch das System der Sklav:innenpatrouillen abgeschafft. Kleinstädte und ländliche Gegenden entwickelten neue und professionelle Formen des Polizierens, um mit der frisch befreiten schwarzen Bevölkerung umzugehen. Wichtiger als die Verhinderung von Rebellion war nun das Anliegen, die neu befreite schwarze Bevölkerung in untergeordnete wirtschaftliche und politische Rollen zu zwingen. Neue Gesetze zum Verbot der Landstreicherei wurden umfangreich dazu genutzt, schwarze Menschen zur Annahme von Anstellungen im Sharecropping-System zu nötigen. Die lokale Polizei setzte Wahlsteuern und andere Möglichkeiten zur Unterdrückung von Wähler:innen durch, um die weiße Kontrolle über das politische System sicherzustellen. Wer ohne einen Beschäftigungsnachweis auf der Straße unterwegs war, wurde schnell von der Polizeigewalt verfolgt. Die lokale Polizei war die wesentliche Vorstufe für das doppelte Übel des »Sträflingsleasings« und der Gefängnisfarmen. Örtliche Sheriffs verhafteten freie schwarze Personen aufgrund fadenscheiniger bis nicht vorhandener Beweise und trieben sie dann in ein grausames und unmenschliches Strafrechtssystem, dessen Strafen häufig zum Tod führten. Dieselben Sheriffs und Richter:innen erhielten Schmiergelder und erstellten in einigen Fällen Listen von fähigen und fleißigen schwarzen Arbeiter:innen, die im Auftrag von Arbeitgeber:innen eingekerkert werden sollten, um dann vermietet zu werden und Zwangsarbeit für Profit zu leisten. Douglas Blackmon berichtet von den entsetzlichen Bedingungen in Minen und Holzfällerlagern, in denen Tausende Menschen zugrunde gingen.101 Als 100 Vgl. Hadden, Slave Patrols, S. 4. 101 Vgl. Douglas Blackmon, Slavery by Another Name: The Re-Enslavement of Black Americans from the Civil War to World War II, New York 2008.

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die Jim-Crow-Ära begann, war Polizeiarbeit ein zentrales Mittel zur Erhaltung von rassifizierter Ungleichheit im Süden, ergänzt durch Ad-hoc-Bürgerwehren wie den Ku-Klux-Klan, der oft eng mit der örtlichen Polizei zusammenarbeitete und in dem viele Polizist:innen aktiv waren.102 Die Emanzipation beeinflusste auch die Polizeiarbeit im Norden. Die dortigen politischen Führungspersonen fürchteten die Nordwanderung freier schwarzer Menschen vom Land, die sie oft als sozial, wenn nicht sogar als auf rassifizierte Weise minderwertig, ungebildet und unterlegen ansahen. In den Städten des Nordens wurden Ghettos eingerichtet, um diese wachsende Bevölkerung zu kontrollieren. Die Polizei übernahm dabei die Aufgaben der Einhegung und Befriedung. Bis in die 1960er Jahre wurde dies weitgehend durch die rassistische Durchsetzung des Gesetzes und die weit verbreitete Anwendung von exzessiver Gewalt erreicht. Schwarze Menschen wussten sehr genau, wo die Grenzen ihrer verhaltensmäßigen und geographischen Freiheit lagen und welche Rolle die Polizei bei der Aufrechterhaltung dieser Grenzen spielte, sowohl im Jim-Crow-Süden als auch im ghettoisierten Norden.

Politisches Polizieren in der Nachkriegszeit Mit dem Aufstieg der Bürger:innenrechtsbewegung kam es zu noch repressiverem Polizieren. In den Südstaaten wurde die Polizei zur vordersten Front bei der Unterdrückung der Bewegung. Sie verweigerte Protestgenehmigungen, bedrohte und schlug Demonstrant:innen, nahm diskriminierende Verhaftungen vor und versäumte es, die Demonstrant:innen vor wütenden Mobs und Selbstjustiz zu schützen wie etwa vor Schlägen, Entführungen, Bombenanschlägen und Ermordungen. All dies diente der Erhaltung eines Systems der rassistischen Diskriminierung und wirtschaftlichen Ausbeutung. In den Städten des Nordens und des Westens wurden hin und wieder subtilere Versuche zur Unterdrückung der Bewegung unternommen, doch wenn dies nicht gelang, folgte schnell offene Gewalt. Viele Städte ließen zahlreiche Protestaktionen mit nur geringen Einschränkungen zu. Boykotte und Streikposten zur 102 Vgl. Williams, Our Enemies in Blue, Kap. 4.

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Unterstützung der Südstaatenorganisationen wurden weitgehend toleriert, ebenso wie Proteste gegen lokale Regierungen, bei denen mehr Arbeitsplätze, Bildung und soziale Dienste gefordert wurden. Als diese Bewegungen jedoch wuchsen und militanter wurden, unterlagen sie immer repressiveren Taktiken. Neue »Red Squads« wurden entwickelt, die durch Informant:innen, Infiltrator:innen und sogar Provokateur:innen, welche aktiv daran arbeiteten, Gruppen wie die Black Panthers und den Congress of Racial Equality (CORE) zu unterminieren, Informationen sammelten. Schließlich unterdrückte die örtliche Polizei – oft in Zusammenarbeit mit dem FBI – öffentlich diese Bewegungen durch gezielte Verhaftungen unter erfundenen Anschuldigungen und schließlich sogar durch Ermordungen prominenter Anführer:innen wie Fred Hampton, eines Aktivisten der Black Panthers, der mitten in der Nacht bei einer Polizeirazzia seiner Chicagoer Wohnung im Kugelhagel getötet wurde. Die indigenen und die Latinx-Bewegungen Brown Berets und Young Lords hatten es mit ähnlichen Formen der Repression zu tun. Diese Bewegungen wurden zum Teil mithilfe von Aufstandsbekämpfungsstrategien unterdrückt, die aus der Außenpolitik jener Ära hervorgegangen waren. Von 1962 bis 1974 betrieb die US-Regierung eine große internationale Polizeiausbildungsinitiative, das Office of Public Safety (OPS), die mit erfahrenen amerikanischen Polizeiführungskräften besetzt war. Diese Behörde arbeitete eng mit der CIA zusammen, um die Polizei in Konfliktgebieten des Kalten Kriegs wie etwa Südvietnam, Iran, Uruguay, Argentinien und Brasilien zu trainieren. Internen Dokumenten zufolge lag der Schwerpunkt der Ausbildung auf der Aufstandsbekämpfung, einschließlich Spionage, Bombenbau und Verhörtechniken. In vielen Teilen der Welt waren diese Beamt:innen an Menschenrechtsverletzungen wie Folter, Entführungen und außergerichtlichen Tötungen beteiligt. Schusswaffen und Ausrüstung im Wert von über 200 Millionen US-Dollar wurden an ausländische Polizeibehörden verteilt, und 1500 US-Mitarbeiter:innen waren an der Ausbildung von einer Million Polizist:innen in Übersee beteiligt. Noch beunruhigender ist, dass viele der Ausbildenden in die Strafverfolgung wechselten, darunter die Drug Enforcement Agency (DEA), das FBI und zahlreiche örtliche und bundesstaatliche Polizeikräfte. Sie brachten eine militarisierte, durch Imperative des Kalten Kriegs geprägte Vision von 246

Polizeiarbeit mit, wie etwa die Unterdrückung sozialer Bewegungen durch Spionageabwehr, militärische Techniken zur Zerschlagung von Unruhen und rigorose Verbrechensbekämpfung.103 Sie wendeten diese Auffassung von Aufstandsbekämpfung auf die politischen Auseinandersetzungen im eigenen Land an. OPS-Direktor Byron Engle sagte vor der Kerner-Kommission über zivile Unruhen aus, dass »wir in der Zusammenarbeit mit der Polizei in verschiedenen Ländern eine Menge Erfahrungen im Umgang mit Gewalt gemacht haben, die von Demonstrationen und Unruhen bis hin zum Guerillakrieg reicht. Viele dieser Erfahrungen können in den USA ebenfalls nützlich sein.«104 Das Ergebnis war eine massive Ausweitung der Bundesförderung für die Polizei unter der Regierung Lyndon B. Johnsons. Unter dem Vorwand, die Polizei zu professionalisieren, begann die Bundesregierung, Hunderte Millionen US-Dollar für die Ausstattung der Polizei mit mehr Ausbildung und Ausrüstung auszugeben, ohne dies an Bedingungen zu knüpfen. Unglücklicherweise und wenig überraschend hat diese neue Professionalisierungswelle rassistisches Polizieren nicht abgebaut, sondern lediglich die Macht der Polizei gestärkt und damit direkt zur Entwicklung von SWAT-Teams und mehr Masseninhaftierungen geführt.

Polizieren heute In den letzten Jahrzehnten haben Umfang und Intensität der polizeilichen Aktivität dramatisch zugenommen. Mehr Polizist:innen als je zuvor sind mit der Durchsetzung von mehr Gesetzen beschäftigt, was zu einem astronomischen Ausmaß an Inhaftierungen, wirtschaftlicher Ausbeutung und Missbrauch führt. Diese Ausweitung spiegelt den Anstieg der Masseninhaftierung wider. Sie begann mit der War-on-Crime-Rhetorik der 1960er Jahre105 und hat sich durch die Unterstützung beider Parteien bis heute weiterentwickelt und intensiviert. 103 Vgl. Micol Seigel, »Objects of Police History«, in: Journal of American History, 102/1 (2015), S. 152-161. 104 Kuzmarov, Modernizing Repression, S. 235. 105 Der Slogan »Krieg gegen das Verbrechen« wurde 1965 von dem US-Präsidenten Lyndon B. Johnson für einen Paradigmenwechsel in der Strafzumessungspolitik geprägt. [Anm. d. Hg.]

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Diese Machtzunahme der Polizei ist mit einer Reihe von wirtschaftlichen und politischen Krisen verbunden. Auf der politischen Ebene waren die Politiker:innen bestrebt, neue Wege zu finden, um sich die Unterstützung weißer Wähler:innen im Nachgang der Bürger:innenrechtsbewegung zu sichern. Wie Michelle Alexander und andere hervorgehoben haben, mobilisierte Nixon durch die Rhetorik von Law and Order rassistische Ängste, um Weiße aus dem Süden zu überzeugen, zum ersten Mal seit der Reconstruction-Ära106 die republikanische Partei zu wählen. Nach der desaströsen Niederlage von Michael Dukakis im Jahr 1988, der zu nachgiebig gegenüber Kriminalität (»soft on crime«) war, machten sich auch die Demokrat:innen diese Strategie zu eigen, was zu Katastrophen wie Bill Clintons Kriminalitätsgesetz von 1994 führte, mit dem er zehntausende zusätzlicher Polizist:innen einstellte und der War on Crime und der War on Drugs ausgeweitet wurden. Die sich verändernden wirtschaftlichen Realitäten in den USA haben in diesem Prozess ebenfalls eine zentrale Rolle gespielt. Christian Parenti hat gezeigt, wie die Bundesregierung in den 1970er Jahren die Wirtschaft zusammenbrechen ließ, um die Macht von Arbeiter:innen und ihren Aufstieg einzudämmen, wodurch Millionen von Menschen arbeitslos wurden und eine neue permanente, zumeist afroamerikanische Unterschicht entstand, die weitgehend von offiziellen Arbeitsverhältnissen und der Wirtschaft ausgeschlossen war.107 In Reaktion darauf mobilisierte die Regierung Kräfte auf allen Ebenen, um diese neue »überschüssige Bevölkerung« durch intensive Polizeiarbeit und Masseninhaftierungen zu verwalten. Die polizeiliche Überwachung von armen und nichtweißen communities wurde deutlich intensiviert. Während Arbeitslosigkeit, Armut und Obdachlosigkeit zunahmen, arbeiteten Regierung, Polizei und Staatsanwaltschaft zusammen, um große Teile der Bevölkerung zu kriminalisieren, unterstützt durch Ideologien wie die Broken-Windows-Theorie und den Superpredator-Mythos.108 106 Die Reconstruction-Ära ist die Zeit unmittelbar nach dem amerikanischen Bürgerkrieg, also von 1863-1877 [Anm. d. Hg.] 107 Vgl. Christian Parenti, Lockdown America: Police and Prisons in the Age of Crisis, Brooklyn 2000. 108 Der Begriff Superpredator, vergleichbar mit dt. »Intensivstraftäter«, stammt aus kriminologischen Diskursen der 1990er Jahre und unterstellt bestimmten, zumeist rassifizierten jugendlichen Straftäter:innen eine besondere Neigung zu Gewalt. [Anm. d. Hg.]

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Wir können nicht die gesamte Polizeiarbeit auf die aktive Unterdrückung von sozialen Bewegungen und die Kontrolle von rassifizierten Minderheiten reduzieren. Die heutige Polizei ist eindeutig mit Fragen der öffentlichen Sicherheit und der Verbrechensbekämpfung beschäftigt, wie fehlgeleitet ihre Methoden auch sein mögen. Die Einführung von Compstat und anderen Techniken zu Datenanalyse und -management zielt in der Tat darauf ab, ernsthafte Kriminalitätsprobleme anzugehen, und es werden erhebliche Ressourcen in diese Bemühungen gesteckt. Allerdings ist diese Ausrichtung auf Verbrechensbekämpfung selbst eine Form der sozialen Kontrolle. Von Jonathan Simons Governing Through Crime109 bis zu Michelle Alexanders The New Jim Crow110 zeigen umfangreiche Untersuchungen, dass das, was als Verbrechen zählt und kontrolliert wird, von Unterscheidungen in Bezug auf Klasse und race sowie dem Potential für soziale und politische Umwälzungen geprägt ist. Wie Jeffrey Reiman in The Rich Get Richer and the Poor Get Prison aufzeigt, entschuldigt und ignoriert das Strafrechtssystem Verbrechen von Reichen, die tiefgreifende soziale Schäden verursachen, während es Verhalten von Armen und nichtweißen Menschen kriminalisiert, auch wenn sie weniger soziale Schäden verursachen.111 Wenn gegen die Verbrechen der Reichen vorgegangen wird, dann in der Regel durch administrative Kontrollen und zivilrechtliche Gesetze statt mit aggressiver Polizeiarbeit, Strafverfolgung und Inhaftierung, wie sie vor allem Arme und nicht­weiße Menschen treffen. Trotz des weit verbreiteten Betrugs und der Plünderung der amerikanischen Wirtschaft, die zu Massenarbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit und wirtschaftlichen Verwerfungen führte, wurden keine Banker:innen für die Finanzkrise 2008 ins Gefängnis gebracht. Die US-amerikanische Politik der Verbrechensbekämpfung ist auf den Einsatz von Strafe zur Verwaltung der »gefährlichen Klassen« ausgerichtet, getarnt als ein System der Gerechtigkeit. Die Beschäftigung der Polizei mit der Kriminalität macht auch ihre so109 Jonathon Simon, Governing Through Crime: How the War on Crime Transformed American Democracy and Created a Culture of Fear, Oxford 2007. 110 Michelle Alexander, The New Jim Crow. Masseninhaftierung und Rassismus in den USA, München 2016. 111 Jeffrey Reiman, The Rich Get Richer and the Poor Get Prison: Ideology, Class, and Criminal Justice, Boston 2007.

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zialen Kontrollfunktionen erträglicher. Der Übergang vom Einsatz von Milizen und militärischen Truppen zur zivilen Polizei war ein Prozess, der eine größere öffentliche Akzeptanz der sozialen Kontrollfunktionen des Staates herstellte, ob im Ausland oder Inland. Die moderne Polizei von heute ist nicht so weit von ihren kolonialistischen Vorfahren entfernt. Auch sie setzt ein System von Gesetzen durch, das darauf ausgelegt ist, ökonomische Ungleichheit zu reproduzieren und aufrechtzuerhalten, meist entlang rassifizierter Strukturen. Wie es Michelle Alexander formuliert hat: Wir brauchen ein effektives System zur Prävention und Eindämmung der Kriminalität in unseren communities, aber gerade das leistet das gegenwärtige System nicht. Es ist eher geeignet, Kriminalität zu fördern und eine Klasse von Menschen mit dem Etikett kriminell zu schaffen, statt Verbrechen zu verhindern oder die Zahl der Kriminellen zu verringern [...]. Die Masseninhaftierung als Fehlschlag zu bezeichnen, setzt allerdings voraus, dass es Aufgabe der Strafjustiz ist, Verbrechen zu verhindern und zu bekämpfen. Als System sozialer Kontrolle der people of color ist sie hingegen ein grandioser Erfolg.112

Das niederschmetterndste Beispiel hierfür ist der War on Drugs, in dem Millionen meist schwarzer und brauner Menschen durch das Strafrechtssystem geschleift, ihr Leben zerstört und ihre communities destabilisiert wurden, ohne dass dabei der Konsum oder die Verfügbarkeit von Drogen reduziert worden wäre. Alle möchten in sicheren Gemeinschaften leben, aber wenn Individuen und Gemeinschaften sich zur Lösung ihrer Probleme an die Polizei wenden, mobilisieren sie im Wesentlichen die Maschinerie ihrer eigenen Unterdrückung. Während die Polizei oft – wenn auch nicht immer – den Weg der Verbrechensbekämpfung beschreitet, geschieht dies durch eine Brille rassifizierter und klassistischer Skepsis, wenn nicht sogar offener Feindseligkeit. Während einzelne Polizist:innen vielleicht keine tiefsitzenden Vorurteile haben – obwohl viele diese haben –, war der eigentliche Zweck der Institution doch immer die Verwaltung der Armen und Nichtweißen, nicht etwa die Herstellung eines Zustands von etwas, das echter Gerechtigkeit ähnelt. Dass Menschen von der Polizei Schutz und Sicherheit erwarten, ist verständlich. Vor allem arme Menschen tragen die Hauptlast 112 Vgl. Alexander, The New Jim Crow, S. 466-468.

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der Straßenkriminalität. Nach Jahrzehnten der neoliberalen Austerität haben die lokalen Regierungen weder den Willen noch die Fähigkeit, die Art von verbessernder Sozialpolitik zu verfolgen, die Kriminalität und Unruhen ohne den Einsatz bewaffneter Polizist:innen bekämpft; wie Simon betont, hat die Regierung arme Viertel mit der Unterstützung eines repressiven Strafrechtssystems im Grunde den Kräften des Marktes überlassen. Dieses System bleibt an der Macht, indem es eine Kultur der Angst schafft und gleichzeitig von sich behauptet, allein dafür geeignet zu sein, diese zu bekämpfen.113 Während sich die Armut verschlimmert und die Wohnungspreise steigen, schwindet die staatliche Unterstützung für bezahlbaren Wohnraum und hinterlässt eine Kombination aus Obdachlosenunterkünften und aggressiver Broken-Windows-Polizeiarbeit. Wenn psychiatrische Einrichtungen schließen, bleibt die Polizei als erste Anlaufstelle für Hilferufe bei psychischen Krisen. Wenn Jugendliche ohne angemessene Schulen, Jobs oder Freizeiteinrichtungen dastehen, schließen sie sich zu Banden zusammen, um sich gegenseitigen zu schützen, oder beteiligen sich an den informellen Märkten für gestohlene Waren, Drogen und Sex, um zu überleben, und werden rücksichtslos kriminalisiert. Die moderne Polizeiarbeit ist weitgehend ein Krieg gegen die Armen, der wenig dazu beiträgt, Menschen sicherer oder communities stärker zu machen – und selbst wenn er das schafft, geschieht dies durch härteste staatliche Gewalt, die das Leben von Millionen zerstört. Anstatt die Polizei um die Lösung unserer Probleme zu bitten, müssen wir uns mit dem Ziel echter Gerechtigkeit organisieren. Wir müssen eine Gesellschaft schaffen, die den menschlichen Bedürfnissen gerecht wird, anstatt sich im Streben nach Reichtum auf Kosten aller anderen zu suhlen. Übersetzt von Charlie Ebert und Amira Möding

113 Vgl. Simon, Governing Through Crime.

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Robyn Maynard Über staatliche Gewalt und Schwarze Leben Afrokanadier:innen haben sich im Umgang mit dem Staat immer in einem Verhältnis der sozialen Unterordnung befunden. Dabei ist es unerheblich, ob es sich um eine Beziehung zur Regierung, dem Justizsystem, dem Bildungs- oder Sozialsystem oder einer anderen staatlich kontrollierten oder beeinflussten Institution handelt.1 – Linda Carty

[…] Ich habe einen Großteil der letzten Dekade mit bezahlter und unbezahlter aufsuchender Arbeit, Interessenvertretung und Organisierung von und mit marginalisierten und kriminalisierten communities verbracht. Die Arbeit mit rassifizierten Jugendlichen in staatlicher Obhut und in den informellen Ökonomien der Straße sowie mit erwachsenen Sexarbeiter:innen von der Straße hat mir die krassen von Rassismus geprägten und ökonomischen Ungleichheiten an den Bruchlinien der kanadischen Gesellschaft ständig schmerzhaft vor Augen geführt. Auch wenn ich nicht nur mit Schwarzen communities gearbeitet habe, habe ich regelmäßig das bodenlose und unverhältnismäßige Ausmaß dessen beobachtet, was nur als staatlich unterstützte Gewalt und systematische Vernachlässigung Schwarzer Menschen bezeichnet werden kann. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem Schwarzen Jugendlichen, der auf seinem Weg von der Schule nach Hause regelmäßig von der Polizei verfolgt und belästigt wurde. Der Polizist rief ihn immer bei seinem Namen, durchsuchte ihn manchmal nach Drogen (die nie gefunden wurden), schüchterte ihn ein und demütigte ihn. Er erlitt diese Misshandlung größtenteils schweigend, weil er nicht wollte, dass seine Eltern enttäuscht von ihm waren. Eine andere bedeutende Erinnerung ist die Erfahrung, die eine Schwarze transgender Frau in ihren Fünfzigern oder Sechzigern 1 Linda Carty, »African Canadian Women and the State: Labour Only Please!«, in: Peggy Bristow u. a. (Hg.), »We’re Rooted Here and They Can’t Pull Us Up«: Essays in African Canadian Women’s History, Toronto 1999, S. 193-229, hier S. 197.

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mir erzählt hat. Sie floh vor Gewalt aus ihrem Heimatland und hatte keine kanadische Staatsbürgerschaft. Um mehrere Familienmitglieder zu unterstützen, arbeitete sie als Sexarbeiterin. Sie wurde während ihrer Arbeit regelmäßig von Polizist:innen belästigt, die sie »N*« und »Transe« nannten, und manchmal auch bedroht. Weil sie Angst hatte, festgenommen, abgeschoben und von ihrer Familie getrennt zu werden, begann sie schnell, die Polizei zu meiden, indem sie in extrem abgeschiedenen Straßen und Gassen in unbeleuchteten Gegenden arbeitete anstatt in Bars, die von ihren Klienten, Freund:innen und der community besucht wurden – sie opferte ihre körperliche Sicherheit aus Angst vor einer Festnahme. Zudem habe ich die oft feindselige Behandlung und verstärkte Überwachung Schwarzer Frauen durch ihre Sozialarbeiter:innen beobachtet, das Leid von Jugendlichen und ihren Familien, wenn Schwarze Kinder vom Jugendamt weggenommen werden, und die Scham, die vielen Schwarzen Jugendlichen, nur weil sie Schwarz sind, von ihren Lehrer:innen vermittelt wird. Die letzten Jahre habe ich viel zu viele Mahnwachen und Demonstrationen für Schwarze Tote organisiert und besucht. Auf Bony Jean-Pierre, einen unbewaffneten haitianischen Mann in seinen Vierzigern, wurde in Montréal-Nord mehrmals aus nächster Nähe mit Gummikugeln geschossen. Sein Tod ereignete sich im Kontext einer Drogenrazzia, bei der Cannabis – eine Substanz am Rande der Legalisierung, die offen von weißen Bürger:innen in der Stadt geraucht wird – sowie zwei Steine Crack und verschiedene Utensilien gefunden wurden.2 Später im gleichen Jahr schlug die Polizei in Ottawa Adirahman Abdi zu Tode, einen unbewaffneten Schwarzen somalischen Mann, der an mentalen Gesundheitspro­ blemen litt. Sie war gerufen worden, weil er mutmaßlich Kund:innen in einem Café belästigte. Allerdings sahen Zeug:innen, dass die Beamten ihn mehrfach auf Gesicht und Nacken schlugen, auf seinem Kopf knieten und ihn in Handschellen ohne medizinische Betreuung in seinem Blut auf dem Boden liegend zurückließen.3 2 Michaud, Shaun, »Two Police Shootings, Eight Years Apart, One Fed Up Mont­real Borough«, in: Vice News, 21. 4. 2016, 〈https://www.vice.com/en/article/kz9kdz/ eight-years-after-fredy-villanueva-was-shot-and-killed-by-police-in-montrealnorth-a-memorial-for-jean-pierre-bony〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 3 Desmond Cole, »We Need Not Wait to Judge Police Behaviour in Abdi’s Death«, in: Ottawa Citizen, 29. 7. 2016, 〈https://ottawacitizen.com/opinion/columnists/

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Er starb einige Tage später in einem Krankenhaus. Auch haben die in hohem Maße öffentlich gemachten Morde an Alton Sterling, Philando Castile, Korryn Gaines und hunderten von Schwarzen Männern und Frauen durch die Polizei als allzu häufige Erinnerungen daran gedient, wie wenig Wert auf Schwarzem Leben liegt und welchem anscheinend unbegrenzten Ausmaß an Feindseligkeit Schwarze Individuen und communities ausgesetzt sind. Als ich die Welt der Forschung nach etwas durchkämmte, das die Realitäten beschreiben würde, die ich sah, realisierte ich, dass es noch immer zu wenig Literatur gab, die auf zusammenhängende und spezifische Weise adressiert, wie Straf- und Immigrationsgesetze, ungleicher Zugang zu Arbeit und Wohnen und andere staatliche Politiken und Institutionen interagieren, um die Bedingungen Schwarzen Lebens in diesem Land zu bestimmen. […] Anti-Schwarzer Rassismus, besonders anti-Schwarzer Rassismus durch die Hände des Staates, wird von den meisten Kanadier:innen weitestgehend ignoriert. […] Trotz der brillanten Arbeit von zahlreichen Schwarzen Wissenschaftler:innen ist staatliche Gewalt gegen Schwarze Menschen in Kanada im Großen und Ganzen von einer Mauer des Schweigens umgeben und bleibt, abgesehen von kurzzeitiger medialer Aufmerksamkeit, von der Öffentlichkeit überwiegend unerkannt. Anti-Schwarzer Rassismus bleibt in Kanada oft unerwähnt. Wenn er eingestanden wird, wird angenommen, dass er vielleicht existiert, aber in einer anderen Zeit (vor Jahrhunderten) oder an einem anderen Ort (den Vereinigten Staaten). Viele Kanadier:innen nehmen die wachsende Unzufriedenheit bezüglich rassifizierter Beziehungen in den USA zwar wahr, distanzieren sich aber von den Realitäten rassifizierter Ungleichheiten im eigenen Land. Die meisten kennen zum Beispiel die Namen der US-Amerikaner Trayvon Martin und Michael Brown als Opfer von anti-Schwarzer Polizeigewalt, könnten aber die oben genannten Schwarzen Kanadier:innen nicht beim Namen nennen oder die Namen von Andrew Loku, Jermaine Carby oder Quilem Registre zuordnen.4 Eine cole-we-need-not-wait-to-judge-police-behaviour-in-abdis-death〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 4 Zu Andre Loku siehe Shanifa Nasser, »Police Officers’ Conduct Threatened Credibility of SIU Probe into Andrew Loku Death: Report«, in: CBC News, 30. 4. 2016, 〈https://www.cbc.ca/news/canada/toronto/police-officers-conduct-threatened-

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generelle Auslöschung der Schwarzen Erfahrung in Kanada aus der Öffentlichkeit, inklusive primärer, sekundärer und postsekundärer Bildung, zusammen mit einer kanadischen Neigung, rassifizierte Ungleichheiten zu ignorieren, wirken sich weiterhin auf die Mainstreamwahrnehmung Schwarzer Realitäten überall in der Nation aus. Zusätzlich, und anders als in den USA, ist das systematische Sammeln öffentlich zugänglicher race-basierter Daten auf nationaler, regionaler oder kommunaler Ebene und in den meisten Universitäten selten. Zusammen haben diese Faktoren zu einem sichtlichen Mangel an Bewusstsein um den anti-Schwarzen Rassismus geführt, der sich weiterhin hinter einem symbolischen Bekenntnis zu Liberalismus, Multikulturalismus und Gleichheit versteckt. […] Anti-Schwarzer Rassismus war nicht immer verdeckt. Während der Epoche der Versklavung zeigten viele Sklavenhalter:innen keine Scham, Schwarze und indigene Menschen als Eigentum zu betrachten. Zum Beispiel war es im 18. Jahrhundert für Sklavenhalter:innen üblich, ihre Namen auf Meldungen entlaufener Sklav:innen in Kanada zu hinterlassen. Nach der Abschaffung der Versklavung 1843 wurde anti-Schwarzer Rassismus jedoch kontinuierlich neu konfiguriert, um den nationalen Mythos der »Rassen«-Toleranz zu befolgen. Um 1865 gaben Lehrbücher wenige Hinweise auf Schwarze Präsenz in Kanada, löschten zwei Jahrhunderte der Versklavung aus, beinhalteten keine Erwähnung segregierter Schulen (eine fortlaufende Praxis zu dieser Zeit) und wiesen nur auf das Problem rassifizierter Konflikte in den USA hin.5 Trotz segregierter Schulen in vielen Regionen, Diskriminierung bei der Arbeit(ssuche) und im Wohnungswesen und einer beträchtlichen Ku-Klux-Klan-Mitgliederzahl ordneten kanadische Zeitungen und Politiker:innen das sogenannte Negro-Problem während eines Großteils der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beständig als ein amerikanisches Procredibility-of-siu-probe-into-andrew-loku-death-report-1.3559597〉; zu Jermaine Carby siehe Wendy Gillis, »No Charges against Police in Death of Jermaine Carby«, in: Toronto Star, 21. 7. 2015, 〈thestar.com/news/crime/2015/07/21/no-chargesagainst-peel-police-in-death-of-jermaine-carby.html〉; zu Quilem Registre siehe CBC News, »Montreal Family Wants Public Inquiry after Coroner Says Taser Use Avoidable«, in: CBC News, 29. 8. 2008, 〈cbc.ca/news/canada/montreal/montre al-family-wants-public-inquiry-after-coroner-says-taser-use-avoidable-1.734475〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 5 Vgl. Robin W. Winks, Blacks in Canada: A History, Montreal 1997, S. 363.

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blem ein.6 Die Existenz von anti-Schwarzem Rassismus bleibt bis heute in vielen Bereichen unaussprechlich. 2016 etwa, kurz nach dem oben genannten Mord an Abdirahman Adbi durch die Polizei, erzählte Matt Skof, der Präsident des Polizeiverbandes Ottawa, der Presse, dieser sei »bedauerlich« gewesen und er sei »besorgt«, Kanadier:innen könnten annehmen, dass race ein Faktor in kanadischer Polizeiarbeit wäre, diese Probleme seien nur in den USA relevant.7 Die lange Geschichte von anti-Schwarzem Rassismus in Kanada hat sich zum größten Teil neben der Leugnung seiner Existenz abgespielt. Schwarze Individuen und communities bleiben »eine verdrängte Präsenz in ständiger Auslöschung«.8 In den Augen vieler seiner Bürger:innen und vieler, die anderswo leben, erscheint Kanada als leuchtendes Beispiel für Toleranz und Diversität. Als Vorbild in Sachen Menschenrechte beruht Kanadas nationaler und internationaler Ruf zum Teil auf seiner historischen Rolle als sicherer Hafen für die versklavten Schwarzen Amerikaner:innen, die durch die Underground Railroad aus den USA geflohen waren. Heute ist es lokal und international als das Land des Multikulturalismus und relativer »Rassen«-Harmonie bekannt. Unsichtbarkeit hat Schwarze communities in Kanada allerdings nicht beschützt. Über Jahrhunderte waren Schwarze Leben in Kanada struktureller Gewalt ausgesetzt, die stillschweigend oder ausdrücklich von mehreren staatlichen oder staatlich finanzierten Institutionen geduldet wurde. Nur wenige, die sich nicht mit Schwarzer kanadischer Geschichte befassen, sind sich bewusst, dass dominante Narrative, die Kriminalität und Schwarzsein verknüpfen, mindestens bis zur Ära des transatlantischen Sklav:innenhandels zurückreichen und dass Schwarze Personen schon im 19. und frühen 20. Jahrhundert unverhältnismäßig oft wegen Gewalttätigkeit, Drogen und Straftaten im Zusammenhang mit Prostitution verhaftet wurden. Die Geschichte von annähernd hundert Jahren getrennter und ungleicher schulischer Bildung in vielen Regionen (Schwarze von weißen Schüler:innen trennend), die bis 1983 an6 Sarah-Jane Mathieu, North of the Color Line Migration and Black Resistance in Canada, 1870-1955, Chapel Hill 2010. 7 Kristy Nease, »Ottawa Police Union President Calls Racism Speculation in Fatal Arrest ›Inappropriate‹«, in: CBC News, 26. 7. 2016, 〈cbc.ca/news/canada/ottawa/ matt-skof-abdirahman-abdi-amran-ali-1.3695349〉, letzter Zugriff 1. 6. 2022. 8 Rinaldo Walcott, Black Like Who? Writing Black Canada, Toronto 2003, S. 27.

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dauerte, wird der kanadischen Jugend nicht beigebracht.9 Eine Geschichte, die nicht anerkannt wird, ist oft dazu verdammt, sich zu wiederholen. Die strukturellen Bedingungen, die Schwarze Menschen in der Gegenwart betreffen, werden ähnlich unterschätzt. 2016 bestätigte das Komitee der Vereinten Nationen für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (CESCR) mit geringem Medienecho, dass anti-Schwarzer Rassismus in Kanada systemisch ist. Das Komitee unterstrich die massiven rassifizierten Ungleichheiten in Bezug auf Einkommen, Wohnen und Kindergeldraten, Zugang zu hochwertiger Bildung und zum Gesundheitswesen und die Anwendung von Arzneimittelgesetzen.10 Viele Kanadier:innen wissen nicht, dass – obwohl sie rund drei Prozent der kanadischen Bevölkerung ausmachen – Schwarze Menschen in einigen Teilen des Landes ein Drittel derjenigen ausmachen, die von der Polizei getötet werden.11 Es ist noch nicht allgemein bekannt, dass die Zahl der Afrokanadier:innen in den Bundesgefängnissen dreimal so hoch ist wie der Anteil Schwarzer Menschen an der kanadischen Bevölkerung, ein Verhältnis vergleichbar mit den Vereinigten Staaten und dem Vereinigten Königreich.12 Noch weniger Menschen sind sich dessen bewusst, dass der Prozentsatz in einigen Provinzgefängnissen noch unverhältnismäßiger als auf Bundesebene ist.13 Weil ein großer Teil von Kanadas Schwarzer Bevölkerung woanders geboren wurde, werden zusätzlich dazu, dass diese Menschen stärker ins Visier von Festnahmen geraten, auch eine große Anzahl   9 Vgl. Sylvia Hamilton, »Stories from the Little Black School House«, in Ashok Mathur u. a. (Hg.), Cultivating Canada: A Reconciliation through the Lens of Cultural Diversity, Ottawa, S. 91-112. 10 U.  N. CESCR (United Nations Committee on Economic, Social and Cultural Rights), »Concluding Observations on the Sixth Periodic Report of Canada (Advance Unedited Version)«, United Nations Human Rights Office of the High Commissioner, 2016, 〈http://tbinternet.ohchr.org/Treaties/CESCR/Shared %20Documents/CAN/E_C-12_CAN_CO_6_23228_E.pdf〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 11 Vgl. Scot Wortley, Police Use of Force in Ontario: An Examination of Data from the Special Investigations Unit, Final Report, Toronto 2006. 12 Vgl. Akwasi Owusu-Bempah, Scot Wortley, »Race, Crime, and Criminal Justice in Canada«, in: Sandra M. Bucerius, Michael H. Tonry (Hg.), Oxford Handbook of Ethnicity, Crime and Immigration, Oxford 2014, S. 281-320. 13 Vgl. ebd.

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derer, die schließlich aus der Haft entlassen werden, erneut bestraft, indem sie in Länder abgeschoben werden, die sie manchmal kaum kennen – oft für geringe Vergehen, die ungeahndet bleiben, wenn sie von Weißen begangen werden.14 Schwarze Migrant:innen sind ebenfalls unverhältnismäßig von strafenden Immigrationspolitiken wie Abschiebehaft und Abschiebungen betroffen, zum Teil durch die erhöhte Überwachung Schwarzer migrantischer communities.15 Schwarze Kinder und Jugendliche sind in großem Umfang in staatlichen Pflegeverhältnissen überrepräsentiert,16 und sie werden im ganzen Land sehr viel wahrscheinlicher von den Schulen verwiesen oder herausgedrängt.17 Schwarze communities gehören nach indigenen communities zu den ärmsten rassifizierten Gruppen in Kanada.18 Zusammen mit ihren historischen Gegebenheiten und ihrem Kontext deuten diese Tatsachen auf eine unerzählte Geschichte Schwarzer Unterdrückung in Kanada. Auch wenn anti-Schwarzer Rassismus alle Aspekte der kanadischen Gesellschaft durchdringt, fokussiere ich hier hauptsächlich auf staatliche oder staatlich unterstützte Gewalt. […] Der Grund für diesen Fokus ist einfach: Der Staat besitzt ein beträchtliches Maß an Macht und Autorität über die Leben seiner Subjekte. 14 Vgl. Howard Sapers, Annual Report of the Office of the Correctional Investigator 2012-2013, Ottawa 2013; African Canadian Legal Clinic, Eliminating Racism. Linking Local and Global Strategies for Change, Immigration and Refugee Issues: Promoting Full Participation and Reversing the Tide of Criminalization and Expulsion. Brief to U. N. World Conference Against Racism, Toronto 2001; ACLC, Disagreggated Data Collection (Race-Based Statistics), Toronto, o. J. 15 Vgl. Anne-Marie Barnes, »Dangerous Duality: The ›Net Effect‹: of Immigration and Deportation on Jamaicans in Canada«, in: Wendy Chan, Kiran Mirchandani (Hg.), Crimes of Colour: Racialization and the Criminal Justice System in Canada, Toronto 2002, S. 191-204; Geoff Burt u. a., Deportation, Circular Migration and Organized Crime: Jamaica Case Study. Research Report 2016-R007, Ottawa 2016. 16  Vgl. Gordon Pon u. a., »Immediate Response: Addressing Anti-Native and ­Anti-Black Racism in Child Welfare«, in: International Journal of Child, Youth & Family Studies, 2/3-4 (2011), S. 385-409. 17 Vgl. Jim Rankin, Sandro Contenta, »Suspended Sentences: Forging a Schoolto-Prison Pipeline«, in: Toronto Star, 6. 6. 2009, 〈thestar.com/news/gta/ar ticle/646629〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022; CDPDJ (Commission des droits de la personne et des droits de la jeunesse Québec), Profilage racial et discrimination systémique des jeunes racisés: Rapport de la consultation sur le profilage racial et ses conséquences, Bibliothèque et Archives nationales du Québec 2011. 18 Vgl. ACLC, Disaggregated Data Collection.

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Staatliche Behörden sind mit der Macht ausgestattet, nach Belieben zu bevorzugen, zu bestrafen, einzusperren und auszuweisen. […] Dieser Staat hat eine beträchtliche Rolle bei der Erzeugung der Dämonisierung, Dehumanisierung und Unterwerfung Schwarzer Leben in einer Vielfalt von Institutionen gespielt. Ich nutze das Wort »Staat« in diesem Text, um Bundes- und Landesregierungen, staatlich finanzierte Programme wie Schulen, Sozialhilfe und Kinderbetreuung sowie die Vollstreckungsbehörden staatlicher Institutionen einzuschließen, wie die kommunale, regionale und nationale Polizei. Ich benutze das Konzept der »staatlichen Gewalt« […], um Aufmerksamkeit auf das komplexe Spektrum von Leid zu ziehen, das von marginalisierten sozialen Gruppen erlebt und durch staatliche (oder staatlich finanzierte) Politiken, Handlungen und Untätigkeit verursacht wird. Der Gebrauch des Begriffs staatliche Gewalt folgt in der Tradition Schwarzer feministischer aktivistisch-intellektueller Autor:innen wie Angela Y. Davis, Joy James, Beth Richie, Andrea J. Ritchie, Ruth Wilson Gilmore19 und anderer, die in großem Umfang dazu beigetragen haben, anti-Schwarze staatliche Gewalt zu verstehen und sich gleichzeitig aktiv dagegen zu organisieren. Der Staat wird von vielen als Beschützer seiner nationalen Subjekte imaginiert. Doch dieser Glaube ist Fiktion – eine, die nur aufrechterhalten werden kann, wenn wir das enorme Leid ignorieren, dass direkt oder indirekt durch staatliche Handlungen verursacht wurde. »Den Staat als den natürlichen Ankläger der und Beschützer vor Gewalt anzuerkennen«, schreibt Joy James, »setzt voraus, seine zentrale Rolle bei der Ausübung rassifizierter und sexualisierter Gewalt zu ignorieren.«20 Es ist zutreffender zu sagen, dass der Staat einige auf Kosten der anderen beschützt. Der Zweck staatlicher Gewalt ist die Aufrechterhaltung der Ordnung, diese ist »teilweise 19 Vgl. Angela Y. Davis, »Race and Criminalization: Black Americans and Punishment Industry«, in: Joy James (Hg.), The Angela Y. Davis Reader, Malden 1998, S. 61-73; Joy James, Resisting State Violence: Radicalism, Gender, and Race in U. S. Culture, Minneapolis 1996; Beth Richie, Arrested Justice: Black Women, Violence, and America’s Prison Nation, New York 2012; Andrea J. Ritchie, »Law Enforcement Violence Against Women of Color«, in: INCITE! Women of Color Against Violence (Hg.), Color of Violence: The Incite! Anthology, Durham 2006, S. 138-156; Ruth Wilson Gilmore, Golden Gulag: Prisons, Surplus, Crisis, and Opposition in Globalizing California, Berkeley 2007. 20 James, Resisting State Violence, S. 148.

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durch spezifische Stratifikationssysteme definiert, die die Verteilung von Ressourcen und Macht festlegen«.21 In einer Gesellschaft wie der Kanadas, die anhand von race, Gender, Klasse und Staatsbürger:innenschaft stratifiziert bleibt, agiert staatliche Gewalt zur Verteidigung und Aufrechterhaltung ungleicher sozialer, rassifizierter und ökonomischer Spaltung. Als solche waren die Opfer dieser Gewalt die Enteigneten: hauptsächlich, aber nicht ausschließlich Menschen, die indigen, Schwarz, of color, besonders diejenigen, die arm sind, Frauen, diejenigen, die ohne kanadische Staatsbürger:innenschaft, mit psychischen Krankheiten oder Behinderungen leben, sexuelle Minderheiten und andere marginalisierte Gruppen. Oft rechtlich und kulturell als legitim angesehen, wird das durch staatliche Akteur:innen zugefügte Leid selten strafrechtlich als kriminell verfolgt, auch wenn die Handlungen extreme Gewalt, Diebstahl und den Verlust von Leben einschließen.22 Schwere Ungerechtigkeiten – einschließlich Versklavung, Segregation und zuletzt Jahrzehnte unverhältnismäßiger Morde an unbewaffneten Schwarzen Bürger:innen durch die Polizei – wurden allesamt innerhalb und nicht außerhalb des Geltungsbereichs des kanadischen Rechts begangen.23 Nicht nur wird staatliche Gewalt selten strafrechtlich als kriminell verfolgt, sie wird allgemein nicht als Gewalt wahrgenommen. Weil dem Staat die moralische und rechtliche Autorität über diejenigen gewährt ist, die unter seine Rechtsprechung fallen, hat er ein Monopol über den Gebrauch von Gewalt in der Gesellschaft, die daher generell als legitim angesehen wird. Wenn staatliche Gewalt erwähnt wird, sind Bilder von Polizeigewalt oft das Erste, das in den Sinn kommt. Jedoch kann staatliche Gewalt auch von Institutionen außerhalb des Strafjustizwesens ausgeübt werden, einschließlich Institutionen, die von den meisten als administrativ betrachtet werden, wie Immigrations- und Jugendämter, soziale Dienste, Schulen und medizinische Institutionen. Diese Institutionen setzen marginalisierte Personen nichtsdesto21 Peter Iadicola, Anson D. Shupe, Violence, Inequality, and Human Freedom, Lanham 2003, S. 310. 22 Vgl. Andrea J. Ritchie u. a., Queer (In)Justice: The Criminalization of LGBT People in the United States, Boston 2011. 23 Vgl. Tamari Kitossa, »Making Sense of Repression in Police Studies: Whither Theorizing in the Descent Toward Fascism«, in: Radical Criminology: An Insurgent Journal, 6 (2016), S. 247-321.

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trotz sozialer Kontrolle, Überwachung und Strafe aus, oder wie es die kanadische Kriminologin Gillian Balfour nennt, »nichtlegalen Formen der Gouvernementalität«.24 Diese bürokratischen Behörden besitzen ebenso die repressive Macht, die im Allgemeinen nur als den Strafverfolgungsbehörden zustehend angesehen wird. Sie können das Verhalten von Staatssubjekten polizieren – das heißt überwachen, kontrollieren, eingrenzen und bestrafen. Polizieren beschreibt tatsächlich nicht nur Polizist:innen auf Streife, sondern auch die vergangene und gegenwärtige Überwachung Schwarzer Frauen durch Sozialhilfeträger, die Überdisziplinierung und rassistisch ausgerichtete Ausschließung Schwarzer Kinder und Jugendlicher in den Schulen und die intensive Überwachung und Inhaftierung Schwarzer Migrant:innen durch Grenzkontrollbehörden. Viele arme Schwarze Mütter haben zum Beispiel erlebt, wie Jugendamtsangestellte als Ergebnis eines anonymen Anrufs ihre Wohnungen ohne Erlaubnis oder Warnung betreten, durchsuchen und in einigen Fällen ihre Kinder wegnehmen. Weiterhin kann sich staatliche Gewalt ereignen, ohne dass ein Individuum direkt ein anderes schädigt oder interagiert. Kurz, sie kann in gesellschaftliche Institutionen eingefasst sein.25 Dieses weite Verständnis staatlicher Gewalt hilft uns, die scheinbar zusammenhangslosen staatlichen und staatlich finanzierten In­ stitutionen zu untersuchen, die weiterhin gemeinsam Schwarzes Leid und Unterdrückung verursachen. Staatliche Gewalt trifft nicht alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen, sondern ist tief entlang der Linien von race, Klasse und Gender verteilt. Diese Faktoren spielen eine bedeutende Rolle für die Wahrscheinlichkeit, direkter oder struktureller staatlicher Gewalt ausgesetzt zu sein. Staatliche Gewalt hat historisch verschiedene Gruppen von Menschen betroffen und im Laufe der Geschichte in unterschiedlichem Maß ins Visier genommen, je nach den sich wandelnden Vorstellungen von race, Ethnizität, Klasse und Körpernormen (ability) – oder dem Willen, sozialen Normen zu folgen. In der Gegenwart betrifft sie weiterhin verschiedene marginalisierte Gruppen. Doch es ist kein Zufall, dass Schwarze communities staatlicher Gewalt in einem so 24 Gillian Balfour, »Introduction«, in: Elizabeth Comack, dies. (Hg.), Criminalizing Women: Gender and (In)Justice in Neo-Liberal Times, Winnipeg 2006, S. 154-170. 25 Vgl. Johan Galtung, »Violence, Peace, and Peace Research«, in: Journal of Peace Research, 6/3 (1969), S. 167-191.

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unverhältnismäßigen Maße ausgesetzt sind. Schwarze Unterwerfung in Kanada kann nicht vollständig verstanden und daher auch nicht vollständig beseitigt oder konfrontiert werden, ohne sie in ihren historischen Kontext einzuordnen. Der vorherrschende anti-Schwarze Rassismus innerhalb staatlicher Behörden hat globale und historische Wurzeln und kann auf den transatlantischen Versklavungshandel zurückgeführt werden.

Race und rassistische Unterwerfung Schwarzsein, wie alle rassifizierten Kategorien, ist kein biologischer Fakt, sondern wurde historisch und sozial konstruiert.26 Im Laufe der Zeit haben sich die Bedeutungen, die race zugeschrieben wurden, verändert. Cedric Robinson zeigt, dass der Gebrauch konstruierter Kategorien von race – und die variierenden Wertigkeiten, die diesen races zugeschrieben werden – im antiken Europa innerhalb seiner eigenen Grenzen lange vor der Erschaffung von Schwarzsein existierten. Schwarzsein, argumentiert er, wurde von ihnen zu Beginn des transatlantischen Versklavungshandels erfunden. Um »den N*«, also den afrikanischen Sklaven, zu erschaffen, mussten die Europäer:innen den jahrhundertelangen Kontakt zwischen dem antiken Westen und Nordafrika auslöschen und verdrängen und »extreme Ausgaben an psychischen und intellektuellen Energien«27 tätigen. Die Konstruktion ›des Afrikaners‹ als unmenschliche und bestialische Lebensform rechtfertigte die Kommodifizierung von Schwarzem Leben und Arbeit, die die Nationen Europas für die kommenden Jahrhunderte bereichern würde.28 Anschließend wurde Schwarzes Leben auf die »stumme, tierische Arbeitskraft, ein geächteter Empfänger der Vorteile der Sklaverei«, reduziert.29 Während des transatlantischen Versklavungshandels wur26 Vgl. Ian F. Haney-López, »Social Construction of Race: Some Observations on Illusion, Fabrication, and Choice«, in: Harvard Civil Rights Civil Liberties Review, 29/1 (1994), S. 1-62. 27 Cedric J. Robinson, Black Marxism: The Making of the Black Radical Tradition, London 1983, S. 3. 28 Vgl. Sylvia Wynter, »Unsettling the Coloniality of Being/Power/Truth/Freedom: Towards the Human, after Man, It’s Overrepresentation – An Argument«, in: New Centennial Review, 3/3 (2003), S. 257-337. 29 Robinson, Black Marxism, S. 4.

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den Schwarze Männer, Frauen und Kinder nicht als vollständige menschliche Wesen, sondern als austauschbare Waren gedacht.30 Versklavte Schwarze Menschen wurden als gefühllos angesehen, nur mit einer begrenzten Fähigkeit zum Schmerzempfinden ausgestattet, und als animalisch, hypersexuell und gefährlich dargestellt.31 In den letzten Jahrzehnten haben Autor:innen wie Saidiya Hartman, Rinaldo Walcott, Lewis R. Gordon und Sylvia Wynter32 dokumentiert, wie trotz der weltweiten Abschaffung des Versklavungshandels der Übergang von Versklavung zu Freiheit die Bedeutungen, die untrennbar mit dem Schwarzsein verbunden sind, nicht wesentlich verändert hat. Die als Schwarz Markierten – eine Kategorie, die durch anatomische und physiologische Attribute wie auch Hautfarbe und Haar definiert wurde – wurden nicht als individuelle Menschen gesehen. In Schwarze Haut, Weiße Masken sagt Frantz Fanon, dass Menschen mit afrikanischen Merkmalen in ihrer Existenz in der kolonialen und sklavenhaltenden Welt auf eine Pathologie reduziert wurden, der die gleiche Bedeutung zukam. Er schreibt: »Mir ist keine Chance erlaubt. Ich bin von außen überdeterminiert. Ich bin nicht der Sklave der ›Vorstellung‹, welche die anderen von mir haben, sondern meiner Erscheinung.«33 Lange nach der formellen Emanzipation versklavter Schwarzer Bevölkerungsgruppen und der formellen Dekolonisation des Globalen Südens bleibt anti-Schwarzer Rassismus ein globaler Zustand und hat weiterhin enorme Auswirkungen auf Schwarze Individuen und communities. Es ist »unsere Existenz als menschliche Wesen«, schreibt Rinaldo Walcott, »ständig in Frage zu stehen und im Wesentlichen außerhalb der Kategorien eines Lebens zu verbleiben«.34 Trotz des Endes der Versklavung als gesetzlicher Form der Kontrolle 30 Vgl. Saidiya V. Hartman, Scenes of Subjection: Terror, Slavery, and Self-Making in Nineteenth-Century America, New York 1997, S. 21. 31 Vgl. Hartman, Scenes of Subjection; James, Resisting State Violence. 32 Einschließlich Hartman, Scenes of Subjection; Rinaldo Walcott, »The Problem of the Human: Black Ontologies and ›the Coloniality of Our Being‹«, in: Sabine Broeck, Carsten Junker (Hg.), Postcoloniality – Decoloniality – Black Critique: Joints and Fissures, Frankfurt/M. 2014, S. 93-105; Lewis Gordon, Bad Faith and Antiblack Racism, New Jersey 1995; ders., Her Majesty’s Other Children: Sketches of Racism from a Neocolonial Age, Lanham 1997; Wynter, »Unsettling the Coloniality«. 33 Frantz Fanon, Schwarze Haut, Weiße Masken, Wien 2013, S. 107. 34 Walcott, »The Problem«, S. 93.

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Schwarzer Bewegungen und der Beschneidung Schwarzer Freiheit wurde die andauernde Assoziation von Schwarzsein mit Gefahr und Kriminalität weiter konsolidiert, und es entwickelten sich neue Formen, die Leben Schwarzer Menschen zu polizieren. Unter der Versklavung war das Polizieren des täglichen Schwarzen Lebens der Standard. »Eine gewalttätige Regulierung Schwarzer Mobilitäten« wurde benötigt, damit Sklavenhalter:innen die Institution aufrechterhalten konnten.35 Emanzipation benötigte neue oder mindestens modifizierte Ausdrücke rassistischer Logik; als Schwarz bezeichnete Menschen wurden weltweit einheitlich als bedrohlich beschrieben, überwacht und entsprechend poliziert. Durch das späte 19. Jahrhundert hindurch bis ins frühe 20. Jahrhundert wurden Kriminalität, Gefahr und Devianz umfassender dem Schwarzsein zugeschrieben. In den USA wurden kurz nach der Emanzipation gerade befreite Schwarze Männer und Frauen festgenommen, inhaftiert und unter dem 13. Verfassungszusatz zum Arbeiten gezwungen.36 In der Mitte des 20. Jahrhunderts zeigte Frantz Fanon, wie gemeinsame Überzeugungen über die kriminellen Veranlagungen Schwarzer Menschen quer durch das französische Imperium, die Vereinigten Staaten, Südafrika und Westafrika existierten.37 Im England der 1970er Jahre kritisierte der Kulturtheoretiker Stuart Hall die Verknüpfungen zwischen Schwarzsein und Gewalt in der Panik, die »junge Schwarze Straßenräuber« umgab und die in einer bedeutenden Intensivierung des Polizierens Schwarzer communities in England durch Strafvollzugsbehörden resultierte.38 Heute bleiben Schwarze Menschen in den Vereinigten Staaten über die Maßen im Visier der Strafjustiz, in einem System der Masseninhaftierung, das in vielen Teilen der Welt unbekannt ist.39 In anderen 35 Simone Browne, Dark Matters: On the Surveillance of Blackness, Durham 2015, S. 53. 36 Vgl. Angela Y. Davis, Eine Gesellschaft ohne Gefängnisse?, Berlin 2006; Sarah Haley, No Mercy Here: Gender, Punishment, and the Making of Jim Crow Modernity, Chapel Hill 2016. – Nach dem 13. Verfassungszusatz darf in den USA niemand zu Arbeit gezwungen werden, außer aufgrund einer rechtmäßigen Verurteilung als Verbrecher:in. [Anm. d. Hg.] 37 Vgl. Fanon, Schwarze Haut, S. 101-108. 38 Stuart Hall u. a., Policing the Crisis: Mugging, the State, and Law and Order, New York 2013. 39 Vgl. Michelle Alexander, The New Jim Crow. Masseninhaftierung und Rassismus in den USA, München 2016; Davis, Gesellschaft ohne Gefängnisse?.

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Teilen der Welt, in denen Plantagensklaverei florierte, wie in Brasilien, herrschen racial profiling und Inhaftierung Schwarzer ebenso vor.40 Unter den gegebenen »globalen anti-Schwarzen Bedingungen«41 sollte es nicht wundern, dass die Assoziationen zwischen Schwarzsein, Kriminalität und Gefahr weiterhin enorme Macht in Kanada haben, fast zwei Jahrhunderte nachdem die Brit:innen Versklavung in allen ihren Kolonien abgeschafft haben. Schwarze und weiße Kanadier:innen scheinen die meisten Verbrechen in relativ gleichem Maß zu begehen, doch die Schwarze Bevölkerung, als gefährlich angesehen, trägt weiterhin das Stigma des »Kriminellen«. Kanadische Politiker:innen, Polizei und Zeitungen haben für Jahrhunderte Schwarzsein oder Schwarze »Kulturen« mit Kriminalität und Gefahr verknüpft. Sie wurden als Bedrohung behandelt, um ausgeschlossen, eingesperrt oder entfernt zu werden. Von Verordnungen, die 1911 anstrebten, Schwarze Menschen aus kanadischen Städten zu verbannen,42 und der Entdeckung, dass die Polizei Montreals in den 1980er Jahren Bilder junger Schwarzer Männer für ihre Schießübungen nutzte,43 bis zu der gezielten Abschiebung von fast 1000 Jamaikaner:innen Mitte bis Ende der 1990er Jahre44 hat die Kodierung Schwarzer Personen als kriminell, gefährlich und ungewollt enorme Macht in kanadischen Institutionen. Schwarze Unterwerfung hat in einer Gesellschaft, die behauptet, farbendblind zu sein, ihre Form in wesentlichen Belangen geändert. Heute ist die Herabwürdigung von Schwarzsein manchmal schwer präzise zu lokalisieren. Ausdrücklicher Hass auf Schwarze Menschen, etwa der Gebrauch rassistischer Begriffe oder ein gewalttätiges Verbrechen, sind nicht länger kulturell akzeptabel. Die meisten Kanadier:innen jeglicher politischer Überzeugung würden jede Politik, die auf offenem Hass beruht, größtenteils ablehnen, und es 40 Vgl. Jaime Amparo Alves, João Costa Vargas, »On Deaf Ears: Anti-Black Police Terror, Multiracial Protest and White Loyalty to the State«, in: Identities, 24/3 (2017), S. 254-274. 41 Vgl. Walcott, »The Problem«, S. 93. 42 Vgl. R. Bruce Shepard, Deemed Unsuitable: Blacks from Oklahoma Move to the Canadian Prairies in Search of Equality in the Early 20th Century, Only to Find Racism in Their New Home, Toronto 1997. 43 Vgl. Frances Henry, Carol Tator, Racial Profiling in Canada: Challenging the Myth of ›a Few Bad Apples‹, Toronto 2006, S. 78. 44 Vgl. Barnes, »Dangerous Duality«.

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wäre unwahrscheinlich, dass sie einen offenen Aufruf unterstützen würden, die »Nur-für-Weiße«-Immigrationspolitiken zurückzubringen oder Schulen wieder zu segregieren und Schwarze Jugendliche aus den Schulen zu verbannen. Diese Form des Rassismus – die in manchen Teilen der Gesellschaft während des Aufschwungs von Bewegungen der white supremacy wiederbelebt wird – ist in einer Ära, in der im kanadischen Recht formelle Gleichheit herrscht, größtenteils aus der politischen Gunst des Mainstreams gefallen. Liberale Demokratien wie Kanada praktizieren weiterhin beträchtliche rassialisierte Diskriminierung, allerdings tun sie dies, während sie zugleich ein formelles Bekenntnis zur Gleichheit verkünden. Es ist letztendlich »die Hochzeit von Gleichheit und Ausgrenzung im liberalen Staat«, die modernen staatlichen Rassismus von vorherigen Formen des Rassismus während der Versklavung unterscheidet.45 Rassismus ist heute lediglich schwieriger zu entdecken und zu bekämpfen. Während im 21. Jahrhundert viele Schwarze Menschen in Kanada offiziell gleiche Rechte wie andere Staatsangehörige haben, bedeutet »offizielle« Gleichheit wenig, wenn es der Staat ist, der rassistische Unterdrückung, Benachteiligung und andere Formen der Gewalt ausübt und sich weigert, dagegen vorzugehen. Weil viele Formen des offenen Rassismus nicht toleriert werden, beruht staatlich unterstützte Gewalt auf der Schuldigkeit derer, denen sie schadet. Anti-Schwarzer Rassismus, der Schwarzsein mit Kriminalität und Gefahr verknüpft, rationalisiert staatliche Gewalt gegen Schwarze communities, weil Schwarze Menschen als »im Voraus schuldig« angesehen werden – als immer und ohnehin schon schuldig.46 Tatsächlich werden staatlich angeordnete Gewalt und Unterdrückung oft als rationale Antworten auf eine Bedrohung wahrgenommen – die Bedrohung des Schwarzseins. Hassrede maskiert sich als Schutzmaßnahme und die Gewalt gegenüber der Schwarzen Bevölkerung als Durchsetzung justizieller »Gerechtigkeit«. Joy James, Schwarze amerikanische Rassismustheoretikerin und Aktivistin, erinnert uns daran, dass Rassismus dabei hilft, unsere Wahrnehmung, wer Leid verursacht und wer es erfährt, umzudrehen. Sie beobachtet, »dass anti-Schwarzer Rassismus eine wesentliche historische Rolle in der Rationalisierung und Invertierung 45 Hartman, Scenes of Subjection, S. 10. 46 Gordon, Her Majesty’s Other Children, S. 22.

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der Hierarchie von Unterdrückten und Unterdrückenden gespielt hat«.47 Obwohl anti-Schwarzer Rassismus Jahrhunderte rassistischer Gewalt mit bleibender Auswirkung auf die Würde, Gesundheit und das Wohlbefinden Schwarzer Menschen legitimiert hat, werden Schwarze communities selbst für die Gewalt verantwortlich gemacht, der sie kontinuierlich ausgesetzt sind. Die staatliche Gewalt, die Schwarze Bevölkerungsgruppen anvisiert, macht sichtbar, dass Kanadas Schwarze Bevölkerung von denen ausgeschlossen wurde, die als »nationale Subjekte«48 gesehen werden, und ihr viele der damit einhergehenden Sicherheiten und Rechte verwehrt bleiben. Weiterhin werden Schwarze Menschen nicht nur als anders-als-Staatsbürger:innen gesehen, sondern historisch und gegenwärtig als Bedrohung für »echte« Kanadier:innen konstituiert. Dementsprechend findet staatliche Gewalt gegen Schwarze communities oft im Namen des Schutzes von »uns« vor »denen« statt, eine Unsichtbarmachung von anti-Schwarzem Rassismus und Schwarzem Leid. In Kanada wie anderswo lebt das Erbe der Schwarzen Versklavung fort, und die Assoziationen von Schwarzsein mit Pathologie, wenn auch auf verschiedene Weisen modifiziert, haben weiterhin bedeutende Auswirkungen auf Schwarzes Leben. Mit den Worten der Schwarzen Wissenschaftlerin Saidiya Hartman, die sich mit Versklavung auseinandersetzt: »Schwarze Leben werden durch ein radiales Kalkül und eine politische Arithmetik gefährdet und abgewertet, die vor Jahrhunderten verankert wurden.«49 In Kanada Schwarz zu sein, heißt, im »Nachleben« (afterlife) der Versklavung zu leben und eine Existenz zu führen, die von »durchkreuzten Lebenschancen, beschränktem Zugang zu Gesundheit und Bildung, vorzeitigem Tod, Einsperrung und Verarmung« bestimmt ist.50 Jede Studie zu institutionellem anti-Schwarzen Rassismus muss notwendigerweise die Tatsache zugrunde legen, dass Kanada eine Siedlerkolonie ist, gegründet auf Kolonisierung und Genozid. In Siedlerkolonien wie Kanada und den Vereinigten Staaten sind 47 James, Resisting State Violence, S. 27. 48 Vgl. Sunera Thobani, Exalted Subjects: Studies in the Making of Race and Nation in Canada, Toronto 2007. 49 Saidiya V. Hartman, Lose Your Mother: A Journey Along the Atlantic Slave Route, New York 2007, S. 6. 50 Ebd.

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Schwarze und indigene Unterdrückung historisch und aktuell verbunden. Tatsächlich argumentieren jüngste Schriften der Blackund Indigenous-Studies-Wissenschaftlerin Tiffany King,51 dass wir die Bedingungen Schwarzen Lebens in Siedlerkolonien nicht wirklich verstehen können, ohne das Verhältnis von anti-Schwarzem Rassismus und Versklavung zu Siedlerkolonialismus und Genozid zu untersuchen. Dies waren, argumentiert sie, keine isolierten historischen Prozesse. Stattdessen gab es eine Beziehung zwischen dem genozidalen Siedlungsprojekt, das versuchte, indigene Völker auszulöschen und ihnen ihr Land zu nehmen, und den brutalen Logiken der Versklavung, die darauf ausgerichtet waren, Schwarze Männer, Frauen und Kinder auf unmenschliche Wesen zu reduzieren.52 Obwohl es einen Zusammenhang gibt, nehmen die rassistischen Logiken von Versklavung und Siedlerkolonialismus unterschiedliche Formen an, die jeweils nicht übertragbar sind; anti-Schwarzer Rassismus und Siedlerkolonialismus beruhen auf leicht unterschiedlichen Grundlagen. Indigene Völker werden als »im Weg stehend« angesehen, und Gesetze und Politiken werden genutzt, um indigene communities zu zerstören und sich uneingeschränkten Zugang zu indigenem Land zu sichern.53 Das übergeordnete Ziel des weißen Siedlerkolonialismus ist es, indigene Völker auszulöschen, entweder durch Assimilation oder Genozid – sie in »Geister« zu verwandeln.54 51 Vgl. Tiffany King, In the Clearing: Black Female Bodies, Space and Settler Colonial Landscapes, Dissertation an der University of Maryland, 2013; dies., »Labor’s Aphasia: Toward Antiblackness as Constitutive to Settler Colonialism«, in: Decolonization: Indigeneity, Education & Society, 10. 6. 2014, 〈decolonization. wordpress.com/2014/06/10/labors-aphasia-toward-antiblackness-as-constitu tive-to-settler-colonialism/〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 52 Vgl. King, In the Clearing; Aman Sium, »›New World‹ Settler Colonialism: ›Killing Indians, Making Niggers‹«, in: Decolonization: Indigeneity, Education & Society, 22. 11. 2013, 〈https://decolonization.wordpress.com/2013/11/22/ new-world-settler-colonialism-killing-indians-making-niggers/〉 , letzter Zugriff 17. 2. 2022. 53 Sium, »›New World‹ Settler Colonialism«; Eva Tuck, K. Wayne Yang, »Decolonization Is Not a Metaphor«, in: Decolonization: Indigeneity, Education & Society, 1/1 (2012), S. 1-40, hier S. 6, 〈https://clas.osu.edu/sites/clas.osu.edu/ files/Tuck%20and%20Yang%202012%20Decolonization%20is%20not%20a%20 metaphor.pdf〉, letzter Zugriff 17. 2. 2022; siehe auch Patrick Wolfe, »Settler Colonialism and the Elimination of the Native«, in: Journal of Genocide Research, 8/4 (2007), S. 387-409. 54 Tuck/Yang, »Decolonization«, S. 6.

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Das System der Reservate, das Aufzwingen von Internaten mit der Absicht, »den Indigenen im Kind zu töten«, Zwangssterilisation indigener Frauen, anhaltende Ausbeutung der Ressourcen und Pipelines, die sich auf indigenes Land erstrecken, sind nur ein paar Beispiele, die eine eigentümliche Logik von Genozid und Diebstahl an indigenen Völkern demonstrieren.55 Im Kontrast dazu liegt es in der Logik Schwarzer Versklavung, die Schwarze Persönlichkeit anzugreifen: »Der Sklave« ist eine nützliche Ware, aber »die darunterliegende Person ist einsperrbar, strafbar, und ermordbar«.56 In der Logik von Sklavenhaltergesellschaften ist Schwarzes Vieh eine »Sache«, aber Schwarze Menschen sind »Monster«.57 Trotz unterschiedlicher rassistischer Logiken resultieren das lebende Erbe der Versklavung und die andauernde Praxis des Siedlerkolonialismus in ähnlichen Formen der Unterdrückung. Schwarze und indigene Menschen erleben stark unverhältnismäßige Inhaftierung, Anfälligkeit für Polizeigewalt, Armut und Kindeswegnahme. Ohne Siedlerkolonialismus zu adressieren, erhalten wir daher nur eine unvollständige Geschichte des anti-Schwarzen Rassismus; das Verhältnis zwischen Schwarzer und indigener Unterdrückung anzuerkennen, ist von fundamentaler Bedeutung in jeder intellektuellen oder politischen Bewegung, die racial justice anstrebt.

In Verteidigung aller Schwarzen Leben Nicht alle Schwarzen Menschen werden in gleichem Maße oder auf identische Weise dämonisiert. Geschlecht, sexuelle Orientierung, (dis)ability, mentale Gesundheit und Geburtsort vermitteln ebenfalls, wie anti-Schwarzer Rassismus erlebt wird. Schwarze feministische Wissenschaft und Aktivismus haben eine erneut notwendige Auseinandersetzung damit erzwungen, was und wen wir uns vorstellen, wenn wir von Gewalt gegen den Schwarzen Körper sprechen. Es ist üblich, sich in Diskussionen über anti-Schwarzen Rassismus auf den männlichen Schwarzen Körper als das primä55 Pamela Palmater, »Unbelievable, but Undeniable: Genocide in Canada«, in: Rabble. ca, 6. 11. 2011, 〈rabble.ca/blogs/bloggers/pamela-palmater/2011/11/unbelievableundeniable-genocide-canada〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 56 Tuck/Yang, »Decolonization«, S. 6. 57 Ebd.

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re Ziel des Staates zu fokussieren. Der Großteil von Literatur und Studien konzentriert sich auf die Mittel, mit denen junge heterosexuelle Schwarze Männer von Popkultur und Strafrechtssystem dämonisiert werden. Dies hat regelmäßig ermöglicht, dass staatliche Gewalt gegen Schwarze Personen, die keine jungen Schwarzen Männer sind, ungesehen und unangefochten bleibt. Kimberlé Crenshaw und Andrea J. Ritchie, Rechtswissenschaftlerinnen und Autorinnen des Buches Say Her Name: Resisting Police Brutality Against Black Women,58 bestehen darauf, dass wir unseren Blick erweitern, um zu sehen, wie die Dämonisierung von Schwarzen Körpern sich auf Schwarze Frauen und sexuelle Minderheiten über das Spektrum der Geschlechter hinweg auswirkt. Auch wenn es offensichtlich wichtig ist zu thematisieren, wie die Strafjustiz mit jungen Schwarzen Männern interagiert, ist es gleichermaßen wichtig, die spezifischen Realitäten, die Schwarzen trans Frauen auf der Straße begegnen, sichtbar zu machen, oder wie beispielsweise Schwarze sexuelle Minderheiten und Schwarze Schüler:innen mit Behinderungen besonderer Kontrolle und Feindseligkeit in Schulen gegenüberstehen können. In den Worten von Crenshaw und Ritchie: »Keine Analyse der staatlichen Gewalt gegen Schwarze Körper ist vollständig, wenn sie nicht alle Schwarzen Körper in ihren Analyserahmen einbezieht.«59 Eine beachtliche Zahl Schwarzer Menschen werden misshandelt, festgenommen, ausgewiesen und suspendiert, nur aufgrund ihres Schwarzseins, obwohl sie kein Verbrechen begangen haben. Die Gewalt der Strafjustiz gegen unschuldige Schwarze Frauen ist eine eindeutige Manifestation rassistischer Ungerechtigkeit. Es muss jedoch darum gehen, die weithin akzeptierten Dichotomien, wer schuldig/unschuldig ist und wer also staatliche Gewalt oder Schutz verdient/nicht verdient, in Frage zu stellen. Es sollte nicht als weniger gewalttätig gesehen werden, wenn die Polizei einen Schwarzen Jugendlichen misshandelt, der, technisch gesehen, »kriminell« ist, oder als gewalttätiger, wenn die Polizei unschuldige Schwarze Jugendliche ohne vorherige Vergehen misshandelt. Schwarze communities erfahren einen bedeutenden gesellschaftlichen Druck, sich auf weiße Mittelklassenormen zu berufen und 58 Kimberlé Williams Crenshaw, Andrea J. Ritchie, Say Her Name: Resisting Police Brutality Against Black Women, New York 2015. 59 Ebd., S. 26 [Hervorhebung d. Verf.].

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unsere communities unter der Voraussetzung zu verteidigen, dass wir ebenfalls gesetzestreue und tugendhafte Bürger:innen sind – dass uns dies als der Menschenwürde würdig erweist, die uns verwehrt bleibt. Dies wird als »Politik der Respektabilität«60 bezeichnet. Doch wie Schwarze communities weiterhin lernen, sind Appelle an den Anstand als Langzeitstrategie unzureichend, denn »es ist genau unser Schwarzsein, das uns jenseits des Bandes der Respektabilität verortet«.61 Zusätzlich bedeutet, sich nur auf den Schutz derjenigen Schwarzen Menschen zu konzentrieren, die als gut oder unschuldig wahrgenommen werden, all diejenigen im Stich zu lassen, die vom Gesetz oder der eurochristlichen Moral als »schlecht« gekennzeichnet wurden. Das lässt »schlechte« Schwarze Menschen ungeschützt: die Mitglieder der community, die von echter oder eingebildeter Beteiligung an illegalen Ökonomien stigmatisiert sind, diese Jugendlichen oder Erwachsenen, die illegale Drogen gebraucht oder verkauft haben, deren Darstellung von Gender oder Sexualitäten als abweichend erachtet wird, Sexarbeiter:innen, undokumentierte Migrant:innen und Inhaftierte. Stigmatisiert und entbehrlich gemacht, sind diese Schwarzen Menschen gegenüber staatlicher Misshandlung, Ausbeutung, Inhaftierung und sogar Tod mit kleinem oder gar keinem Aufschrei am meisten verletzbar. Die grauenhaften Bedingungen, die von vielen Schwarzen Jugendlichen in staatlicher Fürsorge, in Kanadas Landesgefängnissen oder Einwanderungsbehörden erlebt werden, zeugen von dieser Tatsache. Ich möchte zu einem Konzept von racial justice beitragen, indem wir die Ungerechtigkeiten wahrnehmen, die alle Schwarzen Leben betreffen. Ich möchte natürlich das Leben von Viola Desmond würdigen, inoffiziell bekannt als »Kanadas Rosa Parks«, eine aufrechte Schwarze Frau, die sich bekanntlich 1946 weigerte, in der »Nur-für-Schwarze«-Sektion eines Theaters in Nova Scotia zu sitzen, und damit die Segregation herausgefordert hat.62 Darüber hinaus möchte ich das Leben von Chevrenna Abdi in vollem Umfang 60 Alexander, The New Jim Crow, S. 250. 61 Dorothy E. Roberts, »Deviance, Resistance, and Love«, in: Faculty Scholarship, 1386 (1994), S. 179-191, hier S. 180 f. 62 Nachdem sie größtenteils aus der nationalen Symbolik gelöscht wurde, wurde Viola Desmond dank der unermüdlichen Arbeit ihrer überlebenden Familienmitglieder auf kanadischen Briefmarken abgebildet und dafür vorgeschlagen, 2018 auf Geldscheinen zu erscheinen.

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würdigen, einer Schwarzen transgender Frau und Drogennutzerin, die mit HIV lebte und 2003 starb, nachdem sie mit dem Gesicht nach unten von Polizeibeamten in Hamilton, Ontario, mehrere Treppenstufen heruntergezogen wurde. Selbst im Tod wurde Abdi von den Medien lächerlich gemacht und von den größeren LGBTIQ*- und Schwarzen communities ignoriert. Kurz, es ist dringend notwendig, dass alle Schwarzen Leben als wertvoll angesehen werden und Schwarzes Leid anerkannt wird. Es ist wesentlich zu erkennen, auf welche Weisen anti-Schwarzer Rassismus den Rahmen und die Möglichkeiten Schwarzer Freiheit geformt hat und weiterhin formt. Dabei riskiert man jedoch auch, Narrative Schwarzer Dämonisierung als totalisierend darzustellen: »Es geht darum, Anti-Schwarzsein als totales Klima anzuerkennen«, wobei man aber Gefahr läuft, nicht auch den »beharrlichen Schwarzen visuell-sonischen Widerstand gegen diese Zumutung des Nicht-/Seins zu erkennen«, erklärt Christina Sharpe.63 Wenn ich also auf der Entwertung Schwarzen Lebens bestehe, beabsichtige ich nicht, die sehr realen Realitäten Schwarzer Verweigerung, Subversion, des Widerstandes und der Kreativität, die trotz Jahrhunderten systematischer Feindseligkeit und Unterdrückung floriert haben, zu leugnen. […] Es gibt außergewöhnliche Geschichten von Resilienz, viele dokumentiert und viele mehr noch ungeschrieben, die ein Zeugnis von der Politik der anhaltenden Schwarzen kulturellen, intellektuellen und spirituellen kreativen Praktiken ablegen, trotz Politiken, die darauf abzielten, diese Handlungen auszulöschen. Diese Geschichten umspannen Jahrhunderte. 1734 versuchte eine versklavte Schwarze Frau namens Marie-Joseph Anfélique, vor ihrer weißen Herrin zu fliehen. Ihr Beharren auf Unabhängigkeit und Handlungsmacht hatte enorme Konsequenzen. Unter der Anklage, Montreal niedergebrannt zu haben, wurde sie verhaftet, gefoltert und öffentlich gehängt.64 Im 19. Jahrhundert riskierten hunderte freie Schwarze Männer und Frauen in Südwest-Ontario staatliche und öffentliche Repression, indem sie Komitees zum Selbstschutz gründeten, die den Versuchen weißer amerikanischer Sklav:innenhändler widerstanden, nach Kanada geflohene Sklav:innen erneut 63 Christina Sharpe, In the Wake: On Blackness and Being, Durham 2016, S. 21. 64 Vgl. Afua Cooper, The Hanging of Angélique: The Untold Story of Canadian Slavery and the Burning of Old Montréal, Toronto 2006.

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zu versklaven.65 Schwarze communities in der Prärie kämpften gegen die Straffreiheit, die dem Ku-Klux-Klan im frühen 20. Jahrhundert gewährt wurde.66 Die Resilienz, die benötigt wird, um das tägliche Leben inmitten von struktureller und populistischer Gewalt zu bewältigen, wird nicht immer anerkannt, und es gibt eine Tendenz, »die subversiven Taktiken gewöhnlicher Leute« zu übersehen und sich nur auf die »spektakulären Aktion von Freiheitskämpfer:innen, Demonstrierenden oder rioters«67 zu konzentrieren. Weniger glorifiziert, aber ebenso bedeutend sind die täglichen Akte der Widerstandskraft und des Überlebens von Schwarzen Individuen im Angesicht von institutionellem Rassismus und Entbehrung, dokumentiert, beispielsweise, durch Makeda Silver, Dionne Brand und Sylvia Hamilton.68 Weltweit befinden wir uns momentan inmitten einer Wiederbelebung des Schwarzen Widerstands, und Kanada ist davon keinesfalls ausgenommen. Ausgehend von den Traditionen der Organisierung in der community in den späten 1980er Jahren durch Gruppen wie das Black Action Defence Committee, sind in den letzten Jahren Proteste der Schwarzen communities in vielen Städten Kanadas ausgebrochen.69 Zusätzlich zu der täglichen Tapferkeit von Schwarzem Überleben und Fürsorge wurde der Schwarzen radi65 Vgl. Peggy Bristow, »›Whatever You Raise in the Ground You Can Sell It in Chatham‹: Black Women in Buxton and Chatham, 1850-65«, in: dies. u. a. (Hg.), »We’re Rooted Here and They Can’t Pull Us Up«, S. 69-142. 66 Vgl. Constance Backhouse, Colour-Coded: A Legal History of Racism in Canada, 1900-1950, Toronto 1999. 67 Roberts, »Deviance, Resistance, and Love«, S. 183. 68 Vgl. Makeda Silvera, Silenced: Makeda Silvera Talks with Working Class West Indian Women About Their Lives and Struggles as Domestic Workers in Canada, Toronto 1999; Dionne Brand, No Burden to Carry: Narratives of Black Working Women in Ontario, 1920s-1950s, Toronto 1991; Sylvia Hamilton, »Naming Names, Naming Ourselves: A Survey of Early Black Women in Nova Scotia«, in: Bristow u. a. (Hg.), »We’re Rooted Here and They Can’t Pull Us Up«, S. 13-40. 69 Bemerkenswerterweise gab es nach dem Tod von Abdirahman Abdi einen nationalen Aktionstag von Küste zu Küste, organisiert von Schwarzen Aktivist:innen in sechs Städten in Kanada, inklusive Toronto, Winnipeg, Vancouver, Hamilton, Kitchener-Waterloo, Edmonton und Ottawa; vgl. Alex Migdal, »Black ­Lives Matter Protests Death of Abdirahman Abdi Across Canada«, in: Globe and Mail, 24. 8. 2016, 〈theglobeandmail.com/news/national/black-lives-matter-pro tests-death-of-abdirahman-abdi-in-cities-across-canada/article31531189/〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022.

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kalen Phantasie neues Leben eingehaucht, neue Formen von Aktivismus, Kunst, intellektueller Arbeit und Widerstand befeuernd. Dieses Wiederaufleben findet nicht nur in den Vereinigten Staaten statt, sondern auch in Regionen, die weniger für ihre Schwarzen Bevölkerungen bekannt sind, einschließlich Solidaritätsaktionen in Palästina und Schwarze Organisierung in zahlreichen Nationen in Lateinamerika.70 Diskussionen quer durch Schwarze communities rund um die Welt zeigen deutlich, dass anti-Schwarzer Rassismus keine Grenzen kennt: Wenige Orte, wenn überhaupt, blieben von den Vermächtnissen europäischer Kolonisierung oder den rassistischen Weltanschauungen in ihrem Windschatten unberührt. Gegenwärtige Bewegungen für die Würde Schwarzen Lebens sind quer durch die afrikanische Diaspora im Gange, viele, aber sicherlich nicht alle unter dem Banner von #BlackLivesMatter. Zur gleichen Zeit werden die spezifischen Realitäten von anti-Schwarzem Rassismus, wie er sich lokal in verschiedenen Regionen entwickelt hat, weitläufig geteilt und verbreitet. […] Übersetzt von Kofi Shakur und Mihir Sharma

70 Zu Schwarzer/palästinensischer Solidarität nach Mike Browns Tod in Ferguson, Missouri, siehe Anna Isaacs, »How the Black Lives Matter and Palestinian Movements Converged«, in: Moment, März-April 2016; 〈momentmag.com/22800-2/〉; zum Black-Lives-Matter-Aktivismus in Brasilien siehe Will Carless, »Brazil’s ›Black Lives Matter‹ Struggle – Even Deadlier«, in: Global Post, 3. 11. 2015, 〈pri. org/stories/2015-11-03/brazils-black-lives-matter-struggle-even-more-dire〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022.

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Nikhil Pal Singh Das Weißsein der Polizei Um den vielen Gefahren und Unannehmlichkeiten vorzubeugen, die aus den ordnungswidrigen und ungesetzlichen Versammlungen von N* und anderen Sklav:innen entstehen können, sollten Patrouillen eingerichtet werden. – Generalversammlung von Georgia, 1818 Die Polizeigewalt ist das Gegenstück [...] zum Bereich der individuellen Freiheit. – John Burgess, 1899

Weißsein ist ein Status, der innerhalb einer dramatisch ungleichen Eigentumsordnung verschiedene – und doch miteinander verbundene – soziale, politische und wirtschaftliche Freiheiten verleiht. Es ist ein Gefüge, das bewusst geschaffen wurde, um die Regierung des öffentlichen Lebens in einer Welt auszuweiten, zu verstärken, zu individualisieren und anzugleichen, die von Privateigentümern beherrscht wurde, deren Besitz andere Menschen sowie bewohntes, wenn auch nicht von früheren Besitzansprüchen gerahmtes Land einschließt. Dennoch entstammt das Weißsein nicht direkt aus dem Privateigentum. Vielmehr entsteht es aus der Verwaltung des Eigentums und seiner Interessen im Verhältnis zu denjenigen, die kein Eigentum und somit keine berechenbaren Interessen haben und von denen man daher annimmt, dass sie eine potentiell kriminelle Missachtung der Eigentumsordnung in sich hegen.1 Der Sklave sei »von Natur aus ein Dieb«, schrieb Benjamin Franklin – um sich später zu der Behauptung zu berichtigen, es sei die Sklaverei als Institution, die die Neigung zum Diebstahl erzeuge. Sein Landsmann Thomas Jefferson vertrat die Ansicht, dass die Emanzipation2 eine unmittelbare Bedrohung für die Institution der ame1 Vgl. Stefano Harney, Fred Moten, Die Undercommons. Flüchtige Planung und schwarzes Studium, hg. von Isabell Lorey, Wien 2016, S. 65 f., vgl. auch Bryan Wagner, Disturbing the Peace: Black Culture and Police Power after Slavery, Cambridge 2009. 2 Mit Emanzipation ist in diesem Kontext spezifisch das formale Ende der Ver-

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rikanischen Gesellschaft selbst darstellen würde. Da die Schwarzen die ihnen angetanen schrecklichen Verbrechen nicht würden vergessen können und daher mörderische Wünsche und Absichten hegten, während die Weißen in einem Zustand der permanenten Angst leben müssten, der zu vorsorglicher Gewalt führen würde, sei eine permanente Absonderung aller Freigelassenen weit weg von den amerikanischen Küsten erforderlich.3 Diese Entgleisungen sind bezeichnend. Unabhängig von ihrer Quelle oder Ursache (weiße Unterdrückung oder schwarze Natur) prägte die »Rassen«-Grenze, die das zivile Leben konstruierte, ein tiefsitzendes, materiell und existentiell folgerichtiges Misstrauen gegenüber kriminellen Handlungen. Ebenso ermöglichte es die rechtliche, normative und ideologische Investition in das persönliche Weißsein als eine besondere Form von Eigentum, einen quasidemokratisierenden Anteil an dieser Ordnung zu erlangen. Weißsein suggerierte eine Beziehung zwischen der differenten Wertigkeit der Menschen und dem materiell wichtigen Zugang zu indigenem Land und menschlichem Kapital (das heißt Sklav:innen), später dann zu qualifizierten Arbeitsplätzen und verschiedenen Formen staatlicher Unterstützung.4 Doch für die Mehrheit, für die ein lohnabhängiges (oder unentlohntes) Leben im Kapitalismus bestimmt war, förderte die Behauptung und Durchsetzung des Weißseins auch den Zugang zu materiellen Vorteilen und sadistischen Genüssen, die sich aus der Verwaltung der rassialen Ordnung selbst ergaben. Wesentlich ist, dass die rassiale Differenzierung der Gesellschaft über mehrere Jahrhunderte hinweg – inklusive der seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmenden Ablehnung formaler, rechtlicher rassistischer Diskriminierungen – kontinuierlich als quasidemokratisches Gegenstück sklavung in den USA gemeint, das 1862 durch die Emancipation Proclamation von Abraham Lincoln erzwungen wurde. [Anm. d. Hg.] 3 Vgl. Benjamin Franklin, »Observations Concerning the Increase of Mankind, the Peopling of Countries, etc.« (1751), in: Leonard W. Labaree u. a. (Hg.), The Papers of Benjamin Franklin, New Haven 1959, Bd. 4, S. 225-234. Vgl. auch David Waldstreicher, Slavery’s Constitution: From Revolution to Ratification, New York 2010, S. 26. 4 Vgl. Cheryl Harris, »Whiteness as Property«, in Kimberlé Crenshaw u. a. (Hg.), Critical Race Theory: The Key Writings that Formed the Movement, New York 1995, sowie George Lipsitz, The Possessive Investment in Whiteness: How White People Profit from Identity Politics, Philadelphia 2009.

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zur öffentlich sanktionierten privaten Akkumulation und den sozialen Kosten, Spaltungen und Krisen, die sie hervorruft, beständig neu gestaltet wurde. Die fragliche Demokratie schloss allerdings Bestrebungen in Richtung einer Demokratie weißen Eigentums aus, wenngleich sie dazu tendierte, die Idee einer Demokratie der Polizeigewalt in Bezug auf und als Methode zur Regulierung einer ungleichen Ordnung der Eigentumsverhältnisse zu fördern, das heißt, das Weißsein der Polizei. Unter Polizeiarbeit können die präventiven Mechanismen und Institutionen zur Sicherung des Privateigentums im Rahmen der öffentlichen Ordnung verstanden werden, einschließlich des Zugangs zu den Gewaltmitteln, ihrer legalen Narration und ihrer Anwendung. Polizeiarbeit ist antizipatorisch: Sie umfasst, in den Worten von Michel Foucault, jene »Überwachungen, Kontrollen, Blicke, verschiedene Erfassungsmuster [...], die es erlauben auszumachen, ob der Dieb nicht stehlen wird usw., bevor er überhaupt gestohlen hat«.5 Während die Disziplin versucht, die Bewegung von unrecht(tuend)en Körpern im Raum durch verschiedene Arten von künstlichen Einhegungen aufzuhalten, gewährleistet die Sicherheit die ordnungsgemäße Zirkulation von Menschen und Dingen über große Entfernungen.6 In diesem Sinne ist die Polizei, wie der US-amerikanische Politikwissenschaftler John Burgess schon früh feststellte, eine paradigmatische Institution für eine Gesellschaft, die auf individueller Freiheit beruht. Sie verbindet juristische Konsistenz mit administrativem Prärogativ, koordiniert das Verhältnis von karzeralem Raum zu offenem Raum und kalkuliert das Verhältnis zwischen notwendiger Gewaltanwendung und dem inhärenten Risiko einer Gesellschaft, die von der Zustimmung der Regierten abhängig ist. Die Polizeiarbeit differenziert zudem, wann eine Festnahme durchzuführen ist, und dem Gebot der Entwicklung; sie bestimmt schließlich, wer diszipliniert werden muss, damit andere sicher genug sein können, um ihre Eigeninteressen zu verfolgen. In wichtigen, von Foucault inspirierten Darstellungen von Polizeiarbeit und Sicherheit wird oft übersehen, wie die Konstitution dieser vorausschauenden, sich ausweitenden und probabilistisch 5 Michel Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität 1. Vorlesungen am Collège de France 1977-78, Frankfurt/M. 2004, S. 17. 6 Falsche Lesarten Foucaults sehen diesen Zusammenhang als historische Abfolge statt als Prozess der Überlagerung oder Archäologie.

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definierten Macht in den Vereinigten Staaten wie auch in anderen Sklavenhalter:innen-, Siedler:innen- und Kolonialgesellschaften untrennbar mit verschiedenen Formen rassifizierter Differenzierung verbunden war, gegen die sich ein dehnbares und inklusives Gefühl des Weißseins als politische Subjektivität durchsetzte. Wie die bereits erwähnten Verweise auf Franklin und Jefferson nahelegen, wurde die Kriminalisierung für liberale Regierende unverzichtbar, die seit der frühesten Entwicklung der US-Nationalstaatlichkeit befürchteten, dass die Verurteilung von Schwarzsein oder Rotsein allein nicht ausreichte, um die unzähligen Ungerechtigkeiten zu rechtfertigen, die von Siedler:innen, Sklavenhalter:innen und Händler:innen begangen wurden. Franklins Sehnsucht, dass ein »edenisches« Nordamerika zu einem Knotenpunkt für die »rein weißen Menschen« der Welt werden könnte, war zwar nicht realistisch, aber auch kein frommer Wunsch; diese programmatische Vision unterstützte kontinuierliche und bewusste staatliche Eingriffe in die soziobiologische Konstitution der menschlichen Kollektivität entlang eines sich ständig ausweitenden Bogens von Kontakt und Austausch zwischen verschiedenen Bevölkerungen. Die polizeilichen Maßnahmen wiederum entwickelten sich entlang des Kontinuums des Rassenmanagements, das sich von der biopolitischen Inklusion (ein sich ausweitendes Weißsein) bis zur nekropolitischen Vernichtung ganzer Gemeinschaften (Genozid) erstreckte. Dabei ist es wichtig, die Produktion von Weißsein als einen aktiven und anhaltenden sozialen Prozess zu verstehen – einen Prozess, der auf einer früheren Geschichte der rassialen Differenzierung aufbaut, der aber auch durch die Schaffung neuer Unterscheidungen funktioniert. Veränderungen in rassialen Ordnungen sind ebenso wichtig wie deren offenbare Kontinuitäten; sie korrespondieren mit Räumen der Politik und des Kampfes, des Widerstands und der Flucht, und sie legen die Erfordernis nahe, dass rassiale Ordnungen institutionalisiert werden müssen, also von einem Personal verwaltet werden, das zu diesem Zweck rekrutiert, finanziert und subjektiviert werden muss. In ähnlicher Weise wurden die rassial Beherrschten unterschiedlich behandelt. Der eliminatorische Pol des US-amerikanischen »Rassen«-Spektrums, der die Beziehungen zu den indigenen Völkern umfasst, hatte den Charakter einer irregulären Kriegsführung in einem Kontext vielfältiger ungeklärter souveräner Landansprüche. Im Gegensatz dazu stand das Weiß278

sein dem Schwarzsein durch eine negative Biopolitik gegenüber, die auf die Verwaltung des Kapitals und die fortlaufende Erschöpfung (und Abwertung) des Lebens von Menschen ausgerichtet war, deren Körper und Arbeitskraft für die Akkumulation des Kapitals wesentlich waren. Gleichzeitig führte das Rassenmanagement in jeder Situation zu einem fortwährenden Abgleiten zwischen Polizeiarbeit und Krieg, das die Gegenwart noch immer deutlich kennzeichnet.7 Die stetige Ausweitung der strafrechtlichen Zuständigkeit auf lokaler Ebene im Hinblick auf indigene Gegengewalt war das primäre Mittel, um die durch Kriegsführung und vertragliche Verpflichtungen ausgehandelte indigene Souveränität zu beseitigen.8 Die Sklav:innenpatrouille wiederum entwickelte sich direkt aus der Bürgermiliz, deren Hauptzweck durch die Angst vor einem Aufstand der Untertan:innen motiviert war. Die Entwicklung rechtlicher und narrativer Mittel zur Kriminalisierung der (tatsächlichen und potentiellen) Gegengewalt der Beherrschten war nicht nur für die Institutionalisierung und Legitimierung der Unterdrückungsgewalt von zen­ traler Bedeutung, sondern auch für die Verdrängung und Verleugnung der früheren Anerkennung, dass die Quellen von Feindschaft, Zwietracht und Trauma im Wesentlichen von der weißen Gewalt selbst ausgingen. Hinter solchen ideologischen Überlegungen oder psychischen Prozessen verbarg sich ein praktisches Problem: Wie lässt sich eine Gesellschaftsordnung verteidigen und legitimieren, die auf fortgesetztem Mord und Enteignung beruht, das heißt auf dem Raub von schwarzer Arbeit und indigenem Land? Es ist in diesem Zusammenhang wichtig, dass die Bedeutung der rassialen Differenzierung unmittelbar und konkret durch kleine Abstufungen in der Strafzumessung umgesetzt wurde. Nach dem geltenden Recht in Virginia im späten 17. Jahrhundert mussten versklavte schwarze und indigene Körper, die sich eines Vergehens schuldig gemacht hatten – in der Regel Arbeitsverweigerung, kleiner Diebstahl oder Vergeltung für Misshandlungen –, vor der Auspeitschung jegliche schützende Kleidung ablegen, im Gegen7 Der Begriff des »Rassenmanagements« ist ausführlicher mit Bezug auf den Arbeitsprozess erläutert in David R. Roediger, Elizabeth D. Esch, The Production of Dif­ ference: Race and the Management of Labor in US History, New York 2014. 8 Vgl. Lisa Ford, Settler Sovereignty: Jurisdiction and Indigenous People in America and Australia, 1788-1836, Cambridge 2011.

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satz dazu durften weiße christliche Bedienstete die Würde und den Schutz ihrer Kleidung während des Auspeitschens behalten.9 Die Herstellung von race durch geringfügige Unterscheidungen bei gewaltsamen Strafen, die am Körper vollzogen wurden, entwickelte sich zu deutlicheren Unterscheidungen zwischen den Bestraften und den Bestrafenden. Eine wichtige Vermittlungsinstitution war die Sklavenpatrouille, die in der Ausdrucksweise der Generalversammlung von Georgia (und ungeachtet der unterschiedlichen Sozialgeschichten der Indigenen und der Versklavten) »davon ausging, dass jeder N*, Native American, Mulatte oder Mustizo [sic] [...] ein Sklave ist«.10 John Capheart, ein Constable und Sklavenfänger in den 1840er Jahren in Norfolk, Virginia, beleuchtet die ausgeprägte Ökonomie von Abschreckung und Vorrecht, Sadismus und Belohnung, die bei der Sicherung der rassialen Ordnung zum Tragen kam: Es gehörte zu meinen Aufgaben, alle Sklav:innen und freien Farbigen, die sich nachts in Scharen versammelten, zu verhaften und einzusperren [...]. Ich tat dies ohne Haftbefehl und nach eigenem Ermessen. Am nächsten Tag werden sie untersucht und bestraft. Die Strafe ist die Auspeitschung. Ich bin einer der Männer, die sie auspeitschen [...]. Ich bekomme fünfzig Cent für jeden N*, den ich festnehme, und fünfzig Cent mehr, wenn ich ihn auspeitsche. Ich habe hunderte ausgepeitscht [...]. Ich lehne nie eine gute Arbeit dieser Art ab.11

In einer zustimmenden Zusammenfassung dieser Zeit, die um die Wende zum 20. Jahrhundert geschrieben wurde, bemerkt der bekannte rassistische Historiker Ulrich Bonnell Phillips: »Alle weißen Personen waren dazu befugt und in mancher Hinsicht auch dazu verpflichtet, eine Polizeigewalt über Sklav:innen auszuüben.«12 Phillips war nicht der Einzige, der die privilegierte und sogar zwingende Beziehung zwischen der Polizeimacht und »allen weißen Personen« formulierte. Es ist kein Zufall, dass die ersten systematischen Theo  9 Vgl. Edmund S. Morgan, American Slavery, American Freedom: The Ordeal of Colonial Virginia, New York 2003. 10 State of Georgia, »A Compilation of the Patrol Laws of the State of Georgia in Conformity with a Resolution of the General Assembly«, Midgeville 1818. 11 Sally Hadden, Slave Patrols: Law and Violence in Virginia and the Carolinas, Cambridge 2003, S. 85. 12 Ulrich Bonnell Phillips, American Negro Slavery, New York 1918, S. 500.

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retiker:innen der Polizeimacht in den Vereinigten Staaten während der Periode aufsteigender white supremacy in den USA schrieben. Vor allem betonen sie die formlosen, willkürlich ausgeübten und sich ausweitenden Dimensionen polizeilicher Funktionen und Institutionen, die für eine Welt in rapider rassialer Transformation geeignet sind. Für Ernst Freund ist »[d]ie Polizeigewalt […] keine feste Größe, sondern [...] Ausdruck sozialer, wirtschaftlicher und politischer Verhältnisse. Solange diese Bedingungen variieren, muss die Polizeigewalt dehnbar, also entwicklungsfähig bleiben.«13 Mit Blick auf die staatlichen und lokalen Maßstäbe der politischen Souveränität der USA nennt Burgess »die Polizeigewalt der Gemeinden [...] ›den dunklen Kontinent‹ unserer Rechtsprechung [...], den bequemen Aufbewahrungsort für alles, wofür unsere juristischen Klassifikationen keinen anderen Platz finden«.14 Im Namen der Verfestigung der öffentlichen Ordnung innerhalb einer globalen Ebene hebt der US-Präsident (und ehemalige New Yorker Polizeipräsident) Theodore Roosevelt die national-territorialen Beschränkungen der Idee der Polizeiarbeit auf und räumt den Vereinigten Staaten eine weitreichende »internationale Polizeimacht« ein, um dem »chronischen Fehlverhalten oder einer Ohnmacht entgegenzutreten, die zu einer allgemeinen Lockerung der Bindungen der zivilisierten Gesellschaft führt«.15 Man braucht hier keine Tiefenanalyse anzustellen, um die Wahlverwandtschaften und Synergien von Polizei und race innerhalb eines Entwicklungsschemas zu erkennen, das normative Vorstellungen von öffentlicher Ordnung und Rechtsstaatlichkeit Seite an Seite mit der Bewahrung und Kultivierung von Ausnahmeräumen umfasst, durch die willkürlich ausgeübte Gewalt sowohl öffentlich sanktioniert wird als auch die Freiheit erhält, institutionell zu wachsen. Schwarzsein war so gut wie durch einen Zustand der biopolitischen »Impotenz« und der Neigung zu »chronischem Unrechttun« definiert, der für Roosevelt eine erweiterte und diffusere Polizeifunktion erforderte. Das primäre Objekt der Polizei, das Schwarz13 Ernst Freund, The Police Power: Public Policy and Constitutional Rights, Chicago 1904, S. 3. 14 John Burgess, Political Science and Comparative Constitutional Law, Bd. 2, Boston 1900, S. 136. 15 Roosevelt zit. n. Marcus Dubber (Hg.), The New Police Science, Stanford 2006, S. 190.

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sein, war zu dieser Zeit eine zunehmend dichte und naturalisierte, aber auch austauschbare Art und Weise, ein Wesen beziehungsweise den Zustand eines Wesens zu definieren, dessen Beziehung zum Vertrag unzuverlässig und instabil und im schlimmsten Fall null und nichtig war, was eine ständige Überwachung und, wenn nötig, direkte Beherrschung erforderte. Schwarzen Menschen war es in dieser Zeit nicht möglich, eine Versicherung abzuschließen, da man davon ausging, dass die Zugehörigkeit zu dieser »Rasse« ein inhärentes Risiko des vorzeitigen Todes mit sich brachte. Versicherungsmathematiker wie Frederick Hoffman, die diese Schlussfolgerungen zogen, leisteten wiederum Pionierarbeit bei der Entwicklung von Kriminalitätsstatistiken, die eine positivistische Bestätigung der kriminellen Neigung von Schwarzen lieferten und die Polizeigewalt als Matrix der rassialen Disziplinierung modernisierten.16 Die neue Auffassung von Schwarzsein als negativer Biopolitik, die einer ständigen Polizei bedarf, wurde vom Obersten Gerichtshof der USA in der Rechtssache Plessy gegen Ferguson unterstrichen, in der das Verbot der Ehe zwischen »Rassen« zwar technisch gesehen als Eingriff in die »Vertragsfreiheit« bezeichnet wurde, welcher jedoch als Ausübung der »Polizeigewalt des Staates« gerechtfertigt war.17 Die besondere Bedeutung der Polizeimacht liegt in ihrer fortwährenden Verbindung zu kolonialen und siedlerkolonialen Methoden und Beziehungen, einschließlich der Vernichtung und des Bevölkerungstransfers, aber vor allem in ihrer Erhaltung und ihrem Nutzen für die Maschinerie der Wertschöpfung, der Kapitalakkumulation und der Gewaltökonomien, die diese Maschinerie erfordert und entwickelt. Als exemplarischer geschwärzter und ungeordneter Raum in der rassialen Vorstellungswelt jener Zeit erwiesen sich die Philippinen unter der US-Besatzung als ein wichtiges institutionelles Versuchsfeld. In den Worten von Alfred McCoy entwickelten sich die Philippinen zu einem »Laboratorium der polizeilichen Moderne«, in dem die Entwicklung und Synthese von Methoden der geheimen Operationen, der Informationswissenschaft, der fotografischen Identifizierung, der demographischen Forschung, der nachrichtendienstlichen Erfassung und der legalen Repression die großen Polizeikräfte der Großstädte jener 16 Vgl. Khalil Muhammed, The Condemnation of Blackness, Cambridge 2011, S. 4. 17  US Supreme Court, Plessy v. Ferguson, 163 U.S. 537 (1896).

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Zeit weit übertraf.18 Diese Entwicklungen waren natürlich Reaktionen auf den antikolonialen Aufstand. Und, wie ein US-General es ausdrückte, »der Grundton des Aufstandes unter den Philippinos [sic] ist nicht die Tyrannei, denn wir sind keine Tyrannen, es ist die Rasse«.19 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich das Weißsein der Polizei aus einer Korrelation zum »dunklen Kontinent« als dem Bereich entwickelt, in dem das soziale und politische Leben als immer schon suspendiert angesehen wird. Dieser Zustand stellt einen permanenten Not- oder Ausnahmezustand dar. Vom Standpunkt der Macht aus hat er keine erkennbaren Eigenschaften, die über seine kriminelle Neigung und sein offenes Bedrohungspotential hinausgehen. Mit anderen Worten: diese Bedrohungen sind so beschaffen, dass sie eine rigorose und kontinuierliche Anwendung »legitimer« Gewalt entlang eines potentiell unbegrenzten Vektors erfordern. Der Ausbau der institutionellen Kapazitäten für die Polizeiarbeit hing auch mit einem zunehmend paranoiden Gefühl des potentiellen Verlusts der weißen Monopole auf Raum, Macht und moralisches Recht zusammen. Der Marinestratege Alfred Thayer Mahan unterstützte Roosevelts Vision von militärischen »Aussichtspunkten« auf dem gesamten Globus und sah darin den Schlüssel zur Entscheidung darüber, ob »die östliche oder die westliche Zivilisation die ganze Erde beherrschen und ihre Zukunft kontrollieren wird«.20 Als Reaktion auf die wachsende Zahl liberaler und nichtweißer Kritiker:innen der Politik des »weißen Australiens« vertrat Premierminister Alfred Deakin die weitsichtige Auffassung, dass »nichtfarbliche Gesetze [benötigt würden], die so angewandt werden könnten, dass eine tiefe farbliche Trennlinie zwischen Kaukasier:innen und allen anderen Rassen gezogen würde«.21 Wir neigen nicht dazu, Farbenblindheit oder formale Gleichheit als Voraussetzungen für den Aufbau des Staates während der Hoch18 Alfred McCoy, Policing America’s Empire: The United States, the Philippines, and the Rise of the Surveillance State, Madison 2009, S. 21. 19 Paul Kramer, The Blood of Government: Race, Empire, the United States, and the Philippines, Chapel Hill 2006, S. 62. 20 Alfred Thayer Mahan, »A Twentieth Century Outlook«, in: Harper’s New Month­ ly Magazine, September 1897, S. 521-533, hier: S. 527; vgl. auch Marilyn Lake, Henry Reynolds, Drawing the Global Color Line: White Men’s Countries and the International Challenge of Racial Equality, Cambridge 2009, S. 104. 21 Alfred Deakin, zit. n. Lake/Reynolds, Drawing the Global Color Line, S. 164.

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phase der white supremacy anzusehen. Doch insofern die Produktion von Weißsein mit formaler Universalität und liberal-kapitalistischen Vorstellungen von Fortschritt und Entwicklung einherging, bestand die zentrale moralische und intellektuelle Herausforderung immer darin, wie das Eintreten für ein rassial ungleiches Schicksal mit dem Anspruch auf Gerechtigkeit und Fairness in Einklang gebracht werden kann. Meiner Ansicht nach ist es falsch, die Kon­ struktion von »Rassen« als Widerspruch zur universellen Vernunft zu betrachten; sie ist vielmehr der Boden, auf dem Rationalitätsansprüche vorgebracht werden. Weder Schwarzsein noch Weißsein sind in diesem Sinne strikt auf bestimmte Weiße oder Schwarze reduzierbar. Vielmehr entstehen Weißsein und Schwarzsein sowie andere moderne rassiale Formen als Subjektpositionen, Wahrnehmungsgewohnheiten und Verkörperungsformen, die sich aus dem fortlaufenden Risikomanagement des Siedler- und Sklavenkapitalismus und ganz allgemein des racial capitalism (das heißt des Kapitalismus) entwickeln. Die Tatsache, dass es sowohl Varianten des Kapitalismus als auch plurale und heterogene Prozesse der »Rassen«-konstruktion gibt, die sich gleichzeitig auf der ganzen Welt entwickeln, sorgt für Spezifikationen. Es erübrigt sich zu sagen, dass eine scharf dualistische Konzeption von Schwarzsein und Weißsein in der angloamerikanischen Variante des Kapitalismus, die sich im 19. und 20. Jahrhundert global ausgebreitet hat, besondere Kraft erlangt. Selbst als die Vollendung der kontinentalen Expansion und der Übergang von der Sklaverei zur Freiheit den Lohnvertrag zu normalisieren und auf alle Menschen auszudehnen schien, führte dies auch zu neuen Varianten von und Reaktionen auf Schwarzsein und Indigenität in Form von zeitlicher Verzögerung, Ausnahmezustand, gefährdeter und daher gefährlicher Zwangslagen und vor allem in Form von Bereichen, von denen aus leicht Gewalt für die direkte Extraktion von Wertunterschieden, die relative Vermessung von Sicherheitszuständen und Bedrohungspotentialen sowie die probabilistische Zuweisung eines vorzeitigen Todes ausgeübt werden kann. Weißsein hat einen enormen Preis, der sich aus der Schuldenlast ergibt, die Schwarzsein am sichtbarsten, aber andere Formen der Rassifizierung ebenso angesammelt haben. Diese Wertsetzung wird jedoch durch die Arbeit der Polizei konkret und realisierbar gemacht, sowohl durch die alltägliche Überwachung, die die Auf284

rechterhaltung des rassial auf- und abgewerteten Raums gewährleistet, als auch durch die exemplarischen Spektakel, durch die Formen offener Polizeigewalt die Öffentlichkeit über den Wert des Weißseins als Bereich der Sicherheit und Selbsterhaltung unterrichten, unabhängig davon, ob sie aus einer solchen Beziehung finanzielle Vorteile zieht. Insofern die Anwerbung ebenso wie die Belohnung Teil ihrer Formierung ist, gibt es auch einen stark selbstbestrafenden Zug, der der Ordnung der white supremacy innewohnt, das heißt, das Weißsein muss sich ständig selbst polizieren. Angesichts seiner weitreichenden Bedeutung ist es insgesamt überraschend, dass das Konzept der Polizei in der wissenschaftlichen Diskussion über das Weißsein und seine Geschichte nicht stärker in den Mittelpunkt gerückt wurde. Ein kurzer spekulativer Aufsatz wie dieser kann nicht annähernd eine vollständige Darstellung der Frage bieten, wie die rassifizierte Ökonomie und Regierung der Vereinigten Staaten die Entwicklung moderner Polizeigewalten im In- und Ausland geprägt hat, wie sich Polizeigewalten in und durch rassiale Differenzierung entwickelt haben und wie Vorstellungen von »Rasse« und die Ausweitung der strafrechtlichen Zuständigkeit auf zuvor nichtstrafrechtliche Bereiche (das heißt Kriminalisierung) in sich gegenseitig unterstützender Weise miteinander verflochten worden sind. Ich habe versucht, einige Ansatzpunkte zu einer solchen Untersuchung vorzuschlagen, da sie einige der Schlüssel zum Verständnis der Aufrechterhaltung von Rassismen angesichts des Aufkommens antirassistischer und postrassistischer Doxa in der heutigen Zeit enthalten könnte. Denn sobald diese Problematik in den Mittelpunkt gerückt wird, wird die seit langem bestehende Nähe zwischen race und dem Kriminalen allgegenwärtig. Es ist vielleicht leichtfertig, den »Patrouillenbereich«, der die Geographie der Sklavenpatrouille absteckte, mit dem Patrouillenbereich des modernen Streifenpolizisten gleichzusetzen. Dennoch verteidigte der ehemalige Polizeipräsident von New York City, Raymond Kelley (einst Kandidat für das Amt des Direktors des US-Ministeriums für Innere Sicherheit (Homeland Security), die in Bezug auf race unverhältnismäßig angewendete Politik des Stop and Frisk (»Anhalten und Filzen«) mit der Begründung, dass sie den kriminellen Elementen der Stadt »Angst einflöße«. Angespornt durch ein »statistikbasiertes Leistungsmanagementsystem«, hat die NYPD seit 2004 unglaubliche vier Millionen Kontrollen und etwa 2,3 Millio285

nen Durchsuchungen durchgeführt. Mehr als 81 Prozent davon betrafen die schwarzen und Latinx-Einwohner:innen der Stadt. Nur 1,5 Prozent dieser Polizeiaktionen führten zur Entdeckung einer Waffe und nur 6 Prozent aller Kontrollen endeten mit einer Verhaftung. Richterin Shira A. Scheindlin, die gegen die Verteidigung dieser Politik durch die Stadt entschied (bevor sie selbst von dem Fall abgezogen wurde), stellt fest, dass »die rassiale Zusammensetzung des Reviers oder des Zählbezirks die Anzahl der Kontrollen weitaus mehr bestimmt als die Verbrechensrate« und dass die angehaltene und gefilzte Bevölkerung »überwiegend unschuldig ist«.22 Das Polizieren dessen, was als Verbrechen bezeichnet wird – von der leichten Zurechtweisung bis zum gerechtfertigten Mord –, war das Wesen des Sklav:innen- und Grenzrechts. Der lange Bogen der Kriminalisierung von Schwarzsein im Besonderen hilft uns, die rassiale Unterscheidung als verdeckte Form der Instituierung von Gesellschaft zu erkennen, die über Veränderungen der formalen rassialen Kategorien und des Inklusionsgrades hinweg beibehalten wurde. Wenn white supremacy als eine Form von gruppendifferenzierter Macht und wertsteigerndem Genuss verstanden wird, dann stellt die rassiale Verteilung und Ausrichtung der legitimen Gewalt, die sie gegenüber denjenigen ausübt, die als »gefährlich und unbequem« gelten, ihre öffentliche Bestätigung und ihr wichtigstes Instrument dar. »Die Mehrheit der N* ist von verschwörerischer Gesinnung, finster, mürrisch, bösartig, rachsüchtig und in höchstem Maße grausam«, stellt Benjamin Franklin gegen Ende seines Lebens fest, diesmal ohne Einschränkung. Trotz seiner wachsenden abolitionistischen Sympathien bezweifelte Franklin, dass »milde Gesetze ein solches Volk regieren könnten«,23 was bedeutet, dass er das Weißsein der Polizei begrüßte. Die routinemäßigen Morde an schwarzen Männern und Frauen durch die Polizei, von Amadou Diallo über Renisha McBride bis hin zu Michael Brown in unserer Zeit, sind ein Beweis für das fortwährende Erbe der Polizei. Als der Generalstaatsanwalt von Präsident Barack Obama, Eric Holder, kürzlich die juristisch nicht zu rechtfertigende gezielte Tötung durch Drohnen – eine Praxis, zu deren Kollateralopfern auch die22 Shira A. Scheindlin, »US Department of Justice Opinion and Order 08 Civ. 1034 (SAS)«, S. 12 f. 23 Benjamin Franklin, »A Conversation Between an Englishmen, a Scotchman and an American on the Subject of Slavery«, in: London Public Advertiser, 30. 1. 1770.

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jenigen gehören, die sich an Formen des Feierns und der Trauergesellschaft beteiligen – verteidigte, indem er sie mit den Erfordernissen der Polizei verglich, die verständlicherweise »Flucht durch den Einsatz tödlicher Gewalt verhindert«,24 dehnte er deren Herrschaft einmal mehr bis ans Ende der Welt aus. Übersetzt von Daniel Loick

24  US Department of Justice, »Lawfulness of a Lethal Operation Directed against a US Citizen Who Is a Senior Operational Leader of Al-Qa’ida or An Associated Force«, 8. 11. 2011, S. 9, 〈http://fas.org/irp/eprint/doj-lethal.pdf〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022.

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Assa Traoré und Geoffroy de Lagasnerie Der Kampf Adama In Verfügung des Staates Geoffroy de Lagasnerie § Es gibt zwei Formen, wie man von Ordnungskräften getötet oder verletzt werden kann: Man kann von ihnen direkt getötet oder verletzt werden, aufgrund der Techniken, die sie bei einer Personenkontrolle (interpellation1) anwenden; weil sie schlagen, würgen, misshandeln, weil sie schießen – mit echten Patronen oder mit Gummigeschossen, weil sie auf den Kopf zielen oder weil, wie im Fall Rémi Fraisse, eine von der Gendarmerie abgefeuerte Granate explodiert, als sie auf seinem Körper landet. Man kann aber auch auf der Flucht sterben oder sich verletzen, bei einem Sturz, bei einem Roller- oder Autounfall oder weil man ertrinkt oder vom Zug überfahren wird. Adama Traoré erstickte aufgrund des Vorgehens bei der Festnahme. Er entzog sich einer Personenkontrolle, wurde eingeholt, und um ihn festzunehmen, haben sie das Vorgehen der Fixierung in Bauchlage verwendet: drei Körper, 250 Kilogramm, die ihn mehrere Minuten lang am Boden hielten und erdrückten. § Wenn wir an Ordnungskräfte denken, stellen wir uns in der Regel eine Institution vor, deren Aufgabe es ist, zu schützen und bei Aggression und Gewalt zu helfen. Die Legitimität der Gewaltanwendung durch Polizei und Gendarmerie beruht auf der Vorstellung, dass sie geschieht, weil in der sozialen Welt bereits Gewalt stattfindet und diese gestoppt werden muss. Staatliche Gewalt als Gegengewalt und friedensstiftende Gewalt: Sie kommt natürlich vor und kann nützlich sein. Doch das ist vielleicht seltener der Fall, als wir denken: Es sind nur sehr wenige, die wahrhaftig sagen könnten, dass die Polizei einmal aufgetaucht ist und einen Angriff 1 Interpellation bezeichnet in spezifischer Verwendung wie hier eine vorläufige Festnahme zur Personenkontrolle, verweist aber auch allgemeiner auf die Anrufung des Individuums durch den Staat und wurde in diesem Sinne zu einem wesentlichen Begriff für theoretische Reflexionen zu Subjekt und Subjektivierung. [Anm. d. Übers.]

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auf sie gestoppt hat. Es ist möglich, dass unser Bild von der Polizei wenig mit der Realität und unseren Erfahrungen mit ihr zu tun hat. Es handelt sich womöglich um eine der Institutionen, bei der der Unterschied zwischen der Darstellung, von der aus wir sie uns vorstellen, und der objektiven Realität der polizeilichen Praxis am größten ist. § Der Fall von Adama Traoré ist typisch für eine Situation, die sehr häufig in den Geschichten zu Polizeigewalt vorkommt, insbesondere wenn sie sich in Arbeiter:innenvierteln abspielen: Zu Beginn passiert nichts. Niemand ist in Gefahr. Bevor die Polizei eintrifft, kommt es zu keiner Gewalt. Es mag einige Tage früher Gewalttätigkeiten gegeben haben, und es mag eine generell angespannte Stimmung herrschen, doch in diesem bestimmten Moment nimmt der Alltag seinen gewöhnlichen Lauf. Die gewaltvolle Szene wird plötzlich von der Gendarmerie 2 oder von der Polizei eigenmächtig bei einer Kontrolle eröffnet. Bevor die Gendarmerie auftauchte, stand Adama friedlich auf der Straße in seiner Stadt und tat nichts. Das ist genau derselbe Ablauf wie im Fall von Théo, der sich im Februar 2017 in Aulnay-sous-Bois ereignet hat. Ein Video wurde veröffentlicht, darauf sind junge Menschen zu sehen, die sich in ihrem Viertel vor ihrem Wohnhaus unterhalten. Plötzlich erscheint die Polizei. Sie beschließt, die Jugendlichen zu kontrollieren. Um die Personenkontrollen und Durchsuchungen durchzuführen, bringen sie die Jugendlichen pflichtbewusst an einen Ort, der von der Überwachungskamera im Viertel3 nicht aufgezeichnet werden kann. Die Situation entgleist, ohne dass jemand mitverfolgen kann, warum. Théo wird verprügelt, dann rammt ihm ein Polizist einen Knüppel in den Anus, wodurch er für immer verstümmelt bleibt. Théo verließ sein Zuhause gesund und kehrte mit einem künstlichen Darmausgang zurück. Dazwischen trat die Polizei durch eine unbegründete Kontrolle in sein Leben. 2 Die Gendarmerie ist militärisch organisiert und hauptsächlich dem Verteidigungsministerium unterstellt (seit 2009 auch dem Innenministerium). Damit unterscheidet sie sich von den zivilen Polizeibehörden, die den Gemeinden und auf nationaler Ebene dem Innenministerium unterstellt sind. [Anm. d. Übers.] 3 Umgangssprachlich werden die (zum großen Teil) migrantisierten Arbeiter:innenviertel der Städte auch einfach »les quartiers« (oder auch »les quartiers populaires«) genannt und hier als »Viertel« übersetzt. [Anm. d. Übers.]

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Obwohl es sich um die routinemäßigsten Tätigkeiten der Polizei und der Gendarmerie handelt, steht die Praxis der Personenkontrollen und Durchsuchungen in der Realität im Widerspruch zur Idee von der Polizei, wie wir sie uns vorstellen: Denn es handelt sich per Definition um einen Moment, in dem der Staat beschließt, einen Zyklus der Gewalt einzuleiten. Folgerichtig sollten die Ordnungskräfte im Falle von »Polizeigewalt« politisch verantwortlich gemacht werden – nicht nur für diese Gewaltausübung natürlich, sondern auch für alles, was folgt, wie beispielsweise die Aufstände und die Schäden, die sie verursachen – denn sie waren es, die den Kreislauf in Gang gesetzt haben. Aus soziologischer Sicht sind sie die Verursacher:innen aller Handlungen, die zu diesem Kreislauf gehören. § Harmlos für die einen, bilden Personenkontrollen insbesondere für Jugendliche aus Arbeiter:innenvierteln, die womöglich mehreren Kontrollen pro Woche oder sogar pro Tag ausgesetzt sind, einen Lebensrahmen und einen Erwartungshorizont, der ihre Existenz organisiert. Diese Szenen sind nie neutral: Die Zeug:innenaussagen zeigen, dass sie sehr oft mit Demütigungen, Duzen, kleineren Ohrfeigen, verletzenden oder rassistischen Bemerkungen einhergehen. Jeder kennt den Blick von Polizist:innen, wenn sie jemanden ansehen, von dem sie wissen, dass sie absolute Macht über ihn oder sie haben, was ausreicht, um die Interaktion unerträglich zu machen. Die Identitätskontrolle kann eine Abfolge in Gang setzen, die zu Brutalität oder Tod führt. Es ist natürlich unerlässlich, über die rassistische Dimension von Personenkontrollen nachzudenken (was unter dem Begriff racial profiling angeprangert wird), wie wir es später tun werden. Es gilt allerdings zu betonen, dass, wenn Identitätskontrollen so leicht zu Beleidigungen, Demütigungen und Schlägen führen, dies zweifellos darauf zurückzuführen ist, dass der kontrollierte Körper per Definition als ein Körper konstruiert ist, der zur Verfügung steht, als ein Körper, der etwas schuldet, als ein Körper, der besessen wird. Die Identitätskontrolle ist eine Szene, in der der Staat dem oder der Einzelnen versichert, dass er über ihn oder sie verfügt – du gehörst (zu) mir, du musst dich rechtfertigen, warum du da bist, ich habe Rechte über dich. Die Gewaltakte, die bei einer Kontrolle ausgeübt werden, sollten nicht als Unfälle und Entgleisungen behandelt werden. Sie sind zu einem großen Teil in die Logik dieser Situation 290

selbst und in das Verhältnis von Macht und Besitz, das sie herstellt, eingeschrieben. Die Maßnahmen der Ordnungskräfte sind ein Instrument, mit dem die Verbindungen zwischen dem Staat und den im Territorium anwesenden Personen hergestellt werden. Die Identitätskontrolle ist ein Akt, in dem eine bestimmte politische Vernunft zum Ausdruck kommt. Die demokratische Idee fußt normalerweise auf der Vorstellung, dass die Polizei und der Staat Instrumente oder Leistungen sind, die uns zu Diensten stehen. Kontrollen und Durchsuchungen aktivieren eine entgegengesetzte Logik. Wir werden als Teil des Staates konstruiert. Als ob unsere Anwesenheit vor Ort genehmigt werden müsste. Durch die Personenkontrolle versetzt sich der Staat in die Lage zu sagen: »Du schuldest mir etwas.« Der Schauplatz der Kontrolle ist im etymologischen Sinne des Wortes katastrophal. Der Staat kehrt die demokratische Logik um, er konstruiert uns als Subjekte, die ihm zur Verfügung stehen, anstatt sich wie ein Gebilde zu verhalten, das uns zur Verfügung steht. Der Kampf Adama (le Combat Adama) möchte, dass Adama nicht gestorben wäre. Und Adama wäre nicht gestorben, wenn der Staat sich nicht diese Macht über uns gegeben hätte. Generell wird gefragt, weshalb so viele junge Menschen weglaufen, wenn sie nach ihren Papieren gefragt werden oder wenn die Polizei ankommt, dabei ist die Antwort offensichtlich: um zu vermeiden, dass sie wegen allfälliger Bagatelldelikte verhaftet werden, oder um zu vermeiden, dass sie misshandelt werden. Ein mittlerweile berühmter Slogan besagt: »Théo und Adama erinnern uns daran, weshalb Zyed und Bouna4 wegrannten.« Aber die eigentliche Frage, die gestellt werden müsste, um zu verstehen, was sich in diesen Szenen abspielt, wäre eher: Warum rennt die Polizei ihnen nach? Warum will die Polizei unbedingt eine Person erwischen, die keine Gefahr darstellt, sie flieht nur, auf eine Weise, die sie manchmal umsonst Risiken eingehen lässt, oft wegen Vergehen, die nicht einmal zu einer Verhaftung führen würden, wie zum Beispiel das Fahren ohne Helm. 4 Zyed Benna und Bouna Traoré flüchteten vor einer Personenkontrolle in Clichy-sous-Bois in ein Umspannwerk, wo sie durch einen Stromschlag umkamen. Ihr Tod am 27. Oktober 2005 war ein Auslöser für Aufstände in vielen migrantisierten Arbeiter:innenvierteln in Frankreich, die mehrere Wochen anhielten. Der Staat reagierte mit einem dreimonatigen Ausnahmezustand. [Anm. d. Übers.]

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Warum lassen sie es nicht auf sich beruhen? Warum meinen sie, es sei sinnvoller, eine Person festzunehmen, als sie laufen zu lassen? Adama hatte nichts getan. Er wurde nicht gesucht. Wenn eine Person flieht, zieht es die Polizei vor, alles dafür zu tun, dass sie nicht entwischt, anstatt sie am Leben zu lassen, auch wenn das bedeutet, dass sie stirbt, sich selbst tötet, verletzt wird. Manchmal gehen sie sogar so weit, Menschen, die grundsätzlich keine Gefahr darstellen, in den Rücken zu schießen … Der Tod von Adama Traoré zwingt uns, uns der Tatsache bewusst zu werden, dass Menschen aufgrund eines staatlichen Unbewussten sterben oder verstümmelt, gedemütigt, behindert werden. Das heißt, aufgrund einer staatlichen Logik, die von den Beamt:innen übernommen und ohne zu überlegen in die Tat umgesetzt wird. Oft ist hier auch ein rassistisches Unbewusstes im Spiel. In den Vereinigten Staaten wurden zahlreiche Untersuchungen dazu veröffentlicht, wie das Konzept der Notwehr von Polizeibeamt:innen selbst dann erfolgreich vor Gericht verwendet werden konnte, wenn sie fliehenden schwarzen Männern in den Rücken geschossen hatten. Wie kann von Notwehr die Rede sein, wenn die getötete Person zuvor wegrannte? Die Annahme ist, dass das Selbst dieser Selbstverteidigung ein weißes Selbst ist. Die Figur des rennenden schwarzen Mannes wird als Aggression gesehen, gegen die sich das weiße Ich verteidigt, um die eigene Vorherrschaft aufrechtzuerhalten. § Die Befugnis der Polizei, Passant:innen zu kontrollieren, sie nach ihrem Ausweis zu fragen, sie zu durchsuchen und möglicherweise zu verfolgen, wird häufig damit begründet, dass diese Maßnahmen zur Eindämmung der Kriminalität beitragen würden. Wie wir später sehen werden, zeigen Studien, dass dem nicht so ist und dass die Bekämpfung von Kriminalität nicht das ist, wozu Kontrollen und Razzien dienen. Doch selbst wenn dies der Fall wäre, wäre es keine ausreichende Rechtfertigung: Wenn die Verfolgung von Verbrechen zur Schaffung einer Ordnung führt, die viele Menschen täglicher Gewalt aussetzt und regelmäßig zu ihrer Verletzung oder ihrem Tod führt, dann sollte uns die politische Vernunft dazu bringen, ein solches System abzuschaffen. Wenn die Personenkontrolle bedeutet, auf Methoden zurückzugreifen, die die kontrollierte Person in Gefahr bringen, sollten wir sie dann nicht aufgeben? 292

Eine zentrale Herausforderung eines Rechtsstaats besteht darin, Überlegungen über die Mittel jenen über den Zweck voranzustellen. Selbst wenn aus Sicht des Staates bestimmte Ziele legitim erscheinen (zum Beispiel eine Verhaftung), muss darauf verzichtet werden, wenn die einzige Möglichkeit ein illegitimes oder entwürdigendes Mittel ist. Rechtsstaatlichkeit bedeutet zu wissen, dass bei angemessenen Verfahren Personen nicht erwischt, nicht bestraft und nicht eingesperrt werden, weil es dafür Mittel bräuchte, die gewalttätig sind. Ein:e »Straftäter:in« oder vermeintliche:r »Straftäter:in« im Namen des Rechts leben und laufen zu lassen, ist dementsprechend kein Scheitern, sondern ein Erfolg. Dies ist die Rolle des Rechts, seine Essenz. Man könnte also sagen, dass die Schaffung einer demokratischen Strafverfolgung Polizist:innen und eine Gendarmerie braucht, die loslassen können. Die den oder die möglicherweise entkommene:n Straftäter:in nicht als Versagen betrachten, sondern als Sieg der Vernunft über unüberlegte Impulse. Davon sind wir weit entfernt. Wenn die Kritik an polizeilicher Gewalt und allgemein am Verhalten der Ordnungskräfte in jenen Teilen der sozialen Welt, die mit dem Staat, der Verwaltung und der Regierung zusammenarbeiten, einen derartigen Widerstand hervorruft, zeigt sich, dass dieses scheinbar eingrenzbare Thema Fragen des Staates und der Regierungsform aufwirft. Man könnte meinen, dass die Kritik an der Polizeigewalt auch im konservativen Lager ein weit verbreitetes Anliegen sein müsste, im Sinne der Achtung vor dem Gesetz und der Verbundenheit mit der Vorstellung einer vorbildlichen Polizei. Aber das ist nie der Fall. Es ist immer eine sofortige Solidarität mit der Polizei oder der Gendarmerie, die die Regierungsbehörden zum Ausdruck bringen, sobald ein Fall bekannt wird. Die Politiker:innen folgen dem Beispiel der Polizei. Und sobald eine Partei die Machtübernahme plant, stellt sie sich jedes Mal auf die Seite der Polizei und lässt keine Gelegenheit aus, sie zu würdigen. Warum ist das so? Weil die Kritik an der »Polizeigewalt« die gegenwärtigen Regierungsformen in Frage stellt, so dass diejenigen, die in den bestehenden Strukturen regieren, oft die Weltanschauung übernehmen, die das polizeiliche Handeln unterstützt.

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Die Körper, die besessen werden Assa Traoré § Mit dem Personalausweis und dem Reisepass steht etwas sehr Wichtiges auf dem Spiel. Wenn du als weiße Person oder als Person aus dem Stadtzentrum, die nicht in den Arbeiter:innenvierteln wohnt, ohne einen Ausweis aus dem Haus gehst oder wenn du ihn vergisst, ist das kein Drama. Es ist nicht schlimm: Der Tag kann weitergehen, als ob nichts geschehen wäre. Aber mein Bruder oder die Adama Traorés oder die jungen Leute aus den Vierteln haben Angst, wenn sie ohne Ausweis auf die Straße gehen: Was, wenn sie kontrolliert werden? Der Ausweis ist wie eine Art Erweiterung des Selbst. Es ist, als wäre er eine Verlängerung unserer Glieder. Das heißt, man kann ohne Ausweis sterben, kontrolliert werden, geschlagen werden, in Polizeigewahrsam kommen. Dabei ist es nur ein Stück Papier. Der Ausweis ist ein sehr starkes Symbol, ein sehr wirkmächtiges Dokument. Er sollte lediglich ein Stück Papier sein, auf dem Name, Adresse und Familienstand vermerkt sind. Aber in Wirklichkeit ist er nicht nur das. § Einmal habe ich an einer Debatte teilgenommen, bei der auch die Philosophin Elsa Dorlin sprach.5 Sie erklärte, dass der Pass in Frankreich für versklavte Menschen geschaffen worden war. Es handelte sich um »Zirkulationsscheine«. Wenn versklavte Menschen ohne Pass ausgingen, durften sie geschlagen oder markiert werden; wenn sie flohen, durften sie getötet werden: Sie wurden als Bedrohung wahrgenommen. Tatsächlich wusste man nicht, wenn sie auf die Straße gingen, ob sie weggelaufen, ob sie geflohen waren. Somit war man im Recht, sie hinzurichten. Dafür wurde der Reisepass geschaffen. Später wurde er zum Ausweis für alle. Tatsächlich ist es für uns, für unsere jungen Leute in den Vierteln, bis heute so geblieben. Wenn du heute keinen Personalausweis, keinen Reisepass dabeihast, kannst du hingerichtet werden. Für diese jungen Menschen ist der Ausweis wie eine kugelsichere Weste. Haben wir ihn nicht dabei, können wir erschossen werden. Zu Zeiten der Versklavung stellte es eine Rechtfertigung dafür 5 »Ce qui fait peur, c’est l’alliance«, Gespräch mit Elsa Dorlin, Assa Traoré und Mamadou Camara, moderiert von Rosa Moussaoui, Ballast, 2./3. 6. 2018.

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dar, dass du erschossen wurdest, wenn du ihn nicht dabeihattest. Heute ist es dasselbe. Du kannst umgebracht werden, wenn du keinen Ausweis dabeihast. Hast du ihn nicht dabei, rechtfertigt das Gewalt. Manche werden jetzt sagen, macht mal halblang. Er hatte keine Papiere, man hat ihn gefragt, und er ist weggerannt. Es war normal, ihm nachzurennen und ihn zu töten, ihn zu ersticken. Es wird zu einer fast normalen Rechtfertigung. Das ist es aber nicht: Wir reden von einem Stück Papier. Wenn man in die Zeit der Versklavung zurückgeht, hatten da einige ein Recht auf jene Personen, die ein solches Recht nicht besaßen. Und nach und nach wurde das normalisiert: Ihr müsst euren Personalausweis dabeihaben, sonst könnt ihr in Polizeigewahrsam genommen werden. Wenn eine weiße Person aus der Innenstadt kontrolliert wird und keinen Ausweis dabeihat, wird man sie vielleicht bitten, einen Studierenden- oder Berufsausweis vorzulegen. Meinen Bruder oder die Jungs aus dem Viertel wird man nie fragen: Habt ihr einen Navigo-Pass?6 § Es ist wichtig zu wissen, dass junge Menschen in unseren Vierteln fünf- bis zehnmal am Tag kontrolliert werden können. Auf dem Weg zur Schule, auf dem Rückweg von der Schule, vor dem Wohnblock, auf der Straße, in der Pariser S-Bahn RER, überall. Immer. Es bedeutet, dass unsere Leben wertlos sind. Tatsächlich ist es so, als ob die Gendarmerie ein Anrecht auf diese Jungs hätte. Ja, sie haben ein Anrecht auf diese Jungs. Dieses System zeigt, dass nicht einmal in Betracht gezogen wird, dass diese jungen Menschen Frankreich und ihr eigenes Leben mitgestalten. Es bedeutet, dass dein Leben so wenig Wert und Beachtung findet, dass man dich auch zehnmal am Tag kontrollieren kann. Weil du nichts bist. In ihren Augen bist du nichts. Hätten sie eine Person vor sich, würde die Gendarmerie sie respektieren, sie würde dich leben lassen. Wenn sie eine Person erkennt, die ihr eigenes Leben gestalten kann, wird diese nicht fünfmal am Tag kontrolliert. Aber die Gendarmerie oder die Polizei, wenn sie in unsere Viertel kommen, tun dies bereits mit einer anderen Einstellung: Dein Leben gehört uns. Du bist sowieso nichts. Wir können dich zehnmal am Tag kontrollieren, und du kannst nichts dagegen sagen. Zur Zeit der Versklavung 6 Der Navigo-Pass ist ein Zahlungsmittel für öffentliche Verkehrsmittel in der Region Île-de-France. Seit 2014 ist die offizielle neue Bezeichnung Navigo-Karte. [Anm. d. Übers.]

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war es gleich. Dein Körper gehörte deinem Herrn. Heute gehören die Körper unserer Brüder, die Leben unserer Brüder dieser Gendarmerie oder Polizei. Du hast ihn nicht, pfff, dann kontrolliere ich dich halt zehnmal, ich kontrolliere dich zwanzigmal. Und es wird nichts passieren. Und wenn ich will, kann ich dich misshandeln, töten, vergewaltigen. Es wird rein gar nichts passieren. § Das heißt, dass unsere Leben nicht einmal einen Sinn haben. Der Kampf Adama wird erst gewonnen sein, wenn wir diesen Leuten da sagen können: Seht her, diese jungen Menschen können an der Gestaltung der Welt teilnehmen. Sie können ihr eigenes Leben gestalten.

Flucht und Kontrolle Geoffroy de Lagasnerie § Als die Gendarmen am 19. Juli 2016 nach Beaumont kommen, hat Adama seine Ausweispapiere nicht dabei: Er läuft weg. Es gibt zahlreiche Geschichten von jungen Menschen, die starben, weil sie wegliefen oder vor der Polizei flohen. Entweder wurden sie von der Polizei erschossen oder sie starben auf der Flucht wie Zyed und Bouna, die 2005 an einem Stromschlag in einem Transformator der französischen Elektrizitätswerke EDF ums Leben kamen; oder der 17-jährige Curtis, der 2017 auf einen Bus prallte, als er versuchte, einer x-ten Kontrolle in Antony zu entkommen; oder der 15-jährige Klayton, der im Sommer 2018 auf der Flucht vor der Polizei in Orly auf einem Motorroller getötet wurde. Die Flucht beim Eintreffen der Polizei wird häufig mit der Angst erklärt, wegen Bagatelldelikten misshandelt oder verhaftet zu werden. Aber das sind nur gelegentliche Ursachen. Das Thema Flucht ist zu strukturell, um auf diese Weise erklärt zu werden. Es braucht eine eingehendere Auseinandersetzung, um zu verstehen, was in den Beziehungen zwischen den Vierteln und der Gendarmerie/ Polizei auf dem Spiel steht. Flucht ist nichts, wofür man sich in einem bestimmten Moment entscheidet. Sie ist Ausdruck einer bestimmten Beziehung zur Welt. § In ihrem Buch über ein schwarzes Viertel in einem Vorort von Philadelphia beschreibt die Soziologin Alice Goffman, wie die meisten Jungen sich ab ihrem frühen Jugendalter auf die Flucht be296

geben.7 Sie bilden Gemeinschaften aus Personen, die sich von Institutionen distanzieren: Sie sehen alles als bedrohlich, fremd und gefährlich an, was sie beherbergen, ihnen helfen und sie unterstützen sollte. In diesen Stadtvierteln wird eine Existenzweise abgesondert, in der die Feindseligkeit der Welt dazu führt, dass man gegen sie in den Krieg zieht. Eine Ausprägung dieser Logik besteht darin, vor den Behörden zu fliehen, sobald man mit ihnen in Berührung kommen könnte: Alles Amtliche, sei es die Polizei, die Justiz, die Schule oder das Krankenhaus, wird als etwas angesehen, das nicht für einen selbst bestimmt ist, das einen schlecht behandelt, das einen in Gefahr bringt. Von der Adoleszenz an ist die Erfahrung junger schwarzer Menschen von Flucht und Angst vor den Institutionen geprägt. Flucht ist die politische Manifestation eines Verhältnisses zu Institutionen und eine Folge ihrer bedrohlichen oder als bedrohlich empfundenen Funktionsweise. Sich als Subjekt zu definieren, heißt, sich von den Institutionen zu distanzieren. Es ist daher nicht präzise genug zu sagen, dass diese jungen Menschen bei Kontrollen vor der Polizei weglaufen. In Wirklichkeit fliehen sie, sie fliehen vor allem, ständig, denn die offizielle Welt wird als Verfolgerin erlebt. Wovor sie unter anderem auch fliehen, ist die Polizei. Wenn die Flucht eine Existenzform ist, müssen wir unsere Sichtweise umkehren. Sie geht der Kontrolle voraus. Es ist nicht richtig zu sagen, dass die Kontrollierten vor der Kontrolle fliehen, als ob die Flucht von der Kontrolle abhinge. Die Kontrolle löst nicht die Flucht aus, sie unterbricht sie vorübergehend oder versucht es zumindest. Es sind keine verhafteten Menschen, die fliehen, sondern Menschen auf der Flucht werden verhaftet. Der Schauplatz der Personenkontrolle und die Häufigkeit der Kontrollen in den Arbeiter:innenvierteln spiegeln die Besessenheit des Staates wider, an die Ordnung der Zugehörigkeit zu erinnern und jene Leben in seine Souveränität einzuschreiben, die sich durch Distanznahme zu ihm definieren. § Die Arbeiter:innenviertel sind Orte einer permanenten Logik der erzwungenen Ausgrenzung und Eingliederung. Die dort vorherrschenden Misshandlungen führen bei den Menschen, die dort leben, zu Flucht- und Kriegsverhalten (das sich in Form von 7 Vgl. Alice Goffman, On the Run: Die Kriminalisierung der Armen in Amerika, München 2015.

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gewalttätigem oder aggressivem Verhalten äußern kann). Diese Verhaltensweisen werden von denen, die sie übernehmen, als Widerstand erlebt. Sie setzen sich damit der polizeilichen Willkür und damit oft auch dem repressiven Staatsapparat aus. Aus dynamischer Sicht könnte man sogar noch weiter gehen: Jede Kontrolle scheint die Funktion zu haben, den Fluchtimpuls in der Person, die ihr unterworfen ist, zu reaktivieren, ihn zu verstärken, so als ginge es letztlich darum, ihn oder sie bis an die Grenze zu treiben – die fliehende Person sozial zu beseitigen, durch Gefängnis (zum Beispiel wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt oder Beamt:innenbeleidigung8) oder, wer weiß, sie überhaupt zu beseitigen. In den Arbeiter:innenvierteln findet ein teuflischer Kreislauf von Feindseligkeit, Flucht, Krieg und erzwungener Wiedereingliederung statt. Polizeikontrollen und Polizeigewalt sind ein Zahnrad dieses Ganzen, das als Verfolgungs- und Eliminierungsmechanismus in Erscheinung tritt.

Uns zum Verschwinden bringen Assa Traoré § Die Polizei und die Gendarmerie haben ein Problem mit uns, mit den Jugendlichen aus den Vierteln. Als die Gendarmen am 19. Juli 2016 kommen, um meinen Bruder zu töten, haben sie keine Checkliste mit Namen, auf der steht: Heute Adama Traoré töten, dann Théo vergewaltigen … Tatsächlich wurde etwas aufgebaut um diese Viertel, um unsere Brüder, um meinen Bruder Adama Traoré, um diese jungen schwarzen und arabischen Jungs herum, die nicht die richtige Hautfarbe, die nicht die richtige Religion haben. Das System ist seit Jahrzehnten zugange. Sie sind es, die sofort ins Visier genommen werden und auf die gezeigt wird. Wir können weit zurückgehen, bis in die Zeit der Versklavung, wo es diese Herrschaft und Unterwerfung schon gab. Schwarze 8 Im französischen Original finden in diesem Zusammenhang die Ausdrücke »rébellion« und »outrage« Verwendung, die sich beide auf Straftatbestände nach französischem Recht beziehen. »Rébellion« haben wir mit »Widerstand gegen die Staatsgewalt übersetzt, »outrage« (als »outrage à agent public«) mit »Beamtenbeleidigung«. [Anm. d. Übers.]

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Menschen wurden immer als störend empfunden, herumgeschoben, getötet, als zu nichts tauglich erachtet. Wir können uns anschließend der Zeit der Kolonisierung zuwenden … Und nach dieser Kolonisierung wurde etwas weitergetragen und aufgebaut rund um die Arbeiter:innenviertel, um unsere Familien, um die Jugend in diesen Vierteln. § Es gibt ein Phantasma von den Arbeiter:innenvierteln und diesen Jungs. Bei allen, die die Arbeiter:innenviertel nicht kennen oder nur aus der Ferne betrachten, hat man den Eindruck, dass sie Angst vor ihnen haben. Mir wird immer gesagt: »Wie kannst du da nur hingehen?« Aber es gibt Menschen, die dort sehr gut leben. Wenn jemand von »Gewalt« spricht, möchte ich sagen, dass die erste Gewalt, die angeprangert werden sollte, die ist, die mein Bruder am 19. Juli erlitten hat. Die größte Gewalt ist die des Staates. Wenn die Gendarmerie oder die Polizei in die Viertel kommen, werden meine Brüder und all diese Jungs in ihren Augen entmenschlicht. Man sieht sie nicht einmal als Menschen. Sobald man sie sieht, werden sie von einigen Leuten beschimpft, bespuckt und geduzt ... Das kann so weit gehen, dass sie mit einem Schlagstock geschlagen oder gar getötet werden. Mein Bruder ist an diesem System gestorben. Mein Bruder starb wegen dem, was die Gesellschaft und der Staat um uns herum aufgebaut haben. Ich möchte sagen: »Leider, mein Bruder, wurde dir keine Gedankenfreiheit, Lebensfreiheit und Bewegungsfreiheit zuteil. Denn wenn man fünfmal am Tag angehalten oder kontrolliert wird, wo bleibt da die Bewegungsfreiheit?« § Sie sind Jungs wie alle anderen auch, die ein Herz haben, die denken können, die überlegen können, die Kinder haben, die Eltern haben, die Brüder haben, die Schwestern haben, die Freizeitaktivitäten nachgehen. Mein Bruder reiste sehr gerne, mochte Fußball, er reiste viel mehr als ich. All das wurde ihm genommen, und das wird allen Jungs in diesen Vierteln genommen. Das ist der wahre Kampf. Also ist es das, was wir ändern müssen. Es ist das System, das uns schwächt: Wir werden erdrückt und schikaniert. Und solange dieses System nicht überwunden ist, solange dieses System diese Jungs tötet, sie nicht als Menschen erkennt, die ihr eigenes Leben gestalten können, haben wir nicht gewonnen … Dieses System erstickt die Jungs und alles, was sie sein könnten. Dieses System zu ändern, bedeutet zunächst einmal zu 299

sagen: Seht her, diese jungen Menschen haben ein Herz, sie können denken, überlegen, sie haben Familien, sie haben Kinder, sie haben Eltern, sie haben Geschwister, sie haben Freunde, sie haben sogar Träume. Träume, die ihnen weggenommen werden ... Diese Menschen, diese jungen Menschen, die Adama Traorés, dürfen nicht mal träumen. Wir leben heutzutage in einer Gesellschaft, in der diese jungen Menschen nicht berücksichtigt werden. § Und dann haben wir diese Ordnungskräfte, die in die Viertel kommen. Wenn sie kommen, werden unsere Brüder in ihren Augen entmenschlicht. Sie gelten nicht einmal als menschliche Wesen. Am Tag, an dem die Gendarmerie meinen Bruder aufsucht, ist sie so bewaffnet, als würde sie in ein Kriegsgebiet ziehen. Es gibt keinen Dialog, sie duzen ihn sofort, sie sind unhöflich, sie sind gewalttätig. Die Gendarmerie und die Polizei sind undiszipliniert, sie haben keine Manieren, sie können Menschen nicht respektieren. Ich bin sicher, wenn wir diese Polizist:innen und Gendarmerie heute fragen würden, ob sie den Unterschied zwischen einer rassistischen und einer nichtrassistischen Handlung kennen, wüssten sie es nicht. § Als mein Bruder gefangen wird, steigen drei Gendarmen auf ihn. Das sind etwa 250 Kilogramm. Wäre es ein weißer Körper gewesen, hätten sie das nicht getan. Doch der schwarze Körper wird nicht einmal berücksichtigt. Der schwarze Körper wird als äußerst stark wahrgenommen, als könnte er viel aushalten, Misshandlungen ertragen, leiden und nichts sagen. Dem unterwirft man schwarze Körper. Die Polizei, die Gendarmerie, sie kommen mit dieser Einstellung. »Er war doch groß, er war stark. Wir sind auf ihn drauf gestiegen, wir haben ihn mit 250 Kilo belastet, weil er das erträgt.« Ich bin sicher, wenn ich sage, dass das Rassismus ist, wird man mir sagen: »Aber so bilden wir die Gendarmerie und Polizei aus, das ist einfach ihre Technik.« Das würde man mir sagen. Frankreich unterstützt diese Gewalt und will sie auch. Denn Länder in der Nähe Frankreichs oder Nachbarländer wie Belgien, die Schweiz, ja sogar bestimmte Bundesstaaten in den Vereinigten Staaten verbieten solche Immobilisierungstechniken wie zum Beispiel die Fixierung in Bauchlage. Warum wird sie in Frankreich weiterhin praktiziert? Was geht in den Köpfen der Französinnen und Franzosen vor? Was für eine barbarische Gesinnung … Es ist doch eine barbarische Gesinnung. Es bedeutet, barbarisch zu sein und die Folter zu 300

lieben, das eigene Volk zu quälen. Ein Teil der Bevölkerung möchte diese Techniken weiterhin ausüben, während einige Länder sie verboten haben. Zu verbieten, das ist stark: der Polizei und der Gendarmerie zu verbieten, tödliche Praktiken anzuwenden. Warum gibt es in Frankreich weiterhin diese Gesinnung der Folter und der Barbarei? Diese Immobilisierungstechniken müssen verboten werden. Sie wissen, dass diese Techniken tödlich sind. Wenn wir die Liste der Verstorbenen durchgehen, ist sie sehr lang. Und wenn man sich die Liste anschaut, dann sieht man, dass es sehr oft schwarze Menschen sind, die sterben. Ständig. Somit wird der schwarze Körper heute so behandelt, als könne er allen Schmerz der Welt ertragen. Als mein Bruder bewusstlos im Hof der Gendarmerie liegt, wird er dem Tod überlassen, man pflegt ihn nicht, man nimmt ihm nicht einmal die Handschellen ab. Weil sein Leben nicht zählt. Als ob unsere Körper keine Bedeutung, keinen Wert hätten. Für sie gibt es ihn nicht. Er lebt nicht. Wenn man ihn verschwinden lassen könnte, würde man es tun.

Die Rolle der Polizei Geoffroy de Lagasnerie § Institutionen haben immer zwei Seiten, eine offizielle und eine inoffizielle – eine Art, sich öffentlich zu zeigen, und eine andere, wie sie tatsächlich funktionieren. Dies ist der Fall in den Schulen, die vorgeben, die Besten auszuwählen, während ihre Aufgabe darin besteht, die Ungleichheit der Geburt als Ungleichheit der Leistung auszugeben, um die soziale Reproduktion zu legitimieren.9 Dies ist der Fall in den Gefängnissen, die vorgeben, die Illegalität zu bekämpfen, während sie im Gegenteil dazu dienen, Rückfälle und ein kriminelles Umfeld zu produzieren.10 Institutionen dienen fast immer einem anderen Zweck als dem, der vorgegeben wird. Die Analyse von Personenkontrollen zeigt, dass sie nur selten zu Verhaftungen oder gar Strafverfolgungen und Verurteilungen führen. In den Vereinigten Staaten beispielsweise führt nur ein Prozent der   9 Vgl. Pierre Bourdieu, Jean-Claude Passeron, La Reproduction, Paris 1972. 10 Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 1975.

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Kontroll- und Durchsuchungsaktionen (die Stop-and-Frisk-Praxis) zu Verhaftungen – und das ist nur der Anfang des Kriminalverfahrens, da nicht alle Verhaftungen zu Anklagen, geschweige denn zu Verurteilungen führen. In Frankreich hat die Ombudsstelle (défenseur des droits)11 eine Umfrage veröffentlicht, aus der hervorgeht, dass nur 5,9 Prozent der kontrollierten Personen angaben, auf eine Polizeistation oder einen Polizeiposten gebracht worden zu sein.12 Zu behaupten, dass lediglich 5,9 Prozent der Personenkontrollen dazu führen, dass Personen auf die Polizeiwache gebracht werden, bedeutet auch, zu behaupten, dass 94 Prozent der polizeilichen Tätigkeit keinen direkten Bezug zur offiziellen Rechtfertigung hat, Kriminalität zu bekämpfen und das Recht durchzusetzen. Die polizeiliche Praxis ist Teil eines Horizonts, der sich jenseits des Gesetzes bewegt. Eine Untersuchung zu Polizeistreifen kam zu einem ähnlichen Ergebnis: In den 1970er Jahren zeigte eine berühmte Studie der Polizei von Kansas City, dass Streifen keinen Einfluss auf das Verbrechen hatten. Die Studie wurde folgendermaßen durchgeführt: Es wurden drei Zonen festgelegt. In einer Zone wurden die Streifen abgeschafft, in der zweiten wurden sie im üblichen Umfang beibehalten und in der dritten wurden sie verdoppelt oder verdreifacht. Das Ergebnis war eindeutig: Die Zahl der Einbrüche, die Zahl der aufgeklärten Fälle, aber auch das allgemeine Sicherheitsgefühl blieben in allen Zonen genau gleich.13 Es gibt keinen messbaren Zusammenhang zwischen polizeilicher Praxis und Sicherheit. § Um über die Realität der polizeilichen Praxis nachzudenken, müssen wir uns von der Vorstellung lösen, dass die Polizei von der Rechtsordnung geleitet ist. Zweifellos entspricht ein Teil ihrer Tätigkeiten diesem Auftrag. Aber nicht alle. Ein nicht unerheblicher 11 Der:die défenseur du droit (DDD) wird seit Juli 2008 von dem:der amtierenden Präsident:in für eine Mandatszeit von jeweils sechs Jahren berufen. Ihre ausgewiesene Pflicht liegt, wie bei anderen Ombudsstellen, darin, Bürger:innenrechte gegenüber der Verwaltung zu verteidigen. Darüber hinaus hat der:die DDD auch Befugnisse, die über die Verwaltung hinaus die Förderung von Kinderrechten, Diskriminierungsbekämpfung und Einhaltung von ethischen Grundsätzen bei Sicherheitsmaßnahmen betreffen. 12 Vgl. Jérémie Gauthier, »Un art français de la violence policière«, in: Fabien Jobard, ders. (Hg.), Police: questions sensibles, Paris 2018, S. 51-64. 13 Vgl. Fabien Jobard, Jacques de Maillard, Sociologie de la police, Paris 2015.

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Teil der polizeilichen Praxis, insbesondere in den Arbeiter:innenvierteln, folgt anderen Logiken und anderen Geboten. Dies ist wohl die besorgniserregendste Tatsache der gegenwärtigen Situation: die Autonomie der Polizei gegenüber der Justiz und dem Gesetz. Die Polizei steht außerhalb des Gesetzes. Die Polizei ist gegenüber dem Gesetz autonom. Ich will damit nicht sagen, dass die Polizei ungesetzlich ist, sondern dass sie rechtlich befugt ist, außerhalb des Gesetzes zu handeln. § Bestimmt kann man behaupten, dass die Kontrollpraxis geregelt sei, dass sie sich in einem gesetzlichen Rahmen bewegen müsse, dass sie nur möglich sei, wenn es darum gehe, einen Verstoß gegen die öffentliche Ordnung oder eine Straftat zu verhindern, oder um die Suche nach Täter:innen oder Zeug:innen. Aber niemand kann dieser rein rhetorischen Fassade Glauben schenken, denn wie immer sind die Bestimmungen, die die polizeiliche Praxis definieren, so vage, dass die Polizei sie jeweils so auslegen kann, dass sie anhalten und durchsuchen kann, wen sie will. Und wer sich gegen eine Kontrolle wehrt, der:dem droht sofort ein Verfahren wegen Beamt:innenbeleidigung und Widerstand gegen die Staatsgewalt. Mit anderen Worten: Die Gesetzestexte geben die rechtliche Grundlage für die Autonomie der Polizei (was die Grenze zwischen Rechtsstaat und Polizeistaat verwischt14). Sie geben der Polizei die Macht, gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen als autonomes Regierungsprinzip zu fungieren, welches seine eigenen gesellschaftspolitischen Zwecke erfüllt. § Die Polizeistreifen und Kontrollen scheinen nicht in erster Linie im Zusammenhang mit Fragen von Recht und Illegalität zu stehen, sondern mit Fragen von race und rassistischer Segregation. Alle Studien haben gezeigt, dass die Streifen und Personenkon­ trollen besonders und besonders massiv afrikanische und arabische Jugendliche treffen, sei es an ihrem Wohnort oder wenn sie unterwegs sind. In den Arbeitervier:innenvierteln sind Polizei, Streifen, Kontrolle, Überwachung und Verfolgung allgegenwärtig. Laut einer Studie der Ombudsstelle geben »80 Prozent der Männer unter 25 Jahren, die als arabische/maghrebinische oder schwarze Menschen wahrgenommen werden, an, in den letzten fünf Jahren 14 Vgl. Jean-Paul Bordeur, »La police: mythes et réalités«, in: Criminologie, 17/1 (1984), S. 9-41.

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mindestens einmal kontrolliert worden zu sein (im Vergleich zu 16 Prozent der übrigen Bevölkerung)«.15 Eine in Pariser Bahnhöfen durchgeführte Umfrage ergab, dass schwarze und arabische Menschen sechs- beziehungsweise achtmal häufiger angehalten werden als Weiße.16 Diese Zahlen werden häufig als Grundlage für die Anprangerung des diskriminierenden Charakters der Polizeipraktiken verwendet. Das wird als racial profiling bezeichnet. Der französische Staat wurde 2015 in einem Urteil, das 2016 vom Kassationsgericht17 bestätigt wurde, wegen diskriminierender Praktiken der Polizei verurteilt.18 Auch wenn das stimmen mag, müssen wir uns vor der Rhetorik der Diskriminierung hüten. Wenn wir sie verwenden, begründen wir unsere Kritik mit einem egalitären Kriterium, kritisieren nur das, was ungleich beziehungsweise diskriminierend ist. Damit setzen wir uns in eine Position, von der aus wir nichts mehr zu kritisieren hätten, wenn alle gleich kontrolliert würden. Wir akzeptieren die institutionellen Rahmenbedingungen, wie sie sind, und hinterfragen lediglich die unterschiedliche Anwendung von Befugnissen innerhalb dieses Rahmens. Die Kritik an racial profiling sollte jedoch nicht dazu beitragen, Kontrollen zu rechtfertigen und so zu tun, als ob dieser Machtapparat akzeptabel wäre, wenn er auf alle gleichermaßen angewandt würde. In der Rhetorik der »Diskriminierung« wird die unterschiedliche Behandlung von weißen und schwarzen oder arabischen Menschen als ein »Fehler« im System thematisiert, eine voreingenommene Anwendung des Standards – eine Dysfunktion. Ein klares Verständnis der Herrschaftsformen sollte uns jedoch dazu führen, dass wir diese Unterschiede als Funktionsweise des Systems betrachten, als die tatsächliche Funktion, als das, wozu es dient, als das, was es produzieren will. 15  Le défenseur des droits, »Relations police/population: le cas des contrôles d’identité«, 〈https://www.defenseurdesdroits.fr/sites/default/files/atoms/files/rap port-enquete_relations_police_population-20170111_1.pdf〉, letzter Zugriff 6. 1.  2022. 16 »Police et minorités visibles: les contrôles d’identité à Paris«, Rapport pour l’Open Society (2009), 〈https://www.justiceinitiative.org/uploads/a18ddc78-180e-4f0b-a 695-ccfc91906210/french_20090630_0_0.pdf〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 17 Oberstes französisches Gericht. [Anm. d. Übers.] 18 Jérémie Gauthier, »Le contrôle au faciès devant les juges. Entretien avec Slim Ben Achour«, in: Gauthier/Jobard (Hg.), Police: questions sensibles, S. 65-76.

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§ Wir stellen also fest, dass die polizeiliche Tätigkeit, die Kon­ trollen und Durchsuchungen, in erster Linie auf schwarze und arabische Menschen abzielt und in den Vierteln, in denen sie leben, mit besonderer Intensität durchgeführt wird, bis hin zu dem Punkt, dass sie einen Rahmen für ihr tägliches Leben bildet. Das führt zur Frage, ob die Rolle der Polizei in unseren Gesellschaften nicht darin besteht, einzelne Gruppen zu unterscheiden (eine Art ist es, das über Rassifizierung zu tun) und insbesondere im öffentlichen Raum unterschiedliche Beziehungen zwischen ihnen herzustellen. Die Praktiken der Polizei erschweren die Mobilität im öffentlichen Raum für nichtweiße Menschen und Jugendliche aus Arbeiter:innenvierteln. Dadurch wird ihre Beziehung zur Außenwelt noch prekärer. Sie sind ängstlich, unsicher, trauen sich nicht auf die Straße und fühlen sich im Gegensatz zu weißen Jugendlichen aus der Innenstadt unrechtmäßig in ihrem Umfeld. Die ständige Möglichkeit, kontrolliert zu werden, erzeugt bei den Betroffenen ein Gefühl der Unsicherheit und der Ungewissheit. Das Aufspüren, Kontrollieren und Verhaften ist eine Art, ihnen zu sagen: »Was macht ihr hier? Bleibt zu Hause, bleibt im Privaten, versteckt euch.« § Im Essay mit dem Titel »Ein Schwarzer geht durch die Stadt« beschreibt der Schriftsteller Garnette Cadogan seine Erfahrungen als schwarze Person in den Vereinigten Staaten.19 Er sagt, dass seine Freund:innen ihn warnen, dass die amerikanischen Städte gefährlich seien, als er Jamaika verlässt, um sich in New Orleans niederzulassen und sein Studium fortzusetzen. Er geht gerne und viel spazieren, und sie raten ihm, bei seinen Spaziergängen vorsichtig zu sein und bestimmte Viertel zu meiden. Doch allmählich wird er sich bewusst, dass nicht er derjenige ist, der Angst haben wird, sondern andere Leute vor ihm. Weil er schwarz ist, wird er als Bedrohung angesehen. Weil er ständig der Bedrohung durch die Polizei ausgesetzt ist, verändert sich seine Erfahrung der sozialen Welt radikal. Je länger er in den Vereinigten Staaten lebt, in New Orleans, New York, wird Cadogan klar, dass es für eine schwarze Person unmöglich ist, sich unschuldig im öffentlichen Raum zu bewegen, denn alle ihre Handlungen werden sofort als verdächtig oder bedrohlich eingestuft, insbesondere von der Polizei: Geht er zu schnell, glaubt die Polizei, dass er von einem Tatort flieht, geht er zu langsam, dass 19 Garnette Cadogan, Ein Schwarzer geht durch die Stadt, Berlin 2020.

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er auskundschaftet, steht er auf der Straße, dass er Drogen verkauft, usw. Jedes Verhalten wird als verdächtig eingestuft und kann zu einer brutalen Verhaftung führen. Für Schwarze ist das Gehen ein eingeschränktes Erlebnis, ihnen ist die klassisch romantische Erfahrung nicht vergönnt, allein unterwegs zu sein. Als Schwarzer bin ich gezwungen, immer in Gegenwart anderer zu gehen, ich kann es nicht jenen New Yorker Flaneuren gleichtun, die ich gelesen hatte und zu denen ich gehören wollte. Anstatt ziellos auf den Spuren von Whitman, Melville, Kazin oder Vivian Gornick zu wandeln, schien ich höchstens Baldwin nachzutrippeln, auf Zehenspitzen – jenem Baldwin, der in den sechziger Jahren schrieb: »O ja, rar gesät sind die Einwohner Harlems, vom besonnensten Kirchgänger bis zum tollpatschigsten Jugendlichen, die nicht eine lange Geschichte über die Unfähigkeit, Ungerechtigkeit oder Brutalität der Polizei zu erzählen hätten.«20

§ Sich selbstverständlich und ruhig im öffentlichen Raum aufzuhalten, ist schwarzen Menschen vorenthalten. »Das Gehen – das einfache, gleichförmige Setzen eines Fußes vor den anderen, um nicht zu fallen – ist für Schwarze offenbar nicht so einfach.«21 Cadogan erzählt, dass er das erste Mal, als er in New York eine U-Bahn nehmen wollte, weil er sich zu einem Termin verspätet hatte, angehalten und heftig verprügelt wurde: Nach einem opulenten italienischen Abendessen und einigen Drinks mit Freunden trabte ich zur Subway am Columbus Circle – ich war spät dran und mit ein paar anderen Freunden zu einem Konzert in Downtown verabredet. Da hörte ich jemanden rufen, und als ich aufblickte, kam ein Polizist mit gezogener Waffe auf mich zu. »Ans Auto stellen!« In kürzester Zeit war ich von einem halben Dutzend Cops umgeben, die mich gegen das Auto drückten und mir Handschellen anlegten. »Warum bist du gerannt?« »Wo wolltest du hin?« »Wo kommst du her?« »Ich will wissen, warum du gerannt bist?!«22

Anschließend wird Garnette Cadogans Leben von der ständigen Bedrohung einer Festnahme geprägt. Diese allgegenwärtige Möglichkeit veranlasst ihn, den Kleidungstil zu ändern: »Die amerikani20 Ebd., S. 32 f. 21 Ebd., S.  34. 22 Ebd., S.  26.

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sche Standardkombination, weißes T-Shirt und Jeans, die für viele Polizist:innen offenbar die Uniform schwarzer Störenfriede ist, war für mich hingegen tabu.«23 Der Einfluss der Polizei auf das Leben ist nie auf den Moment des Kontakts mit ihr beschränkt. Es handelt sich um einen psychischen und politischen Einfluss, der das Verhalten verändert und die gesamte Existenz prägt: Die Möglichkeit der Kontrolle verändert die Seinsart und das Anwenden von Strategien, um nicht kontrolliert zu werden. Cadogan beschreibt einen ganzen Verhaltenskodex, den er aufgestellt hat: Nicht rennen, vor allem nicht nachts, keine plötzlichen Bewegungen, keine Kapuzenpullis, keine Gegenstände in der Hand – vor allem nichts Glänzendes; nicht an der Straßenecke auf Freunde warten, um nicht als Dealer zu gelten; nie an einer Straßenecke zum Telefonieren stehen bleiben (derselbe Grund).24

§ Die von Garnette Cadogan beschriebene Erfahrung ist nicht spezifisch amerikanisch. Es braucht kein Vergrößerungsglas, um festzustellen, was in Frankreich geschieht: In einer öffentlichen Sitzung im Jahr 2017 habe ich die Aussage von Adama Kamara gehört. Er war in seinen Dreißigern und gerade aus dem Gefängnis entlassen worden: Man hatte ihn nach den Aufständen in Villiers-le-Bel 2007 verurteilt. Diese waren ausgebrochen, nachdem die Polizei zwei Jugendliche auf einem Motocross-Motorrad angefahren und getötet hatte: Moushin Sehhouli (15) und Laramy Samoura (16). Er erklärte diese verrückte Sache: Das erste Mal in seinem Leben, dass er einem Weißen begegnete, der nett zu ihm war, war im Gefängnis – ein Erzieher. Davor waren die Weißen in seinem Leben Lehrer:innen in der Schule, die ihn ständig demütigten, oder die Polizei, die ihn auf dem Schulweg immer wieder kontrollierte. Er erzählte von einer außerordentlichen Anzahl Polizeikontrollen, die er durchlebt hatte, und wie diese zu Hausarrest und sozialer Ausgrenzung wegen Straftaten wie Beamt:innenbeleidigung oder Widerstand gegen die Staatsgewalt führten, die die Polizei selbst ausgelöst hatte. Sobald man 13 Jahre alt ist, wird man zehn- bis fünfzehnmal am Tag kontrolliert. Und eines Tages sagst du einfach: »Lass mich los, ich habe nichts 23 Ebd., S.  14. 24 Ebd., S.  25.

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getan«, und das war’s. Widerstand. Also landest du im Gefängnis. Sie haben dich gedrängt. Wie sollen wir vorankommen? Sie zerstören tausende von Leben durch Klagen wegen Beamt:innenbeleidigung während einer rassistischen Kontrolle, die sie selber verursachen. Das Gefängnis ist ihre Lösung, um uns dort zu halten, wo wir sind.

§ Foucault reproduziert hierzu seltsamerweise eine homogenisierende und ökonomisierende Vision, wenn er erklärt, dass die Funktion der Polizei darin bestehe, Verhaltensweisen durch Kontrolle und Überwachung zu normalisieren, um den Wohlstand zu steigern.25 Im Gegensatz dazu kann man argumentieren, dass ihre Funktion eher darin besteht, differenzierte Formen des In-der-Welt-Seins zu etablieren: Unterschiede zu schaffen zwischen denjenigen, die sich im öffentlichen Raum frei, ohne Angst und ohne Befürchtungen bewegen können, und denjenigen, für die im Gegenteil die Beziehung zum öffentlichen Raum und zur Zirkulation nicht unmittelbar ist. Es gibt Menschen, die sich auf der Straße bewegen und manchmal kontrolliert werden. Und es gibt Menschen, für die das Kontrolliertwerden die vorrangige Beziehung zur Welt ist, so dass sich frei zu bewegen bedeutet, nicht kontrolliert zu werden. Im einen Fall kommt die Kontrolle nach der Freiheit, im anderen kommt die Freiheit danach – wenn es keine Kontrolle gibt, wenn man in Ruhe gelassen wird. § Die Existenzen sind negativ aneinandergebunden. Weiß zu sein, bedeutet heute, sich im öffentlichen Raum unbeschwert bewegen zu können und sich heimisch zu fühlen. Die soziale Kontrolle, die die Polizei über bestimmte Bevölkerungsgruppen ausübt, indem sie deren Aktivitäten ins Visier nimmt, führt dazu, dass schwarze und arabische Menschen, nichtweiße Menschen und insbesondere (männliche) Jugendliche lernen, sich unerwünscht und von vornherein kriminell zu fühlen, weil es jederzeit sein kann, dass die Polizei auftaucht und sagt: »Warum bist du hier, warum bist du draußen, warum bist du nicht zu Hause, wer bist du?«26 25 Michel Foucault, »›Omnes et singulatim‹: Zu einer Kritik der politischen Vernunft«, in: ders., Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden, Bd. 4, Frankfurt/M. 2005, S. 165-198; ders., Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität 1, Frankfurt/M. 2006. 26 Bei einem Prozess gegen Polizeibeamte im 12. Arrondissement (Bezirk in Paris) im Jahr 2018 wurde festgestellt, dass sie die Jugendlichen, die sie ihrem Kontroll­

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Es hat eine segregierende Dimension, wenn die Ordnungskräfte heute ihre gesetzlichen Befugnisse nutzen. Man könnte fast so weit gehen zu sagen, dass eine der Funktionen der heutigen Polizeiarbeit darin besteht, eine Form der weißen Vorherrschaft im öffentlichen Raum aufrechtzuerhalten. Wenn du weißt, dass du kontrolliert wirst, gehst du weniger aus, fährst du weniger S-Bahn, unternimmst weniger, schließt dich aus dem öffentlichen Raum aus. Die polizeiliche Ordnung schränkt das Leben derjenigen ein, die wissen, dass sie ihre Adressat:innen sind – das tatsächliche Leben, das sie führen, aber auch jenes, von dem sie träumen können. Mir fällt immer wieder auf, dass man Jugendliche aus den Pariser Arbeiter:innenvierteln immer in Gruppen sieht. Es ist sehr selten, dass man sie allein sieht, als ob das Ausgehen eine Tortur wäre und sie sich gegenseitig Mut und Unterstützung geben müssten, um sich in diesem feindlichen Raum der Straße aufzuhalten. Wir können die Phänomene der »Gangs« nicht verstehen, wenn wir sie nicht auch auf diese Erfahrung des Außen beziehen.

Drinnen/Draußen Geoffroy de Lagasnerie § Die Soziologie hat gezeigt, wie in den letzten dreißig Jahren eine Neudefinition der subjektiven Identitäten stattgefunden hat: Die Krise des Verhältnisses zur Arbeit und die Massenarbeitslosigkeit (die in den Arbeiter:innenvierteln oft 40 Prozent erreicht) haben dazu geführt, dass sich die Angehörigen der beherrschten Klassen immer weniger über ihre Arbeit, ihre wirtschaftliche Identität, und immer mehr über ihr Territorium, ihren Wohnort, definieren: Man sieht sich weniger als Arbeiter:in und mehr als »aus diesem Viertel«. Wenn das Thema Polizei in den Arbeiter:innenvierteln von zentraler Bedeutung ist, dann auch, weil es den Kern dieser Beziehung zur Welt trifft. Für die Betroffenen dieser polizeilichen Ordnung stellt sich die Frage, wie sie sich im öffentlichen Raum bewegen und aufhalten können. Es ist nicht nur ein Machtsystem unter vielen. apparat unterwarfen, als »Unerwünschte« bezeichneten, siehe 〈https://www. bondyblog.fr/societe/police-justice/violences-sur-mineurs-du-12eme-arrondis sement-de-paris-quatre-policiers-sur-le-banc-des-accuses/〉, letzter Zugriff 6. 1.  2022.

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Es greift in eine der wichtigsten Formen der Konstruktion der zeitgenössischen subjektiven Identität ein. § Wir könnten dann alles, was um den Kampf Adama herum geschieht, anhand der Problematik des öffentlichen Raums analysieren. Die Polizeifrage ist Teil einer Ökonomie der Zugehörigkeit und des Erscheinungsbildes: Wer kann friedlich erscheinen? Wer ist im öffentlichen Raum in Gefahr? Wer ist legitimiert, dort zu sein? Dass die Reaktion fast systematisch die Form eines Aufstands annimmt, wenn ein Vorfall von Polizeigewalt öffentlich gemacht und mediatisiert wird, liegt zweifellos daran, dass die polizeiliche Ordnung bestimmte Formen der öffentlichen Präsenz illegitim macht. Es geht nicht darum, alles kaputt zu machen, alles zu verbrennen, ob aus Wut, aus Bosheit oder aus einem berechtigten Gefühl des Erstickens. Diese Szenen der Revolte sind Formen der Wiederbesetzung des öffentlichen Raums, Momente, in denen er zurückerobert wird. Was zum Ausdruck gebracht wird, könnte folgendermaßen formuliert werden: Ihr wollt uns aus dem öffentlichen Raum ausschließen, ihr behandelt uns als Unerwünschte, wenn wir da sind. Und doch sind wir da, wir sind berechtigt, da zu sein und diesen umkämpften Raum, der uns abgestritten wird, zu besetzen. Doch damit ist der Kampf noch nicht zu Ende. Denn der Staat reagiert auf diese Demonstrationen systematisch mit einer repressiven Logik, mit Verhaftungen, Prozessen, sofortigen Anklagen und Gefängnisstrafen. Mit anderen Worten, es ist, als ob die Richter:innen die Praktiken der Polizei vervollständigen, indem sie sagen: Gut, ihr wollt euch nicht verstecken, ihr wollt gesehen werden, ihr wollt nicht zu Hause bleiben, dann werden wir euch verstecken und unsichtbar machen. Wir töten euch nicht oder schüchtern euch nicht ein, wenn ihr rausgeht, sondern wir stecken euch ins Gefängnis. Das Gefängnis ist ein weiterer Ausschluss von der Straße. Ihr wollt nicht nach Hause gehen, wollt den öffentlichen Raum beanspruchen, dann sperren wir euch ein. § Eine aufschlussreiche Szene hat sich in Boyenval abgespielt, im Viertel Beaumont, in dem ein Teil der Familie Traoré lebt. Das war am 28. April 2018. Das Adama-Komitee hatte eine Familienveranstaltung mit den Bewohner:innen des Viertels organisiert, bei der es Unterhaltung für Kinder und ein Picknick gab. Die Kinder lernten Boxen oder spielten Fußball, während die Erwachsenen in 310

aller Ruhe aßen und sich unterhielten. Und plötzlich tauchten bewaffnete Soldat:innen auf, viele mit Helmen und Gewehren in der Hand, und die Anwesenden wurden umzingelt. Umzingelt. Die Bilder sind beeindruckend. Niemand konnte sich das ausdenken, im 15. Arrondissement von Paris so etwas zu erleben: Soldaten, die ein Familientreffen umzingeln und mit Sturmgewehren um Kinder patrouillieren, deren Boxhandschuhe größer als ihre Köpfe sind. Als würde der Staat diesen Kindern sagen: Seid nicht zu lange glücklich, fühlt euch nicht zu frei, denkt nicht, ihr seid zu Hause. Sie wollten nicht zulassen, dass sie eine Stunde glücklich sind und ihren kleinen Garten genießen.

Assa Traoré § Da ist es, dieses Bild. Der Boxhandschuh und eine Waffe. Da ist die Gewalt, das, worauf unsere Kinder Anrecht haben. Unsere Kinder dürfen keine Blumen sprießen sehen, aber sie dürfen Gewehrkugeln entgegensehen. Das bedeutet, dass wir uns heute in einer Welt befinden, in der es eine Art Festplatte gibt, die Unterwerfung produziert. Sie haben in den Gehirnen vieler Menschen eine Festplatte eingebaut, die Unterwerfung produziert, und sie wollen nicht, dass diese entfernt wird ... Es ist wie in einem Film. Und sobald wir etwas tun, legen sie uns Steine in den Weg. Denn an dem Tag, an dem wir sie herausnehmen und die Menschen sich erheben, stürzen wir das System. Und wenn wir das System gestürzt haben, ist es für sie vorbei. Als die Presse die Präfektur über die Entsendung dieser Soldat:innen in unser Viertel befragte, wurde gesagt, dass sie unsere Sicherheit gewährleisten sollten. Aber unsere Sicherheit vor was? Vor welcher Gefahr? Wie groß ist die Gefahr, wenn Kinder boxen und wir ein Picknick machen? Wenn Frankreich sagt, dass der Kolonialismus zu Ende ist, dann stimmt das nicht. Selbst bei Demonstrationen in Paris, bei denen es sehr gewalttätig zugeht, schickt man nicht die Armee. Im Fall von Adama Traoré wird das Militär jedoch zu einem Familienfest nach Beaumont geschickt. Diese Art von Behandlung ist sehr kolonial. So war es auch in den Kolonien, als das Militär in die Dörfer einmarschierte, um die ansässige Bevölkerung einzuschüchtern. Am auffälligsten war, dass sie mit umgeschnallter 311

Waffe Wache standen. Während sich zwei von ihnen den Jugendlichen beim Barbecue näherten, blieben die anderen in Deckung oder sahen sich in den Gebäuden um, als ob es einen Hinterhalt geben würde. Es sind Bilder vom Kolonialkrieg, von Besatzung, als wäre es ein fremdes Territorium. Da ist ein Wille, das Viertel zu terrorisieren. […]

Was »Polizeigewalt« genannt wird Geoffroy de Lagasnerie § Um über die Welt nachzudenken und sie in Frage zu stellen, greifen wir notgedrungen auf zuvor gebildete Kategorien zurück. Deswegen müssen wir sehr wachsam sein. Wir müssen darauf achten, dass die Sprache uns nicht verrät, dass wir die Funktionsweise der Macht nicht in dem Moment bestätigen, in dem wir meinen, sie zum Gegenstand zu machen und sie zu destabilisieren. In diesem Zusammenhang scheint es mir notwendig, dem Begriff der »Polizeigewalt« zu misstrauen. Es handelt sich um einen zweideutigen Begriff, der mit großer Vorsicht zu verwenden ist. Die Verwendung dieses Begriffs hat einen großen Fehler. Nämlich dass der Begriff »Gewalt« nur dann auf das Verhalten der Polizei bezogen wird, wenn dieses Verhalten von der normalen Vorgehensweise abzuweichen scheint, oder um Momente zu bezeichnen, in denen die Brutalität besonders schockierend ist. Die Kategorie »Polizeigewalt« setzt implizit voraus, dass das, was legal, normal und etabliert ist, nicht als gewalttätig definiert wird: Personenkontrollen, Festnahmen, Beschlagnahmungen, Freiheitsentzug, Handschellen. All diese Maßnahmen sind an sich gewalttätig. Aber sie werden nicht als »Polizeigewalt« bezeichnet, und sie werden nicht als solche angeprangert, weil sie legal und normal, Teil des Verfahrens sind, weil wir an sie gewöhnt sind. Wäre Théo in Aulnay-sous-Bois beispielsweise nicht durch das Einführen eines Teleskopschlagstocks in seinen Anus verstümmelt worden, würde nicht von »Polizeigewalt« gesprochen, um die Szenen seiner Kontrolle und Durchsuchung zu beschreiben, auch wenn diese insgesamt gewalttätig war. Es wird auch nicht von »Polizeigewalt« oder Brutalität gesprochen, wenn morgens um sechs Uhr Polizeibeamte 312

in die Wohnung eines Menschen eindringen, die Tür aufbrechen, ihn nackt aus dem Bett zerren, ihn festhalten, ihm Handschellen anlegen und dann die Wohnung durchsuchen, denn diese Szenen sind Teil der regulären Rechtsordnung. § Die Bezeichnung »Polizeigewalt« ist dann problematisch, wenn sie bestimmte Handlungen und Verhaltensweisen der Ordnungskräfte bezeichnet, denn die Ordnungskräfte sind in ihrer Essenz gewalttätig. Die polizeilichen Verfahren beruhen auf der Anwendung von Zwangsmitteln und damit auf Gewalt. Es gibt keinen Grund, nur das als gewalttätig zu bezeichnen, was außerhalb des üblichen Verfahrens zu liegen scheint. Logischerweise müsste man sagen, dass es keine »Polizeigewalt« gibt – denn Polizei bedeutet Gewalt –, oder aber, dass es nur Polizeigewalt gibt. Die Gefahr des Begriffs »Polizeigewalt« besteht darin, dass er uns vergessen lässt, dass eine Handlung, nur weil sie legal ist, nicht bedeutet, dass sie nicht gewalttätig ist. § Trotz dieser Kritik an der Verwendung der Kategorie »Polizeigewalt« möchte ich nicht leugnen, dass in diesen Momenten, die wir »Polizeigewalt« nennen, etwas Entscheidendes auf dem Spiel steht. Man könnte sagen, dass polizeiliche Handlungen unterteilbar sind in solche, die gewalttätig sind, aber nicht als gewalttätig kodiert werden, und solche, die gewalttätig sind und auch so bezeichnet werden. Letzteres bezeichnen wir als »Polizeigewalt«. Bei der Polizei ist alles gewalttätig, aber weder bezeichnen wir alles so, noch nehmen wir es so wahr. Als »gewalttätig« bezeichnen wir das, was aus dem Rahmen fällt, das was uns illegal, irregulär erscheint. Folglich denke ich, dass wir die Momente, die wir als »Polizeigewalt« bezeichnen, als Episoden interpretieren könnten, in denen es tatsächlich einen Konflikt zwischen den Rahmenbedingungen, die unsere Wahrnehmung der üblichen polizeilichen Tätigkeit strukturieren, und der Rahmung, die die Polizei ihrer normalen Tätigkeit geben möchte, gibt. Dies ist ein entscheidender Moment, in dem die Polizei versucht, die Definition ihrer Norm zu erweitern. Die Polizei ist auf dem Vormarsch. Was wir als »Polizeigewalt« wahrnehmen, sind die Momente, in denen eine Diskrepanz zwischen unserer Vorstellung von akzeptablem polizeilichen Handeln und einer neuen Norm für polizeiliches Handeln besteht, die die Polizei selbst zu etablieren versucht. Als gewalttätig bezeichnen wir die 313

»umstrittenen« Polizeiaktionen, die die Polizei als rechtmäßig etablieren will, die wir aber noch nicht als solche akzeptiert haben. § Wenn diese Interpretation richtig ist, sind die Szenen, die uns als »Polizeigewalt« erscheinen, das Gegenteil von Entgleisungen. Es sind Momente, in denen sich das eigentliche Wesen der Polizei zeigt. Die Polizei verfügt über ein wesentliches Merkmal, das ihre Autorität in einem Rechtsstaat so problematisch macht: Sie ist in einer Position, in der sie die Vorschriften, die ihre Tätigkeit regeln sollen, interpretieren, mit Sinn versehen und umdeuten kann. Sie kann, wie Walter Benjamin es ausdrückt, »den Bereich ihrer Zwecke selbständig erweitern«: »Die Schmach der Polizei liegt in der Abwesenheit jeder Trennung zwischen der Gewalt, die das Gesetz begründet, und der, die es bewahrt.«27 Die Begriffe, die die polizeiliche Praxis und die Art und Weise des Eingriffs bestimmen sollen, wie »verhältnismäßig«, »unbedingt erforderlich«, »wahrscheinlich straffällig«, »Gefahr im Verzug«, »Gefährdung«, »Indiz«, sind ausreichend (und absichtlich so) vage, um der Polizei das Recht zu geben, sie im Moment nach Belieben auszulegen.28 Die Polizei ist die Behörde, die das Monopol der interpretativen Gewalt hält. Sie definiert die Normen ihres Handelns ständig neu, genehmigt sich selbst bestimmte Handlungen und erhöht so ihren Einfluss auf unser Leben. Wenn das autonome Erschaffen von Regeln das Alleinstellungsmerkmal der Polizei in unseren politischen Gesellschaften ist, dann kann man sagen, dass »Polizeigewalt« ein Moment ist, in dem sich das Wesen dieser Instanz zeigt. Polizeigewalt entsteht, wenn die Polizei versucht, ihren Handlungsspielraum zu erweitern, wenn sie versucht, ihre Autorität zu stärken. Es ist ein Moment der quasi27 Im Original: »Diese ist zwar eine Gewalt zu Rechtszwecken (mit Verfügungsrecht), aber mit der gleichzeitigen Befugnis, diese in weiten Grenzen selbst zu setzen (mit Verordnungsrecht). Das Schmachvolle einer solchen Behörde, das nur deshalb von wenigen gefühlt wird, weil ihre Befugnisse zu den gröblichsten Eingriffen nur selten ausreichen, desto blinder freilich in den verletzbarsten Bezirken und gegen Besonnene, vor denen den Staat nicht die Gesetze schützen, schalten dürfen, liegt darin, daß in ihr die Trennung von rechtsetzender und rechtserhaltender Gewalt aufgehoben ist.« Walter Benjamin, »Zur Kritik der Gewalt«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II.1, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1991, S. 179-203, hier S. 190. 28 Vgl. Bordeur, »La police«.

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physischen, der geographischen Eroberung. Es geht darum, Macht über Körper zu erlangen. Es geht darum, dass die Polizei oder die Gendarmerie versuchen, die Definition dessen, was für sie möglich ist, zu erweitern. Sie ist dabei, eine neue Legalität zu schaffen, und gibt den Regeln ihres Handelns eine neue Bedeutung, die wir noch nicht verinnerlicht haben. Und die Tatsache, dass Richter:innen ihre Handlungen und Entscheidungen fast systematisch bestätigen, zeigt, dass der Polizei in unseren Gesellschaften in der Tat eine gewisse gesetzgeberische Macht eingeräumt wird. Was wir als »Polizeigewalt« bezeichnen, ist ein Moment der Rechtssetzung durch die Polizei. Solche Szenen sind deshalb so schockierend, weil wir das Wesen der autoritären Macht physisch erfahren und sich uns der Polizeistaat, der im Rechtsstaat steckt, offenbart. § Die Kritik an der Polizeigewalt hat kein Ende. Es geht nicht darum, die »übermäßige« Anwendung von Gewalt in Frage zu stellen, sondern die Grenze des Akzeptablen zu verschieben. Je mehr wir die Polizeigewalt kritisieren, je mehr wir die Normen dessen, was wir akzeptieren, zurückdrängen, desto mehr wird ein Verhalten, das früher als normal galt, als gewalttätig erscheinen. Ist polizeiliche Gewalt keine Abweichung, sondern Ausdruck der normalen Polizei, dann bedeutet der Wunsch nach dem Ende von Polizeigewalt, die Idee der Polizei, also den Rückgriff auf gewaltsame Mittel zur Durchsetzung einer Rechtsordnung, grundsätzlich in Frage zu stellen. Übersetzt von Jovita dos Santos Pinto und Emanuel Haab

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Amna A. Akbar Reform (der Polizei) – ein abolitionistischer Horizont »Wir dachten, wenn wir das Polizieren immer weiterentwickelten, könnten wir seiner Gewalt entkommen«, begann Rachel Herzing.1 Es war November 2014, der Herbst, in dem Darren Wilson Michael Brown umbrachte und die Menschen von Ferguson auf die Straße gingen. Als Gründungsmitglied der abolitionistischen Organisation Critical Resistance sprach Herzing in einem brechend vollen Saal in Los Angeles zum Thema der Polizei. Sie begann bei ihren Anfängen: den Sklav:innenpatrouillen im Süden der USA. Sie erklärte das historische Verhältnis zwischen formalisierter Polizeiarbeit und Gewalt und fuhr fort, Gefängnisse und die Polizei als voneinander abhängige Institutionen zu beschreiben. Aktuelle Versuche, die Polizei zu reformieren, so stellte sie fest, waren gescheitert. Trotz der Bemühungen um eine diverse Beschäftigungsquote, Sensibilisierungsschulungen, zivile Prüfungskommissionen und strafrechtliche Anklagen gegen die Polizei blieb Gewalt ein wesentliches Kernstück dieser sich ausbreitenden Institution. »Die Gewalt wird nur dann enden, wenn wir Polizist:innen überflüssig machen«,2 schlussfolgerte Herzing. Ich saß in diesem Raum. Zum ersten Mal hörte ich die These, dass eine Polizeireform die Gewalt nicht beenden würde, sondern nur das Verringern der Zahl der Polizist:innen. Seit mindestens einem Jahrzehnt hatten Wissenschaftler:innen über Ansätze zur Entknastung diskutiert,3 aber nur wenige zogen die Möglichkeit 1 Rachel Herzing, »Address to the Critical Prison Studies Caucus of the American Studies Association. Keyword Police« (8. 11. 2014). Der Critical Prison Studies Caucus of the American Studies Association besteht aus akademischen Aktivist:innen und Organisator:innen, deren Ziel es ist, Gefängnissen und Polizei den naturgemäßen Status als zentrale Instrumente der Staatskunst weltweit zu nehmen. Zum Critical Prison Studies Caucus siehe 〈https://www.theasa.net/communities/ caucuses/critical-prison-studies-caucus〉, letzter Zugriff 11. 6. 2021. 2 Ebd. 3 Marie Gottschalk, Caught. The Prison State and The Lockdown Of American Politics, Princeton 2015, S. 165. Hier wird die These vertreten, dass der übliche Fokus

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in Betracht, die Polizei zu verkleinern. Viele befürworteten die Reformen, die Herzing ablehnte. Doch Herzing überzeugte mich damals, dass die Gewalt und das Ausmaß von Polizei und Inhaftierung grundlegend miteinander verwoben sind. Den Gegner:innen der zentralen Stellung der Massenkriminalisierung im politischen, ökonomischen und sozialen Leben der USA ließ Herzings Ansatz nur eine Option: sowohl den Gefängnis- als auch den Polizeiapparat zu verkleinern. Jahrzehntelang haben die rechtswissenschaftlichen Fakultäten Forderungen, der Polizei Mittel zu entziehen und sie abzubauen, als randständig und nicht umsetzbar abgetan. Dann kamen die Aufstände nach dem Mord an George Floyd durch die Polizei in Minneapolis, eine der größten sozialen Bewegungen in der Geschichte der USA.4 Die landesweiten Proteste rückten die Abschaffung von Gefängnissen und Polizei in die Mitte der Gesellschaft und erschütterten dabei die intellektuellen Grundlagen liberaler Polizeireformbemühungen.5 Auch ich war verunsichert, als ich Herzings Botschaft zum ersten Mal hörte. Vielen Demonstrant:innen auf den Straßen im Jahr 2020 gleich, gab sie eine historisch fundierte Illustration der Polizeigewalt und ihrer sich wandelnden Formen. Sie stellte eine mutige, im schwarzen Freiheitskampf begründete Vision für eine grundlegend andere Welt vor. Sie sprach mit erschütternder Klarheit über das, was auf dem Spiel steht: das Leben von Millionen von Menschen, die auf die eine oder andere Weise von der Gewalt der Gefängnisse und der Polizei bestimmt werden. Sie lehnte die Logik und den Umfang der altbekannten Polizeireformen ab und schlug auf die Entknastung der »Non, Non, Nons« – also derjenigen, die wegen nichtgewalttätiger, nichtschwerwiegender, nichtsexueller Verbrechen angeklagt sind – die Inhaftierung nicht ausreichend reduzieren wird. 4 Amna A. Akbar, »How Defund and Disband Became the Demands«, in: The New York Review, 15. 6. 2020, 〈https://www.nybooks.com/daily/2020/06/15/howdefund-and-disband-became-the-demands〉; Larry Buchanan u. a., »Black Lives Matter May be the Largest Movement in U.S. History«, in: The New York Times, 3. 7. 2020, 〈https://www.nytimes.com/interactive/2020/07/03/us/george-floyd-pro tests-crowd-size.html〉, letzter Zugriff 3. 7. 2020. 5 Zu einem Beispiel einer abolitionistischen Position in der breiten Öffentlichkeit siehe Mariame Kaba, »Yes, We Mean Literally Abolish the Police«, in: The New York Times, 12. 6. 2020, 〈https://www.nytimes.com/2020/06/12/opinion/sunday/ floyd-abolish-defund-police.html〉, letzter Zugriff 12. 6. 2020.

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eine praktische Neuausrichtung für die Verfolgung von Reformprojekten vor, die Abolition als Horizont im Blick behielten. Die Wende hin zu abolitionistischen Horizonten unter den heutigen linken sozialen Bewegungen und Aktivist:innen und Organisator:innen für racial justice hat sich als eine der bedeutendsten politischen Entwicklungen seit den Aufständen in Ferguson und Baltimore herausgestellt.6 Abolitionistische Organisator:innen haben 6 Unter den Gründungsmitgliedern der langjährigen abolitionistischen Organisation Critical Resistance sind Angela Davis, Ruth Wilson Gilmore, Dylan Rodriguez und Rachel Herzing als zentrale Stimmen einer abolitionistischen Praxis zu nennen; andere Organisator:innen, Gruppen und Koalitionen haben in letzter Zeit ebenfalls an Bedeutung gewonnen, darunter Mariame Kaba, Beth E. Richie, Tourmaline, Dean Spade, Assata’s Daughters, Survived & Punished, BYP100, Mijente, Detention Watch Network, Project NIA, Black and Pink, INCITE! Women, Gender Non-Conforming, and Trans People of Color Against Violence, California Immigrant Youth Justice Alliance, Audre Lorde Project, Southerners on New Ground, Sylvia Rivera Law Project, No New SF Jail Coalition, L. A. No More Jails und #NoNewYouthJail in Seattle. Siehe dazu Eric A. Stanley, Nat Smith (Hg.), Captive Genders: Trans Embodiment and The Prison Industrial Complex, Oakland 2015; Angela Y. Davis, Eine Gesellschaft ohne Gefängnisse, Berlin 2006; Dean Spade, Normal Life: Administrative Violence, Critical Trans Politics, & The Limits of Law, Durham 2015; Micol Seigel, »Critical Prison Studies: Review of a Field«, in: Amer­ ican Quarterly, 70 (2018), S. 123-137; »Black Liberation and the Abolition of the Prison Industrial Complex. An Interview with Rachel Herzing«, in: Abolitionist Newspaper, 27 (2017); Rachel Kushner, »Is Prison Necessary? Ruth Wilson Gilmore Might Change Your Mind«, in: The New York Times, 17. 4. 2019, 〈https:// www.nytimes.com/2019/04/17/magazine/prison-abolition-ruth-wilson-gilmore. html〉; Marquita K. Harris, »#WarriorWednesdays. Mariame Kaba Is Our Very Own Modern Day Abolitionist«, in: Essence, 24. 10. 2020, 〈https://www.essence. com/holidays/black-history-month/mariame-kaba-warrior-wednesday〉; Rachel Herzing, »Big Dreams and Bold Steps Toward a Police-Free Future«, in: Truth­ out, 16. 9. 2015, 〈https://truthout.org/articles/big-dreams-and-bold-steps-towarda-police-free-future〉; Beth E. Richie, »How Anti-Violence Activism Taught Me to Become a Prison Abolitionist«, in: The Feminist Wire, Januar 2014, 〈https:// thefeministwire.com/2014/01/how-anti-violence-activism-taught-me-to-beco me-a-prison-abolitionist〉; Herzing, »Address to the Critical Prison Studies Caucus of the American Studies Association«; »Beyond Prisons. Hope Is a Discipline Feat. Mariame Kaba«, 〈https://www.beyond-prisons.com/listen〉; »Beyond Prisons. Political Education Feat. Rachel Herzing«, 〈https://www.beyond-prisons.com/listen〉; »Justice in America: Mariame Kaba and Prison Abolition«, 〈https://theappeal.org/ justice-in-america-episode-20-mariame-kaba-and-prison-abolition〉; Chris ­Hayes, Mariame Kaba, »But Why Is This Happening?, 〈https://www.nbcnews.com/ think/opinion/thinkingabout-how-abolish-prisons-mariame-kaba-podcast-tran

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darauf aufmerksam gemacht, dass der Staat in Polizei und Gefängnisse investiert hat anstatt in Wohnraum, Gesundheitsversorgung und Schulen für arme, arbeitende, schwarze und braune communities. Ihre Kampagnen legen einen Reformansatz vor, der mehr auf Hoffnung als Zynismus beruht: Anstatt der Polizei und dem Gefängnisstaat mehr Mittel zur Verfügung zu stellen, fordern sie, dass die Mittel beiden Institutionen entzogen und an anderer Stelle eingesetzt werden, als Teil einer längerfristigen Strategie zur Transformation von Staat und Gesellschaft. Dass abolitionistische Organisator:innen mutige Kampagnen auf lokaler, Landes- und Bundesebene betreiben, sollte uns dazu anhalten, genauer hinzusehen. Die Tatsache, dass diese Kampagnen realen Einfluss entwickeln, verlangt es von uns.7 Ich hatte mehrere Jahre an Herzings Bemerkungen und der Wende hin zur Abolition zu knabbern. Ich wusste, dass Herzing recht hatte, wenn sie dafür plädierte, dass die Art von Polizeireform, die die wissenschaftliche Debatte dominierte, die Polizeigewalt nicht eingedämmt hatte. Aber das einzugestehen, fühlte sich nach Scheitern an. Und es lag jenseits meiner Imaginationskraft, mir eine script-ncna992721〉; Critical Resistance, 〈http://criticalresistance.org〉; Project NIA, 〈http://www.project-nia.org〉; Survived & Punished, 〈https://survivedand punished.org〉; Black and Pink, 〈https://www.blackandpink.org〉; INCITE! Women, Gender Non-Conforming, and Trans People of Color Against Violence, 〈https:// incite-national.org〉; Assata’s Daughters, 〈http://www.assatasdaughters.org〉; California Immigrant Youth Justice Alliance, 〈https://perma.cc/2UFQ-ZF9C〉; Audre Lorde Project, 〈https://alp.org〉; Southerners on New Ground, 〈http://souther nersonnewground.org〉; Sylvia Rivera Law Project, 〈https://srlp.org〉; BYP100, 〈https://byp100.org〉; No New Sf Jail Coalition, 〈https://nonewsfjail.org〉; L.A. No More Jails, 〈https://perma.cc/7A22-JYB4〉; No New Youth Jail in Seattle, 〈https:// nonewyouthjail.com〉; Mijente, 〈https://mijente.net〉; Detention Watch Network, 〈https://www.detentionwatchnetwork.org〉, letzter Zugriff 12. 6. 2021. Einige dieser Organisationen sind alteingesessene Abolitionsgruppierungen, aber der Großteil besteht aus jüngeren Organisationen oder solchen, die erst vor kurzem einen abolitionistischen Kurs eingeschlagen haben. Als weitere Organisationen und In­ stitutionen, die an der Abolition arbeiten oder inhaftierte Menschen unterstützen, sind zu nennen: All of Us or None, Moms United Against Violence and Incar­ ceration, California Coalition for Women Prisoners, Northwest Detention Center Resistance, Sisters Inside, Abolition Law Center, We Charge Genocide, Abolition: A Journal of Insurgent Politics und Californians United for a Responsible Budget. 7 Amna A. Akbar, Sameer Ashar, Jocelyn Simonson, »Movement Law«, in: Stanford Law Review, 72 (2021) S. 821-885.

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Welt vorzustellen, die nicht auf Gefängnisse und Polizei angewiesen ist, oder zu glauben, wir könnten den anhaltenden, groß angelegten politischen Kampf aufbringen, der nötig wäre, um solch eine Welt zu realisieren. Doch die Hinwendung zu einer Transformation von Staat und Gesellschaft statt zu einer Polizeireform erlaubt ein ehrlicheres Urteil als liberale Rechtskategorien darüber, was nötig ist, um die Massenkriminalisierung und das Scheitern von Reformen zu bekämpfen. Das Ausmaß, die Macht und die Gewalt von Polizei und Gefängnissen – deren Wurzeln in die Geschichte der Versklavung und Eroberung zurückreichen – sind zu tragenden Elementen unserer politischen Ökonomie geworden. Um Polizeigewalt abzuschaffen, müssen wir einen radikalen und weitläufigen Weg beschreiten, der sich auf die Transformation der Strukturen unserer Welt und unserer Beziehungen zueinander konzentriert. Die Überwindung unserer Abhängigkeit von Gefängnissen und Polizei erfordert es, einen radikalen und weitläufigen Weg der Abolition zu entwerfen. Ich bin nicht die Einzige unter den Wissenschaftler:innen, die mit Polizeigewalt abrechnet.8 Wie ich in Teil I darlege, haben   8 Das akademische Interesse an Tötungen durch die Polizei und der Massenkriminalisierung ist seit Ferguson stark gewachsen. Siehe dazu Franklin E. Zimring, When Police Kill, Cambridge 2017. Neuere Arbeiten dazu sind Rachel Elise Barkow, Prisoners of Politics. Breaking The Cycle of Mass Incarceration, Cambridge 2019; Paul Butler, Chokehold. Policing Black Men, New York 2017; James Forman jr., Locking Up Our Own. Crime And Punishment in Black America, New York 2017; Issa Kohler-Hausmann, Misdemeanorland. Criminal Courts and Social Control in an Age of Broken Windows Policing, Princeton 2018; Alexandra Natapoff, Punishment Without Crime. How Our Massive Misdemeanor System Traps the Innocent and Makes America More Unequal, New York 2018; John F. Pfaff, Locked In. The True Causes of Mass Incarceration and How to Achieve Real Reform, New York 2017; Sharon Dolovich, Alexandra Natapoff, The New Criminal Justice Thinking, New York 2017; Benjamin Levin, »The Consensus Myth in Criminal Justice Reform«, in: Michigan Law Review, 117 (2018), S. 259-318 (der »Konsens« bezüglich der Strafrechtsreform verunklare ein differenziertes Verständnis um den Ursprung des Problems mit der Verkürzung auf die Frage: Masseninhaftierung vs. Überinhaftierung). Manche Forscher:innen bevorzugen die Vorsilbe »Hyper« gegenüber jener der Masseninhaftierung, um die Betroffenheit schwarzer, brauner und armer Menschen durch inhaftierende Kontrolle herauszustellen. Siehe dazu Donna Coker, Ahjané D. Macquoid, »Why Opposing Hyper-Incarceration Should Be Central to the Work of the Anti-Domestic Violence Movement«, in: University of Miami Race & Social Justice Law Review, 5 (2015), S. 585-618; Frank

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Rechtswissenschaftler:innen seit Ferguson und Baltimore einen zunehmend strukturellen Zugang zum Thema der Polizeigewalt entwickelt. Diese Arbeit erkennt an, dass sie routiniert und legal vollzogen wird, viele Formen annimmt und sich gegen Menschen aufgrund ihrer Rassifizierung und Klassenzuschreibung richtet; sogar dass Polizeigewalt unsere politische, wirtschaftliche und soziale Ordnung widerspiegelt und reproduziert.9 Diese Rahmung erweitert den Begriff der Polizeigewalt: Unter dem Deckmantel des Rechts befördert die Polizei Ungleichheit durch die Art und Weise, wie sie Gewalt und Überwachung, Tod und Schulden verteilt. Grundsätzlich lösen diese Perspektiven das Recht als verlässliches Unterscheidungswerkzeug zwischen angemessener und unangemessener Polizeigewalt ab. Sie verweisen auf die Notwendigkeit neuer Horizonte, an denen Erfolg gemessen werden kann. In Teil II untersuche ich, wie die Reformwissenschaft trotz der strukturellen Wende des Begriffs der Polizeigewalt weitgehend darauf festgelegt bleibt, in die Polizei zu investieren, um ihre soziale Funktion neu zu kalibrieren und zu relegitimieren.10 Die FestleRudy Cooper, »Hyper-Incarceration as a Multidimensional Attack. Replying to Angela Harris Through the Wire«, in: Washington University Journal of Law & Policy, 37 (2011), S. 67-88. Zu Umrissen der Krise heute siehe Joshua Kleinfeld, »Manifesto of Democratic Criminal Justice«, in: Northwestern University Law Review, 111 (2017), S. 1367-1412 (»Dass wir es hier mit einer Krise zu tun haben, ist ­alles außer Konsens«). Die Krise ist auch innerhalb der Polizei spürbar. Siehe dazu Dan Marcou, »This Is How to Respond to the Current Crisis in Policing«, in: Police1, 〈https://www.policeone.com/ambush/articles/202917006-Thisis-howto-respond-to-the-current-crisis-in-policing〉, letzter Zugriff 12. 06. 2021.   9 Herzing, »Address to the Critical Prison Studies Caucus«. Zu den Themen Gender, Sexualität und Intersektionalität liefern Joey Moguls und Andrea J. Ritchies Arbeiten einen wichtigen Beitrag; siehe Andrea J. Ritchie, Invisible No More: P ­ olice Violence Against Black Women and Women of Color, Boston 2017; Joey L. Mogul u. a., Queer (In)Justice: The Criminalization Of LGBT People In The United States, Boston 2011; siehe auch Michelle S. Jacobs, »The Violent State: Black Women’s Invisible Struggle Against Police Violence«, in: William & Mary Journal of Women and the Law, 24 (2017), S. 39-100; Josephine Ross, »What the #MeToo Campaign Teaches About Stop and Frisk«, in: Idaho Law Review, 54 (2018), S. 543-562. 10 Bemerkenswerterweise haben der frischgebackene Rechtswissenschaftler V. Noah Gimbel und Craig Muhammad, der über 36 Jahre hinter Gittern saß, den ersten Volltext-Artikel zur Frage der Abschaffung der Polizei verfasst. Siehe V. Noah Gimbel, Craig Muhammad, »Are Police Obsolete? Breaking Cycles of Violence Through Abolition Democracy«, in: Cardozo Law Review, 40 (2019), S. 1453-1542.

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gung darauf, die Polizei zu reparieren, beschränkt die akademische Debatte auf die Frage, wie die Polizeiarbeit zu verwalten ist. Sie verschleiert grundlegende Fragen über die angemessene Rolle und das Ausmaß des Polizierens in einer hierarchischen Struktur, in der es keine soziale Absicherung gibt, und über die zentrale Stellung einer Institution, die sich Gewalt bedient, für den Staat und die politische Ökonomie. Die Organisationsarbeit, die die Abschaffung der Polizei in den Mittelpunkt des öffentlichen Diskurses rückte, liefert jenen Wissenschaftler:innen Rahmenbedingungen, die ein transformatorisches Projekt erforschen, das sich aus der strukturellen Kritik an der Polizei ergibt.11 In Teil III stütze ich mich auf die zeitgenössische Organisationsarbeit, um die Kritik an der Polizei zu vertiefen und einen abolitionistischen Horizont zu entwickeln, vor dem Reformen neu vorgestellt und auf politische, wirtschaftliche und soziale Transformationen ausgerichtet werden, die notwendig sind, um der beständigen Realität der Polizeigewalt zu begegnen.12 Ich rekonstruiere zentrale Leitsätze der abolitionistischen Theorie und Kampagnen: dass die Polizei eine regressive und gewalttätige Kraft in einem historischen Kampf um die Verteilung von Land, Arbeit und Ressourcen ist und dass ihre Macht historische, materielle und ideologische Grundlagen hat. Ich untersuche abolitionistische 11 Siehe dazu Amna A. Akbar, »Toward a Radical Imagination of Law«, in: New York University Law Review, 93 (2018), S. 405-479 (hier wird das politische Programm »The Vision For Black Lives« des Movement for Black Lives mit den Berichten des Justizministeriums zu Baltimore und Ferguson bezüglich der Unterschiede beim Zugang zum Thema Polizeigewalt sowie bezüglich der Frage, wie ihr zu begegnen sei, verglichen); K. Sabeel Rahman, Jocelyn Simonson, »The Institutional Design of Community Control«, in: California Law Review, 108 (2020), S. 679744, hier S. 693-699 (hier wird gezeigt, wie sich die »weitreichende Diagnose der Beschleuniger:innen rassifizierter Ungleichheit« des Movement For Black Lives in einem umfassenden Forderungskatalog des politischen Programms »The Vi­ sion For Black Lives« niederschlug); siehe auch Jocelyn Simonson, »Police Reform Through a Power Lens«, in: Yale Law Journal, 130 (2021), S. 778-860 (hier wird die Frage der Polizeireform aus Sicht der Bewegungen betrachtet, der es darum geht, ob eine Reform Machtverhältnisse verschiebt). 12 Siehe dazu das Prison Industry Divestment Movement, 〈https://prisondivest. com/active-campaigns〉; Freedom to Thrive, 〈https://freedomtothrive.org/ourwork〉; Freedom Cities, 〈http://freedomcities.org/platform〉, letzter Zugriff 12. 6. 2021.

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Kampagnen und Versuche, der Polizei Mittel zu kürzen, sie abzubauen und zu delegitimieren. Der »Horizont«, auf den dieses Programm unsere Hoffnung ausrichtet, ist eine Gesellschaft, die nicht von Gefängnissen, der Polizei oder anderen Formen der strafrechtlichen Kontrolle abhängig ist. Die Metapher des Horizonts gründet die Bestrebungen von heute auf unserer Vision einer lebenswerten Welt von morgen.13 Die Reform ist eine Transformationsstrategie der Abolition. Anstatt die Polizei durch verbesserte Regularien und mehr Ressourcen zu optimieren, zielt eine Reform, die vor einem abolitionistischen Horizont aufgestellt ist, darauf ab, die Rolle der Polizei zu hinterfragen und ihren Einflussbereich zu verkleinern, und versucht schließlich, unsere politische, wirtschaftliche und soziale Ordnung zu transformieren, um eine breitere soziale Absicherung bei der Versorgung menschlicher Bedürfnisse zu erreichen. Abolitionistische Aktivist:innen wissen jedoch, dass Forderungen an den Staat nicht ausreichen, um den Gefängnisstaat wieder abzubauen. Während sie also Kampagnen betreiben, um der Polizei die Mittel zu kürzen, sie abzubauen und zu delegitimieren, unternehmen sie Experimente bezüglich Rechenschaftspflicht und kollektiver Sorge. In Teil IV rekonstruiere ich die Implikationen eines abolitionistischen Ansatzes für das Nachdenken über Reformen und zeige neue Wege für die Rechtswissenschaft auf. Abolition verortet das Gefängnis und die Polizei innerhalb einer Geschichte rassifizierter Gewalt und Ausbeutung, trägt der zentralen Stellung von Gefängnissen und Polizei in unserer politischen Ökonomie unmittelbar Rechnung und fordert, dass wir uns darauf konzentrieren, den Maßstab des Gefängnis- und Polizeiapparats zu verkleinern, während wir Alternativen aufbauen.14 Während andere Disziplinen 13 Zur abolitionistischen Verwendung der Horizont-Metapher siehe Dan Berger u. a., »What Abolitionists Do«, in: Jacobin, 24. 8. 2017, 〈https://www.jacobin mag.com/2017/08/prison-abolition-reform-mass-incarceration〉, letzter Zugriff 12. 6. 2021; John Duda, »Towards the Horizon of Abolition. A Conversation with Mariame Kaba«, in: The Next System Project, 9. 11. 2017, 〈https://thenextsystem. org/learn/stories/towards-horizon-abolition-conversation-mariame-kaba〉, letzter Zugriff 25. 7. 2021. 14 Wie Fred Moten und Stefano Harney »das Objekt der Abolition« umreißen: »Nicht unbedingt die Abschaffung der Gefängnisse, sondern die Abschaffung einer Gesellschaft, die Gefängnisse haben könnte, die Sklaverei haben könnte, die den Lohn haben könnte, und darum also nicht Abschaffung als Beseitigung

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sich darauf konzentrieren, Völker, Literaturen und Geschichten zu erfassen, basieren die Reformvorschläge und manchmal auch -umsetzungen der Rechtswissenschaftler:innen auf einem Verständnis des Rechts und von dessen Problemstellungen. Sobald wir die von uns untersuchte strukturelle und historische Wurzel der Probleme besser verstehen – wie es sich bei der Untersuchung von Polizeiarbeit langsam herausstellt –, können wir uns nicht mehr auf alten Reformansätzen ausruhen.15 Abolition stellt Reformansätze auf zwei grundlegende Weisen in Frage. Zum einen befördert sie Reformen als Strategie oder Taktik zur Transformation und nicht als Selbstzweck. Zum anderen richtet sie den Blick auf Staat und Gesellschaft als Objekt der Transformation und weg von der Polizei. Im Gegenzug verweist sie auf die Notwendigkeit einer Reihe von Taktiken, Experimenten und Projekten, die für den Abbau von Gefängnissen und Polizei nötig sind, und letztlich auf die Notwendigkeit, den Staat neu zu denken. Reformen allein werden nicht reichen. Die Abolition fordert, dass wir uns langsam mit der Umwälzung und Delegitimierung jener vorherrschenden politischen, ökonomischen und sozialen Beziehungen anfreunden, die brutale Ungleichheit aufrechterhalten. Sie lässt uns an Graswurzelbewegungen anknüpfen, die notwendige Quellen politischer Macht für die Abschaffung von Gefängnissen und Polizei sind.16 Abolitionistische Forderungen adressieren die grundlegenden Krisen unserer Zeit, von allem, sondern Abschaffung als die Gründung einer neuen Gesellschaft.« Stefano Harney, Fred Moten, Die Undercommons. Flüchtige Planung und schwarzes Studium, hg. von Isabell Lorey, Wien 2016, S. 47. 15 Siehe Sameer M. Ashar, »Deep Critique and Democratic Lawyering in Clinical Practice«, in: California Law Review, 104 (2016), S. 201-232. Herzing meint häufig, Reform sei bloß eine Veränderung. Herzing, »Big Dreams and Bold Steps Toward a Police-Free Future«. 16 Wie ich an anderer Stelle geschrieben habe, ist die gemeinsame Ideenfindung mit Massenbewegungen sowie die Organisation von unten wesentlich für sinnvolle Projekte gesellschaftlichen Wandels. Siehe Akbar u. a., »Movement Law«; dies., »Toward a Radical Imagination of Law«; siehe auch Lani Guinier, Gerald Torres, »Changing the Wind. Notes Toward a Demosprudence of Law and Social Movements«, in: Yale Law Journal, 123 (2014), S. 2740-2805 (»Demosprudenz konzentriert sich auf die Art und Weise, wie andauernde kollektive Aktionen von Zivilisten die Praxis der Demokratie dauerhaft verändern können, indem sie die Menschen, die die Gesetze machen, und den Rahmen, in dem die Gesetze gemacht werden, verändern.«)

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fordern unsere isolierte Expertise als Rechtswissenschaftler:innen heraus und halten uns dazu an, unsere Treue dem Status quo gegenüber in Frage zu stellen. Warum haben Polizeireformen die Polizeigewalt jahrzehntelang nicht eindämmen können? Liberale Reformansätze haben sich darauf konzentriert, die Polizei immer neu auszurichten und zu relegitimieren, ohne die Macht, die Ressourcen und die Legitimität der Polizei als Kern des Problems zu betrachten. Indem wir uns mit abolitionistischer Kritik und Organisationsarbeit auseinandersetzen, können wir unser Verständnis der Polizeiarbeit vertiefen und Reformstrategien mit entwickeln, die das Potential zu politischer, ökonomischer und sozialer Transformation haben. Diese Neuausrichtung kann Wissenschaftler:innen, die auf struktureller Ebene Kritik üben, den Raum zur Verfügung stellen, über sinnvolle Reformprojekte nachzudenken; nicht jene, die die Polizei relegitimieren, sondern solche, die die Strukturen und Machtverhältnisse transformieren, die sich durch das Fundament des ganzen Landes ziehen. I. Ein struktureller Blick auf Polizeigewalt

In der Rechtswissenschaft wird die zentrale Bedeutung von Gewalt für die Polizeiarbeit in den USA von Grund auf neu bewertet.17 Die Wissenschaft stößt abermals darauf, wie die Polizei mit gesetzlicher Erlaubnis rassifiziertes und klassifiziertes Leid und Tod durch Schusswaffen und physische Gewalt, Strafzettel und Verhaftungen, Segregation und Gentrifizierung, Polizeigewerkschaften und Straffreiheit erzeugt und konstituiert.18 Diese Wende lenkt 17 Zimring, When Police Kill, S. 8 f. (hier wird das Fehlen einer rechtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Tötungen durch die Polizei vor 2014 und die wachsende Aufmerksamkeit seitdem dokumentiert). 18 Siehe allgemein dazu Robert M. Cover, »Violence and the Word«, in: The Yale Law Journal, 95 (1986), S. 1601-1629 (hier wird das Fundament des Rechtssystems in einem »Gebiet von Schmerz und Tod verortet«). Ich möchte nicht unterstellen, dass die Kritik der Polizei ein Novum in der Rechtswissenschaft darstellt, lediglich dass sich die Kritik zugespitzt hat. Die Rechtswissenschaft blickt auf eine mindestens zwei Jahrzehnte währende Tradition stabiler Polizeikritik zurück. Zu Zero Tolerance und Broken Windows Policing siehe Jeffrey Fagan, Garth Davies,

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»Street Stops and Broken Windows: Terry, Race, and Disorder in New York City«, in: Fordham Urban Law Journal, 28 (2000), S. 457-504; Bernard E. Harcourt, »Reflecting on the Subject: A Critique of the Social Influence Conception of Deterrence, the Broken Windows Theory, and Order-Maintenance Polic­ing New York Style«, in: Michigan Law Review, 97 (1998), S. 291-389; Dorothy E. Roberts, Foreword: »Race, Vagueness, and the Social Meaning of Order-Maintenance Policing«, in: The Journal of Criminal Law and Criminology, 89 (1999), S. 775-836. Zu Armut und Klasse siehe Jonathan Simon, Governing Through Crime, Oxford, New York 2007; William J. Stuntz, »The Political Constitution of Criminal Justice«, in: Harvard Law Review, 119 (2006), S. 781-851; ders., »Race, Class, and Drugs«, in: Columbia Law Review, 98 (1998), S. 1795-1842. Zu race siehe Devon W. Carbado, »(E)Racing the Fourth Amendment«, in: Michigan Law Review, 100 (2002), S. 946-1044; Richard Delgado, »Rodrigo’s Eighth Chronicle. Black Crime, White Fears – On the Social Construction of Threat«, in: Virginia Law Review, 80 (1994), S. 503-548; Paul Butler, »(Color) Blind Faith. The Tragedy of Race, Crime, and the Law«, in: Harvard Law Review, 111 (1998), S. 1270-1288. Zu Kollateralschäden siehe Dorothy E. Roberts, »Criminal Justice and Black Fam­ilies. The Collateral Damage of Over-Enforcement«, in: UC Davis Law Review, 34 (2001), S. 1005-1028; dies., »The Social and Moral Cost of Mass Incarceration in African American Communities«, in: Stanford Law Review, 56 (2004), S. 12711306. Zu Ermessensspielräumen siehe Austin Sarat u. a., Law as Punishment/Law as Regulation, Stanford 2011; Angela Y. Davis, »Prosecution and Race: The Power and Privilege of Discretion«, in: Fordham Law Review, 67 (1998), S. 13-68. Zum vergeschlechtlichten und sexualisierten Charakter des Polizierens siehe Mogul u. a., Queer (In)Justice; Priscilla A. Ocen, »The New Racially Restrictive Covenant. Race, Welfare, and the Policing of Black Women in Subsidized Housing«, in: UCLA Law Review, 59 (2012), S. 1540-1583; Spade, Normal Life. Zu Arbeiten, die beleuchten, wie Gewerkschaftsarbeit verhindert, dass Schuldige zur Verantwortung gezogen werden, siehe Catherine L. Fisk, L. Song Richardson, »Police Unions«, in: George Washington Law Review, 85 (2017), S. 712-799; Benjamin Levin, »What’s Wrong with Police Unions?«, in: Columbia Law Review, 120 (2020), S. 1333-1402; Stephen Rushin, »Police Union Contracts«, in: Duke Law Journal, 66 (2017), S. 1191-1266. Zu Arbeiten, die gegen Fiktionen argumentieren, die unseren Blick für die soziale Funktion der Polizei trüben – etwa dass es eine klare Trennung zwischen öffentlichem und privatem Polizeren gibt – siehe Ingrid V. Eagly, Joanna C. Schwartz, »Lexipol: The Privatization of Police Policymaking« in: Texas Law Review, 96 (2018), S. 891-974; Seth W. Stoughton, »The Blurred Blue Line: Reform in an Era of Public & Private Policing«, in: American Journal of Criminal Law, 44 (2017), S. 117-156. Und zu älterer Literatur zur Masseninhaftierung siehe Michelle Alexander, The New Jim Crow, München 2016; Ian F. Haney López, »Post-Racial Racism: Racial Stratification and Mass Incarceration in the Age of Obama«, in: California Law Review, 98 (2010), S. 1023-1074.

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die Aufmerksamkeit auf die basale Verwobenheit von rechtlicher Sanktionierung, Polizeigewalt und Enteignung.19 Sie legt nahe, dass das gängige Bild der Polizei in Recht und Rechtswissenschaft die Erfahrungen von communities, die unverhältnismäßig häufig Polizeigewalt ausgesetzt sind, nicht enthält.20 Hier möchte ich kurz die strukturelle Kritik an der Polizei darlegen, wie sie in der Rechtswissenschaft aufkommt. Polizeigewalt ist (1) durch das Recht autorisiert; (2) nimmt verschiedene, miteinander verbundene Formen an; (3) ist Routine und an der Tagesordnung; (4) wird entlang der Linien von race, Klasse und Geschlecht eingesetzt; und (5) konstituiert und produziert unsere politische, wirtschaftliche und soziale Ordnung.21 Auch wenn dies keinesfalls 19 Die Literatur zu geringfügigen Vergehen zeigt diese Zusammenhänge auf. Siehe dazu Alexandra Natapoff, »Aggregation and Urban Misdemeanors«, in: Fordham Urban Law Journal, 40 (2013), S. 1043-1090; Alexandra Natapoff, »Misdemeanors«, in: Southern California Law Review, 85 (2012), S. 1313-1376; Issa Kohler-Hausmann, »Managerial Justice and Mass Misdemeanors«, in: Stanford Law Review, 66 (2014), S. 611-694; Jenny Roberts, »Why Misdemeanors Matter. Defining Effective Advocacy in the Lower Criminal Courts«, in: UC Davis Law Review, 45 (2011), S. 277-372. 20 Monica Bells Arbeit zeigt beispielsweise die Fehleinschätzungen der Rechtswissenschaften bezüglich der Polizei und Polizeigewalt auf, wenn sie den Erfahrungen armer, schwarzer communities und insbesondere schwarzer Frauen gegenübergestellt werden. Siehe Monica Bell, »Hidden Laws of the Time of Ferguson«, in: Harvard Law Review Forum, 132 (2018), S. 1-23; dies., »Police Reform and the Dismantling of Legal Estrangement«, in: Yale Law Journal, 126 (2017), S. 20542151; dies., »Situational Trust. How Disadvantaged Mothers Reconceive Legal Cynicism«, in: Law & Society Review, 50 (2016), S. 314-347. 21 Ich stehe mit dieser Beobachtung nicht allein. Siehe etwa Zimring, When Police Kill, S. 14 (Polizeigewalt wird zunehmend als »institutionell« statt als »individuell« begriffen oder als »sich wiederholende Episoden«, die »repräsentativ« sind, statt als »eine Reihe von Einzelfällen«). Es ist wichtig zu erwähnen, dass sich ein Großteil meines Ansatzes in den Berichten des Justizministeriums zu Baltimore und Ferguson widerspiegelt. Siehe U.S. Department Of Justice, Civil Rights Division, »Investigation Of The Baltimore City Police Department«, S. 3 ff., 〈https://www.justice.gov/crt/file/883296/download〉; United States Department of Justice, Civil Rights Division, »Investigation Of The Ferguson Police Department« S. 1 ff., 〈https://www.justice.gov/sites/default/files/opa/press-releases/ attachments/2015/03/04/ferguson_police_department_report.pdf〉; siehe auch United States Department of Justice, Civil Rights Division, United States Attorney’s Office Northern District of Illinois, Investigation Of The Chicago Police Department, 〈https://www.justice.gov/opa/file/925846/download〉, letzter Zugriff 21. 6. 2021. Rechtswissenschaftler:innen vertreten die These, dass ein Großteil

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eine erschöpfende Darstellung des Feldes liefert, so fasst es die Arbeit von Wissenschaftler:innen zusammen, die eine grundlegende Kritik an Polizei und Polizeigewalt formulieren. (1) Durch das Recht autorisiert. Die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zum vierten Verfassungszusatz erleichtert die Polizeigewalt eher, als dass sie sie einschränkt.22 Richter:innen erlauben der Polizeigewalt verfassungsmäßig verankert ist, weshalb das Recht ein wesentlicher Teil des Problems ist anstatt dessen Eindämmung. Siehe dazu Allegra M. McLeod, »Police Violence, Constitutional Complicity, and Another Vantage«, in: Supreme Court Review (2016) S. 157-196. Das Justizministerium stellt das Verfassungsrecht als Bollwerk gegen die Polizeigewalt dar. 22  Siehe Devon W. Carbado, »Blue-on-Black Violence. A Provisional Model of Some of the Causes«, in: Georgetown Law Journal, 104 (2016), S. 1479-1530 (hier wird gezeigt, dass die Auslegung des vierten Verfassungszusatzes durch den Obersten Gerichtshof die Polizei »eher bemächtigt als einhegt«); Devon W. Carbado, »From Stop and Frisk to Shoot and Kill. Terry v. Ohio’s Pathway to Police Violence«, in: UCLA Law Review, 64 (2017), S. 1508-1552 (»Das Terry Regime und die Rechtsprechung bezüglich des vierten Verfassungszusatzes ermöglichen es Polizeibeamten eher, Afroamerikaner:innen gezielt innerhalb der Grenzen des Rechts zu polizieren«; Devon W. Carbado, »From Stopping Black People to Killing Black People. The Fourth Amendment Pathways to Police Violence«, in: California Law Review, 105 (2017), S. 125-164 (hier wird dokumentiert, wie Gerichte es legitimieren, auf der Basis von race zu polizieren, indem sie entweder polizeilichen Handlungen den Status der Durchsuchung oder der Festnahme aberkennen, so dass der vierte Verfassungszusatz nicht berührt wird, oder indem sie Eingriffe als angemessen und damit als gerechtfertigt erklären – so wird Polizeigewalt von den Gerichten befördert); Rachel A. Harmon, »Why Arrest?«, in: Michigan Law Review, 115 (2016), S. 307-364 (hier wird die Rechtsprechung um den vierten Verfassungszusatz beschrieben als »davon ausgehend, anstatt zur Debatte stellend, dass die Regierung Tatverdächtige verhaften muss, um das Verbrechen zu kontrollieren«); Devon W. Carbado, L. Song Richardson, »The Black Police. Policing Our Own«, in: Harvard Law Review, 131 (2018), S. 1979-2026 (der vierte Verfassungszusatz »fungiert mehr als Ermächtigung der Polizei denn als tatsächliche konstitutionelle Beschränkung«); siehe auch Paul Butler, »The System Is Working the Way It Is Supposed To. The Limits of Criminal Jus­ tice Reform«, in: Georgetown Law Journal, 104 (2016), S. 1419-1478 (»Es liegt im Möglichkeitsbereich der Polizei, ihre Befugnisse gezielt gegen afroamerikanische Anwohner:innen einzusetzen und gleichzeitig im Rahmen des Gesetzes zu agieren«); Barry Friedman, Maria Ponomarenko, »Democratic Policing«, in: New York University Law Review, 90 (2015), S. 1827-1907 (hier wird diskutiert, dass gerichtliche Kontrolle die Polizei nicht tatsächlich reguliert, vor allem seit die Polizei »zunehmend proaktiv und regulativ« agiert); McLeod, »Police Violence, Constitutional Complicity, and Another Vantage«, S. 161-166 (»Die verfassungsrechtliche Strafrechtslehre des Obersten Gerichtshofs gestattet einen Großteil der

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der Polizei im Grunde, »alles zu tun, was sie will«,23 unter anderem Belästigung, Misshandlung, Tötung, SWAT-Razzien,24 Leibesvisitationen und den Einsatz chemischer Waffen.25 In gewissem Sinne verlaufen die Richtlinien der Polizeiarbeit nicht so sehr »top-down« (wobei das Recht oder die Gerichte die Polizei regulieren), sondern »bottom-up« (wobei die Polizeiarbeit selbst das Recht bestimmt).26 Aber der Vierte Verfassungszusatz gestattet nicht einfach Polizeigewalt; er verstärkt die rassifizierten »Risiken, Ziel von Gewalt zu werden«.27 Die Tötungen von Michael Brown, Freddie Grey, Eric Garner, Laquan McDonald, Tamir Rice, Rekia Boyd, Tanisha Anderson, polizeilichen Aktivitäten, die zum Tod von Philando Castille, Sandra Bland und Eric Garner führten«); Alice Ristroph, »The Constitution of Police Violence«, in: UCLA Law Review, 64 (2017), S. 1182-1245 (»Das Recht der Polizeigewalt ist konstitutiv und permissiv; es ist außerdem distributiv […]. Diese Rechtsbereiche verteilen oder verschieben die Risiken, Ziel von Gewalt zu werden«); Dorothy E. Roberts, »Constructing a Criminal Justice System Free of Racial Bias: An Abolitionist Framework«, in: Columbia Human Rights Law Review, 39 (2007), S. 261-286 (hier wird beschrieben, wie die Rechtsdoktrin »einzelne Akte von [polizeilichem] Missbrauch als Einzelfälle und akzeptabel erscheinen lässt statt als Teil eines systematischen Musters behördlicher Gewalt«). 23 Barry Friedman, Unwarranted. Policing Without Permission, New York 2017, S. 73 f., S. 86 f. (hier wird gezeigt, dass der Oberste Gerichtshof eher Regeln darüber aufstellt, was die Polizei darf, der Polizei aber ungern sagt, was sie nicht tun darf ). Zu einer sorgfältigen Rekonstruktion des Aufkommens der »polizeilichen Expertise«, auf die sich Gerichte berufen können, siehe Anna Lvovsky, »The Judicial Presumption of Police Expertise«, in: Harvard Law Review, 130 (2017), S. 1995-2081. 24  SWAT steht für Special Weapons and Tactics. SWAT-Teams sind paramilitärische Polizeieinheiten, vergleichbar mit dem deutschen Sondereinsatzkommando. [Anm. d. Hg.] 25 Siehe dazu Kara Dansky, »Another Day, Another 124 Violent Swat Raids«, 〈https://www.aclu.org/blog/smart-justice/mass-incarceration/another-day-ano ther-124-violent-swat-raids〉, letzter Zugriff 26. 7. 2021. 26 Friedman, Unwarranted, S. 64 (etliche Studien der 1950er und 1960er Jahre zeigten, dass, »entgegen dem verbreiteten ›top down‹-Bild bezüglich professioneller Polizeiarbeit, die tatsächlichen Regeln ›bottom-up‹ von den Streifenpolizist:innen gemacht wurden«); siehe auch Inés Valdez u. a., »Missing in Action: Practice, Paralegality, and the Nature of Immigration Enforcement«, in: Citizenship Stud­ ies, 21 (2017), S. 547-569 (hier wird eine horizontale Dynamik zwischen Recht und Strafvollzug identifiziert, entgegen der gängigen Ansicht, das Recht stehe in einem hierarchischen, vertikalen Verhältnis zum Strafvollzug). 27 Ristroph, »The Constitution of Police Violence«, S. 1184 ff.

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George Floyd, Breonna Taylor und Tony McDade durch die Polizei, die durch Aufstände und Proteste weitläufig bekannt wurden, führten zu einer höheren Aufmerksamkeit dafür, wie die Polizei tagtäglich ungeahndet Gewalt anwendet. Eine verknüpfte kommunale, bundesstaatliche und föderale Rechtsarchitektur ermöglicht routinemäßige Polizeigewalt, indem sie der Polizei einen Ermessensspielraum bei der Anwendung von Gewalt einräumt, von Verhaftungen über Misshandlung bis hin zur Tötung, und das in einer Vielzahl von Situationen.28 Dieser Ermessensspielraum trifft überproportional arme, schwarze und braune Menschen.29 28 Siehe dazu Rachel Moran, »Ending the Internal Affairs Farce«, in: Buffalo Law Review, 64 (2016), S. 837-906 (hier wird der Bericht der Innenrevision kritisiert als »unverantwortlich« und als »lächerlicher Versuch, den Vorwürfen des Fehlverhaltens zu begegnen«); Rachel Moran, »In Police We Trust«, in: Villanova Law Review, 62 (2017), S. 953-1004 (hier werden die unterschiedlichen Weisen beschrieben, in denen der Polizei das Urteil und Befugnisse überlassen werden). 29 Carbado, »From Stopping Black People to Killing Black People«, S. 131 (»Die Doktrin des vierten Verfassungszusatzes erlaubt oder befördert ausdrücklich genau die soziale Praxis, die sie eigentlich verhindern sollte: Racial Profiling.«) Rachel Harmons Aufruf, die Wissenschaft zur Polizeiarbeit über die Verfassung hinaus zu erweitern, um besser zu verstehen, »wie Recht und öffentliche Richtlinien die Polizei am besten regulieren können«, beinhaltete ein breiteres Modell zum Verständnis von polizeilichem Fehlverhalten. Rachel A. Harmon, »The Problem of Policing«, in: Michigan Law Review, 110 (2012), S. 761-818 (hier wird die These vertreten, dass sie als Mittel zur Einschätzung der »Schadenseffizienz« von Polizeipraktiken verwendet werden können). Ein großer Teil der Arbeit beherzigt ihren dringenden Aufruf, die wissenschaftliche Arbeit zum Polizieren zu erweitern. Siehe dazu John Rappaport, »How Private Insurers Regulate Public Police«, in: Harvard Law Review, 130 (2017), S. 1539-1615 (hier wird untersucht, welche Rolle eine Haftpflichtversicherung bei der Regulierung der Polizei spielen könnte); Joanna C. Schwartz, »Police Indemnification«, in: New York University Law Review, 89 (2014), S. 885-1005 (hier wird gezeigt, dass Polizeibeamt:innen so gut wie nie finanziell für die Zahlung von Schadensersatz in Zivilprozessen haften, und die Auswirkungen dieser Tatsache untersucht); Stephen Rushin, »Federal Enforcement of Police Reform«, in: Fordham Law Review, 82 (2014), S. 3189-3248 (hier wird das staatliche Vollzugsdefizit des Paragraphen 42 U.S.C. § 14141 untersucht); Rushin, »Police Union Contracts«, S. 1243 (hier wird auf der Grundlage eines Originaldatensatzes von 178 Polizeigewerkschaftsverträgen die These vertreten, dass diese Verträge Polizeidisziplin und Rechenschaftspflicht einschränken). Aber es gibt noch mehr zu beachten und zu verstehen, siehe etwa Justin M. Feldman u. a., »Police-Related Deaths and Neighborhood Economic and Racial/ Ethnic Polarization, United States, 2015-2016«, in: Medical Patent Law Weekly, 109 (2019), S. 458-464, hier S. 8 (hier wird konstatiert, dass die Zahl der polizei-

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Missbräuchliche kann zu rechtmäßiger Polizeigewalt auf unterschiedliche Weise werden: Wenn die Innenrevision eine zivile Beschwerde als unbedeutend abweist, wenn ein Staatsanwalt oder eine Staatsanwältin sich weigert, Anklage gegen die Polizei zu erheben, wenn eine Grand Jury sich weigert, Anklage zu erheben, und wenn die Gewaltanwendung in einem Straf- oder Zivilprozess als angemessen und damit rechtmäßig angesehen wird.30 Qualified immunity31 verschafft der Polizei einen fast unantastbaren Schutzschild gegen Bürgerrechtsklagen.32 Die Verträge der Polizeigewerkschaft bewahren die Macht der Polizei und schirmen Polizeigewalt vor Kontrolle und Konsequenzen ab.33 Darüber hinaus führt die Art, wie mit Schadensersatz umgegangen wird, dazu, dass die Polizei keinen einzigen Cent der zivilrechtlichen Schadensersatzforderungen zahlt – das übernehmen die lokalen Regierungen.34 (2) Verschiedene, miteinander verbundene Formen von Gewalt. Die Feststellung des Justizministeriums, dass die Stadt Ferguson die Gerichte und die Polizei vor allem zum Generieren von Einnahmen einsetzte, wobei die Polizei Bußgelder und Gebühren gezielt gegen schwarze Anwohner:innen verhängte, zeigte deutlich die Verbindung zwischen rassifizierter Polizeigewalt und lokaler politischer lich bedingten Todesfälle in den Stadtvierteln am höchsten ist, in denen der Anteil der Einwohner:innen mit niedrigem Einkommen und der Einwohner:innen of color am größten ist); Francie Diep, »Police Are Most Likely to Use Deadly Force in Poorer, More Highly Segregated Neighborhoods«, in: Pacific Standard, 24. 1. 2019, 〈https://psmag.com/news/police-are-most-likely-to-use-deadly-forcein-poorer-more-highly-segregated-neighborhoods〉, letzter Zugriff 26.  7.  2021 (hier werden Gültigkeit und Grenzen von Feldmans Forschung erläutert). 30 Carbado, »Blue-on-Black Violence«, S. 1515. 31 »Qualified Immunity« ist eine 1967 vom Obersten Gerichtshof der USA verabschiedete Doktrin, die Polizeibeamt:innen Immunität vor zivilrechtlicher Belangung garantiert [Anm. d. Hg.]. 32 Siehe Joanna C. Schwartz, »How Qualified Immunity Fails«, in: Yale Law Journal, 127 (2017), S. 2-77 (»Der Oberste Gerichtshof der USA scheint es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, Bürgerrechtsklagen gegen Vollzugsbeamte zu verhindern, und scheint der Auffassung zu sein, qualified immunity sei das Mittel, dieses Ziel zu erreichen«). 33 Rushin, »Federal Enforcement of Police Reform«, S. 3202; Rushin, »Police Union Contracts«, S. 1196 ff.; Sunita Patel, »Jumping Hurdles to Sue the Police«, in: Minnesota Law Review, 104 (2020), S. 2257-2374 (hier werden die Möglichkeiten und Hürden bei der Durchsetzung struktureller Polizeireform beschrieben). 34 Carbado, »Blue-on-Black Violence«, S. 1520 ff.

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Ökonomie.35 Ferguson nahm mindestens drei Jahre hintereinander über zwei Millionen US-Dollar an Bußgeldern von den städtischen Gerichten ein, und im Jahr 2013 machten die Bußgelder etwa 20 Prozent des städtischen Haushalts aus – die größte Einnahmequelle nach der Umsatzsteuer und weit mehr als die Einnahmen aus den Grundsteuern.36 Wie die Rechtswissenschaft und die Berichte zunehmend zeigen, ist Ferguson eher ein Paradebeispiel als eine Abweichung, was die gezielte Verhängung von Bußgeldern und Gebühren gegen arme Menschen angeht.37 In der Rechtsprechung, im Großen wie im Kleinen, ist Polizeiarbeit »mit dem Geldfluss durch die Gerichte und Strafvollzugsbehörden verbunden«.38 Geldstrafen spielen in jeder Phase des 35 Siehe »DOJ Ferguson Police Report«, S. 2, 9 f.; Thomas Harvey u. a., »Arch­city Defs., Municipal Courts White Paper«, 〈https://www.archcitydefenders.org/ wp-content/uploads/2019/03/ArchCity-Defenders-Municipal-Courts-Whitepa per.pdf〉, letzter Zugriff 26. 7. 2021. 36 Siehe »City Of Ferguson, Annual Operating Budget: Fiscal Year 2014-2015«, 〈http://www.fergusoncity.com/DocumentCenter/View/1701/2015-COFM-Bud get-Main-Final?bidId=〉, Walter Johnson, »Ferguson’s Fortune 500 Company«, in: The Atlantic, 26. 4. 2015, 〈https://www.theatlantic.com/politics/archive/ 2015/04/fergusons-fortune-500-company/390492/〉 (»Ferguson nimmt mehr von afroamerikanischen Mieter:innen ein, die ihre Häuser im Winter heizen, als von denen, die die Häuser selbst besitzen […]. Der riesige Reichtum der Stadt, der kaum besteuert wird, liegt in Immobilien, die Afroamerikaner:innen über weite Strecken ihrer Geschichte nicht kaufen durften«); Frances Robles, »Ferguson Sets Broad Change for City Court«, in: New York Times, 9. 9. 2014, 〈https://www.ny times.com/2014/09/09/us/ferguson-council-looks-to-improve-community-rela tions-with-police.html〉, letzter Zugriff 26. 7. 2021. 37 Siehe auch Beth A. Colgan, »The Excessive Fines Clause. Challenging the Mod­ ern Debtors’ Prison«, in: UCLA Law Review, 65 (2018), S. 2-77; Wayne A. Logan, Ronald F. Wright, »Mercenary Criminal Justice«, in: University of Illinois Law Review (2014), S. 1175-1228; Matthew Shaer, »How Cities Make Money by Fining the Poor«, in; New York Times, 8. 1. 2019, 〈https://www.nytimes.com/2019/01/08/ magazine/cities-fine-poor-jail.html〉. Zu weiteren Quellen, die einen größeren Kontext des Problems beleuchten, siehe Elizabeth Jones, »Racism, Fines and Fees and the US Carceral State«, in: Race & Class, 59 (2017), S. 38-50, 〈https://finesand feesjusticecenter.org〉, letzter Zugriff 26. 7. 2021. 38 Jeffrey Fagan, Elliott Ash, »New Policing, New Segregation: From Ferguson to New York«, in: Georgetown Law Journal Online, 106 (2017), S. 33-134; siehe auch Colgan, »The Excessive Fines Clause«, S. 6 f. (hier wird erläutert, dass »die Verhängung wirtschaftlicher Sanktionen – gesetzliche Bußgelder, Aufpreise, Verwaltungsgebühren und Entschädigungen – in den Gerichten des ganzen Landes explodiert ist«, und zwar für »Verstöße, so geringfügig wie das Überqueren einer

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Strafprozesses eine Rolle. Dazu gehören Erfassungsgebühren, Kautionen, Gerichtskosten, Bußgelder und Verfallszahlungen, bezahlte Haft und Gebühren für die Erfassung und Löschung sowie für Anrufe, E-Mails und für die Bevollmächtigten während der Haft. Diese Strafen werden als »legitime Abschreckung gegen Fehlverhalten« angesehen und als ein Weg, die Strafrechtsverwaltung auf »die Kriminellen« anstatt auf »gesetzestreue Steuerzahler:innen« umzulegen.39 Diese Kosten haben vor allem arme Menschen zu tragen.40 Sie werden mit weiteren ökonomischen Sanktionen und Haft durchgesetzt, wodurch ein System etabliert wird, in dem Zahlungsversäumnisse zu sich immer weiter hochschaukelnden finanziellen Sanktionen und so häufiger zur Inhaftierung führen.41 Die weitreichenden Befugnisse der Polizei, Bürger:innen anzuhalten, zu durchsuchen, vorzuladen, zu verhaften, zu misshandeln und zu erschießen, treten Hand in Hand mit der Weisung auf, Geld einzutreiben.42 Schätzungsweise zehn Millionen Menschen haben roten Ampel und so schwerwiegend wie Mord«, »die von ein paar Dollar bis zu Millionen reichen«, wobei die Nichteinhaltung der Zahlungspflicht katastrophale Folgen hat, von der Streichung öffentlicher Leistungen über Inhaftierung und Bewährungsstrafen bis zum Entzug des Führerscheins und der Arbeitserlaubnis.). 39 Fagan/Ash, »New Policing, New Segregation«, S. 42-52, 75 (»Ferguson tarnte seine Besteuerungsbefugnis in der Ausübung von Polizeigewalt, indem es die Besteuerungsbefugnis funktionell mit der Befugnis zur Bestrafung gleichsetzte […], schwarze Bürger:innen wurden durch das Strafrechtssystem unverhältnismäßig stark besteuert, um die Einnahmen zu generieren, mit denen die sie diskriminierende Polizeiarbeit bezahlt werden konnte«); siehe auch Monica Bell, »Hidden Laws of the Time of Ferguson«, S. 12 (»Arme Kleinstädte haben oft das Strafvollzugssystem bemüht, um ihre Wirtschaft anzukurbeln […]. Arme Städte können angeblich die Verbrechensbekämpfung verschärfen, um auf kommunaler Ebene Einnahmen zu generieren«); Logan/Wright, »Mercenary Criminal Justice«, S. 1185-1196, hier S. 1176 f., (hier werden unterschiedliche Gebühren aufgelistet). 40 Laura I. Appleman, »Nickel and Dimed into Incarceration. Cash-Register Justice in the Criminal System«, in: Boston College Law Review, 57 (2016), S. 1483-1542. 41 Ebd. 42 Carbado spricht darüber, wie der Zwang zur Erzielung von Einnahmen in der Polizeiarbeit das Potential für Polizeigewalt erweitert hat: Polizeikontrollen, um Vorladungen auszustellen, »können in Verhaftung, Inhaftierung und Gewalt gipfeln«. Devon W. Carbado, »Predatory Policing«, in: UMKC Law Review, 85 (2017), S. 545-566 (»Ausbeutendes Polizieren und Massenkriminalisierung gehen Hand in Hand nicht nur bei der Überwachung, sozialen Kontrolle und ökonomischen Ausbeutung von Afroamerikaner:innen, sondern auch bei deren Verhaftung, Inhaftierung und wenn sie Ziel von Polizeigewalt werden«); siehe auch

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mehr als 50 Milliarden US-Dollar an strafrechtlichen Schulden angehäuft.43 Dies ist nicht nur eine finanzielle Belastung für arme Menschen. Der emotionale, psychologische, familiäre und kommunale Schaden ist unermesslich.44 Die Polizei übt eine Vielfalt physischer, sexueller, psychologischer und ausbeuterischer ökonomischer Gewalt aus.45 Das Recht überträgt der Polizei weitreichende Befugnisse, Barry Friedman, Unwarranted, S. 11 f. (»Die Polizei beschlagnahmt auf lokaler, Landes- und Bundesebene jedes Jahr Wohnungen, Autos und Geldsummen in Millionenhöhe, nicht selten von Unschuldigen.«) Carbado spricht auch von »ausbeutendem Polizieren – die gezielte Verfolgung benachteiligter Gruppen durch Verhaftungen oder die Ausstellung von Vorladungen als Einnahmequelle für Stadt oder Polizeibehörde oder um Beförderungen und Gehaltserhöhungen für bestimmte Beamte zu erreichen«, Carbado, »Blue-on-Black Violence«, S. 1502; siehe auch ders., »From Stopping Black People to Killing Black People«, S. 128; Natapoff, Punishment Without Crime, S. 24 ff.; Wayne A. Logan, »Policing Police Access to Criminal Justice Data«, in: Iowa Law Review, 104 (2019), S. 619678 (hier wird die Ausweitung der Zugriffsbefugnis der Polizei auf Datenbanken der Regierung dokumentiert). Zu einer genaueren Betrachtung des Einflusses der Staatsanwaltschaft siehe Andrea Roth, »Spit and Acquit: Prosecutors as Surveillance Entrepreneurs«, in: California Law Review, 107 (2019), S. 405-458. 43 Lauren-Brooke Eisen, »Brennan Ctr. For Justice, Charging Inmates Perpetu­ ates Mass Incarceration 1«, 〈https://www.brennancenter.org/our-work/researchreports/charging-inmates-perpetuates-mass-incarceration〉, letzter Zugriff 26. 7.  2021; siehe auch Appleman, »Nickel and Dimed into Incarceration«, S. 1485. 44 Logan/Wright, »Mercenary Criminal Justice«, S. 1209 (»Gerichte verweisen auf den Gesetzgeber und verhängen Bußgelder, Gebühren und Kosten, die der Gesetzgeber eindeutig autorisiert hat«). Zu einer Kampagne zur Abschaffung der Gebührenvollstreckung bei Jugendlichen siehe Jeffrey Selbin, »Juvenile Fee Abolition in California. Early Lessons and Challenges for the Debt-free Justice Movement«, in: North Carolina Law Review, 98 (2020), S. 401-418. 45 Kimberlé Williams Crenshaw u. a., »Say Her Name. Resisting Police Brutality Against Black Women«, 〈https://static1.squarespace.com/static/53f20d90e4b0b 80451158d8c/t/5edc95fba357687217b08fb8/1591514635487/SHNReportJuly2015. pdf〉 (hier wird die These vertreten, dass die Aufmerksamkeit für Polizeigewalt gegen schwarze Frauen bei den jüngsten Massenprotesten weitgehend fehlte, zudem wird diese Polizeigewalt gegenüber schwarzen Frauen hier dokumentiert). Der #SayHerName-Report dokumentiert, dass schwarze Frauen überproportional häufig von Polizeigewalt betroffen sind, und schildert verschiedene Formen von körperlicher, tödlicher und sexueller Gewalt, denen sie aufgrund ihrer race, Gender und Klassenzuschreibung ausgesetzt sind. In Oklahoma City hat der Polizist Daniel Holtzclaw mindestens dreizehn schwarze Frauen vergewaltigt und sexuell missbraucht und damit die oft vernachlässigten geschlechtsspezifischen und sexualisierten Aspekte von Polizeigewalt deutlich gemacht. Siehe Matt Ford, »A

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auf unterschiedlichste Handlungsweisen mit Verkehrskontrollen, Durchsuchungen, Verhaftungen und Vorladungen zu reagieren.46 Die Polizei wendet physische Gewalt an, wie Schüsse, Pfefferspray, Taser, Leibesvisitationen und SWAT-Razzien.47 Jährlich finden Millionen von polizeilichen Durchsuchungen statt.48 Selbst wenn die Polizei entscheidet, eine Zivilperson ohne triftigen Grund anzuhalten, ist sie »[gesetzlich] berechtigt, Gewalt, manchmal tödliche Gewalt, anzuwenden, um diese Entscheidung durchzusetzen«.49 Infolgedessen liegt Gewalt bereits in der polizeiliche Routine, einschließlich Verkehrskontrollen.50 Guilty Verdict for Daniel Holtzclaw«, in: The Atlantic, 11. 12. 2015, 〈https://www. theatlantic.com/politics/archive/2015/12/daniel-holtzclaw-trial-guilty/420009〉, letzter Zugriff 23. 6. 2021; Molly Redden, »Daniel Holtzclaw: Former Oklahoma City Police Officer Guilty of Rape«, in: The Guardian, 11. 12. 2015, 〈https:// www.theguardian.com/us-news/2015/dec/11/daniel-holtzclaw-former-oklaho ma-city-police-officer-guilty-rape〉; siehe auch Jenn Jackson, »How Did Daniel Holtzclaw Get Away with It for So Long? Because His Victims Were Thought of as Unrapeable«, in: The Independent, 11. 12. 2015, 〈https://www.independent. co.uk/voices/how-did-daniel-holtzclaw-get-away-with-it-for-so-long-becausethe-women-he-abused-were-thought-of-as-a6770096.html〉; [o.  V.], »Oklahoma City Council Settles Excessive Force Lawsuit of Ex-Cop for $ 25,000«, in: CBS News; 26. 3. 2019, 〈https://www.cbsnews.com/news/daniel-holtzclaw-okla homa-city-council-approves-settlement-excessive-force-lawsuit-former-officer〉, letzter Zugriff 26. 7. 2021. 46 Siehe allgemein Utah v. Strieff (2016), S. 2056, S. 2064 (»Für einen eklatanten Verstoß ist ein gravierenderes polizeiliches Fehlverhalten erforderlich als das bloße Fehlen eines triftigen Grundes für die Festnahme«); ebd. S. 2064 (Die Richterin am Obersten Gerichtshof der USA, Sonia Maria Sotomayor, stimmte dagegen) (»Dieser Präzedenzfall erlaubt es der Polizei, Sie auf der Straße anzuhalten, Ihren Ausweis zu verlangen und ihn auf ausstehende Haftbefehle zu überprüfen – auch wenn Sie nichts verbrochen haben«); Whren v. United States (1996), S. 806, S. 810 (wonach der Verdacht auf einen Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung ausreicht, um eine Kontrolle zu rechtfertigen); United States v. Brignoni-Ponce (1975), S. 873, S. 885-887 (hier wird der rechtliche Sachverhalt konstituiert, dass eine Verkehrskontrolle, die nur aufgrund »offensichtlicher mexikanischer Abstammung« durchgeführt wurde, für verfassungswidrig erklärt wurde, aber dass »mexikanisches Aussehen« als einer von mehreren Faktoren für den begründeten Verdacht eines Verstoßes gegen die Einwanderungsbestimmungen dienen kann). 47 Friedman, Unwarranted, S. 6-12. 48 Fagan/Ash, »New Policing, New Segregation«, S. 53 f. 49 Harmon, »Why Arrest?«, S. 315. 50 Carbado, »From Stopping Black People to Killing Black People«, S. 127 f. Zu Beispielen von Verkehrskontrollen mit tödlichem Ausgang siehe Nick Corasaniti,

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(3) Routine und an der Tagesordnung. Polizeigewalt ereignet sich jeden Tag. In Schulen, Autos, Wohnungen, auf der Straße, in Schwimmbädern und jedem Polizeirevier.51 Polizeigewalt ist nicht nur eine Sache von Einzelfällen oder der sogenannten bad apples,52 »Newark Police Officer Is Charged in Shooting Death of Fleeing Driver«, in: New York Times, 21. 5. 2019, 〈https://www.nytimes.com/2019/05/21/nyregion/ne wark-police-officer-indicted-shooting-death.html〉; Jay Croft, »Philando Castile Shooting: Dashcam Video Shows Rapid Event«, in: CNN, 20. 6. 2017, 〈https:// edition.cnn.com/2017/06/20/us/philando-castile-shooting-dashcam/index. html〉; Tom Jackman, »Video: ›Routine‹ Traffic Stop Turns into Deadly Police Shootout«, in: Washington Post, 14. 9. 2018, 〈https://www.washingtonpost.com/ news/true-crime/wp/2018/09/14/video-routine-traffic-stop-turns-into-deadlypolice-shootout-in-l-a/〉; Tana Weingartner, »Campus Cop on Trial for Shoot­ ing Death During Routine Traffic Stop«, in: NPR, 25. 10. 2016 〈https://www.npr. org/2016/10/25/499224917/campus-cop-on-trial-for-shooting-death-duringrout ine-traffic-stop〉, letzter Zugriff 25. 6. 2021. 51 Siehe dazu, Mark Berman, »Minneapolis Police Officers Will Not Face ­Charges for Fatally Shooting Jamar Clark«, in: Washington Post, 30. 3. 2016, 〈https:// www.washingtonpost.com/news/post-nation/wp/2016/03/30/prosecutor-to-an nounce-decision-on-charges-in-minneapolis-police-shooting-of-jamar-clark/〉; Ashley Fantz u. a., »Texas Pool Party Chaos: ›Out of Control‹ Police Officer Resigns«, in: CNN, 9. 6. 2015, 〈https://www.cnn.com/2015/06/09/us/mckinney-texaspool-party-video/index.html〉; Jacey Fortin, »Police Body-Cam Video Appears to Show Willie McCoy Sleeping Before He Was Fatally Shot«, in: New York Times, 31. 3. 2019 〈https://www.nytimes.com/2019/03/31/us/willie-mccoy-shoot ing-video.html〉; Sharon Otterman, »Police Shoot at a Black Couple Near Yale, Prompting a Week of Protests«, in: New York Times, 24. 4. 2019 〈https://www. nytimes.com/2019/04/24/nyregion/yale-shooting-protests.html〉; siehe auch P. R. Lockhart, »The Parkland Shooting Fueled Calls for More School Police. Civil Rights Groups Want Them Removed«, in: Vox, 20. 9. 2018, 〈https://www.vox. com/identities/2018/9/20/17856416/schooldiscipline-policing-black-students-re port〉, letzter Zugriff 25. 6. 2021. 52 »Es wäre schön, wenn es sich nur um ein paar bad apples handeln würde, aber solche Vorfälle sind leider an der Tagesordnung«; Friedman, Unwarranted, S. 7 ff. (hier wird auf die acht Millionen Durchsuchungen pro Jahr verwiesen, die die staatliche und örtliche Polizei »allein bei Fußgänger:innen und Fahrzeugen« durchführt, die routinemäßige Anwendung von Gewalt durch den Einsatz von Schusswaffen, Pfefferspray und Elektroschockern, die regelmäßigen SWAT-Razzien, die umfangreiche Überwachungsarchitektur und die Leibesvisitationen); siehe auch Cynthia Lee, »Reforming the Law on Police Use of Deadly Force: De-Escalation, Preseizure Conduct, and Imperfect Self-Defense«, in: University of Illinois Law Review (2018), S. 629-692 (»Hier geht es um weit mehr als einige bad apples die sich danebenbenehmen«); Carbado, »Blue-on-Black Violence«, S. 1482 f. (»Polizeigewalt gegen Afroamerikaner:innen als strukturelles Phänomen

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sondern integraler Bestandteil der Polizeiarbeit.53 Nachdem Darren Wilson Michael Brown getötet hatte, machten die Kampagne »­Every Hours« der Malcolm-X-Graswurzelbewegung sowie der Bericht »Operation Ghetto Storm« auf den routinemäßigen Einsatz von Polizeigewalt sowie auf das Fehlen ihrer umfassenden Dokumentation aufmerksam.54 Da es tausende polizeilicher Zuständigkeitsbereiche im Land gibt und keine Weisung von der Regierung zur Berichterstattung, waren die Zahlen dieser Tötungen und Gewalttaten nicht bekannt.55 Seitdem arbeiten Aktivist:innen, Journalist:innen und Wissenschaftler:innen daran, diese Informationen zusammenzutragen.56 Obwohl wir immer noch kein umfassendes Bild haben, wissen wir, dass Tötungen durch die Polizei Routine sind. Auf jeden und nicht einfach als Resultat von kriminellen Polizist:innen, die rassistische Ressentiments gegen schwarze Menschen hegen«); ders., »From Stop and Frisk to Shoot and Kill«, S. 1515 (»Polizeigewalt gegen Afroamerikaner:innen ist ein strukturelles Phänomen«); ders., Patrick Rock, »What Exposes African Americans to Police Violence?«, in: Harvard Civil Rights – Civil Liberties Law Review, 51 (2016), S. 159-188 (hier wird die These vertreten, dass »Polizeigewalt gegen Afroamerikaner:innen ein strukturelles Phänomen darstellt und nicht einfach als Resultat von kriminellen Polizist:innen, die rassistische Ressentiments gegen schwarze Menschen hegen, anzusehen ist«); John Kelly, Mark Nichols, »We Found 85,000 Cops Who’ve Been Investigated for Misconduct. Now You Can Read Their Records«, in: USA Today, 24. 4. 2019, 〈https://eu.usatoday.com/ in-depth/news/investigations/2019/04/24/usa-today-revealing-misconduct-re cords-police-cops/3223984002〉 letzter Zugriff 26. 7. 2021 (»Mindestens 85 000 Polizeibeamte in den USA wurden in den letzten zehn Jahren wegen Fehlverhaltens überprüft oder disziplinarisch belangt«). 53 Friedman, Unwarranted; Zimring, When Police Kill. 54 Siehe Malcolm X Grassroots Movement, »Operation Ghetto Storm: 2012 Annual Report On The Extrajudicial Killings Of 313 Black People By Police, Security Guards And Vigilantes (updated ed. 2014)«, 〈https://www.operationghettostorm. org/uploads/1/9/1/1/19110795/new_all_14_11_04.pdf〉, letzter Zugriff 25. 6. 2021; siehe auch Amna A. Akbar, »Law’s Exposure: The Movement and the Legal ­Academy«, in: Journal of Legal Education, 65 (2015), S. 352-373 (hier wird die Kampagne Malcolm X Grassroots Movement diskutiert). 55 Zimring, When Police Kill, S. 9 f., S. 23-40. 56 Siehe ebd., S. 23-73; »The Counted: People Killed by Police in the US«, in: The Guardian (laufend aktualisiert), 〈https://www.theguardian.com/us-news/ng-in teractive/2015/jun/01/the-counted-police-killings-us-database〉; »Fatal Force 2019«, 〈https://perma.cc/N9PG-CRSJ〉; »Police Violence Map, Mapping PoliceViolence«, 〈https://mappingpoliceviolence.org〉, letzter Zugriff 25. 6. 2021.

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öffentlich gut dokumentierten Vorfall von Polizeigewalt kommen viele, viele mehr. Die Polizei wendet fast dreimal am Tag57 tödliche Gewalt an und vollzieht alle drei Sekunden eine Verhaftung – mehr als zehn Millionen pro Jahr.58 (4) Race und Klassenzuschreibung. Polizeiarbeit ist nicht unvoreingenommen.59 Das Polizieren armer Menschen und Armut ist Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Arbeiten, darunter auch Arbeiten, die sich mit Fragen von race und Kriminalisierung befassen.60 Ein bedeutender Teil dieser Arbeiten analysiert das polizeiliche Vorgehen spezifisch gegen schwarze Menschen. Zu den Ursachen für unverhältnismäßige und dennoch alltägliche Polizeigewalt gegen schwarze Menschen gehören Broken-Windows-Polizeiarbeit,61 rechtliche Sanktionierung, Massenüberwachung und Kriminalisierung, rassistische Stereotypen, Segregation und Gentrifizierung sowie Polizeikultur und -ausbildung.62 57 Siehe »Fatal Force: Police Shootings 2017 Database«, 〈https://perma.cc/XS2HLPFG〉, letzter Zugriff 25. 6. 2021 (hier wird berichtet, dass 986 Menschen im Jahr 2017 von der Polizei erschossen wurden). 58 Rebecca Neusteter, Megan O’Toole, »Every Three Seconds: Unlocking Police Data On Arrests 5 (2019)«, 〈https://perma.cc/A3HX-AWDZ〉, letzter Zugriff 25. 6. 2021. 59 Siehe Kleinfeld, »Manifesto of Democratic Criminal Justice«, S. 1370 f. Es gibt ebenfalls Arbeiten zum gezielten Polizieren von Immigrant:innen und den Zusammenhängen von Strafrecht und dem Einwanderungsgesetz: »crimmigration«. Siehe auch César Cuauhtémoc García Hernández, Crimmigration Law, Chicago 2015; ders., »Deconstructing Crimmigration«, in: UC Davis Law Review, 52 (2018), S. 197-254; ders., »The Life of Crimmigration Law«, in: Sturm College of Law: Faculty Scholarship, 53 (2015), S. 697-699; ders., »Creating Crimmigration«, in: Brigham Young University Law Review (2013), S. 1457-1516; Allegra M. McLeod, »The U. S. Criminal-Immigration Convergence and Its Possible Undoing«, in: American Criminal Law Review, 49 (2012), S. 105-178. 60 Bell, »Hidden Laws«, S. 20; dies. u. a., »Toward a Demosprudence of Poverty«, in: Duke Law Journal, 69 (2020), S. 1473-1528; Kaaryn Gustafson, »The Criminalization of Poverty«, in: Journal of Criminal Law and Criminology, 99 (2009), S. 643-716. 61 Mit Broken Windows (»zerbrochene Fenster«) ist eine polizeiliche Nulltoleranzstrategie gemeint, die zuerst in New York City angewandt wurde. [Anm. d. Hg.] 62 Siehe Neusteter/O’Toole, Every Three Seconds, S. 8 f. (28 Prozent der verhafteten Menschen sind schwarz, wobei schwarze Menschen nur 12 Prozent der Bevölkerung ausmachen); Carbado, »Blue-on-Black Violence«, S. 1483-1495 (hier wird die These vertreten, dass die Rechtslehre Polizeigewalt schützt, indem sie diese in gerechtfertigte Polizeigewalt umwandelt und die Polizei vor Haftungsansprü-

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Die Polizei ist ein Instrument der Segregation, Gentrifizierung und Vertreibung, das räumliche und rassistisch motivierte Ungleichheit schafft und stabilisiert.63 Die »täglichen Abläufe« des Polizierens reproduzieren die Wohnsegregation in Städten im ganzen Land.64 Die Polizei relokalisiert Menschen »und wirtschaftliche Ressourcen von Ort zu Ort, zieht Grenzen und strukturiert Chancen und unterschiedliche soziale Strukturen (Wohnungen, chen oder Schadensersatzzahlungen schützt); Frank Rudy Cooper, »A Genealogy of Programmatic Stop and Frisk: The Discourse-to-Practice Circuit«, in: University of Miami Law Review, 73 (2018), S. 1-77 (ein »programmatischer« Ansatz zu Stop and Frisk); siehe auch Bureau of Justice Statistics, U. S. Dep’t Of Justice, »Contacts Between Police and the Public«, 〈https://www.bjs.gov/content/ pub/pdf/cpp15.pdf〉, letzter Zugriff 25. 6. 2021 (hier wird gezeigt, dass schwarze Menschen überproportional häufig im Straßenverkehr angehalten werden und dass bei einem höheren Prozentsatz von Schwarzen als von Weißen »der letzte Kontakt mit der Polizei von Seiten der Polizei initiiert worden war«); Sonja B. Starr, »Testing Racial Profiling: Empirical Assessment of Disparate Treatment by Police«, in: University of Chicago Legal Forum (2016), S. 485-532 (hier wird die Problematik der »Messung der Diskriminierung durch die Polizei« auf der Grundlage von race untersucht). 63 Siehe Jason Hackworth, Neil Smith, »The Changing State of Gentrification«, in: Tijdschrift voor Economische en Sociale Geografie, 110 (2001), S. 35-46; (hier wird dokumentiert, »wie der Staat seit etwa 1993 im Zuge wachsender Privatisierung in seiner Förderung der Gentrifizierung immer direkter wurde«); siehe auch Bell, »Hidden Laws«, S. 11 ff. (hier wird gefordert, die Art und Weise, wie race, »Armut und Strafe untrennbar miteinander verbunden sind«, genauer zu untersuchen, wobei Bußgelder und Gebühren nur einen Teil des Ganzen ausmachen); Carbado, »Blue-on-Black Violence«, S. 1495 (»Die öffentliche und private Ausweitung des Broken Windows Policing delokalisiert schwarze Menschen, befördert ihre Vertreibung und legt den Grundstein für neue weiße communities«); Fagan/Ash, »New Policing, New Segregation«, S. 84-87. (»Die anhaltenden Verknüpfungen zwischen race und Ort in New York spiegeln wider, dass die Erfahrungen schwarzer und lateinamerikanischer Menschen mit der Polizei tief in die sozialen Ökologien schwarzer und lateinamerikanischer Viertel eingebettet sind.«) 64 Monica C. Bell, »Anti-Segregation Policing«, in: New York University Law Review, 95 (2020), S. 650-765 (Bell legt eine reichhaltige soziologische Analyse des wechselseitig konstitutiven Verhältnisses von Segregation und dem Polizieren vor). Der Bericht des Justizministeriums Baltimore zeigt die räumlichen Aspekte des rassifizierten Polizierens auf. »DOJ Baltimore Police Report«, S. 6 f., S. 26 (hier wird gezeigt, dass Verkehrskontrollen vor allem »in zwei kleinen, vorwiegend afroamerikanischen Vierteln [durchgeführt wurden], bei nur 11 Prozent der Stadtbevölkerung«).

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Schulen, öffentliche Verkehrsmittel, Parks) in einer Weise um, die rassistische Ungleichheit reproduziert«.65 Zusätzlich zu race, Klassenzuschreibung und räumlicher Aufteilung gibt es immer mehr Arbeiten, die dokumentieren, wie Geschlecht, Sexualität und Behinderung die Polizeiarbeit auf intersektionale Weise strukturieren.66 Die Polizei übt in erheblichem 65 Carbado, »Blue-on-Black Violence«, S. 1494. Die Polizei »führt eine Art Säuberung der Innenstädte durch, um es den Weißen zu ermöglichen, die Viertel unbehelligt von Spuren der Unordnung zu betreten« (das heißt: von offen schwarzer Präsenz, insbesondere von Jugendlichen, Obdachlosigkeit und geschlechtlicher Nonkonformität). Ebd., S. 1493 (hier wird die These vertreten, dass die Polizei bereitwillig auf zum Beispiel Telefonanrufe von Weißen reagiert und proaktiv Weiße schützt [protect and serve], »die sie als besonders anfällig für schwarze Kriminalität einschätzt«). Zu einer ausführlichen Darstellung der verschiedenen Arten, wie die Polizei zu rassistischer Segregation und Gentrifizierung beiträgt, siehe Bell, »Anti-Segregation Policing«. 66 Siehe dazu Nnennaya Amuchie, »›The Forgotten Victims‹. How Racialized Gender Stereotypes Lead to Police Violence Against Black Women and Girls. Incorporating an Analysis of Police Violence into Feminist Jurisprudence and Community Activism«, in: Seattle Journal for Social Justice, 14 (2016), S. 617-668 (anhand von #SayHerName wird hier die These vertreten, dass Polizeigewalt gegen schwarze Frauen aus der Perspektive schwarzer Frauen verstanden werden muss, und eine Reihe von Reformen werden gefordert); Angela Irvine, »You Can’t Run from the Police: Developing a Feminist Criminology that Incorporates Black Transgender Women«, in: Southwestern Law Review, 44 (2015), S. 553562 (hier wird Polizeigewalt unter dem Aspekt der geschlechtlichen Identität, des geschlechtlichen Ausdrucks und der race der Opfer analysiert, und es werden Statistiken vorgelegt, die zeigen, dass queere und trans Menschen of color überproportional häufig Ziel von polizeilichen Schikanen, Respektlosigkeiten und Platzverweisen sind); Jacobs, »The Violent State« (hier werden die Wurzeln staatlicher Gewalt gegen schwarze Frauen in der Sklaverei verortet, und es wird die These vertreten, dass gegenwärtige Erscheinungsformen solcher Gewalt, auch durch die Polizei, ignoriert und zu wenig darüber berichtet wird); Trina Jones, Kimberly Jade Norwood, »Aggressive Encounters & White Fragility: De­con­structing the Trope of the Angry Black Woman«, in: Iowa Law Review, 102 (2017), S. 20172070 (hier wird die These vertreten, dass Polizeigewalt gegen schwarze Frauen diese als gleichzeitig unsichtbar und gewaltbereit präsentiert); Anna Lvovsky, »Cruising in Plain View: Clandestine Surveillance and the Unique Insights of Antihomosexual Policing«, in: Journal of Urban History, 46 (2020), S. 9801002 (hier wird argumentiert, dass die Polizei die schwule Kultur nicht versteht und schwule Männer wegen harmloser Tätigkeiten ins Visier genommen und kriminalisiert hat); Teri A. McMurty-Chubb, »#SayHerName #BlackWomens LivesMatter: State Violence in Policing the Black Female Body«, in: Mercer Law Review, 67 (2016), S. 651-706 (hier wird die These vertreten, dass staatliche

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Maße physische, emotionale, sexuelle und ökonomische Gewalt gegen schwarze Männer und Frauen sowie Transgender und nichtbinäre Menschen aus.67 Das Polizieren hat sich zunehmend gegen Gewalt gegen schwarze Frauen ihren Ursprung in der Ära der Sklaverei hat und nicht enden wird, solange es ein Gefängnis- und Polizeisystem gibt, das durch das Erbe der Sklaverei beeinträchtigt ist, und es werden Reformen gefordert, einschließlich Untersuchungen, Schulungen und ein Überdenken von »Sensibilitäts«- und »Implicit Bias«-Trainings); Josephine Ross, »What the #MeToo Campaign Teaches About Stop and Frisk«, in: Idaho Law Review, 54 (2018), S. 543-651 (Ross analysiert Polizeigewalt aus der Perspektive der Opfer, identifiziert sexuellen Missbrauch als die »zweithäufigste zivile Beschwerde« gegen die Polizei und fordert das Ende der Einwilligungsdoktrin und von »Terry v. Ohio«); Jasmine Sankofa, »Mapping the Blank: Centering Black Women’s Vulnerability to Police Sexual Violence to Upend Mainstream Police Reform«, in: Howard Law Journal, 59 (2016), S. 651-704 (Sankofa identifiziert Polizeigewalt als strukturelles Problem, das schwarze Frauen betrifft, vertritt die These, dass die allgemeinen Bemühungen zur Bekämpfung von Polizeigewalt diese Tatsache ignorieren, und plädiert für eine verringerte Polizeipräsenz in den communities und ein Unterstützungssystem für Betroffene von sexueller Polizeigewalt und deren Familien); Michael D. Braunstein, »The Five Stages of LGBTQ Discrimination and Its Effects on Mass Incarceration«, in: University of Miami Race & Social Justice Law Review, 7 (2017), S. 1-29 (Braunstein erklärt, wie trotz bahnbrechender Bürger:innenrechtserfolge für die LGBTQ+-Community die Polizei sie immer noch wegen »Sittenvergehen« ins Visier nimmt, und plädiert für Reformen einschließlich »Diversity«- und »Toleranz«-Trainings); Molly »Delaney« Nevius, »The First Pride Was a Riot: How Queer Activism Has Partnered with Police to Hurt the Community’s Most Vulnerable«, in: Hastings Women’s Law Journal, 29 (2018), S. 125-146 (Nevius weist auf die historischen Wurzeln der »First Pride« als Reaktion auf Polizeibrutalität gegen die LGBTQ+-Community hin, merkt aber an, dass moderne Pride-Veranstaltungen Polizeigewalt gegen queere Menschen of color ignorieren); Arneta Rogers, »How Police Brutality Harms Mothers: Linking Police Violence to the Reproductive Justice Movement«, in: Hastings Race and Poverty Law Journal, 12 (2015), S. 205-234 (Rogers vertritt die These, dass Polizeigewalt als ein Problem reproduktiver Gerechtigkeit verstanden werden kann, weil sie »das Recht [einer Frau] einschränkt, Kinder sicher zu gebären und aufzuziehen, frei von dem bedrückenden Gefühl der Gefahr, dass ihr Nachwuchs in den Händen der Strafverfolgungsbehörden schikaniert oder sogar frühzeitig getötet werden könnte«); siehe auch Eric J. Miller, »Police Encounters with Race and Gender«, in: UC Irvine Law Review, 5 (2015), S. 735-758 (Miller stellt fest, dass Polizeiinteraktionen erwartungsgemäß mit race, Klassenzugehörigkeit und Gender zu tun haben). 67 Crenshaw u. a., »Say Her Name«; siehe auch Paul Butler, Chokehold. Policing Black Men.

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queere, transsexuelle und Menschen mit Behinderung gerichtet, insbesondere gegen solche of color.68 (5) Konstitutiv für die politische, wirtschaftliche und soziale Ordnung. Eine wachsende Zahl von Rechtswissenschaftler:innen betrachtet Polizei und Gefängnisse für unsere politische, ökonomische und soziale Ordnung als konstitutiv.69 Die Polizei fungiert als Katalysator für weitreichendere Strukturen von race, Klasse und Gender: white supremacy, Kapitalismus, Kolonialismus und Patriarchat. Sie spiegeln den undemokratischen Status quo wider. Das Polizieren wird in diesem Kontext als Problem unseres Rechtssystems und des Staates und nicht als Abweichung von diesem System verstanden. Der Gefängnisstaat »hat immer auf die Unterordnung schwarzer Menschen hingewirkt«.70 »Polizist:innen verletzen und demütigen 68 Mogul u.  a., Queer (In)justice. The Criminalization of LGBT People in the United States; Ritchie, Invisible No More; Jamelia N. Morgan, »Policing Under Disability Law«, in: Stanford Law Review, 73 (2021), S. 1401-1469. Laut einer Studie machten Frauen von 1980 bis 2014 27 Prozent aller Verhaftungen aus, zuvor waren es 16 Prozent; Neusteter/O’Toole, »Every Three Seconds«, S. 9. 69 Siehe dazu Butler, »The System Is Working the Way It Is Supposed To«, S. 14271439; Angélica Cházaro, »Beyond Respectability: Dismantling the Harms of ›Illegality‹«, in: Harvard Journal on Legislation, 52 (2015), S. 355-422; Allegra M. McLeod, »Prison Abolition and Grounded Justice«, in: UCLA Law Review, 62 (2015), S. 1156-1239; Roberts, »Constructing a Criminal Justice System Free of Racial Bias«; Dorothy E. Roberts, »Democratizing Criminal Law as an Abolitionist Project«, in: Northwestern University Law Review, 111 (2017), S. 1597-1608; Tracey L. Meares, »Synthesizing Narratives of Policing and Making a Case for Policing as a Public Good«, in: Saint Louis University Law Journal, 63 (2019), S. 553-[vi]; »A Political and Literary Podcast. Abolish the Police?«, in: Boston Review, 1. 8. 2017, 〈http://bostonreview.net/podcast-law-justice/tracey-l-mearesvesla-m-weaver-abolish-police〉; Tracey L. Meares, »Policing: A Public Good Gone Bad«, in: Boston Review, 1. 8. 2017, 〈https://bostonreview.net/law-justice/ tracey-l-meares-policing-public-good-gone-bad〉, letzter Zugriff 26. 6. 2021. Ein Klassiker bezüglich des Zusammenhangs zwischen dem Polizieren und sozialen, politischen und sozialen Krisen ist Stuart Hall u. a., Policing The Crisis: Mugging, The State, And Law And Order, London 2013. 70 Roberts, »Constructing a Criminal Justice System Free of Racial Bias«, S. 262. Der Gefängnisstaat schränkt die politische Macht schwarzer Menschen ein: Er »isoliert sie in Gefängnissen, entzieht ihnen das Wahlrecht und zerstört breitere soziale und politische Beziehungen, die für kollektives Handeln notwendig sind«, und »verstärkt den Mythos von der Kriminalitätsbereitschaft der Schwarzen«, was wiederum weitere Beschneidungen der Rechte schwarzer Mitbürger:innen legitimiert; ebd. S. 266. Siehe auch Bell, »Police Reform«; McLeod, »Aboli-

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routinemäßig Schwarze, genau dafür werden sie bezahlt.«71 Aber Leid ist nicht das Einzige, was Polizeigewalt hervorbringt. Versklavte Afroamerikaner:innen »erarbeiteten den Wohlstand der weißen Eliten«, und nun sind »diskriminierende Strafverfolgungspraktiken« zentral für die rassifizierte Klassenbildung in unserer politischen Wirtschaft.72 tionistische Demokratien entwerfen«, im vorliegenden Band (McLeod weist auf die Ineffizienz des Gefängnisstaates hin, dass er nicht erreicht, was er zu erreichen verspricht, auf die ihm zugrundeliegende Gewalt und auf seine lange Geschichte als Instrument rassistischer Unterdrückung). Mehr zur Unterdrückung anhand von Gender und Sexualität durch den Gefängnisstaat findet sich bei Ritchie, Invisible No More; Mogul u. a., Queer (In)Justice. Mehr zu race und white supremacy findet sich in Akbar, »Toward a Radical Imagination of Law«. 71 Butler, Chokehold. Policing Black Men, S. 2 f. (»Es ist die Aufgabe der Polizei, Recht und Ordnung zu erhalten, auch die rassistische Ordnung«). Butler erweitert die Metapher des Würgegriffs (chokehold ), um die Unterdrückung schwarzer Männer durch den Gefängnisstaat zu beschreiben. Ebd. S. 17 f. (er beschreibt die »soziale und rechtliche Konstruktion« schwarzer Männer als »kriminell oder potentiell kriminell« und dann die »rechtliche und politische Reaktion zur Eindämmung jener Bedrohung«, insbesondere durch den Gefängnisstaat). 72 Butler, Chokehold, S. 6, S. 12 (Butler erklärt, dass die Praktiken der Strafverfolgungsbehörden als »Erhöhung der Chancen auf einen Arbeitsplatz für weiße Menschen der Arbeiterklasse dienen, die nicht mit all den schwarzen Männern um einen Arbeitsplatz konkurrieren müssen, die eingesperrt sind oder die im Untergrund leben, weil sie ausstehende Haftbefehle oder Vorstrafen haben, die es äußerst schwierig machen, einen legalen Arbeitsplatz zu bekommen«). Dean Spade zitiert Angela Davis’ Genealogie, wie Gefängnisse und Polizei nach dem offiziellen Ende der Versklavung entstanden, um zu beschreiben, wie Kriminalisierung die Rassifizierung und Vergeschlechtlichung befördert. Dean Spade, »The Only Way to End Racialized Gender Violence in Prisons is to End Prisons: A Response to Russell Robinson’s ›Masculinity as Prison‹«, in: California Law Review Circuit, 3 (2012) S. 184-195. Angélica Cházaro weist auf die Rolle der Abschiebung bei der Naturalisierung der Staatsgrenze, der Verwischung laufender indigener Kämpfe um Selbstbestimmung und der Festigung der US-Macht in der Welt hin; dies., »The End of Deportation«, in: University of Washington School of Law, 68 (2020), S. 1-75. Das Programm von Mijente fordert ebenfalls die Abolition der Grenzen. »Mijente, Free Our Future: An Immigration Policy Platform For Beyond The Trump Era«, 〈https://mijente.net/wp-content/uploads/2018/06/ Mijente-Immigration-Policy-Platform_0628.pdf〉 letzter Zugriff 26. 7. 2021; siehe auch K-Sue Park, »Self-Deportation Nation«, in: Harvard Law Review, 132 (2019), S. 1878-1942 (Park erläutert, wie Programme zur Deportierung von Ureinwohner:innen die heutigen Deportationspraktiken beeinflussen, und deren Verknüpfung mit den Themen Land und Arbeit.

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Das Verständnis des Strafrechtssystems als eine historische und anhaltende Triebfeder für Gewalt, Enteignung und Ausschluss, die unser Rechtssystem bestimmt, wirft die grundsätzliche Frage auf, ob und wie das Strafrechtssystem repariert werden kann.73 Einige Wissenschaftler:innen, die die Strukturen polizeilicher Gewalt dokumentieren, propagieren keinerlei Reformansätze.74 Andere schlagen eher transformative Wege ein.75 Dorothy Roberts schrieb kürzlich einen ausführlichen Essay, in dem sie zur Abschaffung des Konstitutionalismus aufruft.76 Paul Butler fordert Abolition und eine sogenannte Third Reconstruction.77 Allegra McLeod schlägt vor, »die Strafverfolgung durch eine Reihe anderer regulativer und sozialer Projekte zu ersetzen«78 und »zu versuchen, Frieden herzustellen, Wiedergutmachung zu leisten und Ressourcen gerechter zu verteilen«.79 Dean Spade setzt sich für abolitionistische Strategien 73 Zu einer genauen Untersuchung der grundlegenden Probleme mit der Art und Weise, wie das L. A. County Men’s Jail Schwule und trans Menschen aussondert, angeblich eine Reform, um die Gewalt innerhalb des Gefängnisses zu mildern, siehe Russell K. Robinson, »Masculinity as Prison: Sexual Identity, Race, and Incarceration«, in: California Law Review, 99 (2011), S. 1309-1408. 74 Siehe auch Carbado, »Blue-on-Black Violence«. 75 Siehe die Entwicklungen im Recht bezüglich der Gefängnisabolition, wie in Anm. 69 dargestellt. 76 Dorothy E. Roberts, »Abolition Constitutionalism«, in: Harvard Law Review, 133 (2019), S. 1-122; siehe auch Roberts, »Constructing a Criminal Justice System Free of Racial Bias«, S. 263 (Roberts plädiert für die Abschaffung von »Strafrechtsinstitutionen, die direkt auf die Sklaverei und Jim Crow zurückführbar sind«, insbesondere Masseninhaftierung, das Polizieren und die Todesstrafe). 77 Butler, Chokehold, S. 229-234 (Butler plädiert für eine Third Reconstruction und Abolition, insbesondere durch die Festsetzung von Höchststrafen, die Entkriminalisierung von Bagatelldelikten und die Verlagerung von Geldern von der Polizei ins Gesundheitswesen); Butler, »The System Is Working the Way It Is Supposed To«, S. 1474 ff. (Plädoyer für eine Third Reconstruction). 78 McLeod, »Prison Abolition and Grounded Justice«, S. 1161. 79 McLeod, »Abolitionistische Demokratien entwerfen«, im vorliegenden Band. McLeod erläutert eindrucksvoll die verflochtene Beziehung zwischen den positiven und negativen Dimensionen der Abolition. Allegra M. McLeod, »Beyond the Carceral State«, in: Texas Law Review, 95 (2017), S. 651-706 (Rezension von Marie Gottschalk, Caught. The Prison State And The Lockdown Of American Politics) (»Ein besserer Zugang zu Geld [und legaler Arbeit] in Vierteln mit hoher Armut und Kriminalität würde die mit der Schattenwirtschaft verbundene Gewalt erheblich reduzieren, die einen großen Teil der Tötungsdelikte verursacht«). Sie skizziert Maßnahmen für einen ernsthaften Gefängnisabbau, einschließlich der

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ein, um einen transformativen Wandel jenseits der traditionellen Rechtsreformen zu bewirken, zu denen in erster Linie die gegenseitige Hilfe gehört.80 Jocelyn Simonson plädiert dafür, Reformen durch die »Machtlinse« zu betrachten und sich darauf zu konzen­ trieren, jenen Macht zu übertragen, »die von der Massenkriminalisierung am meisten geschädigt werden«.81 Monica Bell fordert eine Vielfalt von Reformen, einschließlich solcher, die in die Polizei investieren, und solcher, die ihren Einflussbereich verkleinern, neben »grundlegenderen Veränderungen in der wirtschaftlichen Verteilung und der Beseitigung von Rassendiskriminierung«.82 Mit dem Denken antikapitalistischer und abolitionistischer Organisationsformen geben diese Wissenschaftler:innen ihren Projekten einen Rahmen, der sich auf eine umfassende und tiefgreifende Transformation konzentriert.83 Sie sehen sich mit den WiderVerringerung des Strafmaßes, dafür, weniger Menschen einzusperren, weniger Strafanzeigen zu stellen, den Ermessensspielraum von Polizei und Staatsanwaltschaft einzuschränken und mehr in andere soziale Projekte zu investieren. 80 Siehe dazu Morgan Bassichis u. a., »Building an Abolitionist Trans and Queer Movement with Everything We’ve Got«, in: Eric A. Stanley, Nat Smith (Hg.), Captive Genders. Trans Embodiment And The Prison Industrial Complex, Oakland, Edinburgh 2015, S. 15-40; Dean Spade, »Solidarity Not Charity: Mutual Aid for Mobilization and Survival«, in: Social Text, 142 (2020), S. 131-151. Cházaro fordert die Abolition von Deportationen und Abschiebehaft. Cházaro, »The End of Deportation«; siehe auch César Cuauhtémoc García Hernández, »Abolishing Immigration Prisons«, in: Boston University Law Review, 97 (2017), S. 245-300. 81 Simonson, »Police Reform«; siehe auch Sunita Patel, »Toward Democratic Police Reform: A Vision for ›Community Engagement‹ Provisions in DOJ Consent Decrees«, in: Wake Forest Law Review, 51 (2016), S. 793-880 (Patel untersucht die Beteiligung von communities an Reformen von Polizeibehörden mit Unterstützung des Justizministeriums auf ihre Möglichkeiten, die Macht zwischen der Polizei und den communities, denen sie dient, neu zu bestimmen und zu verschieben). 82 Bell, »Police Reform«, S. 2126-2149 (Bell schlägt Reformen wie zum Beispiel Untersuchungen der Muster und Praktiken des Justizministeriums, eine bessere Bezahlung der Polizei, die Konsolidierung kleinerer Polizeidienststellen, die Demokratisierung der Polizeiarbeit und, nur ganz kurz, die Verkleinerung und Feinabstimmung des Aufgabenbereichs der Polizei vor). Ein weiterer Mischansatz findet sich bei Carbado, Richardson, »The Black Police«, S. 1980 f. (»Race diversity ohne sinnvolle Umverteilung oder Neuverteilung von Macht könnte nicht nur die Chancen für einen sozialen Wandel limitieren, sondern auch potentiell genau die Formen der Ungleichheit reproduzieren und legitimieren, gegen die das Streben nach racial diversity gerichtet war«). 83 Diese Wissenschaftler:innen schreiben über Forderungen der Bewegung und

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sprüchen konfrontiert, die sich aus dem Versuch der Reform eines Systems ergeben, das für die Aufrechterhaltung einer rassifizierten und ökonomisch stratifizierten Gesellschaft von zentraler Bedeutung ist.84 Diese Wissenschaft gewann bereits vor den Aufständen der 2020er Jahre an Fahrt, jetzt wird ihr Einfluss sicherlich weiter zunehmen. Doch bevor wir uns ernsthaft der Organisationsarbeit und den Experimenten zuwenden, mit denen ein Großteil der aufkommenden abolitionistischen Forschung im Dialog steht, müssen wir sie im Kontext einer Haltung verstehen, die fest am Willen zur Reform festhält.

politische Programme. Siehe dazu Akbar, »Toward a Radical Imagination of Law« (hier wird die Mobilisierung für das Programm von Black Lives Matter, »A Vision for Black Lives: Policy Demands for Black Power, Freedom, and Justice« behandelt); Cházaro, »The End of Deportation« (das Programm von Mijente »Free Our Future« wird hier behandelt). Sie schreiben auch über Polizei- und Gerichtsüberwachung, partizipatorische Verteidigung und gemeinschaftliche Kautionsfonds; Kampagnen zur Beendigung von einstweiligen Verfügungen gegen gangs und gang-Datenbanken; Organisationsarbeit für Entschädigungen und transformative Gerechtigkeitsansätze für interpersonelle Schäden; und mehr. Siehe McLeod, »Abolitionistische Demokratien entwerfen«, im vorliegenden Band; Jocelyn Simonson, »Copwatching«, in: California Law Review, 104 (2016), S. 391446; ders., »Democratizing Criminal Justice through Contestation and Resistance«, in: Northwestern University Law Review, 111 (2017), S. 1609-1624; Dean Spade, »Intersectional Resistance and Law Reform«, in: Signs, 38 (2013), S. 1031-1055. Dieser Ansatz stützt sich auf Mari Matsudas langjährige Aufforderungen, »auf den Grund zu schauen«, das heißt, »die Perspektive derjenigen einzunehmen, die die Verlogenheit des liberalen Versprechens gesehen und gespürt haben«; Mari J. Matsuda, »Looking to the Bottom. Critical Legal Studies and Reparations«, in: Harvard Civil Rights – Civil Liberties Law Review, 22 (1987), S. 323-399, und bezüglich »outsider jurisprudence«, das heißt »Rechtsprechung aus der Sicht von Geschichten vom Grunde her«: Mari J. Matsuda, »Public Response to Racist Speech: Considering the Victim’s Story«, in: Michigan Law Review, 87 (1989), S. 2320-2381; siehe auch Akbar u. a., »Movement Law«. 84 Spade hat zum Beispiel feministische und antirassistische Kampagnen analysiert, die liberale Gleichheits- und Rechtsstrategien ablehnen, weil sie zu karzeralen Ausschlusslogiken beitragen würden, und sich stattdessen für eine Umverteilung von Ressourcen und eine Verringerung der Rolle des Staates in communities of color aussprechen; Spade, »Intersectional Resistance and Law Reform«.

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II. Festhalten am Reparieren,

Reformieren, Relegitimieren

Auch wenn immer mehr Rechtswissenschaftler:innen die strukturelle Natur von Polizeigewalt untersuchen, bleibt der vorherrschende Rahmen für die Suche nach Lösungen auf die Sanierung und Reform der Polizei beschränkt. In den meisten rechtswissenschaftlichen Arbeiten, die sich mit Fragen der Reform befassen, wird die Polizei als ein notwendiges soziales Gut betrachtet: Sie sorgt für unsere Sicherheit, hält Recht und Ordnung aufrecht, schützt uns vor Gewalt und Anarchie und verhindert und bestraft Verbrechen auf sozial angemessene Art und Weise.85 Weil das Polizieren als sozial nützlich oder normativ geboten angesehen wird, betrachten die Wissenschaftler:innen das Problem der Polizeigewalt als ein Pro­ blem der Regulation. Diese Forscher:innen vertreten die Ansicht, dass die Polizei saniert werden kann, wenn sie einfach besser verwaltet, reguliert, ausgebildet oder ausgestattet wird. Obwohl kein:e Rechtwissenschaftler:in behauptet, es gäbe einfache oder monodimensionale Antworten, stellen sie häufig die Frage: Was können wir der Polizei geben, um ihre Aufmerksamkeit auf das Verbrechen zu lenken oder sie in der Polizeiarbeit zu relegitimieren? Das ignoriert Fragen des Ausmaßes. Es verstrickt uns in Debatten darüber, welche Investitionen die Polizeiarbeit verbessern werden, während es die grundlegende Rolle der Gewalt in der Polizeiarbeit und ihre immense Macht 85 Siehe dazu Friedman, Unwarranted, S. 5 (»Die Befugnis zur Ausübung von Gewalt und Überwachung definiert das Polizieren im Wesentlichen. Beamte erhalten diese Befugnisse, weil das Polizieren unerlässlich ist: Die Gesellschaft kann nicht ohne elementare Ordnung funktionieren«); Otis S. Johnson, »Two Worlds. A Historical Perspective on the Dichotomous Relations Between Po­ lice and Black and White Communities«, in: Human Rights, 42 (2016), S. 6-9 (»Die Verfügungsgewalt der Polizei umfasst die legitimierte Anwendung von Gewalt. Diese legitimierte Gewaltanwendung dient der Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung, der Wahrung des Friedens und dem Dienst und Schutz der Bevölkerung«). Siehe dazu Jocelyn Simonson, »The Place of ›the People‹ in Criminal Procedure«, in: Columbia Law Review, 119/1 (2019), S. 249-308 (»Dies ist das Rückgrat einer bestimmten Auffassung von Rechtsstaatlichkeit, in der Verfahrensregeln und Strafgesetze von demokratisch gewählten Gesetzgebern festgelegt werden und Richter:innen und andere Akteur:innen im Gerichtssaal diese Regeln dann in einer wertfreien und einheitlichen Weise durchsetzen«).

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verschleiert, die im Kern in ihrer Straffreiheit liegt.86 Infolgedessen schreiben Rechtswissenschaftler:innen der Polizei die primäre Rolle zu, große Teile unserer am meisten gefährdeten Bevölkerung durch Gewalt und Androhung von Gewalt zu kontrollieren. Es ist jedoch unmöglich, Polizeigewalt zu beseitigen, ohne die zentrale Rolle von Gewalt für ihre Funktion oder das Ausmaß, die Geschichte und die Macht dieser Institution anzuerkennen. In diesem Abschnitt skizziere ich vier typische Argumente dafür, dass gewisse Investitionen in die Polizei deren Funktion verbessern werden: mehr Demokratie, mehr Bürokratie, mehr Verfahrensgerechtigkeit und Ausbildung sowie mehr Werkzeuge und Technologie. Diese Skizzen erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern veranschaulichen vielmehr die grundlegenden Konturen der Argumente für Investitionen und ihre Grenzen. Mehr Demokratie. Eine Reihe von Forscher:innen verstehen das Problem des Strafrechtssystems und der Polizeigewalt als Ergebnis bürokratischer strafrechtlicher Institutionen, die von einer geeigneten demokratischen Kontrolle abgekoppelt sind.87 Ein Teil dieser Forscher:innen drängt auf mehr Demokratie beim Polizieren mit 86 Siehe Micol Siegel, Violence Work: State Power and the Limits of Police, Durham 2018, S. 9-23 (hier geht es um die Parallele zwischen Polizei und Militär als eine Art von Gewaltarbeit). 87 In einem von den Symposiumsteilnehmer:innen mitverfassten White Paper wurden der demokratisierende und der bürokratisierende Rahmen als die beiden primären Rahmen für eine Strafrechtsreform vorgestellt. Joshua Kleinfeld u. a., »White Paper of Democratic Criminal Justice«, in: Northwestern University Law Review, 111 (2017), S. 1693-1706 (hier wird der demokratisierende Rahmen beschrieben, der das Problem des Strafrechtssystems als in »einer Reihe von bürokratischen Einstellungen, Strukturen und Anreizen verwurzelt sieht, die von den Anliegen und dem Rechtsempfinden der amerikanischen Öffentlichkeit abgekoppelt sind«); siehe auch Stephanos Bibas, »Restoring Democratic Moral Judgment Within Bureaucratic Criminal Justice«, in: Northwestern University Law Review, III (2017), S. 1677-1692 (»Die bürokratische Realität vernachlässigt die öffentlichen Ideale«). Siehe insgesamt das »Democratizing Criminal Jus­tice Symposium« der Northwestern University Law Review, 111 (2017). Siehe auch William J. Stuntz, The Collapse Of American Criminal Justice, Cambridge 2011 (Stuntz kritisiert die zunehmende Professionalisierung und Spezialisierung und fordert mehr demokratische und lokale Kontrolle des Gefängnissystems). Eine umsichtige Kritik der Demokratisierer:innen findet sich bei John Rappaport, »Some Doubts About ›Democratizing‹ Criminal Justice«, in: The University of Chicago Law Review, 87 (2020), S. 711-814.

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dem Schwerpunkt auf einer stärkeren Beteiligung der Öffentlichkeit an der Strafverfolgung.88 Diese Demokratiereformen nehmen oft die Form von rechtsstaatlichen Innovationen oder Community Policing (polizeiliche Strategie aus den USA, die vor allem auf die Verbesserung der Beziehungen zwischen Polizei und communities abzielt) und ziviler Kontrolle an.89 88 Richard A. Bierschbach, »Fragmentation and Democracy in the Constitutional Law of Punishment«, in Northwestern University Law Review, 111 (2017), S. 14371454 (Bierschach meint, wir sollten mehr dafür tun, dass »unterschiedliche Stimmen [innerhalb des Strafrechtssystems] Gehör finden«); Kleinfeld, »Manifesto of Democratic Criminal Justice«, S. 1394 (Kleinfeld vertritt die These, dass Demokratisierer:innen sich gegen eine übermäßige Abhängigkeit von der Bürokratie und für Deliberation, Partizipation und individuelle Freiheit einsetzen sollten); Joshua Kleinfeld, »Three Principles of Democratic Criminal Justice«, in: North­ western University Law Review, III (2017), S. 1455-1490, hier S. 1455, S. 1457, (»Die Verwaltung und Durchsetzung des Strafrechts sollte so gestaltet sein, dass Laien daran teilnehmen können«); siehe auch Alex S. Vitale, »Grenzen der Polizeirefom«, im vorliegenden Band (Vitale bewertet föderale Interventionen, einschließlich Consent Decrees, als Reformansätze); Butler, »The System Is Working the Way It Is Supposed To« (Butler zeigt die Grenzen der Untersuchungsmethoden des Justizministeriums auf ); Janet Moore, »Democracy Enhancement in Crim­inal Law and Criminal Procedure«, in: Utah Law Review, 543 (2014), S. 543612 (»Aktivismus von Menschen mit niedrigem Einkommen und people of color sind ein wichtiger Faktor für eine breitere demokratische Grundlage des Strafrechts und des Strafverfahrens«); Patel, »Toward Democratic Police Reform« (Patel untersucht den umstrittenen Prozess, wenn communities sich mit den Consent Decrees des Justizministeriums auseinandersetzen); Simonson, »Copwatching«, (Simonson theoretisiert das Copwatching als eine agonistische Form der öffentlichen Beteiligung am Polizieren). 89 Zu einer frühen Position, die den demokratischen Reformansatz für die Polizei definiert, siehe David Alan Sklansky, »Police and Democracy«, in: Michigan Law Review, 103 (2005), S. 1699-1830 (Sklansky vertritt die These, dass demokratisches Polizieren vieles bedeuten kann: »prozedurale Korrektheit und die ›Rechtsstaatlichkeit‹«; »gewisse substantielle Rechte«; »Volksbeteiligung am Polizieren« durch zivile Kontrolle oder Community Policing; oder »service-style«-Polizieren); siehe auch David Alan Sklansky, Democracy and The Police 3-4, Stanford 2008; Stephanos Bibas, »Transparency and Participation in Criminal Procedure«, in: New York University Law Review, 81 (2006), S. 911-966 (Bibas erforscht Formen der stärkeren Beteiligung der Öffentlichkeit an der Strafverfolgung); Erik Luna, Race, »Crime and Institutional Design«, in: Law and Contemporary Problems, 66 (2003), S. 183-220 (Luna untersucht Fragen des institutionellen Aufbaus einer demokratischeren Polizei); Erik Luna, »Transparent Policing«, in: Iowa Law Review, 85 (2000), S. 1107-1194 (Luna vertritt die These, dass mehr Transparenz das Polizieren »demokratischer und vertrauenswürdiger« machen würde). Es gibt auch

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Stimmen, die eine stärkere demokratische Einflussnahme durch neue Gesetze oder Verordnungen fordern, die versuchen, den Handlungsspielraum der Polizei zu regulieren, weichen tieferen Fragen der rassifizierten Ordnung und der zentralen Rolle von Polizei und Gefängnissen bei der Aufrechterhaltung des rassifizierten und klassifizierten Status quo aus.90 Einflussreiche Teile der Bevölkerung haben einem demokratischen System zugestimmt, das die Polizei ermächtigt, arme, schwarze und braune Menschen zu sanktionieren.91 Im Grunde produzieren unsere demokratischen Institutionen Polizeigewalt in dem Maße, wie oberflächlich, gefangen, rassifiziert und klassenbasiert unsere Demokratie ist.92 die Forderung nach konstitutionellem Polizieren. Siehe dazu Samuel Walker, »Governing the American Police. Wrestling with the Problems of Democracy«, in: University of Chicago Legal Forum (2016), S. 615-660. 90 Siehe zum Beispiel Friedman, Unwarranted, S. xii, S. 16 (Friedman stellt fest, dass das Polizieren nicht mit »dem Rest der Regierung« vereinbar ist, wo »demokratisches Regieren an erster Stelle steht«). Das »typische Ermächtigungsgesetz einer Polizeibehörde« autorisiert die Behörde, »das Strafrecht durchzusetzen – sagt aber wenig oder nichts darüber aus, wie dies zu tun ist«; ebd. S. 16. Friedmans Buch ist voller packender Schilderungen entgleister Polizeigewalt, und er bemüht sich sehr zu zeigen, dass diese Geschichten eher alltäglich als außergewöhnlich sind; siehe ebd., S. 7-11. Zu der Forderung, die Polizeiarbeit einer stärkeren demokratischen Einflussnahme zu unterwerfen, siehe Friedman/Ponomarenko, ­»Democratic ­Policing«, S. 22. Friedmans Lösung sind »Regeln, die aufgestellt werden, bevor die Beamten handeln, Regeln, die öffentlich sind, Regeln, die unter Beteiligung der Öffentlichkeit aufgestellt werden«; Friedman, U ­ nwarranted, S. 20. f. Wie der Gefängnisstaat Menschen aus formeller demokratischer Partizipation ausschließt, zeigt Michelle Alexander, The New Jim Crow; Beth A. ­Colgan, »Wealth-Based ­Penal Disenfranchisement«, in: Vanderbilt Law Review, 72 (2019), S. 55-190 (Colgan untersucht, wie die mangelnde Zahlungsfähigkeit bei wirtschaftlichen Sanktionen, die in Strafprozessen verhängt werden, Menschen in achtundvierzig Staaten, die diese Regelung zulassen, vom Wahlrecht ausschließen kann); Anna Roberts, »Casual Ostracism. Jury Exclusion on the Basis of Criminal Convictions«, in: Minnesota Law Review, 98 (2013), S. 592-647. 91 Im letzten Kapitel seines Buches geht Friedman kurz auf diesen Widerspruch ein und stellt fest: »Mehrere der Übel des Polizierens heute sind das Produkt der Demokratie selbst. [...] Das potentielle Problem mit der demokratischen Lenkung des Polizierens ist, dass es nicht alle Teile der Gesellschaft gleichermaßen betrifft.« Friedman, Unwarranted, S. 317. 92 Friedman weist darauf hin, dass der Einfluss von Polizei und Staatsanwaltschaft im Verhältnis zu anderen Akteur:innen im Strafprozess übergroß ist. Die Strafverfolgungsbehörden – mittels der Polizeichef:innen, aber insbesondere der Polizeigewerkschaften – sind eine gut organisierte und strategische »starke Kraft«, die

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Forderungen nach Community Policing und ziviler Kontrolle übersehen die Kritik und die mangelnde Evidenz darüber, ob beides die Polizeigewalt oder -macht eindämmt.93 Viele Darstellungen – in Disziplinen wie Soziologie, Geschichte, Politikwissenschaft und American and Black Studies – rahmen Community Policing als zen­ tralen Versuch der Regierung, die Polizei inmitten der Aufstände der 1960er Jahre zu relegitimieren.94 Anstatt sich direkt mit den Problemen der Polizeigewalt, der Entfremdung und der wirtschaftlichen Ungleichheit auseinanderzusetzen, investierte der Staat in Community Policing, um die Kontrolle zurückzugewinnen.95 Tatsächlich begann Community Policing als Reform und wird heute als zentral für das Wachstum des Polizierens und dessen Gewalt angesehen.96 Noch gravierender ist, dass der Ansatz »mehr Demokratie« die antidemokratische Natur des Gefängnisstaates nicht berücksichtigt.97 Polizei und Gefängnisse schließen Menschen aus formelWiderstand gegen jede Reglementierung der Polizeibefugnisse leistet, der schwer zu »überwinden« ist. Friedman, Unwarranted, S. 61 f., S. 103 (»Wenn Gesetze vorgeschlagen werden, die die Polizeiarbeit betreffen, treten Polizei und Staatsanwält:innen sofort in Aktion. [...] Das Ziel ihrer Lobbyarbeit ist es, in Ruhe gelassen zu werden, um ihre Arbeit zu tun: mehr Einfluss und weniger Regulierung. [...] Auf der anderen Seite sind die Menschen, die vom Polizieren betroffen sind, normalerweise nicht so organisiert – oder überhaupt nicht organisiert«). 93 Siehe dazu Harcourt, »Reflecting on the Subject«; »Mission Failure. Civilian Review of Policing in New York City – Summary of Findings, 〈https://www.nyclu. org/en/mission-failure-civilian-review-policing-new-york-city-summary-find ings〉, letzter Zugriff 27. 6. 2021. 94 Siehe dazu Elizabeth Hinton, From The War On Poverty To The War On Crime. The Making Of Mass Incarceration In America, Cambridge 2016, S. 113 f., S. 187 ff.; Christina Heatherton, »The Broken Windows of Rosa Ramos. Neoliberal Policing Regimes of Imminent Violability«, in: Leela Fernandes (Hg.), Feminists Rethink The Neoliberal State, New York 2018, S. 165, S. 177; siehe auch Maya Schenwar, Victoria Law, Prison By Any Other Name: The Harmful Consequences Of Popular Reforms, New York 2020, S. 148-154; Kristian Williams, Our Enemies In Blue, Oakland 2015, S. 330-342. 95 Ebd. 96 Herzing, »Big Dreams and Bold Steps Toward a Police-Free Future«. 97 Siehe Simonson, »Democratizing Criminal Justice through Contestation and Resistance«, S. 1610 (Simonson beschreibt mehrere antidemokratische Strömungen innerhalb des Gefängnisstaates). Indem er sich auf die Opposition und den Widerstand gegen den Gefängnisstaat konzentriert, schlägt Simonson einen anderen Weg ein als den konventionellen Rahmen der demokratischen Reform; ebd. S. 1612.

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len politischen Kanälen und aus anderen Bereichen aus. Die Inhaftierung entzieht eine Person ihrer Familie und community und untergräbt ihre Fähigkeit, sich am staatsbürgerlichen Leben zu beteiligen. Regierungen setzen Verhaftungen und Vorstrafen ein, um Menschen das Recht zu verweigern, zu wählen, an einer Jury teilzunehmen, eine legale Arbeit zu finden oder staatliche Leistungen zu erhalten; Verhaftungen und Vorstrafen »können darüber hinaus Gründe für Zwangsräumung, Abschiebung, Führerscheinentzug und den Verlust von Freiheitsrechten sein«.98 Die Massenkriminalisierung erzeugt solch »außergewöhnliche Kontaktraten« zwischen Strafrechtsinstitutionen und der Bevölkerung, dass die Gefängnisse und die Polizei eine zentrale Rolle bei dem Verständnis von Staatsbürgerschaft und den Erwartungen an den Staat unter den »inhaftierten Bürger:innen« spielen.99 Für so viele Menschen ist der Kontakt mit dem Strafrechtssystem eine demobilisierende Kraft, die eher zu ihrer »Abwesenheit als zu ihrer Präsenz im politischen Mainstream führt«.100 Es ist ein Widerspruch in sich, die Demokratisierung von Polizeiarbeit zu fordern, ohne sich mit der zentralen Rolle des Gefängnisstaates auseinanderzusetzen, der vor allem schwarzen, braunen und armen Menschen die Teilhabe an formellen demokratischen Kanälen und am zivilen und kommunalen Leben verwehrt – ganz zu schweigen davon, dass er die Umstände ihres Lebens und ihrer Teilhabe an ihren communities bestimmt.101 Und freilich ist dies nur die Spitze des Eisbergs, wenn   98 Siehe dazu Amy E. Lerman, Vesla M. Weaver, Arresting Citizenship. The Dem­ ocratic Consequences Of American Crime Control, Chicago, London 2014, S. 7; Eisha Jain, »Arrests as Regulation«, in: Stanford Law Review, 67 (2015), S. 809867; Roberts, »Casual Ostracism. Jury Exclusion on the Basis of Criminal Convictions«; Joe Soss, Vesla Weaver, »Police Are Our Government. Politics, Political Science, and the Policing of Race-Class Subjugated Communities«, in: Annual Review of Political Science, 20 (2017), S. 565-591, hier S. 565.  99 Lerman/Weaver, Arresting Citizenship, S. 8-12. 100 Traci Burch, Trading Democracy for Justice. Criminal Convictions And The De­ cline Of Neighborhood Political Participation, Chicago, London 2013, S. 1 f.; siehe auch Alexandra Natapoff, »Speechless. The Silencing of Criminal Defendants«, in: New York University Law Review, 80 (2005), S. 1449-1504 (die die These vertritt, dass das Zum-Schweigen-Bringen von Angeklagten ein »massives demokratisches und menschliches Versagen« seitens des Strafrechtssystems darstellt). 101 Burch, Trading Democracy for Justice, S. 1 f. (Burch konstatiert, dass die Polizei und andere Aspekte des Strafrechtssystems »unverhohlen eingesetzt wurden,

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man die zentrale Rolle des Geldes in der Politik und die zentrale Rolle der Kriminalisierung bei der Aufrechterhaltung der ökonomischen Stratifizierung bedenkt.102 Mehr Bürokratie. Andere Forscher:innen fordern mehr Eingriffe durch Bürokratie und Sachverständige und bringen das Problem mit dem Strafrecht und den öffentlichen Sanktionsimpulsen in Verbindung; diese Impulse, so argumentieren sie, erzeugen nicht die optimalen gesellschaftlichen Ergebnisse.103 Diese Forscher:innen behaupten, dass von oben nach unten gerichtete, datenorientierte und expert:innenengesteuerte Institutionen, Prozesse und Richtlinien den Ermessensspielraum der Polizei einschränken und die Inhaftierung eindämmen werden.104 Bürokratische Kontrolle um die politische Mobilisierung bestimmter Gruppen oder Individuen zu verhindern«). 102 Siehe Bell, »Hidden Laws«, S. 8-15 (Bell deckt den Zusammenhang zwischen Kriminalisierung, Armut und der Kriminalisierung von Armut auf ); Michael Klarman, »The Degradation of American Democracy – and the Court«, in: Harvard Law Review, 134 (2020), S. 1-264 (Klarman zeigt auf, wie der Wohlstand Recht und Politik in den USA dominiert); siehe auch McLeod, »Abolitionistische Demokratien entwerfen«, im vorliegenden Band (McLeod erläutert, wie abolitionistische Aktivist:innen die Verbindungen zwischen »Strafprozess zu ökonomischer Gerechtigkeit und demokratischer politischer Wirtschaftsreform« aufgreifen). 103 Siehe dazu Barkow, Prisoners of Politics, S. 4 f. (»Laien werden stets emotional auf gewisse schwerwiegende Verbrechen reagieren, was sie dazu verleitet, immer schärfere Strafen zu fordern, ohne den Details genügend Aufmerksamkeit zu schenken. Politiker:innen werden dabei immer versuchen, Wähler:innenstimmen zu gewinnen, indem sie solche Ängste schüren und die öffentlichen Bedenken und Institutionen mit immer härteren Maßnahmen bedienen, anstatt eine Politik zu verfolgen, die die öffentliche Sicherheit effektiver gewährleistet«); John Rappaport, »Second-Order Regulation of Law Enforcement«, in: California Law Review, 103 (2015), S. 205-272; Lauren M. Ouziel, »Democracy, Bureaucracy and Criminal Justice Reform«, in: Boston College Law Review, 61 (2020), S. 523-590 (Ouziel bezieht sich auf die Verwebung von Demokratie und Bürokratie); Christopher Slobogin, »Policing as Administration«, in: University of Pennsylvania Law Review, 165 (2016), S. 91-152 (Slobogin fordert, dass die Behörden bestimmte Formen polizeilicher Kontrolle vorher ankündigen und kommentieren, um eine öffentliche Beteiligung zu gewährleisten). 104 Siehe dazu Barkow, Prisoners of Politics, S. 1-12 (Barkow lehnt »eine Politik ab, die an die Emotionen von Wähler:innen appelliert, denen es an grundlegenden Informationen über Kriminalität mangelt«, zugunsten »einer institutionellen Struktur, die Raum für Expert:innen schafft, die sich mit Fakten und Daten be-

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wird ein System rationaler machen, das sie in ihren Ergebnissen als irrational charakterisieren.105 In diesem Argument bilden die Öffentlichkeit und die Politik Kräfte der strafenden Irrationalität, während Expert:innen und Daten die Rationalität vertreten. Expert:innenvernunft und Rationalität wiederum repräsentieren die wahren Interessen der Öffentlichkeit. Aber dieses Argument stellt Politik und Vernunft fälschlicherweise gegeneinander. Es verschleiert auch die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Kontexte, in denen Politik entsteht und ausgefochten wird.106 Diese Bereiche sind nicht voneinander getrennt. Politik hat eine Vernunft, und was als vernünftig und rational gilt, ist politisch. Außerdem spielen einflussreiche Eliten eine zentrale Rolle im Wachstumsprozess von Polizeigewalt und Inhaftierung. Bürokratie und Demokratie – Expert:innen, Öffentlichkeit, Politik und Daten – haben uns überhaupt erst in den Schlamassel der Massenkriminalisierung gestürzt.107 Es wird eine Umwälzung unserer Auffassungen von Verbrechen, Bestrafung und Expertise erfordern, um die Massenkriminalisierung zu beenden und Polizeigewalt zu verhindern.108 Mehr Verfahrensgerechtigkeit. Verfahrensgerechtigkeit ist ein Ansatz, der sich im Wesentlichen mit der Legitimität und Autorität fassen, um eine Politik zu entwickeln, die die öffentliche Sicherheit verbessert«.) Das Problem, so die »Bürokratisierer:innen«, bestehe darin, dass das Strafrecht »größtenteils auf der Grundlage von Emotionen und den Bauchgefühlen von Laien festgelegt wird«, und die Lösung liege daher in sachkundigeren, professionelleren und datengesteuerten Lösungen. Siehe Barkow, Prisoners of Politics, S. 1; siehe auch Kleinfeld, »Manifesto of Democratic Criminal Justice«, S. 1367. (Kleinfeld charakterisiert die Befürworter:innen der Bürokratie als »Befürworter:innen einer formalen Regelbefolgung und/oder technischen Expertise, die das Strafrecht und die Verwaltung als ein angemessenes Werkzeug des instrumentell rationalen Sozialmanagements betrachtet«.) 105 Ebd., S. 5, S. 22-34, S. 38-53. 106 Ebd. S. 6 ff. Eine hilfreiche Rezension zu Barkow findet sich bei Benjamin Levin, »De-Democratizing Criminal Law«, in: Criminal Justice Ethics, 39 (2020), S. 74-90. 107 Siehe Lynn Adelman, »What The Sentencing Commission Ought To Be Doing. Reducing Mass Incarceration«, in: Michigan Journal of Race and Law, 18 (2013), S. 295-316. 108 Über die Neubestimmung der Erfahrung von armen, schwarzen und braunen Menschen, die am häufigsten mit der Polizei zu tun haben, siehe Simonson, »Police Reform Through a Power Lens«.

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der Polizei befasst.109 Verfahrensgerechtigkeit basiert auf zwei Argumenten. Erstens leisten Menschen der Polizei Folge und unterstützen sie, wenn sie die Polizei als legitim wahrnehmen.110 Zweitens nehmen Menschen die Polizei als legitim wahr, wenn die Polizei sie auf verfahrensrechtlich gerechte Weise behandelt: mit Würde, Neutralität und der Möglichkeit, gehört zu werden.111 Befürwor109 Die Verfahrensgerechtigkeit nimmt in der Wissenschaft und in den Reformbemühungen der Polizei einen wichtigen Platz ein. Bell, »Police Reform«, S. 2058 ff. Die »President’s Task Force on 21st Century Policing« der Obama-Ära beispielsweise stellte in ihrem Abschlussbericht die Verfahrensgerechtigkeit als normativen Rahmen in den Mittelpunkt. »President’s Task Force on 21st Century Policing, Final Report of the President’s Task Force on 21st Cen­tury Policing«, 〈https://cops.usdoj.gov/pdf/taskforce/taskforce_finalreport.pdf〉, letzter Zugriff 26. 7. 2021 (hier wird die Aussage getroffen, dass Transparenz und Rechenschaftspflicht wichtig sind, »um öffentliches Vertrauen und Legitimität aufzubauen«). Die Befürchtung ist, dass die Kriminalitätsrate zwar gesunken ist, die Legitimität der Polizei in der Bevölkerung aber nicht gestiegen ist. Und schwarze und andere people of color haben eine deutlich schlechtere Meinung von der Polizei als Weiße. Siehe Tom R. Tyler, »From Harm Reduction to Community Engagement: Redefining the Goals of American Policing in the Twenty-First Century«, in: Northwestern University Law Review, 111 (2017), S. 1537-1564. Diese Krise äußert sich in »der mangelnden Bereitschaft der Öffentlichkeit, sich der Polizeiautorität in bestimmten Situationen zu fügen, in denen der öffentliche Unmut und die Wut zu einer Eskalation der Gewalt geführt haben«. Insbesondere »Angehörige von Minderheiten widersetzen sich mit größerer Wahrscheinlichkeit polizeilichen Anordnungen und der damit verbundenen Gewalt«. Tom R. Tyler u. a., »Street Stops and Police Legitimacy. Teachable Moments in Young Urban Men’s Legal Socialization«, in: Journal of Empirical Legal Studies, 11 (2014), S. 751-785 (Tyler vertritt die These, dass junge Männer, die häufig von der Polizei angehalten werden, die Angemessenheit des polizeilichen Verhaltens in Frage stellen und daher die Polizei möglicherweise als weniger legitim ansehen). 110 Siehe Jeffrey Fagan u. a., »Street Stops and Police Legitimacy in New York«, in: Thierry Delpeuch, Jacqueline E. Ross (Hg.), Comparing the Democratic Governance of Police Intelligence, Cheltenham, Northampton 2016, S. 203, S. 217 (sie haben beobachtet, dass Personen, die von der Polizei verfahrensmäßig korrekt behandelt werden, eher bereit sind, das Gesetz zu befolgen, und seltener glauben, dass sie Profiling oder Misshandlung erfahren haben). 111 Siehe »President’s Task Force on 21st Century Policing«, S. 9 f. (»Die Menschen halten sich eher an das Gesetz, wenn sie glauben, dass diejenigen, die es durchsetzen, die legitime Autorität haben, ihnen zu sagen, was sie tun sollen. Aber die Öffentlichkeit verleiht nur denjenigen Legitimität, von denen sie glaubt, dass sie auf verfahrensmäßig korrekte Weise handeln«); Fagan u. a., »Street Stops and Police Legitimacy in New York«, S. 203, S. 212 f. (»Wenn wir den

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ter:innen der Verfahrensgerechtigkeit halten die Polizei dazu an, die Wahrnehmung von Fairness zu fördern, um Legitimität zu erzeugen, was wiederum die Gesetzestreue der Bevölkerung fördern soll.112 Nicht nur Rechtswissenschaftler:innen haben die Grenzen der Verfahrensgerechtigkeit aufgezeigt und ernsthafte Bedenken hinsichtlich der Eindämmung polizeilicher Gewalt und deren Konzentration in armen, schwarzen und braunen Gemeinden geäußert.113 Die Ansichten der Bürger:innen über eine konkrete Polizeibegegnung werden durch ihre eigene Geschichte der Interaktion mit staatlichen Behörden, wie zum Beispiel Rettungskräften oder Gefängnismitarbeiter:innen, sowie durch den Ruf und die Diskriminierungserfahrungen der Polizeibehörde beeinflusst.114 Darüber ­hinaus messen die Polizeibehörden nicht, wie »verfahrensgerecht« sie sind, und ziehen die Polizist:innen nicht dafür zur Rechenschaft.115 Begriff ›Legitimität‹ verwenden, meinen wir die Eigenschaft einer Regel oder einer Instanz, bei der sich Menschen verpflichtet fühlen, sich freiwillig dieser Regel oder Instanz zu unterwerfen. Eine legitime Instanz ist eine, von der die Menschen annehmen, dass sie einen Anspruch darauf hat, dass ihre Regeln und Entscheidungen von anderen akzeptiert und befolgt werden«); Aziz Z. Huq u. a., »Why Does the Public Cooperate with Law Enforcement? The Influence of the Purposes and Targets of Policing«, in: Psychology Public Policy And Law, 17 (2011), S. 419-450 (sie erweitern das Modell der Verfahrensgerechtigkeit auf muslimische Bevölkerungsgruppen im Zusammenhang mit der polizeilichen Terrorismusbekämpfung); siehe auch Bell, »Police Reform«, S. 2073 ff. 112 »President’s Task Force On 21st Century Policing«, S. 12 (der Bericht empfiehlt Transparenz und Rechenschaftspflicht als wichtig für den »Aufbau von öffentlichem Vertrauen und Legitimität«). Außerdem könne Verfahrensgerechtigkeit »mehr demokratische Beteiligung an der Regierung fördern«. Tracey Meares, »Policing and Procedural Justice. Shaping Citizens’ Identities to Increase ­Democratic Participation«, in: Northwestern University Law Review, 111 (2017), S. 1525-1536. 113 Bell, »Police Reform«, S. 2100-2026; siehe auch dies., »Hidden Laws«; Bell, »Situational Trust«; dies., »Safety, Friendship, and Dreams«, in: Harvard Civil Rights – Civil Liberties Law Review, 54 (2019), S. 703-740. 114 Siehe Robert E. Worden, Sarah J. Mclean, Mirage Of Police Reform. Procedural Justice And Police Legitimacy, Oakland 2017, S. 185; Russell K. Robinson, »Perceptual Segregation«, in: Columbia Law Review, 108 (2008) S. 1093-1180. 115 Ebd., S. 8. Außerdem wird das, was als gerecht oder befangen wahrgenommen wird, grundlegend durch unsere rassistischen und genderspezifischen Erfahrungen geprägt. Siehe Robinson, »Perceptual Segregation«.

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Nichtsdestotrotz setzen sich die Befürworter:innen für Schulungen zur Verfahrensgerechtigkeit für die Polizei ein.116 Aber die Schulungen sind Teil des Problems.117 Sie bereiten die Polizei darauf vor, »jedes Individuum, mit dem sie interagiert, als bewaffnete Bedrohung zu behandeln und jede Situation als eine zu erwartende Begegnung mit tödlicher Gewalt zu betrachten«.118 Durch die Schulungen entstand die Auffassung, dass die Polizei eine besondere Expertise in der Verbrechensbekämpfung entwickelt, eine Art institutionelle Kompetenz, auf die die Gerichte Rücksicht nehmen sollten – wodurch ihre Macht und ihr Zuständigkeitsbereich auf andere Weise wachsen.119 Abgesehen von Schulungen argumentieren einige, dass die Polizei zu einem Modell der Verfahrensgerechtigkeit übergehen sollte, das sich auf den Aufbau von »sozialer Kontrolle, Solidarität und Zusammenhalt«120 konzentriert. Aber es ist absolut unklar, wie die 116 Siehe dazu »President’s Task Force On 21st Century Policing«, S. 11 (der Bericht schlägt vor, dass die Schulungen Material über unbewusste Vorurteile enthalten sollten); Bell, »Police Reform«, S. 2061 f.; Tyler, »From Harm Reduction to Community Engagement«, S. 1555 f. 117 Die Polizei erhält bereits ein umfangreiches Training und dieses Training fördert Gewalt eher, als dass es sie unterbindet. Carbado, »Blue-on-Black Violence«, S. 1513 ff.; siehe auch Vitale, »Grenzen der Polizeirefom«. 118 Seth Stoughton, »Law Enforcement’s ›Warrior‹ Problem«, in: Harvard Law Review Forum, 128 (2015), S. 225-234. Diese Schulungen sind von zentraler Bedeutung für die »Betonung der Anwendung von tödlicher Gewalt«; Vitale, »Grenzen der Polizeirefom«. Es gibt keine »Standards oder Messwerte, um die Effektivität« dieser Schulungen zu messen; Al Baker, »Confronting Implicit Bias in the New York Police Department«, in: The New York Times, 15. 7. 2018, 〈https://www.nytimes.com/2018/07/15/nyregion/bias-training-police.html〉; siehe auch Tom Bartlett, »Can We Really Measure Implicit Bias? Maybe Not«, in: The Chronicle of Higher Education, 5. 1. 2017, 〈https://www.chronicle. com/article/can-we-really-measure-implicit-bias-maybe-not〉, letzter Zugriff 26. 7. 2021 (Bartlett fragt nach dem Zusammenhang zwischen »impliziter Voreingenommenheit und diskriminierendem Verhalten«). 119 Lvovsky, »The Judicial Presumption of Police Expertise«, S. 2006 ff. 120 Tyler, »From Harm Reduction to Community Engagement«, S. 1552 f. Dieser Ansatz spiegelt die Idee wider, von der:dem Kampfpolizist:in zum:r Schutzpolizist:in überzugehen. Siehe Megan Quattlebaum u. a., »Justice Collaboratory, Yale Law School, Principles Of Procedurally Just Policing«, S. 6, S. 29 f., 〈https:// perma.cc/9SW8-88LK〉 (eine Aufforderung an die Beamt:innen, als Hüter:innen zu fungieren, um eine verfahrensmäßig gerechte Polizeiarbeit zu gewährleisten); Seth W. Stoughton, »Principled Policing. Warrior Cops and Guardian

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Polizei sozialen Zusammenhalt in den schwarzen, braunen und armen communities aufbauen kann, in denen die Polizei das geringste Vertrauen und die geringste Wahrnehmung von Legitimität, aber die größte Handlungsfreiheit hat. Es ist ebenso undurchsichtig, wie eine Einrichtung, deren primäre Werkzeuge Zwang, Gewalt, Gefängnis und monetäre Konsequenzen sind, zu einem Motor für einen solchen Zusammenhalt werden kann.121 Argumente, dass die Polizei zu einer Kraft für sozialen Zusammenhalt wird, gehen nicht auf die Befugnis und Funktion im Kern der Polizei ein, zu verhaften, vorzuladen, einzukerkern und zu töten. Sie ziehen nicht ernsthaft in Betracht, den Einflussbereich der Polizei zu beschneiden oder in alternative Formen der sozialen Absicherung zu investieren. Am beunruhigendsten ist vielleicht, dass verfahrensrechtliche Gerechtigkeitskonzepte die polizeiliche Legitimität und die Rechtstreue der Bürger:innen gegenüber der Polizei als zentrale Ziele der Reform in den Mittelpunkt stellen. Legitimität und Gesetzestreue sind keine Mittel, um die Macht der Polizei zu beschneiden oder den übergeordneten Gesellschaftsvertrag, innerhalb dessen die Polizei agiert, in Frage zu stellen. Mehr Ausrüstung und Technologie. Die Forderung nach mehr Ausrüstung und Technologie ist weit verbreitet und spiegelt die Überzeugung wider, dass die Polizei ihre Arbeit mit mehr Hilfsmitteln oder Informationen besser ausführen könnte.122 Selbst wenn Officers«, in: Wake Forest Law Review, 51 (2016), S. 611-676 (»Die Grundprinzipien der Polizeiarbeit müssen so angepasst werden, dass sich die Sichtweise der Beamt:innen auf ihren Job und ihre Beziehung zur community ändert«). 121 Die Idee, dass die Polizei sozialen Zusammenhalt aufbauen kann, ruft die Debatten über Broken Windows und Community Policing vor einigen Jahrzehnten in Erinnerung. Zu einer Zusammenfassung dieser Debatten siehe Amna Akbar, »National Security’s Broken Windows«, in: UCLA Law Review, 62 (2015), S. 833-907, sowie Tom Tyler, »What Are Legitimacy and Procedural Justice in Policing? And Why Are They Becoming Key Elements of Police Leadership?«, in: Craig Fischer (Hg.), Legitimacy and Procedural Justice: A New Element of Police Leadership, 〈https://www.ojp.gov/ncjrs/virtual-library/abstracts/legitima cy-and-procedural-justice-new-element-police-leadership〉, letzter Zugriff 3. 7. 2021 (Tyler plädiert für eine »Ausweitung der Ideen, die ›Community Po­ licing‹ in den letzten Jahrzehnten definiert haben«). 122 Zu einer Reihe von weitgehend befürwortenden Äußerungen zu Körperkameras, mit einigen Vorbehalten, siehe Anthony A. Braga u. a., »The Effects of Body-Worn Cameras on Police Activity and Police-Citizen Encounters. A Randomized Controlled Trial«, in: Journal of Criminal Law and Criminology, 108

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Rechtswissenschaftler:innen Bedenken wegen des polizeilichen Zugriffs auf große Datenmengen haben, ziehen sie es vor, Vorschriften zu entwickeln, die den Zugriff regeln, anstatt ihn gänzlich zu beschränken.123 Einige Rechtswissenschaftler:innen haben jedoch (2018), S. 511-538 (sie erkennen an, dass Körperkameras in einem »informationsarmen Umfeld« eingesetzt wurden, in dem ihre Folgen und Auswirkungen auf die Bevölkerung und die Polizei ungewiss sind); Roseanna Sommers, »Will Putting Cameras on Police Reduce Polarization?«, in: Yale Law Journal, 125 (2016), S. 1304-1363 (eine Befürwortung des Status quo); Seth W. Stoughton, »Police Body-Worn Cameras«, in: North Carolina Law Review, 96 (2018), S. 1363-1424 (Stoughton fordert »angemessene Richtlinien, Verfahren, Schulungen und Überwachung« bei der Implementierung von Körperkameras, um deren positiven Nutzen zu maximieren und deren Nachteile zu minimieren); Howard M. Wasserman, »Moral Panic and Body Cameras«, in: Washington University Law Review, 92, (2015), S. 831-844 (Wasserman räumt ein, dass Körperkameras ihre Vor- und Nachteile haben, vertritt jedoch die These, dass ihre Befürwortung eine Reaktion auf die aus Ferguson resultierende moralische Panik sein könnte); Michael D. White, Henry F. Fradella, »The Intersection of Law, Policy, and Police Body-Worn Cameras. An Exploration of Critical Issues«, in: North Carolina Law Review, 96 (2018), S. 1579-1638 (sie befürworten Körperkameras, solange sich die Maßnahmen an die Richtlinien des Justizministeriums halten, weisen aber darauf hin, dass die Technologie die systemischen Probleme des polizeilichen Fehlverhaltens nicht lösen kann); Iesha S. Nunes, »›Hands Up, Don’t Shoot‹: Police Misconduct and the Need for Body Cameras«, in: Florida Law Review, 67/5 (2015), S. 1811-1843 (Nunes gibt an, dass die Ausstattung von Polizisten mit Körperkameras die Gewalt reduzieren und gleichzeitig die Rechenschaftspflicht und das öffentliche Vertrauen erhöhen wird). Positionen vor den Ereignissen Ferguson und Baltimore, die ebenfalls den Einsatz von Körperkameras unterstützen und qualifizieren, finden sich bei Ronald J. Bacigal, »Watching the Watchers«, in: Mississippi Law Journal, 82 (2013), S. 821-832 (Bacigal warnt davor, dass Technologien wie Körperkameras ein »zweischneidiges Schwert« sind, da sie »sowohl die Privatsphäre schützen als auch verletzen können«); David A. Harris, »Picture This. Body-Worn Video Devices (Heads Cams) as Tools for Ensuring Fourth Amendment Compliance by Police«, in: Texas Tech Law Review, 43 (2010), S. 357-372. (Harris befürwortet Körperkameras, vertritt aber die Ansicht, dass die Technologie keine »tief verwurzelten Missstände des polizeilichen Missbrauchs oder Fehlverhaltens lösen wird«.) 123 Siehe dazu Stephen E. Henderson, »A Few Criminal Justice Big Data Rules«, in: Ohio State Journal of Criminal Law, 15 (2018), S. 527-542; Christopher Slobogin, »Principles of Risk Assessment. Sentencing and Policing«, in: Ohio State Journal of Criminal Law, 15 (2018), S. 583-596. Zu einem umfassenderen Überblick über die zunehmende Verwendung von algorithmisch erzeugten Daten bei der Entscheidungsfindung im Strafrechtssystem siehe zum Beispiel Jessica M. Eaglin, »Predictive Analytics’ Punishment Mismatch«, in: S: A Journal of Law and Policy

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argumentiert, dass die Bereitstellung von mehr Technologie für die Polizei ihren Ermessensspielraum einschränkt und es ihr ermöglicht, ihre Energie auf tatsächliche Straftäter:innen zu konzentrieren und den Einfluss von »impliziten Vorurteilen« und »unbewusstem Rassismus« zu verringern oder zu beseitigen.124 Technologie – in Form von Kameras, Gesichtserkennungssoftware und Waffenscannern – kann diesen Forscher:innen zufolge »die polizeiliche Arbeit so verbessern, dass sich Wahrnehmung, Zusammenstöße, Polizeikontrollen und Durchsuchungen auf den tatsächlichen begründeten Verdacht einer Straftat richten und nicht auf die Rassifizierung«.125 Argumente für die Bereitstellung von mehr Instrumenten für prognostische Polizeiarbeit verschleiern eine doppelte Realität: dass for the Information Society, 14 (2017), S. 87-108; Sean Allan Hill II, »Bail Reform & the (False) Racial Promise of Algorithmic Risk Assessment«, in: UCLA Law Review, 910 (2021), S. 910-987; Sandra G. Mayson, »Bias In, Bias Out«, in: Yale Law Journal, 128 (2019), S. 2218-2301; Sandra G. Mayson, »Dangerous Defendants«, in: Yale Law Journal 127, (2017), S. 490-569. 124 I. Bennett Capers, »Race, Policing, and Technology«, in: North Carolina Law Review, 95 (2017), S. 1241-1292; siehe auch ders., »Techno-Policing«, in: Ohio State Journal of Criminal Law, 15 (2018), S. 495-502 (Capers erörtert, welche »technologischen Innovationen« das Ziel unterstützen könnten, »die Polizeiarbeit transparenter, verantwortlicher und egalitärer zu machen«); ders., »Crim­ inal Procedure and the Good Citizen«, in: Columbia Law Review, 118 (2018), S. 653-712 (Capers dokumentiert den rassifizierten Duktus der Strafprozessdoktrin des Obersten Gerichtshofs, der »darauf besteht, dass gute Bürger:innen die Präsenz von Polizeibeamt:innen begrüßen und es als ihre Pflicht ansehen sollten, sie zu unterstützen, selbst wenn dies bedeutet, Nachbar:innen, Familie und Freund:innen zu denunzieren«). Zu einer anderen Variante der Forderung nach mehr Technologie siehe Harmon, »Why Arrest?«. 125 Capers, »Race, Policing, and Technology«, S. 1276 f., S. 1279 (»Scanner könnten den Beamt:innen zum Beispiel sofort anzeigen, dass ein:e Verdächtige:r unbewaffnet ist, was oft genug ausreicht, um tödliche Gewalt zu vermeiden. Big Data könnte den Beamt:innen auch anzeigen, ob ein:e Verdächtige:r eine gewalttätige Vergangenheit hat oder sich der Festnahme widersetzt«); Kiel Brennan-Marquez, »Big Data Policing and the Redistribution of Anxiety«, in: Ohio State Journal of Criminal Law, 15 (2018), S. 487-494 (»Daten können die Polizei davon abhalten, sich auf bewusste oder unbewusste Vorurteile zu stützen, um ihre Entscheidungen zu treffen«); Mary D. Fan, »Body Cameras, Big Data, and Police Accountability«, in: Law & Social Inquiry, 43 (2018), S. 1236-1256 (Fan vertritt die These, dass Technologien wie Körperkameras »Licht auf vormals intransparente Praktiken werfen« und dadurch helfen können, problematische Verhaltensmuster zu erkennen und zu beheben).

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die Polizei bereits über eine Vielzahl leistungsstarker Technologien verfügt und dass bestehende rassistische Vorurteile durch Datenund Technologiesysteme eher verstärkt als gemindert werden.126 Von Abhörtechnologien wie StingRay und Tasern über Überwachungsdrohnen bis hin zu Gesichtserkennungssoftware – die Anzahl und Vielfalt der polizeilichen Instrumente ist von zentraler Bedeutung für den Machtbereich der Polizei.127 Rufe nach mehr Technologie ignorieren den immensen Ermessensspielraum, der das Verhältnis der Polizei zu ihrer Technologie ausmacht. Betrachten wir Körperkameras, das Paradebeispiel für eine Technologie, die als Antwort auf Polizeigewalt propagiert wird.128 Körperkameras belassen Deutungsmacht, Blickwinkel und Kontrolle in den Händen der Polizei.129 Eine aktuelle Studie konnte keine »statistisch si­ 126 Siehe Eaglin, »Predictive Analytics’ Punishment Mismatch«, S. 103 (»Die Vorhersage des Festnahmerisikos kann systemisch bereits bestehende Vorurteile verstärken, welche nicht mit der öffentlichen Sicherheit zusammenhängen«); Aziz Z. Huq, »Racial Equity in Algorithmic Criminal Justice«, in: Duke Law Journal, 68 (2019), S. 1043-1134. Es gibt zunehmend Literatur darüber, wie Technologie und Daten rassistische Ungleichheiten eher verschärfen als abbauen. Siehe dazu Ruha Benjamin, Race After Technology, Cambridge, Medford 2019; Virginia Eubanks, Automating Inequality. How Hightech Tools Profile, Police, and Punish the Poor, New York 2018; Chaz Arnett, »From Decarceration to E-Carceration«, in: Cardozo Law Review, 41 (2019), S. 641-720; Chaz Arnett, »Race, Surveillance, Resistance«, in: Ohio State Law Journal, 81 (2020), S. 11031142; Hill II, »Bail Reform«; Mayson, »Dangerous Defendants«; Mayson, »Bias In, Bias Out«; Michelle Alexander, »The Newest Jim Crow«, in: New York Times, 9. 11. 2018, 〈https://www.nytimes.com/2018/11/08/opinion/sunday/crimi nal-justice-reforms-race-technology.html〉, letzter Zugriff 4. 7. 2021. 127 Siehe dazu Justice Policy Institute, »Rethinking The Blues. How We Police In The U.S. And At What Cost«, S. 2 ff., S. 11 ff., 〈http://www.justicepolicy.org/ uploads/justicepolicy/documents/rethinkingtheblues_final.pdf〉, letzter Zugriff 4. 7. 2021; Logan, »Policing Police Access to Criminal Justice Data«, S. 625 (Logan dokumentiert das wachsende Aufkommen staatlicher Datenbanken, auf die die Polizei Zugriff hat und die sie durchforsten kann); siehe auch Roth, »Spit and Acquit: Prosecutors as Surveillance Entrepreneurs«. 128 Akbar, »Toward a Radical Imagination of Law«, S. 465 f. 129 Es drängen sich Fragen auf: wie die Sichtlinie der Körperkamera, die am Oberkörper des:der Polizeibeamt:in beginnt, den Blickwinkel der Polizei festlegt; über die Vorschriften und tatsächliche Praxis, wann die Polizei die Kameras ein- und ausschaltet und zu welchem Zweck; wer das Filmmaterial verwaltet und die Folgen für die Privatsphäre der Gefilmten. Siehe Jeffrey Bellin, Shevarma Pemberton, »Policing the Admissibility of Body Camera Evidence«,

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gnifikanten Auswirkungen« von Körperkameras auf »dokumentierte Gewaltanwendung und Zivilbeschwerden«130 feststellen. Oder man denke an CompStat, ein Datenanalyse- und -management-Tool, das von der NYPD in den 1990er Jahren eingeführt wurde. Seine Befürworter:innen meinten, dass CompStat die Polizeiarbeit auf die einzelnen Reviere abstimme, um die Polizeikräfte besser gegen die Kriminalität einsetzen zu können.131 CompStat wird heute weithin als Anlass für die Zunahme von Stop and Frisk (»Anhalten und Filzen«) in New York City angesehen.132 Es ist eine in: Fordham Law Review, 87 (2019), S. 1425-1458 (sie warnen davor, dass die Daten der Körperkameras »eher zur Strafverfolgung von Zivilist:innen als zur Dokumentation von Missbrauch« verwendet werden könnten, da die Beamt:innen die Aufnahmen interpretieren und manipulieren könnten); Jocelyn Simonson, »Beyond Body Cameras. Defending a Robust Right to Record the Police«, in: Georgetown Law Journal, 104 (2016), S. 1559-1580 (Simonson macht die zentrale Bedeutung der Frage deutlich, »wer die Kamera hält, das Filmmaterial aufnimmt und den Zugriff auf das Filmmaterial kontrolliert«); siehe auch Mya Frazier, »A Camera on Every Cop. Taser International Cashes in Police Misconduct«, in: Harper’s Magazine, August 2015, 〈https://harpers.org/ archive/2015/08/a-camera-on-every-cop/〉 (Frazier gibt einen kurzen Überblick über die Einführung von Tasern und Körperkameras nach dem Aufstand in Ferguson); Justin Hansford, »Body Cameras Won’t Stop Police Brutality. Eric Garner is Only One of Several Reasons Why«, 〈https://perma.cc/92B3-6M4Z〉; Nia-Malika Henderson, »With Eric Garner, Obama’s Body Camera Argument Just Took a Big Hit«, 〈https://perma.cc/87T9-QLNW〉; Eliott C. McLaughlin, »After Eric Garner: What’s Point of Police Body Cameras?«, in: CNN, 4. 12. 2014, 〈http://www.cnn.com/2014/12/04/us/eric-garner-ferguson-body-cameras-deba te/index.html〉, letzter Zugriff 6. 7. 2021. 130 David Yokum u. a., »Evaluating The Effects Of Police Bodyworn Cameras. A Randomized Controlled Trial«, 〈https://bwc.thelab.dc.gov/The LabDC_MPD_ BWC_Working_Paper_10.20.17.pdf〉; siehe auch Timothy Williams u. a., »Police Body Cameras, What Do You See?«, in: New York Times, 1. 4. 2016, 〈https:// www.nytimes.com/interactive/2016/04/01/us/police-bodycam-video.html 〉, letzter Zugriff 26. 7. 2021 (sie demonstrieren die Abhängigkeit der Auswertung der Körperkamerabilder von der jeweiligen Perspektive).­ 131 Siehe dazu Vincent E. Henry, »Compstat: The Emerging Model of Police ­Management«, in: Albert R. Roberts (Hg.), Critical Issues in Crime and Justice, Thousand Oaks 2003, S. 117-133, hier S. 117, S. 119; William F. Walsh, »Comp­ stat. An Analysis of an Emerging Police Managerial Paradigm«, in: Policing. An International Journal of Police Strategies & Management, 24 (2001), S. 347-362. 132 Siehe dazu Herzing, »Big Dreams and Bold Steps Toward a Police-Free Future«; Rachel Herzing, »Unraveling the Fraying Edges of Zero Tolerance«, 〈https:// www.counterpunch.org/2013/01/14/unraveling-the-fraying-edges-of-zero-tole rance/〉, letzter Zugriff 26. 7. 2021.

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technologische Reform, die die Polizeigewalt ausweitete, statt sie einzuschränken, und Rassismus und Vorurteile reproduzierte, statt sie zu beseitigen. In der gesamten Reformliteratur rechtfertigen Forscher:innen Polizeigewalt als eine Abweichung von liberalen Normen oder als ein spezifisches Versagen liberaler Regierungsführung, anstatt sie als Ausdruck eines strukturellen, historisch verwurzelten Problems anzuerkennen.133 Weil diese Ansätze unsere liberalen Normen nicht in der Geschichte ihrer Entwicklung kontextualisieren, setzen sich diese Forscher:innen nicht mit dem auseinander, was Aziz Rana die »zwei Gesichter« der amerikanischen Freiheit genannt hat.134 Die Strukturen unserer kolonialen Sklav:innenenhaltergesellschaft haben lange Zeit die Freiheit für die Weißen auf dem Rücken und dem Land der indigenen, schwarzen und armen Menschen und der Arbeiter:innenklasse geschaffen.135 Die Rechtswissenschaft tendiert zur Fokussierung auf zeitgenössische Darstellungen der Polizei.136 Diese Darstellungen verorten die Wurzeln der Polizei im 19. Jahrhundert in der Gründung der Metropolitan Police Departments in London und Boston.137 Die 133 Siehe dazu Barkow, Prisoners of Politics, S. 3 (Barkow formuliert die »Notwendigkeit, auf einem Modell der Entscheidungsfindung in der Strafjustiz zu bestehen, das mehr der Praxis in anderen Regelungsbereichen ähnelt, in denen Expertise eine wichtigere Rolle spielt«). 134 Siehe Aziz Rana, The Two Faces of American Freedom, Cambridge 2010; siehe auch Soss/Weaver, »Police are Our Government«, S. 565 (sie lenken die Aufmerksamkeit auf das »zweite Gesicht« des Staates darin, wie er mit »rassistisch-klassistisch unterdrückten communities« durch die Polizei und das Strafrechtssystem im Allgemeinen umgeht). 135 Insgesamt siehe Rana, The Two Faces of American Freedom; Kelly Lytle Hernández, City Of Inmates, Chapel Hill 2017 (Hernández erforscht den Anstieg von Inhaftierungen und des Polizierens in Los Angeles, beginnend mit der kolonialen Siedlungspolitik). 136 Natürlich gibt es Ausnahmen, zum Beispiel McLeod, »Prison Abolition and Grounded Justice«, S. 1185-1199 (McLeod verortet Polizei- und Gefängnisgewalt in einem weiteren historischen Kontext); Roberts, »Race, Vagueness, and the Social Meaning of Order-Maintenance Policing« (Roberts diskutiert die Geschichte der Landstreicherei im Zusammenhang mit der heutigen Kriminalisierung von Obdachlosigkeit). 137 Alex S. Vitale stellt in seiner jüngsten Studie fest, dass die Ursprünge des Londoner Metropolitan Department – das oft als die Polizeibehörde angepriesen wird, nach deren Vorbild die Städte im Norden der USA ihre Behörden ausrichteten –

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typische Geschichte verläuft im 20. Jahrhundert wie folgt: Der Korruption der Polizei wurde mit ihrer Professionalisierung begegnet – ein Versuch, die Polizei von der korrumpierenden Kraft der Politik zu trennen.138 Die Professionalisierung ging zu weit, indem sie die Polizei von öffentlicher Kritik abschirmte; schließlich wurde mit Community Policing versucht, die Kluft zwischen der Polizei und der Öffentlichkeit zu verringern.139 Mit Blick auf das 20. Jahrhundert ignoriert diese Darstellung den größeren Zeitrahmen von Versklavung, Jim Crow und Siedlerkolonialismus, der die Institution der Polizei geprägt hat.140 Aber in Wirklichkeit in der kolonialen Besetzung Irlands durch Großbritannien und dem Bestreben, sich vor Arbeiteraufständen zu schützen, liegen. Alex S. Vitale, »Grenzen der Polizeireform«, im vorliegenden Band; siehe auch Micol Seigel, »The Dilemma of ›Racial Profiling‹. An Abolitionist Police History«, in: Contemporary Justice Review, 20 (2017), S. 474-490 (Seigel kritisiert die »liberale Geschichte der US-Polizei« wegen ihrer geschönten Gründungsmythen). 138 Friedman, Unwarranted, S. 17 f., S. 35-45 (»Schon bald nach der Einführung größerer städtischer Polizeidienststellen wurde die Polizei in die Art von lokaler Bestechung und Korruption verwickelt, die um die Jahrhundertwende nur allzu üblich war. Um dieses Problem zu lösen, beschlossen wir, dass die Polizeiarbeit von der Politik getrennt und professionalisiert werden sollte«); Friedman/Ponomarenko, »Democratic Policing«, S. 1859 f. (sie beschreiben eine ähnliche Entwicklung über den zunehmenden Professionalismus); siehe auch Bibas, »Restoring Democratic Moral Judgment Within Bureaucratic Criminal Justice«, S. 1683 ff. (Bibas umreißt die Kosten der Professionalisierung). 139 Sklansky, »Police and Democracy«, S. 1778 ff. 140 Friedman, Unwarranted, S. 35 f., S. 130 f. Gegen Ende seines Buches arbeitet sich Friedman an den eher unschönen Aspekten der Vergangenheit der Polizei ab; ebd. S. 317 f. (»Ob es sich um Sklav:innenpatrouillen auf den Plantagen, gewerkschaftsfeindliche Pinkertons oder Polizeikräfte unter Jim Crow handelte, das Polizieren war häufig das Werkzeug der herrschenden Klasse. Das Polizieren kann ein Instrument der Unterdrückung sein, ihre ganze Wucht trifft die weniger Wohlhabenden, die Benachteiligten, die Ausgegrenzten und die rassifizierten Minderheiten«). Es findet eine zunehmende Auseinandersetzung mit einer weiter zurückreichenden Geschichte statt. Siehe dazu Capers, »Race, Policing, and Technology«, S. 1288 f. (Capers erörtert, wie versklavte Menschen ständig überwacht wurden, auch durch Sklav:innenpatrouillen); Carbado/Richardson, »The Black Police«, S. 2024 (sie beziehen sich auf die Wurzeln der Polizei heute in den Sklav:innenpatrouillen); Fagan/Ash, »New Policing, New Segregation«, S. 82 (»New Yorker Kolonist:innen bildeten in den 1700er Jahren Milizen, um Strafgesetze gegen Sklav:innen durchzusetzen, und Unruhen während des Bürgerkriegs in New York legten die tiefe Feindseligkeit zwischen weißen und schwarzen New Yorker:innen offen, wobei sich die Polizei auf die

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selbst bezüglich des 20. Jahrhunderts werden entscheidende Entwicklungen ausgeblendet, darunter die massiven Investitionen der Bundesregierung in den »Gefängnisstaat« als Teil ihrer Law-and-Order-Reaktion auf die langjährige Bürger:innenrechtsbewegung.141 Inmitten der Bürger:innenrechtsbewegungen und Aufstände trugen die bundesstaatlichen Kriege gegen Kriminalität (Wars on Crime) und Armut gemeinsam zum exponentiellen Wachstum des Polizierens und Inhaftierens bei.142 Sogar Community Policing war Seite der größtenteils weißen Unruhestifter:innen stellte, die eine ›Invasion‹ der Schwarzen nach einem Sieg der Nordstaaten im Bürgerkrieg befürchteten«); Jonathan Simon, »Racing Abnormality, Normalizing Race. The Origins of America’s Peculiar Carceral State and Its Prospects for Democratic Transformation Today«, in: Northwestern University Law Review, 111 (2017), S. 1625-1654 (Simon verortet die Entstehung des Gefängnisstaates innerhalb der Geschichte der Versklavung und des Kolonialismus); Hubert Williams, Patrick V. Murphy, »The Evolving Strategy of Police. A Minority View. Perspectives on Policing«, 〈https://www.innovations.harvard.edu/sites/default/files/121019.pdf〉, letzter Zugriff 9. 7. 2021 (sie vertreten die These, dass »die Mainstreamolizeigeschichte nicht berücksichtigt, wie Sklaverei, Segregation, Diskriminierung und Rassismus die Entstehung der amerikanischen Polizeibehörden bestimmt haben«). 141 Allgemein siehe Hinton, »From The War On Poverty To The War On Crime« (Hinton erfasst die immensen Ausgaben für das Polizieren und die Kriminalisierung seit der Johnson-Regierung); Shelley Hyland, »Full-Time Employees in Law Enforcement Agencies, 1997-2016«, https://www.bjs.gov/content/pub/ pdf/ftelea9716.pdf〉, letzter Zugriff 9. 7. 2021 (der Bericht dokumentiert den Zuwachs an vollzeitbeschäftigten staatlichen und kommunalen Polizeibeamt:innen seit 1997). 142 Elizabeth Hinton erklärt, dass »die Ausweitung des Gefängnisstaates als Antwort der Bundesregierung auf den demographischen Wandel der USA in der Mitte des Jahrhunderts [durch die Great Migration], die Errungenschaften der afroamerikanischen Bürger:innenrechtsbewegung und die anhaltende Bedrohung durch städtische Aufstände verstanden werden sollte«; Hinton, »From The War On Poverty To The War On Crime«, S. 333; siehe auch Soss/Weaver, »Police are Our Government«, S. 569-573 (sie dokumentieren den Zuwachs der Polizei zwischen dem Bericht der Kerner-Kommission von 1968 und dem DOJ Ferguson Police Report von 2015). Auch Naomi Murakawa vertritt die These, dass die USA seit dem Beginn der langjährigen Bürgerrechtsbewegung in den 1940er Jahren »nicht mit einem Kriminalitätsproblem konfrontiert waren, das rassifiziert war, sondern mit einem Rassifizierungsproblem, das kriminalisiert wurde«. Naomi Murakawa, The First Civil Right, Oxford 2014, S. 3, S. 11 (»Liberale Law-and-Order-Programme entsprangen einer zugrundeliegenden Vorstellung von Rassismus: Rassismus sei eine individuelle Laune, eine Irrationalität, und deshalb könne Rassismus durch ›Staatsbildung‹ im Weber’schen Sinne

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ein zentrales Element des Relegitimationsprojekts nach den Aufständen.143 Die Forscher:innen, die für Korrektive eintreten, verkennen die zentrale Bedeutung von Polizeigewalt und den größeren sozialen, ökonomischen und politischen Kontext, in dem die Polizei diese Gewalt im Laufe der Zeit ausgeübt hat. Die Politik des Korrektivs impliziert, dass das Problem des Polizierens eher zweitrangig als grundlegend ist, dass es eher um Steuerung als um Umfang geht, dass es eher eine Ausnahme und nicht Routine ist. Der größte Teil der Forschung konzentriert sich auf die Frage, wie das Polizieren saniert werden kann, ohne alternative Wege in einem breiteren Rahmen zu erwägen, um auf jene sozialen Probleme zu reagieren, die das Polizieren und die Gefängnisse angeblich lösen sollen. Sie hinterfragt eher die Formen des Polizierens – das Wer und das Wie des Polizierens – als deren Zweck. Sie lässt Annahmen über den Zweck und die Funktion der Polizei in der Gesellschaft unangetastet, ohne alternative Formen der Organisation des kollektiven Lebens zu untersuchen. Insgesamt versäumt es die Wissenschaft, die tatsächlichen Probleme zu erfassen: dass Gewalt das zentrale Werkzeug ist, das die Polizei gegen arme people of color einsetzt; dass Gewalt zentral durch das Ausmaß und die Macht der Polizei definiert wird; und dass Polizeiarbeit zu einer bestimmenden Institution des Lebens und der Regierungsführung in den USA geworden ist. Aber die Gefahr der gängigen Reformagenda besteht nicht nur darin, dass sie ineffektive Lösungen gegen Polizeigewalt propagiert. Die Logik der gängigen Agenda sieht Investitionen in die Polizei vor und stärkt damit die Macht und Legitimität der Polizei, einschließlich ihres Ermessensspielraums für Gewalt. Forscher:innen, die solche Reformen vorantreiben, erkennen vielleicht sogar an, dass die Polizei kein grundlegendes soziales Gut ist, treiben aber Reformen voran, weil sie die Polizei als unkorrigiert werden – das heißt durch den Ersatz der personalisierten Macht von Regierungsbeamten durch kodifizierte, standardisierte und formalisierte Autorität«); Jordan T. Camp, Incarcerating the Crisis: Freedom Struggles and the Rise of the Neoliberal State, Berkeley 2016, S. 5 (»Neoliberale Rassen- und Sicherheitsregime sind das Resultat eines langen Widerstands gegen die schwarze Freiheits-, Arbeiter- und sozialistische Allianz, die im Kampf um die Abschaffung des Jim-Crow-Rassenregimes Gestalt annahm«). 143 Siehe Hinton, »From The War On Poverty To The War On Crime«.

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vermeidlichen Bestandteil des Staates sehen.144 Darüber hinaus arbeiten viele von ihnen mit der Polizei oder mit Ad-hoc-Gremien zusammen, die den Staat bei Reformen beraten, und wählen daher möglicherweise versöhnliche Ansätze, um ihren Einfluss zu erhalten. Die Fürsprache für Reformen ist bei jenen Forscher:innen gut nachvollziehbar, die wirklich glauben, dass Investitionen in die Polizei der wahrscheinlichste Weg sind, Polizeigewalt zu mindern. Zu einem Teil liegt die anhaltende Beliebtheit der Korrektiv- und Relegitimationsansätze vermutlich in der scheinbaren Alternativlosigkeit begründet, ganz zu schweigen von unserer professionellen Abhängigkeit, wenn wir im akademischen Kontext vorankommen wollen. Der gegenwärtige Moment schafft jedoch Dringlichkeit und Raum, um alternative Interpretationsrahmen für die Überwindung von Polizeigewalt zu erkunden. III. Abolition

Die durch Polizeigewalt ausgelösten George-Floyd-Aufstände führten zu Forderungen, die die festgefahrenen Debatten über Polizeireformen aufbrachen. Aber die Forderungen, der Polizei die Mittel zu kürzen und sie aufzulösen, kamen nicht aus dem Nichts. Sie kamen aus der jahrzehntelangen Organisationsarbeit zur Abschaffung von Gefängnissen und dem wachsenden Einfluss dieser Bewegung auf die Arbeit im Bereich der Gerechtigkeit für rassifizierte Menschen seit den Aufständen in Ferguson und Baltimore.145 Jetzt reduzieren Städte, Universitäten und Schulbezirke im ganzen Land Polizeiverträge und -budgets und prüfen Optionen für die Auflösung oder Umverteilung der Mittel ihrer Polizeireviere.146 Aber schon vor 144 Diese Argumente werden nicht explizit gemacht – aber einige Akademiker:innen teilen diese Bedenken mit mir. 145 Akbar, »How Defund and Disband Became the Demands«; siehe auch Meghan G. McDowell, Luis A. Fernandez, »›Disband, Disempower, and Disarm‹. Amplifying the Theory and Practice of Police Abolition«, in: Critical Criminology, 26 (2018), S. 373-392 (sie beziehen sich auf Kampagnen zur Entwaffnung, Entmachtung, Mittelkürzung und Umverteilung der Mittel der Polizei sowie auf direkte Interventionen). 146 Siehe dazu Daniel Beekman, »Seattle City Council Homes in on Police Department Cuts as Defunding Proponents and Skeptics Mobilize«, in: The Seattle Times, 18. 7. 2020, 〈https://www.seattletimes.com/seattle-news/politics/

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2020 hat eine wachsende Zahl abolitionistischer Kampagnen, die den Ausstieg aus der karzeralen Kontrolle und Investitionen in soziale Absicherung fordern, konkrete Veränderungen erreicht und die Debatten über die Reform des Strafrechts neu bestimmt – von der Reduktion der inhaftierten Bevölkerung zur Abolition, von der Polizeireform zur Auflösung der Polizei.147 Diese Kampagnen verfolgen einen Ansatz, der sich vor einem abolitionistischen Horizont positioniert und sich darauf konzentriert, das Ausmaß, die Gewalt und den Einfluss des Polizierens in den heutigen Vereinigten Staaten zu verringern. In diesem Abschnitt lege ich eine schematische Übersicht über die zeitgenössische abolitionistische Organisationsarbeit und deren Versuche vor. Ich beginne mit abolitionistischer Kritik. Dann untersuche ich abolitionistische Kampagnen und Experimente, die den Aufbau alternativer Formen kollektiver Absicherung und Sorge sowie die Transformation der ökonomischen, politischen und sozialen Systeme anstreben, die den Staat und das Verhältnis der Menschen zueinander und zu den Gemeingütern bilden.148 seattle-city-council-homes-in-on-police-department-cuts-as-defunding-pro ponents-and-opponents-mobilize〉; Rebecca Ellis, »Portland City Council Approves Budget Cutting Additional $ 15M from Police«, in: Oregon Public Broadcasting (OPB), 17. 6. 2020, 〈https://www.opb.org/news/article/portlandpolice-budget-15-million-defund-cannabis-council-vote〉; »LAPD Funding ­Slashed by $ 150M, Reducing Number of Officers«, in: AP News, 2. 7. 2020, 〈https:// apnews.com/3ad962eb78e30975354f6036c6451022〉; »Minneapolis City Council Members Taking First Step Toward Disbanding City’s Police Department«, in: CBS News, 26. 6. 2020, 〈https://www.cbsnews.com/news/minneapolis-citycouncil-members-taking-first-step-toward-disbanding-citys-police-department〉, letzter Zugriff 26. 7. 2021. 147 Siehe »Another Historic Win for Justice LA as LA County Board of Supervisors Vote to Cancel the McCarthy Contract – Stopping a Massive Downtown Jail«, 〈http://justicelanow.org/wp-content/uploads/2017/08/JLA-0813-PRESS-RE LEASE.pdf〉, letzter Zugriff 11. 7. 2021. 148 Wie es Charlene Carruthers von BYP100 ausdrückt: »Wir beteiligen uns an verschiedenen Projekten der Abolition – Abschaffung der Gefängnisse, Abschaffung des Kapitalismus und Abschaffung der patriarchalen Gewalt.« Charlene A. Carruthers, Unapologetic, Boston 2018, S. 18. Carruthers weist auf die umfassende Politik der Abolition hin, die sich für die Beendigung der weißen Vorherrschaft, des Patriarchats und des Kapitalismus einsetzt, Systeme, in die das Gefängnis und die Polizei tief eingebettet sind. Gleichzeitig verweist sie auf das Organisationsprojekt im Herzen der abolitionistischen Praxis: nicht bloß

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A. Kritik Die aktuelle Forderung nach Abolition umfasst typischerweise den gefängnisindustriellen Komplex (Prison Industrial Complex, kurz: PIC). Critical Resistance definiert den PIC als »die sich überschneidenden Interessen von Regierung und Industrie, die Überwachung, das Polizieren, die Justiz und Inhaftierung als Lösungen für das ansehen, was der Staat als soziale Probleme identifiziert (das heißt Armut, Obdachlosigkeit, ›soziale Devianz‹, politischer Dissens)«.149 Der Fokus auf den PIC zeigt, dass es nicht einfach um eine gängige Sicht auf die Macht des Staates geht, sondern darum, wie der Staat und der Markt zusammen einen Herrschaftsmodus für arme, schwarze und braune Menschen hervorbringen.150 Als grundlegender Baustein die Herzen und Köpfe zu verändern, sondern eine »Abolition Democracy« aufzubauen. 149 Rachel Herzing, Isaac Ontiveros, »Building an International Movement to ­Abolish the Prison Industrial Complex«, in: Criminal Justice Matters, 84 (2011), S. 42-44, hier S. 42; siehe auch Davis, Eine Gesellschaft ohne Gefängnisse? (Davis legt eine Darstellung des gefängnisindustriellen Komplexes vor). Immer häufiger werden das Kinderschutz- und das Pflegesystem als Teil des PIC und als weiteres Ziel für abolitionistische Organisationsarbeit identifiziert. Das Movement for Family Power zum Beispiel zielt darauf ab, das Pflegekinderwesen zu beenden, 〈https://www.movementforfamilypower.org〉. Die Red Nation schließt Kinderschutzdienste und die Grenzschutzbehörde in ihre Forderung ein, der Polizei die Mittel zu entziehen. The Red Nation, »The Red Deal, Part One: End The Occupation«, S. 19-21, 〈http://therednation.org/wp-content/up loads/2020/04/Red-Deal_Part-I_End-The-Occupation-1.pdf〉, letzter Zugriff 15. 7. 2021. 150 Siehe Critical Resistance, »The Critical Abolition Organizing Toolkit«, S. 3-11, 〈http://criticalresistance.org/wp-content/uploads/2012/06/CR-AbolitionistToolkit-online.pdf〉; Hans Bennett, »Organizing to Abolish the Prison-Industrial Complex«, 〈https://dissidentvoice.org/2008/07/organizing-to-abolishthe-prison-industrial-complex〉; Critical Resistance, »What Is the PIC? What Is Abolition?«, 〈http://criticalresistance.org/about/not-so-common-language〉, letzter Zugriff 15. 7. 2021; Hayes/Kaba, »But Why Is This Happening?«. Der Begriff wird ursprünglich Mike Davis zugeschrieben: Mike Davis, »Hell Factories in the Field«, in: The Nation, 260 (1995), S. 229-234, hier S. 229. Zu einem umfassenderen abolitionistischen Ansatz siehe Dolovich/Natapoff, »Introduction to The New Criminal Justice Thinking«, S. 1 f.; Katherine Beckett, Naomi Murakawa, »Mapping the Shadow Carceral State. Toward an Institutionally Capacious Approach to Punishment«, in: Theoretical Criminology, 16 (2012), S. 221-244.

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des PIC verstetigt das Polizieren ein System von »Gewalt und Kon­ trolle«, das dazu bestimmt ist, »den Status quo aufrechtzuerhalten, um arme people of color und arme Menschen unter Kontrolle zu halten«.151 Polizeiabolitionismus stellt die Existenz der Polizei als »unvermeidlichen Bestandteil der Gesellschaft« in Frage.152 Im abolitionistischen Denken sind das Polizieren und die Inhaftierung eher kontingente als notwendige Formen der Gewalt, konstitutiv für die Ungleichheit und die Ungleichverteilung.153 Anstatt die zugrundeliegenden sozialen, ökonomischen und politischen Probleme der Ungleichheit und der Ungleichverteilung – Arbeitslosigkeit, Niedriglöhne, unzureichende Gesundheitsversorgung, Zwangsräumungen, Sucht, psychische Gesundheit und häusliche Gewalt – direkt anzugehen, werden die Menschen, die damit zu kämpfen haben, polizeilich überwacht, eingesperrt und beseitigt. Wir übersehen die Besonderheit bestimmter, wenn auch miteinander verbundener sozialer Probleme und verlagern die Verantwortung vom Kollektiv auf das Individuum. Indem wir uns den Werkzeugen der Polizei und der Gefängnisse zuwenden, um alle möglichen sozialen Probleme anzugehen, propagieren wir staatlich unterstützte Gewalt als Patentlösung.154 151  »Critical Resistance, Abolition Of Policing Workshop«, 〈http://criticalresis tance.org/wp-content/uploads/2017/08/CR-Abolition-of-Policing-Full-Work shop-and-Materials.zip〉 (»Es geht nicht um einzelne Polizist:innen. Das gesamte System ist auf Gewalt und Kontrolle aufgebaut«); siehe auch Ruairí Arrieta-Kenna, »›Abolish Prisons‹ Is the New ›Abolish ICE‹«, in: Politico, 15.  8.2018, 〈 https://www.politico.com/magazine/story/2018/08/15/abolish-prisonsis-the-new-abolish-ice-219361〉, letzter Zugriff 15. 7. 2021 (hier wird die Abolitionistin Maya Schenwar zitiert, die das Gefängnis als Fortsetzung des Kapitalismus und der weißen Vorherrschaft bezeichnet). 152 McDowell/Fernandez, »Disband, Disempower, and Disarm«, S. 374; siehe auch Davis, Eine Gesellschaft ohne Gefängnisse?. 153 Siehe zum Beispiel Victoria Law, »Gegen den Strafrechtsfeminismus«, im vorliegenden Band. Zu rechtswissenschaftlichen Untersuchungen über die Gewalt im Gefängnis siehe McLeod, »Prison Abolition and Grounded Justice«, S. 1173-1184; Brenda V. Smith, »Boys, Rape, and Masculinity. Reclaiming Boys’ Narratives of Sexual Violence in Custody«, in: North Carolina Law Review, 93 (2015), S. 1559-1596; dies., »Sexual Abuse of Women in United States Prisons. A Modern Corollary of Slavery«, in: Fordham Urban Law Journal, 33 (2006), S. 571-608; dies., »Uncomfortable Places, Close Spaces: Female Correctional Workers’ ­Sexual Interactions with Men and Boys in Custody«, in: UCLA Law Review, 59 (2012), S. 1690-1745. 154 In den letzten zwei Jahrzehnten haben David Garland und Jonathan Simon

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Abolitionistische Kritik versucht, die historischen, materiellen und ideologischen Dimensionen zu verstehen, in denen das Polizieren die materielle Infrastruktur unserer politischen, sozialen und ökonomischen Beziehungen prägt.155 Hier stelle ich die Grundzüge dieser Kritik dar. Diese Kritik, die hier nur unvollständig wiedergegeben werden kann, ist für das Verständnis abolitionistischer Projekte unerlässlich.

einen starken Einfluss auf die Wissenschaft ausgeübt, als sie aufzeigten, dass der Aufstieg der Carceral Governance in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Nährboden für eine wachsende Zahl sozialer Probleme bildete, die mit armen und benachteiligten schwarzen und braunen Menschen assoziiert wurden, was weitreichende Auswirkungen auf die Regierungsführung im weiteren Sinne hatte. David Garland, The Culture Of Control, Chicago 2001 (Garland verbindet die neuerliche Schwerpunktsetzung auf Verbrechensbekämpfung mit der Ideologie des freien Marktes und der Antiwohlfahrtspolitik); Jonathan Simon, Governing Through Crime, Oxford 2007, S. 18 (»Zweifellos regieren wir die Armen mittels Kriminalisierung, aber sie sind bei weitem nicht die einzigen Betroffenen dieser Praxis. Kriminalität gestaltet aktiv um, wie Macht durch Hierarchien von Klasse, Rasse, Ethnizität und Geschlecht ausgeübt wird«); Jonathan Simon, Poor Discipline, Chicago 1993 (Simon erörtert Strafe als Mittel zur Regulierung der sozial Marginalisierten, mit besonderem Blick auf die Bewährungspraxis); Malcolm M. Feeley, ders., »The New Penology. Notes on the Emerging Strategy of Corrections and Its Implications«, in: Criminology, 30 (1992), S. 449-474 (»In der neuen Sanktionsforschung geht es weder um Bestrafung noch um Rehabilitierung von Individuen. Es geht darum, widerständige Personengruppen zu identifizieren und zu verwalten«); siehe auch Katherine Beckett, Steve Herbert, Banished, Oxford 2010 (sie erörtern, wie Strategien zur Kriminalisierung der Präsenz gesellschaftlich Marginalisierter im öffentlichen Raum als Form einer modernen »Ächtung« wirken); Bruce Western, Punishment and Inequality in America, New York 2006, S. 1 ff. (Western beschreibt die Strafrechtspolitik zum Teil als Reaktion auf den Wandel der amerikanischen Rassenverhältnisse in den 1960er Jahren und den Zusammenbruch der Arbeitsmärkte für unqualifizierte Männer in den 1970er Jahren). 155 Antonio Gramsci, der italienische marxistische Philosoph, entwarf die Theorie von der zentralen Rolle der Ideologie bei den Bemühungen der herrschenden Klasse, die Hegemonie aufrechtzuerhalten. Antonio Gramsci, Selections from the Prison Notebooks, London 1971; siehe auch Kimberlé Williams Crenshaw, »Race, Reform, and Retrenchment. Transformation and Legitimation in Antidiscrimination Law«, in: Harvard Law Review, 101 (1988), S. 1331-1387 (Crenshaw setzt sich mit Gramscis Ausführungen zu Hegemonie und Ideologie auseinander und hebt seine Bedeutung für die kritische Rechtstheorie hervor).

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(1) Historisch Abolitionistische Aktivist:innen verorten die Geschichte des Polizierens in den Sklav:innen- und Grenzpatrouillen.156 Forscher:innen anderer Fachgebiete haben die Entstehung der Polizei innerhalb der Geschichte der Sklaverei und des Siedlungskolonialismus untersucht.157 Die Wurzeln der modernen Polizei lassen sich bis zu 156 Die Zeitachse des Polizierens für den Workshop »Abschaffung der Polizei« von Critical Resistance beginnt mit »brutaler Milizgewalt als routinemäßiger Teil der Aneignung von Land« von indigenen Völkern ab 1492 und der Einrichtung von informellen und offiziellen Sklavenpatrouillen in den Südstaaten, beginnend mit South Carolina in den späten 1600ern. »Critical Resistance, Policing in the United States 1845-Present«, 〈http://criticalresistance.org/wp-content/ uploads/2017/08/CR-Abolition-of-Policing-Full-Workshopand-Materials.zip〉; siehe auch Ritchie, Invisible No More, S. XV (»Die Entstehungsgeschichte des modernen amerikanischen Polizierens ist geprägt von Sklav:innenpatrouillen und Gewerkschaftszerschlagung«); Christina Heatherton, »#BlackLivesMatter and Global Visions of Abolition: An Interview with Patrisse Cullors«, in: Jordan T. Camp, Christina Heatherton (Hg.), Policing the Planet. Why the Policing Crisis Led to Black Lives Matter, London, New York 2016, S. 35-40, hier S. 35, S. 38 (»Die ursprüngliche Aufgabe der Polizei war es, Sklav:innen zu überwachen, und die ersten Sheriff-Departments patrouillierten an der Grenze zwischen den USA und Mexiko«); Maya Dukmasova, »Abolish the Police? Organizers Say It’s Less Crazy than It Sounds«, in: Chicago Reader, 25. 8. 2016, 〈https://www.chica goreader.com/chicago/policeabolitionist-movement-alternatives-cops-chicago/ Content?oid=23289710〉, letzter Zugriff 15. 7. 2021 (hier wird die Organisatorin Jessica Disu zitiert, die die Wurzeln der Polizei in den Sklavenpatrouillen verortet). 157 Siehe zum Beispiel Alexander, The New Jim Crow (Alexander verknüpft die Sklaverei mit dem Phänomen der Masseninhaftierung); Hernández, City Of Inmates (Hernández erforscht die verwobene Geschichte von Kolonialismus, Polizieren und Kriminalisierung in Los Angeles); Davis, Eine Gesellschaft ohne Gefängnisse? (Davis identifiziert Sklaverei, Segregation und Lynchjustiz als Vorläufer des Gefängnisses). Die Polizei ist das »Afterlife« der Sklaverei – eine Formulierung von Saidiya Hartman, die sich weigert, die Sklaverei zeitlich einzugrenzen, und auf dem fortdauernden Einfluss der Sklaverei auf das Leben der Schwarzen in den Vereinigten Staaten beharrt: »Wenn die Sklaverei als Thema im politischen Leben des schwarzen Amerikas fortbesteht, dann deshalb, weil das Leben der Schwarzen immer noch durch ein rassistisches und politisches Kalkül gefährdet und abgewertet wird, das vor Jahrhunderten begründet wurde. Das ist das Afterlife der Sklaverei – ungleiche Lebenschancen, eingeschränkter Zugang zu Gesundheit und Bildung, vorzeitiger Tod, Inhaftierung und Verarmung.« Saidiya Hartman, Lose Your Mother. A Journey Along the Atlantic

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den Sklav:innenpatrouillen, dem Ku-Klux-Klan, den Milizen und den frühen Polizeikräften zurückverfolgen.158 Diese polizeilichen Maßnahmen zielten darauf ab, Schwarze und Indigene zu überwachen, zu kontrollieren, zu unterdrücken und zu töten: Arbeit, Leben und Land auszubeuten.159 Entflohene Sklav:innen gehörten zu den »größten Problemen der Sklav:innenhaltergesellschaft«, und Sklav:innenaufstände waren für die Sklav:innenhalter »das Furchteinflößendste«.160 Von 1704 bis Mitte der 1860er Jahre entwickelten fast alle Kolonien und Staaten des Südens Sklav:innenpatrouillen.161 Frühe Sklav:innen­Slave Route, New York 2007, S. 6; siehe auch dies., Scenes Of Subjection. Terror, Slavery, And Self-Making In Nineteenthcentury America, New York 1997, S. 12 f. (Hartman dokumentiert, wie das Recht das Andauern der Sklaverei und deren Strukturen verschleiert). 158 Bryan Wagner, Disturbing the Peace. Black Culture and the Police Power After Slavery, Cambridge 2009, S. 6 f. Zu einer ausführlicheren Auseinandersetzung mit diesen Verknüpfungen siehe Inés Valdez u. a., »Law, Police Violence, and Race. Grounding and Embodying the State of Exception«, in: Theory & Event, 23 (2020), S. 902-934. 159 Siehe zum Beispiel K. B. Turner u. a., »Ignoring the Past. Coverage of Slav­ery and Slave Patrols in Criminal Justice Texts«, in: Journal of Criminal Justice Education, 17 (2006), S. 181-195, hier S. 185 (»Die Sklavenpatrouille wird von einigen Forscher:innen als Vorläufer des modernen amerikanischen Systems des Polizierens verstanden«); Victor E. Kappeler, »A Brief History of Slavery and the Origins of American Policing«, in: EKU online, 7. 1. 2014, 〈http://plsonline.eku.edu/ insidelook/brief-history-slavery-and-origins-american-policing〉; Darryl Pinck­ney, »Black Lives and the Police«, in: The New York Review, 18. 8. 2016, 〈http:// www.nybooks.com/articles/2016/08/18/black-lives-and-the-police〉 (Pinckney beschreibt die Sklav:innenpatrouillen des 17. Jahrhunderts, die größtenteils aus armen Weißen bestanden, und stellt fest, dass »das Anhalten, Belästigen, Auspeitschen, Verletzen oder Töten von Schwarzen sowohl ihre Pflicht als auch ihr Verdienst war« und dass »ihr eigentlicher Zweck darin bestand, die Bereitschaft zur Sklav:inenrebellion zu überwachen und zu unterdrücken«); Gary Potter, »The History of Policing in the United States, Part  1«, in: EKU online, 25. 6. 2013, 〈https://plsonline.eku.edu/insidelook/history-po licing-united-states-part-1〉; Olivia B. Waxman, »How the U. S. Got Its Police Force«, in: Time, 18. 5. 2017, 〈http://time.com/4779112/police-history-origins〉, letzter Zugriff 26. 7. 2021. 160 Sally E. Hadden, Slave Patrols, Cambridge 2001; Philip L. Reichel, »Southern Slave Patrols as a Transitional Police Type«, in: American Journal of Police, 7 (1988), S. 51-78; ders, »The Misplaced Emphasis on Urbanization in Police Development«, in: Policing and Society, 3 (1992), S. 1-12, hier S. 4. 161 Schon vor Jahrzehnten wies der Soziologe Philip Reichel auf die übertriebene

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patrouillen zogen ihre Mitglieder oft aus bereits existierenden Milizen, die Siedler:innen gründeten, »fast sobald die ersten Schiffe der Siedler:innen Land berührten«, um Ureinwohner:innen und konkurrierende Kolonialmächte zu bekämpfen.162 Sklav:innenpatrouillen im gesamten Süden waren befugt, »in die Häuser von Aufmerksamkeit hin, die der Polizei im Norden gewidmet wurde, während die Entwicklung der Polizei im Süden fast völlig ausgeklammert wurde, und meinte, dass »die Sklav:innenpatrouillen als Vorläufer der Polizei ein gut erforschtes Beispiel für den Versuch sein sollten, die Entwicklung der amerikanischen Strafverfolgung besser zu verstehen«. Reichel, »Southern Slave Patrols as a Transitional Police Type«, S. 51. 162 Hadden, Slave Patrols, S. 27; Williams, Our Enemies In Blue, S. 51-87. Nach dem Bürgerkrieg gingen die Sklav:innengesetze in die scharf durchgesetzten, aber kurzlebigen Black Codes im Süden über, die speziell dafür entwickelt wurden, die Bewegungsfreiheit der gerade befreiten Schwarzen und deren Arbeit zwischen 1865 und 1866 zu kriminalisieren und zu kontrollieren. David W. Oshinsky, Worse Than Slavery, New York 1996, S. 20 ff.; Ritchie, Invisible No More, S. 29. In dieser Zeit wechselte die Bevölkerung in den Gefängnissen des Südens von überwiegend weißen zu schwarzen Gefangenen. Oshinsky, Worse Than Slavery, S. 20-34; McLeod, »Abolitionistische Demokratien entwerfen«, im vorliegenden Band. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert kriminalisierten praktisch alle Südstaaten in Anlehnung an die englischen Landstreichergesetze, die sich gegen die Armen richteten, die Landstreicherei und verliehen der Polizei weitreichende Befugnisse, um die gerade befreiten Menschen auf jene Plantagen zurückzubringen, von denen sie befreit worden waren. Risa Goluboff, Vagrant Nation, New York 2016, S. 15, S. 116 (Goluboff diskutiert, wie Landstreicher:innengesetze »die Moral der Afroamerikaner:innen und die sozialen Interaktionen mit den Weißen regulierten« und »dazu benutzt wurden, schwarze Amerikaner:innen zurück in einen Zustand zu versetzen, der so nah an der Sklaverei lag, wie es rechtlich und praktisch möglich war«); Oshinsky, W ­ orse Than Slavery, S. 20-34; Gary Stewart, »Black Codes and Broken Windows. The Legacy of Racial Hegemony in Anti-Gang Civil Injunctions«, in: Yale Law Journal, 107 (1998), S. 2249-2280, hier S. 2260 ff. (»Die Landstreicher:innengesetze definierten den Straftatbestand der Landstreicherei bis ins kleinste Detail, und doch waren sie paradoxerweise noch umfangreicher und unschärfer als zuvor«). Zitiert wird hier William Cohen, »Negro Involuntary Servitude in the South, 1865-1940. A Preliminary Analysis«, in: Journal of Southern History, 42 (1976), S. 31-60. Während in der Sklaverei die Plantagen und die Sklavenhalter selbst Recht und Gesetz verkörperten, waren schwarze Menschen nun der Gewalt einer anderen Art von Gesetzen ausgesetzt. Oshinsky, Worse Than Slavery (Oshins­ky zitiert einen Sklavenhalter mit den Worten: »Jede Plantage war selbst das Gesetz«). Ida Wells-Barnett sprach vom »Lynch-Recht«. Ida Wells-Barnett, »Lynch Law in America«, in: Beverly Guy-Sheftall (Hg.), Words Of Fire, New York 1995, S. 70-76, hier S. 70.

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Schwarzen einzubrechen« und »versklavte Menschen oder Flüchtige zu bestrafen, auszupeitschen und zu verschleppen«, einschließlich derer, die »ihre Autorität herausforderten«, »eines Verbrechens verdächtigt« wurden oder »ohne Passierschein außerhalb der Domäne ihres Besitzers angetroffen wurden«.163 In ähnlicher Weise waren Kriminalisierung, Inhaftierung und das Polizieren von zentraler Bedeutung für die Besiedlung und die Enteignung der Indigenen.164 Macht und Autorität der Polizei sind wesentlich für die Modernisierung der antischwarzen Gewalt – von der Sphäre der Sklav:innenhalter:innen und des Klans zur Sphäre der Polizei.165 Durch diese historische Entwicklung wurde die Gewalt der Sklavenhalter:innen und des Klans zur Gewalt der Polizei. Die akademische Aktivistin Andrea J. Ritchie weist auf diesen Widerhall hin und vertritt die These, dass die lange Geschichte der Gewalt gegen Indigene, Schwarze und people of color »die heutigen Interaktionen mit der Polizei zutiefst prägt«.166

163 Ritchie, Invisible No More, S. 28. 164 Hernández, City Of Inmates, S. 34 f.; dies., Migra! A History Of The U.S. Border Patrol, Berkeley 2010; siehe auch Jennifer M. Chacón, »Unsettling History«, in: Harvard Law Review, 131 (2018) S. 1078-1124 (Rezension von Hernández, City Of Inmates). Zu einer historischen Rekonstruktion des Aufstiegs der Grenzüberwachung mit dem Ende des Kolonialismus und der Freizügigkeit von braunen und schwarzen Menschen in weißen Kolonialstaaten siehe Sherally Munshi, »Immigration, Imperialism, and the Legacies of Indian Exclusion«, in: Yale Journal of Law & the Humanities, 28 (2016) S. 51-104. 165 Barnor Hesse, »White Sovereignty (…), Black Life Politics. ‚The N::::r They Couldn’t Kill,‘« in: South Atlantic Quarterly, 116 (2017) S. 581-604, hier S. 587 (Hesse erörtert, wie die Polizei die »materiellen kolonialen Praktiken der Weißen verkörpert, die territorialisieren, inhaftieren, versklaven, segregieren, disziplinieren, regulieren, terrorisieren, einschüchtern, patrouillieren, überwachen, nach rassistischen Kriterien kontrollieren und Nichtweiße misshandeln«); Minkah Makalani, »Black Lives Matter and the Limits of Formal Black Politics«, in: South Atlantic Quarterly, 116 (2017), S. 529-552, hier S. 543. 166 Ritchie, Invisible No More, S. 40 ff. Zu weiteren Materialien zum Thema Polizieren von Geschlecht und Sexualität aus aktivistischer Perspektive siehe INCITE! Women Of Color Against Violence, »Law Enforcement Violence Against Women Of Color & Trans People Of Color«, S. 55-78, 〈https://incitenational.org/〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022.

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(2) Materiell Ruth Wilson Gilmore, eine marxistische Geographin und Mitbegründerin von Critical Resistance, führt in Golden Gulag den Gefängnisboom in Kalifornien im 20. Jahrhundert eher auf Krisen des Kapitalismus als auf steigende Kriminalitätsraten zurück.167 Der Staat investierte in Gefängnisse, um »die durch die Deindustrialisierung und die Globalisierung des Kapitals überflüssig gewordenen Arbeitskräfte und Landflächen« aufzufangen, und verließ sich auf die Polizei, um angesichts »tatsächlicher oder vermeintlicher antisozialer Verhaltensweisen unter Arbeitslosen oder desillusionierten Jugendlichen« die Ordnung aufrechtzuerhalten.168 Gefängnisse und Polizei wurden zu »geographischen Teillösungen für politisch-ökonomische Krisen« – und deren Wirkung war besonders für schwarze und braune Menschen zu spüren.169 Der Bericht »Freedom to Thrive« von 2017, der von BYP100, Law for Black Lives und dem Center for Popular Democracy verfasst wurde, führte Gilmores Analyse für regionale Kontexte im ganzen Land aus.170 Der Bericht stellt fest, dass gewählte Beamt:innen in den letzten dreißig Jahren »Geld in die Polizei gesteckt« 167 Ruth Wilson Gilmore, Golden Gulag, Berkeley 2007. Golden Gulag ist ein Schlüsseltext der abolitionistischen Kritik und Gilmore eine zentrale Figur der abolitionistischen Bewegung. Vgl. Kushner, »Is Prison Necessary?«. 168 Gilmore, Golden Gulag, S. 54 f., S. 64; siehe auch Brett Story, Prison Land, Minneapolis 2019, S. 18 f. (hier wird Gilmores Analyse jenseits von Kalifornien angewendet). Was das überschüssige Land betrifft, so verkauften Unternehmer:innen in den 1980er und 1990er Jahren »das schlechteste«, »ansonsten ungenutzte« Land an den Staat, der darauf wiederum Gefängnisse baute. Gilmore, Golden Gulag, S. 106. Überschüssige Arbeitskräfte bestanden aus »Arbeiter:innen an den extremen Rändern oder ganz außerhalb der limitierten Arbeitsmärkte, die in städtischen und ländlichen Gemeinden gestrandet waren«, ebd., S. 70 ff.; siehe auch Camp, Incarcerating the Crisis, S. 10 (»Der globale Kapitalismus machte die Arbeit der entindustrialisierten Sektoren der städtischen Arbeiterklasse – überproportional Schwarze und Latinx-Arbeiter:innen – in der politischen Ökonomie genau zu dem Zeitpunkt überflüssig, als radikale antirassistische und antikapitalistische soziale Bewegungen zerschlagen wurden«). 169 Gilmore, Golden Gulag, S. 12 ff., S. 26, S. 91 f. 170 Siehe Kate Hamaji u. a., »Freedom To Thrive: Reimagining Safety & Security In Our Communities«, 〈https://populardemocracy.org/sites/default/files/Free dom%20To%20Thrive%2C%20Higher%20Res%20Version.pdf〉, letzter Zugriff 15. 7. 2021.

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und »Investitionen in die grundlegende Infrastruktur und in Programme des sozialen Sicherheitsnetzes« gekürzt haben, darunter »psychische Gesundheitsdienste, Wohngeld, Jugendprogramme und Lebensmittelhilfen«.171 An der Spitze der Liste von zwölf Gemeinden lag Oakland, das 41,2 Prozent seines Haushalts für die Polizei aufwendete.172 Für jeden Dollar, den Oakland von 2015 bis 2017 für die Polizei ausgab, kamen nur acht Cent auf Wohnungsbau und Gemeindeentwicklung.173 Der Bericht führt an, dass nicht das Polizieren, sondern »ein existenzsichernder Lohn, der Zugang zu einer ganzheitlichen Gesundheitsversorgung und -behandlung, Bildungschancen und stabiler Wohnraum« die Gemeinden sicherer machen.174 171 Ebd., S.  3. 172 Ebd., S. 63 f. Auf Oakland folgten Chicago mit 38,6 Prozent, Minneapolis mit 35,8 Prozent und Houston mit 35 Prozent des Gesamthaushalts. Ebd., S. 2. 173 Ebd., S. 64, S. 70. 174 Ebd., S. 3. Viele Daten zeigen, dass die Anhebung des Mindestlohns und der Zugang zu mehr Arbeits- und Bildungsangeboten, Wohnraum, Gesundheitsversorgung und Behandlung zu niedrigeren Kriminalitätsraten führen. Siehe dazu Doug Mcvay u. a., »Just. Pol’y Inst., Treatment Or Incarceration?«, 〈https://www.opensocietyfoundations.org/uploads/bc64a0f5-caa446a8-894a-e9ecf18f6198/treatment1.pdf〉; Amanda Petteruti u. a., »Just. Pol’y Inst., Housing And Public Safety«, 〈https://static.prisonpolicy.org/scans/ jpi/07-11_REP_HousingPublicSafety_AC-PS.pdf〉; Ryan S. King u. a., »Sen­tencing Project, Incarceration And Crime: A Complex Relationship«, 〈https://www.sentencingproject.org/wp-content/uploads/2016/01/Incarcera tion-and-Crime-A-Complex-Relationship.pdf〉; Lance Lochner, Enrico Moretti, »The Effect of Education on Crime: Evidence from Prison Inmates, Arrests, and Self-Reports«, in: The American Economic Review, 94 (2004), S. 155-189, hier S. 158; Juleyka Lantigua-Williams, »Raise the Minimum Wage, Reduce Crime?«, in: The Atlantic, Mai 2016, 〈https://www.theatlantic.com/politics/ar chive/2016/05/raise-the-minimum-wage-reduce-crime/480912〉; »Higher Youth Wages Mean Lower Crime Rates, Nat’l Bureau Econ. Res.«, 〈https://www. nber.org/digest/nov97/w5983.html〉; siehe auch Lucius Couloute, »Nowhere to Go: Homelessness Among Formerly Incarcerated People«, in: Prison Policy, August 2018, 〈https://www.prisonpolicy.org/reports/housing.html〉 (Couloute dokumentiert das anhaltende Phänomen der Obdachlosigkeit unter ehemals Inhaftierten und fordert die Bereitstellung von Wohnraum als Priorität); Steven Hawkins, »Education vs. Incarceration«, 〈https://prospect.org/article/edu cation-vs-incarceration〉 (Hawkins fordert größere Investitionen in Bildung in Vierteln mit hoher Polizeipräsenz, um die Inhaftierungsrate zu senken); »Illegal to Be Homeless 2004 Report, Nat’l Coal. For Homeless«, 〈https://www. nationalhomeless.org/publications/crimreport/problem.html〉, letzter Zugriff

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Polizeiarbeit und Inhaftierung sind zu grundlegenden Werkzeugen des neoliberalen staatlichen Managements von Menschen geworden, die arm, aus der Arbeiterklasse und wohnungsunsicher sind.175 Während der Staat Märkte dereguliert, Dienstleistungen privatisiert, Wohlfahrt gekürzt und sich von öffentlicher Infrastruktur wie Transport und Wohnen getrennt hat, hat er in Polizei und Gefängnisse investiert.176 Der Staat hat sich durch die Polizeiarbeit »ein Monopol über die Reaktion auf Notfälle, den Umgang mit Krisen, die Lösung von zwischenmenschlichen Konflikten und vieles mehr« aufgebaut.177 Polizeiarbeit und Inhaftierung sind zu den Antworten des Staates auf soziale Probleme wie Wohnungslosigkeit, psychische Krisen, Drogenkonsum und Arbeitslosigkeit geworden, von denen sich der Staat ansonsten getrennt hat.178 16. 7. 2021 (Dokumentation des Zusammenhangs zwischen unzureichendem Wohnraum und Kürzungen bei der Sozialhilfe mit Kriminalisierung und Inhaftierung). 175 Siehe David Harvey, A Brief History Of Neoliberalism, Oxford 2005 (Harvey konstatiert, dass die primäre Rolle des Staates darin besteht, »jene Militär-, Verteidigungs-, Polizei- und Rechtsstrukturen aufzubauen«, die für die Aufrechterhaltung von Privateigentum, freiem Handel und von Märkten erforderlich sind); David Singh Grewal, Jedediah Purdy, »Law and Neoliberalism«, in: Law and Contemporary Problems, 77 (2014), S. 1-24, hier S. 6 ff. (sie erörtern die wichtigsten Grundsätze des Neoliberalismus, darunter »die Ansicht, dass umfassende Eigentumsrechte und private Vertragsrechte das beste Mittel zur Steigerung des allgemeinen Wohlstands seien«). 176  Heatherton, »#BlackLivesMatter and Global Visions of Abolition«, S. 165, S. 175. 177 »Critical Resistance, Abolition Of Policing Workshop«, S. 3 f. Der Strafrechtsapparat wird immer weiter in den Wohlfahrtsstaat selbst integriert, vom öffentlichen Wohnungsbau bis hin zu öffentlichen Leistungen. Siehe Wendy A. Bach, »The Hyperregulatory State: Women, Race, Poverty, and Support«, in: Yale Journal of Law & Feminism, 25 (2013), S. 317-379; Aya Gruber u. a., »Penal Welfare and the New Human Trafficking Intervention Courts«, in: Florida Law Review, 68 (2016), S. 1333-1402; »Prisons and Class Warfare. Interview with Ruth Wilson Gilmore«, in: Historical Materialism, o. J., 〈http://www.historicalma terialism.org/interviews/prisons-and-class-warfare〉, letzter Zugriff 16. 7. 2021. 178 Gilmore, Golden Gulag, S. 2; siehe auch Center For Popular Democracy & Policy, »Building Momentum From The Ground Up: A Toolkit For Promoting Justice In Policing«, in: Center for Popular Democracy, o. J. 〈https://po pulardemocracy.org/sites/default/files/JusticeInPolicing-webfinal.pdf〉 (»Polizei und Gefängnisse sind die Antwort der Regierung auf fast jedes soziale Problem in einkommensschwachen Gemeinden von people of color geworden«);

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Polizei und Gefängnisse sind ein primärer Modus der Präsenz des Staates, insbesondere im Leben von armen Menschen und Menschen of color aus der Arbeiterklasse. Wie Critical Resistance es ausdrückt, kommen Polizei und Gefängnisse »der Sicherheit und den Grundbedürfnissen der Menschen in die Quere«.179 Wir kriminalisieren die Wohnungslosen, anstatt Wohnraum zu bauen und zu garantieren.180 Wir kriminalisieren den Zugang zu öffentlichen Leistungen und öffentlichem Wohnraum.181 Verhaftungen und Inhaftierungen schaffen Barrieren für Wohnen, Arbeit und Sozialleistungen, wodurch eine weitere Art von Widerspruch zwischen Gefängnissen und Grundbedürfnissen entsteht.182 Ein zentraler Kritikpunkt an der Polizei ist, dass ihre Kernaufgabe nicht darin besteht, ein soziales Gut wie Sicherheit zu gewährleisten. Vielmehr hält sie die kapitalistischen gesellschaftJordan T. Camp, Christina Heatherton, »Broken Windows, Surveillance, and the New Urban Counterinsurgency. An Interview with Hamid Khan«, in dies. (Hg.), Policing the Planet, S. 151 (das ›Ziel‹ der Broken-Windows-Theorie und der Safer-Cities-Initiative in Los Angeles bestehe darin, »alle ›Unerwünschten‹ loszuwerden«); Lester Spence, »Policing Class«, in: Jacobin, 16. 8. 2016, 〈https:// www.jacobinmag.com/2016/08/baltimore-police-department-of-justice-fred die-gray〉, letzter Zugriff 16. 7. 2021 (Spence behauptet, dass es bei dem Polizieren darum geht, »kommunale Einkünfte zu generieren oder Bevölkerungsgruppen zu überwachen, die von der ›New Economy‹ ausgeschlossen und nicht vom sozialen Sicherheitsnetz aufgefangen werden«); »Prisons and Class Warfare. Interview with Ruth Wilson Gilmore«, (»Bestimmte Kategorien von Sozialeinrichtungen, wie Bildung, Einkommensunterstützung oder sozialer Wohnungsbau, haben einige der Überwachungs- und Bestrafungsaufgaben der Polizei und des Strafvollzugssystems übernommen«). 179 generationFIVE, »Ending Child Sexual Abuse. A Transformative Justice Handbook«, 〈http://www.generationfive.org/wp-content/uploads/2017/06/Transfor mative-Justice-Handbook.pdf〉, letzter Zugriff 16. 7. 2021. 180 Vgl. ebd. 181 Vgl. ebd., S. 11; siehe auch Gustafson, »The Criminalization of Poverty«. 182 Vgl. Natapoff, Punishment Without Crime; Eisha Jain, »Proportionality and ­Other Misdemeanor Myths«, in: Boston University Law Review, 98 (2018), S. 953980; Natapoff, »Misdemeanors«. Allgemein auch Alexander, The New Jim Crow; Tristia Bauman u. a., »No Safe Place. The Criminalization Of Homelessness In U.S. Cities«, 〈https://nlchp.org/wp-content/uploads/2019/02/No_Safe_Place. pdf〉, letzter Zugriff 16. 7. 2021 (Bauman dokumentiert, wie Städte als Antwort auf die Wohnungskrise auf Kriminalisierung statt auf die Bereitstellung von Wohnraum setzen).

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lichen Verhältnisse aufrecht.183 Die Polizei schützt das Eigentum vor den Menschen und die Kapitalistenklasse vor der Arbeit. Wenn abolitionistische Aktivist:innen sagen, die Polizei sei nie dazu da gewesen, uns zu schützen,184 berufen sie sich auf die Geschichte der Polizei bei Sklav:innen- und Grenzpatrouillen sowie auf ihre frühe Geschichte der Niederschlagung von Arbeiter:innenstreiks im Norden.185 Die Funktion der Polizei, Aufstände, Revolten und sozialen Wandel zu unterdrücken, ist in abolitionistischen Darstellungen zentral. Die materielle Kritik entfernt uns von Fragen der Absicht und fordert uns auf, Polizei und Gefängnisse innerhalb unserer politischen Ökonomie genau zu betrachten und zu sehen, wie diese Institutionen das tägliche Leben von Millionen von Menschen prägen. Sie lenkt unsere Aufmerksamkeit auch auf die Explosion der kommunalen Ausgaben für die Polizei- und Gefängnisinfrastruktur in den letzten Jahrzehnten und liefert eine Erklärung dafür. Sie wirft Fragen in Bezug auf die relative Unterfinanzierung oder sogar das völlige Fehlen von Alternativen auf: Wohnraum, Gesundheitsversorgung, Arbeitsplätze, Schulen. Sie erzählt eine Geschichte darüber, wie die Polizei unsere hierarchische politische, wirtschaftliche und soziale Ordnung aufrechterhält und produziert. Infolgedessen kehrt die materielle Kritik die traditionellen Auffassungen von Polizeigewalt um, in denen das Problem die Abweichung von der Norm der polizeilichen 183 Abolitionistische Aktivist:innen verstehen das Polizieren als konstitutiv und wesentlich für die Aufrechterhaltung »des Eigentums der Klasse der Kapitalist:innen und stabiler Bedingungen für die Kapitalakkumulation«. McDowell/Fer­ nandez, »Disband, Disempower, and Disarm«, S. 379 f.; siehe auch Alicia Garza, »Foreword«, in: Schenwar u. a. (Hg.), Who Do You Serve, Who Do You Protect?, S. vii ff. (Garza erörtert das Polizieren mit seinen »Ursprüngen in der Sklavenökonomie« und als konstitutiv für ein rassistisches und ökonomisches Regime). Dream Defenders, »Defund Police, Rebuild Our Communities«, 〈https:// 184  drive.google.com/file/d/1OV9Zx6NT9IVdHHdF3EtOJPe9RYMZUMxA/ view?usp=sharing〉, letzter Zugriff 16. 7. 2021 (»Die Polizei war nie zum Schutz und Dienst für Sie und mich gedacht, sie war nie für unsere Sicherheit da. Sie ist dazu da, die Interessen derer zu schützen, die dieses Land regieren, das Eigentum zu schützen, die Gefängniszellen zu füllen, sie als Ventil für ihre Wut zu nutzen und zu verhindern, dass sich etwas ändert«). 185 Siehe »The History of Police in Creating Social Order in the U.S.«, NPR (5. 6. 2020), 〈https://www.npr.org/2020/06/05/871083599/the-history-of-policein-creating-social-order-in-the-u-s?t=1626442817313〉, letzter Zugriff 16. 7. 2021 (Interview mit Professor Chenjerai Kumanyika).

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Routine ist und die Abweichung ein zu lösendes Rätsel darstellt, anstatt Ausdruck der sozialen Beziehungen des Status quo zu sein. (3) Ideologisch Abolitionist:innen versuchen, dem ideologischen Rahmen entgegenzuwirken, der für die Macht und die Legitimierung der Polizei von zentraler Bedeutung ist: dass die Kriminalisierung dem kollektiven Wohl dient und dass die Polizei für die öffentliche Sicherheit zuständig ist. Aus abolitionistischer Sicht sorgt die Polizei nicht für die öffentliche Sicherheit.186 Im Gegenteil, die Polizei schadet dem sozialen Wohl. Sie perpetuiert in hohem Maße Leid und Ungleichheit durch ihre Gewaltausübung und die breitere strukturelle Gewalt, die ihre Gewaltausübung ermöglicht. In einer Videoreihe, die in Zusammenarbeit mit dem Sylvia Rivera Law Project entstanden ist, spricht Dean Spade mit Tourmaline, einer Aktivistin und Künstlerin, die mit Critical ­Resistance und Queers for Economic Justice zusammengearbeitet hat.187 Tourmaline erklärt, wie der Gefängnisstaat Binaritäten konstituiert – zwischen Unschuldigen und Schuldigen, guten und schlechten, kriminellen und gesetzestreuen Menschen –, die wiederum unsere größere politische, wirtschaftliche und soziale Ordnung aufrechterhalten.188 Polizeiarbeit und Gefängnisse signalisieren, dass die von der Norm abweichenden und kriminellen Menschen außerhalb 186 Vgl. Dream Defenders, »Defund Police, Rebuild Our Communities«; Durham Beyond Policing Coalition, »Proposal For A Community-Led Safety And Wellness Task Force«, 〈https://durhambeyondpolicing.org/wp-content/ uploads/2019/07/Durham-Beyond-Policing-Budget-Proposal-2019-2020.pdf〉, letzter Zugriff 16. 7. 2121. 187 Vgl. Barnard Center for Research on Women, »No One is Disposable. Everyday Practices of Prison Abolition«, 〈http://bcrw.barnard.edu/event/no-one-is-dis posable-everyday-practices-of-prisonabolition〉, letzter Zugriff 16. 7. 2121. 188 Vgl. ebd., »Part 3: What About the Dangerous People?«; siehe auch Aya Gruber, »A Distributive Theory of Criminal Law«, in: William and Mary Law Review, 52 (2010), S. 1-74 (Gruber erörtert, wie der »War-on-Crime-Diskurs die Darstellung von Angeklagten als böse, voll zurechnungsfähige Feinde« und von Opfern »als in Gänze unschuldig« zementiert hat). Zu einem Argument, dass die US-Strafverfolgung von einer moralischen Vision angetrieben wird, die sich von der europäischen Sichtweise darin unterscheidet, dass sie Straftäter als »deformierte« Menschen betrachtet, siehe Joshua Kleinfeld, »Two Cultures of ­Punishment«, in: Stanford Law Review, 68 (2016), S. 933-1038.

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dieser Ordnung stehen, und markieren sie als Menschen, die keine soziale Absicherung oder Versorgung verdienen. Armut wird zur Schuld des Individuums, das bei Walmart stiehlt oder über das Drehkreuz der U-Bahn springt, und nicht zur Schuld der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Ordnung, die keine Lebensmittel, Mobilität oder einen existenzsichernden Lohn garantiert.189 Das Problem ist die obdachlose Person, die in einem Camp haust und in der Öffentlichkeit uriniert, und nicht die Arbeitslosigkeit, die in die Höhe schießenden Mieten, der Mangel an erschwinglichem Wohnraum und die soziale Struktur, die keinen Wohnraum garantiert. Die strafrechtliche Verfolgung der Obdachlosen, des Drogendealers an der Ecke, der Bettlerin oder des prügelnden Ehemanns verlagert den Bereich der Sorge von der strukturellen Ebene auf den:die Einzelne:n.190 Da der karzerale Staat schwarze, braune, arme, queere, transsexuelle und nichtbinäre Menschen ins Visier nimmt, bündelt der Strafprozess die Schuld in rassifizierter, geschlechtsspezifischer und klassenbezogener Weise.191 Die Schuld wird Individuen und Gruppen zugewiesen, aber nie den Strukturen; die soziale, ökonomische und politische Landschaft, die bestimmte Identitäten als kriminell einstuft, wird nie in Betracht gezogen. 189 Siehe Gilmore, Golden Gulag, S. 24-28; »Prisons and Class Warfare«. 190 Siehe ebd., S. 24 f. 191 Es gibt eine Vielzahl wissenschaftlicher Arbeiten, die sich mit der Rassifizierung von Kriminalität oder der Kriminalisierung von race beschäftigen. Die bedeutende Arbeit des Historikers Khalil Gibran Muhammad dokumentiert die Entstehung eines Systems von Kriminalität und Angst, das grundsätzlich als schwarz rassifiziert wird und als Antwort auf die Angst der Weißen vor dem Eintritt der befreiten Schwarzen in die Gesellschaft und in die Arbeitswelt nach der Emanzipation Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts betrachtet wird. Khalil Gibran Muhammad, The Condemnation Of Blackness. Race, Crime, And The Making Of Modern Urban America, Cambridge 2010; siehe auch Bell, »Hidden Laws«, S. 18 (»Bezüglich der sozialen Bedeutung: race bestimmt Einkommen; race bestimmt Klasse; race bestimmt Wahrnehmung als kriminell; race bestimmt Status vor rechtlichen Institutionen. Und in jedem Fall ist oft das Gegenteil der Fall.«); Shatema Threadcraft, »North American Necropolitics and Gender. On #Black­ LivesMatter and Black Femicide«, in: The South Atlantic Quarterly, 116 (2017), S. 553- 579, hier S. 558 (Threadcraft zieht eine historische Parallele zwischen der Art und Weise, wie der Staat den schwarzen Männern, die gelyncht wurden, das Stigma des Vergewaltigers anheftete und wie der Staat heute dem toten schwarzen Körper das Stigma des Verbrechers anheftet, wenn er von der Polizei getötet wird).

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Kriminalisierung auf der Ebene des Diskurses und der materiellen Realität – wer wird wie und mit welcher Häufigkeit polizeilich überwacht, und wer sitzt aus welchem Grund und wie lange hinter Gittern – markiert people of color, arme Menschen, queere und trans Menschen als ohne Anspruch auf und unwürdig für soziale Leistungen.192 Das Strafvollzugssystem lässt wohlhabende weiße Menschen in Ruhe und stuft sie als gute, gesetzestreue Bürger:innen ein, die es redlich verdient haben, im Wohlstand zu leben.193 Einige Menschen »werden niemals dafür verantwortlich gemacht werden, Schaden anzurichten: die Vorstände von Blackwater oder des Militärs, Obama, oder der Polizeichef der NYPD«.194 Die Strafverfolgung lenkt also von den strukturellen Ursachen von Leid und Ungleichheit ab. Sie naturalisiert den Staat und den Status quo und identifiziert jene, die am meisten von ihm profitieren, als rechtschaffend. Die Opfer staatlicher Gewalt werden durch Kriminalisierung zu legitimen Zielen. Indem das Strafrecht nicht gegen Unternehmen oder Unternehmensinteressen vorgeht, macht es die Rolle der Konzernmacht bei der Definition von Ausbeutung und Ungleichheit in den Vereinigten Staaten unsichtbar.195 Zusammen schaffen die historischen, materiellen und ideologischen Kritiken einen Rahmen für das Verständnis der grundlegenden Probleme von Polizeiarbeit. Sie legen nahe, dass das Polizieren nicht fehlerhaft ist, sondern auf eine Art und Weise funktioniert, 192 Vgl. Critical Resistance, »The Critical Abolition Organizing Toolkit«, S. 21 (»Debatten über Kriminalität finden oft ohne Berücksichtigung von systemumspannenden Formen der Unterdrückung wie Rassismus, Kapitalismus, Behindertenfeindlichkeit, Heterosexismus und Sexismus statt. Infolgedessen wird über Kriminalität geredet, ohne die gesellschaftlichen Kräfte und ökonomischen Bedingungen zu verstehen, die sie umgeben«). 193 Dieser Punkt wurde im #CrimingWhileWhite-Thread auf Twitter veranschaulicht, nachdem eine Grand Jury in New York City es abgelehnt hatte, Daniel Pantaleo wegen der Tötung von Eric Garner anzuklagen. Zachary A. Goldfarb, »#Crimingwhilewhite. White People Are Confessing on Twitter to Crimes They Got Away With«, 〈https://perma.cc/4X6P-YWQT〉, letzter Zugriff 16. 7. 2021. 194 »No One is Disposable«, »Part 3: What About the Dangerous People?«; siehe auch Victoria Law, »Resisting Gender Violence Without Cops or Prisons«, 〈https://www.youtube.com/watch?v=Qlozk7G-JYo〉, letzter Zugriff 16. 7. 2021 (das Strafrechtssystem geht oft nicht gegen Menschen mit Macht vor). 195 Vgl. Kate Levine, »Discipline and Policing«, in: Duke Law Journal, 68 (2019) S. 839-906; Kate Levine, »How We Prosecute the Police«, in: Georgetown Law Journal, 104 (2016), S. 745-776.

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die die sozialen Verhältnisse des Status quo widerspiegelt und erweitert. Sie liefern den Kontext dafür, warum abolitionistische Kampagnen sich nicht darauf konzentrieren, die Polizei zu reparieren und zu relegitimieren, sondern ihr die Mittel zu entziehen, sie aufzulösen und zu delegitimieren.

B. Kampagnen zur Mittelkürzung, Auflösung und Delegitimation Abolitionist:innen arbeiten an einer Welt ohne Polizei – und deshalb erheben sie Forderungen und führen Experimente durch, die die Macht, den Einfluss und die Legitimität der Polizei verringern und gleichzeitig alternative Formen der Reaktion auf kollektive Bedürfnisse und zwischenmenschliches Leid schaffen.196 Diese Bemühungen zielen darauf ab, den Kontakt mit der Polizei zu minimieren, die Auffassung zu erschüttern, dass die Polizei öffentliche Sicherheit gewährleistet, Formen kollektiver Fürsorge und sozialer Absicherung zu schaffen und auf die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen hinzuarbeiten, die die Abolition erfordert.197 Wie Angela Davis in ihrem klassischen Werk Eine Gesellschaft ohne Gefängnisse? formulierte, werden wir nicht »nur eine Alternative« zu Gefängnissen und Polizei entdecken.198 Diebstahl als Reaktion auf Armut, die Beteiligung an der illegalen Drogenökonomie aufgrund des fehlenden Zugangs zu angemessen bezahlter Arbeit und Gewalt in der Partnerschaft sind eigenständige Probleme, die 196 Siehe zum Beispiel Andrea J. Ritchie u. a, »Interrupting Criminalization Initiative, #Defundthepolice #Fundthepeople #Defendblacklives. Concrete Steps Toward Divestment From Policing & Investment In Community Safety«, o. J., 〈https://filtermag.org/wp-content/uploads/2020/06/Defund-Toolkit.pdf 〉, letzter Zugriff 17. 7. 2021. 197 Siehe »Care Not Cops, Building Care. Portland Communities Respond To The Violence Of Policing«, 〈https://static1.squarespace.com/static/5a06663f0abd04 73f4bc9610/t/5c61af4aeb393107fe18c440/1549905764664/CNC_BuildingCare_ CommunityReport_Volume1_Winter2019.pdf〉, letzter Zugriff 17. 7. 2021 (hier wird Sorge als das »Finden und Bereitstellen von Lösungen für die Bedürfnisse der Menschen« definiert, einschließlich »Wohnen, Essen, Mobilität, transformative Gerechtigkeit, Gesundheitsversorgung und Bildungsprogramme«). 198 Vgl. Davis, »Strategien zur Abschaffung des Gefängnisses«, im vorliegenden Band.

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unterschiedliche Antworten erfordern. Gegenwärtig wird auf alle die gleiche gewaltsame Antwort gegeben – Gefängnisse und Polizei –, die gesellschaftliche Ressourcen erschöpft und Alternativen verhindert. Als Reaktion darauf fordern und entwickeln abolitionistische Aktivist:innen alternative Antworten auf gemeinsame soziale Probleme.199 Die Kraft der Abolition liegt in ihrer Kombination aus grundlegender Kritik und einem hoffnungsvollen Horizont und in ihrem Beharren auf vielfältigen Strategien und Taktiken, um uns auf diesen Horizont zuzubewegen. Während es zwangsläufig eine Vielzahl von Möglichkeiten gibt, wie abolitionistische Strategien und Taktiken schematisiert werden könnten, möchte ich drei Ansätze skizzieren: (1) Forderungen, typischerweise an den Staat, (2) Formen der Rechenschaftspflicht für Leid (harm), und (3) community-basierte Antworten auf menschliche Bedürfnisse. Dieser Entwurf ist weit davon entfernt, ein umfassendes Bild in einem sich schnell verändernden Feld zu zeichnen. Einige Projekte verfolgen mehrere Ansätze zugleich. Durch dieses Schema ermögliche ich, die verschiedenen Stränge der abolitionistischen Organisation zu verstehen, um das isolierte Feld der wissenschaftlichen Forschung für ein Umdenken zu öffnen. (1) Forderungen Critical Resistance hat vor kurzem Kriterien dafür entwickelt, ob es sich bei einem Polizeireformvorschlag um eine »reformistische Reform« handelt, die »die Reichweite des Polizierens ausweitet«, oder um »abolitionistischen Wandel«.200 Wird der Reformentwurf Finanzierung, Mittel, Methoden, Technologie oder Ausmaß der Polizei reduzieren oder »die Auffassung in Frage stellen, dass die 199 Critical Resistance, »The Critical Abolition Organizing Toolkit«, S. 31. (»Wir glauben nicht, dass wir einfach sagen können: ›Ruft niemals die Polizei‹ und die Menschen werden sicherer sein. Aber wir müssen darüber nachdenken, was passiert, wenn die Polizei gerufen wird, warum sie gerufen wird und wie wir eigene Strategien entwickeln können, um die Polizei zu ersetzen«). 200 Critical Resistance, »Reformist Reforms vs. Abolitionist Steps in Policing«, 〈https://static1.squarespace.com/static/59ead8f9692ebee25b72f17f/t/5b65cd587 58d46d34254f22c/1533398363539/CR_NoCops_reform_vs_abolition_CRside. pdf〉, letzter Zugriff 17. 7. 2021.

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Polizei die Sicherheit erhöht«?201 Vorschläge, die den Umfang der Polizei oder die ihr zur Verfügung stehenden Mittel und Werkzeuge reduzieren, sind akzeptabel, ebenso solche, die die Vorstellung in Frage stellen, dass die Polizei für Sicherheit sorgt. Mit diesen Kriterien macht Critical Resistance die Bedeutung sowohl des materiellen als auch des ideologischen Einflussbereichs der Polizei deutlich. Abolitionistische Schritte beinhalten die Aussetzung des bezahlten Sonderurlaubs für Polizist:innen, gegen die ermittelt wird; das Aussetzen von Rentenansprüchen und die Weigerung, Polizist:innen, die in exzessive Gewaltanwendung verwickelt sind, wieder einzustellen; die Haftbarmachung von Polizist:innen für Entschädigungszahlungen bei Fehlverhalten; die Einschränkung von und der Ausstieg aus Programmen zur Militarisierung der Polizei; die Priorisierung von Ausgaben für Gesundheit, Bildung und bezahlbaren Wohnraum in der Gemeinde; und die Verkleinerung der Polizeikräfte.202 Im Gegensatz dazu erhöhen gängige Polizeireformen wie Training, Körperkameras und Community Policing die Mittel, Ressourcen und möglicherweise auch den Umfang.203 Diese Kriterien sind nur ein Beispiel dafür, wie abolitionistische Aktivist:innen über die Infragestellung des Ausmaßes und des Einflussbereichs der Polizei und die Neukonzeption von Formen des kollektiven Lebens nachdenken. Von #FreeThemAll-Kampagnen über die Räumung von Gefängnissen angesichts von COVID-19 bis 201 Ebd. In ähnlicher Weise rief Mariame Kaba dazu auf, Polizeireformen abzulehnen, die mehr Geld für die Polizei bereitstellen und für mehr Polizieren jeglicher Art eintreten oder die »primär technologieorientiert« sind. Mariame Kaba, »Police ›Reforms‹ You Should Always Oppose«, in: Truthout, 7. 12. 2014, 〈https:// truthout.org/articles/police-reforms-you-should-always-oppose〉. Insbesondere technologieorientierte Reformen sind abzulehnen, weil sonst mehr Geld für die Polizei bereitgestellt wird und die Technologie eher gegen die Öffentlichkeit eingesetzt wird und weil »Polizeigewalt nicht durch technologische Fortschritte beendet wird«, ebd.; siehe auch Rachel Herzing, »Let’s Reduce, Not Reform, Policing in America«, in: Open Society Foundations, 6. 10. 2016, 〈https://www. opensocietyfoundations.org/voices/let-s-reduce-not-reform-policing-america〉, letzter Zugriff 17. 7. 2021 (Herzing vertritt die These, dass wir unsere Bemühungen darauf konzentrieren sollten, die Rolle der Polizei in unserem Leben zu reduzieren, anstatt sie zu optimieren). 202 Vgl. Critical Resistance, »Reformist Reforms vs. Abolitionist Steps in Policing«. 203 Vgl. ebd. (»Einige setzen sich dafür ein, dass die Polizei darin geschult wird, wie man auf psychische Krisen reagiert, was die Auffassung bestärkt, dass die Polizei die geeignete Anlaufstelle für alle Arten von Problemen ist«).

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hin zu Kampagnen zur Entziehung von Mitteln für die Polizei gibt es eine Reihe von Kampagnen, die darauf abzielen, den materiellen Einfluss von Polizei und Gefängnissen zu verringern.204 Im Zuge der George-Floyd-Aufstände fordert eine wachsende Zahl von Kampagnen, dass Städte ihre Polizeibudgets kürzen und dass Schulbezirke und Universitäten ihre Verbindungen zu den Polizeibehörden kappen – und so die school-to-prison-pipeline (»Von-der-Schuleins-Gefängnis«-Pipeline) unterlaufen, indem sie die Polizeipräsenz in Schulen beenden.205 Diese Kampagnen sind teilweise erfolgreich, da Budgetkürzungen angekündigt wurden und einige Schulbezirke und Universitäten ihre Verträge mit der örtlichen Polizei auslaufen lassen und andere aktiv die Polizeipräsenz in Schulen verringern.206 Manchmal konzentrieren sich abolitionistische Forderungen auf den Abzug von Ressourcen, den Abbau und die Delegitimierung.207 204 Disarm NYPD ist ein weiteres Beispiel: Zu ihren Zielen gehört die Entwaffnung der Polizei. Vgl. Ashoka Jegroo, »Meet the New Group That Wants to Disarm and Displace the NYPD«, in: Waging Nonviolence, 26. 3. 2015 〈https://waging nonviolence.org/2015/03/meet-new-group-wants-disarm-displace-nypd〉, letzter Zugriff 17. 7. 2021; siehe auch McDowell, Fernandez, »Disband, Disem­ power, and Disarm«, S. 379 ff. 205 Siehe Dignity In Schools Campaign, »Why Counselors, Not Cops?«, 〈http://dignityinschools.org/wp-content/uploads/2018/10/WhyCounselorsNotCops.pdf〉; Angela Helm, »Counselors, Not Cops. New Yorkers Protest Millions Proposed for School Safety Budget, Saying Money Fuels School-to-Prison Pipeline«, in: The Root, 21. 3. 2019 〈https://www.theroot.com/counselors-not-cops-new-yor kers-protestmillions-prop-1833464478〉; Advancement Project, »We Came to Learn. A Call to Action for Police-Free Schools«, 〈https://advancementproject. org/wecametolearn〉, letzter Zugriff 17. 7. 2021. 206 Vgl. Matthew Guerry, »UMN Cutes Ties with Minneapolis Police in Light of George Floyd Case«, in: Twin Cities, 28. 5. 2020, 〈https://www.twincities. com/2020/05/28/umn-cuts-ties-with-minneapolis-police-in-light-of-georgefloyd-case〉; Alissa Widman Neese, »Columbus City Schools to Reevaluate ­Police Resource Officers«, 〈https://perma.cc/XY5K-A6AM〉; Katie Reilly, »Oakland Is Disbanding Its School Police Force as George Floyd’s Death Drives the Push for Police-Free Schools«, in: in: Time, 25. 6. 2020, 〈https://time.com/5859452/ oakland-school-police〉, letzter Zugriff 17. 7. 2021. 207 Auch die Entkriminalisierung ist eine wichtige Strategie, da die schiere Menge an Strafgesetzen die Polizei in praktisch allen Bereichen des Lebens ermächtigt. Niloofar Golkar, »A Roundtable on Sex Work Politics and Prison Abolition«, in: in: Upping the Anti, 28. 6. 2016, 〈https://uppingtheanti.org/journal/article/ 18-sexworker〉, letzter Zugriff 17. 7. 2021 (Golkar erforscht die Entkriminalisierung und Kriminalisierung von Sexarbeit in Kanada).

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Häufiger werden die Forderungen nach einer Reduzierung mit Forderungen nach Investitionen in Formen der kollektiven Fürsorge und der sozialen Absicherung kombiniert: Wohnraum, Gesundheitsversorgung, Arbeit und Bildung. Chicagos #NoCopAcademy-Kampagne ist ein prominentes Beispiel für eine Kampagne, die sich auf die Verkleinerung der polizeilichen Infrastruktur konzentriert.208 Nachdem das Justizministerium nach der Tötung von Laquan McDonald ein Muster und eine Praxis verfassungswidriger Gewalt innerhalb des Chicago Police Department festgestellt hatte, teilte der ehemalige Bürgermeister von Chicago, Rahm Emanuel, sein Vorhaben mit, 95 Millionen US-Dollar für den Bau einer zweiten Polizeischule auszugeben.209 Emanuel beschrieb das Infrastrukturprojekt – das unter anderem einen Pool, einen »Schießstand im Freien« und ein »simuliertes Wohnhaus« umfasste – als Hauptantwort der Stadt auf die Empfehlungen des Justizministeriums.210 Im Gegensatz dazu sahen Ak208 Zu einem weiteren Beispiel siehe Durham Beyond Policing Coalition, »Proposal For A Community-Led Safety And Wellness Task Force« (der Entwurf dokumentiert, wie die Kampagne zustande kam, die sich gegen ein 71 Millionen Dollar teures neues Polizeipräsidium wehrt). 209 Vgl. Civil Rights Division, U.S. Department Of Justice, & National District Of Illinois, »U.S. Attorney’s Office, Investigation Of The Chicago Police Department«, S. 1 ff.; #NoCopAcademy, »#NoCopAcademy. The Report«, S. 4 ff., S. 26, 〈https://nocopacademy.com/wp-content/uploads/2020/06/NCAReport Final2018.pdf〉; Debbie Southorn, Erin Glasco, »Chicago’s Youth Push Back Against Mayor’s Proposed ›Cop Academy‹, Demand More Investment in Communities«, in: Truthout, 22. 2. 2018, 〈https://truthout.org/articles/chicagosyouth-push-back-against-mayor-s-proposed-cop-academy-demand-more-in vestment-in-communities〉 (hier wird festgehalten, dass die Stadt stillgelegte Einrichtungen der Chicago Public Schools als Standort für die neue Polizeiausbildungsstätte in Betracht gezogen hat); Josmar Trujillo, »Starving the Beast. Chicago’s Fight Against Police Expansion Is Everyone’s Fight«, in: The Appeal, 30. 11. 2017, 〈https://theappeal.org/starving-the-beast-chicagos-fight-against-po lice-expansion-is-everyone-s-fight-b66035be5163〉, letzter Zugriff 17. 7. 2021. 210 Siehe Brandon E. Patterson, »A $ 95 Million State-of-the-Art Police Academy Is Chicago’s Latest Political Battleground«, in: Mother Jones, Dezember 2017, 〈https://www.motherjones.com/crime-justice/2017/12/chicago-political-batt leground-95-million-police-training-academy-rahm-emanuel-chance-rapper〉; Rebecca Burns, »Investigation. The Troubled History of the Fund Tapped for Rahm’s Controversial Cop Academy«, in: In These Times, 20. 2. 2018, 〈https:// inthesetimes.com/article/tif-tapped-for-rahms-controversial-cop-academy-has20-million-unspent〉, letzter Zugriff 17. 7. 2021; Trujillo, »Starving the Beast«.

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tivist:innen und community-Mitglieder die Ankündigung als Versuch, eine sinnvolle Reform zu verhindern.211 Die #NoCopAcademy-Kampagne vertrat die These, dass eine polizeiliche Ausbildungsstätte nicht »die strukturelle Gewalt der Polizeiarbeit bekämpfen kann«.212 Die Kampagne stellte Chicagos täglichen Ausgaben von vier Millionen US-Dollar für die Polizei 211 Vgl. Burns, »Investigation. The Troubled History of the Fund Tapped for Rahm’s Controversial Cop Academy«; Patterson, »A $ 95 Million State-of-the-Art Police Academy Is Chicago’s Latest Political Battleground«; #NoCopAcademy, »#No CopAcademy. The Report«, S. 23; Monica Davey, Mitch Smith, »Chicago’s Mayor Demands Sweeping Police Reform«, in: The New York Times, 9. 12. 2015, 〈https://www.nytimes.com/2015/12/10/us/chicagos-mayor-rahm-emanuel-de mands-sweeping-police-reform.html〉, letzter Zugriff 17. 7.  2021. 212 #NoCopAcademy, »#NoCopAcademy. The Report«, S. 25; vgl. auch Southorn, Glasco, »Chicago’s Youth Push Back Against Mayor’s Proposed ›Cop Academy‹, Demand More Investment in Communities« (»Die #NoCopAcademy-Kampa­ gne war sehr erfolgreich darin, das, was sonst ein banales städtisches Unterfangen gewesen wäre, auf nationaler Ebene zu skandalisieren, indem sie forderte, dass Chicago in junge Menschen investiert, anstatt die CPD-Ausbildungskapazitäten mit einer 95 Millionen Dollar teuren neuen Polizeischule zu erweitern«). Community-Organisator:innen veranstalteten Dutzende von Aktionen in Chicago und im ganzen Land gegen die Polizeiakademie und die Identifikation des Polizierens mit der öffentlichen Sicherheit. #NoCopAcademy, »#NoCopAcademy. The Report«, S. 26, S. 28 (Diskussion über die kommunale Unterstützung der Kampagne #NoCopAcademy, einschließlich der unterstützenden Organisationen Assata’s Daughters, BLM Chicago, BYP100 Chicago, Arab American Action Network, Chicago Dyke March Collective, Chicago Desi Youth Rising, Jewish Voice for Peace, Chicago Latino Union, NLG Chicago, NLG TUPOCC Chicago, War Resisters League); siehe auch Lucy Diavolo, »#NoCopAcademy Protesters Share How It Felt to Occupy Chicago’s City Hall«, in: Teen Vogue, 29. 3. 2018, 〈https://www.teenvogue.com/story/nocopacademy-protesters-occu py-chicago-city-hall〉 (Diavolo beschreibt, wie die Kampagne die Stimmen von fast 900 Gemeindemitgliedern einholte und dass die Anwohner keine Finanzierung für die Polizeiakademie wollten); Katie Mitchell, »Chance the Rapper Protests Chicago’s ›Cop Academy‹, Asking Why $ 95 Million Isn’t Being Invested in Schools«, in: Bustle, 9. 11. 2017, 〈https://www.bustle.com/p/chance-the-rapper protests-chicagos-cop-academy-asking-why-95-million-isnt-being-invested-inschools-3262518〉 (Mitchell spricht über die Unterstützung der Kampagne durch Chance the Rapper, der bei einer Anhörung des Chicagoer Stadtrats mit den Organisator:innen der #NoCopAcademy aussagte); Juanita Tennyson, ­»#NoCopAcademy Wants Chicago Leadership to Prioritize Schools over Police«, in: Teen Vogue, 16. 3. 2018, 〈https://www.teenvogue.com/story/nocopacademywants-chicago-leadership-to-prioritize-schools-over-police〉, letzter Zugriff 17. 7. 2021 (Tennyson stellt die sogenannten train takeovers zur Debatte).

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und 642 Millionen US-Dollar für die Beilegung von polizeilichem Fehlverhalten über zwölf Jahre hinweg Emanuels 2012 erfolgter Schließung von sechs psychiatrischen Kliniken gegenüber – die 2,2 Millionen US-Dollar benötigt hätten, um in Betrieb zu bleiben – sowie der 2013 erfolgten Schließung von 54 überwiegend schwarzen Schulen.213 #NoCopAcademy lehnte die Idee ab, dass erhöhte Ausgaben für die Polizei den Schaden verringern, und argumentierte, dass »Investitionen in Güter wie psychische Gesundheit, Bildung, Arbeitsplätze und Wohnraum« die Art von Investitionen sind, »die tatsächlich das Trauma, die Armut und den Schmerz verringern können, die oft zu Gewalt in unseren Gemeinden führen«.214 Chicago plant immer noch den Bau der Polizeiakademie.215 Die #NoCopAcademy war eine Kampagne gegen den Plan der Stadt, Land zu erwerben und 95 Millionen US-Dollar bereitzustellen als Reaktion auf eine Legitimationskrise der Polizei, die Chicagoer Aktivist:innen als Reaktion auf den Mord von McDonald durch die Polizei ausgelöst hatten. Die Kampagne und ihr Scheitern, den Bau der Einrichtung zu verhindern, spiegeln sowohl den Einfluss als auch die Grenzen der aufkommenden abolitionistischen Organisierung im ganzen Land wider. Die Kampagne verlagerte den Diskurs über das Schulungszentrum von einer Diskussion über die Polizeireform für ein berüchtigtes korruptes Polizeirevier zu einer 213  Vgl. #NoCopAcademy, »#NoCopAcademy. The Report«, S. 6; Southorn, ­Glasco, »Chicago’s Youth Push Back Against Mayor’s Proposed ›Cop Academy‹, Demand More Investment in Communities« (sie diskutieren die Schließung von 49 öffentlichen Schulen im Jahr 2013 unter Emanuels Regierung). 214 #NoCopAcademy, »#NoCopAcademy. The Report«, S. 2; siehe auch »A Love Letter to the #NoCopAcademy Organizers from Those of Us on the Freedom Side«, 〈 http://www.usprisonculture.com/blog/2019/03/13/a-love-letter-to-the-no copacademy-organizers-from-those-of-us-on-the-freedom-side〉, letzter Zugriff 17. 7. 2021 (sie zeichneten ein Bild des Polizierens als einer von Natur aus gewalttätigen und todbringenden Institution, die NICHT »reformiert« wird, indem man Polizist:innen »besser« ausbildet oder in schickeren Gebäuden unterbringt). 215 Vgl. Trujillo, »Starving the Beast«. Im Februar 2019 »genehmigte das Stadtplanungsamt die Landnutzungsänderungen für das 30 Hektar große Grundstück der Polizeiakademie«, und der Stadtrat von Chicago stimmte mit nur sechs Nein-Stimmen für den Plan, um voranzukommen. John Byrne, »Mayor Rahm Emanuel’s Plan for New Chicago Police Academy Heads to Full City Council«, in: Chicago Tribune, 12. 3. 2019, 〈https://www.chicagotribune.com/politics/ct-met-po lice-academy-zoning-advances-20190312-story.html〉, letzter Zugriff 17. 7. 2021.

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Diskussion über die zugrundeliegenden strukturellen Realitäten der Entfremdung von den schwarzen Gemeinden auf Chicagos West Side.216 Dass die Kampagne defensiv war – sie zielte auf Aneignungen und Infrastruktur ab –, macht sie nicht weniger zu einer Kampagne, die auf eine transformative Reform abzielte. Wie all die Kampagnen, die sich auf die Polizeiinfrastruktur konzentrieren, gibt es auch landesweit Kampagnen gegen die Gefängnisinfrastruktur.217 Einige dieser Kampagnen weisen auf die Verflechtung des Polizierens mit der Inhaftierung hin. Man denke nur an den Kampf um Rikers Island in New York City, als die Stadt beschloss, das berüchtigte Gefängnis zu schließen und vier neue Gefängnisse mit deutlich weniger Betten als Rikers zu bauen.218 No New Jails NYC und Critical Resistance NYC sprachen sich lautstark gegen den Plan der Stadt aus, schätzungsweise 8,7 Milliarden US-Dollar für den Bau neuer Gefängnisse auszugeben.219 Beide Or216 Siehe Burns, »Investigation. The Troubled History of the Fund Tapped for Rahm’s Controversial Cop Academy« (Burns spricht über die Forderung der Anwohner nach Finanzierung von »Schulen, erschwinglichem Wohnraum, ­Gesundheitsversorgung und guten Arbeitsplätzen für die Menschen im Stadtteil«). 217 Siehe zum Beispiel Close The Workhouse, »Close The Workhouse. A Plan To Close The Workhouse & Promote A New Vision For St. Louis«, S. 7, 〈https:// archcitydefenders.org/wp-content/uploads/2019/03/CloseTheWorkhouse Plan_Rev110112018-1.pdf〉; dies., »As St. Louis City Finalizes the Budget, Population in Workhouse Jail Drops to Record Low, and Majority of St. Louis Board of Aldermen Support Permanently Closing the Workhouse«, 〈https://static1. squarespace.com/static/5ada6072372b96dbb234ee99/t/5ee8eb3897d2423426d 2c0c4/1592322872864/CtW+Press+Release+Draft+%28for+June+16%29.pdf〉, letzter Zugriff 17. 7. 2021. 218 Siehe Matthew Haag, »N.Y.C. Votes to Close Rikers. Now Comes the Hard Part«, 〈https://www.nytimes.com/2019/10/17/nyregion/rikers-island-closing-vote. html〉; The Plan, »City Of N. Y. A Roadmap to Closing Rikers«, 〈https://rikers. cityofnewyork.us〉, letzter Zugriff 17. 7. 2021. 219 Siehe Noah Goldberg, »Who Is No New Jails NYC?«, in: Brooklyn Eagle, 14. 5. 2019, 〈https://brooklyneagle.com/articles/2019/05/14/no-new-jails-nyc〉; Adam H. Johnson, »The Appeal Podcast Episode 4. How Prison Reform Was Co-Opted to Sell More Prisons«, in: The Appeal, 16. 6. 2018, 〈https://theappeal.org/ the-appeal-podcast-episode-4-how-prison-reform-was-co-opted-to-sell-moreprisons〉; @nonewjails_nyc, 〈https://twitter.com/nonewjails_nyc/status/1150806 675667980291〉 (Aufruf zum Widerstand gegen den Gefängnisausbauplan von Bürgermeister Bill de Blasio); No New Jails NYC Legal Staff Letter, 〈https:// sites.google.com/view/nnjattorneysletter〉; Critical Resistance, »Oppose NYC

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ganisationen vertraten die Ansicht, dass der beste Weg, um den Bedarf an neuen Gefängnissen zu verringern, darin bestehe, dass »das NYPD die Zahl seiner Verhaftungen reduziert«.220 Forderungen, Polizei und Gefängnisse abzubauen, werden oft von Forderungen begleitet, in die soziale Absicherung und kollektive Fürsorge zu investieren: Wohnraum, Gesundheitsfürsorge und Bildung.221 Mit der Forderung nach Investitionen schlagen diese Kampagnen alternative Wege vor, die der Staat einschlagen kann, um auf alle Arten derzeit kriminalisierter sozialer Probleme zu reagieren. L. A. for Youth war mit ihrer Forderung früh dran, dass Los Angeles ein bis fünf Prozent seines milliardenschweren Jahresbudgets für die Strafverfolgung in die Einrichtung einer Abteilung für Jugendentwicklung umleiten sollte.222 Die Abteilung sollte einen Jail Construction. Turn Out to City Hearings and Email Your Council Members«, 〈https://mailchi.mp/criticalresistance/stop-neighborhood-jail-expansion211873?e=dd3840815b〉, letzter Zugriff 17. 7. 2021. 220 Jonathan Ben-Menachem, »Incarceration is Always a Policy Failure«, in: The Appeal, 15. 5. 2019, 〈https://theappeal.org/incarceration-is-always-a-policy-failure〉; siehe auch Critical Resistance, »Oppose NYC Jail Construction. Turn Out to City Hearings and Email Your Council Members«; Matthew Haag, »4 Jails in 5 Boroughs. The $ 8.7 Billion Puzzle over How to Close Rikers«, in: The New York Times, 4. 9. 2019, 〈https://www.nytimes.com/2019/09/04/nyregion/ rikers-island-jail-closing.html〉, letzter Zugriff 17. 7. 2021 (Haag merkt an, dass die Befürworter:innen sich »gegen neue Ersatzgefängnisse aussprechen, mit dem Argument, dass diese die weit verbreitete Inhaftierung aufrechterhalten würden, ohne die zugrundeliegenden Faktoren anzugehen, die dazu führen, dass Menschen verhaftet und eingesperrt werden«). 221 Die politische Plattform des Movement for Black Lives 2016, »Vision for Black Lives«, machte Forderungen im Stil von »invest-divest« populär, als sie »invest-divest« als eine ihrer sechs Hauptforderungen vorstellte. Movement For Black Lives, »Invest-Divest«, 〈https://m4bl.org/policy-platforms/invest-divest〉, letzter Zugriff 17. 7. 2021. Das Center for Popular Democracy, Law for Black Lives und andere Organisationen arbeiteten daran, solche Kampagnen im ganzen Land zu unterstützen. Siehe zum Beispiel Kate Hamaji u. a., »Freedom To Thrive: Reimagining Safety & Security In Our Communities«. 222 Vgl. L. A. For Youth, 〈http://www.laforyouth.org〉; Youth Justice Coalition, »LA for Youth – 1 % Campaign«, 〈https://youth4justice.org/take-action/la-foryouth-1-campaign〉, letzter Zugriff 17. 7. 2021. Die Kampagne startete 2012. Eine andere L. A.-Kampagne, Share the Wealth des Los Angeles Community Action Network, fordert den Stopp der Wohnungsräumungen und mehr erschwinglichen Wohnraum, ein Ende des Broken-Windows-Polizierens, mehr Arbeitsplätze, mehr Grünflächen, Parks, Gemeinschaftsgärten und Verkehrsmittel sowie formelle und informelle Entscheidungsprozesse, die für alle Angelenos

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Jugendvorstand, ein Netzwerk von Jugendzentren mit Jugenddiensten, 15 000 Arbeitsplätze und bezahlte Praktika für Jugendliche sowie Arbeitsplätze für 350 Mediator:innen und Konfliktbehandler:innen aus der community umfassen.223 Während sich einige investitionsorientierte Forderungen auf staatliche Programme konzentrieren – die Dream Defenders zum Beispiel fordern ein universelles Grundeinkommen, ein Programm für garantierte Arbeitsplätze und eine universelle Gesundheitsversorgung224 –, fordern andere den Staat auf, in die Gemeinden selbst zu investieren. Die Durham Beyond Policing Coalition zum Beispiel fordert 200 000 US-Dollar von der Stadt für eine »community-geführte Sicherheits- und Wohlergehens-Taskforce«.225 Re­ claim the Block setzt sich für eine Änderung der Stadtverordnung von Minneapolis ein, die die Notwendigkeit von Polizeibehörden streicht und durch eine Abteilung für Gemeindesicherheit und Gewaltprävention ersetzt, die einen »ganzheitlichen, am öffentlichen Gesundheitswesen orientierten Ansatz« verfolgt.226 Diese Forderungen zielen darauf ab, die materielle Infrastruktur unserer Städte umzugestalten, und sie tun dies zum Teil dadurch, zugänglich sind. L. A. CMTY Action Network, »Share the Wealth Platform«, 〈https://cangress.files.wordpress.com/2012/11/share-the-wealth.pdf〉, letzter Zugriff 17. 7. 2021. 223 Vgl. L. A. For Youth. 224 Vgl. Dream Defenders, »Defund Police, Rebuild Our Communities«, S. 5. Durham Beyond Policing Coalition, »Proposal For A Community-Led­ 225  Safety And Wellness Task Force«, S. 7. In ähnlicher Weise fordert die neue BYP100-Kampagne »She Safe, We Safe« (Sie ist sicher, wir sind sicher), den ­Polizeiapparat abzubauen und in »community-bestimmte Programme zu investieren, die sich mit geschlechtsspezifischer Gewalt in schwarzen communities auseinandersetzen«. »She Safe, We Safe«, 〈https://www.shesafewesafe.org〉; siehe auch Sherronda J. Brown, »Black Youth Project 100 Launches Campaign Against Gender-Based Violence«, 〈https://www.wearyourvoicemag.com/ black-youth-project-100-she-safe-we-safe〉; Tom Wray, »BYP100 Launches She Safe, We Safe Campaign«, in: Illinois Eagle, 18. 4. 2019, 〈https://illinoiseagle. com/2019/04/18/byp100-launches-she-safe-we-safe-campaign〉, letzter Zugriff 17. 7. 2021. 226 Liz Navratil, Miguel Otárola, »Minneapolis Charter Commission Blocks Controversial Policing Proposal from November Ballot«, in: Star Tribune, 6. 8. 2020, 〈https://www.startribune.com/charter-commission-blocks-plan-to-remake-po lice-fromballot/572016392〉; @reclaimtheblock, 〈https://twitter.com/reclaimthe block/status/1278434744234115078〉, letzter Zugriff 17. 7. 2021.

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dass sie Fragen über die Rolle der Polizei im öffentlichen Leben und im Staat, ihre ungleiche Art der Leistungserbringung und ihr Versagen aufwerfen. Das Movement for Black Lives verbindet defund police (»der Polizei die Mittel kürzen«) mit defend Black Lives (»schwarze Leben verteidigen«).227 Dream Defenders kombiniert defund police mit rebuild our communities (»unsere communities wiederaufbauen«).228 Diese Forderungen stellen die Prämisse in Frage, dass das Polizieren Sicherheit produziert, und bringen die Rolle der Polizei bei der Zerstörung schwarzer communities auf den Punkt. Auf diese Weise versuchen solche Forderungen, die Polizei und ihre Rolle in unserem Gemeinwesen zu delegitimieren, um den Einfluss der Polizei zu beschneiden und Raum für neue Formen der Entschädigung und Reaktion auf soziale, politische und ökonomische Probleme zu schaffen, einschließlich zwischenmenschlicher Konflikte und staatlicher Gewalt. (2) Modi der Rechenschaft Abolitionist:innen erproben Formen der Rechenschaftspflicht (accountability) für staatliche Gewalt und zwischenmenschliche Konflikte, die sich nicht auf Gefängnisse und Polizei stützen.229 Eine zentrale Herausforderung besteht darin, wie die Rechenschaftspflicht für Polizeigewalt zu denken ist – da individuelle Anklagen nicht »die systemische Natur der Unterdrückung und des Genozids an schwarzen communities hervorheben« und stattdessen »die Situa­ tion als das Verschulden eines schlechten Polizisten darstellen«.230 227 M4BL x Essence, »Discuss What it Means to Defund Police, Defend Black ­Lives«, 〈 https://www.essence.com/news/in-defense-of-black-lives/m4bl-essencedefund-police-defend-black-life〉, letzter Zugriff 17. 7. 2021. 228 Dream Defenders, »Defund Police, Rebuild Our Communities«. 229 Siehe zum Beispiel Ejeris Dixon, Leah Lakshmi Piepzna-Samarasinha (Hg.), Beyond Survival, Chico 2020; Mimi E. Kim, »Über Kritik hinausgehen«, im vorliegenden Band (Kim beschreibt die Arbeit von Creative Interventions als »Teil einer größeren sozialen Bewegung, die das Fortbestehen von Heteropa­ triarchat und weißer Vorherrschaft herausfordert«). 230 Siehe Rachel Herzing, Isaac Ontiveros, »Responding to Police Killing. Questions and Challenges for Abolitionists«, in: Criminal Justice Matters, 82 (2010), S. 38-40, hier S. 38 f.; siehe auch Carruthers, Unapologetic, S. 132 (»Die Inhaftierung von Polizisten wird weder das Polizieren noch die Gewalt beenden«); Kate Levine, »Police Prosecutions and Punitive Instincts«, in: Washington University

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Man denke an die erfolgreiche Reparationskampagne für das zwei Jahrzehnte andauernde Folterprogramm, das von Jon Burge, einem ehemaligen Polizeichef des Chicago Police Department, geleitet wurde.231 Nach den gescheiterten Bemühungen, Burge für die Folterung von etwa 120 schwarzen Männern und Frauen in den 1970er und 1980er Jahren anzuklagen,232 kam es zu einem Umdenken über Gerechtigkeit und Entschädigung. Aktivist:innen von Project NIA, We Charge Genocide und Chicago Torture Justice Memorials kämpften – mit Unterstützung des People’s Law Office – für Wiedergutmachung für die Opfer.233 Das erfolgreiche Reparationspaket, das vom Stadtrat von Chicago verabschiedet wurde, umfasste ein öffentliches Denkmal, einen 5,5 Millionen US-Dollar schweren Reparationsfonds, kostenlose Studiengebühren für Junior Colleges und Beratungsdienste für die Betroffenen und ihre Familien sowie Änderungen des Lehrplans an öffentlichen Schulen, um die Geschichte der Polizeigewalt zu berücksichtigen.234 Die abolitionistische Intellektuelle und Aktivistin Mariame Kaba bezeichnete die Kampagne als eine Übung zur Wiederherstellung einer umfassenderen Vision von Gerechtigkeit und Verantwortlichkeit; die Reparationskampagne erweitere unsere »potentielle Vision davon, wie Gerechtigkeit aussehen könnte, wenn Menschen Leid zugefügt wird«.235 Das Reparationspaket schuf Law Review, 98 (2021), S. 997-1057 (Levine stellt den Nutzen der strafrechtlichen Verfolgung einzelner Polizeibeamter in Frage). 231  Siehe Natalie Y. Moore, »Payback«, in: The Marshall Project, 30. 10. 2018, 〈https://www.themarshallproject.org/2018/10/30/payback〉, letzter Zugriff 18. 7. 2021; siehe auch Flint Taylor, The Torture Machine. Racism And Police Violence In Chicago, Chicago 2019. 232 Siehe Movement For Black Lives, »Invest-Divest«, S. 69; Chicago Torture Justice Memorials, 〈https://chicagotorture.org/about〉, letzter Zugriff 18. 7. 2021. 233 Vgl. Akbar, »How Defund and Disband Became the Demands«. 234 Siehe Peter C. Baker, »In Chicago, Reparations Aren’t Just an Idea. They’re the Law«, in: The Guardian, 8. 3. 2019, 〈https://www.theguardian.com/news/2019/ mar/08/chicago-reparations-won-police-torture-school-curriculum 〉 ; Somashek­har, »Why Chicago Used the Word ›Reparations‹«; Chicago Torture Justice Memorials, »The Reparations Ordinance«, 〈https://www.chicagotorture. org/?page_id=63〉, letzter Zugriff 18. 7. 2021. 235 Noah Berlatsky, »Reimagining Justice: An Interview with Mariame Kaba«, in: Urban Faith, März 2015, 〈https://urbanfaith.com/2015/03/reimaginingjustice-an-interview-with-mariame-kaba.html〉; siehe auch Dan Sloan, »A World Without Prisons. A Conversation with Mariame Kaba«, in: L ­ umpen

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einen Modus der Rechenschaftspflicht, der die langjährigen Forderungen nach Reparationen aus dem schwarzen Freiheitskampf widerspiegelt. Es verdrängte und entkräftete die Strafverfolgung als einzige Form der Gerechtigkeit und Rechenschaftspflicht. Es beflügelte die abolitionistische Organisationsarbeit in Chicago und im ganzen Land.236 Das Movement for Black Lives hat seitdem ein Handbuch veröffentlicht, das Reparationen als abolitionistische Strategie propagiert.237 Zwischenmenschliche und intime Übergriffe – Vergewaltigung, sexuelle Übergriffe, sexueller Missbrauch von Kindern – sind ein weiteres zentrales Anliegen abolitionistischer Arbeit, die zu einem großen Teil in der feministischen Praxis schwarzer Frauen und women of color verankert ist.238 Es ist unwahrscheinlich, dass die Polizei tatsächlich Ressourcen oder Möglichkeiten zur Besserung bereitstellt. Vielmehr wird sie auf Hilferufe schwarzer und brauner Menschen hin Verhaftungen vornehmen und zusätzliche Gewalt ausüben, wodurch die Gewalt sowohl gegen die Opfer/Betroffenen als auch gegen die Täter:innen eher eskaliert als deeskaliert.239 Magazine, März 2019, 〈https://overthrowpalacehome.files.wordpress.com/ 2019/02/a-world-without-prisons-a-conversation-with-mariame-kaba-e280 93-lumpen-magazine.pdf〉, letzter Zugriff 18. 7. 2021. 236 Das mündete zum Beispiel in der #NoCopAcademy-Kampagne, wie in Teil III.B.1 besprochen. 237 Vgl. Movement For Black Lives, »Reparations Now Toolkit«, S. 66-72, 〈https:// m4bl.org/wp-content/uploads/2020/05/Reparations-Now-Toolkit-FINAL. pdf〉, letzter Zugriff 18. 7. 2021; siehe auch Patrisse Cullors, »Abolition and Rep­ arations. Histories of Resistance, Transformative Justice, and Accountability«, in: Harvard Law Review, 132 (2019), S. 1684-1729, hier S. 1686 f. (Cullors nennt Reparationen »abolition in action«). 238 Siehe zum Beispiel Beth E. Richie, Arrested Justice. Black Women, Violence, and America’s Prison Nation, New York 2012; Arrieta-Kenna, »›Abolish Prisons‹ Is the New ›Abolish ICE‹«; Kim, »Über Kritik hinausgehen« (Kim legt eine kurze Entstehungsgeschichte für Critical Resistance, INCITE! Women of Color Against Violence, GenerationFive und Creative Interventions vor); Beth E. Richie, »Fore­word«, in: Social Justice, 37 (2010) S. 12-14, hier S.12 (Richie stellt fest, dass »feministische Forscher:innen und Antigewaltaktivist:innen, vor allem solche, die sich als Women of Color identifizieren«, »community-basierte Antworten auf Gewalt in der community« vorziehen, die sich nicht auf »Polizei/Gefängnisse« verlassen); siehe auch Leigh Goodmark, Decriminalizing Domestic Violence, Oakland 2018 (Goodmark setzt sich für eine weitgehende Entkriminalisierung von häuslicher Gewalt ein). 239 Zum Strafrechtsfeminismus siehe Elizabeth Whalley, Colleen Hackett, »Carcer­

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Nehmen wir zum Beispiel generationFIVE, eine abolitionistische Organisation, die sich zum Ziel gesetzt hat, den sexuellen Missbrauch von Kindern innerhalb von fünf Generationen zu beenden.240 Das Handbuch der Organisation Ending Child Sexual Abuse beschreibt sexuellen Missbrauch in der Kindheit nicht als ein Verbrechen, das von einigen wenigen begangen wird, sondern als eine systemische und vorhersehbare Form der Gewalt, die aus den Werten und Strukturen unserer Gesellschaft hervorgeht.241 Polizei und Gefängnis können das Problem sexuellen Missbrauchs in der Kindheit nicht »lösen«, weil die »Realität und das Ausmaß des Problems einfach zu groß sind«.242 Darüber hinaus gelingt es der Polizei nicht, »Missbrauch zu verhindern, Verhalten zu ändern oder Schadensersatz zu leisten«; stattdessen »schafft sie weiteres Leid für Einzelpersonen, Familien, communities und die Gesellschaft«.243 Laut generationFIVE ist es unsere »kollektive Verantwortung«, bei sexuellem Missbrauch von Kindern »einzugreifen und ihn zu veral Feminisms. The Abolitionist Project and Undoing Dominant Feminisms«, in: Contemporary Justice Review, 20 (2017), S. 456-473; Law, »Gegen den Strafrechtsfeminismus«. Zu rechtswissenschaftlichen Ansätze, die in eine ähnliche Richtung gehen, siehe Aya Gruber, The Feminist War On Crime. The Unexpect­ ed Role Of Women’s Liberation in Mass Incarceration, Oakland 2020; Donna ­Coker, »Crime Control and Feminist Law Reform in Domestic Violence Law. A ­Critical Review«, in: Buffalo Criminal Law Review, 4 (2001), S. 801-860, hier S. 806 f., S. 851 f.; Donna Coker, »Shifting Power for Battered Women. Law, Material Resources and Poor Women of Color«, in: UC Davis Law Review, 33 (2000), S. 1009-1056, hier S. 1034 f., S. 1047 f.; Aya Gruber, »Equal Protection Under the Carceral State«, in: Northwestern University Law Review, 112 (2018), S. 1337-1384; dies., »The Feminist War on Crime«, in: Iowa Law Review, 92 (2007), S. 741-834; dies., »Neofeminism«, in: Houston Law Review, 50 (2013), S. 1325-1390, hier S. 1372-1382. 240 Vgl. generationFIVE, »About Us«, 〈https://perma.cc/2TDS-8SDH〉, letzter Zugriff 18. 7. 2021. 241 Vgl. generationFIVE, »Ending Child Sexual Abuse. A Transformative Justice Handbook«, S. 6 ff. (generationFIVE stellt fest, dass nicht nur die meisten von uns »jemanden kennen, der sexuell missbraucht wurde«, sondern dass, »ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht, die meisten von uns jemanden kennen, der Kinder sexuell missbraucht hat«). 242 Ebd., S. 28 ff. 243 Ebd. Allgemeiner ausgedrückt: Da die meisten Kinder von Menschen in ihrem familiären und sozialen Umfeld missbraucht werden, landen die meisten Fälle nie im System, und wenn doch, werden sie selten strafrechtlich verfolgt.

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hindern«.244 Das Handbuch liefert Beispiele dafür, wie Abläufe »konkrete Rechenschaftspflicht anstreben« und Betroffenen Unterstützung bieten können. Dazu gehören unterstützende Strukturen für diejenigen, die wegen Sexualverbrechen aus dem Gefängnis kommen, um sicherzustellen, dass die Grundbedürfnisse der Person erfüllt werden und um Verhaltensweisen in Frage zu stellen, die mit sexuellem Missbrauch in der Kindheit in Verbindung gebracht werden.245 Auf diese Weise entwirft generationFIVE ein Bild von der kollektiven Arbeit, die die Aufarbeitung und Prävention von sexuellem Kindesmissbrauch erfordern würde, und hebt das völlige Versagen des Strafrechtssystems dabei hervor. Abolitionistische Experimente wie Chicagos Reparationskampagne und generationFIVE lenken die Aufmerksamkeit auf das Versagen des Polizierens und Strafens hinsichtlich einer sinnvollen Entschädigung für systemische Formen von Leid. Sie schaffen neue Formen der Rechenschaftspflicht, indem sie darauf abzielen, den Einfluss der Gefängnisse und Polizei auf unser Denken zu lockern. Sie bauen Einfluss und Handlungsmöglichkeiten innerhalb lokaler communities auf, um sich in selbstbestimmten Projekten zu organisieren. (3) Community-basierte Projekte und Experimente Abolitionist:innen engagieren sich für den Aufbau starker und widerstandsfähiger communities, die in der Lage sind, auf Krisen und zwischenmenschliche Konflikte zu reagieren.246 Dabei geht es sowohl um die Stärkung der Solidarität innerhalb von communities 244 Ebd., S. 37, S. 39 (generationFIVE definiert fünf Dimensionen eines transformativen, abolitionistischen Ansatzes: soziale Analyse und Kritik der systemischen Unterdrückung, Bildung der Gemeinschaft über die Dynamik der Gewalt, Verständnis von Trauma und Heilung, gemeinschaftsbasierte Interventionen und Organisation in den communities). 245 Vgl. ebd., S. 50 ff. (generationFIVE stellt fest, »dass es in den Vereinigten Staaten keine Unterstützung für die Behandlung von Menschen mit pädophilen Neigungen gibt«, dass es aber ein Programm in Deutschland gibt, von dem wir lernen können). 246 Siehe zum Beispiel Care Not Cops, »Who We Are«, 〈https://www.carenotcops. org/about〉, letzter Zugriff 18. 7. 2021 (»Care Not Cops arbeitet daran, Schaden zu verhindern und starke, florierende communities aufzubauen«).

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als auch darum, die Abhängigkeit von institutionellen Reaktionsweisen auf alle Arten sozialer Probleme zu überwinden. Die tagtägliche abolitionistische Organisationsarbeit suggeriert, dass Praktiken der Abolition schon jetzt ohne weiteres realisierbar sind, so der abolitionistische Leitspruch.247 Er lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Frequenz, mit der wir bereits auf soziale Probleme und zwischenmenschliche Konflikte ohne die Polizei reagieren.248 Er macht das abolitionistische Projekt als etwas erkennbar, das wir bereits praktizieren und verstehen und das deshalb erreichbar ist. Die Abolition auf diese Weise zu fassen, ist eine Organisationstaktik, die so wichtig ist, dass ein ganzes Projekt entwickelt wurde, um sie zu fördern. Die abolitionistische Organisation Creative Interventions startete das StoryTelling & Organizing Project (STOP), um Geschichten von communities zu sammeln, die zusammenkommen, um zwischenmenschliche Gewalt »durch kollektive, community-basierte Alternativen« zu beenden, ohne die Polizei zu rufen.249 In ähnlicher Weise weist Kaba auf Orte hin, an denen 247 Vgl. Kim, »Über Kritik hinausgehen«. 248 Zu einer Untersuchung »vergangener und gegenwärtiger Modelle der gemeinschaftlichen Selbstverteidigung von Frauen«, ohne Inanspruchnahme der Polizei, siehe Victoria Law, »Where Abolition Meets Action. Women Organizing Against Gender Violence«, in: Contemporary Justice Review, 14 (2011), S. 85-94. 249 Creative Interventions, »StoryTelling & Organizing Project (STOP)«, 〈https:// www.creative-interventions.org/about/ci-projects/storytelling-organizing-pro ject-stop〉; Storytelling & Organizing Project, 〈http://www.stopviolenceevery day.org〉. »Durch den Erfahrungsaustausch, wie gewöhnliche Menschen in Gewaltsituationen interveniert haben, ohne sich auf den Staat oder soziale Institutionen zu verlassen, beginnen wir, einen Werkzeugkasten gemeinsamer Ressourcen aufzubauen, der es uns ermöglicht, als Community Organizer auf Gewalt zu reagieren, mit dem Fokus auf langfristige Veränderungen und kurzfristige Zwischenschritte, kollektives statt individuelles Handeln, Selbstevaluation und -bewertung mit dem Ziel, unsere Strategien und Taktiken zu verbessern und die Macht weg vom Staat und hin zu unserer eigenen Selbstbestimmung zu verlagern.« Rachel Herzing, Isaac Ontiveros, »Making Our Stories Matter. The StoryTelling & Organizing Project (STOP)«, in: Ching-In Chen u. a. (Hg.), The Revolution Starts At Home, Chico 2011, S. 207-2016, hier S. 207 f. Zu einem Beispiel abolitionistischer Praxis als Reaktion auf sexuelle Übergriffe siehe Kim, »Über Kritik hinausgehen« (Kim beschreibt einen gemeinschaftlichen Rechenschaftsprozess, der eine Entschuldigung, feministische Therapiesitzungen für die Person, die den Übergriff begangen hatte, und Schulungen zur Aufklärung über sexuelle Übergriffe für die Mitglieder der Organisation, der sie angehörte, umfasste). Chain Reaction ist ein weiteres solches Projekt, das in Chicago an-

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wir bereits mit sozialen Konflikten umgehen, ohne auf die Polizei zurückzugreifen, auch in reichen Nachbarschaften und Schulen.250 Als weiteres Beispiel spricht Turmalin von der Möglichkeit, eine:n betrunkene:n Freund:in nach Hause zu fahren, anstatt die Polizei zu rufen.251 Für die Menschen, mit denen wir in Beziehungen stehen, wissen wir bereits, dass Polizieren und Strafen »unsere Probleme nicht lösen«.252 Aber abolitionistische Aktivist:innen verstehen, dass die Gründe, warum Menschen die Polizei rufen, komplex sind, besonders in einem Umfeld ohne offensichtliche Alternativen.253 Deshalb bauen sie, selbst wenn Aktivist:innen Abolition und Reduktion fordern, durch eine Vielzahl von Experimenten und Projekten, einschließlich Formen gegenseitiger Hilfe, die Widerstandsfähigkeit der communities und die Fähigkeit, kollektive Bedürfnisse zu befriedigen, auf und testen sie.254 Im Jahr 2015 startete Critical Resistance Oakland die Oakland gesiedelt ist und Gespräche in den Gemeinden »über Alternativen zum Einschalten der Polizei bei jungen Menschen« fördern und unterstützen soll. Chain Reaction, »Alternatives To Calling Police«, 〈http://www.alternativestopolicing. com〉. Zu Materialien, die von Chain Reaction, Project NIA und dem Chicago Prison Industrial Complex (PIC) Teaching Collective entwickelt wurden, siehe The Pic Is…, 〈http://www.thepicis.org〉, letzter Zugriff 18. 7. 2021. 250 Vgl. Dukmasova, »Abolish the Police?«, Tamara K. Nopper, »Abolition Is Not a Suburb«, 〈https://thenewinquiry.com/abolition-is-not-a-suburb〉, letzter Zugriff 18. 7. 2021 (Nopper wirft Fragen über den Nutzen eines solchen Vergleichs auf ). 251 Vgl. Barnard Center for Research on Women, »No One is Disposable, Part 2: Practicing Prison Abolition Everyday«. Die Polizei von Atlanta tötete Rayshard Brooks, nachdem sie ihn in einem Auto geweckt und einen Alkoholtest durchgeführt hatte. Malachy Browne u. a., »How Rayshard Brooks Was Fatally Shot by the Atlanta Police«, in: The New York Times, 14. 6. 2020, 〈https://www. nytimes.com/2020/06/14/us/videos-rayshard-brooks-shooting-atlanta-police. html〉, letzter Zugriff 18. 7. 2021. 252 Barnard Center for Research on Women, »No One is Disposable«, »Part 1: Pris­ on Abolition + Prefiguring the World You Want to Live In«. 253 Zu einem Bericht darüber, wie sich schwarze Frauen trotz des allgemeinen Misstrauens an die Polizei wenden, siehe Bell, »Situational Trust«. 254 Siehe zum Beispiel Dean Spade, »Solidarity Not Charity«, S. 131 ff.; Jia Tolentino, »What Mutual Aid Can Do During a Pandemic«, in: The New Yorker, 18. 5. 2020, 〈https://www.newyorker.com/magazine/2020/05/18/what-mutualaid-can-do-during-a-pandemic〉, letzter Zugriff 18. 7. 2021.

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Power Projects (OPP), eine Initiative zur Schaffung von »Praktiken, Beziehungen und Mitteln, die den Einfluss und das Wohlergehen der community stärken, ohne sich auf die Polizei zu verlassen«.255 Eine Umfrage in der lokalen community ergab, dass Anrufe der Notrufnummer 911 häufig zu Polizeieinsätzen in medizinischen Notfällen führten.256 Die Umfrage zeigte auch den Wunsch der community nach einer Gesundheitsversorgung ohne Beteiligung der Polizei.257 Daraufhin gründete OPP eine »Anti-Policing Health Workers Cohort«, die sich aus diversen Fachleuten des Gesundheitswesens zusammensetzte und eine Vielzahl von Workshops durchführte, »um ein umfassendes Verständnis des gefängnisindustriellen Komplexes aufzubauen, seine sich überschneidenden Beziehungen mit dem Gesundheitswesen zu analysieren und Abolition sowohl als Strategie wie auch als langfristige Vision zu verstehen«.258 Die Mitglieder 255 The Oakland Power Projects, »Abolitionist«, Spring, S. 7; siehe auch dies., »Decoupling Policing from Health Services. Empowering Healthworkers as Anti-Policing Organizers«, 〈https://static1.squarespace.com/static/59ead8f9 692ebee25b72f17f/t/5b6ab5f7352f535083505c5a/1533720057821/TheOakPower Proj_HEALTHreport.pdf〉; dies., »Oakland Power Projects #1. The Anti-­ Policing Health Worker Cohort. An Interview with Ruben Leal«, 〈http://criti calresistance.org/wp-content/uploads/2016/06/RubenInterviewFlier2016.pdf〉; Candice Bernd, »Community Groups Work to Provide Emergency Medical Alternatives, Separate from Police«, in: Truthout, 14. 9. 2015, 〈https://truthout. org/articles/community-groups-work-to-provide-emergency-medical-alterna tives-separate-from-police〉, letzter Zugriff 18. 7. 2021. 256 Siehe Critical Resistance, »The Oakland Power Projects«, 〈https://criticalre sistance.org/wp-content/uploads/2015/03/TheOakPowerProj_rept_target1_ v3WEB.pdf〉; dies., »Oakland Power Projects – Health Resources«, 〈http://criticalresistance.org/opphealthresources〉, letzter Zugriff 18. 7. 2021. 257 Vgl. Critical Resistance, »The Oakland Power Projects«; siehe auch Bernd, »Community Groups Work to Provide Emergency Medical Alternatives, Sep­ arate from Police« (Bernd diskutiert Umfrageergebnisse). Oakland steht nicht alleine da. Siehe Bernd, »Community Groups Work to Provide Emergency Med­ical Alternatives, Separate from Police« (Bernd erwähnt, dass die Polizei auch in Texas Ansprechpartner Nummer eins bei medizinischen Notfällen ist). 258 Oakland Power Projects, »Decoupling Policing«. Die Gruppe »zielt darauf ab, den Widerstand gegen die alltägliche Polizeigewalt zu erhöhen, Menschen besser zu befähigen, auf die Gesundheitsbedürfnisse der community auf solche Weise zu reagieren, dass der Kontakt mit der Polizei minimiert wird, und schließlich den Zugang zur Gesundheitsversorgung vom Polizieren loszulösen«. »Oakland Power Projects – Health Resources«. Weitere Beispiele für alternative Antworten auf Konflikte sind das Projekt Harm Free Zone in Durham, North

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der Gruppe entwickelten »Keine-Anruf-Pläne für ihre Organisationen und communities« und »Kenne-deine-Optionen«-Workshops, die »Menschen dazu befähigen, in Notfällen zu deeskalieren« sowie die Zahl der Anrufe bei der Polizei wegen gesundheitlicher Probleme zu reduzieren.259 Diese Workshops beinhalten ein Basistraining, wie man auf alltägliche Gesundheitsprobleme wie Bluthochdruck reagiert, sowie fortgeschrittene »Techniken, wie zum Beispiel Herzdruckmassage und die Behandlung von Schuss- oder Stichwunden«.260 Das Projekt schafft Alternativen zum Anruf bei der Polizei und stellt gleichzeitig die Logik der polizeilichen Intervention in medizinischen Krisensituationen in Frage.261 Carolina, das »Wissen und Einfluss der community aufbaut, damit community-Mitglieder und nicht die Polizei als Ersthelfer:innen herangezogen werden können«; und die Kampagne Safe OUTside the System’s Safe Neighborhood des Audre Lorde Project, die »sich darauf konzentriert, den Schaden für lesbische, schwule, bisexuelle, Two-Spirit, transsexuelle und gender-nonkonforme people of color zu reduzieren, indem sie mit lokalen Betrieben und Gemeindeeinrichtungen zusammenarbeitet, um Menschen in Not einen sicheren Zufluchtsort zu bieten, ohne die Polizei einzuschalten« und »die Partner der Kampagne im Kampf gegen Homophobie und Transphobie schult und Strategien entwickelt, um Gewalt zu bekämpfen, ohne die Polizei zu rufen«. »Black Liberation and the Abolition of the Prison Industrial Complex. An Interview with Rachel Herzing«; siehe auch Critical Resistance, »Harm Free Zone Project. General Framework«, 〈http://criticalresistance.org/wp-content/uploads/2014/05/HFZNY.pdf〉; Audre Lorde Project, »Safe OUTside the System (SOS)«, 〈https://alp. org/programs/sos〉; Spirithouse, »The Harm Free Zone«, 〈https://www.spirit house-nc.org/harm-free-zone〉; Jaweed Kaleem, »A California Church Flirts with an Unusual Social Experiment. To Never Call Police Again«, in: LA Times, 30. 5. 2018, 〈https://www.latimes.com/nation/la-na-dont-call-police-church-20 180530-story.html〉 (Kaleem berichtet über »ein weißes Kirchenmitglied«, das sagte: »Wir können das Trauma, das unseren Gemeinden durch das Polizieren zugefügt wird, nicht länger tolerieren«); Mike Ludwig, »A New Year’s Resolution. Don’t Call the Police«, in: Truthout, 26. 12. 2014, 〈https://truthout.org/ articles/a-new-years-resolution-don-t-call-the-police〉, letzter Zugriff 18. 7. 2021 (Ludwig rät dazu, nicht die Polizei zu rufen, sondern alternative Wege der Streitbeilegung zu wählen). 259 Oakland Power Projects, »Decoupling Policing«. 260 Bernd, »Community Groups Work to Provide Emergency Medical Alterna­ tives, Separate from Police«. Die Gruppe hat auch das Ziel, medizinische Ausrüstung zu verteilen, die in medizinischen Notfällen verwendet werden kann. 261 Vgl. Oakland Power Projects, »Decoupling Policing«, S. 7 (»Polizeibeamt:innen sind das Gegenteil von versorgenden Dienstleister:innen«). Ein weiteres Bei-

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Die OPP-Gruppierung kann nicht so einfach als abolitionistisches Experiment betrachtet werden, aus dem Erkenntnisse über Reformen gezogen werden können. Wie viele abolitionistische Experimente ist es lokal begrenzt und konzentriert sich auf den Aufbau von Widerstandsfähigkeit und Kompetenzen der community, um die Abhängigkeit von der Polizei in medizinischen Notfällen zu verringern. Diese Betonung des Lokalen stellt eine Herausforderung für die Rechtswissenschaft dar, die dazu neigt, sich auf die föderale und verfassungsmäßige Ebene zu konzentrieren.262 Das Streben nach partikularen Alternativen fordert uns auf, den communities und ihren Bedürfnissen sowie den verschiedenen Kontexten Aufmerksamkeit zu schenken, in denen sie sich aufgrund eines Mangels an sinnvollen Alternativen an die Polizei wenden. Diese Experimente weisen uns auf die Beziehung zwischen der Widerstandsfähigkeit von communities und ihren Mitteln und der Inanspruchnahme der Polizei hin. Sie lehren uns, dass Menschen, die durch Polizeigewalt gefährdet sind, oft jene sind, die keinen Zugang zu bestimmten Mitteln haben. Sie verweisen auf den Wunsch der Zivilgesellschaft nach Alternativen zur Polizei und auf die Möglichkeit, eine sinnvolle Auswahl an Antworten auf eine Reihe von politischen, wirtschaftlichen und sozialen Problemen aufzubauen, jenseits des Gefängnisses.

spiel ist Crisis Assistance Helping Out on the Streets (CAHOOTS), ein rund um die Uhr arbeitender »mobiler Kriseninterventionsdienst«, der in die öffentlichen Sicherheitsdienste der Stadt Eugene, Oregon, eingegliedert ist und von diesen finanziert wird. Bernd, »Community Groups Work to Provide Emergency Medical Alternatives, Separate from Police«; White Bird Clinic, »CAHOOTS: Crisis Assistance Helping Out on the Streets«, 〈https://whitebirdclinic.org/ca hoots〉; »Crisis Assistance Helping Out On The Streets. White Bird Clinic’s­ Mobile Crisis Intervention Program«, 〈https://truthout.org/wp-content/uploads/legacy/documents/starting_a_MCIP.pdf〉; siehe auch Brian Bull, »CAHOOTS Services Would Expand Under Proposed City of Eugene Budget«, 〈 https://www.klcc.org/post/cahoots-services-would-expand-under-propo sed-city-eugene-budget?fbclid=IwAR1dZR1xLnKEU-SQzGgFHGeKM EvRj1I1bioV0M0adXT73eNpXdqZHqg5gA〉, letzter Zugriff 18. 7. 2021. 262 Siehe Harmon, »Why Arrest?« (Harmon kritisiert den zu kurzsichtigen Blick von Gerichten und Forscher:innen auf das Bundesrecht und verfassungsrechtliche Fragen, wenn es um die Regulierung von Polizeigewalt geht).

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IV. Jenseits der Reform

Die Aufstände in Ferguson und Baltimore erforderten eine Neubewertung der Polizeigewalt und verdeutlichten, dass die Polizei keine neutralen Schiedsrichterin der öffentlichen Sicherheit ist, sondern eine Instanz alltäglicher Gewalt und Ausbeutung. Die Aufstände von 2020 zwingen uns, die materielle Infrastruktur zu hinterfragen, die die Polizei aufrechterhält: 100 Milliarden US-Dollar an öffentlichen Geldern, die andernfalls in den Wohnungsbau, in Schulen und andere Formen von Sozialprogrammen fließen könnten.263 Wir können weiterhin eine Reformagenda vorantreiben, die die Polizei als eine irreguläre Institution behandelt, als eine Ausnahme und nicht als wesentlichen Bestandteil der Regierungsweise, und daher weiterhin darüber diskutieren, wie wir in die Polizei investieren können, um ihre Gewalt effektiver einzusetzen. Oder wir können uns der enormen Aufgabe stellen, den Gefängnisstaat abzuschaffen – der sowohl ein Produkt unserer Geschichte als auch ein Merkmal unserer politischen Ökonomie ist –, und uns der kollektiven Arbeit stellen, eine Gesellschaft aufzubauen, die nicht auf Bestrafung, sondern auf soziale Absicherung und kollektive Fürsorge ausgerichtet ist. In diesem Abschnitt lege ich dar, wie ein abolitionistischer Hori­ zont die wissenschaftliche Arbeit über Polizei und Reform neu gestalten würde. Ich vertrete die These, dass die Annahme eines aboli­ tionistischen Horizonts die Rechtswissenschaft bereichern und die Reformprojekte, in denen wir stecken, verändern würde. Abolition verlangt von uns, uns mit der langen Geschichte von race und Polizieren in den Vereinigten Staaten und der zentralen Rolle der Polizei in unserer politischen Ökonomie auseinanderzusetzen. Sie zwingt uns, die Reform über die Polizei hinaus auf die Gesellschaft zu übertragen und nicht als Endziel, sondern als Strategie für eine breitere Transformation zu begreifen. Vor einem abolitionistischen Horizont ist die Polizeiarbeit ein Hindernis für die Verwirklichung einer gerechten Gesellschaft – und nicht ein Werkzeug dafür. Daher lenkt abolitionistisches Denken Reformprojekte weg von der Opti263 Siehe Vaidya Gullapalli, »Spending Billions on Policing, Then Millions on Police Misconduct«; in: The Appeal, 2. 8. 2019, 〈https://theappeal.org/spendingbillions-on-policing-then-millions-on-police-misconduct〉, letzter Zugriff 20. 7.  2021.

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mierung der Polizei hin zur Begrenzung des polizeilichen Einflusses und des Raumes, in dem sie operiert. Und dort, wo die Polizeigewalt zurückgedrängt wird, soll die Abolition einen Raum eröffnen, in dem sich andere Formen kollektiven Regierens entfalten können.

A. Race und Polizei: Eine lange Geschichte Abolitionistische Kritik ist in der langen Geschichte des Polizierens begründet, die im juristischen Diskurs oft unberücksichtigt bleibt. Eine abolitionistische Geschichte offenbart, dass die Polizei maßgeblich an der gewaltsamen Kontrolle der Bewegungsfreiheit, der Arbeit, des Landbesitzes und des Widerstands schwarzer und indigener Menschen beteiligt ist.264 Sie bringt die materiellen Dimensionen historischer und gegenwärtiger Prozesse der Rassifizierung in den Blick.265 Wenn abolitionistische Aktivist:innen die Ursprünge der Polizei in Sklav:innenpatrouillen, Grenzpatrouillen und Milizen identifizieren, verweisen sie auf eine lange und komplexe Geschichte der Rassifizierung durch Gewalt.266 Aber die Gewalt der Versklavung und des Kolonialismus war nicht Gewalt um ihrer selbst willen: Diese Gewalt begleitete und beförderte Versklavung, Diebstahl, Ausbeutung und Enteignung in großem Ausmaß. Daher ist die Polizei nicht nur für die Rassifizierung, sondern auch für den Kapitalismus und dessen Abhängigkeit von Rassifizierung und Gewalt zentral.267 264 Alexandra Natapoff überdenkt das Strafverfahren im Hinblick auf die abolitionistische Rechtsgeschichte, siehe Alexandra Natapoff, »Atwater and the Misdemeanor Carceral State«, in: Harvard Law Review Forum, 133 (2020), S. 147-178. 265 Vgl. Gilmore, Golden Gulag, S. 28 (»Rassismus ist insbesondere die staatlich sanktionierte oder extralegale Produktion und Ausbeutung von Anfälligkeit für vorzeitigen Tod«); siehe auch Patrick Wolfe, Traces of History. Elementary Structures of Race, London 2016 (Wolfe identifiziert die spezifischen materiellen historischen Prozesse, die den Prozessen der Rassifizierung zugrunde liegen). 266 Siehe zum Beispiel Hernández, City Of Inmates; dies., Migra! A History Of The U.S. Border Patrol. 267 Auf diese Weise sind Debatten über Abolition mit Debatten über den r­acial capitalism verknüpft. Die Organisationsmaterialien verweisen auf diesen Zusammenhang. Siehe zum Beispiel Dream Defenders, »Defund Police, Rebuild Our Communities«, S. 4 (Dream Defenders liefern Definitionen für Abolition und racial capitalism). Zu wissenschaftlichen Arbeiten über racial capital­ ism siehe zum Beispiel Gargi Bhattacharyya, Rethinking Racial Capital­ism, London 2018; Andy Clarno, Neoliberal Apartheid, Chicago 2017, S. 8; Cedric

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Die Auseinandersetzung mit der Beständigkeit rassifizierter Gewalt über einen langen Zeitraum hinweg stört das Narrativ des linearen Fortschritts, das für den liberalen Legalismus von zen­ traler Bedeutung ist, und verweigert der Polizei ihren privilegierten Status als neutrale Schiedsrichterin der öffentlichen Sicherheit. Masseninhaftierung und Broken-Windows-Policing sind nur wenige Jahrzehnte alt, während rassifizierte Formen der Ausbeutung, Enteignung und Inhaftierung mindestens seit den Anfängen des Kolonialismus und der Versklavung existieren. Die Anerkennung dieser langen Geschichte von Gewalt und Enteignung vertieft unser Verständnis des Polizierens und seiner zentralen Rolle in der rassifizierten politischen Ökonomie der Vereinigten Staaten. Die gezielte und strukturelle rassifizierte Polizeigewalt ist keine Abweichung von einer Norm, sondern erweist sich als anhaltendes Phänomen. Für Polizeigewalt als solche gibt es keine einfache, schnelle oder technokratische Lösung. Zumindest sollte klar sein, dass zusätzliche Investitionen das strukturelle und historisch verwurzelte Problem der Polizeigewalt nicht sinnvoll lösen werden. Wir müssen überdenken, was es bedeutet, Institutionen zu reformieren oder zu transformieren, die gleichermaßen neu und alt J. Robinson, Black Marxism, London 1983; Jackie Wang, Carceral Capitalism, South Pasadena 2018; Walter Johnson u. a. (Hg.), Race Capitalism Justice, Cambridge 2017; Jodi A. Byrd u. a., »Predatory Value. Economies of Dispossession and Disturbed Relationalities«, in: Social Text, 36 (2018), S. 1-18, hier S. 1; K-Sue Park, »Money, Mortgages, and the Conquest of America«, in: Law & Social Inquiry, 41 (2016), S. 1006-1035; Jordan T. Camp u. a., »A Response to Nancy Fraser«, in: Politics/Letters, 20. 5. 2019, 〈http://quarterly.politicsslashletters.org/a-response-to-nancy-fraser〉; Mark Golub, ­ »Racial Capitalism and the Rule of Law«, in: items, 19. 2. 2019, 〈https://items.ssrc. org/race-capitalism/racial-capitalism-and-the-rule-of-law〉; Walter Johnson, »To Remake the World. Slavery, Racial Capitalism, and Justice«, in: Boston Review, 20. 2. 2018, 〈http://bostonreview.net/forum/walter-johnson-to-re make-the-world〉; Robin D. G. Kelley, »What Did Cedric Robinson Mean by Racial Capitalism?«, in: Boston Review, 12. 1. 2017, 〈http://bostonreview.net/ race/robin-d-g-kelley-what-did-cedric-robinson-mean-racial-capitalism〉; Jodi Melamed, Chandan Reddy, »Using Liberal Rights to Enforce Racial Capital­ ism«, in: items, 30. 7. 2019, 〈https://items.ssrc.org/race-capitalism/using-libe ral-rights-to-enforce-racial-capitalism〉; Donna Murch, »How Race Made the Opioid Crisis«, in: Boston Review, 9. 4. 2019, 〈http://bostonreview.net/forum/ donna-murch-how-race-made-opioid-crisis〉, letzter Zugriff 20. 7. 2021.

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sind.268 Kimberlé Crenshaw und Reva Siegel haben unsere Aufmerksamkeit auf die Zyklen von Reform und Rückbau sowie Erhalt durch Transformation im Kontext der Kämpfe um race- und Geschlechtergerechtigkeit gelenkt.269 Sobald wir Polizieren und Inhaftieren als Verkörperung einer strukturellen und rassifizierten Ordnung im Kern unseres Rechtssystems verstehen, müssen wir Entknastung und die Abschaffung der Polizei als zentral für umfassendere Kämpfe um soziale Gerechtigkeit verstehen. Die Lehren aus diesen Kämpfen sollten für Strafrechtswissenschaftler:innen, die sich mit Reformprojekten beschäftigen, im Vordergrund stehen. Es gibt eine dialektische Beziehung zwischen Fortschritt und Reaktion, und der Status quo neigt dazu, sich anzupassen, um eine tiefgreifende Transformation zu verhindern. Während die Forderungen nach einer Entlastung der Polizei immer mehr an Fahrt gewinnen, sind die Kräfte des Rückschritts und der Konservierung bereits deutlich zu erkennen. Durch die Gewerkschaften und ihre Gewalt gegen Demonstrierende mobilisiert die Polizei den Widerstand.270 Während es eine wachsende Zahl von gewählten Vertreter:innen gibt, die die Forderungen nach Abschaffung und Abbau unterstützen, gibt es viel mehr gewählte Vertreter:innen und Bürokrat:innen, die sich den Forderungen der Basis widersetzen.271 268 In der Rechtswissenschaft und anderen Disziplinen untersuchen Forscher:innen zunehmend die Geschichte des Kolonialismus und der Sklaverei als wesentlich für das Verständnis der Struktur der Welt. Siehe zum Beispiel Maggie Blackhawk, »Federal Indian Law as Paradigm Within Public Law«, in: Harvard Law Review, 132 (2019), S. 1787-1877; Park, »Self-Deportation Nation«. Ein Beispiel für eine nichtlineare zeitliche Betrachtung liefert Nick Estes, Our History is the Future. Standing Rock Versus the Dakota Access Pipeline, and the Long Tradition of Indigenous Resistance, London 2019. 269 Vgl. Crenshaw, »Race, Reform, and Retrenchment«; Reva Siegel, »Why Equal Protection No Longer Protects. The Evolving Forms of Status-Enforcing State Action«, in: Stanford Law Review, 49 (1997), S. 1111-1148; siehe auch Khiara M. Bridges, »White Privilege and White Disadvantage«, in: Virginia Law Review, 105 (2019), S. 449-482, S. 480 f. (»Diejenigen von uns, die an racial justice interessiert sind, müssen immer wachsam für neue Mechanismen rassistischer Unterdrückung sein«). 270 Siehe The New Yorker Radio Hour, »The Power of Police Unions«, in: The New Yorker, 31. 7. 2020, 〈https://www.newyorker.com/podcast/the-new-yorkerradio-hour/the-power-of-police-unions〉, letzter Zugriff 20. 7. 2021. 271 Siehe zum Beispiel David Montgomery, »Texas Governor Proposes Freezing

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Zeitgenössische Abolitionist:innen berufen sich auf die Kämpfe gegen die Sklaverei als Fundament für ihre Bewegung und verankern ihre Organisation in einem langen Freiheitskampf.272 Sie arbeiten auf eine Abolitionsdemokratie (abolition democracy) hin, um es mit den Worten von W. E. B. Du Bois und Angela Davis auszudrücken.273 Abolitionsdemokratie ist nur möglich, wenn wir die Sklaverei und die Institutionen, die ihre Gewalt fortsetzen, abschaffen und alternative Formen der kollektiven Selbstverwaltung aufbauen, damit wir endlich die Transformation fördern können, die während der Reconstruction begonnen wurde.274

B. Politische Ökonomie und der Gefängnisstaat Abolition stellt sicher, dass wir uns darauf konzentrieren, die Polizei in Bezug zum Gefängnisstaat und zur politischen Ökonomie zu verstehen.275 Aktivist:innen sprechen von der Abolition des »geTaxes in Cities that ›Defund‹ Police, N. Y.«, in: The New York Times, 18. 8. 2020, 〈https://www.nytimes.com/2020/08/18/us/texas-abbott-police-defund-austin. html?smid=twnytnational&smtyp=cur〉, letzter Zugriff 20.  7.  2021; Otárola Navratil, »Minneapolis Charter Commission Blocks Controversial Policing Proposal from November Ballot« (sie beschreiben, wie, nachdem eine Mehrheit des Minneapolis Stadtrates beteuerte, die Polizeibehörde abzubauen, die Charter-Kommission der Stadt eine Wahl blockierte, die dazu dienen sollte, die Anforderung der Stadtcharta für eine Polizeibehörde zu beseitigen und sie durch eine Abteilung der Gemeinschaftssicherheit und Gewaltprävention zu ersetzen). 272 Siehe zum Beispiel Critical Resistance, »What Is Abolition?«, 〈http://critical resistance.org/wp-content/uploads/2012/06/What-is-Abolition.pdf〉, letzter Zugriff 20. 7. 2021. (»Wir übernehmen den Titel ›Abolitionist absichtlich von jenen, die in den 1800er Jahren die Abolition der Sklaverei forderten«). 273 Vgl. W. E. B. Du Bois, Black Reconstruction in America 1860-1880, New York 1998, S. 182 (Du Bois definiert die »abolition democracy, die auf Freiheit, Intelligenz und Macht für alle Menschen beruht«, im Vergleich zur »Industrie für privaten Gewinn, die von einer Autokratie gelenkt wird, die um jeden Preis entschlossen ist, Reichtum und Macht anzuhäufen«); Angela Y. Davis, »Abo­ litionistische Demokratie«, im vorliegenden Band. 274 Siehe Du Bois, Black Reconstruction S.182 ff.; Davis, Gesellschaft ohne Gefängnisse?; siehe auch McLeod, »Abolitionistische Demokratien entwerfen«. 275 Zur weiteren aktuellen Forschung siehe die Arbeit über Geldbußen und Gebühren, Gentrifizierung und Segregation von Amy J. Cohen, »Moral Restorative Justice. A Political Genealogy of Activism and Neoliberalism in the United States«, in: Minnesota Law Review, 104 (2019), S. 889-954; dies., »Trauma and the Welfare State. A Genealogy of Prostitution Courts in New York City«, in:

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fängnisindustriellen Komplexes«, was nicht nur die Polizei, sondern auch Gefängnisse, Überwachung und andere Formen der strafrechtlichen Kontrolle betrifft. Ohne einen weiteren Blick auf diese miteinander verzahnten Institutionen, die ein noch nie dagewesenes Maß an Inhaftierung aufrechterhalten, können wir keine Reformempfehlungen geben, die dieses expansive, hydraähnliche System auch nur ansatzweise in Frage stellen könnten.276 Gefängnisse und Polizei sind voneinander abhängige Institutionen. Ihre horrenden Kosten – jüngste Schätzungen gehen davon aus, dass das Strafrechtssystem jährlich mindestens 182 Milliarden US-Dollar kostet, wobei 63,2 bis 100 Milliarden US-Dollar für die Polizei ausgegeben werden – offenbaren die zentrale Bedeutung der strafrechtlichen Kontrolle innerhalb des Staates heute.277 Das Texas Law Review, 95 (2017), S. 915-992; Janet Moore, »Isonomy, Austerity, and the Right to Choose Counsel«, in: Indiana Law Review, 51 (2018), S. 167-210, S. 176 ff. 276 In dem Maße, in dem sich einige Befürworter:innen der Entknastung indirekt für eine Ausweitung des Polizeiapparats einsetzen, um mit den vermeintlichen Folgen der Entknastung fertig zu werden, weist diese Denkweise die gleichen Probleme auf wie die Befürwortung sogenannter »Alternativen zur Inhaftierung« oder der elektronischen Entknastung – die den Käfig durch andere Formen der gewaltsamen sozialen Kontrolle ersetzen. Das liegt daran, dass die Polizei selbst eine Quelle der Gewalt ist, zusätzlich dazu, dass sie an vorderster Front als Zubringer für Gefängnisse und Haftanstalten dient. Siehe Arnett, »From Decarceration to E-Carceration«; Michelle Alexander, »The Newest Jim Crow«, in: New York Times, 8. 11. 2018, 〈https://www.nytimes.com/2018/11/08/ opinion/sunday/criminal-justice-reforms-race-technology.html〉, letzter Zugriff 20. 7. 2021. Die zunehmende Polizeigewalt im Zuge der Entknastung verlängert nur die tieferen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Krisen, mit denen wir konfrontiert sind, anstatt sie zu lösen, und erhält die Gewalt und Ungleichheit dieser Systeme gegenüber armen, schwarzen und braunen communities in den Vereinigten Staaten aufrecht. 277 Siehe Justice Policy Institute, »Rethinking The Blues« S. 2; Barry Friedman, »We Spend $ 100 Billion on Policing. We Have No Idea What Works«, in: Washington Post, 10. 3. 2017, 〈https://www.washingtonpost.com/posteverything/ wp/2017/03/10/we-spend-100-billion-on-policing-we-have-no-idea-what-works/〉; Equal Justice Initiative, »Mass Incarceration Costs $ 182 Billion Every Year, Without Adding Much to Public Safety«, 〈https://eji.org/news/mass-incarcera tion-costs-182-billion-annually〉; Niall McCarthy, »How Much Do U.S. Cities Spend Every Year on Policing?«, in: Forbes, 7. 8. 2017, 〈https://www.forbes.com/ sites/niallmccarthy/2017/08/07/how-much-do-u-s-cities-spend-every-year-onpolicing-infographic/#6b215f02e7b7〉; Peter Wagner, Bernadette Rabuy, »Fol­

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Ausmaß der Masseninhaftierung wird durch eine staatliche und wirtschaftliche Infrastruktur aufrechterhalten, die mit Milliarden US-Dollar finanziert wird und in der Millionen von Menschen arbeiten.278 Um die karzerale Kontrolle sinnvoll zu reduzieren, müssen wir über die Polizei und die Polizeireform hinausschauen und das breitere politische, wirtschaftliche und soziale Ökosystem betrachten, in dem die Polizei agiert. Polizei und Gefängnisse sind Säulen unserer politischen Ökonomie und unserer sozialen Infrastrukturen. Um das Ausmaß des Polizierens und Inhaftierens zu korrigieren, müssen wir daher das Augenmerk auf die vielfältigen Institutionen der karzeralen Kontrolle richten und darauf, wie ihre Expansion die Formen der sozialen Absicherung ausgehöhlt hat. Um von einer Gesellschaft, die sich auf das Strafen konzentriert, zu einer Gesellschaft der Fürsorge zu gelangen, müssen wir neben dem Polizieren und Inhaftieren auch über Wohnraum und Bildung nachdenken. Wir müssen verstehen, dass die Abschaffung von Gefängnissen und Polizei eine grundlegende Transformation der materiellen und ideologischen Infrastruktur unseres kollektiven Lebens erfordert.

C. Grundlegende Transformation Diese Krise der Polizeigewalt ist mehr als eine Krise der Polizei. Sie ist eine Krise unseres gesamten Rechts- und Staatssystems. Da die Polizei als zentral für die Erhaltung einer politischen Ökonomie der rassifizierten Gewalt und Ausbeutung verstanden wird, erfordert ihre Abschaffung eine grundlegende Transformation der Gesellschaft. Sie lehnt Bemühungen zur Sanierung der Polizei als Investitionen in einen ungerechten Status quo ab. Sie verlangt, dass lowing the Money of Mass Incarceration«, in: Prison Policy, 25. 1. 2017, 〈https:// www.prisonpolicy.org/reports/money.html〉. Die Zahl der Prison Policy Initiative zum Beispiel, die eine Gesamtsumme von 182 Milliarden US-Dollar darstellen, sind höher als die Zahl des Bureau of Justice Statistics (BJS) von 81 Milliarden US-Dollar, weil das BJS Gefängnisse, Haftanstalten, Bewährung und Bewährungshilfe berücksichtigt, aber eine ganze Reihe anderer Kosten auslässt, von der Polizei bis zu den Gerichten und mehr. Bureau Of Justice Statistics, »Preliminary«, 〈https://www.bjs.gov/index.cfm?ty=pbdetail&iid=5239〉, letzter Zugriff 20. 7. 2021. 278 Vgl. Gottschalk, Caught: The Prison State And The Lockdown Of American Pol­ itics.

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wir uns auf Reformen konzentrieren, die die Ressourcen und die Legitimität der Polizei reduzieren und den Raum für Antworten auf zwischenmenschlichen Schaden und menschliches Leid jenseits des Gefängnisstaats erweitern.279 Abolition fordert die vorherrschende Reformagenda in zweierlei Hinsicht heraus. Erstens fördert sie Reformen als eine Strategie zur grundlegenden Transformation und nicht als ein Endziel. Auf diese Weise entsteht eine dialektische Wechselbeziehung zwischen radikalen Ideen und pragmatischen Projekten. Zweitens wird die Polizei durch die Gesellschaft und den Staat als Ziel der Transformation substituiert.280 Auf diese Weise wird die Notwendigkeit eines breiten Spektrums von Strategien für einen sinnvollen Abbau von Gefängnissen und Polizei verdeutlicht – unter anderem durch Forderungen an den Staat, nicht-staatliche Formen der Rechenschaftspflicht sowie Projekte und Experimente zum Aufbau von gemeinschaftlicher Resilienz und Kapazität zu fördern. Dabei zwingt uns die Abolition, die Reform nur als einen Teil eines größeren Transformationsprojekts zu verstehen und die Polizei nur als ein Ziel unter vielen. Der Einfluss der Polizei wird nicht einfach durch die Rechtsprechung zum Vierten Verfassungszusatz und dessen Kapitulation vor der Macht der Polizei begründet. Er liegt ebenso in den Budgets, den Gewerkschaften und im Umfang der Polizei begründet sowie in dem Glauben, dass die Polizei für die öffentliche Sicherheit sorgt und soziale Probleme löst. Die Polizei wird von der lokalen Verwaltung ermächtigt, die sich auf sie verlässt, Strafzettel zu verteilen und Einnahmen zu generieren, um Steuersenkungen zu kompensieren;281 von den Staats- und Bundesbeamt:innen, die zahllose Strafgesetze verabschieden, die immer mehr Befugnisse zur Verhaftung und Inhaftierung verleihen; von den Staatsanwält:innen und Richter:innen, die sich dem Urteil der Polizei beugen;282 und von der Öffentlichkeit, die jene Staatsanwält:innen und Rich279 Siehe Critical Resistance, »The Critical Abolition Organizing Toolkit«. 280 Siehe jedoch Meares, »Synthesizing Narratives of Policing and Making a Case for Policing as a Public Good«, S. 553 f. (Meares fordert eine »Polizeitransformation«). 281 Siehe zum Beispiel Johnson, »Ferguson’s Fortune 500 Company«. 282 Siehe zum Beispiel Kate Levine, »Who Shouldn’t Prosecute the Police«, in: Iowa Law Review, 101 (2016), S. 1447-1497.

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ter:innen immer wieder wählt, die der Polizei einen Freibrief geben. Die Polizei wird durch die Vorstellung bestärkt, dass ihre Existenz alternativlos war, ist und bleiben wird. Abolitionistische Kampagnen verweisen auf die Materialität des Rechts und die elementare Bedeutung der Berücksichtigung des Lokalen. Das Recht wird durch mehr belebt als durch Worte und Rechte. Es umfasst die materielle Infrastruktur, durch die es lebendig wird: Gebäude, Budgets, Ressourcen, Institutionen und Technologie. Abolitionistische Kampagnen erweitern unsere Auffassung von Rechtsreform, die sich typischerweise auf bundesstaatliche Verfassungsrechte konzentriert.283 Abolitionistische Forderungen wie die, der Polizei die Mittel zu kürzen, erinnern uns daran, dass wir unsere Kämpfe nicht nur auf dem Terrain von Rechten, Gerichtsverfahren, Rechtsstaatlichkeit oder administrativer Innovation führen können, wenn wir am Aufbau einer gerechteren Welt interessiert sind. Wir müssen die historischen, materiellen und ideologischen Dimensionen unserer Forderungen und unserer Strategien bedenken. Wir müssen untersuchen, wo wir Geld investieren und welche Art von Infrastruktur wir für das kollektive Leben aufbauen. Wir müssen die Vorstellungen untersuchen, die die Zustände, wie sie sind, motivieren und rechtfertigen. Wir müssen prüfen, wer über welche Ressourcen verfügt, für welchen Zweck und warum. Wir müssen verstehen, wie es zu dieser tiefgreifenden Ungleichheit kam, warum sie fortbesteht und was korrigiert werden muss, um die gerechte Gesellschaft zu schaffen, die wir anstreben, aber noch nicht verwirklicht haben. Wir müssen fragen: Wenn Polizei und Gefängnisse der Nährboden für strukturelle Gewalt sind, was sind dann die Elemente des strukturellen Gedeihens, und was sind die Strategien, um sie aufzubauen? 283 Zu einer Darstellung, wie die heutigen Bewegungen unsere Auffassung von Rechten und Reformen erweitern, einschließlich einer überzeugenden Wiederaufnahme der Debatte über die Kritik der Rechte, siehe John Whitlow, »Gentrification and Countermovement. The Right to Counsel and New York City’s Affordable Housing Crisis«, in: Fordham Urban Law Journal, 46 (2019), S. 1081-1136 (Whitlow bewertet die erfolgreiche Kampagne der Stadt New York für ein Recht auf Rechtsbeistand bei Zwangsräumungen als Teil einer größeren Initiative für Wohngerechtigkeit). Zu einer abweichenden Konzeption der Rolle des Rechts in progressiven Kämpfen siehe Cornel West, »The Role of Law in Progressive Politics«, in: Vanderbilt Law Review, 43 (1990), S. 1797-1806.

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Weil die Abolition nicht die Polizei, sondern den Staat und die Gesellschaft als Ziel der Transformation postuliert, fordert sie uns auf, über unsere Fachgebiete hinweg zu arbeiten und Reformprojekte neu zu überdenken. Betrachten wir die Kriminalisierung der über eine halbe Million Menschen, die jeden Tag mit Wohnungslosigkeit zu tun haben.284 In praktisch allen Staaten ist es kriminell, im Freien zu schlafen, zu urinieren oder Alkohol zu trinken. Obdachlose werden von der Polizei aggressiv verfolgt.285 Infolgedessen gehen Obdachlose im Gefängnis ein und aus.286 Entkriminalisierung ist eine wichtige Strategie des Abbaus von Gefängnissen und der Polizei. Aber sie geht nicht weit genug. Wir können nicht ernsthaft Entkriminalisierung fordern, ohne dann ­darüber nachzudenken, was die Menschen sonst noch an Unterstützung brauchen, und über die umfassenderen sozialen Strukturen, die die Menschen derart verletzlich machen. Die Entkriminalisierung lindert nicht die zugrundeliegende Prekarität, mit der Menschen konfrontiert sind, die wohnungslos sind. Die Beseitigung der Wohnungsunsicherheit erfordert, dass man die tatsächliche Arbeit auf sich nimmt, die darin besteht, mehr Wohnraum zur Verfügung zu stellen, sogar das Recht auf angemessenen Wohnraum zu dekommodifizieren oder zu garantieren und den Zugang zu den Mitteln zu ermöglichen, mit denen die Miete bezahlt werden kann, zum Beispiel durch einen Job, der ein existenzsicherndes Gehalt einbringt. Um das Problem frontal anzugehen, ist es notwendig, sich für einen umfassenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Wandel einzusetzen, der die Gesellschaft weg vom Strafen und hin zu einem stabilen System des Anspruches auf Absicherung führt. Forderungen nach Reformen sind ein notwendiges, aber unzureichendes Werkzeug für politische, wirtschaftliche und soziale Transformation.287 Während keine einzelne Reform eine Transfor284 Vgl. National Alliance to End Homelessness, »State of Homelessness. 2020 Edition«, 〈https://endhomelessness.org/homelessness-in-america/homelessness-sta tistics/state-of-homelessness-2020〉, letzter Zugriff 21. 7. 2021. 285 Insgesamt siehe Bauman u. a., »No Safe Place«. 286 Vgl. ebd., S. 34. 287 Debatten über die Möglichkeiten und Grenzen von Gesetzesreformen, um die grundlegenden Merkmale unserer herrschenden Ordnung zu verändern, werden seit langer Zeit geführt. Diese Debatten konzentrieren sich auf die Möglichkeit der »nichtreformistischen Reform«. André Gorz, Strategy For Labor. A

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mation einleiten kann, führen Rechtsreformen von der Basis her zum Aufbau und zur Verlagerung von Einfluss sowie zur Ausweitung demokratischer Handlungsspielräume und zeigen das Potential alternativer politischer, wirtschaftlicher und sozialer Strukturen auf.288 Abolitionist:innen zielen darauf ab, es der gegenwärtigen Ordnung schwerer zu machen, sich zu reproduzieren, während sie Pfade zu neuen Möglichkeiten aufbauen. Die Neuausrichtung unserer Arbeit auf Transformation statt auf Relegitimation verändert die Regeln und den Einsatz des Spiels. Sie verleiht Reformprojekten ein transformatorisches Potential, das das Ziel tatsächlicher Gleichheit in greifbare Nähe rückt. Mit Forderungen nach Abbau und Auflösung, Modi der Rechenschaftspflicht und community-basierten Experimenten bauen abolitionistische Aktivist:innen Modi kollektiver Fürsorge und sozialer Absicherung auf, um sicherzustellen, dass »niemand entbehrlich ist«.289 Die Weite des abolitionistischen Horizonts erlaubt es denjenigen, die verschiedene, sogar widersprüchliche politische Interessen vertreten (antirassistisch, feministisch, sozialistisch, anarchistisch), zusammenzukommen.290 Infolgedessen gibt es unterschiedliche Konzeptionen der Transformation und Meinungsverschiedenheiten darüber, ob alternative Institutionen und Praktiken Experimente mit Vorbildfunktion sind (für Anarchist:innen) oder Überbrückungsmaßnahmen, bis der Staat die Verantwortung übernimmt (für Sozialist:innen).291 Aber über das gesamte ideologische Radical Proposal, Boston 1967, S. 6 ff.; siehe auch Marbre Stahly-Butts, Amna A. Akbar, »Transformative Reforms, Abolitionist Demands«, unveröffentlichtes Manuskript (sie untersuchen abolitionistische Ansätze für Reformen). 288 Amna A. Akbar, »The Left is Remaking the World«, in: The New York Times, 11. 7. 2020, 〈https://www.nytimes.com/2020/07/11/opinion/sunday/defund-po lice-cancel-rent.html〉, letzter Zugriff 22. 7. 2021. 289 Barnard Center for Research on Women, »No One is Disposable« (hier wird ein Aspekt abolitionistischer Arbeit diskutiert, nämlich herauszufinden, wie unsere Beziehungen zueinander nicht der staatlichen Logik folgen, die bestimmt, wer entbehrlich ist). 290 McDowell, Fernandez, »Disband, Disempower, and Disarm«, S. 375 ff.; siehe auch Critical Resistance, »The Critical Abolition Organizing Toolkit«, S. 16 ff. (hier wird auf verschiedene politische und moralische Positionen hingewiesen, die jemanden zu einer abolitionistischen Haltung veranlassen könnten). 291 Siehe Angela Y. Davis, Dylan Rodriguez, »The Challenge of Prison Abolition. A Conversation«, in: Social Justice, 27 (2000), S. 212-218, hier S. 215 (»Der Ruf nach Abolition der Gefängnisse fordert uns auf, uns eine fundamental andere

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Spektrum hinweg wird die Notwendigkeit anerkannt, die Bande der Solidarität zwischen communities zu stärken, die durch unser Strafvollzugssystem ihres Zusammenhalts beraubt wurden. Communities müssen zusammenarbeiten, um Sicherheit neu zu denken, sich umeinander zu kümmern und füreinander zu sorgen und um Schaden zu verhindern, im Schadensfall einzugreifen, Leid zu lindern und zu transformieren als Reaktion auf alle Arten von sozialen Problemen.292 Zweifelsohne sind abolitionistische Forderungen und Experimente für die Rechtswissenschaft nicht leicht zu handhaben. Diese Kampagnen sind oft lokal und sogar hyperlokal, und mit ihrem Fokus auf materielle Infrastruktur und Budgets widersprechen sie unseren Vorstellungen von Rechtsreform.293 Aber anstatt sie abzulehnen oder zu ignorieren, sollten wir die Einsichten schätzen, die sie liefern. Abolitionistische Kampagnen und Experimente lehren uns die Bedeutung des Lokalen und die begrenzte und dennoch notwendige Natur der Gesetzesreform, um einen breiten und tiefgreifenden sozialen Wandel zu bewirken. Sie signalisieren auch das inhärente Scheitern von Reformprojekten, die sich ausschließlich auf die polizeiliche Verwaltung konzentrieren. Manche:r mag argumentieren, dass die Forderungen der Aktisoziale Struktur vorzustellen und dafür zu kämpfen«); siehe auch Camp, Incarcerating the Crisis, S. 147 (Camp arbeitet das Konzept der Abolitionsdemokratie als eine sozialistische Auffassung von Demokratie aus, die »nicht nur das politische Recht, zu wählen und an Wahlen teilzunehmen, sondern auch das ökonomische Recht auf öffentlichen Wohnraum, Bildung, Gesundheitsversorgung, Beschäftigung und Mobilität einschließt«). Abolition ist nicht mit allen politischen Haltungen vereinbar. Siehe McLeod, »Beyond the Carceral State«, S. 656, S. 671-676 (McLeod diskutiert die »regressive finanzpolitische Agenda« der »neoliberalen Strafrechtsreform«, die »nicht nur als Rahmen für die Abschaffung der Gefängnisse ineffektiv« sei, sondern auch »im Widerspruch zum Abbau des Gefängnisstaates« stehe). 292 McDowell/Fernandez, »Disband, Disempower, and Disarm«, S. 383 (wo Spannungen zwischen kurzfristiger Schadensvermeidung und langfristiger Abolition diskutiert werden). 293 Man denke an den Rechenschaftsprozess, der innerhalb von BYP100 geschaffen wurde, um auf zwischenmenschliches Leid innerhalb der Organisation zu reagieren. Siehe dazu McLeod, »Abolitionistische Demokratien entwerfen« (hier wird ein BYP100-Rechenschaftsprozess beschrieben, der als Reaktion auf und in Zusammenarbeit mit einem Mitglied geschaffen wurde, das angab, von einem anderen Mitglied sexuell genötigt worden zu sein).

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vist:innen, der Polizei die Mittel zu entziehen oder Experimente mit Alternativen auf Gemeindeebene zum Notruf 911 durchzuführen, nicht in den Bereich des Rechts fallen, sondern der Politik oder dem Protest zuzuordnen sind. Aber diese Kategorien schließen sich nicht gegenseitig aus. Die Aktivist:innen kämpfen für einen grundlegenden sozialen Wandel, und sie nutzen Kampagnen für Reformen als eine von vielen Taktiken, einschließlich politischer Bildung und des Aufbaus alternativer Institutionen. Reform ist Taktik und Strategie, nicht das Ziel. Aktivist:innen bekämpfen repressive Rechtsinstitutionen durch Kampagnen, die sich darauf konzentrieren, ihren materiellen Einfluss zu verringern – Geld, Ressourcen, Personal –, und schaffen dabei Raum für neue Institutionen. Sie bedienen sich der Protest- und Reformkampagnen, um ihre Visionen voranzutreiben. Mit einem abolitionistischen Horizont im Blick wenden sie sich Reformen als einem Werkzeug zu, um eine andere Welt zu schaffen, anstatt an dieser herumzudoktern. Wenn wir versuchen zu verstehen, wie Aktivist:innen das Recht als Werkzeug einsetzen, werden wir unser Verständnis von Reform als einem Werkzeug innerhalb umfassenderer sozialer Transformationsprojekte, die viele Strategien einsetzen, und ihrer Beziehung zu Politik und Protest schärfen.

Fazit Es ist sechs Jahre her, dass ich Rachel Herzing in Los Angeles sprechen hörte. Seitdem habe ich den abolitionistischen Aktivist:innen im ganzen Land zugehört und von ihnen gelernt. Ich habe ihre Handbücher gelesen, ihre Kampagnen studiert, ihre Veranstaltungen besucht und die Spuren ihrer Experimente und Initiativen gesammelt. Ich habe wie besessen die Berichterstattung, Pressemitteilungen und Podcasts verfolgt. Zu Beginn dieser Reise war ich von Herzings Klarheit beeindruckt und davon, wie sie frontal mit weithin anerkannten Narrativen über Polizei und Polizeireform in der Rechtswissenschaft kollidierte. Ich suchte nach Argumenten für Thesen, die zunächst übertrieben klangen – wie die Verwurzelung der Polizei in den Sklavenpatrouillen –, und fand, dass sie historisch fundiert waren. Während ich zuhörte und las, studierte und 416

schrieb, veränderte sich auch etwas in mir. Meine Kritik schärfte sich, und meine Hoffnung wuchs. In der Zwischenzeit haben die Aufstände von 2020 eine weitere Neubewertung der Strukturen der Polizeigewalt und der Art und Weise, wie die Polizeigewalt unsere Gesellschaft strukturiert, erzwungen. Die Aufstände haben den Forderungen nach Abbau und Abschaffung der Polizei neuen Auftrieb gegeben. Sie verdeutlichen den wachsenden Einfluss abolitionistischer Kritik und Organisationsarbeit in den Vereinigten Staaten. Diese Forderungen und die abolitionistische Organisationsarbeit ernst zu nehmen, hat die Kraft, die Rechtswissenschaft sowohl radikaler als auch hoffnungsvoller zu machen. So ein Paradigmenwechsel kann Raum für wissenschaftliche Arbeit schaffen, die darauf abzielt, die Strukturen und Machtverhältnisse, die dem Land zugrunde liegen, zu transformieren. Übersetzt von Sven Zedlitz

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IV.

(Queer-)Feministische Perspektiven

Andrea J. Ritchie Polizeiliche Antworten auf Gewalt Ich saß im Publikum der Black-Feminism-2000-Konferenz im März 2000, als Robin D. G. Kelley von der UCLA, ein Schwarzer Mann, über eine Frau namens Cherae Williams erzählte. Cherae war 37, Schwarz und lebte in der Bronx, als sie von ihrem Freund zusammengeschlagen wurde. Als sie die Polizei anrief, wurde sie von den Polizeibeamten der NYPD fast zu Tode geprügelt. Obwohl 1999 ein Jahr des Protests gegen Polizeibrutalität gewesen war, nachdem NYPD-Beamte vierzigmal auf den in seinem eigenen Türeingang stehenden Amadou Diallo geschossen hatten, bemerkte Kelley, dass der Fall von Cherae1 ebenso wie die Ermordungen xvon Tyisha Miller in Riverside, Kalifornien, und LaTanya Haggerty in Chicago durch die Polizei im selben Jahr kaum Aufmerksamkeit auf nationaler Ebene erlangten. Kelley führte diese Unsichtbarkeit als Beweis für eine mangelnde Genderanalyse in der Bewegung gegen Polizeibrutalität an und betonte, dass Schwarzer Feminismus bei Erfahrungen von Polizeigewalt an Schwarzen Frauen Konsequenzen fordert. Auf der gleichen Podiumsdiskussion unterstützte auch die Schwarze feministische Vordenkerin Barbara Smith, die selbst am Aktivismus nach Diallos Ermordung beteiligt war, Kelleys Aufruf und erweiterte ihn um die Einbeziehung polizeilicher Gewalt gegen Schwarze LGBTQ-Menschen.2 Ich nahm mir vor, alles über Cheraes Fall in Erfahrung zu bringen. Am 28. September 1999 rief sie während eines Vorfalls häuslicher Gewalt die Notrufnummer 911 an.3 Als die Polizei eintraf, 1 Victoria Law spricht in ihrem Beitrag davon, Cherae Williams sei 35 Jahre alt gewesen, Medienberichte sprechen auch von 38 oder 39. Das korrekte Alter konnte nicht zweifelsfrei ermittelt werden. [Anm. d. Hg.] 2 Andrea J. Ritchie, »Black Feminism Enters the New Millennium«, in: New Barrister, März 2000. 3 Greg Smith, Tara George, »Officers Accused of Beating Woman«, in: The Daily News, 2. 3. 2000; Juan Forero, »Two Officers Are Accused of Beating Woman Who Asked for Their Names and Badge Numbers«, in: The New York Times, 2. 3. 2000, 〈https://www.nytimes.com/2000/03/02/nyregion/2-officers-are-accused-beatingwoman-who-asked-for-their-names-badge-numbers.html〉, letzter Zugriff 17. 2. 

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weigerten sich beide weißen Polizisten sogar, aus ihrem Streifenwagen auszusteigen, um ihre Beschwerde aufzunehmen. Als Cherae nach ihren Namen und Dienstnummern fragte, legten sie ihr Handschellen an, schubsten sie in ihren Streifenwagen und fuhren sie zu einem verlassenen Parkplatz.4 Verängstigt schaffte sie es, im Auto eine Hand aus den Handschellen zu ziehen, und bekam von den Beamten Pfefferspray ins Gesicht gesprüht. Als sie auf dem Parkplatz ankamen, zogen die Beamten sie an den Haaren aus dem Auto, schüttelten sie wiederholt und schlugen ihren Kopf gegen den Wagen. Dann schlugen sie sie so heftig, dass ihre Milz platzte, ihre Nase und ihr Kiefer brachen, der später mit Drähten zusammengehalten werden musste.5 Cherae sagte kurz nach dem Vorfall bei einer Anhörung vor dem New Yorker Stadtrat über das Vorgehen der Polizei bei häuslicher Gewalt aus: »Sie haben mich geschlagen, bis ich blutig war [...]. Sie ließen mich benommen und mit einer Warnung zurück. Sie sagten mir, wenn sie mich auf der Straße sehen würden, würden sie mich töten [...]. Ich rief die Polizei, um einen schweren Vorfall zu verhindern, und sie schlugen mich brutal zusammen.«6 Lange Zeit begann ich jeden Vortrag mit Cheraes Geschichte – die immer wieder Entsetzen auslöste –, um ihre Stimme zu verstärken, die sie aus Protest bei dieser Anhörung vor dem Stadtrat erhob, und um auf ihre Erfahrung als wesentliches Beispiel für die Verletzlichkeit Schwarzer Frauen sowohl für zwischenmenschliche als auch staatliche Gewalt hinzuweisen. Angela Y. Davis, die während ihres gesamten aktiven Lebens unermüdlich über ihre und die Erfahrungen anderer Frauen mit Polizeigewalt gesprochen hat, eröffnete einen Monat nach dem Panel Black Feminism die historische Gründungskonferenz von INCITE! mit der folgenden Geschichte: Vor vielen Jahren, als ich Studentin in San Diego war, fuhr ich mit einem Freund auf den Freeway, als wir einer Schwarzen Frau begegneten, die am Straßenrand entlanglief. Ihre Geschichte war äußerst verstörend. Trotz ihres unkontrollierten Weinens konnten wir vermuten, dass sie vergewaltigt und 2022; J. Zamgba Browne, »Two Officers Sentenced in Assault of Black Woman«, in: Amsterdam News, 15. 11. 2001. 4 Forero, »Two Officers Are Accused«. 5 Vgl. Smith/George, »Officers Accused of Beating Woman«; Forero »Two Officers Are Accused«; National Briefs, in: Pittsburgh Post Gazette, 2. 3. 2000. 6 Ebd.

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am Straßenrand zurückgelassen worden war. Nach einer Weile konnte sie ein Polizeiauto herwinken und dachte, dass sie ihr helfen würden. Als der weiße Polizist sie jedoch mitnahm, tröstete er sie nicht, sondern nutzte die Gelegenheit, sie noch einmal zu vergewaltigen. Ich erzähle diese Geschichte nicht wegen ihres Sensationsgehaltes, sondern wegen ihrer metaphorischen Kraft. Angesichts der rassistischen und patriarchalen Muster des Staates ist es schwierig, sich den Staat als Träger von Lösungen für das Problem der Gewalt gegen Frauen of color vorzustellen. Mit der Institutionalisierung und Professionalisierung der Antigewaltbewegung spielt der Staat jedoch eine immer dominantere Rolle bei der Konzeption und Entwicklung von Strategien zur Minimierung von Gewalt gegen Frauen. Eine der Hauptaufgaben dieser Konferenz und der gesamten Antigewaltbewegung besteht darin, diesen Widerspruch anzugehen, insbesondere da er sich armen communities of color präsentiert.7

Für mich waren diese beiden Geschichten – als Herausforderungen sowohl für die Bewegung gegen Polizeigewalt als auch für die Bewegung gegen Gewalt gegen Frauen – grundlegend. Sie spiegelten meine eigenen Erfahrungen mit Polizeigewalt bei der Suche nach Schutz sowie die konsistenten Ergebnisse meiner Recherchen der letzten 25 Jahre wider: Polizeigewalt gegen Frauen of color findet überproportional und mit erschreckender Häufigkeit im Kontext polizeilichen Vorgehens bei häuslicher und sexueller Gewalt statt. In ähnlicher Weise haben unsere Recherchen für den Bericht »Stone­walled: Police Abuse and Misconduct Against LGBT People in the United States« von Amnesty International aus dem Jahr 2005 und für das Buch Queer (In)Justice deutlich gemacht, dass Reaktionen auf familiäre, zwischenmenschliche sowie homophobe und transphobe Gewalt häufige Schauplätze für Polizeigewalt gegen LGBTQ-Menschen sind. Bei einem Keynote-Vortrag auf der Konferenz der National Coalition Against Domestic Violence (NCADV) 2006 erzählte ich Cheraes Geschichte, um davor zu warnen, sich primär oder sogar 7 Angela Y. Davis, Keynote-Vortrag zur Color-of-Violence-Konferenz »Colorlines«, 〈http://www.colorlines.com/articles/color-violence-against-women〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. Davis nannte in ihren Ausführungen auch den Namen von LaTan­ ya Haggerty und forderte das Publikum auf, darüber nachzudenken, wie ihr Tod hätte verhindert werden können. Siehe auch Angela Y. Davis, »Violence Against Women and the Ongoing Challenge to Racism«, in: Joy James (Hg.), The Angela Y. Davis Reader, Malden 1998, S. 138-148, hier S. 146, S. 148.

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ausschließlich auf die Polizei als Unterstützung bei Gewalt gegen Frauen zu verlassen, ungeachtet der seit Jahrzehnten von Frauen of color zu diesem Ansatz aufgeworfenen Herausforderungen. Ich schloss eine Litanei von Geschichten und Studien mit den Worten: »Im Allgemeinen ging es bei Law-and-Order-Programmen nie darum, uns zu schützen. Tatsächlich hat die Gewalt gegen Frauen of color zu Hause, in der community, und in den Händen der Strafverfolgungsbehörden zugenommen.« Ich sprach über das »INCITE! – Critical Resistance Statement zu vergeschlechtlicher Gewalt und dem Prison-Industrial-Complex« von 2002 und appellierte an das Publikum, die Herausforderung anzunehmen, sich Antworten auf Gewalt vorzustellen, zu entwickeln und zu verfolgen, die nicht auf Gewalt beruhen oder Polizeigewalt produzieren. Meine Co-Präsentatorin, die Manavi vertrat, eine Organisation, die mit südasiatischen gewaltbetroffenen Personen zusammenarbeitet, rief in ähnlicher Weise dazu auf, nichtpolizeiliche, community-basierte Antworten auf Gewalt zu finden. Sie machte darauf aufmerksam, dass die Reaktionen der Strafverfolgungsbehörden für Manavis Zielgruppe auf vielen Ebenen potentiell gefährlich seien, von möglicher Gefährdung von Einbürgerungsverfahren und fehlendem Schutz aufgrund von Annahmen über die südasiatische »Kultur« bis hin zu Festnahmen oder zusätzlicher Gewalt gegen gewaltbetroffene Personen. Nach unserem Vortrag begann sich der Raum langsam zu leeren, die Leute strömten geradezu hinaus. Niemand dankte uns für unsere Präsentation oder kam auf uns zu, um mit uns oder über die Inhalte unserer Gespräche in Kontakt zu treten. Instinktiv rückten wir näher und näher zusammen, bis wir uns umarmten, allein in einem Konferenzraum voller Leute, die keine Lust hatten, unsere Botschaft zu hören. Seitdem gab es einige Fortschritte: Dutzende von Antigewaltkoalitionen und Aktivist:innen unterzeichneten eine Vorlage an die Task Force des Präsidenten zur Polizeiarbeit im 21. Jahrhundert mit einem Hauptaugenmerk auf die Erfahrungen von Frauen of color mit der Polizei, und es gibt zunehmende Zustimmung unter Antigewaltaktivist:innen, dass das polizeiliche Vorgehen bei Gewalttaten – einschließlich der Politik der »obligatorischen Verhaftung« – überdacht werden muss.8 Trotz8 Andrea J. Ritchie, »Policy and Oversight. Women of Color’s Experiences of Policing«, 28. 1. 2015, Einreichung zur President’s Task Force on 21st-Century ­ ­Polic­ing, 〈http://changethenypd.org〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022.

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dem schweigt ein Großteil der Mainstream-Antigewaltbewegung auffällig zum Thema Polizeigewalt gegen Frauen of color. Wenn man den Schleier lüftet, zeigt sich, dass Polizeigewalt im Kontext polizeilichen Vorgehens bei häuslicher, sexueller, familiärer, homophober und transphober Gewalt viele Formen annimmt: verbale Übergriffe, körperliche Gewalt und Verweigerung der Strafverfolgung, wie im Fall von Cherae. Die Befragten einer 2015 von der Rechtsprofessorin Julie Goldscheid und ihren Kolleg:innen durchgeführten Umfrage unter mehr als 900 Antigewaltaktivist:innen, gewaltbetroffenen Personen und anderen Interessengruppen aus fast allen fünfzig Staaten gaben an, dass die Polizei sich manchmal oder oft erniedrigend oder respektlos gegenüber gewaltbetroffenen Personen verhielt, ihnen nicht glaubte oder häusliche Gewalt oder sexuelle Übergriffe nicht ernst nahm.9 Fast ein Drittel der Befragten gab an, dass die Polizei manchmal oder oft ihrerseits unangemessene Gewalt gegen bereits von Gewalt betroffene Personen einsetzte. Sie berichteten auch, dass Beamt:innen gedroht hätten, gewaltbetroffene Personen festzunehmen, insbesondere wenn sie mehrmals gerufen würden. Polizeigewalt im Zusammenhang 9 Vgl. Julie Goldscheid u. a., Responses from the Field. Sexual Assault, Domestic Violence, and Policing, New York 2015, S. 18, 〈http://academicworks.cuny.edu/ cl_pubs/76〉. Dies ist vielleicht nicht überraschend, wenn man bedenkt, wie häufig häusliche Gewalt unter männlichen Polizeibeamten vorkommt. So wurde 2006 berichtet, dass der Leiter der NYPD-Einheit für häusliche Gewalt auf Staten Island seine Partnerin misshandelte und sie einmal schlug, weil sie ihm den »falschen« Geburtstagskuchen gebracht hatte. Zwei Studien haben ergeben, dass mindestens 40 Prozent der Familien von Polizeibeamten von häuslicher Gewalt betroffen sind, im Gegensatz zu 10 Prozent der Familien in der Allgemeinbevölkerung. Siehe Peter H. Neidig u. a., »Interspousal Aggression in Law Enforcement Families: A Preliminary Investigation«, in: Police Studies, 15/1 (1992), S. 30-38, 〈https:// policing.umhistorylabs.lsa.umich.edu/files/original/5528df2d5b5c33cfeaa930146c fe20ccb5cad0cd.pdf〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022; Leanor Boulin Johnson, »Aussage vor dem House Select Committee on Children, Youth, and Families, 102nd Con­ gress, 1st Sess., May 1991«, in: On the Front Lines: Police Stress and Family WellBeing, Washington, D. C., 1991, S. 32-48; Murray Straus, Richard Gelles, »Physical Violence in American Families – Risk Factors and Adaptations to Violence«, in: Families, 8/145 (1990), S. 326-328. In einer dritten Studie mit älteren und erfahreneren Polizisten wurde festgestellt, dass häusliche Gewalt in 24 Prozent dieser Familien vorkommt, was darauf hindeutet, dass häusliche Gewalt in Polizeifamilien zwei- bis viermal häufiger vorkommt als in amerikanischen Familien im Allgemeinen; vgl. Neidig u. a., »Interspousal Aggression«, S. 25-28; Goldscheid u. a., »Responses from the Field«, S. 12, S. 15.

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mit polizeilichem Vorgehen bei Gewalttaten können auch sexuelle Belästigung, Übergriffe und Missbrauch, Profilerstellung von betroffenen Personen als Gewalttäter, Festnahme oder Verweisung an Einwanderungsbehörden, Zwangsouting von LGBTQ-Menschen sowie Verlust von Wohnraum und Kindern umfassen. In allzu vielen Fällen erweisen sich die Reaktionen der Polizei auf die Gewalt gegenüber betroffenen Personen als tödlich, darunter viele, deren Geschichten wir noch nicht kennen.10 Zum Beispiel wurde im Juni 2016 Melissa Ventura, eine Latinx-Mutter von drei Kindern, die von ihrer Schwester als »Herz und Seele ihrer Familie« und von einer Nachbarin als glücklich über die Geburt ihres zwei Monate alten Babys beschrieben wurde, nach einem Anruf wegen häuslicher Gewalt in ihrem Haus in Yuma, Arizona, von Polizist:innen getötet. Diese waren die einzigen Zeug:innen des Mordes, und niemand wurde zur Verantwortung gezogen.11 Am 18. Februar 2015 hatten sich Janisha Fonville und ihre Freundin Korneisha Banks gestritten, beide Schwarze Frauen, die in einem Wohnprojekt in Charlotte, North Carolina, lebten. Schließlich bat Banks ihre Schwester, die Polizei zu rufen, und verließ das Haus. Als die Polizei kam, ging sie mit ihnen zurück zum Haus, wo sie Janisha auf der Couch liegend vorfanden. Als Janisha aus Protest gegen die Ankunft der Polizisten von der Couch aufstand, schoss ihr einer von ihnen in die Brust und behauptete, sie habe sich mit einem Messer auf sie gestürzt. Korneisha bestreitet dies und sagt, Janisha sei unbewaffnet gewesen und die Polizisten seien von der hundert Kilo schweren Frau nicht bedroht worden. Familie und Freund:innen beschrieben Janisha als liebevoll und lustig und als jemanden, der mit psychischen Problemen zu kämpfen hatte und versuchte, diese zu bewältigen.12 Die Polizei kann sich auch für Unbeteiligte wie 10 Kimberlé Williams Crenshaw, Andrea J. Ritchie, Say Her Name: Resisting Police Brutality Against Black Women, New York, 2015, S. 24 f.; Ritchie, Law Enforcement Violence, S. 151. 11 Marjua Estevez, »#MelissaVentura’s Extrajudicial Execution Protested in Harlem«, in: Vibe, 3. 1. 2017, 〈vibe.com/2017/01/melissa-ventura-killed-by-cops〉; Rosalie Chan, »Police Are Investigating a Fatal Shooting of a Woman in Arizona«, in: Time, 7. 7. 2016; 〈https://time.com/4396699/melissa-ventura-yuma-countyarizona-shooting/〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 12 Fred Clasen-Kelly, »The Seconds Before the Shots«, in: Charlotte Observer, 21. 3. 2015.

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Yvette Smith oder Bettie Jones als tödlich erweisen. Beide waren Frauen, die von Beamten getötet wurden, die auf Anrufe von anderen Mitgliedern ihres Haushalts oder Nachbar:innen reagierten.13 Einmal aus dem Schatten geholt, erfordern diese Geschichten, dass wir unsere Antwort auf Gewalt in all ihren Formen – einschließlich Polizeigewalt – ändern und erweitern. Polizeigewalt gegen gewaltbetroffene Personen findet oft außerhalb der Öffentlichkeit statt, abseits von Kameras und kritischen Polizeibeobachter:innen. Gewaltbetroffene neigen auch deshalb nicht dazu, sich zu äußern, weil sie auf die Bereitschaft der Polizei angewiesen sind, auf künftige Hilferufe zu reagieren, oder aus Scham, Verschweigen und Angst vor Vergeltung. Infolgedessen bleiben racial profiling und Polizeibrutalität im Kontext von Reaktionen auf Gewalt buchstäblich unsichtbar. Selbst wenn Frauen sich melden, bleiben ihre Geschichten zu oft von Antigewaltgruppen wie auch von polizeikritischen Gruppen unbemerkt. Fälle wie der von Cherae bleiben oft in aller Öffentlichkeit verborgen: Sie sind Gegenstand öffentlicher Zeugenaussagen oder Berichterstattungen, finden aber bei Aktivist:innen gegen Polizeibrutalität wenig Resonanz, weil sie als ein Problem im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt und damit als ein Problem von Frauen und nicht als Problem von racial profiling oder Polizeigewalt wahrgenommen werden – ein Männerthema. Im selben Jahr, in dem Cherae vor dem New Yorker Stadtrat aussagte, sagte auch eine Schwarze Frau bei einer Anhörung von Amnesty International über Polizeibrutalität in Los Angeles aus, um ihre Geschichte zu erzählen, als Beamte, die auf einen »Familienstreit« reagierten, sie in ihrem Haus geschlagen hatten, bis sie ohnmächtig wurde, während ihre Kinder aus dem Haus ausgesperrt waren – unfähig, die Hilferufe ihrer Mutter zu beantworten. Die Beamten knebelten sie dann und zerrten sie über den Hof zu ihrem Polizeiauto.14 Es ist bezeichnend, dass solche Fälle weder zu einem Sammelruf für 13 Crenshaw/Ritchie, Say Her Name; Dawn Rhodes, »Friends, Family Say Goodbye to Woman Accidentally Killed by Chicago Police«, in: Chicago Tribune, 6. 1. 2016, 〈 https://www.chicagotribune.com/news/breaking/ct-chicago-police-shoot ing-funeral-bettie-jones-20160106-story.html〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 14 Vgl. Kwame Dixon, Patricia E. Allard, Police Brutality and International Human Rights in the United States. The Report on Hearings Held in Los Angeles, California, Chicago, Illinois, and Pittsburgh, Pennsylvania 1999, New York 2000, S. 18.

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die Bewegung gegen Gewalt noch für die gegen Polizeibrutalität wurden. Zusätzlich zu körperlicher Gewalt gegen ohnehin von Gewalt betroffene Personen nutzen Beamte wie Daniel Holtzclaw und Roger Magaña ihre Position für Übergriffe, wenn sie auf Hilferufe reagieren oder private Räumlichkeiten unter dem Vorwand der Gefahr im Verzug ohne Haftbefehl betreten.15 In einer Reihe über sexuelle Gewalt durch die Polizei aus dem Jahr 2006 berichtete der Philadelphia Inquirer: »Ein Beamter aus Glenolden, Delaware County, wurde 2002 wegen Vergewaltigung einer Frau verurteilt, nachdem er einen Anruf wegen eines Streits entgegengenommen hatte. ›Er hatte seine Polizeiuniform an, seine Waffe, seinen Schlagstock‹, sagte die Frau. ›Ich habe genau das getan, worum er mich gebeten hat.‹«16 Ein Polizist des Staates Pennsylvania, der im Jahr 2000 wegen mehrerer sexueller Übergriffe verurteilt worden war, erklärte die zugrundeliegende Dynamik: »Ich sah Frauen, die verwundbar waren, vor denen ich als Ritter in glänzender Rüstung erscheinen konnte. [...] Ich werde dieser Frau helfen, die von ihrem Freund missbraucht wird, und dann um sexuelle Gegenleistung bitten.«17 In einem besonders schockierenden Fall in Chicago im Jahr 2010 rief Tiawanda Moore während eines Streits mit ihrem Freund die Polizei an. Wie er es gelernt hatte, führte ein Beamter sie in ein privates Zimmer, um ihre Aussage aufzunehmen. Aber statt dies zu tun, begrapschte er ihre Brüste und ihr Gesäß und hinterließ seine Nummer mit dem Vorschlag, dass sie sich »verabreden« sollten. Sie rief seinen Vorgesetzten an, um ihn anzuzeigen, und traf sich mit einem Lieutenant und einem Zuständigen für innere Angelegenheiten. Die Internal-Affairs-Abteilung, so Moores Anwalt Robert Johnson, »führte sie an der Nase herum«, als sie versuchte, den Angriff anzuzeigen.18 Sie forderte die Entlassung des Beamten. Die 15 Vgl. »Four More Women Accuse Eugene Officer of Abuse« [o. V.], in: KATU News, 11. 12. 2003; Rebecca Nolan, »Police Sex Case Victim Found Dead at Residence«, in: Oregon Register-Guard, 29. 9. 2004. 16 Craig R. McCoy, Nancy Phillips, »Extorting Sex with a Badge«, in: Philadelphia Inquirer, 13. 8. 2006, 〈http://www.philly.com/philly/news/special_packages/inqui rer/Extorting_sex_with_a_badge.html〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 17 Ebd. 18 Mariame Kaba in Gespräch mit der Autorin.

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Beamten hinderten sie daran, den Raum zu verlassen, und rieten ihr gleichzeitig davon ab, eine Beschwerde einzureichen, unter anderem mit dem Hinweis, dass sie eine »Stripperin« sei. Weil Moore anfing, das Gespräch auf ihrem Blackberry aufzuzeichnen, wurde sie wegen Abhörens in zwei Fällen angeklagt, weil ein Gesetz des Bundesstaates Illinois besagt, dass man die Zustimmung beider Parteien benötigt, um ein Gespräch aufzuzeichnen. Moore verbrachte zwei Wochen im Gefängnis und kämpfte über ein Jahr lang gegen die Anklage, bis sie 2012 schließlich freigesprochen wurde.19 Der Polizist, der sie angegriffen hatte, wurde nie angeklagt oder zur Rechenschaft gezogen. Ihre Erfahrung bestätigte so für viele Betroffene, die sexuelle Gewalt durch die Polizei erleben: Wenn sie sich melden, werden sie vor Gericht gestellt, nicht der oder die verantwortliche Beamt:in. Im selben Jahr reichte Tiawanda Moore eine Zivilklage gegen den Beamten ein, der sie angegriffen hatte, sowie gegen die Stadt- und Bezirksbeamt:innen, die ihn damit durchkommen ließen. Wie in anderen Kontexten kann sexuelle Gewalt nach Anrufen wegen häuslicher Gewalt in Form von Leibesvisitationen erfolgen. Im Jahr 2005 wurde beispielsweise ein Polizist, der in einem Vorort von Chicago arbeitete, wegen Fehlverhaltens im Dienst angeklagt, weil er Frauen dazu gebracht hatte, sich nackt auszuziehen, als er auf Anrufe wegen häuslicher Gewalt antwortete. Für trans Frauen können solche Durchsuchungen die schlimme Form einer »Geschlechtsprüfung« annehmen. Während des Rechtsstreits Tikkun v. City of New York in den 2000er Jahren, in dem es um ein Muster und eine Praxis innerhalb des NYPD ging, verfassungswidrige Durchsuchungen durchzuführen, um das Geschlecht basierend auf der Anatomie zuzuweisen, schickte mir ein Anwaltskollege eine Klageschrift, die 1999 von Anothai Hansen-Singthong gegen die Stadt New York eingereicht wurde, einer thailändischen transgender Frau, die die Polizei um Schutz vor ihrem gewalttätigen Partner bat. Anstatt geschützt zu werden, wurde sie festgenommen und im Revier einer Leibesvisitation unterzogen, nachdem der sie misshandelnde Partner den Beamten gesagt hatte, sie sei transsexuell. Obwohl ich nie in der Lage war, zusätzliche Informationen zu ihrem Fall ausfindig zu machen, kam mir dies immer wie ein weiteres 19 Vgl. Michael Lansu, »Woman Acquitted of Eavesdropping Charges for Record­ ing Cops Sues City«, in: Chicago Sun-Times, 14. 1. 2012.

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unsichtbares Beispiel von Polizeigewalt gegen eine Frau of color vor, das mir nur durch Zufall aufgefallen ist und sonst nie das Licht der Welt erblickt hätte. Schutzverweigerung ist auch eine Form von Polizeigewalt und erhöht die Anfälligkeit für andere Formen von Gewalt, indem sie Täter:innen und Zuschauer:innen signalisiert, dass Gewalt gegen Frauen of color akzeptabel ist. Der Verweigerung des polizeilichen Schutzes liegt oft eine explizite oder implizite Bestrafung dafür zugrunde, von rassifizierten Geschlechternormen abzuweichen oder sie nicht einhalten zu können. Racial profiling prägt nicht nur die Wahrnehmung der Beamt:innen, wer Gewalt ausübt, sondern auch, wer als Opfer gilt. Schwarze Frauen, indigene Frauen und andere Frauen of color werden grundsätzlich als außerhalb der Grenzen der Weiblichkeit existierend definiert, was den Status eines »guten Opfers« für sie unerreichbar macht. Diese Realität wird noch verschlimmert und verschärft für Frauen of color, die als noch weiter von rassifizierten Geschlechternormen abweichend wahrgenommen werden; transgender und geschlechtsnichtkonforme Frauen of color, Frauen, die Alkohol oder verbotene Substanzen konsumieren, und Frauen, die kriminalisiert sind, wie etwa Sexarbeiter:innen. Diese Abweichungen kennzeichnen sie in den Augen der auf Gewalt reagierenden Strafverfolgungsbehörden als schutzunwürdig und haftwürdig.20 Mehr als die Hälfte der in der zuvor zitierten Studie Befragten berichteten von einwanderungsfeindlichen, antimuslimischen und anti-LGBTQ-Wahrnehmungen unter Polizeibeamt:innen. Sie stellten auch fest, dass die Polizei Gewalt gegen junge Gewaltbetroffene, Gewaltbetroffene mit psychischen Problemen, Drogenkonsument:innen sowie obdachlose und einkommensschwache Gewaltbetroffene nicht ernst nimmt – eine Haltung, die in der Wahrnehmung verwurzelt ist, dass Gewalt einfach Teil eines »verarmten oder ›Ghetto‹-Lebensstils« ist.21 Immer wieder stellten die 20 Siehe Jessica Shaw u. a. »Beyond Surveys and Scales. How Rape Myths Manifest in Sexual Assault Police Records«, in: Psychology of Violence, 7/4 (2016), S. 602614, 〈http://dx.doi.org/10.1037/vio0000072〉, letzter Zugriff 17. 2. 2022; Mary Haviland u. a., »The Family Protection and Domestic Violence Intervention Act of 1995: Examining the Effects of Mandatory Arrest in New York City« in: Urban Justice Center (Hg.), Family Violence Project, 2001, S. 67. 21 Haviland u. a., »The Family Protection and Domestic Violence Act of 1995«, S. 17 f., S. 21, S. 23-25.

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Studienteilnehmer:innen fest, wie die dominierenden Narrative die Polizeireaktionen auf Frauen of color beeinflussten. Die Polizei ist viel mehr daran interessiert, helleren (lightskinned) Opfern zu helfen. Ich denke, das hängt mit ihrer rassistischen Voreingenommenheit und ihren Vorstellungen darüber zusammen, wer ein gutes, würdiges Opfer ist und wer ein:e Unruhestifter:in, der oder die diese Gewalt verursacht hat. Ich glaube, dass es besonders gefährliche Stereotype über selbstbewusste Schwarze Frauen gibt, denen die Polizei anhängt und die sie davon abhalten, Schwarzen Frauen zu helfen, die Opfer von Missbrauch geworden sind. Meine afroamerikanischen Klient:innen werden von der Polizei offenbar schlechter behandelt. Die Polizei verdächtigt sie eher, zu der Gewalt beigetragen zu haben oder auf andere Weise an den Geschehnissen schuld zu sein. Sie scheint auch die Aussagen Schwarzer Opfer weniger ernst zu nehmen. Wenn das Opfer Native American ist, geht die Polizei auch oft davon aus, dass es getrunken und somit das Problem verursacht hat. […] Bei Opfern hispanischer/lateinamerikanischer Herkunft wird davon ausgegangen, dass sie über die Straftat lügen, um Einwanderungshilfen zu erhalten, selbst wenn das Opfer US-Bürger:in ist. Aufgrund der problematischen Vorstellung, wonach muslimische Frauen aufgrund ihrer religiösen Identität mit Unterdrückten gleichgesetzt sind, gibt es auch das Vorurteil, man müsse auf muslimische Frauen, südasiatische/arabische Frauen und Frauen aus dem Nahen Osten gar nicht erst reagieren. […] Menschen, die kein Englisch sprechen, werden diskriminiert. Weil es schwierig scheint, mit ihnen zu kommunizieren, untersucht die Polizei ihre Fälle nicht so gründlich. Sie ignoriert auch wichtige Protokollvorschriften (zum Beispiel die Trennung von Familienmitgliedern, um sie zu befragen), weil dies weniger bequem ist. Außerdem informiert die Polizei Einwanderer:innen ohne Papiere seltener über ihre gesetzlichen Rechte.22

Transgender people of color wird von der Polizei schonungslos und rücksichtslos der Schutz verweigert, und oftmals werden sie für die erlebte Gewalt verantwortlich gemacht. Bei unseren Recherchen zu Stonewall erfuhren wir von einem Fall, in dem die Polizei von Los Angeles auf einen gewalttätigen Angriff auf eine Latinx-transgender-Straßenverkäuferin ohne Papiere mit den Worten reagierte: »Rufen Sie uns an, wenn sie sie getötet haben.«23 Wir hörten auch von einem Vorfall, bei dem eine asiatisch-pazifische transgender 22 Ebd., S. 19 f. 23 Ebd., S.  75-77.

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Frau der Polizei ein Hassverbrechen meldete. Die Polizei weigerte sich, ihre Verletzungen zu fotografieren, und sagte ihr: »Du bist kein Opfer von Gewalt. Wenn du den Leuten nicht sagen würdest, dass du transsexuell bist, würden sie dich in Ruhe lassen.«24 Anwält:innen sagten uns auch, dass Polizist:innen bei häuslicher Gewalt gegen transgender Frauen oft lachen oder sagen: »Du bist auch ein Mann. Das kriegst du selber hin« oder »Oh, Leute, vergesst es, das ist ein Mann«.25 Eine junge Schwarze trans Frau, die in Los Angeles lebte, rief wiederholt die Polizei um Hilfe, als ihr Freund missbräuchlich war. Trotz der sichtbaren blauen Flecken an ihrem Körper sagten die Beamten jedes Mal, dass sie nichts tun könnten. Stattdessen klopften eines Morgens zwei Undercoverbeamte an ihre Tür und teilten ihr mit, dass sie aufgrund eines alten Haftbefehls wegen des Vorwurfs der Anstiftung zu Straftaten festgenommen sei.26 Tatsächlich werden trans Personen von der Polizei oft eher kriminalisiert als geschützt. In einem Fall, der eine landesweite Organisationskampagne auslöste, wurde CeCe McDonald, eine Schwarze transgender Frau, festgenommen und inhaftiert, weil sie sich gegen einen Neonazi gewehrt hatte, der sie verfolgte, als sie versuchte, wegzugehen, nachdem sein Freund ihr ein zerbrochenes Glas ins Gesicht geschlagen hatte, wodurch ihre Wange und ihre Speicheldrüse verletzt wurden. Statt sich über ihr Überleben zu freuen, bestraften Polizei und Staatsanwaltschaft sie dafür. Die Moral der Geschichte ist, dass transgender Frauen von der Polizei so behandelt werden, als hätten sie weder das Recht auf Schutz noch auf Selbstverteidigung. Lesben, die schon aufgrund ihrer Existenz außerhalb des Heteropatriarchats als geschlechtlich nicht konform eingestuft werden, werden ebenfalls ignoriert und bestraft. Eine gewaltbetroffene Person, die vom Family Violence Project in New York City interviewt wurde, berichtet, dass die Polizei »auftaucht und [...] so meint: [...] verdammte Lesben [...], Gott, die haben nichts anderes verdient.« Im Jahr 2015 berichtete die National Coalition of Anti-Violence 24 Amnesty International, Stonewalled: Police Abuse and Misconduct Against Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender People in the U.S., New York 2005, S. 78. 25 Joey Mogul u. a., Queer (In)Justice: The Criminalization of LGBT People in the United States, Boston 2011, S. 130. 26 Vgl. ebd., S. 137 f.

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Programs (NCAVP), dass zwölf der 33 Prozent gewaltbetroffener LGBTQ-Personen, die den Strafverfolgungsbehörden Gewalt in Partnerschaften gemeldet hatten, angaben, dass die Polizei ihnen gegenüber feindselig war.27 Unter den Betroffenen homophober oder transphober Gewalt, die diese der Polizei gemeldet hatten, gaben 39 Prozent an, dass die Polizei feindselig war, 33 Prozent erlebten verbale und 16 Prozent körperliche Misshandlungen.28 2013 gaben fünf Prozent der LGBTQ-Personen, die von Gewalt in der Partnerschaft betroffen waren, körperliche Gewalt durch die Polizei an.29 Oft ist diese Art von Gewalt eine Manifestation einer rassifizierten und vergeschlechtlichen Polizeiarbeit. So berichten Aktivist:innen und gewaltbetroffene Personen gleichermaßen, dass die Geschlechtsidentität einer transgender Frau, sobald sie von Beamten, die auf einen Anruf zu häuslicher Gewalt reagierten, entdeckt oder ihnen von einem Gewalttäter bekanntgegeben wird, so behandelt wird, als hätte sie die Polizei getäuscht, und mit Strafgewalt rechnen muss. Auch geschlechtlich nichtkonformes Verhalten führt sowohl zu Polizeigewalt als auch zum Ausschluss von Schutz. Laut einer Studie neigten gewaltbetroffene Personen, die verhaftet wurden, dazu, Drogen oder Alkohol zu konsumieren, »und wichen somit von den geschlechtsspezifischen Vorschriften für angemessenes weibliches Verhalten ab«.30 In Boulder, Colorado, sagten gewaltbetroffene Frauen, die danach festgenommen wurden, auch aus, dass Alkoholkonsum ihrer Meinung nach einer der drei wichtigsten Gründe für ihre Festnahme war.31 Ebenso wird Frauen, die im Sexgewerbe tätig 27 Vgl. National Coalition of Anti-Violence Programs, Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Queer and HIV-Affected Intimate Partner Violence in 2015 (2016), S. 10. Dies stellt gegenüber den vorangegangenen Jahren einen Rückgang im Prozentsatz der gewaltbetroffenen Personen dar, die sich bei der Polizei gemeldet haben – 55 Prozent im Jahr 2015 und 35 Prozent im Jahr 2013, siehe National Coalition of Anti-Violence Programs, Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Queer and HIV-Affected Intimate Partner Violence in 2014 (2015), S. 26. 28 Vgl. National Coalition of Anti-Violence Programs, Intimate Partner Violence (2016), S. 11. 29 Vgl. National Coalition of Anti-Violence Programs, Intimate Partner Violence, dies., Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Queer and HIV-Affected Intimate Partner Violence in 2013 (2014), S. 52. 30 Haviland u. a., »The Family Protection and Domestic Violence Intervention Act«. 31  Siehe Safe House Progressive Alliance for Nonviolence, »Victim-Defendant Toolkit«, 2001, in der Sammlung der Autorin.

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sind oder als solche wahrgenommen werden, der Schutz verweigert: Cyndee Clay, Geschäftsführerin von HIPS, einer Organisation von Sexarbeiter:innen in Washington, D. C., hat festgestellt, dass Frauen, von denen angenommen wird, dass sie durch Sexarbeit von den geschlechtsspezifischen Normen des akzeptablen Verhaltens abweichen, fast immer der Gefahr der doppelten Festnahme – der Regel, wonach beide Streitparteien festgenommen werden können – ausgesetzt sind, wenn die Polizei auf häusliche Gewalt gegen sie reagiert. Ähnliche Wahrnehmungen bestimmen die Reaktion der Polizei auf sexuelle Übergriffe, insbesondere bei Schwarzen Frauen, von denen angenommen wird, dass sie im Sexgewerbe tätig sind.32 Trotz der ständigen Pathologisierung von Frauen, die sich nicht gegen Vergewaltigung und andere Formen von Gewalt »wehren«, wird auch Frauen, die sich wehren, polizeilicher Schutz verweigert, weil ihr Verhalten als Abweichung von einer geschlechternormativen, wehrlosen Reaktion wahrgenommen wird. In Florida wurde Marissa Alexander festgenommen, weil sie einen Warnschuss in die Luft abgegeben hatte, um einen Angriff ihres gewalttätigen Mannes zu stoppen. Als Schwarze Frau hatte sie ohnehin den Nachteil, eher als gewalttätig denn als Opfer wahrgenommen zu werden. Als sie, anstatt die Opferrolle erwartungsgemäß einzunehmen – kauernd, in einer Ecke weinend –, »sich behauptete« (stood her ground),33 wurde Marissa mit einer Festnahme bestraft und wegen eines Verbrechens angeklagt, das mit einer 20-jährigen Gefängnisstrafe geahndet wurde, obwohl niemand zu Schaden kam oder in Gefahr geriet, durch ihre Handlungen Schaden zu nehmen. Schwarze Frauen, die queer sind, werden von der Polizei auch eher als Täter:innen denn als Opfer bezeichnet, wenn sie sich verteidigen. Dies wurde in einem Fall deutlich sichtbar, der durch lokalen Aktivismus nationale Aufmerksamkeit erlangte und in der preisgekrönten Dokumentation Out in the Night, in Beth Richies 32 Shaw u. a., »Beyond Surveys and Scales«, S. 603 f. 33 Ritchie spielt hier auf die Stand-your-Ground-Gesetze an, die zurzeit in 30 US-amerikanischen Bundesstaaten in Kraft sind. Diese erlauben es Privatpersonen, tödliche Gewalt einzusetzen, um sich gegen einen rechtswidrigen Angriff zu wehren. Während sich George Zimmerman, der Mörder von Trayvon Martin, erfolgreich auf diese Regelung berufen konnte und daher freigesprochen wurde, wurde dieselbe Regelung bei Marissa Alexander nicht angewendet, obwohl beides im Bundesstaat Florida stattfand. [Anm. d. Hg.]

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Arrested Justice sowie in Queer (In)Justice beschrieben wurde. Sieben Schwarze Lesben, die als die »New Jersey 7« bekannt wurden, waren in einer heißen Sommernacht in New York City unterwegs, als ein Mann eine anzügliche Bemerkung gegenüber einer von ihnen machte. Als sie antworteten, dass sie kein Interesse hätten, weil sie lesbisch seien, wurde sein Ton schnell gewalttätig, während er ihnen die Straße entlang folgte und rief: »Dyke Bitches, Lesben Bitches, ich ficke dich wieder gerade, Süße!« Dann spuckte er eine der Frauen an, warf eine brennende Zigarette nach der Gruppe, stieg auf eine andere und riss ihr die Haare mitsamt den Wurzeln aus. Eine der Frauen, Renata Hill, sagte: »Wenn er sich mir so nähert, wie er sich näherte, und sagt, was er sagte, sagt er im Grunde, dass er mich vergewaltigen wird.« Die Frauen verteidigten sich und gingen weg, als die Polizei sie anhielt und mit gezogenen Waffen festnahm. In ersten Radioberichten der Polizei wurde der Vorfall als geringfügig beschrieben, mit minimalen Verletzungen, »keine Bandenaktivitäten«. Aufgrund der Wahrnehmungen, die in der sexuellen Orientierung, der Geschlechtsidentität und dem Ausdruck der Frauen verwurzelt sind, änderten sich die Dinge jedoch schnell.34 Wie INCITE! und FIERCE! später über den Vorfall schrieben, charakterisierte die Polizei den Vorfall als »Bandengewalt« durch eine Gruppe Schwarzer Lesben und nicht als homophobe und frauenfeindliche sexuelle und körperliche Gewalt eines heterosexuellen Mannes gegen eine Gruppe von Frauen. Zum großen Teil basierend auf der polizeilichen Version der Ereignisse, konstruierten und verstärkten die Medien Identitäten von »Killerlesben«, die »ein brodelndes sapphisches Septett« und ein »lesbisches Wolfsrudel« bildeten, bevor die Gerichte und der gefängnisindustrielle Komplex ihre Durchsetzung und Bestrafung übernahmen. Wie die Polizei auf diesen Fall reagiert und ihn untersucht hat, hat das endgültige Ergebnis bestimmt.35

34 Nina Strochlich, »›Out in the Night‹ and the Redemption of the ›Killer Les­ bian Gang‹«, in: Daily Beast, 21. 6. 2014, 〈http://www.thedailybeast.com/articles/ 2014/06/21/out-in-the-night-and-the-redemption-of-the-killer-lesbian-gang. html〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 35  INCITE! Women of Color Against Violence, FIERCE!, »Re-Thinking ›The Norm‹ in Police/Prison Violence and Gender Violence: Critical Lessons from the New Jersey 7«, 〈https://incite-national.org/wp-content/uploads/2018/08/toolkit rev-nj7.pdf〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022.

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Die Frauen wurden vor Gericht gestellt, angeklagt, bekannten sich schuldig oder wurden schuldig gesprochen und zu bis zu elf Jahren Haft verurteilt. Obwohl nach einem Berufungsverfahren mit Unterstützung einer Ost- und Westküstenkampagne, die für ihre Freiheit kämpfte, schlussendlich alle freigelassen wurden, hatten sich ihre Leben für immer verändert. Jede hatte Jahre ihrer Freiheit verloren, die Beerdigung eines geliebten Menschen und Zeit mit ihren Kindern und Familien verpasst. Dies sind nur einige wenige Beispiele, wie Schwarzen Frauen aufgrund von Rassifizierung, sexueller Orientierung, Geschlechtsidentität, Verhalten oder Aussehen oder einer Kombination dieser Merkmale der Opferstatus verweigert wurde und sie vielmehr dafür kriminalisiert wurden, dass sie sich zur Wehr gesetzt haben. No Selves to Defend, eine Ausstellung von Mariame Kaba und Rachel Caidor, dokumentiert viele weitere Fälle,36 und das nationale Bündnis #SurvivedandPunished organisiert Kampagnen rund um aktuelle Fälle von Gewaltbetroffenen, die für ihre Selbstverteidigung bestraft wurden.37 Aus diesen und weiteren Gründen ist es für viele Frauen of color schlicht keine Option, die Strafverfolgungsbehörden um Schutz zu bitten. Historische und gegenwärtige Realitäten führen dazu, dass Strafverfolgungsbeamt:innen und das Rechtssystem verstärkt als weitere Bedrohung für die eigene Sicherheit und die ihrer Familien und communities wahrgenommen werden anstatt als Anlaufstelle zum Schutz vor häuslicher Gewalt. Mehr als 80 Prozent der Befragten der 2015 in Auftrag gegebenen Studie gaben an, dass die Beziehungen der Polizei zu communities of color die Bereitschaft der Bürger:innen beeinflussten, die Polizei um Hilfe zu bitten.38 Kri36 Ein Video und die Beschreibung der Ausstellung sowie die begleitende Veröffentlichung finden sich hier: No Selves to Defend, 〈https://noselves2defend.word press.com/〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022, siehe auch Gabriel Arkles, »Gun Control, Mental Illness, and Black Trans and Lesbian Survival«, in: Southwestern Law Journal, 42/4 (2013), S. 876-898. 37 »Survived and Punished: End the Criminalization of Survivors of Sexual and Domestic Violence«, 〈http://www.survivedandpunished.org〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 38 Vgl. Goldscheid u. a. »Responses from the Field«. In ähnlicher Weise wurde gezeigt, dass historische und gegenwärtige Faktoren, inklusive Misstrauen gegenüber der Polizei, die Bereitschaft Schwarzer Frauen beeinflussten, sexuelle Gewalt bei der Polizei zu melden. Siehe Helen A. Neville, Aalece Pugh, »General and

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minalisierte gewaltbetroffene Personen sind besonders abgeneigt, die Polizei zu kontaktieren. Die Studie berichtet: »Viele unserer Klient:innen begingen eine Straftat (Konsum illegaler Substanzen, Sexarbeit, in Besitz eines Tasers etc.), während sie misshandelt wurden. Sie befürchten, für diese Verbrechen belangt zu werden, während die Täter:innen frei herumlaufen, die sie misshandelt haben.«39 Historische und gegenwärtige staatliche Gewalt gegen indigene Frauen lässt viele von ihnen zögern, die Strafverfolgungsbehörden um Hilfe zu bitten, wenn sie mit Gewalt in ihren Gemeinschaften konfrontiert sind. Selbst wenn indigene Frauen Hilfe bei der Polizei suchen, wird ihnen aufgrund von Stereotypen, die auf tatsächlichem oder vermeintlichem Alkoholkonsum beruhen, oft nicht geglaubt. Die Gefahr von Übergriffen ist noch größer für in Reservaten lebende indigene Frauen, die aufgrund von Einschränkungen fast vollkommen schutzlos bleiben, da die indigene Rechtsprechung (Tribal Law Enforcement) ihre Gerichtsbarkeit auf Verbrechen sowie auf Fälle, in denen nichtindigene Personen involviert sind, nicht anwenden darf. So wird die Verfolgung von Täter:innen den Strafverfolgungsbehörden des Bundes überlassen, die es regelmäßig versäumen, Verbrechen gegen indigene Frauen angemessen zu untersuchen und zu verfolgen.40 Für Frauen ohne gültigen Aufenthaltsstatus kann es verheerende Folgen haben, auf staatlichen Schutz angewiesen zu sein. Dies gilt insbesondere in Grenzstaaten wie Kalifornien, Texas und Arizona, wo Beamt:innen der Grenzpatrouille oft zusammen mit lokalen Strafverfolgungsbeamt:innen arbeiten, sowie in der zunehmenden Anzahl von Zuständigkeitsbereichen, in denen örtliche Culture-Specific Factors Influencing African American Women’s Reporting Patterns and Perceived Social Support Following Sexual Assault«, in: Violence Against Women, 3/4 (1997), S. 361-390; siehe auch Nawal Ammar u. a., »Experiences of Muslim and Non-Muslim Battered Immigrant Women with the Police in the United States: A Closer Understanding of Commonalities and Differences«, in: Violence Against Women, 19/12 (2014), S. 1449-1471; ders. u. a., »Calls to Police And Police Response: A Case Study of Latina Immigrant Women in the USA«, in: International Journal of Police Science & Management, 7/4 (2005), S. 230-244. 39 Goldscheid u. a., »Responses from the Field«, S. 28. 40 Vgl. Amnesty International, Maze of Injustice: The Failure to Protect Indigenous Women from Sexual Violence in the USA, New York 2007, S. 2, S. 4, S. 8, S. 27-30, S. 47-49.

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Strafverfolgungsbeamt:innen ernannt wurden, um die Bundeseinwanderungsgesetze durchzusetzen. Laut einer 2003 durchgeführten Studie zu vietnamesischen Einwanderer:innen in Houston rufen gewaltbetroffene Personen, unabhängig vom Einwanderungsstatus, aus Angst vor Problemen mit den Einwanderungsbehörden und rassistischer oder ethnischer Diskriminierung durch die Strafverfolgungsbehörden die Polizei nur ein Fünftel so oft wie andere ethnische Gruppen an.41 Und angesichts des hohen Maßes an Polizeigewalt und der Verweigerung von Schutz ist es nicht verwunderlich, dass mehr als die Hälfte der Befragten der US-Transgender-Umfrage von 2015 angab, dass es ihnen unangenehm sei, die Polizei um Hilfe zu bitten, wenn sie diese bräuchten. Menschen aus dem Nahen Osten, Schwarze und mehrfach rassifizierte Menschen, Menschen mit Behinderungen und von Armut betroffene Menschen fühlten sich häufiger unwohl dabei, die Polizei um Hilfe zu bitten.42

Verhaftungsverpflichtende und verhaftungsfördernde Richtlinien »Verhaftungsverpflichtende« (mandatory arrest) und »verhaftungsfördernde« (pro arrest) Richtlinien tragen nur allzu oft zur Kriminalisierung der Bemühungen von Frauen bei, Gewalt vorzubeugen und zu vermeiden und sich selbst und ihre Kinder und Familien zu verteidigen.43 Die Richtlinien sind weit davon entfernt, die Effekte des polizeilichen Ermessensspielraums bei der Reaktion auf häusliche Gewalt zu beseitigen, schreiben vielmehr lediglich eine Verhaftung vor und überlassen es der Polizei, zu entscheiden, wer 41 Siehe Hoan N. Bui, »Help-Seeking Behavior Among Abused Immigrant Wom­ en«, in: Violence Against Women, 9/2 (2003), S. 207-239. 42 Vgl. National Center for Transgender Equality, The Report of the 2015 US Transgender Survey, Washington, D. C., 2016, S. 12. 43 Siehe Susan L. Miller, »Unintended Consequences of Mandatory Arrest: Policy Problems and Possibilities«, Vortrag bei der Konferenz Mandatory Arrest: Orig­ inal Intentions, Outcomes in our Communities, and Future Directions, Columbia University School of Law, New York, NY, 17. 6. 2005; Jessica Dayton, »Intimate Violence: The Silencing of a Woman’s Choice: Mandatory Arrest and No Drop Prosecution Policies in Domestic Violence Cases«, in: Cardozo Women’s Law Journal, 9 (2003), S. 281-298, hier S. 281, S. 288.

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verhaftet werden soll – mit vorhersehbaren Ergebnissen.44 Besonders besorgniserregend ist die wachsende Zahl an Verhaftungen von Gewaltbetroffenen im Rahmen solcher Maßnahmen. Joan Zorza, eine langjährige Kämpferin für gewaltbetroffene Personen, kommt zu dem Schluss, dass verpflichtende Verhaftungsrichtlinien »im schlimmsten Fall als Waffe eingesetzt werden können, um misshandelte Frauen auszubeuten und weiter zu schikanieren«.45 Im Jahr 1995, nach der Verabschiedung der verpflichtenden Verhaftungsrichtlinien, waren 14,3 Prozent der Verhafteten wegen häuslicher Gewalt in Los Angeles Frauen, doppelt so viele wie in den Jahren zuvor. Insgesamt nahmen die Verhaftungen wegen häuslicher Gewalt unter der Verhaftungspflicht zwischen 1987 und 1995 zu, 1995 wurden dreimal so viele Frauen verhaftet wie 1987, wohingegen sich die Verhaftungen von Männern im selben Zeitraum lediglich verdoppelten.46 In Maryland hat sich die Zahl der Frauen, die wegen häuslicher Gewalt verhaftet wurden, zwischen 1992 und 1996 verdreifacht, und in Sacramento stieg die Zahl zwischen 1991 und 1996 um 91 Prozent an.47 Im Jahr 2001 berichtete die feministische Forscherin Susan Miller, dass in einigen Städten mehr als 20 Prozent der Verhafteten nach Beschwerden häuslicher Gewalt Frauen waren. Sie folgerte: »Eine Verhaftungsrichtlinie, die misshandelte Frauen als Opfer schützen sollte, wird falsch angewandt und gegen sie verwendet. Aus misshandelten Frauen sind Täterinnen geworden.«48 Im Jahr 2000 ergab eine Studie zu häuslicher Gewalt im Bundesstaat New York, dass in einem Zeitraum von zweieinhalb Jahren Betroffene in 27 Prozent der bei einer Hotline 44 Vgl. Miller, »Unintended Consequences«. 45 Zit. n. John Johnson, »A New Side to Domestic Violence: Arrests of Women Have Risen Sharply Since Passage of Tougher Laws«, in: Los Angeles Times, 27. 4. 1996, 〈 https://www.latimes.com/archives/la-xpm-1996-04-27-mn-63362-story. html〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 46 Vgl. ebd. 47 Vgl. Meda Chesney-Lind, »Criminalizing Victimization: The Unintended Consequences of Mandatory Arrest Policies for Girls and Women«, in: Criminology and Public Policy, 2/1 (2002), S. 81-90. 48 Vgl. Susan L. Miller, Michelle L. Malloy, »Women’s Use of Force: Voices of ­Women Arrested for Domestic Violence«, in: Violence Against Women, 12/1 (2006), S. 89-115; Susan Miller, »The Paradox of Women Arrested for Domestic Violence«, in: Violence Against Women, 7/12 (2001), S. 1339-1376.

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für häusliche Gewalt eingegangenen Fälle verhaftet wurden.49 85 Prozent der Gewaltbetroffenen, die verhaftet wurden, waren zuvor nachweislich häuslicher Gewalt ausgesetzt gewesen, und 85 Prozent wurden bei dem Vorfall, der zu ihrer Verhaftung führte, verletzt.50 Verhaftungen von gewaltbetroffenen Personen sind besonders häufig bei polizeilichem Vorgehen gegen Gewalttaten, an denen zwei Personen beteiligt sind, die demselben Geschlecht zugerechnet werden. Laut einem NCAVP-Bericht aus dem Jahr 2010 stiegen die »Fehlverhaftungen« von LGBTQ-Personen von 2008 auf 2009 um 144 Prozent.51 Im Jahr 2015 stiegen solche Vorfälle auf 31 Prozent an, verglichen mit 17 Prozent im Jahr 2014.52 Es gibt mehrere Szenarien, in denen Gewaltbetroffene durch verpflichtende Verhaftungsrichtlinien reviktimisiert werden. Manchmal sind die Beamt:innen nicht in der Lage oder versuchen nicht (oder geben sich nicht die Mühe), zu erkennen, welche Partei der oder die ursprüngliche Aggressor:in ist, und entscheiden sich dafür, beide Parteien eines häuslichen Streits festzunehmen. In anderen Fällen werden die betroffenen Personen von den verhaftenden Beamt:innen als Aggressor:innen wahrgenommen, weil sie in Notwehr gehandelt haben, oftmals ungeachtet ihrer langen Vorgeschichten, in denen sie Gewalt ausgesetzt waren. Und wieder andere Male landet der:die Gewaltbetroffene in Handschellen, weil der:die Täter:in, der mit dem Rechtssystem vertraut ist und es manipulieren kann, zuerst die Polizei gerufen hat. Ein Fall aus Los Angeles ist typisch: Eine Frau aus dem Nahen Osten, die die Misshandlungen ihres Mannes über ein Jahrzehnt ertragen und ihn schließlich während eines Kampfes gebissen hatte, wurde von Polizist:innen festgenommen, die von Nachbar:innen gerufen worden waren.53 In einem anderen Fall wurde Dariela, eine honduranische 49 Vgl. Haviland, u. a., »The Family Protection and Domestic Violence Intervention Act of 1995«. 50 Vgl. ebd. 51 National Coalition of Anti-Violence Programs, Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender and Queer Domestic/Intimate Partner Violence in the United States in 2009, New York 2010, S. 4. 52 Vgl. National Coalition of Anti-Violence Programs, Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender and Queer Domestic/Intimate Partner Violence in the United States in 2015, New York 2016, S. 10. 53 Vgl. Johnson, »A New Side to Domestic Violence«.

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Migrantin, festgenommen, als ihre gewalttätige Partnerin Maria die Polizei gerufen hat. Dariela sagte später: »Aber so funktioniert das Gesetz [...]. Sie ist US-Amerikanerin und ich spreche kein Englisch und bin Migrantin, die Dinge liefen schlecht für mich.« Die Chicana-Studies-Professorin Martha Escobar kam zu dem Schluss, dass Darielas »illegalisierter Status, ihr Unvermögen, Englisch zu sprechen, und ihre Sexualität alles Faktoren waren, die sie als abweichend konstruierten«.54 Das Profiling hört also nicht auf, wenn sich die Polizei von Vollstrecker:innen zu »Beschützer:innen« wandelt: Der Wahrnehmung, wer als legitimes Opfer und wer als gewalttätig gilt, liegen rassifizierte und vergeschlechtlichte Denk- und Handlungsmuster zugrunde. Die Reaktionen von Polizist:innen auf Hilferufe sind durch bestimmende Narrative über Frauen und nicht-genderkonforme Menschen of color geprägt, die diese als gewalttätig und bedrohlich markieren, ihnen absprechen, vergewaltigt oder missbraucht werden zu können, und ihnen vorwerfen, mitschuldig an der gegen sie verübten Gewalt zu sein. Beamt:innen, die verpflichtende Verhaftungsrichtlinien umsetzen, führen so ein rassifiziertes Gender-Profiling durch, indem sie die Person verhaften, die aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer Herkunft und/oder Ethnie rassifiziert wird, sich weniger genderkonform verhält, ein:e Einwanderer:in ist oder begrenzt Englisch spricht. Folglich ist es nicht überraschend, dass die Auswirkungen von Verhaftungen der von häuslicher Gewalt Betroffenen unverhältnismäßig stark auf einkommensschwache Frauen of color zu fallen scheinen. Eine signifikante Mehrheit (66 Prozent) der Betroffenen von Gewalt in der New Yorker Studie, die zusammen mit ihren Täter:innen verhaftet worden waren (duale Verhaftung) oder die aufgrund einer Beschwerde ihres:ihrer Täter:in verhaftet wurden (Vergeltungsverhaftung), waren Afroamerikaner:innen oder Latinx.55 43 Prozent lebten unterhalb der Armutsgrenze und 19 Prozent erhielten zu diesem Zeitpunkt staatliche Unterstützungsleistungen.56 Wie bereits erwähnt wurde, haben die Studien auch ergeben, dass Betroffene von Gewalt eher verhaftet 54 Martha D. Escobar, Captivity Beyond Prisons: Criminalization Experiences of Latina (Im)migrants, Austin 2016, S. 111-113. 55 Vgl. Haviland u. a, »The Family Protection and Domestic Violence Intervention Act of 1995«. 56 Vgl. ebd.

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werden, wenn sie zum Zeitpunkt des polizeilichen Einschreitens unter dem Einfluss von Alkohol oder Betäubungsmittel standen, sich gegen ihre Misshandlung gewehrt haben, in der Sexarbeit tätig waren, dies vermutet wurde oder wenn sie über ein transgender oder nicht-genderkonformes Erscheinungsbild verfügten. Die Verhaftung von Betroffenen im Rahmen von verpflichtenden Festnahmen setzt Menschen, die bereits Opfer von Gewalt durch ihre Familien und communities waren, weiterer Gewalt aus – dieses Mal durch den Staat. Die Retraumatisierung der Gewaltbetroffenen bei der polizeilichen Festnahme als Reaktion auf einen Anruf wegen häuslicher Gewalt ist vorhersehbar. Eine Betroffene, die Ziel einer verpflichtenden Verhaftungsrichtlinie wurde, erzählte, dass sie zweimal verhaftet wurde [...], das ist traumatisierend [...], der Polizeibeamte [...], er hat mich ins Auto gestoßen! Er hat mich hineingestoßen. »Erzähl’ das dem Richter!« Er sieht mich weinen und zittern und so. Er hat mich einfach gestoßen [...]. »Halt die Klappe da hinten!« Und ich habe geweint. Ich habe gesagt: »Das ist nicht fair« [...]. »Halt die Klappe!!« [...] Er hat mich aus dem Auto gezogen [...]. Er hat mich gegen [einen Schreibtisch] gedrückt.57

Derartige Verhaftungen können zudem verheerende Folgen haben, etwa für den Einwanderungsstatus, oder den Sorgerechtsentzug für Kinder, den erschwerten Zugang zu Arbeit, die Verweigerung von Sozialleistungen, das weitere Treiben in die kriminalisierte Überlebensökonomie und die erhöhte Anfälligkeit für Gewalt der verhafteten Person nach sich ziehen. Für migrierte Frauen können die Folgen der verpflichtenden Verhaftungsrichtlinien im Kontext der zunehmend enger werdenden Zusammenarbeit zwischen Einwanderungsbehörden und lokalen Strafverfolgungsbehörden doppelt verheerend sein. Viele Frauen ohne gültigen Aufenthaltsstatus haben Fälle von sexueller und häuslicher Gewalt angezeigt, nur um im Zuge einer Verhaftung im Rahmen der verpflichtenden Verhaftungsrichtlinien oder nach einer Befragung von Strafverfolgungsbeamt:innen nach ihrem Einwanderungsstatus abgeschoben zu werden.58 57 Ebd., S.  47. 58 Siehe Kavitha Sreeharsha, »Victims’ Rights Unraveling: The Impact of Local Immigration Enforcement Policies on the Violence Against Women Act«, in:

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Das Narrativ verändern, die Vision verändern Das Bündnis Ann Arbor Alliance for Black Lives entstand ursprünglich aus einer Solidaritätsdemonstration in Ferguson nach dem Mord an Mike Brown im August 2014. Seitdem hat sich das Bündnis weitgehend auf die Forderung nach Verantwortungsübernahme für die Ermordung von Aura Rain Rosser fokussiert, einer Künstlerin und Mutter von drei Kindern, die drei Monate später von der Polizei in Ann Arbor getötet wurde. Die Polizeibeamten David Ried und Mark Raab hatten auf einen Anruf wegen häuslicher Gewalt in Auras Haus reagiert.59 Die Polizisten behaupteten, dass sie um ihre Sicherheit fürchteten, als Aura aus viereinhalb Metern Entfernung mit einem 10 Zentimeter langen Messer auf sie zulief. Die Polizisten unternahmen keine Anstrengungen, die Situation zu deeskalieren oder ihr die Gelegenheit zu geben, das Messer fallen zu lassen. Stattdessen haben sie sie fünf bis zehn Sekunden nach ihrem Eintreffen erschossen. Die Beamten und städtischen Behörden rechtfertigten die Erschießung rückwirkend damit, dass Aura »ihre Augen sehr weit geöffnet hatte«, »in einem gestörten Zustand zu sein schien« und »einen starren, leeren Blick« hatte, womit sie die Rechtfertigungen der Beamten wiederholten, die Monate zuvor Michelle Cusseaux töteten und damit auf historische Darstellungen von Schwarzen Frauen als von Natur aus geistesgestört, übermenschlich und als inhärente Bedrohung zurückgriffen. Die »People’s Retort« (»Erwiderung des Volkes«) als Reaktion auf den Bericht der Staatsanwaltschaft über den Fall zieht Parallelen zwischen den dargelegten Rechtfertigungen für Auras Erschießung und Darren Wilsons Darstellung von Mike Brown als »Dämon«. Georgetown Journal of Gender and the Law, 11 (2010), S. 649-680, hier S. 649. Der abhängige oder illegalisierte Status von Frauen wird häufig von Gewalttätern manipuliert, die die Drohung der Abschiebung als Teil einer Matrix der Beherrschung und Kontrolle nutzen. Darüber hinaus müssen Frauen, die aufgrund von Gesetzen zur Festnahmepflicht verhaftet werden, selbst mit der Abschiebung rechnen. Siehe Anita Raj, Jay Silverman, »Violence Against Immigrant Women: The Role of Culture, Context and Legal Immigrant Status on Intimate Partner Violence«, in: Violence Against Women, 8/3 (2002), S. 367-398; Deena Jang u. a., Domestic Violence in Immigrant and Refugee Communities: Assessing the Rights of Battered Women, San Francisco 1997. 59 Ann Arbor for Black Lives, »Organizing Against Police Brutality and Mass Incarceration in Washtenaw County« (2015), in der Sammlung der Autorin.

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Unter Verwendung rassistischer Bildsprache wird Aura in eine tödliche Bedrohung verwandelt und nicht als eine Frau gesehen, die »sich inmitten eines wütenden Streits mit ihrem Ex-Freund befand«.60 Der örtliche Wissenschaftler und Aktivist Austin McCoy weist auf die vielfältigen Dynamiken hin, die sowohl bei Auras Tod als auch bei der Reaktion des Staates eine Rolle spielen: Der entscheidende Unterschied ist, dass Rosser Schwarz und weiblich ist. Schwarz und weiblich zu sein, bedeutet im heutigen Amerika, dass Schwarze Frauen nicht nur wie Männer durch die Hand des Staates sterben, sondern dass ihr Leiden unsichtbar gemacht wird, während ihr physischer und psychischer Zustand hypersichtbar gemacht wird. Das Leiden Schwarzer Frauen wird von den Behörden nicht gesehen, sondern der Staat versucht zu betonen, wie »aggressiv« und »hysterisch« sie sind.61

Die Mobilisierung um Auras Fall zeigt jedoch, verglichen mit dem relativen Schweigen beim Fall von Cherae Williams fünfzehn Jahre zuvor, eine willkommene Entwicklung in der Bewegung für die Rechenschaftspflicht der Polizei. Das Bild von Rosser ist eines von vielen, die im Internet unter dem Black-Lives-Matter-Hashtag kursieren, ihr Tod ist die Motivation für Protestmärsche, an denen Tausende teilnehmen, ihr Name wird neben dem von Brown bei Kundgebungen, Demonstrationen und Mahnwachen im ganzen Land genannt. Als die langjährige Antigewaltaktivistin Mariame Kaba zum ersten Mal einen Artikel der New York Times über Tiawanda Moore las, war sie schockiert, dass sie nicht schon früher von ihrem Fall gehört hatte, da er sich in Chicago abgespielt hatte, wo Kaba lebte. Kaba mobilisierte sofort die Chicago Task Force on Women and Girls, um Aufmerksamkeit für Tiawanda Moore in den sozialen Medien zu schaffen, eine Kampagne mit der Aufforderung an die inzwischen abgesetzte Staatsanwältin Anita Alvarez zu starten, die Anklage fallenzulassen und den Gerichtssaal während des Tiawanda-Moore-Prozesses mit Unterstützer:innen zu füllen. Kaba vergaß 60 [Anonym] »People’s Retort to the Prosecutor’s Report« (2016), in der Sammlung der Autorin. 61 Austin McCoy, »Ann Arbor Is America: The Police Kill Aura Rosser and the System Exonerates Itself-Again«, in: Medium.com, 31. 1. 2015, 〈https://medium. com/@austinmccoy/ann-arbor-is-america-the-police-kill-aura-rosser-and-thesystem-exonerates-itself-again-f73fae9bba7f〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022.

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den Fall nie und spielte später eine führende Rolle in der Kampagne zur Absetzung von Alvarez als Bezirksstaatsanwältin während der Wahlen im Jahr 2016 unter dem Hashtag #ByeAnita. Kabas Arbeit rund um Tiawanda Moores Fall entsprach dem Aufruf von Angela Davis, den diese fünfzehn Jahre zuvor auf der INCITE!-Konferenz im Jahr 2000 formuliert hatte: der Anerkennung und Mobilisierung von einem Ort aus, der die Verletzlichkeit der Betroffenen von staatlicher und zwischenmenschlicher Gewalt sichtbar macht. Survived and Punished, mitbegründet von Kaba, gehört zu den Organisationen, die sich des Falles von Ky Peterson angenommen haben, einem Schwarzen trans Mann, der 2011 in Americus, Georgia, vergewaltigt wurde, als er von einem Supermarkt nach Hause ging. Ky Peterson verteidigte sich selbst und tötete dabei seinen Angreifer. Aufgrund früherer Erfahrungen mit der Polizei ging er davon aus, dass sie ihm nicht glauben würden, also versteckte er die Leiche und hoffte auf das Beste. Seine Vermutung war richtig, denn als die Polizei schließlich eingeschaltet wurde, betrachtete sie Ky Peterson trotz der Beweise aus einer unmittelbaren medizinischen Untersuchung, die seine Version der Ereignisse untermauerten, nicht als Opfer. Stattdessen verfolgte die Polizei Theorien, die einvernehmlichen Sex und Raub zum Inhalt hatten, was Ky Peterson letztendlich dazu zwang, ein Schuldbekenntnis abzulegen, um einer lebenslangen Haftstrafe zu entgehen. Er wurde zu zwanzig Jahren Haft verurteilt. Chase Strangio von der ACLU schlussfolgert: »Dieser Fall zeigt, wie schwierig es für trans people of color ist, den Status des Opfers zu beanspruchen.«62 Über den Aktivismus zur Bewältigung einzelner Fälle hinaus erfordern diese Realitäten die Anerkennung, dass racial profiling und Polizeigewalt nicht nur bei Straßen- und Verkehrskontrollen stattfinden, sondern auch wenn die Polizei auf Anzeigen von Gewalt reagiert. Gemeinschaftliche Bemühungen zur Dokumentation und Beseitigung von Gewalt durch Gruppen, die sich gegen Polizeibrutalität und gegen Gewalt gegen Frauen aktiv einsetzen, sollten 62 Sunnivie Brydum, Mitch Kellaway, »This Black Trans Man Is in Prison for Kill­ ing His Rapist«, in: Advocate, 8. 4. 2015, 〈https://www.advocate.com/politics/ transgender/2015/04/08/black-trans-man-prison-killing-his-rapist〉; The Action Network, »Justice for Ky Peterson!«, 〈https://actionnetwork.org/petitions/justicefor-ky-peterson-black-transgender-man-sentenced-to-20-years-in-prison-for-de fending-himself-against-sexual-assault〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022.

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daher explizit Polizeigewalt im Kontext des polizeilichen Vorgehens bei Gewalttaten einbeziehen. Außerdem müssen Copwatch-Gruppen Betroffene häuslicher Gewalt dabei unterstützen, ihre eigenen Erfahrungen mit der Polizei sicher zu dokumentieren und Polizeigewalt in diesen Kontexten aufzudecken. Vielleicht am wichtigsten ist, dass die Erfahrungen Schwarzer Frauen und Frauen of color mit dem polizeilichen Vorgehen bei Gewalttaten uns dazu veranlassen, unser Verständnis von Sicherheit konsequent zu überdenken, einschließlich der Beendigung der verpflichtenden Verhaftungsrichtlinie und der Entwicklung von alternativen, nichtpolizeilichen Vorgehensweisen bei Gewalttaten. Im März 2016 fand ich mich zu meiner großen Überraschung auf einer Versammlung wieder, die vom Bundesamt für Jugendstrafrecht und Kriminalprävention (Federal Office of Juvenile Justice, Detention, and Prevention) einberufen worden war, um die Beendigung der verpflichtenden Verhaftungsrichtlinie zu diskutieren, die im Kontext von Vorgehen bei familiärer Gewalt Anwendung findet, in die Mädchen involviert sind, und zu den Hauptursachen für die Verhaftung und Inhaftierung von Mädchen gehören.63 Wenn dies in Kentucky erreicht worden wäre, wäre Gynnya McMillen, die in Polizeigewahrsam starb, nachdem sie nach einem Streit mit ihrer Mutter verhaftet worden war, vielleicht heute noch unter uns. Im Juni 2016 empfahl die New York City Council Young Women’s Initiative die Einrichtung einer Arbeitsgruppe, die die Aufhebung der verpflichtenden Verhaftungsrichtlinien in einer der ersten Städte, die diese eingeführt hatten, prüfen sollte. Die Initiative setzte sich auch für Programme ein, die Frauen dazu befähigen, Gewalt vorzubeugen, zu vermeiden und Gewaltsituationen zu verlassen, einschließlich eines verbesserten Zugangs zu Wohnraum, Arbeit, Gesundheitsversorgung sowie der Legalisierung ihres Einwanderungsstatus. Durch die Investition in die Bedürfnisse von communities und gewaltbetroffenen Personen sollen polizeiliche Einsätze bei Gewalttaten reduziert und alternative Ansätze zur Förderung der Sicherheit junger Frauen und Mädchen unterstützt werden.64 63 Vgl. Francine Sherman, Annie Balck, Gender Injustice: System-Level Juvenile Jus­ tice Reform for Girls, Washington, D. C., 2015. 64 Vgl. Movement for Black Lives, »Vision for Black Lives: Policy Demands for Black Power, Freedom and Justice« (2016), 〈https://m4bl.org/policy-platforms/〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022.

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Einige Organisationen haben den Grundstein für community-basiertes Vorgehen bei Gewalttaten gelegt: Sowohl Communities Against Rape and Abuse als auch Sista II Sista haben überzeugende Artikel in der Publikation Color of Violence: The INCITE!-Anthology eingebracht, in denen sie ihre Ansätze detailliert beschreiben. Creative Interventions, Generation5, Harm Free Zones und das »Safe-Outside-the-System«-Projekt des Audre Lorde Project haben alle erprobt, geübt und reflektiert, wie wir ohne Polizei auf Gewalt reagieren können. Viele der gelernten Lektionen werden im Creative Interventions Toolkit: A Practical Guide to Stop Interpersonal Violence (Ein praktischer Leitfaden zur Beendigung zwischenmenschlicher Gewalt) aufgeführt. Auf diese Weise werden neuere Gruppen, wie die Dream Defenders und andere, inspiriert, in ihre Fußstapfen zu treten.65 Letztlich sprechen die hier beschriebenen Erfahrungen, zusammen mit unzähligen anderen, für eine kritische Überprüfung des gegenwärtigen Vorgehens bei Gewalt gegen Frauen und die Entwicklung und Unterstützung von alternativen, community-basierten Verantwortungsstrategien, die die Sicherheit der gewaltbetroffenen Personen in den Vordergrund stellen, kollektive Verantwortungsübernahme für die Schaffung, Ermöglichung und Beseitigung eines Klimas, das Gewalt überhaupt zulässt, und die Veränderung der privaten und öffentlichen Machtverhältnisse. Die Erklärung von Critical Resistance und INCITE! ruft Bewegungen, die sich für die Beendigung von Polizeigewalt und Gewalt gegen Frauen einsetzen, dazu auf, »Strategien und Analysen zu entwickeln, die sowohl staatliche als auch interpersonelle Gewalt adressieren, insbesondere Gewalt gegen Frauen«.66 Solche Antworten sind unerlässlich, wenn wir die Abhängigkeit von auf Strafverfolgung basierenden Ansätzen gegen Gewalt hinter uns lassen, echte Sicherheit für Betroffene häuslicher Gewalt erreichen und letztlich die Gewalt gegen Frauen of color in all ihren Formen beenden wollen. Übersetzt von Mihir Sharma und Dodo 65 Dieses Toolkit ist zum Download verfügbar unter 〈www.creative-interventions. org/tools/toolkit〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 66  INCITE! Women of Color Against Violence/Critical Resistance, »Vergeschlechtlichte Gewalt und der Prison-Industrial-Complex«, in: Daniel Loick (Hg.), Kritik der Polizei, Frankfurt/M., New York 2018, S. 267-278, hier S. 269.

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Victoria Law Gegen den Strafrechtsfeminismus Cherae Williams, eine 35-jährige afroamerikanische Frau aus der Bronx, wollte sich lediglich vor ihrem gewalttätigen Freund schützen.1 Also rief sie die Polizei. Obwohl es gesetzlich in New York vorgeschrieben ist, nach einer Meldung von häuslicher Gewalt die mutmaßlichen Täter:innen zu verhaften, stiegen diese Beamten nicht einmal aus ihrem Wagen aus. Als Williams verlangte, den Polizeiausweis der Beamten zu sehen, legten ihr die Polizisten Handschellen an, fuhren sie zu einem abgelegenen Parkplatz und schlugen sie. Dabei brachen sie ihr Nase, Kiefer und fügten ihr einen Milzriss zu. Anschließend ließen die beiden Polizisten sie auf dem Boden liegen. In ihrer Zeugenaussage berichtete Williams später, dass sie ihr sagten, »wenn sie mich auf der Straße sehen würden, würden sie mich umbringen«.2 Das war 1999. Ein halbes Jahrzehnt nachdem der Violence Against Women Act (VAWA; dt. Gewalt-gegen-Frauen-Gesetz) in Kraft getreten war. Man versuchte die Fälle von häuslicher Gewalt dadurch zu reduzieren, dass man mehr Polizist:innen einsetzte und härtere Strafen verhängte. Viele Feminist:innen, die zuvor Lobbyarbeit für die Realisierung des VAWA leisteten, hatten im Fall von Williams und vieler anderer Frauen, die Ähnliches mit der Polizei erlebt hatten, jedoch keinen Kommentar beizutragen und blieben still. Die legislativen Erfolge von weißen, gutbetuchten Feminist:innen hatten kaum Einfluss auf die Gewalterfahrungen, die weniger wohlhabende, marginalisierte Frauen wie Williams machten. Der Strafrechtsfeminismus ist eine der vorherrschenden Formen des Feminismus. Auch wenn Befürworter:innen dieser Form dem Folgenden nicht zustimmen werden, beschreibt der Strafrechtsfeminismus einen Glaubenssatz, bei dem verstärktes Polizieren, 1 Andrea J. Ritchie spricht in ihrem Beitrag davon, Cherae Williams sei 37 Jahre alt gewesen, Medienberichte sprechen auch von 38 oder 39. Das korrekte Alter konnte nicht zweifelsfrei ermittelt werden. [Anm. d. Hg.] 2 Von diesem Fall berichtet Andrea J. Ritchie bei einem Panel des Barnard Center for Research on Women 2006; siehe 〈http://sfonline.barnard.edu/prison/Challeng ingMythsPanel.pdf〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022.

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Strafverfolgung und Inhaftierung als Hauptlösungen dargestellt werden, um die Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen. Dieser Ansatz verkennt allerdings, dass die Polizei selbst Gewalt initiiert und Gefängnisse immer Orte der Gewalt sind. Der Strafrechtsfeminismus ignoriert daher intersektionale Aspekte wie race, soziale Klasse, Genderidentität und Einwanderungsstatus, der bestimmte Frauen oft viel verletzlicher und angreifbarer macht. Eine verstärkte Kriminalisierung macht genau diese Frauen noch anfälliger für staatliche Gewalt. Polizeieingriffe und Gefängnisse als Hauptlösungsansatz gegen häusliche Gewalt einzusetzen, rechtfertigt einerseits höhere Ausgaben für Polizei und Gefängnisse, lenkt aber andererseits von der Tatsache ab, dass wichtige Programme, die gewaltbetroffenen Personen dabei helfen zu fliehen, wie zum Beispiel Frauenhäuser, Sozialwohnungen und Sozialhilfe, dafür enorme finanzielle Kürzungen hinnehmen müssen. Indem man die Polizei und Gefängnisse als Lösung darstellt, entmutigt und schreckt man Menschen ab, andere Ressourcen zu erschließen, wie zum Beispiel community-Interventionen und langfristig ausgerichtete Organisationen. Wie konnte es dazu kommen? In den Jahrzehnten zuvor reagierte die Polizei auf häusliche Gewalt, indem sie den Täter:innen lediglich riet, sich zu beruhigen, nur um dann wieder zu gehen. In den 1970er und 1980er Jahren verklagten feministische Aktivist:innen die Polizeistationen wegen ihrer Tatenlosigkeit. In New York, Oakland und Connecticut bewirkten diese Klagen erhebliche Veränderungen, wie Meldungen häuslicher Gewalt zu handhaben sind, vor allem in Bezug auf verpflichtende Verhaftungen. Als Teil des größten Strafgesetzpakets in der US-Geschichte, des Violent Crime Control and Law Enforcement Act (dt. Gesetz zur Kontrolle und Strafverfolgung von Gewaltkriminalität), baute das VAWA auf diesen vorherigen Bemühungen auf. 30 Milliarden US-Dollar wurden für das Gesetz bereitgestellt, wodurch die Anstellung von hunderttausend neuen Polizist:innen finanziert wurde. Weitere 9,7 Milliarden US-Dollar gingen an Gefängnisse. Gleichzeitig ignorierten viele Politiker:innen und Unterstützer:innen des VAWA die wirtschaftlichen Probleme, die viele Frauen daran hinderten, aus gewalttätigen Partnerschaften zu fliehen. Zwei Jahre später unterzeichnete US-Präsident Clinton ein Gesetz zur Sozialhilfereform. Durch den Personal Responsibility and Work Opportunity and Reconciliation Act (dt. Gesetz zur Vereinbarung 449

von Eigenverantwortung und Arbeitsmöglichkeiten) wurde die Sozialhilfe auf fünf Jahre begrenzt. Es setzte außerdem voraus, dass, unabhängig von sämtlichen Umständen, Sozialhilfeempfänger:innen nach zwei Jahren wieder arbeiten mussten, und verhängte ein lebenslanges Verbot auf Anspruch auf Sozialhilfe für Menschen, die wegen Drogendelikten verurteilt wurden oder gegen Bewährungsstrafen verstoßen hatten. Gegen Ende der 1990er Jahre fiel die Zahl an Sozialhilfeempfänger:innen (die überwiegend Frauen waren) um 53 Prozent, also um 6,5 Millionen Menschen. Diese Kürzungen im Sozialhilfesystem zerstörten ein wichtiges Sicherheitsnetz, das Opfern dabei half, aus gewalttätigen Beziehungen zu fliehen. Währenddessen erreichten Mainstreamfeminist:innen durch ihren politischen Druck die Durchsetzung von Gesetzen, die Polizist:innen nun dazu verpflichteten, Täter:innen nach einer Meldung von häuslicher Gewalt zu verhaften. Bis 2008 hatten fast die Hälfte aller US-Staaten das Gesetz zur verpflichtenden Festnahme übernommen.3 Die Verordnung führte allerdings auch zu doppelten Festnahmen, wobei Polizist:innen beiden Parteien Handschellen anlegten, weil sie beide als Angreifer:innen wahrnahmen oder den:die »Hauptaggressor:in« nicht identifizieren konnten. Frauen mit marginalisierten Identitäten, wie zum Beispiel queere Frauen, Migrantinnen, Frauen of color, trans Frauen, bis hin zu Frauen, die als laut und aggressiv betrachtet werden, werden vermehrt verhaftet, da sie nicht dem stereotypen Bild von missbrauchten Opfern entsprechen. Die Bedrohung, die staatliche Gewalt darstellt, ist allerdings nicht nur auf körperliche Gewalt beschränkt. 2012 wurde Marissa Alexander, eine afroamerikanische Mutter, in Florida festgenommen, nachdem sie einen Warnschuss abfeuerte, um ihren Ehemann davon abzuhalten, sie weiterhin zu misshandeln. Er verließ daraufhin das Haus und rief die Polizei. Obwohl er keinerlei Verletzungen erlitten hatte, wurde sie verhaftet und wegen schwerer Körperverletzung angeklagt. Alexander argumentierte, dass ihre Handlung nach dem Stand-your-Ground-Gesetz in Florida gerechtfertigt 3 Zu den »mandatory arrest laws« vgl. David Hirschel, »Domestic Violence Cases: What Research Shows About Arrest and Dual Arrest Rates«, 25. 7. 2008, 〈https:// www.ojp.gov/sites/g/files/xyckuh241/files/media/document/222679.pdf〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022.

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war.4 Im Gegensatz zum Fall George Zimmermann, der nur drei Monate zuvor den 17-jährigen Trayvon Martin erschossen hatte, blieb Alexanders Verteidigung mit demselben Ansatz jedoch erfolglos. Trotz der 66 Seiten langen Aussage ihres Ehemannes, in der er zugab, Alexander und vorherige Partnerinnen, mit denen er Kinder hatte, misshandelt zu haben, wurde sie von den Geschworenen für schuldig befunden. Die Staatsanwaltschaft verhängte dann zusätzlich das »10-20-LIFE«-Urteil, welches für das Abschießen einer Schusswaffe eine 20-jährige Gefängnisstrafe vorsieht. 2013 wurde ihr Urteil von einem Berufungsgericht aufgehoben. Die Staatsanwältin setzte sich daraufhin zum Ziel, während des Gerichtsprozesses im kommenden Dezember eine 60-jährige Strafe durchzusetzen.5 Alexander ist nicht die einzige Betroffene häuslicher Gewalt, die zusätzlich Angriffe durch das Rechtssystem ertragen musste. Im Staat New York erlebten 67 Prozent der Frauen, die aufgrund von Totschlag inhaftiert sind, zuvor Gewalt von der getöteten Person. Auch in Kalifornien beweist eine Gefängnisstudie, dass 93 Prozent der Frauen, die ihren Partner töteten, zuvor von demselben Partner misshandelt worden waren. 67 Prozent dieser Frauen sagten aus, dass sie lediglich versucht hätten, sich oder ihre Kinder zu schützen. Keine Behörde wurde bisher damit beauftragt, Daten mit Bezug auf die Anzahl der gewaltbetroffenen Personen zu sammeln, die wegen Selbstverteidigung inhaftiert sind. Daher gibt es keine landesweite Statistik über die Häufigkeit der Schnittpunkte zwischen häuslicher Gewalt und Kriminalisierung. Die landesweiten Zahlen zeigen jedoch, dass die Anzahl der Frauen in Gefängnissen in den letzten Jahrzehnten exponentiell zugenommen hat. 1970 wurden landesweit 5600 Frauen verhaftet. Im Jahr 2013 lag diese Zahl in Staatsund Bundesgefängnissen bei 111 300 Frauen,6 mit weiteren 102 400 in lokalen Gefängnissen (trans Frauen, die in Männergefängnissen 4 »Stand-your-Ground«-Gesetze, die zurzeit in 30 US-amerikanischen Bundesstaaten in Kraft sind, erlauben es Privatpersonen, tödliche Gewalt einzusetzen, um sich gegen einen rechtswidrigen Angriff zu wehren. [Anm. d. Hg.] 5 Am 27. Januar 2015 wurde Alexander aus dem Gefängnis entlassen, nachdem sie einem Vergleich zugestimmt hatte, der ihre Strafe auf die bereits verbüßten drei Jahre beschränkte. Sie bekannte sich der dreifachen schweren Körperverletzung schuldig, weil sie einen Schuss in Richtung ihres Ehemanns abgegeben hatte. [Anm. d. Hg.] 6 Department of Justice, 〈https://bjs.ojp.gov/content/pub/pdf/p13.pdf〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022.

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eingesperrt sind, wurden in dieser Statistik nicht mitgezählt).7 Die Mehrzahl der Frauen erlitten körperliche und/oder sexuelle Gewalt, bevor sie verhaftet wurden – oft von ihnen nahestehenden Menschen. Bis heute äußern sich Strafrechtsfeminist:innen kaum zu der Gewalttätigkeit der Strafrechtsbehörden und der überwältigenden Anzahl an gewaltbetroffenen Personen hinter Gittern. Dies ist auch in vielen aktivistischen Gruppen gegen Masseninhaftierung zu beobachten, die die Gewalt gegen Frauen nicht thematisieren und sich ausschließlich auf Männer in Gefängnissen konzentrieren. Es waren besonders Frauen-of-color-Aktivist:innen, Organisator:innen und Wissenschaftler:innen, die die Gewalt gegen Frauen zur Sprache brachten. 2001 veröffentlichte Critical Resistance, eine Organisation zur Abschaffung von Gefängnissen, gemeinsam mit dem Antigewaltnetzwerk INCITE! Women of Color Against Violence ein Statement, in dem sie die Folgen der erhöhten Kriminalisierung und den oft verschwiegenen Zusammenhang von Gender und Polizeigewalt thematisieren.8 Im Anbetracht der Tatsache, dass mehr Polizeipräsenz und Inhaftierungen zu weniger community-Interventionen und -Organisation führten, riefen Critical Resistance und INCITE! dazu auf, community-Unterstützung und Strategien gegen jegliche Form von Gewalt zu entwickeln. Diese Arbeit sollte dann dokumentiert werden, um alternative Ansätze für Hilfesuchende bereitzustellen. Sowohl Einzelpersonen als auch Graswurzelgruppen stellten sich dieser Herausforderung. 2004 gründete Mimi E. Kim, eine Antigewaltaktivistin, Creative Interventions. Die Organisation veröffentlichte eine Website, um Hilfsmittel und Ressourcen zur Bewältigung von täglichen Gewaltsituationen zu sammeln und bereitzustellen. Daraus entstanden unter anderem das StoryTelling & Organizing Project, in dem Menschen ihre Erfahrungen im Umgang mit verschiedenen Formen der Gewalt (häuslicher Gewalt, aber auch Gewalt innerhalb von Familien und sexualisierter Gewalt) teilen können. 7 Department of Justice, 〈https://bjs.ojp.gov/content/pub/pdf/jim13st.pdf〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 8 Vgl. INCITE! Women of Color Against Violence / Critical Resistance, »Vergeschlechtlichte Gewalt und der Prison-Industrial-Complex«, in: Daniel Loick (Hg.), Kritik der Polizei, Frankfurt/M., New York 2018, S. 267-278.

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2008 dokumentierten die gewaltbetroffenen Personen und die Aktivist:innen für soziale Gerechtigkeit Ching-In Chen, Jai Dulani und Leah Lakshimi Piepzna-Samarasinha in einem 111 Seiten langen Zine, wie sich Aktivist:innen gegen Täter aus ihren eigenen Kreisen wehren und sie zur Rechenschaft ziehen.9 Piepzna-Samarasinha erklärte, wie ihre engsten Freund:innen ihr dabei halfen, eine Strategie zu entwickeln, um sich vor ihrem gewalttätigen Ex-Partner zu schützen, der oft den gleichen politischen Organisationen und Kreisen angehörte wie sie: Als er bei einer Filmaufführung über das Gefängnis- und Strafrechtssystem auftauchte, bei der ich ebenfalls anwesend war, und ich gezwungen gewesen wäre, in seiner Nähe zu sitzen, da die Aufführung in einem kleinen Klassenraum stattfand, forderten ihn meine Freund:innen auf zu gehen und machten ihm klar, dass er dort nicht willkommen sei. Als er eine regionale südasiatische Radiosendung kontaktierte, die eine Sondersendung zu Gewalt gegen Frauen machte, konfrontierte ihn eine der Moderator:innen und sagte, dass sie wisse, dass er selbst gewalttätig gewesen sei, und dass sie ihn nicht zu der Sendung zulassen werde, solange er keine Verantwortung für seine Taten übernehme. Als Teil meines Notfallplans ging ich niemals ohne meine Gruppe von besten Freund:innen in Clubs. Sie verließen nie meine Seite und gingen oft voraus und suchten den Club nach ihm ab. Wenn er später doch auftauchte, kamen wir zusammen und überlegten, wie wir am besten in dieser Situation vorgingen.

Im Artikel »Domestic Violence: Examining the Intersections of Race, Class, and Gender« beschreiben die beiden feministischen Akademikerinnen Natalie Sokoloff und Ida Dupont, wie migrierte und geflüchtete Frauen in Halifax, Nova Scotia/Kanada, vorgingen, um vor allem das Problem der wirtschaftlichen Abhängigkeit in gewalttätigen Beziehungen anzusprechen, welches viele Frauen daran hindert, ihre Partner zu verlassen. Viele dieser Frauen, die neben Misshandlungen in Beziehungen oft Folter, Armut und politische Verfolgung erlebt hatten, gründeten dort eine Anlaufstelle für eine informelle Selbsthilfegruppe. Diese erweiterten sie dann um einen kooperativen Cateringbetrieb, der ihnen dabei half, Bedürftigen Wohnungsbeihilfen anzubieten. Darüber hinaus teilten sich 9 Das Zine wurde inzwischen als Buch veröffentlicht: Ching-In Chen u. a. (Hg.), The Revolution Starts at Home: Confronting Intimate Violence Within Activist Communities, Oakland 2016.

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die Frauen die Kinderbetreuung und unterstützten sich emotional. Anhand dieser Beispiele ist klar zu erkennen, dass die Strategien zur Bekämpfung häuslicher Gewalt oft mehrere Schritte erfordern. Um die Sicherheit einer einzigen Person zu gewährleisten, erfordert es ein langfristiges Engagement von Freund:innen und der community, wie in Piepzna-Samarasinhas Fall. Für diejenigen, die an der Entwicklung von alternativen Systemen arbeiten, wie die Frauen in Halifax, ist es nicht nur wichtig, schnelle Hilfeleistung zu geben und Notfallpläne zu entwickeln, sondern auch die grundlegenden Probleme sozialer Ungleichheiten anzusprechen, die häusliche Gewalt verschlimmern. Indem er sich lediglich auf eine stärkere Kriminalisierung verlässt, ignoriert der Strafrechtsfeminismus genau diese sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten und setzt sich demnach auch nicht für Maßnahmen ein, die Frauen vor der wirtschaftlichen Abhängigkeit von gewalttätigen Partnern schützt. Der Strafrechtsfeminismus ignoriert darüber hinaus unzählige Formen von Gewalt, denen Frauen ausgesetzt sind, einschließlich Polizeigewalt und Masseninhaftierungen. Es wird nicht auf Faktoren eingegangen, die Misshandlungen begünstigen, wie zum Beispiel männliches Anspruchsdenken (male entitlement), wirtschaftliche Ungleichheit, den Mangel an sicheren und bezahlbaren Wohnungen und dass es generell keine anderen Ressourcen gibt. Durch den Strafrechtsfeminismus wachsen die schlimmsten Aspekte und Mechanismen eines Staates, während hinter den Kulissen die wichtigsten und besten Mechanismen schrumpfen. Gleichzeitig wird die Arbeit aller Antigewaltaktivist:innen und Organisationen missachtet, die von Anfang an wussten, dass stärkere Kriminalisierungsmaßnahmen nicht nur kontraproduktiv sind, sondern eine weitere Bedrohung darstellen. Die von INCITE!, Creative Interventions, StoryTelling & Organizing Project und The Revolution Starts at Home geleistete Arbeit ist Teil einer langen Geschichte des Widerstands gegen häusliche und staatliche Gewalt – angeführt von women of color. Ihre Arbeit zeigt, dass es eine Alternative zu karzeralen Lösungen gibt und dass wir nicht desaströse staatliche Gewalt einsetzen müssen, um häusliche Gewalt einzudämmen. Übersetzt von Haben Ghebremichael 454

Sarah Lamble Karzerale Logiken transformieren: Zehn Gründe dafür, den gefängnisindustriellen Komplex durch queere/trans Analysen und Aktionen zu demontieren1 Es fällt uns schwer zu glauben, was wir in diesen Tagen hören. Tausende verlieren ihre Häuser, und Schwule wollen einen Tag, der nach Harvey Milk2 benannt wird. Das US-Militär setzt seinen Weg der Zerstörung fort, und Schwule wollen ebenfalls kämpfen dürfen. Polizist:innen ermorden immer noch unbewaffnete schwarze Menschen und verprügeln Schwule, aber Schwule wünschen sich mehr Polizeiarbeit. Immer mehr Amerikaner:innen leiden und sterben, weil sie keinen Zugang zu einer angemessenen Gesundheitsversorgung erhalten, und Schwule wollen Hochzeiten. Was ist nur mit uns geschehen? – Queer Kids of Queer Parents Against Gay Marriage3

Dieser Beitrag erwuchs aus der anhaltenden Notwendigkeit, die Kämpfe für geschlechtliche und sexuelle Gerechtigkeit und die zunehmende Krise der Masseninhaftierung, des Überpolizierens 1 Ich danke dem Prisoners Justice Action Committee in Toronto, insbesondere Peter Collins und Giselle Dias, die so viel zu meinem Verständnis und meiner Praxis der Gefangenensolidarität und Antigefängnisarbeit beigetragen haben. Ich möchte auch die zahlreichen Lehren anführen, die ich aus der Arbeit mit Gefangenen im Central East Correctional Center in Lindsay, Ontario/Kanada, ziehen konnte. Viel Inspiration verdanke ich der Arbeit von Critical Resistance, INCITE!, dem Prisoner Correspondence Project in Montreal und dem Sylvia Rivera Law Project. Dank auch an Stacy Douglas, Greygory Glass, Toni Johnson, George Lavender, Dean Spade, Mike Upton und die Herausgeber:innen des Buches Captive Genders, Eric Stanley und Nat Smith, für sehr hilfreiches Feedback und Diskussionen. 2 Harvey Milk (1930-1978) gilt als Pionier der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, insbesondere der Schwulen- und Lesbenbewegung. Er war der erste offen schwule Politiker der USA. [Anm. d. Übers.] 3 Queer Kids of Queer Parents Against Gay Marriage, »Resist the Gay Marriage Agenda!«, in: Queer Kids of Queer Parents Against Gay Marriage Blog, 9. 10. 2009, 〈https://queerkidssaynomarriage.wordpress.com〉, letzter Zugriff 11. 10. 2021 [erstmals 2009].

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und der Kontrollkulturen stärker miteinander zu verbinden. Allzu oft werden diese Themen isoliert voneinander betrachtet. Auf der einen Seite haben Aktivist:innen für die Rechte von Gefangenen den geschlechtlichen und sexuellen Dimensionen von Gefängnissen nicht immer genügend Aufmerksamkeit gewidmet4 – insbesondere im Sinne queerer, trans und nichtbinärer Menschen.5 Auf der anderen Seite haben queere und trans Organisator:innen oft Gefangene aus unseren communities ausgeschlossen und den Fragen der Gefangenengerechtigkeit innerhalb von breiter angelegten Bewegungskämpfen keine Priorität eingeräumt. Auch innerhalb der Politiken von Antigewaltbewegungen waren einige feministische, queere und trans Aktivist:innen zu schnell darin, Gerechtigkeit und Inhaftierung gleichzusetzen – indem sie Gesetze gegen sogenannte Hassverbrechen begrüßen, sich für längere Gefängnisstrafen für diejenigen einsetzen, welche sexualisierte Gewalt ausgeübt haben, und sich für stärkeres sogenanntes Community Policing6 aussprachen.7 4 Wenn ich mich auf Gefängnisse beziehe, schließe ich alle Formen von erzwungenem oder fremdbestimmtem staatlichen Gewahrsam ein, wie zum Beispiel Gefängnisse, Haftanstalten für Kinder, Abschiebelager, »sichere« Krankenhausbetten und psychiatrische Einrichtungen, Kriegsgefangenenlager und Geheimgefäng­ nisse. 5 In Anerkennung der Tatsache, dass ein einziger Begriff nicht in der Lage ist, die Fluidität und Spezifik der geschlechtlichen und sexuellen Identitäten von Menschen zu erfassen, und in Anbetracht der sich sowohl überschneidenden als auch abzugrenzenden Dimensionen dieser Identitäten verwende ich Begrifflichkeiten des Gender und der sexuellen Identität wie folgt: Mit queer verweise ich auf Menschen, deren sexuelles Begehren [desire], Identitäten und Praktiken nicht den heterosexuellen Normen entsprechen (einschließlich Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, Intersexuelle, Two-Spirits- und queere Menschen, aber auch darüber hinausgehend). Unter trans beziehe ich mich auf Menschen, die sich bezogen auf Geschlecht anders identifizieren oder ausdrücken als das, was traditionell mit dem Geschlecht assoziiert wird, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde (zum Beispiel Transgender, Trans, Two-Spirit, Mann-zu-Frau, Frau-zu-Mann). Mit gendernonkonform bezeichne ich Menschen, deren Genderperformanz oder Identität nicht den Geschlechternormierungen oder -erwartungen entspricht (zum Beispiel Frauen, die sich männlich präsentieren, sich aber dennoch als Frauen identifizieren, sowie androgyne, genderfluide und geschlechtlich mehrdeutige Menschen). 6  Community Policing ist eine in den USA seit etwa Mitte der 1990er Jahren eingesetzte Strategie, die vor allem auf die Verbesserung der Beziehungen zwischen Polizei und communities abzielt [Anm. d. Hg.] 7 Vgl. INCITE! Women of Color Against Violence / Critical Resistance, »Verge-

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Aber die Kämpfe gegen Missbrauch, Übergriffe, Armut, Rassismus und soziale Kontrolle erfordern es, klarere Verbindungen zwischen der Gewalt der geschlechtlichen/sexuellen Unterdrückung und der Gewalt des Gefängnissystems herauszuarbeiten. Tatsächlich engagieren sich viele von uns, die in der Antigewaltarbeit im Rahmen von Vergewaltigungskrisenzentren, Obdachloseneinrichtungen und Schutzräumen für queere/trans Menschen involviert sind, auch im Kampf gegen Inhaftierung. Für einige von uns ist unsere Antigefängnispolitik aus dieser Antigewaltarbeit heraus erwachsen. Nachdem wir jahrelang auf die immer gleichen Formen von Gewalt reagiert und uns mit den anhaltenden Fehlern und Ungerechtigkeiten des Strafsystems auseinandergesetzt haben, ist uns klar geworden, dass Gefängnisse unsere communities nicht nur nicht vor Gewalt schützen, sondern sogar mehr Gewalt produzieren, aufrechterhalten und fördern. Sich im Kampf gegen die Einsperrungen zu engagieren, ist gerade jetzt besonders dringlich, wo sich der sogenannte War on Terror verschärft, Angriffe auf migrantisierte und rassifizierte Menschen zunehmen, sich kaum Anzeichen für ein Ablassen der Gewalt gegen Frauen, Queers und trans Personen finden lassen und die Anzahl der Gefangenen weltweit dramatisch ansteigt. Diese Trends stehen in engem Zusammenhang mit den Veränderungen in der globalen politischen Ökonomie: Während die Regierungen einerseits die Budgets für Sozialleistungen, Bildung, Wohnungsbau und Gesundheit kürzen, erhöhen sie andererseits die Ausgaben für Gefängnisse, Polizei, Militär und Grenzkontrollen. Noch nie war der gefängnisindustrielle Komplex8 so mächtig, insbesondere im Globalen Norden. Während die Vereinigten Staaten weltweit führend darin sind, ihre Bevölkerung einzusperren (1 von 100 Erwachsenen sitzt derzeit hinter Gittern, und mehr als 7,3 Millionen Menschen sind im Gefängnis unter Bewährungsstrafe schlechtlichte Gewalt und der Prison-Industrial-Complex«, in: Daniel Loick (Hg.), Kritik der Polizei, Frankfurt/M., New York 2018, S. 267-278. 8 Der gefängnisindustrielle Komplex ist ein Netzwerk aus staatlichen und privaten Interessen, welche das Gefängnis als Antwort auf soziale, politische und wirtschaftliche Probleme nutzen. Der gefängnisindustrielle Komplex (Prison Indus­ trial Complex, PIC) umfasst alle Institutionen, Regierungsstellen, Behörden und Unternehmen, die ein finanzielles, organisatorisches oder politisches Interesse an der Aufrechterhaltung des Gefängnissystems haben. Siehe ebd.

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oder unter Bewährung bei vorzeitiger Entlassung9), ziehen andere Länder wie Großbritannien, Kanada und Australien schnell nach. In England und Wales beispielsweise hat sich die Zahl der Gefangenen seit 1992 fast verdoppelt, und es werden derzeit 3,2 bis 4,7 Milliarden Pfund (5 bis 7 Milliarden US-Dollar) für den Bau von Gefängnissen ausgegeben, um bis 2014 Platz für mehr als 10 500 neue Gefangene zu schaffen.10 Kanada hat vor kurzem strengere Strafgesetze verabschiedet, und Vorschläge für einen Ausbau der Gefängnisse rücken bedrohlich näher.11 Eine Untersuchung dieser allgemeinen Trends vermittelt jedoch noch kein sorgfältiges Bild davon, wer vom Wachstum des gefängnisindustriellen Komplexes am heftigsten betroffen ist. Die Ausweitung des Strafvollzugs zielt in unverhältnismäßiger Weise auf bestimmte Personengruppen ab, insbesondere auf communities of color, arme Menschen und Menschen aus der Arbeiter:innenklasse, junge Menschen, Migrant:innen, Frauen, Menschen mit Lernbehinderungen und psychischen Problemen sowie queere, transgeschlechtliche und geschlechtlich von der Norm abweichende Menschen, die zunehmend in einen größeren Kreislauf von Armut, Kriminalisierung, Einsperrung und Gewalt hineingezogen werden. Da die privilegierteren Mitglieder der Lesben-, Schwulen-, Bise 9 Siehe Pew Center über die Staaten, »One in 100: Behind Bars in America 2008«, 2008, 〈https://www.pewtrusts.org/-/media/legacy/uploadedfiles/pcs_as sets/2008/one20in20100pdf.pdf〉, Pew Center on the States, »One in 31: The Long Reach of American Corrections«, 2009, 〈https://www.pewtrusts.org/-/me dia/assets/2009/03/02/pspp_1in31_report_final_web_32609.pdf〉; US Department of Justice, »One in Every 31 US Adults Were in Prison or Jail or on Probation or Parole in 2007«, [Presseerklärung] 2008, 〈http://www.ojp.usdoj.gov/bjs/ pub/press/p07ppuspr.html〉, letzter Zugriff 11. 10. 2021. 10 Obwohl diese Gefängnisneubaupläne ursprünglich von der Labour-Regierung ins Leben gerufen wurden, werden diese auch von der konservativ-liberaldemokratischen Koalition verfolgt. Vgl. British Ministry of Justice and British National Offender Management Service, »New Prisons Consultation Response«, 27. 4. 2009; 〈https://www.legislation.gov.uk/ukia/2009/118/pdfs/ukia_20090118_ en.pdf〉, letzter Zugriff 24. 3. 2022. 11 Vgl. Walter S. DeKeseredy, »Canadian Crime Control in the New Millennium: The Influence of Neo-Conservative US Policies and Practices«, in: Police Practice and Research: An International Journal, 10/4 (2009), S. 305-316; Joanna Smith, »Federal Prison Bill to Cost a Billion Dollars a Year«, in: Toronto Star, 22. 6. 2010; 〈http://www.thestar.com/news/canada/article/826778--tory-crime-bill-to-costextra-618m-peryear-report-finds〉, letzter Zugriff 11. 10. 2021.

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xuellen- und Trans-communities (LGBT) in neue Formen der neoliberalen Staatsbürgerschaft eingeführt werden – in denen Kaufkraft, Respektabilität, Assimilation und Nationalismus der Preis für die Aufnahme sind – und da einige LGBT-Gruppen durch Rekrutierungskampagnen, Beiräte und Verbindungsausschüsse engere Beziehungen zu Polizei und Militär aufbauen, müssen wir uns fragen, wer die Kosten dieser sogenannten Inklusion ertragen muss. Wenn eine solche Inklusion eine Kompliz:innenschaft mit der Gewalt und dem Rassismus des gefängnisindustriellen Komplexes bedeutet, müssen wir jene Strategien überdenken. Es ist wichtiger denn je, Strategien abzulehnen, die zulassen, dass queere, trans und feministische Politiken für Krieg, Einsperrung, staatliche Gewalt und Rassismus instrumentalisiert werden. Wir müssen Antigewalt-, Antirassismus- und Kämpfe gegen das Gefängnis in den Mittelpunkt queerer, trans und feministischer Organisierungsbemühungen stellen. Dieser Beitrag ist ein Plädoyer für eine queere/trans Politik der Gefängnisbekämpfung. Wenn ich den Begriff »Queer/Trans Politik« verwende, beziehe ich mich weniger auf »queer« und »trans« als übergreifende Identitätsbegriffe als vielmehr auf einen politischen Ansatz, welcher die vorherrschenden Vorstellungen darüber, was normal ist, in Frage stellt, unterbricht und transformiert. Eine queere/trans Politik, welche die Normalität des Gefängnisses in Frage stellt, hilft nicht nur dabei, die Rolle des Gefängnisses bei der Aufrechterhaltung von geschlechtsspezifischer, rassistischer und sexualisierter Gewalt zu erkennen, sondern liefert auch Instrumente für die Entwicklung alternativer, community-basierter Antworten, welche die Probleme der Beschädigung besser angehen. Ausgehend von meinen Erfahrungen als nicht inhaftierter Person, die sich in Kanada und Großbritannien in der Unterstützung von Gefangenen und in der aktivistischen Arbeit engagiert, skizziere ich zehn Gründe, warum wir den gefängnisindustriellen Komplex mit Hilfe einer queeren/trans Analyse abschaffen sollten. Dieser Aufsatz ist für ein vielfältiges Publikum und mehrere Zwecke geschrieben – für queere und trans communities, die Gefängnis- und Polizeifragen nicht prioritär behandelt haben, für Gefängnisaktivist:innen, welche die geschlechtlichen und sexuellen Dimensionen des gefängnisindustriellen Komplexes nicht vorrangig in Betracht gezogen haben, für Menschen, die anerkennen, 459

dass Gefängnisse schädlich sind, aber skeptisch gegenüber Abschaffungsideen sind, und für communities, die sich im weitesten Sinne für soziale, wirtschaftliche Gerechtigkeit und Gerechtigkeit im Kontext rassifizierter Ungleichheit einsetzen. Vor allem ist dieser Text als Diskussionsgrundlage gedacht, als ein Beitrag zu den laufenden Debatten darüber, in welcher Art von Welt wir leben wollen. Für eine wachsende Anzahl von Menschen muss diese Welt eine Welt ohne Gefängnisse sein. Bevor ich die Argumente für eine queere/trans Politik der Gefängnisabschaffung darlege, möchte ich drei wichtige Vorbehalte anbringen: Erstens sind die folgenden Argumente nicht neu, noch ist queerer und transinformierter Gefängnisaktivismus ein neues Phänomen. Da Gefängnisse, Polizei, Einwanderungsbehörden und psychiatrische Einrichtungen seit langem Menschen für die Überschreitung sexueller und geschlechtlicher Normen bestrafen, haben queere und trans Menschen eine lange Tradition des Widerstands gegen Institutionen der Bestrafung.12 Aufbauend auf früheren Organisationsgeschichten sowie aktuellen Kämpfen argumentiert dieser Beitrag für eine erneuerte queere/trans Politik gegen das Gefängnis. Zweitens ist es wichtig, dass wir, wenn wir über Gefängnisthemen schreiben, insbesondere diejenigen von uns, welche nicht hinter Gittern waren, die Erfahrungen von Gefangenen nicht fetischisieren oder sensationalisieren. Ein Großteil der Vorstellungen der Öffentlichkeit über Gefängnisse stammt aus den Medien, die nicht nur verzerrte und irreführende Informationen liefern, sondern Gefangene in der Regel als Objekte der Faszination, der Angstmacherei oder des Mitleids behandeln.13 Um der sensationslüsternen Anziehungskraft der Medien entgegenzuwirken, ist es wichtig, kritisch darüber nachzudenken, wie und warum wir uns Gefängnisthemen nähern. Einige von uns sind vielleicht selbst inhaftiert worden, oder Menschen, 12 Vgl. Jessi Gan, »›Still at the Back of the Bus‹: Sylvia Rivera’s Struggle«, in: Centro Journal XIX, 1 (2007); 〈https://www.redalyc.org/pdf/377/37719107.pdf〉, letzter Zugriff 24. 3. 2022; Regina Kunzel, »Lessons in Being Gay: Queer Encounters in Gay and Lesbian Prison Activism«, in: Radical History Review, 100 (2008), S. 11-37. 13 Siehe beispielweise Paul Mason, »Lies, Distortion and What Doesn’t Work: Monitoring Prison Stories in the British Media«, in: Crime, Media, Culture, 2/3 (2006), S. 251-267.

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die wir lieben, sind eingesperrt. Andere wiederum lassen sich unausgesprochen von Phantasien über die Rettung der unterdrückten »Anderen«, dem Wunsch nach Zugehörigkeit zu »radikalen« politischen Gemeinschaften oder einem Engagement für eine Gefängnisreformation leiten. Wie gut wir es auch meinen mögen, es ist wichtig, unsere Motivationen und Annahmen kritisch zu hinterfragen, insbesondere diejenigen, welche Unterdrückungsmuster eher aufrechterhalten als aufheben. Drittens möchte ich betonen, dass ich mich zwar auf akademische Forschung stütze, um meine Argumente zu untermauern, diese Studien jedoch im Allgemeinen bestätigen, was viele Gefangene aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen mit dem Gefängnissystem bereits wissen, und dass die Verwendung akademischer Forschung die Gefahr birgt, die Annahme aufrechtzuerhalten, das Wissen der Gefangenen sei weniger gültig oder legitim als das Wissen der Institutionen. Daher möchte ich betonen, dass ein Großteil meiner eigenen Analyse ohne das Wissen, die Erfahrungen und Analysen, die gefangene Menschen im Verlauf der Jahre mit mir geteilt haben, nicht möglich wäre.14

Zehn Gründe dafür, den gefängnisindustriellen Komplex durch queere/trans Analysen und Maßnahmen aufzubrechen (1) Queere, transgeschlechtliche und nichtbinäre Menschen sind seit je unterdrückerischen Gesetzen, geschlechtsspezifischer Überwachung und strafrechtlicher Bestrafung ausgesetzt – ein Erbe, das trotz ständiger Gesetzesreformen bis heute andauert. Strafverfolgungsbehörden (einschließlich der Polizei, der Gerichte, der Grenzbeamt:innen, Gefängniswärter:innen und anderweitig staatlichen Bediensteten) haben eine lange Geschichte der gezielten Bestrafung und Kriminalisierung von sexuell dissidenten und gendernonkonformen Menschen. Während viele offen homound transfeindliche Gesetze in Kanada, den Vereinigten Staaten und Großbritannien vor kurzem aufgehoben wurden, geht die Kri14 Insbesondere möchte ich Peter Collins danken, dessen alltäglicher Aktivismus innerhalb der Gefängnismauern mich immer wieder in grundlegender Weise inspiriert, provoziert und meine Arbeit prägt.

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minalisierung und Bestrafung von queeren und trans Menschen weit über die formale Gesetzgebung hinaus.15 Staatliche Beamt:innen ermöglichen oder beteiligen sich an der Gewalt gegen queere, trans und gendernonkonforme communities, indem sie (a) alltägliche Gewalt gegen queere und transsexuelle Menschen ignorieren; (b) Gesetze und Richtlinien selektiv auf trans- und homofeindliche Weise durchsetzen; (c) den Ermessensspielraum nutzen, um übermäßig viel Polizeiarbeit zu leisten und härtere Strafen gegen queere und transgender Menschen zu verhängen; und (d) sich an Gewalttaten, Belästigungen, sexuellen Übergriffen und Diskriminierung gegen queere und trans Menschen beteiligen.16 Auch wenn einige Polizeidienststellen in der Öffentlichkeit zunehmend ein »queerfreundliches« Gesicht zeigen, besteht das Problem staatlicher Gewalt gegen queere und transsexuelle Menschen dennoch fort und wurde von zahlreichen Polizei- und Gefängnisbeobachtungsgruppen gut dokumentiert.17 Diese fortwährende Geschichte der Gewalt sollte queere und trans Menschen sowohl angesichts der Macht des Staates, unsere Leben zu kriminalisieren, vorsichtig stimmen als auch dazu mahnen, sich vor den Behauptungen des Staates zu hüten, man 15 Kanada, die Vereinigten Staaten und Großbritannien haben zwar private, einvernehmliche gleichgeschlechtliche Handlungen unter Erwachsenen entkriminalisiert, doch das koloniale Erbe der britischen Anti-Sodomie-Gesetze bleibt andernorts fortbestehen. Siehe Human Rights Watch, »This Alien Legacy: The Origins of ›Sodomy‹ Laws in British Colonialism«, 2008, 〈https://www.hrw.org/ report/2008/12/17/alien-legacy/origins-sodomy-laws-british-colonialism〉, letzter Zugriff 24. 3. 2022. 16 Vgl. M. Somjen Frazer, »Some Queers Are Safer Than Others: Correlates of Hate Crime Victimization of Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender People in Brit­ ain«, Vortrag, der auf dem American Sociological Association Annual Meeting: Philadelphia, Pennsylvania, 2005 gehalten wurde. 17 Vgl. Amnesty International, »Stonewalled: Police Abuses against Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender People in the USA«, 2006, 〈https://www.amnesty. org/en/documents/amr51/122/2005/en/〉, letzter Zugriff 24. 3. 2022; Sam Dick, Stonewall, »Homophobic Hate Crime: The Gay British Crime Survey«, 2008, 〈http://www.stonewall.org.uk/documents/homophobic_hate_crime__final_re port.pdf〉, letzter Zugriff 11. 10. 2021; INCITE! Women of Color Against Violence, »Law Enforcement Violence against Women of Color and Trans People of Color: A Critical Intersection of Gender Violence and State Violence«, 2008, 〈https:// incite-national.org/wp-content/uploads/2018/08/TOOLKIT-FINAL.pdf〉, letzter Zugriff 22. 3. 2022.

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würde uns schützen. Auch wenn einige Menschen glauben, dass wir Strafverfolgungsbehörden Transfeindlichkeit abtrainieren oder homophobe Diskriminierung beseitigen können, indem wir mehr LGBT-Gefängniswärter:innen, Polizist:innen und Grenzbeamt:innen einstellen, gehen solche Sichtweisen fälschlicherweise davon aus, dass Diskriminierung ein »Fehler« im System ist und nicht dem System selbst innewohnt. Bemühungen, Gefängnisse und Polizeieinrichtungen »queerfreundlicher« zu machen, halten den Mythos aufrecht, dass diese Systeme zu unserem Schutz da sind. Doch wie die ungleiche Geschichte der Kriminalisierungstendenzen in Kanada, den Vereinigten Staaten und Großbritannien so deutlich zeigt (das heißt die Art und Weise, wie das System auf einige Menschen abzielt und auf andere nicht), geht es beim gefängnisindustriellen Komplex weniger darum, die Öffentlichkeit vor Gewalt zu schützen als vielmehr darum, bestimmte Gruppen von Menschen zu kontrollieren, zu kennzeichnen, zu disziplinieren und in einigen Fällen zu töten – insbesondere diejenigen, welche den sozialen, wirtschaftlichen und politischen Status quo potentiell stören.18 Während der Staat vielleicht aufhört, einige Menschen innerhalb der queeren und trans communities zu belästigen, anzugreifen und zu kriminalisieren (nämlich die aufwärts mobilen, von Rassismus begünstigten und Eigentum besitzenden Menschen), wird das Strafsystem weiterhin diejenigen innerhalb unserer communities ins Visier nehmen, die als wirtschaftlich unproduktiv, politisch bedrohlich oder sozial unerwünscht gelten. Als Menschen, die in der Vergangenheit von diesem ungerechten System ins Visier genommen wurden (und weiterhin werden), müssen sich queere, transgeschlechtliche und geschlechternormabweichende communities von den Bemühungen abwenden, den gefängnisindustriellen Komplex 18 Solche Tötungen umfassen sowohl die direkten als auch indirekten Formen staatlicher Gewalt wie die Todesstrafe, Tötungen durch Strafverfolgungsverbeamtete, Todesfälle in Haft aufgrund von Misshandlung und medizinischer Vernachlässigung, die deutlich niedrigere Lebenserwartung von Gefangenen und ehemaligen Gefangenen sowie staatliche Gleichgültigkeit angesichts der Gewalt gegen bestimmte Gruppen von Menschen. Diese Todesfälle sind gezielt, weil sie einige Gruppen überproportional mehr anvisieren als andere. Dies belegen etwa die hohen Raten von Todesfällen schwarzer Menschen im Gewahrsam, der gut dokumentierte Bias hinsichtlich class und race bei der Anwendung der Todesstrafe, die unverhältnismäßig hohe Zahl von Lesben in der Todeszelle und die 520 vermissten und ermordeten Aboriginesfrauen in Kanada.

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»LGBT-freundlicher« zu machen, und stattdessen die zugrundeliegende Logik des Systems selbst bekämpfen. (2) Queer, transgeschlechtliche und gendernonkonforme Menschen, insbesondere solche mit einkommensschwachem Hintergrund und communities of color, sind direkt von Kriminalisierung, Bestrafung und Inhaftierung betroffen. Wir wissen nicht genau, wie viele queere, transgeschlechtliche und gendernonkonforme Menschen derzeit inhaftiert sind. Das liegt zum einen daran, dass die meisten Regierungen keine Informationen über die sexuelle und geschlechtliche Identität von Gefangenen sammeln, und zum anderen daran, dass Gefangene sich nicht immer in genügend Sicherheit befinden, um ihre geschlechtliche oder sexuelle Identität offen zu legen. Wir wissen jedoch, dass queere, trans und gendernonkonforme Menschen in Kanada, den Vereinigten Staaten und Großbritannien häufig übermäßig überwacht und kriminalisiert werden und im Strafvollzug überrepräsentiert sind.19 Das Ausmaß an Schikanen, Angriffen und Verhaftungen ist hoch, insbesondere für junge queere und trans Menschen, für Menschen aus einkommensschwachen communities, für Menschen mit Lernbehinderungen und psychischen Problemen sowie für people-of-color-Organisator:innen der trans community in der San Francisco Bay Area berichten beispielsweise, dass fast die Hälfte der 20 000 transgender Personen in der Region schon mal im Gefängnis waren.20 19 Vgl. Barbara Findlay, »Transsexuals in Canadian Prisons: An Equality Analysis«, 1999, 〈http://www.barbarafindlay.com/uploads/9/9/6/7/9967848/199906_ transsexuals_in_canadian_prisons_-_an_equality_analysis.pdf〉, letzter Zugriff 11. 10. 2021; Jody Marksamer, »And by the Way, Do You Know He Thinks He’s a Girl? The Failures of Law, Policy, and Legal Representation for Transgender Youth in Juvenile Delinquency Courts«, in: Sexuality Research and Social Policy: Journal of NSRC, 5/1 (2008), S. 72-92; Beth Richie, »Queering Antiprison Work: African American Lesbians in the Juvenile Justice System«, in: Julia Sudbury (Hg.), Global Lockdown: Race, Gender, and the Prison Industrial Complex, New York 2005, S. 73-85; Stephen Whittle, Paula Stephens, »A Pilot Study of Provision for Transsexual and Transgender People in the Criminal Justice System, and the Information Needs of Probation Officers«, 2001, 〈http://www.pfc.org.uk/files/ legal/cjsprov.pdf〉, nicht mehr gültiger Link [letztmals 2009]. 20 Vgl. Ann Cammett, »Queer Lockdown: Coming to Terms with the Ongoing Criminalization of LGBTQ Communities«, in: The Scholar and Feminist On-

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Queere, trans und gendernonkonforme Menschen werden aus vielen Gründen, aber in erster Linie aufgrund systemischer Unterdrückung in das Strafsystem geschleust. Da trans, queere und nichtbinäre Menschen weit verbreiteter Diskriminierung, Belästigung und Gewalt ausgesetzt sind, besteht für uns ein größeres Risiko sozialer und wirtschaftlicher Marginalisierung. Dies überträgt sich auf ein höheres Risiko, inhaftiert zu werden. Wir wissen, dass queere und trans Jugendliche beispielsweise häufiger obdachlos und arbeitslos, in der Schule schikaniert sowie auf der Straße belästigt, von der Familie entfremdet und Opfer sexueller Gewalt werden – Faktoren, die das Risiko einer Kriminalisierung und Einsperrung erheblich erhöhen, besonders für queere und trans people of color.21 Vor allem trans Menschen und solche, die sichtbar gendernonkonform sind, werden routinemäßig von Strafverfolgungs- und Sicherheitsbehörden schikaniert, wenn sie grundlegende alltägliche Handlungen verrichten, wie den Gang zur Toilette, das Aufsuchen öffentlicher Dienststellen oder das Flanieren auf der Straße.22 Gruppen wie FIERCE! haben gezeigt, wie die »Von-der-Schule-ins-Gefängnis-Pipeline« (school-to-prison-pipeline)23 queere und trans Jugendliche unverhältnismäßig stark betrifft.24 Ob sie die line, 7/3 (2009), S. 1-30, 〈https://scholars.law.unlv.edu/cgi/viewcontent.cgi?ar ticle=1626&context=facpub〉 letzter Zugriff 11. 3. 2022; Alexander Lee, »Prickly Coalitions: Moving Prison Abolitionism Forward«, in: Critical Resistance (Hg.), Abolition Now! Ten Years of Strategy and Struggle against the Prison Industrial Complex, Oakland 2008, S. 109-112, hier S. 109. 21 Vgl. Marksamer, »Failures of Law«; Richie, »Queering Antiprison Work«; Sylvia Rivera Law Project, »›It’s War in Here‹: A Report on the Treatment of Transgender and Intersex People in New York State Men’s Prisons«, 2007, 〈http://www. srlp.org/files/warinhere.pdf〉, letzter Zugriff 11. 10. 2021. 22 Vgl. Amnesty International, »Stonewalled«; INCITE! Women of Color Against Violence, »Law Enforcement Violence«, 〈http://www.fiercenyc.org/media/ docs/5166_transyouthPICflowchart.pdf〉, nicht mehr gültiger Link [letztmals 2009]. 23 Der Begriff School-to-prison-pipeline bezeichnet die Tendenz in den USA, in unterfinanzierten Schulen immer mehr auf die Anwesenheit von Polizist:innen statt auf pädagogische Fachkräfte zu setzen, wodurch es zunehmend zu Verhaftungen und Einsperrungen von Jugendlichen insbesondere aus rassifizierten communities auch schon bei geringfügigen Delikten kommt. [Anm. d. Hg.] 24 Vgl. FIERCE!, »Transgender Youth and the Prison Industrial Complex: Disrupt the Flow«, 2004, 〈http://www.againstequality.org/wp-content/uploads/2009/10/ transyouthpicflowchart.pdf〉, letzter Zugriff 29. 10. 2021.

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Schule wegen schwerer Belästigung und Diskriminierung abbrechen, sich vom Lehrplan entfremdet fühlen, Selbstmordgedanken hegen oder sich kriminalisierten Bewältigungsmechanismen wie Drogen- und Alkoholkonsum zuwenden, queere und transgeschlechtliche Jugendliche haben oft weitaus geringere Chancen auf schulischen Erfolg.25 »Zero-Tolerance«-Politik, verstärkte Überwachung und gesteigerte Polizeipräsenz in Schulen tragen weiter zur Kriminalisierg und zu Schulabbruchquoten bei, insbesondere bei queeren und trans Jugendlichen of color. »Quality-of-Life«-Verordnungen wie »Anordnungen gegen unsoziales Verhalten« und »Gesetze für sichere Straßen« werden ebenfalls routinemäßig eingesetzt, um queere und trans Jugendliche aus dem öffentlichen Raum zu entfernen und ihre sozialen Aktivitäten zu kriminalisieren.26 In Verbindung mit Problemen zu Hause werden viele queere und transgeschlechtliche Jugendliche obdach- und arbeitslos.27 Auf der Straße haben queere und trans Jugendliche Schwierigkeiten, Zugang zu Dienstleistungen und Unterstützung zu erhalten, damit ihre Grundbedürfnisse erfüllt werden. Viele Obdachlosenunterkünfte und Sozialdienste sind zum Beispiel keine sicheren Orte für trans Personen (manchmal werden sie sogar ganz ausgeschlossen), und Probleme mit Geschlechtskategorisierungen in Ausweispapieren können den Zugang zu Sozialleistungen einschränken.28 Ohne Einkommen, Wohnung, Familie oder Unterstützung durch die Gesamtgesellschaft bedeutet Überleben oft, in kriminalisierten Wirtschaftszweigen wie dem Drogenhandel und der Sexarbeit zu arbeiten. Queere, transgender und nichtbinäre Jugendliche, die schikaniert, belästigt und angegriffen werden – vor allem diejenigen, die nicht dem Stereotyp des passiven, unschuldigen, weißen Opfers entsprechen –, werden beschuldigt und bestraft, wenn sie sich wehren. Der jüngste Fall der »New Jersey 7«, bei dem sieben 25 Vgl. Marksamer, »Failures of Law«. 26 Vgl. INCITE! Women of Color Against Violence, »Law Enforcement Violence«. 27 Vgl. Nicholas Ray, Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender Youth: An Epidemic of Homelessness, New York 2006. 28 Vgl. FTM Safer Shelter Project, »Invisible Men: FTMs and Homelessness in Toronto«, 2008, 〈http://wellesleyinstitute.com/files/invisible-men.pdf〉, nicht mehr gültiger Link [letztmals 2009]; Dean Spade, »Compliance Is Gendered: Struggling for Gender Self-Determination in a Hostile Economy«, in: Paisley Currah u. a. (Hg.), Transgender Rights, Minneapolis 2006, S. 217-241.

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junge afroamerikanische Lesben kriminalisiert wurden, weil sie sich gegen sexistische und homophobe Belästigungen gewehrt hatten, ist ein typisches Beispiel dafür.29 Da sowohl Kriminalisierung als auch Inhaftierung aus Erfahrungen sozialer Marginalisierung und Unterdrückung entstehen und diese weiter verschärfen, können unsere Bemühungen, Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit, Selbstmord, Schulabbruchraten, Belästigungen und Missbrauch von Queers und trans Personen zu bekämpfen, nicht vor der Gefängnisproblematik haltmachen. (3) Gefängnisse bekräftigen unterdrückerische geschlechtliche und sexuelle Normen. Gefängnisse verstärken geschlechtsspezifische und sexuelle Normen in drei Schlüsselbereichen. Erstens: Geschlechtergetrennte Gefängnisse schränken das Recht der Menschen ein, ihre eigene Geschlechtsidentifizierung und sexuelle Orientierung zu bestimmen und auszudrücken. Da die meisten Gefängnisse die Menschen nach ihren scheinbaren Genitalien einteilen und nicht gemäß ihrer selbst ausgedrückten Geschlechtsidentität, werden Gefangene, die sich nicht als »männlich« oder »weiblich« identifizieren oder geschlechtsdissident sind, oft in der Einzelhaft segregiert oder werden gezwungen, eine Zelle mit Gefangenen eines anderen Geschlechts zu teilen – oft mit wenig Rücksicht auf ihre Sicherheit. In Großbritannien werden sogar trans Personen, die ein Gender Recognition Certificate (ein staatliches Dokument, welches das selbstdefinierte Geschlecht einer Person rechtlich anerkennt) besitzen, in Gefängnissen mit Menschen eines anderen Geschlechts eingesperrt.30 Durch die Segregierung von Institutionen anhand von sex/gender-Grenzen arbeiten Gefängnisse daran, diejenigen Körper und Genderidentitäten unsichtbar zu machen, zu isolieren und zu 29 Vgl. FTM Safer Shelter Project, »Invisible Men: FTMs and Homelessness in Toronto«, Dean Spade, »Compliance Is Gendered«. 30 Eine trans Frau hat kürzlich ihren Prozess gegen das Justizministerium gewonnen, das sich geweigert hatte, sie in ein Frauengefängnis zu verlegen, obwohl sie im Besitz eines Geschlechtsanerkennungszertifikats war, welches sie als Frau auswies. Der Richter des Hohen Gerichts entschied, dass es einen Verstoß gegen Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention darstellte, dass die Frau in einem Männergefängnis inhaftiert war. Siehe »Human Rights«, in: Law Society Gazette, 1. 10. 2009, 〈http://www.lawgazette.co.uk/node/52502〉, nicht mehr gültiger Link [letztmals 2009].

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stigmatisieren, welche sich den auferlegten Geschlechterbinaritäten widersetzen.31 Zweitens spielt die Geschlechtertrennung in Gefängnissen eine Schlüsselrolle bei den Bemühungen, das Verhalten der Gefangenen in Übereinstimmung mit den Geschlechternormen »korrigierend« zu verändern. Historisch gesehen waren Frauengefängnisse dazu gedacht, »gefallene« Frauen zu besseren Ehefrauen, Müttern, Hausfrauen und Hausbediensteten zu machen, während Männergefängnisse Männer in disziplinierte Individuen, produktive Arbeiter und maskuline Bürger verwandeln sollten.32 Diese geschlechtsspezifischen Zielvorgaben bestehen auch heute noch, insbesondere bei der Arbeitszuteilung in den Gefängnissen. Als zum Beispiel in Peterborough, England, 2005 ein neues gemischtgeschlechtliches Gefängnis gebaut wurde, wurden alle Teile der Anstalt dupliziert, um getrennte Bereiche für Männer und Frauen zu schaffen – mit Ausnahme der Einzelküche, in der von den Frauen erwartet wurde, zu kochen.33 Der aktuelle Trend zu sogenannten geschlechtergerechten Gefängnissen wird ebenfalls als Maßnahme zur Berücksichtigung der spezifischen Bedürfnisse weiblicher Gefangener gerahmt, dient aber in der Regel zur Disziplinierung, Durchsetzung und Regulierung von Geschlechternormierungen.34 Darüber hinaus werden »geschlechtergerechte« Gefängnisreformen dazu genutzt, den Aufbau neuer Gefängnisse zu rechtfertigen (ohne bestehende zu schließen), wodurch die Expansion der Gefängnisse ausgeweitet wird.35 31 Vgl. Sydney Tarzwell, »The Gender Lines Are Marked with Razor Wire: Addressing State Prison Polices and Practices for the Management of Transgender Prisoners«, in: Columbia Human Rights Law Review, 36/1 (2006), S. 167-219. 32 Vgl. Angela Y. Davis, Eine Gesellschaft ohne Gefängnisse? Der gefängnisindustrielle Komplex der USA, Berlin, 2004; Kelly Hannah-Moffat, Punishment in Disguise: Penal Governance and Federal Imprisonment of Women in Canada, Toronto 2001; Nicole Hahn Rafter, »Gender, Prisons, and Prison History«, in: Social Science History, 9/3 (1985), S. 233-247. 33 Vgl. Alan Travis, »Sexes Equal at Prison – But Women Do the Porridge«, in: The Guardian, 10. 3. 2005; 〈http://www.guardian.co.uk/uk/2005/mar/10/gender. ukcrime/print〉, letzter Zugriff 11. 10. 2021. 34 Vgl. Cassandra Shaylor, »Neither Kind nor Gentle: The Perils of ›Gender Responsive Justice‹«, in: Phil Scraton, Jude McQulloch (Hg.), The Violence of Incarceration, London 2009, S. 145-163. 35 Rose Braz, »Kinder, Gentler, Gender Responsive Cages: Prison Expansion Is Not Prison Reform«, in: Women, Girls and Criminal Justice, Oktober/November

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Drittens spielt sexualisierte Gewalt eine Schlüsselrolle bei der Aufrechterhaltung von Ordnung und Kontrolle im Gefängnis; eine Taktik, die sich auf unterdrückerische sexuelle und geschlechtliche Normierungen verlässt.36 Sexualisierte Gewalt in Gefängnissen, einschließlich Belästigung, Vergewaltigung und Körperverletzung, ist schockierend weit verbreitet und wird oft institutionell zugelassen. Laut Stop Prisoner Rape ist einer von fünf Männern und eine von vier Frauen in US-Gefängnissen sexualisierten Übergriffen ausgesetzt.37 Aufmerksamkeit auf die Durchsetzung geschlechtsspezifischer/sexueller Normen im Gefängnis zu lenken, bedeutet nicht, dass Gefängniskultur übergreifend oder innerhalb von Insti­ tutionen einheitlich ist oder dass Gefangene sexistischer, homooder transfeindlicher sind als Nichtgefangene. Vielmehr tendieren Gefängnisse als Institutionen dazu, vergeschlechtlichte Hierarchien zu verstärken, aufrechtzuerhalten und zu verfestigen und eine Umgebung zu schaffen, in der sexualisierte Gewalt gedeiht. (4) Gefängnisse sind schädliche, gewalttätige und zerstörerische Orte, insbesondere für queere, transgeschlechtliche und gendernonkonforme Menschen. Gefängnisse sind gewalttätige Institutionen. Menschen in Gefängnissen und Haftanstalten sind brutalen Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt, darunter körperlichen Angriffen, psychologischem Missbrauch, Vergewaltigung, Schikanen und medizinischer Unterversorgung. Abgesehen von diesen Verstößen ist das Einsperren von Menschen in Käfige schon an und für sich eine Form der Gewalt. Diese Gewalt führt zu extrem hohen Raten von Selbstverletzungen und Selbstmord, sowohl im Gefängnis als auch nach der 2006, 〈http://www.againstequality.org/wp-content/uploads/2009/10/gender_re sponsive_cages.pdf〉, letzter Zugriff 11. 3. 2022. 36 Vgl. Joe Sim, »Tougher Than the Rest? Men in Prison«, in: Tim Newburn, Elizabeth Stanko (Hg.), Just Boys Doing Business? Men, Masculinities and Crime, London 1994, S. 100-117. 37 Vgl. Stop Prisoner Rape, »In the Shadows: Sexual Violence in US Detention Facilities«, 2006, 〈https://justdetention.org/wp-content/uploads/2015/10/InThe-Shadows-Sexual-Violence-in-U.S.-Detention-Facilities.pdf〉; Stop Prison­ er Rape und American Civil Liberties Union, »Still in Danger: The Ongoing Threat of Sexual Violence against Transgender Prisoners«, 2005, 〈http://www. ncdsv.org/images/stillindanger.pdf〉, letzter Zugriff 11. 3. 2022; Sylvia Rivera Law Project, »›It’s a War in Here‹«.

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Entlassung.38 Diese Probleme sind weder außergewöhnlich noch vereinzelt; Gewalt ist in Gefängnissen allgegenwärtig. Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, dass die Gewalt in den Gefängnissen größtenteils aus der institutionellen Struktur der Inhaftierung resultiert und nicht auf etwas, das den Gefangenen selbst angeblich zu eigen ist. Entgegen dem weit verbreiteten Mythos, dass Gefängnisse mit gewalttätigen und gefährlichen Menschen gefüllt sind, wird die überwiegende Mehrheit der Menschen wegen nicht gewalttätiger Straftaten inhaftiert, insbesondere wegen Drogen- und Armutsdelikten.39 Für die geringe Anzahl an Menschen, die ein echtes Risiko für sich selbst oder andere darstellen, verschlimmern Gefängnisse diese Risiken zumeist noch. Mit anderen Worten, Gefängnisse sind gefährlich; nicht wegen der Personen, die dort eingesperrt sind, sondern weil sie Gewalt als Teil ihrer Bestrafungsfunktion erfordern und fördern. Aus diesem Grund können Reformbemühungen Gewalt in den Gefängnissen zwar verringern, aber letztlich nicht beseitigen. Die hohe Zahl der Todesfälle in staatlichem Gewahrsam spricht für die verheerenden Folgen der Einsperrung. Zwischen 1995 und 2007 dokumentierte die britische Gefängnisüberwachungsgruppe Inquest mehr als 2500 Todesfälle in Polizei- und Gefängnisgewahrsam.40 Die Mord- und Selbstmordrate in kanadischen Gefängnissen ist fast achtmal so hoch wie in nichtinstitutionellen Einrichtungen.41 In den Vereinigten Staaten starben zwischen 2001 und 2006 38 Vgl. Juliet Cohen, »Safe in Our Hands? A Study of Suicide and Self-Harm in Asylum Seekers«, in: Journal of Forensic and Legal Medicine, 15/4 (2008), S. 235244; Colleen Anne Dell, Tara Beauchamp, »Self-Harm among Criminalized ­Women – Canadian Center of Substance Abuse Fact Sheet«, 2006, 〈https://ccsa. ca/sites/default/files/2019-05/ccsa-011338-2006-e.pdf〉, letzter Zugriff 11. 10. 2021; Alison Liebling, »Prison Suicide and Prisoner Coping«, in: Crime and Justice, 26 (1999), S. 283-359. 39 Die genauen Zahlen variieren je nachdem, wie Straftaten definiert und kategorisiert werden, aber die Annahme, dass die Gefängnisse mit gefährlichen Mördern und Sexualstraftätern gefüllt sind, stimmt einfach nicht. Siehe Gabriel Arkles, »Safety and Solidarity across Gender Lines: Rethinking Segregation of Transgender People in Detention«, in: Temple Political and Civil Rights Law Review, 18/2 (2009), S. 515-560. 40 Vgl. Inquest, »Inquest Policy Webpage«, 〈http://inquest.gn.apc.org/policy.html〉, letzter Zugriff 11. 10. 2021. 41 Vgl. Thomas Gabor, »Deaths in Custody. Final Report to the Office of the Correctional Investigator«, Government of Canada, 2007, S. 5.

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18 550 Erwachsene in staatlichen Gefängnissen,42 und zwischen 2003 und 2005 gab es weitere 2002 Todesfälle im Zusammenhang mit der Einsperrung.43 Nur in den seltensten Fällen werden staatliche Beamt:innen für diese Todesfälle zur Rechenschaft gezogen. Von den Todesfällen, die Inquest in Großbritannien dokumentiert hat, wurde zum Beispiel bisher kein:e einzige:r Polizei- oder Gefängnisbeamt:in strafrechtlich zur Verantwortung gezogen.44 Todesfälle in Haft sind symptomatisch für die alltägliche Gewalt und das Leid, welches Gefangene ertragen müssen. Queere, trans und gendernonkonforme Menschen sind diesen Gefahren in besonderer Weise ausgesetzt: – Hohes Risiko von Übergriffen und Missbrauch: Queere, transgeschlechtliche und nichtbinäre Menschen sind weit verbreiteten sexuellen Übergriffen, Misshandlungen und anderen schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt, nicht nur durch andere Gefangene, sondern auch durch das Gefängnispersonal.45

42 Diese Zahl umfasst Todesfälle durch Selbstmord (1172), Mord (299), Drogen-/ Alkoholvergiftung, Vergiftung (213), Unfall (180), AIDS (1154), andere Krankheiten (15 335) und Sonstiges/Unbekanntes (197). Obwohl einige krankheitsbedingte Todesfälle auch auf »natürliche Ursachen« zurückzuführen sein können, waren fast 63 Prozent dieser Todesfälle bei Gefangenen unter 55 Jahre alt, was auf die Verweigerung einer angemessenen Gesundheitsversorgung im Gefängnis sowie auf die schädlichen Auswirkungen der Inhaftierung auf die Gesundheit verweist. Die Zahl schließt Todesfälle in lokalen Gefängnissen (7008 Todesfälle zwischen 2000 und 2006) sowie Todesfälle in den Jugendstrafanstalten ein (43 Todesfälle zwischen 2002 und 2005). Vgl. US Bureau of Justice Statistics, »Deaths in Custody Statistical Tables«, 2008, 〈http://www.ojp.usdoj.gov/bjs/dcrp/dcst.pdf〉, nicht mehr gültiger Link [letztmals 2009]. 43 Vgl. US Bureau of Justice Statistics, »Arrest-Related Deaths in the United States, 2003-2005«, 2007, 〈http://www.ojp.usdoj.gov/bjs/pub/pdf/ardus05.pdf〉, nicht mehr gültiger Link [letztmals 2009]. 44 Vgl. JUSTICE u. a., »Corporate Manslaughter and Corporate Homicide Bill – Suggested Amendments for House of Lords«, 2007, 〈http://www.justice.org.uk/ images/pdfs/JointamendmentsReportstage.pdf〉, nicht mehr gültiger Link [letztmals 2009]. 45 Vgl. Stop Prisoner Rape, »In the Shadows«; Sylvia Rivera Law Project, »›It’s a War in Here‹«.

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–  Verweigerung von medizinischer Versorgung: Viele Gefangene müssen kämpfen, um überhaupt einen Arzt zu sehen oder gar eine angemessene medizinische Versorgung zu erhalten. Vor allem trans Menschen wird regelmäßig medizinische Grundversorgung verweigert, insbesondere Operationen und Hormone. In vielen Gefängnissen gibt es keine Richtlinien für die Versorgung von trans Personen und gendervarianten Personen, und selbst dort, wo es Richtlinien gibt, sind sie unzureichend oder werden nicht befolgt.46 Eine unzureichende Politik und Praxis bei der HIV/AIDS- und Hepatitis-C-Prävention ist ein weiteres großes Gesundheitsproblem in Gefängnissen, in denen die Übertragungsraten außergewöhnlich hoch sind.47 Diese Risiken erhöhen sich dramatisch für trans Personen, die bereits ein hohes Risiko haben, an HIV/AIDS zu erkranken.48 Diese Kombination aus hohen Übertragungsrisiken, schlechter Gesundheitsversorgung, unzureichenden Maßnahmen im Bereich der sexuellen Gesundheit und den langfristigen gesundheitlichen Auswirkungen der Inhaftierung (einschließlich kürzerer Lebenserwartung) bedeutet, dass das Gefängnis ein ernsthaftes Gesundheitsrisiko für queere und trans Menschen darstellt. – Einzelhaft und Leibesvisitationen: Transgender und nichtbinäre Gefangene werden regelmäßig in Einzelhaft gehalten, vorgeblich um das Problem der geschlechtergetrennten Gefängnisse zu 46 In England und Wales zum Beispiel erklärte das Innenministerium 1997, dass es »derzeit mit der Ausarbeitung von Leitlinien für die Einrichtungen über die Sorge um das Management und die Behandlung von Gefangenen mit Geschlechtsdysphorie befasst« sei, doch auch zwölf Jahre später sind solche Rechtlinien immer noch nicht in Kraft getreten. Siehe Stephen Whittle u. a., »Engendered Penalties: Transgender and Transsexual People’s Experiences of Inequality and Discrimination«, 2007, 〈https://www.ilga-europe.org/sites/default/files/trans_ country_report_-_engenderedpenalties.pdf〉, letzter Zugriff 11. 3. 2022. 47 Vgl. Giselle Dias, Glenn Betteridge, »Hard Time: HIV and Hepatitis C Preven­ tion Programming for Prisoners in Canada«, Prisoners’ HIV/AIDS Support Action Network (PASAN) and Canadian HIV/AIDS Legal Network (20079, 〈https://www.publicsafety.gc.ca/lbrr/archives/cn000033744750-eng.pdf〉, letzter Zugriff 11. 3. 2022. 48 Vgl. Ann V. Scott, Rick Lines, »HIV/AIDS in the Male-to-Female Transsexual and Transgender Prison Population: A Comprehensive Strategy«, Prisoners’ HIV/ AIDS Support Action Network, 1999, 〈https://www.iprt.ie/site/assets/files/6105/ ts__tg_in_prison_99.pdf〉, letzter Zugriff 11. 3. 2022.

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»lösen«. Doch selbst wenn sie zu Sicherheitszwecken eingesetzt wird, stellt die »Schutzhaft« eine Form der Bestrafung dar, da sie in der Regel einen eingeschränkten Zugang zu Freizeit- und Bildungsprogrammen sowie eine erhöhte psychische Belastung infolge der Isolation bedeutet. Transgeschlechtliche und gendernonkonforme Menschen sind außerdem häufig erniedrigenden, entwürdigenden, missbräuchlichen und offen transfeindlichen Leibesvisitationen ausgesetzt.49 – Hohes Risiko von Selbstverletzungen und Selbstmord: Queere und trans Menschen, vor allem Jugendliche, haben eine höhere Rate an Selbstmordversuchen und Selbstverletzungen. Diese Risiken nehmen im Gefängnis zu und werden in der Segregierung noch verstärkt, vor allem wenn die Gefangenen von queeren und transgeschlechtlichen Unterstützer:innen abgeschnitten werden.50 Diese Risiken sind nicht auf die Inhaftierung beschränkt, sondern bestehen auch nach der Entlassung fort. Eine britische Studie ergab beispielsweise, dass Männer, die aus dem Gefängnis entlassen werden, achtmal häufiger Selbstmord begehen als die Allgemeinbevölkerung, und sich Frauen, die aus dem Gefängnis entlassen werden, 36-mal häufiger umbringen.51 Das Gefängnissystem tötet, verletzt und beschädigt buchstäblich Menschen aus unseren communities. Ob wir nun an den physischen Tod durch Selbstverletzung, medizinische Vernachlässigung und staatliche Gewalt, den sozialen Tod durch Arbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit und Stigmatisierung oder den zivilen Tod durch politische Entmündigung und Ausschluss von Bürger:innenrechten denken, die Gewalt einer Gefangennahme ist unbestreitbar. (5) Um die Gewalt gegen queere, transgeschlechtliche und gendernonkonforme Menschen zu beenden, ist es erforderlich, den gefängnisindustriellen Komplex zu bekämpfen. Die Allgegenwart staatlicher Gewalt gegen queere und trans Menschen ist Grund genug, den gefängnisindustriellen Komplex 49 Vgl. Arkles, »Safety and Solidarity«. 50 Vgl. ebd. 51 Vgl. Prison Reform Trust, »Bromley Briefings: Prison Fact File«, Juli 2010, 〈http://www.prisonreformtrust.org.uk/uploads/documents/FactFileJuly2010. pdf〉, letzter Zugriff 11. 10. 2021.

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zu bekämpfen. Aber es ist wichtig, die Arbeit gegen Gefängnisse als Teil des Kampfes gegen Gewalt in einem weiteren Sinne zu betrachten. Allzu oft schließt die Mainstream-Antigewaltarbeit in Bezug auf Hassverbrechen, sexualisierte Gewalt, Kindes- und Partnermissbrauch Kämpfe gegen staatliche Gewalt aus oder bleibt von diesen entkoppelt. Die Einbindung der Arbeit gegen die Gefängnisse in einen breiteren Kampf gegen Gewalt ist jedoch lebenswichtig, da Strafvollzugsanstalten die Kreisläufe von Gewalt perpetuieren, anstatt sie zu durchbrechen. Es ist weniger wahrscheinlich, dass Menschen anderen Leid zufügen, wenn sie sich als Teil einer Gemeinschaft fühlen, da soziale Inklusion sowohl Unterstützungsleistungen als auch Verantwortlichkeiten mit sich bringt. Justizvollzugsanstalten haben jedoch den gegenteiligen Effekt: Die Gefängnisse entfernen die Menschen aus ihren Gemeinschaften, isolieren sie von sozialer Unterstützung und entziehen ihnen den Rahmen für die Übernahme von Verantwortlichkeit.52 Während ihrer Haftzeit werden viele Gefangene von ihren Familien entfremdet und von ihren Partner:innen getrennt. Viele verlieren ihre persönlichen Besitz52 Hier möchte ich anmerken, dass es im Englischen sowohl den Begriff accountability als auch den der responsability gibt. Accountability bezieht sich hier auf die Verantwortungsübernahme abhängig von der eigenen sozialen Positionierung und stärker auf Handlungen (to account for), während responsability ein eher generalisiertes Verantwortungsverständnis zum Ausdruck bringt (ability to respond). Eine weitere Schwierigkeit bietet hier die begriffliche Übersetzung von Sicherheit (safety sowie security): Security wird dabei seitens Vertreter:innen transformativer Gerechtigkeit und der community-accountability-Bewegungen als eine häufig gewaltreproduzierende technisch-abstrakte Losung beschrieben. Hier werden Aggressionen als eine Art Störung einer friedlichen Ausgangssituation insinuiert und Maßnahmen mit dem Ruf nach Sicherheit häufig oktroyiert, ohne die Betroffenen danach zu fragen, was diese als hilfreich und sinnvoll erachten. Security verhindert demzufolge als Mittel sozialer Kontrolle Emanzipation und bedeutet insbesondere für stark deprivilegierte Menschen ein Mehr an Gewalt und keinen effektiven Schutz. Im Unterschied dazu soll Safety ein Anerkennen spezifischer Kontexte und unterschiedlicher Bedürfnisse ausdrücken und Einsicht in die Notwendigkeit geschaffen werden, Sicherheit beständig neu und inklusiver definieren und aktiv herzustellen. Bereits bestehende widerständige und hilfreiche Potentiale und communities werden sichtbar gemacht und supplementiert. Strategien zum Gewaltabbau orientieren sich daher daran, wie Sicherheit kurzfristig und langfristig kollektiv hergestellt werden kann, und fokussieren die Verantwortung und kollektive Herstellung von Gewalt bei der Analyse, Prävention und Reaktion auf private Konflikte zwischen Individuen. [Anm. d. Übers.]

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tümer und die meisten ihren Arbeitsplatz. Die Inhaftierung verschlimmert auch mental gesundheitliche Probleme.53 Infolgedessen kommen die Menschen oft in einer viel schlechteren Lage aus dem Gefängnis, als sie hineingegangen sind, und es besteht ein größeres Risiko, dass sie wieder in die Umstände geraten, die sie überhaupt erst ins Gefängnis gebracht haben. Diese Auswirkungen können nicht nur für die Gefangenen, sondern auch für Freund:innen und Familienangehörige verheerend sein. Die British Social Exclusion Unit hat beispielsweise herausgefunden, dass 65 Prozent der Jungen mit einem verurteilten Elternteil in der Folge später selbst verurteilt werden.54 Diese Kreisläufe von sozialer Ausgrenzung, Armut und Gefangennahme ebnen den Weg für mehr Verletzung und Gewalt. Das Strafsystem verringert auch die Kapazitäten der Gemeinschaft, Menschen für ihre Taten zur Verantwortung zu ziehen. Obwohl Gefängnisse oft als Mittel der »Gerechtigkeit« und »Rechenschaftspflicht« dargestellt werden, ist dies selten der Fall. Allenfalls wird in Gefängnissen die Rechenschaftspflicht gegenüber dem Staat eingefordert und nicht gegenüber den Menschen, die tatsächlich von dem ursprünglichen Schaden betroffen sind. Das Wegsperren von Menschen verlangt ihnen nicht ab, sich denjenigen, denen sie Schaden zugefügt haben, zu stellen oder Verantwortung für ihre Taten zu übernehmen. Indem der Staat Menschen, die einen Schaden ausgeübt haben, aus der Gemeinschaft entfernt, verhindert er sogar, dass die communities diese Person zur Verantwortungsübernahme heranziehen. Noch wichtiger ist, dass eine Inhaftierung weder kollektive Heilungsprozesse unterstützt noch davor behütet, dass sich die Beschädigung in Zukunft wiederholt. Wirksame Antigewaltarbeit bedeutet, alternative, community-basierte Prozesse zu entwickeln, welche die Bedürfnisse der Geschädigten in den Vordergrund stellen, die zugrundeliegenden Probleme adressieren, welche zu der Verletzung führen, und darauf hinarbeiten, zukünftige Gewalt zu verhindern.

53 Vgl. Peter Collins, »The Continuing Horror Story of Spiegelgrund: Mental Health, Compassion, Awareness and Incarceration«, in: Journal of Prisoners on Prisons, 17/2 (2008), S. 6-15; M. Grayson L. Taylor, »Prison Psychosis«, in: Social Justice, 27/3 (2000), S. 50-55. 54 Vgl. Prison Reform Trust, »Bromley Briefings«, Dezember 2008.

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(6) Gefängnisse verstärken herrschende Machtverhältnisse, insbesondere Rassismus, Klassismus, Ableismus und koloniale Unterdrückung. Das moderne Gefängnis ist aus dem europäischen Kolonialprojekt und dem Erbe der Versklavung hervorgegangen und weiterhin tief darin eingebettet.55 Diese Geschichte, die medizinische Experimente, psychiatrische Zwangsbehandlung, Sterilisation und Eugenik umfasst, prägt auch heute noch das moderne Gefängnissystem. Wenn wir uns fragen, wer von den Gefängnissen am meisten angegriffen wird oder von den sozioökonomischen Machtverhältnissen, welche die Inhaftierung aufrechterhalten, ist der gefängnisindustrielle Komplex nach wie vor eine grundsätzlich rassistische, klassistische und ableistische Institution.56 Die Statistiken über die Inhaftierten machen diese Realitäten schmerzhaft deutlich. In Großbritannien zum Beispiel machen people of color zwar weniger als 9 Prozent der Gesamtbevölkerung, jedoch 27 Prozent der Frauen im Gefängnis im Jahr 2008 aus.57 Vor allem schwarze Menschen werden siebenmal häufiger von der Polizei angehalten und durchsucht als weiße, und es ist weitaus wahrscheinlicher, dass sie eine Freiheitsstrafe erhalten, wenn sie eines Verbrechens überführt werden.58 Im Jahr 2002 gab es mehr afrokaribische Neuzugänge im Gefängnis (über 11 500) als an britischen Universitäten (etwa 8000).59 In Kanada machen Aboriginesfrauen weniger als zwei Prozent der Gesamtbevölkerung, jedoch 32 Prozent der Frauen in Bundesgefängnissen aus und werden mit größerer Wahrscheinlichkeit als gefährlichere Straftäterinnen eingestuft 55 Vgl. Biko Agozino, Counter-Colonial Criminology: A Critique of Imperialist Reason, London 2003; Scott Christianson, With Liberty for Some: 500 Years of Impris­ onment in America, Boston 2000; Michael Hallett, Private Prisons in America: A Critical Race Perspective, Urbana 2006. 56 Vgl. Davis, Eine Gesellschaft ohne Gefängnisse?. 57 Vgl. Prison Reform Trust, »Bromley Briefings: Prison Fact File«, Juni 2009; 〈http:// www.prisonreformtrust.org.uk/documents/download.asp?lvid=1164&id=1782〉, nicht mehr gültiger Link [letztmals 2009]. 58 Vgl. U. K. Ministry of Justice, »Statistics on Race and the Criminal Justice System – 2006/2007«, 2008, 〈http://www.justice.gov.uk/docs/stats-race-crimi nal-justice.pdf, nicht mehr gültiger Link [letztmals 2009]. 59 Vgl. Prison Reform Trust, »Bromley Briefings: Prison Fact File«, Juni 2008, 〈http:// www.prisonreformtrust.org.uk/documents/download.asp?lvid=892&id=1389〉, nicht mehr gültiger Link [letztmals 2009].

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als Nichtaborigines.60 In den Vereinigten Staaten sitzt heute einer von neun afroamerikanischen Männern im Alter zwischen 20 und 34 Jahren hinter Gittern.61 Die große Mehrheit der Gefangenen stammt aus armen Verhältnissen, und Menschen mit psychischen Problemen und Lernschwierigkeiten sind überproportional häufig inhaftiert.62 Die Medien versuchen, diese unterschiedlichen Raten mit der Behauptung zu rechtfertigen, dass einige Menschen krimineller seien, doch in Wirklichkeit werden einige Menschen stärker kriminalisiert. Obwohl schwarze Menschen beispielsweise ähnlich häufig (wenn nicht sogar seltener) Drogen konsumieren als weiße, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie wegen Drogendelikten inhaftiert werden, bis zu zehnmal höher als bei weißen Menschen.63 Regierungen, Politiker:innen und Konzernmedien erfinden immer wieder neue Bilder von Gefangenen als gewalttätigen, pathologischen und moralisch verkommenen Menschen, doch die große Mehrheit ist wegen Verbrechen inhaftiert, die mit Armut, sozialer Ausgrenzung und systemischer Unterdrückung zusammenhängen. Tatsächlich sind Gemeinschaften, die am stärksten kriminalisiert sind, in der Regel auch am stärksten viktimisiert.64 So stellte die kanadische Menschenrechtskommission im Jahr 2003 fest, dass 80 Prozent aller auf Bundesebene verurteilten Frauen körperliche und/oder sexualisierte Gewalt überlebt hatten – bei den 60 Vgl. Native Women’s Association of Canada, »Federally Sentenced Aboriginal Women Offenders – An Issue Paper«, Vortragspräsentation auf dem National Aboriginal Women’s Summit, 2007, 〈http://www.nwac-hq.org/en/documents/ nwacfederally.pdf〉, nicht mehr gültiger Link [letztmals 2009]. 61 Vgl. Pew Center on the States, »One in 100«. 62 Vgl. Canadian Association of Elizabeth Fry Societies, »Fact Sheets«, 2008, 〈http:// www.elizabethfry.ca/eweek08/factsht.htm〉, nicht mehr gültiger Link [letztmals 2009]; Pew Center on the States, »One in 100«; Prison Reform Trust, »Bromley Briefings«, Dezember 2008; Marta Russell and Jean Stewart, »Disablement, Pris­ on and Historical Segregation«, in: Monthly Review, 53/3 (2001), S. 61-75. 63 Vgl. Phillip Beatty u. a., »The Vortex: The Concentrated Racial Impact of Drug Imprisonment and the Characteristics of Punitive Counties«, 2007, 〈http://www. justicepolicy.org/images/upload/07-12_REP_Vortex_AC-DP.pdf〉, nicht mehr gültiger Link [letztmals 2009]. 64 Vgl. Amanda Petteruti, Nastassia Walsh, »Moving Target: A Decade of Resistance to the Prison Industrial Complex«, 2008, 〈http://www.justicepolicy.org/images/ upload/08-09_REP_MovingTargetCR10_AC-PS.pdf〉, nicht mehr gültiger Link [letztmals 2009]. Beatty, u. a., »The Vortex«.

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Aboriginesfrauen lag die Quote sogar bei 90 Prozent.65 Die Aufmerksamkeit auf diese zugrundeliegenden Faktoren zu lenken, bedeutet nicht, die Schäden zu leugnen, die inhaftierte Menschen möglicherweise ­verursacht haben, sondern vielmehr, diese Taten in ihren sozialen, wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Kontext zu stellen. Wenn wir »Kriminalität« nicht als individuelle »Fehlentscheidungen«, sondern als Symptom breiterer sozialer Ungerechtigkeiten begreifen, sind wir besser in der Lage, Strategien zu entwickeln, die an der Wurzel ansetzen und Schaden und Gewalt wirklich verringern. Queere und transgender communities sind nicht immun gegen die oppressive Logik der Einsperrung. Viele von uns verinnerlichen nicht nur die rassistischen, klassistischen, ableistischen und punitiven Normen des Gefängnissystems, sondern wir schaffen auch unsere eigenen Arten unterdrückerischer Käfige, in dem wir soziale Barrieren aufrechterhalten, die Menschen in unseren communities exkludieren, marginalisieren und stigmatisieren. Aus diesem Grund ist es so wichtig, Kämpfen gegen Institutionen wie das Gefängnis, in denen diese Unterdrückung am meisten grassiert, Priorität einzuräumen, sie zu unterstützen und für sie aktiv zu werden.66 Genauso wie Kämpfe gegen gender- und sexualitätsbezogene Unterdrückung ohne die Analyse von race, class und disability verzerrt und unvollständig sind, bleiben auch Kämpfe für soziale Gerechtigkeit unvollständig, wenn die Gewalt von Käfigen nicht berücksichtigt wird. (7) Gefängnisse und Polizeieinsätze rauben lebenswichtige Ressourcen für dringend benötigte Gemeinschaftsprogramme, Dienstleistungen und Selbsthilfeprojekte. Die wirtschaftlichen Kosten der Einsperrungen sind schwindelerregend. Im Jahr 2008 kostete die Inhaftierung einer Person in England und Wales beispielsweise durchschnittlich 45 000  Pfund 65 Vgl. Canadian Association of Elizabeth Fry Societies, »Fact Sheet on Criminal­ ized & Imprisoned Women«, 2008, 〈http://www.elizabethfry.ca/eweek08/pdf/ crmwomen.pdf〉, nicht mehr gültiger Link [letztmals 2009]. 66 Vgl. Jessica Hoffmann, »On Prisons, Borders, Safety, and Privilege: An Open Letter to White Feminists«, in: Make/shift (Republished on Alternet), 3 (2008), 〈http://www.alternet.org/reproductivejustice/81260/〉, nicht mehr gültiger Link [letztmals 2009].

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pro Jahr (mehr als 120 Pfund pro Tag).67 In Kanada belaufen sich die durchschnittlichen jährlichen Kosten für die Inhaftierung einer Person in einem Hochsicherheitsgefängnis auf 110 223 Kanadische Dollar (CAD) für Männer und 150 867 CAD für Frauen. Die Kosten für Gefängnisse mit mittlerer und minimaler Sicherheitsstufe belaufen sich auf durchschnittlich 70 000 CAD pro Jahr.68 In den Vereinigten Staaten beliefen sich die durchschnittlichen Betriebskosten pro Gefangenem:r im Jahr 2005 auf 23 876  US-Dollar (USD), und die Investitionskosten wurden auf 65 000 USD pro Bett geschätzt.69 Im Gegensatz zu den Behauptungen der Mainstreammedien über luxuriöse Gefängnisse spiegeln die hohen Gefängniskosten nicht die Lebensbedingungen der Gefangenen wider. In Großbritannien beispielsweise geben öffentliche Gefängnisse weniger als zwei Pfund pro Tag für die Verpflegung jedes:r Gefangenen aus, und aus offiziellen Inspektionsberichten geht hervor, dass die Haftbedingungen regelmäßig gegen die Mindeststandards für Hygiene und Sicherheit verstoßen.70 Darüber hinaus werden viele Gefängniskosten auch von den Gefangenen selbst getragen, die unbezahlte oder billige Arbeit (vier Pfund pro Woche in England und Wales) leisten, um den Gefängnisbetrieb aufrechtzuerhalten.71 Die weltweite Expansion des gefängnisindustriellen Komplexes und das Wachstum privater Industrien, die aus der Inhaftierung Gewinne erzielen, bedeuten, dass die Zahl der Strafgefangenen und die Ausgaben für den Strafvollzug weiter steigen. In den letzten zehn Jahren haben beispielsweise die Bundes- und Landesregierungen der USA die Budgets der Polizeibehörden um 77 Prozent erhöht.72 Im Jahr 2007 gipfelten die Gesamtausgaben für den Strafvollzug in 67 Vgl. Prison Reform Trust, «Bromley Briefings«, Juli 2010. 68 Vgl. Ira Basen, »Close Look at Conditional Sentencing«, in: Canadian Broadcasting Corporation, 〈https://www.cbc.ca/news/canada/conditional-sentencingin-canada-1.789988〉, letzter Zugriff 11. 3. 2022. 69 Vgl. Pew Center on the States, »One in 100«. 70 Vgl. British House of Commons, »Prisoners: Food«, in: Hansard Written Answers, No. 10, September 2008 – Column 1978W, 2008 〈http://www.publications. parliament.uk/pa/cm200708/cmhansrd/cm080910/text/80910w0044.htm〉, letzter Zugriff 11. 10. 2021; H. M. Inspectorate of Prisons (U. K.), »H. M. Inspectorate of Prisons Website«, 2008; 〈http://inspectorates.homeoffice.gov.uk〉, nicht mehr gültiger Link [letztmals 2009]. 71 Vgl. Prison Reform Trust, »Bromley Briefings«, Dezember 2008. 72 Vgl. Petteruti/Walsh, »Moving Target«.

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den Vereinigten Staaten in 49 Milliarden USD, verglichen mit 12 Milliarden USD im Jahr 1978.73 Die Ausgaben für den Strafvollzug in Großbritannien sind von 2,84 Milliarden Pfund im Jahr 1995 auf 4,33 Milliarden Pfund im Jahr 2006 gestiegen. Das Vereinigte Königreich gibt inzwischen pro Kopf mehr für Gefängnisse aus als die USA.74 Die Erhöhung der Budgets für die Strafverfolgung steht in direktem Zusammenhang mit Kürzungen in den Bereichen der Sozialhilfe, des Wohnens, der medizinischen Versorgung und kommunalen Programme. Massive Summen öffentlicher Gelder fließen in Militär, Polizei und Strafvollzug, während queer- und transspezifische Dienste wie HIV-Prävention, Anlaufstellen, Bildungsangebote, Peer-Mentoring-Programme, Berufsausbildungsprogramme und Programme zur Gewaltprävention chronisch unterfinanziert werden. Es überrascht nicht, dass es eine umgekehrte Beziehung zwischen dem Geld, das ein Land in die Sozialfürsorge investiert, und dem Ausmaß der Kriminalität in diesem Land gibt: Staaten mit besseren Sozialsystemen und einer gleichmäßigeren Verteilung des Wohlstands weisen tendenziell niedrigere Inhaftierungsraten auf.75 Wenn wir bedenken, was erreicht werden könnte, wenn auch nur ein Bruchteil der Budgets für Gefängnisse und Polizeiarbeit in community-basierte Gewaltpräventionsprojekte umgelenkt würde, wird die fiskalische Ungerechtigkeit des Gefängnissystems noch deutlicher. (8) Das Wachstum der Gefängnisse erreicht eine globale Krise, und LGBTQ-Personen werden immer mehr zu Kompliz:innen dieser Expansion. Der Einsatz von Gefängnissen, Polizeiarbeit und Militarisierung als Antwort auf soziale, politische und wirtschaftliche Probleme ist ein Phänomen, das in den letzten dreißig Jahren dramatisch zugenommen hat. Obwohl das moderne Gefängnis eine relativ neue Erfindung ist, die lediglich bis in die 1800er Jahre zurückreicht, hat 73 Vgl. Pew Center on the States, »One in 100«. 74 Vgl. Prison Reform Trust, »Bromley Briefings«, Dezember 2008. 75 Vgl. David Downes, Kirstine Hansen, »Welfare and Punishment: The Relationship between Spending and Imprisonment«, Crime and Society Foundation Brief­ing 2, November 2006. 〈http://www.crimeandjustice.org.uk/opus303/Wel fare_and_Punishment_webversion.pdf〉, nicht mehr gültiger Link [letztmals 2010].

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in den Vereinigten Staaten, Kanada und Großbritannien seine dramatischste Ausbreitung in den letzten dreißig Jahren stattgefunden. Das Folgende ist zu bedenken: –  Zwischen 1994 und 2004 stieg die Zahl der Kinder, die in England und Wales zu einer Strafhaft verurteilt wurden, um 90 Prozent, trotz zurückgehender Kriminalitätsraten bei Kindern.76 –  Im April 2010 saßen in Großbritannien 12 918 Personen eine unbefristete Haftstrafe ab, im Vergleich zu weniger als 3000 im Jahr 1992.77 –  Die Demographie der US-Gefängnispopulation bezogen auf Rassifizierung hat sich innerhalb von nur vier Jahrzehnten komplett umgekehrt, von einer Population, die Mitte des Jahrhunderts zu 70 Prozent weiß war, zu 70 Prozent schwarze Menschen und Latinx in den 1990er Jahren – obwohl sich die rassifizierten Schemata der »kriminellen Aktivitäten« in diesem Zeitraum nicht wesentlich verändert haben.78 –  Zwischen 1970 und 2001 stieg die Inhaftierungsrate von Frauen in den Vereinigten Staaten um überwältigende 2800 Prozent (5600 weibliche Gefangene im Jahr 1970 und 161 200 im Jahr 2001).79 –  Die Zahl der Personen, die in den Vereinigten Staaten lebenslange Haftstrafen ohne Bewährung verbüßen, stieg zwischen 2003 und 2008 um 22 Prozent (von 33 633 auf 41 095).80

76 Vgl. Sharon Detrick u. a., »Violence against Children in Conflict with the Law: A Study on Indicators and Data Collection in Belgium, England and Wales, France and the Netherlands«, 2008, 〈https://howardleague.org/wp-content/up loads/2016/05/DCI-Violence-Engels-2007-LR.pdf〉, letzter Zugriff 11. 10. 2021. 77 Vgl. Prison Reform Trust, »Bromley Briefings«, July 2010. 78 Vgl. Loïc Wacquant, »Deadly Symbiosis: When Ghetto and Prison Meet and Mesh«, in: Punishment & Society, 3/1 (2001), S. 95-133. 79 Vgl. Julia Sudbury, »Feminist Critiques, Transnational Landscapes, Abolitionist Visions«, in: dies. (Hg.), Global Lockdown: Race, Gender, and the Prison Industrial Complex, New York 2005. 80 Vgl. Ashley Nellis, Ryan S. King, »No Exit: The Expanding Use of Life Sentences in America«, The Sentencing Project, 2009, 〈https://www.sentencingproject.org/ wp-content/uploads/2016/01/No-Exit-The-Expanding-Use-of-Life-Sentencesin-America.pdf〉, letzter Zugriff 24. 3. 2022.

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Entgegen der weit verbreiteten Annahme wächst die Zahl der Gefängnisse nicht, weil mehr Menschen Straftaten begehen, gefasst oder für schuldig befunden werden. Vielmehr werden die Strafen länger, Freiheitsstrafen werden immer häufiger verhängt, und die Regierungen weiten das Netz der Kriminalisierung aus, indem sie neue Straftatbestände schaffen.81 Zwischen 2000 und 2007 fügte der US-Kongress beispielsweise 454 neue Straftatbestände dem Bundesstrafgesetzbuch hinzu, was mit einem 32-prozentigen Anstieg der Zahl der Bundesgefangenen zusammenfiel.82 Während ihrer Regierungszeit von 1997 bis 2010 schuf die britische Labour-Regierung mehr als 3600 neue Straftatbestände – fast einen für jeden Tag, an dem sie im Amt war.83 Obwohl viele Menschen davon ausgehen, dass die Ausweitung der Gefängnisse eine Reaktion auf die steigende Kriminalität ist, haben die Hauptursachen für die Ausweitung der Gefängnisse weniger mit den sogenannten Verbrechenswellen als vielmehr mit der Politik und Wirtschaftspolitik zu tun: der War on Drugs, die Kriminalisierung von Obdachlosigkeit und Armut, die mangelnde Unterstützung von Menschen mit psychischen Problemen seitens der Gemeinschaft(en), die zunehmende Inhaftierung undokumentierter Arbeiter:innen, der zunehmende Einsatz von Geheimgefängnissen und der War on Terror. Leider machen sich viele LGBT-Organisationen in Kanada, Großbritannien und den Vereinigten Staaten – vor allem solche, die von weißen Menschen dominiert werden, die aus einer privilegierten Schicht stammen – zunehmend zu Kompliz:innen in der Ausweitung der Gefängnisse: Sie fordern höhere Strafen im Rahmen der Gesetze gegen Hasskriminalität, beteiligen sich an Kampagnen zur Rekrutierung von Polizei-, Militär- und Strafvollzugsbeamten, unterstützen Law-and-Order-Politiker:innen, tragen zur Gentrifizierung von armen Arbeiter:innen- und Migrationsvierteln bei und unterstützen Verordnungen zur »Lebensqualität«, welche queere und trans Jugendliche aus dem öffentlichen Raum vertreiben. Um 81 Vgl. ebd.; U. K. Ministry of Justice, »Story of the Prison Population 1995-2009 England and Wales«, London 2009. 82 Petteruti/Walsh, »Moving Target«. 83 Nigel Morris, »More Than 3,600 New Offenses under Labor«, in: The Independent, 4. 9. 2008, 〈https://www.independent.co.uk/news/uk/home-news/morethan-3-600-new-offences-under-labour-918053.html〉, letzter Zugriff 11. 3. 2022.

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ein besonders abschreckendes Beispiel zu nennen: LGBT-Gruppen, die sich für den Local Law Enforcement Hate Crime Prevention Act in den Vereinigten Staaten einsetzen (auch bekannt als Matthew Shepard and James Byrd, Jr. Hate Crimes Prevention Act), fanden sich kürzlich in der unglückseligen Lage, eine Gesetzgebung zu unterstützen, die mittels eines republikanischen Änderungsantrags die Todesstrafe zu den möglichen Sanktionen zählt.84 Während mehrere LGBT-Gruppen Erklärungen veröffentlichten, die sich gegen den Änderungsantrag zur Todesstrafe aussprachen, erkannten nur wenige an, dass Gesetze gegen Hassverbrechen (die in erster Linie durch die Verhängung härterer Strafen für Verbrechen, die als hassmotiviert gelten, funktionieren) aus denselben Straflogiken erwachsen, welche auch die Todesstrafe begründen. Ironischerweise gelten die meisten Argumente, die von LGBT-Gruppen gegen die Todesstrafe vorgebracht werden (zum Beispiel ihre rassistische Anwendung, die fehlende Abschreckungswirkung und die Aufrechterhaltung von Gewalt), auch für das Strafrechtssystem im Allgemeinen.85 Obwohl der Zusatz zur Todesstrafe später aus der endgültigen Gesetzgebung gestrichen wurde, trugen LGBT-Gruppen durch ihr Eintreten für bestrafungsbasierte Gesetze gegen Hassverbrechen nichtsdestotrotz dazu bei, die Inhaftierung zu legitimieren und weitere Ressourcen der Einsperrung von Menschen zuzuleiten – obwohl es keine Beweise dafür gibt, dass solche Maßnahmen hassmotivierte Gewalt verringern.86 Es ist auch kein Zufall, dass das Gesetz als Teil der 84 Der von einem republikanischen Senator eingebrachte Änderungsantrag zur Todesstrafe wurde in die vom US-Senat am 23. Juli 2009 verabschiedete Fassung des Gesetzes aufgenommen. Die Todesstrafe wurde im Oktober 2009 entfernt, als die Fassungen des Repräsentantenhauses und des Senats zusammengeführt wurden, und das endgültige Gesetz wurde von Präsident Obama am 28. Oktober 2009 unterzeichnet. Trotz seines Titels ist das Gesetz nicht auf Prävention, sondern auf Strafverfolgung ausgerichtet. Vgl. The Matthew Shepard and James Byrd, Jr. Hate Crimes Prevention Act von 2009. 85 Siehe beispielsweise Leadership Conference on Civil Rights, »Oppose the Session Amendment to the Matthew Shepard Hate Crime Prevention Act« [advocacyletter], 20. 7. 2009, 〈https://civilrights.org/resource/oppose-the-sessions-amend ments-to-the-matthew-shepard-hate-crimes-prevention-act/#〉, letzter Zugriff 11. 3. 2022; National Gay and Lesbian Task Force, »Task Force Action Fund Urges for Removal of Death Penalty Amendment from the Department of Defense Authorization Bill« [press release], 20. Juli 2009. 86  Zwei hervorragende Kritiken an Hate-Crime-Gesetzebungen haben Andrea

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National Defense Authorization Bill verabschiedet wurde, eines Reformpakets, das den US-Militär-»Verteidigungs«-Haushalt um 680 Milliarden USD aufstockt, darunter 130 Milliarden USD für die laufenden Militäroperationen in Afghanistan und im Irak.87 Angesichts der verheerenden Auswirkungen des gefängnisindustriellen Komplexes und seiner weiteren Verbindungen zu Militarismus und Imperium müssen queere und trans Menschen ihre Kompliz:innen­ schaft mit solchen Projekten beenden.88 (9) Gefängnisse und Polizei machen queere, trans und gendernonkonforme communities nicht sicherer. Der größte Mythos des gefängnisindustriellen Komplexes ist, dass Gefängnisse und Polizist:innen für unsere Sicherheit sorgen. Wenn wir uns jedoch die Erfolgsbilanz der Staaten ansehen, haben Gefängnisse beim Schutz der communities vor Gewalt versagt. So wie strafrechtliche Rechtsmittel bei häuslicher Gewalt Frauen nicht vor Schaden bewahrt haben, so haben auch Gefängnisse darin versagt, queere, transgeschlechtliche und gendernonkonforme Menschen zu schützen.89 Obwohl queere, trans und gendernonkonforme Menschen in unverhältnismäßig hohem Maße Belästigungen, Mobbing, sexuellen Übergriffen und Gewalt ausgesetzt sind, fühlen sich viele nicht sicher, wenn sie bei der Polizei Hilfe suchen. Eine kürzlich in Großbritannien durchgeführte Studie ergab, dass eine:r von fünf Lesben und Schwulen in den letzten drei Jahren Opfer eines homofeindlichen Hassverbrechens wurde, doch zeigten 75 Prozent dies nicht bei der Polizei an. Die Vorfälle reichten von Beleidigungen auf der Smith, »Unmasking the State: Racial/Gender Terror and Hate Crimes«, in: Australian Feminist Law Journal, 26/47 (2007), S. 47-57, sowie Dean Spade, Craig Willse, »Confronting the Limits of Gay Hate Crimes Activism: A Radical Critique«, in: Chicano-Latino Law Review, 21 (2000), S. 38-52, vorgelegt. 87 Vgl. Chris Hedges, »War as Hate Crime«, in: Pacific Free Press, 26 (2009); 〈https:// www.truthdig.com/articles/war-is-a-hate-crime/〉, letzter Zugriff 11. 10. 2021. 88 Vgl. Anna M. Agathangelou u. a., »Intimate Investments: Homonormativity, Global Lockdown, and the Seductions of Empire«, in: Radical History Review, 100 (2008), S. 120-143; Jin Haritaworn u. a., »Gay Imperialism: Gender and ­Sexuality Discourse in the ›War on Terror‹«, in: Adi Kuntsman, Esperanza Miyake (Hg.), Out of Place: Interrogating Silences in Queerness/Raciality, York 2008, S. 71-95. 89 Vgl. Critical Resistance/INCITE!, »Gender Violence«.

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Straße bis hin zu körperlichen und sexualisierten Übergriffen. Bei der Hälfte der gemeldeten Vorfälle wurden keine Maßnahmen ergriffen, und zwei Drittel derjenigen, die Anzeige erstatteten, erhielten keine Beratung oder Unterstützung.90 Trans Personen sind bei der Anzeige von Vorfällen bei der Polizei besonders gefährdet, nicht nur aufgrund von Identifikationsproblemen, sondern auch weil die Polizei routinemäßig davon ausgeht, dass trans Personen eher Verdächtige als Zeug:innen oder Opfer von Verbrechen sind.91 Manche argumentieren, dass die Antwort auf dieses Problem darin besteht, die Menschen zu ermutigen, Gewalt bei der Polizei anzuzeigen und sich für eine strafrechtliche Verfolgung derjenigen einzusetzen, die solche Gewalttaten begehen. Doch die Einführung von Gesetzen gegen Hasskriminalität hat die Gewalt gegen queere, transgeschlechtliche und nichtbinäre Menschen nicht verringert. Betrachten wir tatsächlich die Gesamtwirkung des Strafrechtssystems, so hat die Freiheitsstrafe noch nie wirksam dazu beigetragen, Gemeinschaften vor Schaden zu bewahren. Die Gründe dafür sind: – Rückfälligkeit: Gefängnisse haben eine fürchterliche Erfolgsbilanz, wenn es um Rückfälligkeit geht. In Großbritannien werden etwa 65 Prozent der Gefangenen innerhalb von zwei Jahren nach ihrer Entlassung erneut straffällig. Bei jungen Männern im Alter von 18 bis 20 Jahren liegen die Rückfallquoten bei etwa 75 Prozent.92 Obwohl die Rückfallquoten je nach Gruppe und Delikt variieren (die meisten wegen Mordes Verurteilten werden beispielsweise nicht erneut straffällig), sind die Rückfallquoten in Kanada und den Vereinigten Staaten insgesamt ähnlich hoch.93 Immer mehr Beweise deuten darauf hin, dass eine Ausweitung der Gefängnisse die Rückfallquoten erhöht.94 90 Vgl. Dick/Stonewall, »Homophobic Hate Crime«. 91 Vgl. Frazer, »Some Queers Are Safer«, S. 14. 92 Vgl. Prison Reform Trust, »Bromley Briefings«, Juni 2008. 93 Vgl. Canadian Association of Elizabeth Fry Societies, »Fact Sheet on Crimi­ nalized Women«; US Bureau of Justice Statistics, »Criminal Offender Statistics – Recidivism«, 〈http://www.ojp.usdoj.gov/bjs/crimoff.htm#recidivism〉, letzter Zugriff 11. 10. 2021. 94 Vgl. Emily Dugan, »Re-Offending Rates Rise as the Prison Population Expands«, in: The Independent, 20. 7. 2008, 〈http://www.independent.co.uk/

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– Abschreckung: Gefängnisse und Strafen sind schlechte Mittel zur Abschreckung von Verbrechen. Es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass härtere Strafen die Kriminalität nicht verringern, insbesondere nicht bei Jugendlichen. In einigen Fällen können härtere Strafen sogar die Rückfallquote erhöhen.95 Tatsächlich haben die US-Bundesstaaten mit den niedrigsten Inhaftierungsquoten auch die niedrigsten Kriminalitätsraten.96 Die Logik, dass Strafen abschreckend wirken, geht fälschlicherweise davon aus, dass Gewalt das Ergebnis individueller, rationaler Entscheidungen ist, welche in einem Kontext der »freien Wahl« getroffen werden. Während einige Gewalttaten tatsächlich vorsätzlich begangen werden (insbesondere Wirtschaftskriminalität), sind die meisten Delikte das Ergebnis einer komplexeren Reihe von sozialen, politischen und wirtschaftlichen Faktoren. Da Gefängnisse diese Faktoren nicht beseitigen, sondern eher noch verstärken, ist die abschreckende Wirkung von Haft begrenzt. So stellt auch die ehemalige leitende Forscherin des Innenministeriums, Carol Hedderman, fest: »Das Gefängnis wird niemals ein wirksames Instrument zur Verbrechensbekämpfung sein, weil die Sachlage glasklar demonstriert, dass es die Faktoren, welche zu Straftaten beitragen, aktiv hervorbringt oder verstärkt.«97 – Rehabilitation: Rehabilitationsprogramme haben nur begrenzten Erfolg und können in einigen Fällen sogar mehr schaden als

news/uk/crime/reoffending-rates-rise-as-the-prison-population-expands-872411. html〉; Carol Hedderman, »Building on Sand: Why Expanding the Prison Estate Is Not the Way to ›Secure the Future«, Center for Crime and Justice Studies Briefing, 7 (2008), 〈https://www.crimeandjustice.org.uk/publications/buildingsand-why-expanding-prison-estate-not-way-secure-future〉, letzter Zugriff 11. 3. 2022. 95 Vgl. Anthony N. Doob, Carla Cesaroni, Responding to Youth Crime in Canada, Toronto 2004; Lonn Lanza-Kaduce u. a., »Juvenile Transfer to Criminal Court Study: Final Report« 2002, 〈http://www.prisonpolicy.org/scans/juveniletransfers. pdf〉, letzter Zugriff 11. 10. 2021; Anthony Petrosino u. a., »Well-Meaning Programs Can Have Harmful Effects! Lessons from Experiments of Programs Such as Scared Straight«, in: Crime Delinquency, 46/3 (2000), S. 354-379. 96 Zit. n. James Austin u. a., »Unlocking America: Why and How to Reduce Amer­ ica’s Prison Population«, 2007, 〈http://www.jfa-associates.com/publications/srs/ UnlockingAmerica.pdf〉, letzter Zugriff 11. 10. 2021. 97 Vgl. Dugan, »Re-Offending Rates Rise«.

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nützen.98 Dies liegt zum Teil daran, dass die meisten Rehabilitationsprogramme davon ausgehen, dass das Hauptproblem bei dem:der Einzelnen liegt und nicht in den allgemeinen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Umständen. Darüber hinaus finden Rehabilitationsprogramme in Gefängnissen im Rahmen von Zwangs- und Disziplinarmaßnahmen statt und gehen selten mit einer angemessenen wirtschaftlichen und sozialen Unterstützung nach der Entlassung einher. Im Gegensatz dazu sind freiwillige Programme zur Schadensminimierung, die in unterstützenden Gemeinschaftseinrichtungen stattfinden, im Allgemeinen erfolgreicher – und wesentlich kostengünstiger.99 Das systematische Scheitern der Inhaftierungspolitik wird nicht nur von Gefängnisgegner:innen festgestellt, sondern ist auch unter Kriminolog:innen, Jurist:innen und sogar Regierungsbeamt:innen weithin anerkannt. So berichtete die (von einer konservativen Regierung eingesetzte) Daubney-Kommission in Kanada: Es ist inzwischen allgemein anerkannt, dass die Inhaftierung nicht zur Resozialisierung oder Reformierung von Straftäter:innen beiträgt, keine starke Abschreckung darstellt[,] nur einen vorübergehenden Schutz der Öffentlichkeit und eine ungleichmäßige Bestrafung bewirkt hat. [...] Der Einsatz der Einsperrung als hauptsächliche Antwort auf eine breitgefächerte Palette an Gesetzesverstößen ist in pragmatischer Hinsicht kein vertretbarer Ansatz.100

Die Bekämpfung von Gewalt in unseren und gegen unsere communities ist ein viel zu ernstes, dringendes und weitreichendes Problem, um es einem System zu überlassen, dessen völliges Versagen sich erwiesen hat, wenn es um die Sicherheit der communities geht.  98 Vgl. zum Beispiel Joan McCord, »Cures That Harm: Unanticipated Out­ comes of Crime Prevention Programs«, in: Annals of the American Academy of Political and Social Science, 587 (2003), S. 16-30; Petrosino u. a., »Well-Meaning Programs«.   99 Vgl. Steve Aos u. a., »Preventing Programs for Young Offenders: Effective and Cost-Effective«, in: Overcrowded Times, 9/2 (1998); David J. Smith, »The Effectiveness of the Juvenile Justice System«, in: Criminal Justice, 5/2 (2005), S. 181195. 100 David Daubney, Taking Responsibility: Report of the Standing Committee on Justice and Solicitor General on Its Review of Sentencing, Conditional Release, and Related Aspects of Corrections, Ottawa 1988, S. 75.

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(10) Alternativen zu Gefängnissen werden Gewalt besser verhindern, queere und trans communities stärken und soziale, wirtschaftliche Gerechtigkeit und racial justice fördern. Die Abschaffung der Gefängnisse ist kein Aufruf, plötzlich die Gefängnistüren zu öffnen, ohne dass Alternativen geschaffen werden. Es ist auch kein Appell an ein utopisches Ideal. Abolition ist eine breit angelegte, praktische Vision für den Aufbau von Modellen, die heute praktizieren, wie wir in Zukunft leben wollen. Die Umsetzung von Alternativen erfordert andere Ausgangspunkte, Fragen und Annahmen als diejenigen, welche dem gegenwärtigen System zugrunde liegen. Das derzeitige Modell der Strafjustiz stellt angesichts von sozialem Schaden vor allem zwei Fragen: Wer hat es getan? Wie können wir sie bestrafen? (Und zunehmend auch: Wie können wir damit Geld verdienen?) Die Schaffung sicherer und gesunder communities erfordert ein anderes Set an Fragen: Wer wurde geschädigt? Wie können wir Heilung ermöglichen? Wie können wir solchen Schaden in Zukunft verhindern?101 Bei der Entwicklung von Alternativen im Hinblick auf die letztgenannten Ziele werden die Bedürfnisse der geschädigten Menschen in den Vordergrund gestellt und ganzheitlichere, präventionsorientierte Reaktionen auf Gewalt betont. Abolitionistische Strategien unterscheiden sich von reformistischen Taktiken dadurch, dass sie darauf abzielen, die Macht des gefängnisindustriellen Komplexes zu reduzieren, anstatt sie zu stärken.102 Gefängnisreformen, so gut sie auch gemeint sein mögen, haben die Lebensdauer und die Tragweite der Gefängnisse tendenziell verlängert. Sogenannte geschlechergerechte Gefängnisse sind ein Paradebeispiel dafür; Reformen, die auf die 101 Vgl. Ruth Morris, Stories of Transformative Justice, Toronto 2000. 102 Eine abolitionistische Haltung einzunehmen, bedeutet weder, dass wir uns einer schrittweisen Veränderung verweigern, noch, dass wir auf Bemühungen um eine Verbesserung der Bedingungen in Gefängnissen verzichten. Vielmehr engagieren sich Abolitionist:innen für »abolitionistische Reformen« oder »nichtreformistische Reformen«. Dies sind Reformen, die entweder direkt den industriellen Gefängniskomplex untergraben oder die Gefangenen durch Strategien unterstützen, die das Gefängnissystem eher abschwächen als es selbst zu stärken. Anstatt sich beispielsweise für größere Gesundheitsbudgets für die Betreuung älterer Gefangener einzusetzen, würde eine abschaffungsorientierte Reformstrategie darauf abzielen, ältere Gefangene auf Basis des Compassionate Release aus der Haft zu entlassen, damit sie in der jeweiligen Community Gesundheitsversorgung erhalten können, siehe Critical Resistance, »A World without Walls«.

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Bedürfnisse von Frauen eingehen sollten, haben zu mehr Bestrafung und Inhaftierung von Frauen geführt, nicht zu weniger. Im Gegensatz dazu setzen abolitionistische Strategien auf Taktiken, die das Gefängnissystem untergraben, anstatt es zu stärken. Es gibt viele verschiedene Ansätze zur Abschaffung des Strafvollzugs, von denen manche in dem klassischen Handbuch Instead of Prisons103 beschrieben werden. Um ein paar davon hervorzuheben: – Das System aushungern. Abschaffung bedeutet, den gefängnisindustriellen Komplex auszuhungern – ihm die finanziellen Mittel, personellen Ressourcen, Möglichkeiten zur Angstmacherei und anderweitig nährenden Rhetoriken zu entziehen.104 Eine Schlüsselstrategie ist die Verhängung eines Moratoriums für die Ausweitung des Gefängnissystems; das bedeutet, Regierungen und private Unternehmen daran zu hindern, irgendwelche Gefängnisse, Haftanstalten oder Abschiebehaftplätze neu zu bauen, die Erhöhung der Budgets für Polizei und Gefängnisse zu verbieten und Unternehmen zu boykottieren, die mit dem Gefängniswesen Gewinne erzielen. Das Gefängnissystem auszuhungern, bedeutet, neue Gesetze zu bekämpfen, die die Haftzeit verlängern oder neue Straftatbestände schaffen (etwa Gesetze gegen Hassverbrechen und obligatorische Mindeststrafen), und Geld und Ressourcen in community-basierte Alternativen umzuleiten. – Schluss mit den Käfigen. Gefängnisse sind nur einer der vielen Käfige, die unseren communities schaden. Rassismus, Kolonialismus, Kapitalismus und Ableismus sind andere Arten von Käfigen, die das Gefängnissystem sowohl aufrechterhalten als auch ihm Kraft verleihen. Den gefängnisindustriellen Komplex abzubauen, bedeutet, sich für die Beseitigung aller Käfige einzusetzen, die Gewalt und Unterdrückung begünstigen. Dieser umfassende Ansatz ist besonders wichtig, wenn es darum geht, 103 Vgl. Prison Research Education Action Project und Critical Resistance, »In­ stead of Prisons: A Handbook for Abolitionists«, in: Mark Morris (Hg.), Instead of Prisons, New York 2005, 〈http://www.prisonpolicy.org/scans/instead_of_pri sons/〉, letzter Zugriff 11. 10. 2021. 104 Vgl. Rachel Herzing, Trevor Paglen, »Abolishing the Prison Industrial Complex«, Recording Carceral Landscapes Project, 2005, 〈http://www.november. org/stayinfo/breaking06/CarceralLandscapes.html〉, letzter Zugriff 11. 10. 2021.

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Alternativen zu entwickeln, da einige Strategien (wie die elektro­ nische Fußfessel oder Überwachungskameras) einfach alte Käfige durch neue ersetzen. Menschen aus den Käfigen zu befreien und zu verhindern, dass Menschen in diese Käfige gesteckt werden – und wenn auch nur eine Person nach der anderen –, ist eine zentrale abolitionistische Strategie. – Entwicklung effektiver Alternativen. Der Abbau des gefängnisindustriellen Komplexes ist ohne die Entwicklung alternativer, community-basierter Protokolle für den Umgang mit Gewalt und Schaden unmöglich. Abolitionistische Alternativen zu schaffen, bedeutet, nicht strafende Reaktionen auf Schaden zu fördern, community-basierte Mechanismen der sozialen Verantwortungsübernahme einzuführen und der Prävention Vorrang zu geben. Zu solchen Alternativen gehören Initiativen restaurativer/transformativer Gerechtigkeit, community-basierte Entschädigungsprojekte, soziale und wirtschaftliche Unterstützungsnetzwerke, erschwingliche Wohnungen, gemeinschaftliche Bildungsprojekte, von Jugendlichen geleitete Freizeitprogramme, kostenlos zugängliche Gesundheitsdienste, auf empowerment basierende Programme zu psychischer Gesundheit, Sucht und Schadensminderung, Möglichkeiten qualifizierter Arbeitsanstellung, Maßnahmen zur Armutsbekämpfung und die Unterstützung von Kämpfen um Selbstbestimmung.105 – Die Abschaffung tagtäglich praktizieren. Die Abschaffung von Gefängnissen ist nicht nur das Hauptziel, sondern auch alltägliche Praxis. Abolitionistisch zu sein, bedeutet, die Art und Weise zu verändern, wie wir auf langfristiger Basis mit anderen interagieren und schädliche Muster in unserem täglichen Leben wandeln können. Abolitionistische Praxis bedeutet, strafende Impulse in unseren intimen Beziehungen in Frage zu stellen, die Art und Weise, wie wir mit persönlichen Konflikten umgehen, zu überdenken und Schäden zu reduzieren, die in unseren Wohnungen, an unseren Arbeitsplätzen, in unserer Nachbarschaft und in unseren Schulen auftreten. Auf diese Weise ist die »gelebte 105 Zu exzellenten Ressourcen zu Community Accountability, insbesondere für den Umgang mit Gewalt gegen Frauen und trans Menschen, siehe INCITE! Women of Color Against Violence, »Community Accountability Resources«, 〈https:// incite-national.org/resources-for-organizing/〉, letzter Zugriff 11. 10. 2021.

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Abolition« Teil der täglichen Praxis, eine Welt ohne Käfige zu schaffen.

Fazit Zu den vielen Stärken von queeren und trans communities gehört die Fähigkeit, die sozialen Normen, die abweichende Körper disziplinieren, in Frage zu stellen. Als Institution, deren gewalttätige Auswirkungen den Körpern sowohl innerhalb als auch außerhalb ihrer Mauern massiven Schaden zufügen, sollte das Gefängnis ein Hauptziel für queere/trans Analysen und Aktionen sein. Gleichzeitig geht es bei der Abschaffung des gefängnisindustriellen Komplexes nicht nur darum, Gefängnisse abzuschaffen, sondern auch darum, abolitionistische Analysen und Maßnahmen in weitere Kämpfe für soziale und ökonomische Gerechtigkeit und racial justice zu integrieren. Ob wir nun für den Zugang von trans Personen zu Wohnraum und Sozialhilfe kämpfen, die Entkriminalisierung von Sexarbeit fordern, uns gegen Gewalt engagieren oder uns für eine kostenlose Gesundheitsversorgung einsetzen – all unsere Politik muss von einer abolitionistischen Analyse durchdrungen sein. Ebenso wird ein Gefängnisaktivismus, der die geschlechtlichen und sexuellen Dimensionen der Inhaftierung außer Acht lässt, nicht in der Lage sein, die Wurzeln unserer käfigvernarrten Kultur zu beseitigen. Die Aufgabe besteht also darin, sich für soziale Transformation zu engagieren, indem wir Strategien anwenden, die eine queere/ trans Analyse auf den gefängnisindustriellen Komplex beziehen und eine gefängnisabolitionistische Analyse in die Kämpfe von Queer/ Trans einbringen. Ohne beides miteinander zu verbinden, werden wir genau jene Käfige vernachlässigen, die uns daran hindern, auf umfassendere Ziele der sozialen Gerechtigkeit hinzuarbeiten. Übersetzt von Judith Bahlig

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V.

Abolitionistische Horizonte

Michel Foucault Gefängnisse und Gefängnisrevolten. Ein Gespräch mit Bodo Morawe (1973) – Erst die Gefangenenrevolten in zahlreichen französischen Strafanstalten in Aix, Clairvaux, Les Baumettes, Poissy, Lyon und Foul haben die öffentliche Meinung auf die Realität hinter Gittern und Betonmauern aufmerksam gemacht. Diese Revolten, die seit 1971 in Frankreich Schlagzeilen machen, haben unterschiedliche Formen angenommen: Meutereien, Verzweiflungstaten, kollektive Widerstandsaktionen, Protestbewegungen mit konkreten Forderungen. Worin liegt Ihrer Ansicht nach die Bedeutung dieser Revolution? Handelt es sich tatsächlich um ein neues Phänomen? – Man muss zunächst Folgendes in Erinnerung rufen: Bei allen politischen Revolutionen des 19. Jahrhunderts – 1830, 1848 und 1870 – war es Tradition, dass entweder im Innern der Gefängnisse Revolten ausbrachen und die Häftlinge sich mit der revolutionären Bewegung außerhalb der Gefängnismauern solidarisierten oder dass die Revolutionäre zu den Gefängnissen gingen, um mit Gewalt ihre Tore zu öffnen und die Gefangenen zu befreien. Das war eine Konstante im 19. Jahrhundert. Im Gegensatz dazu sind im 20. Jahrhundert aufgrund einer Reihe von gesellschaftlichen Prozessen, beispielsweise des Bruchs zwischen dem politisch und gewerkschaftlich organisierten Proletariat und dem »Lumpenproletariat«, die politischen Bewegungen nicht mehr mit den Bewegungen in den Gefängnissen verbunden gewesen. Auch wenn die Zeitungen praktisch niemals von Gefängnisrevolten sprachen und so den Eindruck vermittelten, dass in den Gefängnissen 71 Jahre lang Ruhe herrschte, entsprach das keineswegs der Wirklichkeit. Es hat auch in dieser Zeit Gefängnisrevolten, Protestbewegungen innerhalb des Strafvollzugssystems, oft sehr gewaltsame, blutig niedergeschlagene Bewegungen wie 1967 in der »Santé« gegeben, aber es drang nicht an die Öffentlichkeit. Es stellt sich also die Frage: Wie ist es erneut zu einer Verbindung zwischen der politischen Bewegung außerhalb der Gefängnisse und der Politisierung einer Bewegung im Innern 495

der Gefängnisse gekommen? Mehrere Faktoren haben dabei eine Rolle gespielt: zunächst die Präsenz einer großen Zahl algerischer Häftlinge während des Algerienkrieges. Sie waren Tausende und haben für die Anerkennung ihrer Rechte als politische Gefangene gekämpft. Mit den Mitteln des passiven Widerstands und der Gehorsamsverweigerung gelang es ihnen zu zeigen, dass es möglich war, die Gefängnisleitung zum Nachgeben zu zwingen. Das war schon etwas sehr Wichtiges. Dann gab es die politischen Gefangenen in der Folge des Mai 1968, die im Wesentlichen Maoisten waren. Schließlich war ein dritter Faktor von Bedeutung: Nach der Gründung der Gruppe zur Verbreitung von Informationen über Gefängnisse haben die Gefangenen gewusst, dass es draußen eine Bewegung gab, die sich für ihr Schicksal interessierte und die nicht einfach nur eine Bewegung der christlichen oder weltlichen Menschenliebe war, sondern eine politische Protestbewegung gegen Gefängnisse. Diese Abfolge von Erscheinungen – die Politisierung in den Gefängnissen durch die Maoisten und zuvor durch die Algerier und die Politisierung des Gefängnisproblems von draußen – hat zur Kristallisierung einer bestimmten Situation geführt. Infolge der Kampagne, die von der Gruppe Gefängnisinformation (G. I. P.) geführt wurde, hat die Regierung den Gefangenen erstmals in der Geschichte das Recht zugestanden, Tageszeitungen zu lesen, was bis Juli 1971 in den Gefängnissen nicht erlaubt war. Im Juli 1971 gestattet man also den Häftlingen, Zeitungen zu lesen. Im September 1971 erfahren sie von der Revolte in Attica; es wird ihnen bewusst, dass ihre eigenen Probleme, deren politische Natur sie zu erkennen beginnen und bei denen sie von draußen unterstützt werden, dass diese Probleme auf der ganzen Welt bestehen. Es gab eine starke Erschütterung, und das Bewusstsein der politischen Dimension und der politischen Bedeutung des Problems war von diesem Augenblick an lebendig. Im Lauf der nächsten vierzehn Tage haben dann zwei Häftlinge in Clairvaux, einem der strengsten französischen Gefängnisse, einen Fluchtversuch gemacht und dabei zwei Geiseln genommen: einen Gefängniswärter und eine Krankenschwester. Bei diesem Fluchtversuch haben sie ihre Geiseln getötet. Tatsächlich weiß man heute, dass, auch wenn diese Geiselnahme von der Verwaltung offensichtlich nicht geplant worden ist, sie doch von ihr erleichtert wurde, und man kann sagen, dass sie auf jeden Fall von einer Verwaltung geduldet wurde, die wusste, dass sich etwas 496

zusammenbraute, selbst wenn sie nicht wusste, was es genau war. Um diesen anwachsenden Aufruhr, der schon politischer Natur war, niederzuzwingen, hat die Verwaltung die beiden jungen Leute gewähren lassen. Das hat schließlich zu dem Drama geführt. Unmittelbar danach haben die Strafvollzugsbehörden, die Regierung und mehrere Zeitungen eine Kampagne eingeleitet, die das Ziel hatte zu sagen: »Nun habt ihr gesehen, was für Leute die Gefangenen sind.« In genau diesem Augenblick hat sich in den französischen Gefängnissen eine sehr bedeutsame Veränderung vollzogen: Die Gefangenen sind sich bewusst geworden, dass die individuellen oder halb individuellen Mittel des Kampfes – eine Flucht zu zweit, zu dritt oder zu mehreren – nicht die richtigen Mittel waren und dass die Gefangenenbewegung, wenn sie eine politische Dimension erlangen wollte, erstens eine wirklich kollektive Bewegung sein musste, die ein ganzes Gefängnis umfasst, und dass sie zweitens an die öffentliche Meinung appellieren musste, die, wie die Gefangenen wussten, sich für ihre Probleme zu interessieren begann. Das hat zu einer völlig neuen Form der Revolte geführt. Im Dezember 1971, also zwei Monate nach den Ereignissen von Clairvaux, zweieinhalb Monate nach Attica, vier Monate nach der Erlaubnis von Tageszeitungen und ein Jahr nach der Gründung der Gruppe Gefängnisinformation G. I. P., brach in Toul eine Revolte aus, wie man sie seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr erlebt hat: Ein ganzes Gefängnis revoltiert, die Gefangenen klettern auf die Dächer, werfen von dort Flugblätter herab, entfalten Transparente, machen Aufrufe mit dem Megaphon und erklären ihre Forderungen. – Welche Forderungen haben die Gefangenen erhoben? Und kann man wirklich sagen, dass ihre Revolte der Ausdruck eines politischen Bewusstseins ist? Ich stelle diese Frage, weil Sie ausdrücklich von einer »politischen Bewegung« sprechen. – Zunächst muss man die politische oder unpolitische Form einer Aktion erkennen. Ich würde sagen, dass eine Flucht zu zweit mit Geiselnahme keine politische Aktionsform ist, selbst wenn es sich um politische Gefangene handelt oder sie ein politisches Bewusstsein haben. Dagegen handelt es sich um eine politische Form, wenn diejenigen, die zum Beispiel folgende Forderungen stellen: besseres Essen, Heizung, nicht wegen Kleinigkeiten zu absurden Strafen 497

verurteilt werden, das heißt Forderungen, die im Bereich ihrer persönlichen Interessen liegen, diese Forderungen auf kollektive Weise stellen, indem sie sich auf die öffentliche Meinung stützen und sich nicht an ihre Vorgesetzten, die Gefängnisdirektoren, wenden, sondern an die Staatsgewalt selbst, an die Regierung, an die Partei, die an der Macht ist. Von diesem Augenblick an hat ihre Aktion einen politischen Charakter. Vielleicht werden Sie sagen, dass das noch kein politischer Inhalt ist. Aber ist nicht genau das ein Kennzeichen der aktuellen politischen Bewegungen: die Entdeckung, dass die alltäglichsten Dinge – die Art zu essen, sich zu ernähren, die Beziehungen zwischen Arbeiter und Arbeitgeber, die Art zu lieben, die Art, wie die Sexualität unterdrückt wird, gesellschaftliche Zwänge, das Verbot der Abtreibung – politisch sind? Das alles zum Gegenstand einer politischen Aktion zu machen, darin besteht heute die Politik. Deshalb bestimmt sich der politische oder nichtpolitische Charakter einer Aktion nicht mehr allein durch das Ziel dieser Aktion, sondern durch die Art und Weise, wie Dinge, Probleme, Besorgnisse und Leiden, die die europäische politische Tradition des 19. Jahrhunderts als der politischen Aktion unwürdig verbannt hatte, politisiert werden. Man wagte nicht, über Sexualität zu sprechen. Seit dem 19. Jahrhundert hat man kaum vom Essen der Gefangenen als ernsthaftem politischen Problem gesprochen. – Bei den Untersuchungen der Gruppe Gefängnisinformation G. I. P. haben Sie sich konkret mit den Haftbedingungen und dem Strafvollzugssystem in Frankreich befasst. An welchen Tatsachen haben Sie sich dabei gestoßen? Welches Ziel hatte sich die Gruppe bei diesen Untersuchungen gesetzt? – Die meisten dieser Tatsachen waren gewiss schon bekannt: absolut erbärmliche materielle Bedingungen; Strafarbeiten, die der schändlichsten Form der Ausbeutung angehören, nämlich der Sklaverei; fehlende medizinische Betreuung; Schläge und Gewalttätigkeiten seitens der Wärter; Existenz eines willkürlichen Gerichts, dessen einziger Richter der Gefängnisdirektor ist und das zusätzliche Strafen über die Gefangenen verhängt. Diese Tatsachen waren im Grunde bekannt, und wir hätten sie auch sammeln können, wenn wir hier und dort herumgehört und uns einiger »Spitzel« in der Strafvollzugsverwaltung bedient hätten. Für uns war es 498

jedoch wichtig, dass diese Informationen der Öffentlichkeit von den Gefangenen selbst mitgeteilt wurden. Wir sind also nicht den Weg über die Strafvollzugsbehörden gegangen, wir haben ihnen keine Fragen gestellt, nicht einmal den Gefängnisärzten oder den Sozialarbeitern, die in den Gefängnissen tätig sind. Wir haben illegal Fragebögen in die Gefängnisse geschleust und sie auf dieselbe Weise zurückerhalten, so dass die Gefangenen in unseren Broschüren selbst zu Wort kamen und die Tatsachen aufdeckten. Das war wichtig, weil diese Tatsachen nur in kleinen Zirkeln bekannt waren, weil die öffentliche Meinung die Stimme der Gefangenen gehört hat und weil die Gefangenen wussten, dass sie selbst zur Öffentlichkeit sprachen. Dabei ereignete sich etwas Außergewöhnliches, wenigstens haben einige es dafür gehalten: Der Justizminister konnte diese Tatsachen nicht im Geringsten dementieren. Die Gefangenen hatten also ganz und gar die Wahrheit gesagt. – Die Tatsachen, die in den Broschüren der Gruppe veröffentlicht wurden – verrottete Unterkünfte, sadistische Misshandlungen, wiederholte Missachtung medizinischer Vorschriften, rechtswidrige Züchtigungen mit anschließender Verabreichung von Beruhigungsmitteln etc. – stehen in schockierendem Gegensatz zu den Absichten des französischen Gesetzgebers, der bereits 1943 bei der Strafrechtsreform formuliert hatte: »Die Strafe des Freiheitsentzugs hat die Besserung und soziale Wiedereingliederung des Verurteilten als wesentliches Ziel.« Stimmen Sie diesem Konzept zu? Und warum ist es Ihrer Ansicht nach bis jetzt nicht verwirklicht worden? – Dieser Satz, den die französischen Justizbeamten heute mit so viel Ehrerbietung zitieren, ist mit den gleichen Begriffen schon vor mehr als 150 Jahren formuliert worden. Als man die Gefängnisse geschaffen hat, sollten sie Reforminstrumente sein. Das ist gescheitert. Man hatte sich vorgestellt, dass die Inhaftierung, der Bruch mit dem Milieu, die Einsamkeit, das Nachdenken, die Zwangsarbeit, die ständige Überwachung, die moralischen und religiösen Ermahnungen zur Besserung der Verurteilten führen würden. 150 Jahre des Misserfolgs geben dem Strafvollzugssystem nicht das Anrecht zu verlangen, dass man ihm noch Vertrauen schenken sollte. Dieser Satz ist zu oft wiederholt worden, als dass man ihm noch die geringste Glaubwürdigkeit zugestehen könnte. 499

– Ist das Ihre Antwort? – Ja, ganz gewiss. – Dann gestatten Sie mir, meine Frage zu präzisieren: Ist es wünschenswert, das gegenwärtige Strafvollzugssystem zu reformieren, um die Haftbedingungen zu erleichtern? Oder ist es notwendig, mit allen traditionellen Vorstellungen bezüglich des Strafrechts, der Anwendungen von Strafen etc. zu brechen? – Das Strafvollzugssystem, das heißt das System, das darin besteht, Menschen unter Sonderbewachung in geschlossenen Anstalten einzusperren, bis sie sich gebessert haben – das erwartet man jedenfalls –, ist vollkommen gescheitert. Dieses System gehört zu einem viel umfassenderen und komplexeren System, das, wenn Sie so wollen, das Strafsystem ist: Die Kinder werden bestraft, die Schüler werden bestraft, die Arbeiter werden bestraft, die Soldaten werden bestraft. Letzten Endes wird man sein ganzes Leben lang bestraft. Man wird für bestimmte Dinge bestraft, die nicht mehr dieselben sind wie im 19. Jahrhundert. Man lebt in einem System von Strafen. Dieses System muss man in Frage stellen. Das Gefängnis selbst ist nur ein Teil des strafrechtlichen Systems, und dieses ist nur ein Teil des Strafsystems. Es würde nichts nützen, das Strafvollzugssystem zu reformieren, ohne das strafrechtliche System und die Strafgesetzgebung zu reformieren. Aber die Gesetzgebung muss in etwa diese Form haben, wenn es stimmt, dass die Stabilität der kapitalistischen Gesellschaft auf diesem ganzen Netz des strafenden Drucks beruht, der auf die Einzelnen ausgeübt wird. – Man müsste also das ganze System ändern? – Man hat das Strafrechtssystem, das man verdient. Es gibt eine sogenannte marxistische Analyse, die etwas oberflächlich ist und all das dem Überbau zurechnet. Auf dieser Ebene kann man sich immer Verbesserungen und Veränderungen vorstellen. Aber in Wirklichkeit glaube ich nicht, dass das Strafrechtssystem zum Überbau gehört. In Wirklichkeit handelt es sich um ein System der Macht, das tief in das Leben der Einzelnen eindringt und das mit ihrer Beziehung zum Produktionsapparat zu tun hat. In dieser Hinsicht 500

handelt es sich überhaupt nicht um einen Überbau. Damit die Menschen eine für den Produktionsapparat verfügbare Arbeitskraft sind, bedarf es eines Systems von Zwängen, von Druck und Bestrafung, eines Strafrechtssystems und eines Strafvollzugssystems. Letztere sind nur der Ausdruck dieses Systems von Zwängen. – Lässt sich das historisch belegen? – Seit Beginn des 19. Jahrhunderts hat es eine ganze Reihe von Institutionen gegeben, die nach dem gleichen Modell funktionieren, die den gleichen Regeln gehorchten und deren erste, beinahe phantasierende Beschreibung im berühmten Panopticon von Bentham steht: Überwachungsinstitutionen, in denen die Menschen entweder an einen Produktionsapparat, eine Maschine, ein Handwerk, eine Werkstatt, eine Fabrik oder einen Schulapparat, eine Straf- oder Besserungsanstalt oder einen Gesundheitsapparat gekettet waren. Sie waren an diesen Apparat gekettet und mussten bestimmte Existenzregeln befolgen, die ihr ganzes Leben einengten  – und dies unter der Überwachung durch bestimmte Leute, leitende Angestellte (Vorarbeiter, Krankenpfleger, Gefängniswärter), die über Mittel zur Bestrafung verfügten: Geldstrafen in den Fabriken, körperliche oder seelische Züchtigungen in den Schulen und den Irrenhäusern und gewalttätige und im Wesentlichen körperliche Strafen in den Gefängnissen. Krankenhäuser, Irrenanstalten, Waisenhäuser, Lehranstalten, Erziehungsheime, Fabriken, Werkstätten mit ihrer Disziplin und schließlich Gefängnisse, all das ist Teil eines gesamtgesellschaftlichen Machtapparats, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts geschaffen wurde und der sicher eine der Bedingungen für das Funktionieren der industriellen, oder wenn Sie so wollen, kapitalistischen Gesellschaft war. Damit der Mensch seinen Körper, seine Existenz und seine Zeit in Arbeitskraft verwandelt und diese dem Produktionsapparat zur Verfügung stellt, den der Kapitalismus in Gang zu bringen versuchte, war ein ganzer Apparat von Zwängen nötig. Mir scheint, dass alle diese Zwänge, die den Menschen vom Kindergarten und der Schule an in Beschlag nehmen und ihn über die Kaserne zum Altersheim führen, indem sie ihm ständig mit dem Gefängnis oder der psychiatrischen Anstalt drohen – »entweder du gehst in die Fabrik oder du landest im Gefängnis oder im Irrenhaus!« –, zum selben System der Macht 501

gehören. In den meisten anderen Bereichen haben sich diese Institutionen aufgelockert, aber ihre Funktion ist gleich geblieben. Die Menschen werden heute nicht mehr durch das Elend, sondern durch den Konsum geknechtet. Wie im 19. Jahrhundert sind sie noch immer, wenn auch auf andere Weise, in einem Kreditsystem gefangen, das sie verpflichtet (wenn sie sich ein Haus, Möbel etc. gekauft haben), den ganzen Tag zu arbeiten, Überstunden zu machen, bei der Stange zu bleiben. Das Fernsehen bietet seine Bilder als Konsumobjekte an und hindert die Leute, das zu tun, was man schon im 19. Jahrhundert so sehr fürchtete, nämlich in die Bistros zu gehen, wo politische Versammlungen stattfanden und wo aus dem Zusammentreffen auf lokaler und regionaler Ebene die Ansätze zu einer politischen Bewegung der Arbeiterklasse entstanden und vielleicht die Möglichkeit, dieses ganze System niederzureißen. – Sie sagten, dass sich die anderen Institutionen gelockert haben. Und die Gefängnisse? – Die Gefängnisse sind anachronistisch und doch zugleich eng mit dem System verbunden. Im Unterschied zu Schweden und den Niederlanden haben sie sich zumindest in Frankreich nicht gelockert. In diesen Ländern stimmen ihre Funktionen völlig mit den Funktionen überein, die nicht mehr von den früheren Heimen und den psychiatrischen Krankenhäusern erfüllt werden, sondern von relativ flexiblen Institutionen, die man in Frankreich »Stadtteilpsychiatrie« nennt, das heißt offene Psychiatrie, medizinische Kontrolle, psychologische und psychiatrische Überwachung, denen die Bevölkerung auf diffuse Weise ausgesetzt ist. Es handelt sich immer noch um dieselbe Funktion. Das Gefängnis stimmt mit dem System überein, nur dass das Strafrechtssystem noch nicht jene tückischen und flexiblen Formen angenommen hat, die die Pädagogik, die Psychiatrie und die übrigen Disziplinierungsapparate der Gesellschaft angenommen haben. – Eine letzte Frage zum Abschluss: Kann man sich eine Gesellschaft ohne Gefängnisse überhaupt vorstellen? – Die Antwort darauf ist einfach: Es hat tatsächlich Gesellschaften ohne Gefängnisse gegeben. Das ist noch gar nicht so lange 502

her. Als Strafanstalt ist das Gefängnis eine Erfindung des frühen 19. Jahrhunderts. Wenn Sie sich die Texte der ersten Strafrechtler des 19. Jahrhunderts anschauen, werden Sie feststellen, dass sie ihr Kapitel über die Gefängnisse immer mit der Bemerkung beginnen: »Das Gefängnis ist eine neue Art von Strafe, die man im letzten Jahrhundert noch nicht kannte.« Und der Präsident eines der ersten internationalen Kongresse über den Strafvollzug, der, wenn ich mich recht erinnere, 1847 in Brüssel stattfand, sagte: »Ich bin schon recht alt und erinnere mich noch an die Zeit, wo man die Leute nicht mit Gefängnis bestrafte, sondern wo Europa mit Galgen, Ketten und Schafotten übersät war, wo man Verstümmelte sah, denen ein Ohr, zwei Daumen oder ein Auge fehlten. Das waren die Verurteilten.« Er sprach von dieser sichtbaren und buntscheckigen Landschaft und fügte hinzu: »Heute ist das alles hinter den eintönigen Mauern des Gefängnisses eingeschlossen.«1 Den Menschen jener Epoche war vollkommen bewusst, dass eine absolut neue Form der Strafe geboren war. Sie wollen, dass ich eine utopische Gesellschaft beschreibe, in der es keine Gefängnisse geben würde. Das Pro­blem besteht darin, ob man sich eine Gesellschaft vorstellen kann, in der die Anwendung von Regeln von den jeweiligen Gruppen selbst kontrolliert wird. Hier haben wir wieder die ganze Frage der politischen Macht, das Problem der Hierarchie, der Autorität, des Staats und der Staatsapparate. Erst wenn man mit dieser gewaltigen Frage zu Rande gekommen ist, wird man sagen können: Ja, es soll möglich sein, auf diese Weise zu strafen – oder: es ist völlig nutzlos zu strafen – oder: auf dieses abweichende Verhalten muss die Gesellschaft so und so reagieren. Übersetzt von Jürgen Schröder

1 Eröffnungsrede beim II. Internationalen Strafvollzugskongress (20.-23. September 1847 in Brüssel), gehalten vom Präsidenten M. van Meenen, Präsident des Berufungsgerichts von Brüssel, in: Débats du Congrès pénitentiaire de Bruxelles, Brüssel 1847, S. 17-24, hier S. 20.

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Angela Y. Davis Strategien zur Abschaffung des Gefängnisses Vergessen wir das Thema Reform; es ist an der Zeit, von der Abschaffung der Haftanstalten und Gefängnisse in der amerikanischen Gesellschaft zu reden [...]. Man wird fragen: Abschaffung? Wo wollen Sie mit den Gefangenen hin? Mit den »Verbrechern«? Was ist die Alternative? Erstens würden wir mit diesem Schritt, selbst wenn wir gar keine Alternative hätten, weniger Verbrechen erzeugen, als es die heutigen Ausbildungsanstalten für Kriminalität tun. Zweitens besteht die einzige wirkliche Alternative im Aufbau einer Gesellschaft, die keine Gefängnisse braucht: Einer vernünftigen Umverteilung von Macht und Einkommen, um das Feuer des brennenden Neides zu löschen, das heute in Form von Eigentumsvergehen aufflammt – sowohl in den Einbruchsdelikten der Armen als auch den Betrügereien der Reichen. Und einem vernünftigen Sinn für Gemeinschaft, der diejenigen unterstützen, wieder integrieren und wahrhaft resozialisieren kann, die plötzlich von Wut oder Verzweiflung überwältigt werden, und dem es gelingt, sie nicht als Objekte – »Verbrecher« – zu sehen, sondern als Menschen, die, wie so gut wie jeder von uns, gesetzwidrige Handlungen begangen haben. – Arthur Waskow, lnstitute for Policy Studies1

Wenn Haftanstalten und Gefängnisse abgeschafft werden sollen – was wird dann an ihre Stelle treten? Das ist die beunruhigende Frage, die weiteren Überlegungen über die Perspektiven einer Abschaffung des Gefängnisses oft ein vorzeitiges Ende macht. Warum ist es so schwierig, sich Alternativen zu unserem gegenwärtigen System der Einsperrung vorzustellen? Es gibt eine Reihe von Gründen, weshalb wir vor dem Gedanken zurückschrecken, dass es vielleicht möglich wäre, ein ganz anderes – und vielleicht egalitäreres – Justizsystem zu schaffen. Am wichtigsten in dieser Hinsicht ist die Tat1 Arthur Waskow, Gründer des Institute for Policy Studies, in: Saturday Review, 8. 1. 1972, zit. n. Fay Honey Knopp u. a., Instead of Prisons: A Handbook for Abolitionists, Syracuse 1976, S. 15 f.

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sache, dass wir das gegenwärtige System, das in so übertriebenem Maß auf Haft beruht, unreflektiert als Norm betrachten und daher große Probleme haben, uns irgendeine andere Art des Umgangs mit den mehr als zwei Millionen Menschen vorzustellen, die derzeit in den Strafanstalten, Gefängnissen, Jugendhaftanstalten und Haftzentren für Einwanderer:innen festgehalten werden. Ironischerweise wird selbst von der Kampagne gegen die Todesstrafe häufig ins Feld geführt, eine Verurteilung zu lebenslänglicher Haft sei die vernünftigste Alternative zur Todesstrafe. Nun ist die Abschaffung der Todesstrafe sicher wichtig, aber wir sollten uns dennoch darüber im klaren sein, dass die gegenwärtige Kampagne zur Abschaffung der Todesstrafe dazu tendiert, genau jene historischen Muster zu wiederholen, die zur Einführung des Gefängnisses als der vorherrschenden Bestrafungsform geführt haben. Dabei bestand die Todesstrafe zusammen mit dem Gefängnis fort, obwohl doch das Gefängnis ursprünglich die Alternative zur körperlichen Bestrafung und zur Todesstrafe sein sollte. Hierin liegt ein grundlegender Widerspruch. Eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Widerspruch würde von uns fordern, ernsthaft über Möglichkeiten nachzudenken, wie wir das Ziel der Abschaffung der Todesstrafe mit Strategien für die Abschaffung des Gefängnisses verbinden können. Wenn wir unsere Perspektive kurzsichtig nur auf das existierende System beschränken (und vielleicht ist gerade dies das Problem, das uns zu der Annahme verleitet, Haft sei die einzige Alternative zur Hinrichtung), ist es natürlich sehr schwer, sich ein strukturell ähnliches System vorzustellen, das in der Lage wäre, mit einer derart großen Zahl von Gesetzesbrecher:innen fertigzuwerden. Wenn wir jedoch unsere Aufmerksamkeit nicht nur auf das Gefängnis als isolierte Institution, sondern auch auf die Vielzahl von Beziehungen lenken, die den gefängnisindustriellen Komplex ausmachen, könnte es leichter sein, Alternativen zu entwickeln: Ein komplexeres Szenario könnte uns mehr Optionen liefern als der Versuch, das Gefängnissystem durch ein einziges Substitut zu ersetzen. Der erste Schritt wäre demnach, von dem Wunsch Abstand zu nehmen, ein einziges alternatives System der Bestrafung zu entdecken, das seinerseits an die Stelle des Gefängnissystems treten würde. Seit den 1980er Jahren hat das Gefängnissystem einen immer bedeutenderen Platz im wirtschaftlichen, politischen und ideologischen Leben der Vereinigten Staaten und der transnationalen Ver505

breitung von Waren, Kultur und Ideen aus den USA eingenommen. Der gefängnisindustrielle Komplex ist also wesentlich mehr als die Summe aller Strafanstalten und Gefängnisse in diesem Land. Er besteht aus einem ganzen Netz von symbiotischen Beziehungen zwischen Strafvollzugsangehörigen, transnationalen Konzernen, Medienkonglomeraten, Gewerkschaften des Wachpersonals sowie gesetzgeberischen und juristischen Programmen. Wenn die heutige Bedeutung des Bestrafungsprozesses durch diese Beziehungen bestimmt wird, müssen die effektivsten Strategien zur Abschaffung des Gefängnisses genau diese Beziehungen angreifen und Alternativen vorschlagen, die ihnen ein Ende machen. Was wäre demnach notwendig, um ein System zu entwerfen, in dem Bestrafung nicht zur Profitquelle für die Großkonzerne werden darf? Wie könnte eine Gesellschaft aussehen, in der race und Klasse nicht die wichtigsten Faktoren der Bestrafung sind? Oder eine Gesellschaft, in der die Bestrafung selbst nicht mehr das Hauptanliegen bei der Schaffung von Gerechtigkeit ist? Ein auf die Abschaffung des Gefängnisses gerichteter Ansatz, der versucht, Fragen wie diese zu beantworten, würde von uns fordern, dass wir uns einen Rahmen alternativer Strategien und Institutionen vorstellen, der letztlich das Ziel verfolgt, das Gefängnis aus den sozialen und ideologischen Landschaften unserer Gesellschaft zu entfernen. Wir würden uns also nicht nach gefängnisähnlichen Ersatzinstitutionen für das Gefängnis wie etwa durch elektronische Arm- oder Fußbänder überwachtem Hauarrest umsehen. Stattdessen würden wir die Entkerkerung als übergeordnetes Ziel definieren und versuchen, ein ganzes Kontinuum von Alternativen zur Haft zu entwickeln – eine Entmilitarisierung der Schulen, die Revitalisierung des Bildungswesens auf allen Ebenen, ein kostenloses Gesundheitssystem für alle, das sowohl die physischen als auch die psychischen Bedürfnisse abdeckt, und ein Justizsystem, das auf den Prinzipien Wiedergutmachung und Versöhnung beruht statt auf Vergeltung und Rache. Die Schaffung neuer Institutionen, die Anspruch auf den Raum erheben, der jetzt vom Gefängnis eingenommen wird, kann schließlich so weit gedeihen, dass diese Institutionen das Gefängnis zu verdrängen beginnen, das damit einen immer kleineren Raum in unserer sozialen und psychischen Landschaft einnehmen würde. Daher können Schulen als die wichtigste Alternative zu Strafanstalten und 506

Gefängnissen betrachtet werden. Wenn es nicht gelingt, die derzeit bestehenden Gewaltstrukturen – darunter auch die Präsenz bewaffneter Wachleute und der Polizei – aus den Schulen der verarmten communities of color zu verbannen, und wenn diese Schulen nicht zu Orten werden, die die Freude am Lernen ermutigen, werden sie auch weiterhin die wichtigsten Durchlaufstationen zum Gefängnis bleiben. Die Alternative wäre eine Umwandlung der Schulen in Instrumente der Entkerkerung. Im Bereich des Gesundheitswesens muss auf den gegenwärtigen Mangel an Einrichtungen für arme Menschen mit schweren mentalen und emotionalen Problemen hingewiesen werden. Diese Forderung nach neuen Einrichtungen zur Hilfe und Unterstützung für die Armen sollte nicht als Forderung nach einer Wiedereinführung des alten Systems der Irrenanstalten missverstanden werden, die ebenso repressiv wie Gefängnisse waren – und es in vielen Fällen bis heute sind. Sie will stattdessen darauf aufmerksam machen, dass die auf race- und Klassenzugehörigkeit basierenden Unterschiede des Zugangs zu einer solchen Versorgung eliminiert werden müssen, um durch die Beseitigung dieser Diskriminierung zwischen Begünstigten und Benachteiligten zugleich ein weiteres Vehikel für die Entkerkerung zu schaffen. Um es noch einmal zu wiederholen: Statt zu versuchen, nur eine einzige Alternative zum bestehenden System der Einsperrung zu entwickeln, könnten wir ein ganzes Bündel von Alternativen ins Auge fassen, deren Durchsetzung die radikale Veränderung vieler Aspekte unserer Gesellschaft erfordern wird. Alternative Vorschläge, die sich nicht mit Rassismus, männlicher Vorherrschaft, Homophobie, Klassenvorurteilen und anderen Herrschaftsstrukturen auseinandersetzen wollen, werden letzten Endes nicht zur Entkerkerung führen und das Ziel der Abschaffung der Gefängnisse nicht voranbringen können. Gerade in diesem Kontext sollte auch die Entkriminalisierung des Drogenkonsums als wichtiger Teil einer umfassenderen Strategie in Betracht gezogen werden, die sich gegen rassistische Strukturen im System der Strafjustiz wendet und zugleich auf das Ziel der Entkerkerung und schließlich auf die Abschaffung der Gefängnisse überhaupt hinarbeitet. Des Weiteren sollten wir im Rahmen des Kampfes gegen die Rolle, die der sogenannte Krieg gegen die Drogen (War on Drugs) dabei spielt, dass eine enorme Anzahl von Menschen of color im Gefängnis landen, Vorschläge zur Entkriminalisie507

rung von Drogen mit der Entwicklung eines Angebots kostenloser, von den Gemeinden organisierter Programme verbinden, die allen Menschen offenstehen, die sich mit ihren Drogenproblemen auseinandersetzen wollen. Damit will ich nicht behaupten, dass alle Menschen, die Drogen konsumieren, oder nur Menschen, die verbotene Drogen nehmen, solche Hilfe benötigen. Allerdings sollten alle Drogenkonsument:innen, die etwas gegen ihre Abhängigkeit unternehmen wollen, ungeachtet ihres wirtschaftlichen Status an solchen Behandlungsprogrammen teilnehmen können. Den Begüterten stehen solche Institutionen natürlich ohnehin zur Verfügung. Die berühmteste von ihnen ist das Betty Ford Center, das laut seiner Website »Patient:innen aufnimmt, die von Alkohol oder anderen bewusstseinsverändernden Drogen abhängig sind. Die Behandlung steht allen Männern und Frauen über achtzehn offen, unabhängig von race, Glauben, Geschlecht, nationaler Zugehörigkeit, Religion oder der Herkunft des Entgelts für unsere Leistung.«2 Dabei betragen die Kosten für die ersten sechs Tage allerdings 1175 US-Dollar pro Tag und danach 525 US-Dollar pro Tag.3 Wenn eine Person dreißig Tage Behandlung benötigt, belaufen sich demnach die Kosten auf 19 000 US-Dollar, fast doppelt so viel wie das Jahresgehalt einer Person, die für Mindestlohn arbeitet. Auch arme Menschen haben ein Anrecht auf Zugang zu effektiven, freiwilligen Drogenentzugsprogrammen. Genau wie im Fall des Betty-Ford-Programms sollten diese Programme nicht unter Aufsicht des Strafjustizsystems stehen, und wie im Ford Center sollten sich auch die Familienmitglieder an der Behandlung beteiligen können. Aber anders als in der von Betty Ford ins Leben gerufenen Institution sollten diese Programme kostenlos sein. Jedenfalls dürfen sie, um zu den »Alternativen« gerechnet werden zu können, die zur Abschaffung des Gefängnisses beitragen, nicht mit Haft als letztem Druckmittel verbunden sein – im Unterschied zu den bereits bestehenden Programmen, zu denen die Teilnehmer:innen häufig durch Gerichtsbeschluss »verurteilt« werden. Die Kampagne zur Entkriminalisierung des Drogenkonsums – von Marihuana bis Heroin – wird auf der ganzen Welt betrieben 2  Betty Ford Center, 〈www.bettyfordcenter.org/programs/programs/index.html〉. Nicht mehr gültiger Link. 3 Ebd., 〈www.bettyfordcenter.org/programs/programs/prices.html〉. Nicht mehr gültiger Link.

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und hat Länder wie die Niederlande dazu gebracht, ihre Gesetze zu ändern und den persönlichen Konsum von Drogen wie Marihuana und Haschisch zu erlauben. Die Niederlande haben außerdem viel zur Legalisierung der Sexarbeit getan, ein weiteres Gebiet, auf dem es umfangreiche Kampagnen zur Entkriminalisierung gegeben hat. Im Bereich der Drogen und der Sexarbeit ist zur Entkriminalisierung lediglich die Außerkraftsetzung sämtlicher Gesetze nötig, aufgrund derer Menschen für den Konsum von Drogen und die Arbeit in der Sexindustrie bestraft werden. Die Entkriminalisierung von Alkohol kann hier als historisches Beispiel dienen. In beiden Fällen würde eine Entkriminalisierung bewirken, dass immer weniger Menschen ins Gefängnis kommen, und so die gegen das Gefängnis gerichtete Strategie der Entkerkerung unterstützen – mit dem Ziel, das Gefängnissystem als vorherrschende Form der Bestrafung zu beseitigen. Gleichzeitig sind alle Antigefängnisaktivist:innen aufgefordert, weitere Verhaltensweisen ausfindig zu machen, die auf dem Weg zur Abschaffung der Gefängnisse entkriminalisiert werden sollten. Ein offensichtlicher und sehr dringlicher Aspekt der Entkriminalisierungsarbeit besteht in der Verteidigung der Rechte der Einwanderer:innen. Dem – besonders seit dem 11. September zu verzeichnenden – Anstieg der Zahl von Immigrant:innen, die in Haftzentren für Einwanderer:innen sowie in Strafanstalten und Gefängnissen festgehalten werden, kann Einhalt geboten werden, indem man aufhört, Menschen dafür zu bestrafen, dass sie dieses Land ohne die erforderlichen Dokumente betreten. Die derzeitigen Kampagnen zur Entkriminalisierung von Einwanderer:innen ohne Dokumente leisten einen wichtigen Beitrag zum gesamten Kampf gegen den gefängnisindustriellen Komplex und stellen sich dem machtvollen Einfluss von Rassismus und männlicher Vorherrschaft entgegen. Wenn Frauen aus Ländern des Südens, die auf der Flucht vor sexueller Gewalt in dieses Land gekommen sind, eingesperrt werden, statt als Geflüchtete anerkannt zu werden, verstärkt dies den generellen Trend zur Bestrafung von Menschen, die – in direkter Fortsetzung nach wie vor ideologisch und rechtlich legitimierter Gewaltzusammenhänge – auch in ihrer Intimsphäre Opfer von Gewalt werden. In den Vereinigten Staaten spiegelt die jetzt vor Gericht oft bemühte Verteidigung aufgrund des »Syndroms der misshandelten Frau« den Versuch wider, klarzumachen, dass eine Frau, die einen 509

gewalttätigen Mann tötet, nicht wegen Mordes verurteilt werden sollte. Diese Verteidigung ist sowohl von Gegner:innen als auch von Anhänger:innen des Feminismus vielfach kritisiert worden. Dabei wollen Erstere nicht anerkennen, wie verbreitet und gefährlich die Gewalt gegen Frauen in Intimbeziehungen ist, während Letztere gegen diese Form der Verteidigung einwenden, dass ihre Legitimität auf der Behauptung beruht, Frauen, die ihre Peiniger töten, seien für ihre Handlungen nicht verantwortlich. Der Punkt, auf den feministische Bewegungen ungeachtet ihrer spezifischen Haltung zum Syndrom der misshandelten Frau hinweisen wollen, ist, dass Gewalt gegen Frauen ein umfassendes und komplexes soziales Problem ist, das nicht einfach durch die Einsperrung derjenigen Frauen gelöst werden kann, die sich gegen ihre Quäler zur Wehr setzen. Daher sollten wir uns auf die Entwicklung einer großen Bandbreite alternativer Strategien zum Abbau der Gewalt gegen Frauen – in persönlichen Beziehungen ebenso wie von Seiten des Staates – konzentrieren. Die Alternativen, auf die ich bis jetzt verwiesen habe – und dies ist nur eine kleine Auswahl von Beispielen, denen man noch Programme zur Schaffung von Arbeitsplätzen und Etablierung von Mindestlöhnen, Ausgleichsmaßnahmen für mittlerweile abgeschaffte Sozialprogramme, von den Gemeinden geschaffene Freizeitmöglichkeiten und Ähnliches hinzufügen kann –, stehen sowohl direkt als auch indirekt mit dem bestehenden System der Strafjustiz in Verbindung. Aber ganz unabhängig davon, in welcher Beziehung diese Alternativen zum gegenwärtigen System der Strafanstalten und Gefängnisse stehen, stellen sie alle Versuche dar, den Einfluss des gefängnisindustriellen Komplexes auf die Welt, in der wir leben, zurückzudrängen. Da sie den Rassismus und andere Netze sozialer Herrschaft bekämpfen, wird ihre Umsetzung in die Praxis auf jeden Fall zum Antigefängnisprogramm der Entkerkerung beitragen. Die Schaffung von Programmen zur Entkerkerung und die Entwicklung eines breiten Netzes von Alternativen hilft uns bei der ideologischen Arbeit, die notwendig ist, um die begriffliche Verbindung zwischen Verbrechen und Strafe aufzulösen. Ein solches nuancierteres Verständnis der sozialen Rolle des Bestrafungssystems erfordert, dass wir unsere konventionelle Sicht aufgeben, die Strafe als unvermeidliche Konsequenz von Kriminalität betrachtet. Wir könnten dann erkennen, dass die »Strafe« keineswegs so nahtlos und 510

logisch aus dem »Verbrechen« folgt, wie es von Diskursen behauptet wird, für die die Inhaftierung von Menschen »Gerechtigkeit« ist, sondern dass die Praxis der Bestrafung – vorwiegend durch Haft (und manchmal durch den Tod) – eng mit den Plänen von Politiker:innen, dem Profitstreben von Konzernen und der Darstellung von Kriminalität in den Medien zusammenhängt. Menschen kommen ins Gefängnis, weil sie einer Gruppe angehören, die auf eine Weise rassifiziert ist, dass die Wahrscheinlichkeit der Bestrafung am höchsten ist. Analoges gilt für die Klassenzugehörigkeit, und wie wir gesehen haben, unterliegt das System der Bestrafung außerdem geschlechtsspezifischen Faktoren. Wenn wir darauf bestehen, dass Alternativen, die das Gefängnis abschaffen wollen, diese Beziehungen durchkreuzen und sich bemühen müssen, die Verbindung zwischen Verbrechen und Strafe, race und Strafe, Klasse und Strafe und Geschlecht und Strafe grundlegend zu erschüttern, dürfen wir uns nicht mehr auf das Gefängnissystem als isolierte Institution konzentrieren, sondern müssen außerdem sämtliche sozialen Verhältnisse mit einbeziehen, die zur Permanenz des Gefängnisses beitragen. Der Versuch, ein neues begriffliches Terrain zur Entwicklung von Haftalternativen zu schaffen, fordert von uns die ideologische Arbeit, zu fragen, weshalb »Verbrecher:innen« zu einer Klasse für sich und sogar zu einer Klasse von Menschen gemacht worden sind, die keinen Anspruch auf die Bürger:innen- und Menschenrechte haben, die anderen Personen zugestanden werden. Radikale Kriminolog:innen haben schon seit langem darauf hingewiesen, dass die Kategorie der »Gesetzesbrecher:innen« viel umfassender ist als die Kategorie derer, die als Verbrecher:innen eingestuft werden, da wir fast alle schon einmal zu dieser oder jener Zeit gegen das Gesetz verstoßen haben. Selbst Präsident Clinton räumte ein, er habe schon einmal Marihuana geraucht, auch wenn er behauptete, er habe dabei nicht inhaliert. Aber darüber hinaus erklären bewiesene Unterschiede in der Intensität polizeilicher Überwachung – wie sie in dem derzeit geläufigen Begriff racial profiling zum Ausdruck kommen, der weitaus mehr umfassen sollte als die unter dem Stichwort driving while black or brown zusammengefassten rassistisch motivierten Verkehrskontrollen – zum guten Teil die Tatsache, dass die Festnahme- und Haftraten je nach der ethnischen oder Klassenzugehörigkeit höchst unterschiedlich sind. Wenn wir also bereit sind, die Konsequenzen eines rassistischen und gegen die Unter511

klassen gerichteten Strafjustizsystems ernst zu nehmen, kommen wir zwangsläufig zu dem Schluss, dass eine gewaltige Anzahl von Menschen sich nur deshalb im Gefängnis befindet, weil es sich bei ihnen um Schwarze, Chicanos, Vietnames:innen oder Native Americans handelt oder weil sie, ungeachtet ihrer ethnischen Zugehörigkeit, arm sind. Sie werden weniger wegen der Verbrechen ins Gefängnis gesperrt, die sie vielleicht tatsächlich begangen haben, als vielmehr deswegen, weil die Gemeinschaften, denen sie angehören, von der Gesellschaft kriminalisiert worden sind. Daher werden sich Programme zur Entkriminalisierung nicht nur mit spezifischen kriminalisierten Aktivitäten wie Drogenkonsum und Sexarbeit auseinandersetzen müssen, sondern auch damit, dass ganze Bevölkerungsgruppen und Gemeinschaften kriminalisiert worden sind. Erst vor dem Hintergrund dieser weiter gefassten, auf die Abschaffung des Gefängnisses gerichteten Alternativen ergibt es Sinn, die Frage radikaler Veränderungen innerhalb des bestehenden Systems der Strafjustiz aufzunehmen. So müssen wir uns, abgesehen von der durch zahlreiche verschiedene Strategien bewirkten Eindämmung von Verhaltensweisen, die Menschen in Berührung mit der Polizei und den Institutionen der Strafjustiz bringen, die Frage stellen, wie man mit Menschen verfahren soll, die die Rechte – und den Körper – anderer verletzen. Sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in anderen Ländern haben etliche Organisationen und Einzelpersonen alternative Formen für die Ausübung von Gerechtigkeit vorgeschlagen. In gewissem Maß haben auch schon einige Staaten versucht, Alternativen zu praktizieren, die von der Konfliktlösung bis zu einer auf Wiedergutmachung oder Entschädigung beruhenden Justiz basieren. Wissenschaftler:innen wie Herman Bianchi haben den Vorschlag gemacht, man solle Verbrechen nach dem angerichteten Schaden definieren und statt des Strafrechts ein Recht der Reparation praktizieren. Seinen Worten zufolge ist der:die Gesetzesbrecher:in »also nicht mehr ein böser Mann oder eine böse Frau, sondern einfach ein:e Schuldner:in, eine haftbare Person, die die menschliche Pflicht hat, für ihre Handlungen die Verantwortung zu übernehmen und für eine dementsprechende Wiedergutmachung zu sorgen«.4 Es gibt einen wachsenden Fundus 4 Herman Bianchi, »Abolition: Assensus and Sanctuary«, in: ders., Rene van Swaaningen (Hg.), Abolitionism. Toward a Non-Repressive Approach to Crime, Amsterdam 1986, S. 117.

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an Literatur zur Umgestaltung des Justizsystems, die sich an Strategien der Wiedergutmachung orientiert statt an Vergeltung, und außerdem gibt es mittlerweile immer mehr praktische Beweise für die Vorteile dieser Herangehensweise und die durch sie eröffneten demokratischen Möglichkeiten. Statt hier ausführlich auf die zahlreichen Debatten der letzten Jahrzehnte – darunter auch die meistgestellte Frage »Und was wird mit Mördern und Vergewaltigern geschehen?« – einzugehen, möchte ich mit der Geschichte eines der dramatischsten Erfolge solcher Versöhnungsexperimente schließen. Dabei handelt es sich um den Fall Amy Biehls, einer weißen Fulbright-Wissenschaftlerin aus Newport Beach in Kalifornien, die in Guguletu, einer schwarzen Elendssiedlung in Kapstadt in Südafrika, von jungen südafrikanischen Männern getötet wurde. Während der entscheidenden Übergangszeit Südafrikas im Jahr 1993 widmete die amerikanische Auslandsstudentin Amy Biehl einen beträchtlichen Teil ihrer Zeit dem Aufbau eines neuen Südafrika. Nelson Mandela war 1990 freigelassen, aber damals noch nicht zum Präsidenten gewählt worden. Am 25. August 1993 fuhr Biehl einige schwarze Freund:innen aus Guguletu nach Hause, als eine Hassparolen gegen Weiße schreiende Menge sich ihr in den Weg stellte und einige Personen aus der Menge sie mit Steinen und Messerstichen töteten. Vier der an diesem Angriff beteiligten Männer wurden dieses Mordes für schuldig befunden und zu 18 Jahren Haft verurteilt. Im Jahr 1997 entschlossen sich Amys Eltern, Linda und Peter Biehl, zur Unterstützung der Bitte um Amnestie, die die Täter bei der Wahrheits- und Versöhnungskommission eingereicht hatten. Die vier baten die Biehls um Verzeihung und wurden im Juli 1998 freigelassen. Zwei von ihnen, Easy Nofemela und Ntobeko Peni, trafen später mit den Biehls zusammen, die sich trotz großen Drucks von außen zu dieser Begegnung bereitfanden.5 Nofemela berichtete später, er habe ausführlicher über seine Reue über die Ermordung der Tochter der Biehls sprechen wollen, als dies bei der Anhörung vor der Wahrheits- und Versöhnungskommission möglich gewesen sei. »Ich weiß, dass Sie einen Menschen verloren haben, den sie lieben«, zitierte er später seine Äußerungen bei die5 Die Anthropologin Nancy Schepper-Hughes beschrieb diese erstaunliche Wendung der Ereignisse in einem Vortrag mit dem Titel »Un-Doing: the Politics of the Impossible in the New South Africa«, den sie am 24. September 2001 an der Universität von Kalifornien in Berkeley hielt.

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sem Treffen. »Ich möchte Sie bitten, mir zu vergeben und mich als Ihr Kind anzunehmen.«6 Nach dem Tod ihrer Tochter gründeten die Biehls die Amy Biehl Foundation, und sie baten Nofemela und Peni, für die Niederlassung dieser Stiftung in Guguletu tätig zu werden. Nofemela wurde Trainer eines nachmittäglichen Sportprogramms für Schulkinder, und Peni übernahm eine Arbeit in der Verwaltung. Im Juni 2002 begleiteten sie Linda Biehl nach New York, wo dann alle drei vor der American Family Therapy Academy über Versöhnung und Wiedergutmachung im Justizbereich sprachen. In einem Interview mit dem Boston Globe antwortete Linda Biehl auf die Frage nach ihren Gefühlen für die Männer, die ihre Tochter getötet hatten: »Ich empfinde große Liebe für sie.« Nach dem Tod Peter Biehls im Jahr 2002 kaufte sie Nofemela und Peni zum Andenken an ihren Mann zwei Grundstücke, um ihnen zu ermöglichen, sich ein eigenes Heim aufzubauen.7 Zuvor hatte man die Biehls einige Tage nach den Angriffen des 11. September gebeten, in einer Synagoge ihrer Gemeinde zu sprechen. Peter Biehl erklärte später, dass »wir versuchten, klarzumachen, dass es sich manchmal lohnen kann, zu schweigen und zuzuhören, was andere Leute zu sagen haben, und zu fragen: ›Weshalb geschehen solche furchtbaren Dinge?‹, statt einfach nur auf sie zu reagieren«.8 Übersetzt von Michael Schiffmann

6 Bella English, »Why Do They Forgive Us«, in: Boston Globe, 23. 4. 2003. 7 Ebd. 8 Gavin Du Venage, »Our Daughter’s Killers Are Now Our Friends«, in: The Straits Times (Singapur), 2. 12. 2001.

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Ruth Wilson Gilmore Was tun? […] Die folgenden Thesen – Themenvorschläge zur Verstärkung der aktivistischen Arbeit – sind ein bescheidener Versuch, uns dazu anzutreiben, in anderen Größenordnungen zu denken, indem sie sowohl die unzähligen Orte zeigen, an denen Aktivismus Wurzeln schlagen und gedeihen kann, also auch das Potential, diese zu etwas Größerem zu verbinden. Das Ergebnis dieses Abenteuers könnte einen allgemeineren und daher umfassenderen Umgang mit aktuellen Problemen in der politisch-ökonomischen Geographie beinhal­ ten. Eine andere Größenordnung könnte auch die Entwicklung innovativer sozialer und räumlicher Beziehungen und Handlungsfähigkeiten anzeigen – ebenso wie es die »Dritte Welt« und der »Panafrikanismus« für frühere Generationen getan haben. Die Verbreitung von Antigefängnisgruppen im letzten Jahrzehnt […] zeigt, dass vielen, sehr unterschiedlichen Menschen bewusst ist, dass »das Gefängnis« kein Gebäude »dort drüben« ist, sondern eine Reihe von Beziehungen, die das alltägliche Leben eher untergraben als stabilisieren. Leider bleiben viele der vorgeschlagenen Alternativen zum universalen Einsatz des Gefängnisses als Allzwecklösung sozialer, politischer und wirtschaftlicher Probleme in der Logik des Systems selbst verhaftet, so dass entsprechende Reformen den Erhalt von Gefängnissen eher stärken als lockern. In gewisser Weise hat die Professionalisierung des Aktivismus dazu geführt, dass viele engagierte Menschen derart spezialisiert und in Fördergeldabhängigkeiten gefangen sind, dass sie effektiv verlernt haben, das zu denken und zu tun, was am wichtigsten wäre. Was sind die Möglichkeiten nichtreformistischer Reformen – der Veränderungen, die letztendlich das Netz der sozialen Kontrolle durch Kriminalisierung eher entwirren, als es auszuweiten? Wenn wir uns die Tatsache zu Herzen nehmen, dass wir Orte, Dinge und Subjekte selbst schaffen, wenn auch nicht unter selbstgewählten Bedingungen, dann ist es einfacher, das Risiko einzugehen, Veränderung als etwas zu begreifen, das gleichzeitig weniger ist und länger dauert als ein einziges dramatisches Ereignis. In der 515

Tat zeigen all die Chroniken der Revolutionen, wie hartnäckige kleine Veränderungen und ganz unerwartete Konsolidierungen sich über Zeit und Raum zu genügend Gewicht summierten, um einen Bruch mit der alten Ordnung herbeizuführen. Sicherlich haben die politischen Kräfte, die die Regierungsmacht in den Vereinigten Staaten des frühen 21. Jahrhunderts innehaben, dies verstanden und jahrzehntelang darauf beharrt, bis sie gewonnen haben. Mit Beharrlichkeit zirkulieren Praktiken und Theorien und ermöglichen es den Menschen, Probleme und deren Lösungen anders zu sehen – was wiederum die Möglichkeit weiterer, manchmal innovativer Praxis schafft. Eine solche Veränderung ist nicht nur eine Verschiebung von Ideen, Vokabular oder Interpretationsrahmen, sondern vielmehr eine Veränderung in der gesamten Struktur von Bedeutungen und Gefühlen (die gelebte Ideologie oder das »Zu-Herzen-Nehmen«), durch die wir die Welt aktiv verstehen und unsere Handlungen darin verorten.1 Ideologie ist entlang ihres gesamten Kontinuums von Bedeutung, vom alltäglichen common sense (was der gegebene »Stand der Dinge« für die Menschen ist) zu Philosophien (wie Menschen sich vorstellen, woher die Kohärenz ihres Verständnisses kommt: von Jesus, Mohammed, dem Buddha, Marx, Malcolm X, dem Markt). Die Quintessenz lautet: Wenn das 20. Jahrhundert das Zeitalter des Völkermords in planetarischem Maßstab war, dann sollten wir uns vorrangig mit der Dehumanisierung auseinandersetzen, um eine Wiederholung der Geschichte zu vermeiden. Dehumanisierung bezeichnet sowohl die wohlüberlegten als auch die fanatisch rasenden und ideologischen Verschiebungen, aus denen sich die Fähigkeit einer Gruppe konstruiert, andere im Namen von Territorium, Reichtum, ethnischer Zugehörigkeit oder Religion zu vernichten. Dehumanisierung ist auch die Voraussetzung, um zu akzeptieren, dass Millionen von Menschen (manchmal auch man selbst) einen Teil des Lebens oder ihr ganzes Leben in Käfigen verbringen sollten. In der heutigen Welt ist Rassismus das gewöhnliche Mittel, durch das Dehumanisierung eine ideologische Normalität erreicht, während gleichzeitig die Praxis der Dehumanisierung von Men1 Vgl. Raymond Williams, The Long Revolution, New York 1961.

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schen »Rassen«-Kategorien erzeugt. Alte »Rassen« sterben – durch Vernichtung oder Assimilation, und es entstehen neue »Rassen«. Der Prozess ist aber nicht biologisch, sondern das Ergebnis tödlicher Begegnungen, die die zeitgenössische politische Kultur begründen. Diese Kultur wiederum basiert auf der Abhängigkeit des modernen säkularen Staates von der Klassifizierung, kombiniert mit dem Militarismus als Mittel, um die Kohärenz der Klassifizierung aufrechtzuerhalten. Ein Zeichen der ideologischen Umklammerung des Militarismus ist die Tatsache, dass Menschen aller Arten, die in den USA leben, glauben, dass im Allgemeinen »der Schlüssel zur Sicherheit Aggression ist«.2 Im Bereich der Feindidentifikation kommen Militarismus und Klassifizierung zusammen. »Die Japaner sind eine feindliche Rasse«, schrieb ein Streber des US-Außenministeriums im Jahr 1941 – auf dem Höhepunkt sowohl von Jim Crow als auch der allgemeinen Einberufung zum Militärdienst – als Auftakt zur Internierung von 120 000 Menschen in Konzentrationslagern im Süden und Westen. Leider erneuern sogar Aktivist:innen, die sich der antirassistischen Organisierung gewidmet haben, die Einteilungen des Alltagsverstandes, wenn sie bestimmte Arten von Menschen in eine vorgegebene Kategorie objektivieren, die dann automatisch unterdrückt ist. Was ist die Alternative? Zu verstehen, dass genau diejenigen Kapazitäten, um deren andere Verwendungsweise wir kämpfen, »Rasse« machen, und zwar indem sie einige Menschen und deren biologische und fiktive Verwandten für Kräfte verwundbar machen, die einen vorzeitigen Tod wahrscheinlich und in gewisser Weise charakteristisch werden lassen. Die gegenwärtige Rassifizierung der Muslim:innen erfüllt eine doppelte Aufgabe, nämlich zum einen einen Feind zu etablieren, dessen Sein durch die Behauptung einer unveränderlichen Herkunft projiziert werden kann (was die Fiktion der Rasse im Grunde genommen bestenfalls ist), und zum anderen die Normalität der rassifizierten Ordnung der US-Politik zu erneuern, selbst in ihren Veränderungen. Angesichts dieser Praktiken sollte es nicht allzu überraschend sein, dass Hunderttausende von weißen Männern 2 Vgl. Omer Bartov, Murder in Our Midst: The Holocaust, Industrial Killing, and ­Representation, New York 1996; siehe auch Ruth Wilson Gilmore, »Fatal ­Couplings of Power and Difference: Notes on Racism and Geography«, in: Professional Geog­ rapher, 54/1 (2002), S. 15-24.

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ebenfalls im Gefängnis sitzen. Wenngleich man diese Männer, wie Pem Buck treffend schreibt, als eine »Reservearmee des Weißseins« verstehen kann,3 wäre ich mir da nicht so sicher – nicht, wenn das 21. Jahrhundert noch nicht ganz damit abgeschlossen hat, was ich das Zeitalter des Menschenopfers nenne. Solche Männer und ihre verschiedenen eingesperrten Brüder könnten stattdessen, wie Staughton Lynds Lucasville-Gefängnisaktivist:innen sich originellerweise nannten, die »convict race« sein, die »Sträflingsrasse«.4 Solidarität in der Gegenwart ist jedenfalls nach wie vor Voraussetzung für jede Zukunft, die weniger düster ist als das letzte Vierteljahrhundert. ZEHN THESEN

(1) Eine neue Art von Staat – ein antistaatlicher Staat – wird auf den Fundamenten des Gefängnisses aufgebaut. Der antistaatliche Staat ist von ideologischer und rhetorischer Diskreditierung jeder Handlungsmacht oder Funktion abhängig, die eine »Regierung« verwenden könnte, um das soziale Wohlergehen zu gewährleisten. Beginnend mit der Grundvoraussetzung, dass Soziallöhne in Form von Steuergeldern uns allen gehören, insofern wir sie produziert haben, können Menschen sich auf einigen politisch-geographischen Ebenen organisieren, um Ressourcen zu übernehmen und sie in lebensverbessernde Zwecke umzuwandeln. (2) Kapitalist:innen sind nicht gleich ungebunden, und die Verwendung des zukünftigen Mehrwerts der arbeitenden Bevölkerung (also die Rückzahlung der öffentlichen Schulden) ist eine politische Entscheidung. Die Finanziers des öffentlichen Sektors befanden sich in den 1980er Jahren in einer Krise. Sie verfügten nämlich über wachsende Pools an investierbaren Barmitteln, sahen sich aber mit schrumpfenden Absatzmöglichkeiten konfrontiert, was nur auf politischer Ebene gelöst werden konnte. Das Problem ist also nicht die Verschuldung, sondern die Verwendung der öffentlichen Anleihen. 3 Pem Davidson Buck, Worked to the Bone: Race, Class, Power, & Privilege in Kentucky, New York 2001; vgl. auch David Roediger, Colored White: Transcending the Racial Past, Berkeley 2001. 4 Vgl. Staughton Lynd, Lucasville: The Untold Story of a Prison Uprising, Philadelphia 2004.

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(3) Ab den 1980er Jahren reduzierte die US-amerikanische Bundesregierung ihre Beteiligung an der staatlichen und kommunalen Finanzierung von Sozialprogrammen. Dadurch gab sie die Aufgabe, die Steuersenkungen des Bundes für Großunternehmen und reiche Menschen auszugleichen, an untergeordnete Verwaltungseinheiten weiter. Diese Praxis hält bis in das frühe 21. Jahrhundert an, und die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Staaten und ihren Städten und Landkreisen sind durch ein Zurückfahren geprägt (devolution). Diese Rollbacks erfordern Aufmerksamkeit für die Dynamik der Verlassenheit (abandonment) und die Möglichkeit von Aktivismus. Außerdem erfordern sie Maßnahmen, um bessere Allianzen zwischen derzeit geographisch und politisch unverbundenen verarmten Orten zu schmieden. (4) Die kompensatorische Erhebung von regressiven Steuern wie der Mehrwertsteuer und den Nutzungsgebühren hat dazu beigetragen, dass die Armen vergleichsweise höhere Kosten und weniger Dienstleistungen als ihre reicheren Nachbar:innen haben, als lokale Regierungen ihre Ressourcen abzogen und ihre Gürtel enger schnallten. Weil dieses komplizierte Durcheinander von fiskalischer Apartheid nicht die gewünschten Ziele erreicht hat, deuten bestimmte Arten von aussichtslosen Sanierungsplänen, die auf einer Fiskalisierung von Land plus Steuererleichterungen basieren, auf eine neue Regionalisierung von Produktion und Dienstleistungen hin und laden Aktivist:innen dazu ein, über Wege und Mittel nachzudenken, wie man in die Entscheidungsfindung eingreifen könnte. (5) Wähler:innen und Gesetzgeber:innen haben beschlossen, Einwanderer:innen von Sozialleistungen auszuschließen, mehr Menschen für einen Teil oder ihr gesamtes Leben ins Gefängnis zu sperren und damit ihre Chancen im öffentlichen Bildungswesen, im öffentlichen Dienst und bei staatlichen Auftragsvergaben persönlich zu beschneiden. Dieser dreigleisige Angriff auf arbeitende Menschen zeigt das Potential, um Verbindungen zwischen mi­ grantischen, gewerkschaftlichen und Antigefängnisaktivismen auszumachen. Insbesondere wenn die Gewerkschaften im öffentlichen Sektor und im Niedriglohnbereich in den letzten zwanzig Jahren die größten Fortschritte gemacht haben, werden ihre Mitglieder durch das Wachstum der Gefängnisse eingeschränkt. Gefängnisjobs sind im Vergleich zu der Menge an nichtkäfiggebundenen Be519

schäftigungen gering, wenn die Investitionen des öffentlichen Sektors in soziale Güter wie Schulen, Parks, Museen und öffentliche Verkehrsmittel maximiert werden. (6) An einem Ort, an dem die Forschung eigentlich andere Ergebnisse nahelegte, hat Mothers ROC5 eine Organisation aufgebaut, die die Gründung und das Wachstum noch größerer Organisationen antrieb. Die Fähigkeit, soziale und räumliche Grenzen zu überwinden, verdankte sich der Nutzung der ideologischen Macht der Mutterschaft durch die Mothers, um die Legitimität des sich wandelnden Staates herauszufordern. Dieser Aktivismus, der in früheren Zyklen antirassistischer Arbeit dieser Frauen als auch vorangegangener Generationen verwurzelt ist, zeigt, wie die Nutzung des Vertrauten die Möglichkeit der Identifikation durch die Gestaltung zielgerichteten Handelns mithilfe ständiger Revision eröffnet. (7) Die direkte Beziehung von Mothers ROC zum Staat war nicht die von Bittsteller:innen um einen Anteil am verfügbaren Soziallohn, sondern stand in Bezug auf die Lebenschancen der Familienmitglieder der Mütter und ihresgleichen eher im Gegensatz zu Form und Zweck des Staates. Indem wir die allgemeinen Details dieses Antagonismus durchdenken, können wir sehen, wie andere Arten von Oppositionen möglich werden. Solche kreativen Antworten öffnen dann den Weg zu neuen Solidaritäten, die auf der Anerkennung der lebensbedrohlichen Schäden basieren, die neue und alte rassistische Strukturen in allen Arten von Haushalten aller rassifizierten Menschen und Ethnizitäten produzieren. (8) Die Orte, an denen Gefängnisse gebaut werden, haben viele Gemeinsamkeiten mit den Orten, aus denen Gefangene kommen. Ländliche Gemeinden, deren Wirtschaft seit mehr als zwanzig Jahren stagniert, haben nicht wie erwartet von Gefängnissen profitiert; vielmehr müssen sie weiter um die gleichen Möglichkeiten und den gleichen Schutz kämpfen, wie sie die Mütter in der Stadt für ihre biologischen und fiktiven Verwandten wollen. Diese vergessenen Orte und ihre urbanen Pendants können als eine gemeinsame politische Welt verstanden werden – verlassen, aber kaum besiegt. 5 Mothers Reclaiming Our Children ist eine 1992 in Kalifornien gegründete Graswurzelorganisation, in der sich Mütter of color gegen die ungerechtfertigte Einsperrung ihrer Söhne zur Wehr setzen. Ruth Wilson Gilmore beschäftigt sich mit dem Aktivismus der Mothers ROC in Kapitel 5 ihres Buches Golden Gulag. [Anm. d. Hg.]

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(9) Rassismus ist die staatlich sanktionierte und/oder extralegale Produktion und Ausbeutung einer gruppendifferenzierten Anfälligkeit für einen vorzeitigen Tod (vulnerability to premature death). Die Gefängniserweiterung ist eine neue Iteration dieses Themas. Gefängnisse und andere lokal unerwünschte Landnutzungen beschleunigen die Sterblichkeit gering gebildeter Arbeiter:innen aller Art in städtischen und ländlichen Umgebungen. Sie zeigen, dass ökonomische und ökologische Gerechtigkeit zentrale Elemente des Antirassismus sind. (10) Macht ist kein Ding, sondern eine Fähigkeit, die sich aus aktiven und sich verändernden Beziehungen zusammensetzt, die eine Person, Gruppe oder Institution in die Lage versetzen, andere zu zwingen, Dinge zu tun, die sie von sich aus nicht tun würden (wie glücklich sein, Steuern zahlen oder in den Krieg ziehen). Normalerweise konzentrieren sich Aktivist:innen darauf, die Macht zu übernehmen, als ob das gesamte politische System wirklich eine Frage von »sie« (Struktur) gegen »uns« (Handlungsfähigkeit) wäre. Aber wenn die Struktur-Handlungsmacht-Opposition der Realität nicht wirklich entspricht, ist Politik vielleicht komplizierter und daher für hoffnungsvolleres Handeln offen. Menschen können Macht herstellen und tun dies auch, zum Beispiel durch die Entwicklung von Fähigkeiten in Organisationen. Aber das ist nicht genug, denn alles, was eine einzelne Organisation allein tun kann, ist, den Weltuntergang leicht zu justieren. Wenn die Fähigkeiten, die aus zielgerichtetem Handeln resultieren, zu Zwecken zusammengefasst werden, die größer sind als irgendwelche Grundsatzerklärungen oder andere vorläufige Beschränkungen, beginnen mächtige Verbindungen, den Boden zu erschüttern. Mit anderen Worten, es bewegt sich etwas. Übersetzt von Mihir Sharma

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Mimi E. Kim Über Kritik hinausgehen. Kreative Interventionen und Rekonstruktionen kollektiver Verantwortungsübernahme Im Sommer 2006 wurde ein Trommellehrer aus Südkorea eingeladen, einen einwöchigen Trommelworkshop in einem koreanischen Kulturzentrum in Oakland, Kalifornien, zu geben.1 Er stand als Lehrer innerhalb einer anerkannten Tradition von Trommler:innen, in der das Dorfleben mit einer radikalen antistaatlichen Politik in Korea verbunden wurde. Durch koreanisch-amerikanische Pilgerfahrten in das koreanische Heimatdorf und Einladungen an Lehrer:innen, verschiedene Trommelgruppen überall in den Vereinigten Staaten zu besuchen, waren vertrauenswürdige Verbindungen zu dieser koreanischen Institution hergestellt worden. Nach einem Abend mit gemeinsamem Singen, Geschichtenerzählen und Trinken – die üblichen Festivitäten, die einen Tag voller intensiver Trommelübungen begleiten – blieben manche Schüler:innen über Nacht, um sich für den nächsten Tag zu erholen. Über zwei Jahrzehnte hatte das Kulturzentrum eine sichere, gender- und generationenübergreifende Umgebung geschaffen, einen Zufluchtsort für das Lernen von koreanischer Trommelkunst und Tanz, gemeinschaftlicher Performance und einem fortlaufenden kulturellen und politischen Austausch zwischen Herkunftsland und der Diaspora. In jener Nacht wurde diese Sicherheit zerstört, als der Trommellehrer eine seiner Schülerinnen sexuell belästigte. Der Übergriff wurde sofort im kleinen Gebäude kommuniziert, und die Leiter:innen des Zentrums arrangierten schnell ein Treffen zwischen den Mitgliedern und dem gemeinschaftlich organisierten Vorstand. Am nächsten Tag versammelten sich Mitglieder am Kulturzentrum, um den Übergriff zu verurteilen und das Opfer der Gewalt zu unterstützen. Das Opfer lehnte in dieser Situation kategorisch ab, sich selbst als »Überlebende« (survivor) zu bezeichnen. Sie empfand erstere Be1 Diese Geschichte ist eine Adaption von Liz’ Geschichte »Kicking Ass«, die auf der Website vom StoryTelling and Organizing Project (STOP) verfügbar ist, siehe 〈https://www.creative-interventions.org/stories/strories/〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022.

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zeichnung als eine passendere Beschreibung ihrer Erfahrung sexueller Gewalt. Liz, zum Zeitpunkt des Übergriffs die Präsidentin des Kulturzentrums in Oakland, erinnert sich an das Treffen am nächsten Tag: Als wir ankamen, fiel der Lehrer vor uns auf seine Knie, was ein Zeichen tiefsten Respekts ist. Und dann fragte er uns, flehte uns an, nichts seiner Organisation zu Hause zu sagen. Wir sagten, dass wir das nicht tun könnten. »Wir sind nicht hier, um uns deine Entschuldigung anzuhören. Wir sind hier, um dir zu sagen, was passiert ist, was wir tun werden, und das ist alles.« Er nahm seinen Trommelstock und zerbrach ihn, ein Zeichen großer Reue. Er legte ihn auf den Boden, als wollte er suggerieren: »Ich gebe dafür das Trommeln auf.« Die meisten von uns waren angewidert.

Was folgte, war eine Reihe von Workshops zur Sensibilisierung gegenüber sexuellen Übergriffen für Mitglieder des Kulturzentrums und andere, nahestehende Trommelgruppen. Ein unmittelbarer Telefonanruf bei der Leitung der koreanischen Trommelinstitution löste einen tiefen Schock aus und zog eine bedingungslose Entschuldigung nach sich. Danach wurde ein Brief mit einer Liste von Forderungen verschickt. Die Organisation in Oakland verlangte, dass die koreanische Institution Sensibilisierungsschulungen zu sexuellen Übergriffen für ihre gesamte Mitgliedschaft etablierte, die von Student:innen bis hin zu älteren Bäuer:innen im Dorf reichten mit der Verpflichtung, mindestens eine weibliche Lehrerin in zukünftigen Austauschprogrammen mit den Vereinigten Staaten zu entsenden. Sie verlangte, dass der Lehrer für einen Zeitraum von zunächst sechs Monaten von seiner Führungsposition zurücktritt und an feministischen Therapiesitzungen teilnimmt, in denen der Übergriff direkt angesprochen wird. Das traditionelle Verhältnis der Ehrerbietung gegenüber geschätzten Lehrer:innen und der Lehrinstitution verschob sich, als die Organisation aus Oakland die geläufige Praxis der sexuellen Belästigung und Übergriffe in Frage stellte. Die Organisation nahm auch Kontakt zu einer progressiven Schwestertrommelgruppe in Seoul auf. Diese Gruppe hatte sich mit sexuellen Übergriffen auf eine Weise auseinandergesetzt, die ihre zutiefst demokratischen Werte widerspiegelte. Ihre einhundert Mitglieder hatten sich kollektiv organisiert, um einen sexuellen Übergriff anzusprechen, der sich unter ihren Mitgliedern ereignet 523

hatte. Die Person, die den Übergriff begangen hatte, durchlief einen umfangreichen Prozess mit den Leiter:innen und Mitgliedern der Gruppe. Nachdem er die Organisation verlassen hatte, postete er eine öffentliche Entschuldigung auf ihrer Website und unterhielt weiterhin Beziehungen zu Mitgliedern der Trommelgruppe. Inspiriert von dieser Geschichte kollektiven Handelns und ihren konkreten Ergebnissen, setzte die Organisation in Oakland Maßnahmen um, die das übliche Schweigen und die Schuldzuweisungen an Opfer, die mit sexuellen Übergriffen einhergehen, umdrehten. Das jährliche Festival im Oktober war der Heilung von sexueller Gewalt gewidmet. Fakten bezüglich des Vorfalls wurden im Programmheft veröffentlicht und als Teil des abendlichen Festes geteilt. Das war nicht als Bloßstellen gedacht, auch wenn der Lehrer sich vielleicht dadurch angegriffen gefühlt haben mag. Vielmehr war es als eine Aufforderung an die community gedacht, kollektive Verantwortung für die Abschaffung der Bedingungen zu übernehmen, die Gewalt aufrechterhalten, einschließlich der Kompliz:innenschaft durch Schweigen. Diese Geschichte offenbart schmerzhafte Lektionen über von community ausgehende Gewalt und die Grenzen unserer kollektiv geführten Aufarbeitungsprozesse. Das koreanische Kulturzentrum trat geschlossen mit einer einheitlichen Antwort gegen die Gewalt auf, spaltete sich aber im Verlauf des Aufarbeitungsprozesses. Während der langwierigen Phase der institutionellen Reflexion und des Engagements wurden die Energie und der Geist der Organisation sowie die Freundschaften, die sie zusammengehalten hatten, ausgelaugt. Das Opfer kehrte nie zurück. Koreanisch-amerikanische Besucher:innen, die an den Trommelveranstaltungen in Südkorea teilnahmen, betrachteten die fortwährende Präsenz des Lehrers mit Ärger und Misstrauen. Seine schlussendliche Entlassung aus der Institution führte nicht zwangsläufig zu dem Gerechtigkeitsgefühl, das die Leute sich erhofft hatten. Liz, die Präsidentin des Zentrums, reflektierte weiter über die Reihe der Ereignisse und die Ungewissheiten, die mit dem Prozess der kollektiven Verantwortungsübernahme einhergehen: Einige Leute haben uns später gefragt, warum wir nicht die Polizei gerufen haben. Daran hat niemand auch nur einen Gedanken verschwendet. Ich weiß, dass ein paar Leute – ihre engen Freund:innen – versucht haben einzubrechen, um ihm in den Arsch zu treten, aber sie konnten ihn nicht

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erwischen. Zum Glück haben sie das nicht getan. Zum Glück für ihn und auch die Organisation, denn ich denke, wenn sie es getan hätten, wäre [es] ein … Durcheinander gewesen. Nun, ich will nicht zum Glück sagen, denn das Opfer hatte sogar irgendwann das Gefühl, dass »wir ihm vielleicht einfach in den Arsch hätten treten sollen. Jetzt fühle ich mich, als ob ich nichts habe. Ich habe keinen Polizeibericht. Wir haben ihn nicht in den Knast geworfen … wir haben nichts getan«. Wir haben mit ihr geredet und gesagt: »Wir haben nichts in die Wege geleitet, ohne deine Zustimmung.« Wir haben gefragt: »Was können wir dir sonst anbieten?« Wir boten ihr an, zur Beratung und Therapie zu gehen. Wir boten ihr alles an, was wir zu dieser Zeit tun konnten. Im Nachhinein wünschte ich, dass wir uns mehr Zeit genommen hätten, sie zu umarmen und sie stärker einzubinden.

Diese Geschichte untersucht die Rolle von Zwang und Gewalt sowie unsere Reaktion auf Gewalt. Die Verzweiflung über einen langen und komplexen Prozess der Verantwortungsübernahme spornte Diskussionen über die potentiellen Vorteile einer gewaltvollen Vergeltung unter den Mitgliedern der Organisation in Oakland an. Liz dachte über die aufschlussreiche Bemerkung eines Mitglieds nach, als sie die Zweckmäßigkeit von Gewalt erwogen: »Das war es, was der Lehrer wollte. Er wollte das. Als er diese Entschuldigung vorbrachte, sagte er nicht unbedingt ›Schlagt mich zusammen‹. Aber er sagte ›Macht mit mir, was ihr wollt, ich habe es verdient‹. Auf diese Weise kann er, sobald du etwas getan hast, weggehen und sagen ›Okay, ich bin hier fertig, mein Gewissen ist rein, ich gehe. Sie haben schon alles gemacht, was sie tun konnten‹.« Manche fürchten vielleicht am meisten eine gewalttätige Reaktion, andere hingegen könnten eine schnelle, aber symbolisch dramatische Heimzahlung begrüßen. »Jemanden in den Arsch zu treten«, ein bekanntes Symbol von gemeinschaftlichem Zorn, kann auch Ersatz für einen Reparations- und Veränderungsprozess sein.

Kreative Interventionen: Über Kritik hinausgehen Alternativen im neuen Jahrtausend abstecken Während dieser Vorfall passierte, war die Entwicklung von Creative Interventions (CI) schon auf dem Weg. Inspiriert von einer sozialen Bewegung, die sich gegen geschlechterspezifische Gewalt rich525

tete – und die durch die historische Color of Violence Conference 2000 in Santa Cruz und die Critical Resistance Conference 1999 in Berkeley mit neuem Leben erfüllt worden war –, formulierten viele von uns eine Kritik an institutionellen Reaktionen auf Gewalt und gingen dann über sie hinaus, um neue institutionelle Räume für community-basierte Antworten auf interpersonelle Gewalt zu schaffen und zu fördern. Diese Konferenzen kritisierten das Gefüge von Rechtsmitteln gegen häusliche Gewalt und sexuelle Übergriffe. Bestehend aus Krisentelefonen, Beratungsstellen, Rechtsbeistandsprogrammen und einem System strafrechtlicher Reaktionen auf geschlechterspezifische Gewalt, verfolgte es einen individualisierten, sozialdienstlichen Ansatz hin zur Unterstützung von Gewaltbetroffenen und eine polizierende Reaktion gegenüber Menschen, die Gewalt ausüben.2 Diese soziale Bewegung, so schien es, hatte sich durch eine Professionalisierung demobilisiert und war durch eine Strategieverfolgung deradikalisiert worden, die auch von vielen Befürworter:innen des Neoliberalismus vertreten wurde und sich vor allem durch die Kriminalisierung der Täter:innen auszeichnete.3 Ich war an verschiedenen community-basierten Interventionen gegen geschlechterspezifische Gewalt innerhalb von progressiven Organisationen beteiligt oder durfte ihnen beiwohnen. Diese von communities vorangetriebenen Bemühungen entsprangen einer politischen Haltung, die Polizeibeteiligung misstrauisch betrachtet, sowie der pragmatischen Erkenntnis, dass die verfügbaren instituti2 Vgl. Anannya Bhattacharjee, »Private Fists and Public Force. Race, Gender, and Surveillance«, in: Jael Silliman, Anannya Bhattacharjee (Hg.), Policing the National Body. Race, Gender, and Criminalization, Boston 2002, S. 1-54; Kimberlé Crenshaw, »Mapping the Margins. Intersectionality, Identity Politics, and Vio­ lence against Women of Color«, in: Martha Albertson Fineman, Roxanne Myktiuk (Hg.), The Public Nature of Private Violence, New York 1994, S. 93-118; Mimi E. Kim, »Alternative Interventions to Intimate Violence. Defining Political and Pragmatic Challenges«, in: James Ptacek (Hg.), Restorative Justice and Violence Against Women, New York 2010, S. 193-217; Andrea J. Ritchie, »Law Enforcement Violence against Women of Color«, in: The Incite! Collective (Hg.), Color of Violence. The INCITE! Anthology, Cambridge 2006, S. 138-156. 3 Vgl. Kristin Bumiller, In an Abusive State. How Neoliberalism Appropriated the ­Feminist Movement Against Sexual Violence, Durham 2008; Andrea Smith, »Beyond Restorative Justice. Radical Organizing against Violence«, in: James Ptacek (Hg.), Restorative Justice and Violence Against Women, S. 255-278.

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onellen Mittel nicht zu den gewünschten Ergebnissen führen würden. Ich hatte aktiv in einer Reihe von Organisationen, die dafür geschaffen worden waren, Hilfsmittel gegen geschlechterspezifische Gewalt vor allem innerhalb migrantischer communities anzubieten, gearbeitet und diese mit aufgebaut. Trotzdem erkannte ich, dass unsere Ansätze immer noch nicht die nachhaltigen Lösungen anboten, die unsere communities brauchten. Restaurative Gerechtigkeitsreaktionen auf geschlechterspezifische Gewalt wurden in einem begrenzten Umfang in Neuseeland, Australien und Kanada entwickelt, waren aber in den Vereinigten Staaten selten und blieben überraschenderweise außerhalb des Anwendungsbereichs von Antigewaltprogrammen.4 Wo sie benutzt oder vorgeschlagen wurden, betrachteten Antigewaltakti­ vist:innen alternative Gerechtigkeitsansätze mit Misstrauen und offener Feindseligkeit. Sie fürchteten oft um die Sicherheit der Betroffenen, die in rechtlichen Verfahren anfällig dafür sind, sich unter Druck zu versöhnen, oder deren Verletzungen oft mit bloßen Entschuldigungsbekundungen abgetan werden.5 Radikalere Kritiker:innen merken an, dass Praktiken der restaurativen Gerechtigkeit eine Alternative oder Abweichung innerhalb eines Rahmenprozesses anbieten, der immer noch vom Strafsystem bestimmt wird.6 Den Frustrationen, die viele in der Bewegung gegen Gewalt und anderen Bereichen der sozialen Gerechtigkeit teilten, wurde durch die von INCITE! Women of Color Against Violence entwickelte Kritik eine Stimme und Form gegeben. INCITE! ging aus der ­Color-of-Violence-Konferenz, Critical Resistance, der Organisation zur Abschaffung von Gefängnissen, und der Generation Five, die das Konzept der transformativen Gerechtigkeit als eine Antwort auf sexuellen Kindesmissbrauch entwarf, hervor. Eine enthusiastische Suche nach Alternativen, die geschlechterspezifische und staatliche Gewalt in Frage stellten, ergab jedoch eine überraschend 4 Vgl. Heather Strang, John Braithwaite (Hg.), Restorative Justice and Family Violence, Cambridge 2002. 5 Vgl. Donna Coker, »Anti-Subordination Processes in Domestic Violence«, in: Strang/Braithwaite (Hg.), Restorative Justice and Family Violence, S. 128-152; dies., »Enhancing Autonomy for Battered Women. Lessons from Navajo Peacemaking«, in: University of California Los Angeles Law Review, 47/1 (1999), S. 42-50. 6 Vgl. Smith, »Beyond Restorative Justice«.

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kleine und uninspirierende Anzahl an Beispielen.7 Die Reproduktion von Ermittlungsverfahren, victim-blaming und abstrafende Reaktionen, die Aspekten des US-Strafrechtssystems ähneln, war enttäuschend und eine schockierende Erkenntnis für diejenigen von uns, die nach befreienden Modellen suchten. In den ersten Jahren nach der Gründung von INCITE! und Critical Resistance waren unsere vorgeschlagenen Alternativen ­ größtenteils polemisch und verfügten über wenig konkrete Beispiele. Doch im Laufe des Jahrzehnts begannen basisdemokratische Antigewaltorganisationen und Kollektive vielversprechende Praxiskategorien zu entwickeln – kollektive Verantwortungsübernahme, community-basierte Alternativen und transformative Gerechtigkeit –, die sich überschneidende Möglichkeiten progressiver Prinzipien boten und in ihrer Kritik an Institutionen vereint waren, die von der Bewegung gegen Gewalt seit Mitte der 1970er Jahre aufgebaut worden waren. Diese Praktiken fanden bei Aktivist:innen, Anwält:innen und alltäglichen Menschen Anklang, die Lösungen für Gewalt, einschließlich geschlechterspezifischer Gewalt, in ihren communities finden wollten. Viele von ihnen suchten nach Beispielen, wie diese Alternativen aussehen könnten. Die Gründung von Creative Interventions im Jahr 2004 wurde sowohl von der Enttäuschung über das Versagen progressiver communities bei der Bekämpfung von Gewalt in den eigenen Reihen als auch von positiven Mandaten einer neu belebten Bewegung gegen Gewalt angetrieben. Um den Mangel an Alternativen mit durchdachteren und pragmatischeren Modellen, Hilfsmitteln und Beispielen zu beseitigen, die vielleicht darstellen können, was eine community-basierte Antwort auf Gewalt ausmacht, organisierte CI seine Aktivitäten um Projekte herum, die darauf abzielten, Wissen und Praktiken in einer scheinbar riesigen Unbekanntheit aufzubauen.

7 Siehe hierzu INCITE! Women of Color Against Violence/Critical Resistance, »Vergeschlechtlichte Gewalt und der Prison-Industrial-Complex«, in: Daniel Loick (Hg.), Kritik der Polizei, Frankfurt/M., New York 2018, S. 267-278 zu den Ergebnissen eines INCITE!-Women-of-Color-Against-Violence-Arbeitsgruppentreffens über Verantwortungsübernahme durch communities, das 2002 stattfand.

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Kollektive Verantwortungsübernahme durch Geschichtenerzählen wiederentdecken: Das StoryTelling & Organizing Project (STOP) CI hoffte, dieses Vakuum mit zwei Projekten zu füllen. Liz’ Geschichte über sexuelle Gewalt in der koreanischen Gemeinschaft wurde durch das StoryTelling & Organizing Project (STOP)8 oder das, was ursprünglich als National Story Collecting Project9 bekannt war, bewahrt und weitergegeben. Dieses Projekt sammelt und dokumentiert Geschichten über kollektive Verantwortungsübernahme und präsentiert sie als alternative Informationsquellen, um communities darüber zu informieren, was Menschen getan haben, wie sie intervenierten und welche Lehren sie zogen. Der Vorgang des Sammelns, Dokumentierens und Anhörens von Geschichten ist auch ein Mittel, um communities so zu organisieren, dass Handeln und Geschichten hervorgebracht werden, die aufeinander aufbauen und ihre Fähigkeiten stärken, interpersonelle und staatliche Gewalt anzugehen. Grundlegend für dieses Projekt ist die Überzeugung, dass Verantwortungsübernahme durch die community nicht nur eine vorübergehende Innovation ist, sondern alltägliche Denk- und Handlungsweisen widerspiegelt, die in communities seit Generationen praktiziert werden. Das Scheitern unserer Vorstellungskraft gründete nicht in einem Mangel an Beispielen, sondern in einer Abwertung von community-basiertem Handeln. Unweigerlich würde eine öffentliche Diskussion über das Konzept der Verantwortungsübernahme durch communities zu persönlichen Geschichten und Erfahrungen führen, die dem Kriterium dessen entsprachen, was CI »community-basierte Interventionen gegen interpersonelle Gewalt« nennt. Kollektive Reaktionen auf Gewalt – geplant oder spontan, erfolgreich oder gescheitert, angeführt von Betroffenen von Gewalt oder von anderen und unter Verwendung eines Kontinuums 8  STOP, 〈https://www.creative-interventions.org/stories/〉 (letzter Zugriff 6. 1. 2022) ist ein kollektives Ablegerprojekt mit Partnerorganisationen. Unter den Mitgliedern, die STOP kollektiv vorantreiben, ist CI. 9 Vgl. Rachel Herzing, Isaac Ontiveros, »Making Our Stories Matter. The StoryTell­ ing & Organizing Project«, in: Ching-In Chen u. a. (Hg.), The Revolution Starts at Home. Confronting Intimate Violence within Activist Communities, Oakland 2011, S. 207-216.

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von Taktiken, das meistens die eine oder andere Form von Zwang oder angedrohter Gewalt beinhaltet – waren nicht unüblich. Viele hatten sich mithilfe ihrer eigenen kreativen Methoden mit Gewalt auseinandergesetzt, weil sie spürten, dass konventionelle Angebote oder die Polizei entweder nicht verfügbar oder ungeeignet waren. Was diese vielfältigen Geschichten verbindet, ist, dass die Gewalt versteckt blieb und verschwiegen wurde, selbst von denjenigen, deren Leben sich durch diese Taten dramatisch verändert hatte. Tatsächlich ergab die Suche nach schriftlicher Dokumentation solcher Reaktionen eine Leerstelle. Interventionen gegen Gewalt beschränkten sich auf Antigewaltinstitutionen, die aus einer zunehmend bürokratischen Bewegung und systemischen Antworten bestand, einschließlich einstweiliger Verfügungen, Verhaftungen und verschärfter strafrechtlicher Sanktionen gegen geschlechterspezifische Gewalt. Die Geschichten von STOP drehen das dominante Paradigma um, indem sie Geschichten über Gewalt in den Vordergrund stellen, die in den Sphären des Häuslichen, der Familie, der Freundschaft, Arbeit und community stattfinden. Sie adressieren, reduzieren, beenden oder verhindern Gewalt durch kollektives Handeln, das vielleicht niemals die Institutionen einbezieht, die man normalerweise mit Interventionen gegen Gewalt assoziiert. Liz’ Geschichte inspirierte andere dazu, sich vorzustellen, wie kollektive Bemühungen aussehen könnten, und zeigte, dass communities Traditionen der stillschweigenden Akzeptanz von geschlechterspezifischer Gewalt überkommen, eine öffentliche Antwort formulieren und institutionelle Veränderung verlangen können. Diese Geschichte und viele andere, die von STOP veröffentlicht wurden, verdeutlichten die Versprechen und Probleme, die später die Bemühungen vor Ort von CI charakterisieren sollten; ein Modell und Hilfsmittel zu entwickeln, die fähig waren, community-basierte Interventionen gegen Gewalt durch ihr Pilotprojekt, das Community-Based Interventions Project, zu unterstützen. Diese Geschichte inspirierte andere, über Rhetorik hinauszugehen und sich vorzustellen, wie Bemühungen der eigenen community aussehen könnten. Communities könnten stille Akzeptanz hinter sich lassen und auf Verbindungen über die Diaspora hinweg aufbauen, um Solidarität und konkrete Lehren anderer Organisationen aufzuzeigen. Dies ist eine Geschichte von vielen, die das zweite Projekt von CI beflügelte. 530

Die Rekonstruktion von Praktiken der kollektiven Verantwortungsübernahme: Das Community-Based Intervention Project Das Community-Based Intervention Project ist eine Pilotstudie, die sich zum Ziel gesetzt hat, ein Modell und eine Reihe von Hilfsmitteln zu entwickeln, die von Familien, Freund:innen, Arbeitskolleg:innen und community-Mitgliedern benutzt werden können, um bei interpersoneller Gewalt zu intervenieren.10 Obwohl es sich auf geschlechterspezifische Gewalt, einschließlich häuslicher Gewalt und sexueller Übergriffe, konzentrierte, war seine Anwendung auch für andere Formen interpersoneller Gewalt von Bedeutung. CI und vier andere, hauptsächlich von Migrant:innen gegründete Programme zu häuslicher Gewalt und sexuellen Übergriffen in der San Francisco Bay Area konzipierten es als kollaboratives Projekt.11 Mitglieder des Interventionsteams trafen sich bezüglich 23 Gewaltsituationen und arbeiteten direkt mit über 100 Menschen, die in die Gewaltintervention eingebunden waren. Das Team bestand aus sieben regulären Mitgliedern und einer:m zusätzlichen Gutachter:in, der:die sich seit langem gegen Gewalt einsetzte und einer progressiven Politik verpflichtet war. Alle Mitglieder waren people of color. Im Gegensatz zu vielen konventionellen Gewaltinterventionsteams besteht diese Gruppe aus Menschen, die umfangreiche Erfahrung mit Betroffenen geschlechterspezifischer Gewalt haben, und anderen, die mit gewaltausübenden Menschen arbeiteten (zwei von ihnen hatten selbst Gewalt ausgeübt). Es war entscheidend für eine Organisation, die von Menschen gegründet wurde, die sich mit den Gewaltbetroffenen identifizierten, andere einzubeziehen, die umfangreiche Erfahrung und das Engagement mitbrachten, mit gewaltausübenden Menschen zu arbeiten. Das Projekt schätzte und 10 Vgl. Kim, »Alternative Interventions«. 11 Die vier Bay-Area-Organisationen sind Asian Women’s Shelter, ein Frauenhaus für misshandelte asiatische Immigrant:innen und geflüchtete Frauen und Kinder; Shimtuh, ein koreanisches Programm gegen Gewalt und sexuelle Misshandlung, das ein Projekt des Korean Community Center in der East Bay ist; Narika, eine Organisation, die sich gegen häusliche Gewalt in der südasiatischen Gemeinde einsetzt; und La Clinica de la Raza, eine Latinx-Gesundheitsorganisation, die Hilfe und Organisationsmöglichkeiten gegen häusliche Gewalt anbietet. Mitglieder der Interventionsgruppe sind Sutapa Balaji, Leo Bruenn, Juan Cuba, Rachel Herzing, Isabel Kang, Mimi E. Kim und Orchid Pusey.

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diskutierte offen die Inklusion von Mitgliedern des Interventionsteams, die Gewalt ausgeübt hatten und die aktive Verantwortungsübernahme in ihrem persönlichen und beruflichen Leben übernahmen. Diese Mischung aus Erfahrung und Orientierung trug dazu bei, einen multidimensionalen Ansatz zur Gewaltintervention zu schaffen, der sich dem »Holismus« verschrieben hat – der Berücksichtigung verschiedener Perspektiven, inklusive der von Gewaltbetroffenen, von Verbündeten aus der community und im Rahmen dieses Prozesses auch von gewaltausübenden Menschen. Dieses Pilotprojekt war für CI von zentraler Bedeutung, blieb aber weitgehend außerhalb der Öffentlichkeit, um das Vertrauen der Teilnehmer:innen zu bewahren.12 Das war von CI-Seite aus notwendig, um ein potentiell kontroverses Projekt ausreifen zu lassen, und entsprach dem Wunsch, ausreichend Erfahrung zu sammeln, damit die Ergebnisse aussagekräftig wurden. Obwohl jede Situation zutiefst einzigartig war, wurde davon ausgegangen, dass bestimmte allgemeingültige Schlüsse über die Zeit und über verschiedene Bedingungen hinweg gezogen werden konnten. In diesem Projekt wurde versucht, ein Modell und Hilfsmittel zu entwickeln, die nicht von der Existenz von Organisationen oder Institutionen abhängen, obwohl sie innerhalb eines institutionellen Rahmens eingesetzt werden können. Das Modell sollte auf mehreren Ebenen zugänglich (von Individuen bis hin zu Organisationen) und für verschiedene Stufen, Grade und Arten von Gewalt relevant sein. Letztendlich hofften wir, dass CI Ressourcen zur Verfügung stellen könnte, die als Audio-, Text- und Webformate verfügbar sind, um diejenigen zu beraten, die der Gewalt am nächsten stehen, einschließlich Betroffener, Freund:innen, Familie, Mitarbeiter:innen, community-Mitgliedern und gewaltausübenden Menschen. 12 Die Audioaufnahmen wurden mit dem mündlichen Einverständnis der Teilnehmer:innen gemacht. Die Aufnahmen und ihre Aufzeichnungen sollten den Entwicklungsprozess und die Dokumentation des Modells unterstützen. Die Teilnehmer:innen wurden nicht gebeten, irgendwelche Dokumente zu unterschreiben, da es nicht die Absicht war, die Erfahrung von konventionellen sozialen Diensten und Therapien zu reproduzieren. CI wollte auch nicht die Erfahrung der konventionellen Wissenschaft reproduzieren. Verschwiegenheit wurde mündlich zugesichert. Die Aufzeichnungen enthalten keine persönlichen Informationen und sind sicher verwahrt. Die Beispiele, die in diesem Artikel benutzt wurden, waren ausreichend allgemeingültig für eine Reihe von Situationen, um Vertraulichkeit zu garantieren.

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Ihre Interventionen sollten vorangetrieben werden, um ihre eigene kollektive Veränderung herbeizuführen. Diese Hilfsmittel können fortlaufend durch das Erzählen von Geschichten, Theater, visuelle Kunst oder andere Medien und in jeder Sprache umgestaltet werden, so dass die Gruppe oder die community am besten einbezogen werden kann. Unser Modell sollte dazu dienen, verfügbare und zugängliche Ressourcen zu ergänzen und zu ordnen, ohne auf professionelle Hilfe, Geld oder andere Mittel, die über die eigenen Kapazitäten der Gruppe hinausgehen, angewiesen zu sein. Standardisierte Hilfsmittel dienen nur als Anhaltspunkte. Wir gingen davon aus, dass diese Hilfsmittel auf eine Weise angewendet werden würden, die für jeden Kontext einzigartig ist und auf der Kultur und den Praktiken aufbaut, die den Stärken der betroffenen community bereits inhärent sind. Die von STOP gesammelten Geschichten beleuchteten die community-basierten Maßnahmen, die seit Generationen von Mitgliedern der community benutzt werden. Es lag im Interesse von CI, die entsprechenden Interventionen durch Hilfsmittel, die im Rahmen zweier ihrer Projekte entwickelt wurden, zu legitimieren und zu ihrer Effektivität und ihrem Potential für sozialen Wandel beizutragen. Natürlich bewertete CI nicht alle community-basierten Interventionen positiv. Viele der Lehren aus STOP oder dem Pilotprojekt Community-Based Interventions Project zeigen die Schwierigkeiten, die diesem Ansatz zugrunde liegen. Es reichte nicht aus, das Potential und die Möglichkeiten von community-basierten Antworten auf Gewalt anzupreisen. Für uns sind bei der Produktion von Wissen die Erfolge ausschlaggebend, aber auch das Scheitern, die Widersprüche und Herausforderungen.

Das Modell der community-basierten Intervention Das Pilotprojekt vor Ort begann mit den zentralen Annahmen und Prioritäten, die die grundlegenden Merkmale des Modells prägten. Erstens haben diejenigen die größte Motivation, die Gewalt zu beenden, die ihr am nächsten sind und am meisten Wissen über ihre Dynamiken, ihren Kontext und ihre Bestandteile haben, die zu einer Veränderung führen könnten.13 Diese intime Kenntnis, 13 Die Menschen, die der Gewaltsituation am nächsten sind, können sich auch dazu motiviert fühlen, an der Gewalt teilzunehmen. Indem Verbündete sowie

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verbunden mit dem angesammelten Wissen der Bewegung gegen Gewalt und den Innovationen von CI und anderen Organisationen, die Strategien zur kollektiven Verantwortungsübernahme verfolgen, diente als Grundlage für einen community-basierten Ansatz. Die:der Beteiligte mit der größten Motivation sollte die Intervention initiieren. Nach den Erfahrungen von CI war das normalerweise die:der Betroffene. Ein Familienmitglied, eine Freund:in oder eine »Mitstreiter:in aus der community« können die Intervention ebenfalls einleiten; die:der Betroffene muss, zumindest anfangs, nicht unbedingt beteiligt sein. Das öffnete der gewaltausübenden Person die Möglichkeit, die Intervention zu initiieren. Zweitens waren kollektive Anstrengungen effektiver und transformativer als das konventionelle Antigewaltmodell, das individuelle Ansätze in den Vordergrund stellt. Das CI-Modell ermutigt kollektives Handeln, von kleiner zu großer Beteiligung, über straff organisiert bis hin zu lose koordiniert. CI erkannte, dass viele Menschen, die zu Hilfe geholt worden waren, um Gewaltsituationen anzusprechen und aufzulösen, über mangelnde Kenntnis und Koordination verfügten. Die Ratschläge und das Handeln einer Person können denen anderer komplett widersprechen. Um effektivere Zusammenarbeit in den Vordergrund zu stellen, stützte CI sich auf und entwickelte Konzepte und Hilfsmittel, die sich aus Organisationsprozessen von communities ableiteten. Dazu gehörte ein durchdachtes Anwerben von Verbündeten, die sich in einem Team zusammenfinden können, Hinweise für eine angemessene Verteilung von Rollen, eine sinnvolle Zielsetzung und Hilfsmittel zur Unterstützung von kollektiver Entscheidungsfindung und koordiniertem Handeln. Drittens wurden die konventionellen Antigewaltbinaritäten weiblich/männlich und Opfer/Täter:in nicht starr und dogmatisch beibehalten. Auch wenn die genauen Details einer Alternative anfangs nicht offensichtlich waren und mehrdeutig bleiben, wurden die Annahmen des konventionellen Ansatzes verändert. CI versuchte, die Sprache des Strafrechtssystems nicht zu reproduzieren. Allgemeinere Begriffe wie »gewaltausübende Person« oder »gewaltverursachende Person« wurden statt Täter:in, Straftäter:in, Schläger:in Hindernisse aufgezeigt werden, werden diejenigen als Verbündete der Intervention mobilisiert, die ein aktives oder potentiell bejahendes Interesse an der Beendigung der Gewalt haben.

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oder Vergewaltiger:in benutzt. Beispielsweise würden wir in einer konkreten Gewaltsituation »Verursacher:in von sexueller Gewalt« sagen. Das gibt Raum für eine mögliche Veränderung, ohne anzunehmen, dass sie zwangsläufig passiert. In konkreten Situationen neigten wir eher dazu, den Namen der Person zu verwenden. Viertens war, obwohl die Ziele der Intervention nicht im Voraus festgelegt werden konnten, der Zielsetzungsprozess zentral für eine community-basierte Intervention. Der konventionelle Antigewaltansatz wird generell so gesehen, dass er auf die »Betroffenen fokussiert« und die Bedürfnisse und Perspektiven der Betroffenen im Mittelpunkt stehen und die Ziele der Intervention bestimmen. Im Gegensatz dazu versuchte der Ansatz von CI, die Praxis der Selbstbestimmung auf zwei Arten zu vertiefen. Erstens öffnete CI den Prozess der Zielsetzung, um eine ganze Reihe von Optionen zu erkunden, die man im Voraus vielleicht nicht kennen konnte; zweitens ermöglichte CI einen Prozess, der einen Gruppenkonsens durch das kollektive Aushandeln von Zielen bilden konnte. Es ist deswegen nicht davon ausgehen, dass die Ziele der Betroffenen alleine den Interventionsprozess antreiben würden. Und es kann nicht angenommen werden, dass der:die Betroffene oder die gesamte Gruppe konventionelle Antigewaltziele wie die körperliche Unversehrtheit oder die Abschottung von der gewaltausübenden Person priorisiert. Fünftens hat CI ein Sicherheitskonzept mit einem Risikobereitschaftskonzept verbunden.14 Diese scheinbar widersprüchliche Verbindung ist eine grundlegende Infragestellung dessen, was CI als Fetischisierung von Sicherheit innerhalb der Bewegung gegen Gewalt sieht, eine, die legitime Wünsche nach Sicherheit in Interventionen kanalisiert hat, die Notunterkünfte und Festnahmen fordert. Kurz gesagt, das Augenmerk auf die unmittelbare Sicherheit durch physische Abschottung wird oft mehr von den Regeln und Vorschriften der Notunterkünfte und den gesetzlichen Vorgaben des Strafrechtssystems angetrieben als von den Prioritäten der Gewaltbetroffenen. Sechstens ließen uns Teammitglieder mit Erfahrung bei inter14 Siehe hierzu auch den Ansatz der Risikobereitschaft bei Communities Against Rape and Assault, »Taking Risks. Implementing Grassroots Community Accountability Strategies«, in: The INCITE! Collective (Hg.), Color of Violence. The INCITE! Anthology, Cambridge 2006, S. 250-266.

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personellen Gewaltinterventionen erkennen, dass Widerstand Teil des Veränderungsprozesses ist. Man kann von gewaltausübenden Menschen nicht erwarten, dass sie einen geraden Weg von schädlichem Verhalten zu Reue und positivem Wandel nachvollziehen. Gleichzeitig war Widerstand gegen Veränderung nicht eine so fundamentale Eigenschaft von gewaltausübenden Menschen, dass Veränderung unmöglich wurde. Vielmehr würde ein community-basiertes Interventionsmodell mit Widerstand rechnen, ohne ihm zu erliegen oder zu akzeptieren, dass die üblichen Taktiken des Leugnens, Verharmlosens, Beschuldigens und Manipulierens eine Intervention zum Scheitern verurteilen. Eine zentrale Frage, die wir zu beantworten hofften, war, wie wir Widerstand antizipieren, eindämmen und hin zu Verantwortungsübernahme verschieben können. Schließlich geht CI davon aus, dass Menschen dazu bewegt werden können, zusammenzuarbeiten, um Gewalt zu beenden, auch wenn sie nicht unbedingt die radikalen politischen Antigewaltansichten von CI oder anderen Gruppen teilen, die sich mit kollektiver Verantwortungsübernahme oder transformativer Gerechtigkeit beschäftigen. Die Entwicklung von Ansätzen und Praktiken der kollektiven Gewaltintervention kann die Fähigkeit von Mitgliedern der community verbessern, sich gegen interpersonelle Gewalt, geschlechterspezifische Gewalt und andere Formen der Gewalt, einschließlich staatlicher Gewalt, zu wehren, was vielleicht zu einer befreienden Politik führen kann. Für diejenigen, die sich zu einer radikalen Politik bekennen, kann Engagement in der kollektiven Gewaltintervention politische Praxis konkretisieren und stärken. CI sah ein vermittelndes Modell vor. Die Vermittlerin sollte während der ganzen Intervention als Bezugspunkt dienen und ein gewisses Maß an Stabilität und Beständigkeit in den Prozess bringen, der leicht durch die krisenhafte Natur der Gewalt untergraben werden kann. Insbesondere die intimen Beziehungen zwischen dem:der primär Betroffenen und dem:der Verursacher:in von Gewalt sowie mit den ihnen verbundenen Menschen führen oft zu komplexen Loyalitäten, vielfältigen Perspektiven, was die Details der Gewaltausübung angeht, konkurrierenden Vorstellungen von Schuld und Schuldzuweisung und wachsenden Ängsten um die Sicherheit, je näher Menschen der Auseinandersetzung mit der Gewaltsituation kommen. 536

Entgegen der gängigen Vorstellung von der:dem Vermittler:in als einer professionellen Hilfe sind Vermittler:innen im CI Modell vertrauenswürdige Personen aus der eigenen community; sie kennen die Beteiligten der Gewaltsituation und verstehen die Gewaltdynamiken in ihrem kulturellen Kontext. Idealerweise wäre ein:e Vermittler:in weit genug von der Krisensituation entfernt, um über die Zeit hinweg für Stabilität und Beständigkeit sorgen zu können. Diese:r Vermittler:in muss keine professionelle Ausbildung haben oder in einer Antigewaltorganisation arbeiten. Obwohl nicht jede:r als kompetente Vermittler:in arbeiten kann, sollten viele community-Mitglieder in der Lage sein, diese Aufgabe zu übernehmen und die nötige Unterstützung für die Ausübung dieser Rolle durch die entwickelten Hilfsmittel des Pilotprojekts zu bekommen.

Ein Modell entwickeln Die Interventionsteams von CI nahmen etwa drei Jahre lang Anrufe entgegen und trafen sich mit allen persönlich, die ihre Unterstützung suchten. Ausgehend von den rudimentären Annahmen des Modells gestaltete CI seine Herangehensweise als Vermittlungsin­ stanz, die eine Reihe von Fragen stellt, die dazu gedacht waren, die Teilnehmenden zu ihren eigenen Lösungen zu führen. CIs Vorannahmen über die Verlässlichkeit der eigenen community, Ressourcen bereitzustellen und zum kollektiven Handeln zu ermutigen, wurden erfüllt, indem bestimmt wurde, wen die Person mitbringen wollte, die angerufen hatte. Selbst die Entscheidung, den Prozess alleine beginnen zu wollen, rief einen Prozess hervor, den CI »Verbündete finden« nennt. Im Gegensatz zu konventionellen Antigewaltressourcen, die von Gewaltbetroffenen einfordern, selbständig Kontakt mit Institutionen aufzunehmen, ermutigte der Ansatz von CI Teamarbeit mit Mitgliedern des eigenen sozialen Netzwerks. CI ging nicht davon aus, dass der:die Betroffene die erste Person sein würde, die etwas unternimmt. Betroffene waren zwar oft die Ersten, die sich an CI wandten, aber Freund:innen, Familienmitglieder und Personen aus derselben Organisation gehörten zu denjenigen, die Unterstützung von CI suchten. In einem Prozess, den CI »sich klar werden« nennt, wird die Person oder die Gruppe, die eine Intervention in Erwägung ziehen, gebeten, die bekannte Gewaltsituation, den Grad des Risikos und der 537

Gefahr, die verfügbaren Ressourcen und die noch benötigten Informationen sowie die nächsten Schritte zu spezifizieren. Dieser Prozess kann dabei helfen, die Gefühle von denjenigen zu bestärken, die von den mit Gewalt gewöhnlich einhergehenden gemischten Gefühlen überwältigt sind, und soll die Menschen dazu bringen, von Panik und Lähmung zu mehr Klarheit zu gelangen. Die Teilnehmenden wurden dazu ermutigt, diese Informationen mitzuteilen, damit ihre Situation richtig eingeschätzt und erkannt werden konnte, was passiert war und was sie erreichen wollten. An diesem Punkt konnten Menschen potentiell Möglichkeiten und nächste Schritte ausbuchstabieren, selbst wenn diese Pläne sehr simpel und unmittelbar waren. Die einzige Errungenschaft des Tages könnte demnach sein, die Sicherheit für den Abend zu gewährleisten oder Pläne zu machen, eine:n Freund:in anzurufen. Visuelle Hilfsmittel wie ein großes Whiteboard oder ein Poster, auf dem die Fakten, mögliche Verbündete und/oder Barrieren, Ziele und mögliche nächste Schritte festgehalten werden, helfen oft bei diesem Prozess. Darstellungen der Personen, die an der Gewalt beteiligt waren, und derjenigen, die ihnen helfen oder ihnen Gewalt zufügen könnten, wurden auf einem Tisch durcheinandergemischt, um die komplexen Dimensionen der Gewalt, menschliche Dynamiken und mögliche Schritte zu einer Lösung zu verdeutlichen. Das Aufgeschriebene und die Gegenstände wurden fotografiert und bei nachfolgenden Treffen zur Erinnerung an das, was diskutiert wurde und was sich über die Zeit hinweg verändert hatte, geteilt. Rollenspiele wurden zu einer regelmäßigen Praxis, wenn weitere Verbündete hinzukamen, potentielle Herausforderungen für die Sicherheit oder die Intervention auftauchten oder der Umgang mit gewaltausübenden Personen in Betracht gezogen wurde. Potentielle Barrieren, victim-blaming und feindselige Reaktionen wurden durchgespielt. Potentielle Bedrohungen für die Sicherheit wurden dargelegt, so dass Personen ihre besten Optionen in Betracht ziehen und Sicherheitsstrategien planen konnten. Personen wurden manchmal gefragt, sich Situationen zu stellen, die sie sich zuvor nicht vorgestellt hatten. Wenn andere mögliche Barrieren und Bedrohungen angesprochen wurden, wurden die Vermittler:innen und ihre Verbündeten gebeten, geeignete Reaktionen vorzuschlagen. Nach weiteren Treffen standardisierte CI die ersten Fragen und Schritte, die für den Entwurf einer Intervention gegen Gewalt hilf538

reich waren. Andere Hilfsmittel wurden benötigt, um häufige Probleme zu identifizieren und zu bewältigen, wie zum Beispiel die Zusammenarbeit mit Gruppen, die sich um eine Gewaltsituation herum bildeten, sich aber auflösten, als Meinungsverschiedenheiten auftraten. Das daraus resultierende Toolkit, das auf der CI-Website verfügbar ist,15 versucht, die Lehren in Form eines praktischen Modells und einer Reihe von Hilfsmitteln zu dokumentieren und zu teilen. Diese Hilfsmittel und Modelle sind in der Lage, die verschiedenen Gewaltsituationen, mit denen die communities konfrontiert sind, zu bewältigen. Aufgrund seines modularen und pragmatischen Stils ist es auf verschiedene kulturelle Kontexte, Lesefähigkeiten und eine Reihe politischer Zugehörigkeiten anwendbar. Als Minimalergebnis erhofften wir uns, dass wenigstens individuelle Gewaltsituationen damit verbessert werden könnten. Bei dem größeren Projekt geht es darum, kollektive Gruppen von Menschen so zu verändern, dass sie sich über communities und Regionen erstrecken. Diese erweiterten Bemühungen, der Austausch von Erfolgen und Misserfolgen über communities hinweg und die Verfügbarkeit einer wachsenden Anzahl von Modellen könnte dazu führen, dass der community-basierte Ansatz allmählich als Alternative zu konventionellen Gewaltinterventionsmitteln angenommen wird.

Gewonnene Erkenntnisse Von anderen lernen Zu den ehrgeizigen Zielen von CI gehörte die Auflösung als gemeinnützige Organisation oder 501(c)(3).16 Wir trieben uns selbst an, dauerhafte, regenerative Modelle, Hilfsmittel und Technologien 15 Siehe die Website von Creative Interventions (CI), 〈https://www.creative-inter ventions.org/toolkit/〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 16 501(c)(3) bezieht sich auf gemeinnützige NGO-Organisationen oder Verbände, die teilweise von der Einkommenssteuer befreit sind. [Anm. d. Hg.] CI hat mit einer Kritik der Institutionalisierung von sozialen Bewegungen innerhalb von gemeinnützigen Organisationen begonnen. STOP sollte als unabhängiges Projekt ausgegliedert werden, das von Individuen, Organisationen und community-Formationen betrieben wird, vor denen es bestehen muss. Mit dem Community-Based Intervention Project, dem Pilotimplementierungsprojekt, wurden ein Modell und Hilfswerkzeuge entwickelt, die für die Öffentlichkeit

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zu entwickeln, die in verschiedenen Formen über die Lebensdauer von CI hinaus fortbestehen konnten. Während der Pilotphase war die Langlebigkeit des CI-Ansatzes nicht unsere erste Priorität; stattdessen war unser Ziel, zu den anderen informellen und formellen etablierten Formationen beizutragen, die für den lokalen Kontext der community relevant waren. Wir gewannen viele Hilfsmittel durch Diskussionen mit Partner:innen dazu, die sich ebenfalls aktiv mit community-basierten Interventionen beschäftigten. Das beinhaltete die kollektiven Verantwortungsübernahmestrategien von Sista II Sista,17 Communities Against Rape and Abuse,18 die kollektiven Bemühungen von INCITE! Women of Color against Violence,19 der transformative Gerechtigkeitsbezugsrahmen von GenerationFive,20 das Kulturkontextmodell des Institute for Family Services,21 die Ansätze der Narrativtherapie des Dulwich Centre,22 die restaurative Gerechtigkeitsarbeit von Joan Penell und Gale Burford,23 die Praxis der Verantwortungsübernahme durch communities    zur Verfügung standen, ohne dass CI weiterhin gebraucht wurde. Die Gründe dafür sind unter anderem die Förderung eines community-basierten Ansatzes, der tatsächlich auf nichtinstitutionalisierte community-Formationen wie Familien, Freund:innenkreise, alternative community-Strukturen und Organisationen, religiöse Einrichtungen, Arbeitsplätze und so weiter abzielte. CI wollte außerdem das Risiko umgehen, das mit der Bildung alternativer, nichtstaatlicher Reaktionen verbunden ist, indem die Lebensdauer der Organisation begrenzt wurde, da sie irgendwann gedrängt werden könnte, sich an Finanzierungsbeschränkungen, gesetzliche Auflagen oder an andere langfristige institutionelle Anforderungen anzupassen, die die ursprünglichen Ziele der Organisation untergraben könnten. 17 Vgl. Andrea Smith, Conquest. Sexual Violence and American Indian Genocide, Boston 2005. 18 Vgl. Communities Against Rape and Assault, »Taking Risks«. 19 Vgl. INCITE!, »Gender Oppression, Violence. Community Accountability with­in the People of Color Progressive Movement«, Juli 2005, 〈https://incite-na tional.org/community-accountability-within-people-of-color-progressive-move ments/〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022; The Incite! Collective (Hg.), Color of Violence. 20 Vgl. Generation Five, Toward Transformative Justice. A Liberatory Approach to Child Sexual Abuse and Other Forms of Intimate and Community Violence, San Francisco 2007. 21 Vgl. Rhea Almeida, Tracy Durkin, »The Cultural Context Model. Therapy for Couples with Domestic Violence«, in: Journal of Martial and Family Therapy, 25/3 (1999), S. 169-176. 22 Vgl. Dulwich Centre (Hg.), Responding to Violence. A Collection of Papers Relating to Child Sexual Abuse and Violence in Intimate Relationships, Adelaide 2002. 23 Vgl. Joan Pennell, Gale Burford, »Feminist Praxis. Making Family Group Con-

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von Philly Stands Up24 und die Harm Free Zones, die von einem Kollektiv unter der Leitung von Critical Resistance in New York initiiert und später von einem Kollektiv, bestehend aus Graswurzelorganisationen in Durham, North Carolina,25 übernommen und weiterentwickelt wurden. Auf nationaler und internationaler Ebene arbeiten wir weiterhin organisations- und community-übergreifend zusammen, um eine soziale Bewegung zu stärken. Diese Bewegung besteht aus vielen Gruppen, die sich für befreiende Ansätze einsetzen, indem sie die Überschneidung von geschlechterspezifischer und staatlicher Gewalt hinterfragen.

Die Grenzen von 501(c)(3) Die Spannungen zwischen der gemeinnützigen Organisationsform und einem Projekt, das den Verzicht auf professionelle Institutionen propagiert, führten zu Innovationen wie zu Widersprüchen. Während der Pilotphase und darüber hinaus betrachteten Mitglieder der community und Organisationspartner:innen CI als Institution mit »Fachkenntnis«. Da Menschen in einer krisenhaften Situation CI um Unterstützung baten, spielten die Mitarbeitenden, die das vermittelnde Modell entwickelt hatten, unweigerlich eine aktive, zentrale Rolle als Moderator:innen in den Interventionen. Da das Modell und die Hilfsmittel nie in externer Form zur Verfügung standen, um die von den Interventionsteams entwickelten Fragen zu ergänzen, war es uns nie möglich, die Tragfähigkeit des Ansatzes außerhalb von CI vollständig zu untersuchen. Als Interventionsteam stellten wir uns regelmäßig die Frage, ob unsere Rolle auch außerhalb der Organisation eingenommen werden konnte. Kann ein:e Vermittler:in mit der Unterstützung des CI-Toolkits und anderen Hilfsmitteln diese Position übernehmen, wenn sie schlichtweg ein bestimmtes und einfühlsames Mitglied der eigenen Familie, des Freund:innenkreises oder der community ferencing Work«, in: Heather Strang, John Braithwaite (Hg.), Restorative Justice and Family Violence, Cambridge 2002, S. 108-127. 24 Vgl. Esteban Lance Kelly, »Philly Stands Up. Inside the Politics and Poetics of Transformative Justice and Community Accountability in Sexual Assault Situations«, in: Social Justice, 37/4 (2011-2012), S. 44-57. 25 Vgl. Harm Free Zone Collective, Building Harm Free Zones. An Organizing Booklet, New York o. J.

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ist? War das Toolkit ausreichend zugänglich und informativ, um zu erfolgreichen Interventionen in dem von uns beabsichtigten Umfang zu führen? Würden die Vermittler:innen zusätzliche Orientierung, Training oder laufende Unterstützung benötigen? Wenn ja, wie kann das ohne die Existenz von CI oder einer ähnlichen Institution gewährleistet werden? Und wie können wir Hilfe und Beratung anbieten, ohne Zuschreibungsfehler oder anhaltende Abhängigkeit von Expert:innen zu reproduzieren?

Das Problem der Nachhaltigkeit Viele Leute kamen zu CI, nachdem ihre eigenen Interventionen ins Stocken geraten waren. Burnout war ein häufiges Problem von Gruppen, die nach vielen Stunden und zunehmenden Meinungsverschiedenheiten scheinbar wenig erreicht hatten. Vielleicht hätte ein ausgereifteres Modell und Hilfsmittel dieses Resultat verhindern oder ein ausreichendes Maß an Erfolg erzeugen können. Gruppen neigten dazu, sich gegenseitig die Schuld zu geben, wenn es ihnen im Hinblick auf die Ziele und Ergebnisse an vollständiger Einigkeit fehlte und sie unausgesprochene Vorannahmen darüber, was zu tun war und wie, nicht umsetzen konnten. Die Leute fühlten sich oft gezwungen, dem Beispiel des:der Betroffenen zu folgen. Betroffene zögerten jedoch manchmal, die belastende Rolle zu übernehmen, während andere spürten, dass sie nicht ausreichend Informationen über die Details des Gewaltvorfalls hatten, um angemessene Entscheidungen treffen zu können. Die Angst, eine:n Gewaltbetroffene:n zu enttäuschen oder zu hintergehen, konnte zur Lähmung der Gruppe führen. Manchmal kam es in den Gruppen, die von einem:r Gewaltbetroffenen organisiert worden waren, zu Meinungsverschiedenheiten im Hinblick auf die Wünsche dieser Person oder zu Frustrationen über die Veränderungen, die ein:e Betroffene:r während eines Prozesses durchmachen kann. Für Gewaltbetroffene, die noch aktiv mit denjenigen zu tun hatten, die ihnen Gewalt zugefügt hatten, konnten ihre Emotionen verwirrend sein, weil sie Angst, Schuld und Wut erlebten. Folglich konnten Interventionen gegen Gewalt instabile Ergebnisse herbeiführen oder diese sogar zunichtemachen.

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Die gewaltausübende Person einbinden Die Beziehungen zu der gewaltausübenden Person und die Bereitschaft dieser Person, sich auf eine Intervention einzulassen, waren sehr unterschiedlich. Einige Betroffene wollten die Person direkt konfrontieren. Aber dieses Modell beruht auf der Nutzung der Beziehungen und community-Verbindungen als Kontext, um die gewaltausübende Person zu verändern. CI bemühte sich daher, der:dem Betroffenen nicht die alleinige Verantwortung für die Veränderung der gewaltverursachenden Person aufzubürden oder die Belastung oder Bedrohung der Sicherheit zu individualisieren. Abgesehen von den begrenzten Möglichkeiten, die der community zur Verfügung standen, bot CI keine substantielle Unterstützung an, die gewaltausübende Person zu verändern. Angemessene Ressourcen für die Auseinandersetzung mit der gewaltausübenden Person waren daher schwer zu arrangieren. Mitglieder des Kollektivs, die bereit waren, diese Rolle mit einer gewaltausübenden Person zu übernehmen, standen vor einer Reihe von Herausforderungen. Unter Freund:innen entstand ein unbehagliches Gefühl, wenn die gefühlte Last der Gewaltintervention über unterstützende Beziehungen oder gemeinsame Interessen Überhand gewann. Manchmal entwickelten die Unterstützer:innen der gewaltausübenden Person eine wachsende Sympathie ihr gegenüber, wenn sie Zeug:innen des Schmerzes wurden, die eine Intervention mit sich bringen konnte, oder »ihre Seite der Geschichte hörten«. Andere Freundschaften oder Bündnisse wurden belastet, weil sie nicht mit einer Person involviert sein wollten, die Gewalt ausgeübt hatte, oder nicht mit jemandem assoziiert werden wollten, von dem:der öffentlich bekannt war, dass er:sie Gewalt ausgeübt hatte. Dies war auf ihre Enttäuschung gegenüber der Person zurückzuführen und das Verlangen, sich von der Verantwortung der Intervention zu distanzieren. Nach der Erfahrung von CI führte ein solches Engagement mit der gewaltausübenden Person nie zu Gewalt oder ernsthaften Vergeltungsmaßnahmen. Aber das könnte durchaus passieren. Eine gewaltausübende Person, die zu mehr Ressourcen Zugang hat als der:die Gewaltbetroffene – einschließlich Popularität oder Ansehen innerhalb der community –, könnte im Vergleich zur:m Gewaltbetroffenen erheblich mehr Sympathien gewinnen. 543

Viele Menschen, die mit CI zu tun hatten, probierten verschiedene Möglichkeiten aus, wie sie und ihre Verbündeten auf die gewaltausübende Person zugehen könnten. Oft lehnten diese Personen das jedoch ab. Viele wurden davon abgehalten, diese Optionen zu verfolgen, weil sie Angst hatten, keinen ausreichenden Einfluss auf die gewaltausübende Person zu haben, oder es an Planung und Strategien fehlte, die für ein langfristiges Engagement notwendig sind. Diejenigen, die sich beteiligten, wurden von den Veranstaltungen der community ausgeschlossen und erhielten Aufforderungen, sich öffentlich zu entschuldigen. Hinzu kamen Erwartungen, dass die Offenlegung von vergangener Gewaltausübung auf unbestimmte Zeit verlängert werden sollte. In der Tat blieben die Bedingungen, unter denen die unklare Vorstellung der Verantwortungsübernahme erfüllt werden würde, eine offene Frage.

Alle Optionen ausloten, alle Beteiligten einbeziehen Während der Pilotphase stellte CI einen alternativen Raum für Gewaltintervention dar. Eine Evaluierung, in der einige Teilnehmer:innen befragt wurden,26 offenbarte, dass sie über eine Option erfreut waren, die ihnen sonst nicht zur Verfügung stand. Für Betroffene von Gewalt stellte CI einen Ort dar, wo eine Reihe von Optionen vollständig in Betracht gezogen werden konnten, die den Wunsch, weiterhin eine Beziehung mit gewaltausübenden Personen zu führen, weder verurteilten noch in Frage stellten. CI ermutigte sie außerdem, Verbündete in ein unterstützendes Umfeld einzubringen, was nicht zu unterschätzen ist. Für andere war die Möglichkeit hilfreich, Ziele auszukundschaften und durchzuarbeiten, die vielleicht Vergeltungs- oder Wiedergutmachungsphantasien beinhalteten. Dadurch konnten realistische Ziele von Hoffnungen unterschieden werden. In der Tat erwies sich diese Praxis als ein wichtiger Schritt zur Zielsetzung. Der Ansatz von CI unterschied sich deutlich von der Art und Weise, in der Mitglieder des Interventionsteams mit beträchtlicher Erfahrung zuvor Sitzungen in konventionellen Antigewaltsettings geleitet hatten. Ambivalente Gefühle gegenüber intimen und gleichzeitig gewaltvollen Bezie26 Kalei Valli Kanuha führte diese qualitative Evaluation durch. Thao Le führte mit der Unterstützung von Catie Magee einen Evaluierungsprozess früherer Entwicklungsstadien durch.

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hungen wurden in den Raum getragen und flossen in verschiedene Ziele und Strategien ein. Dies bot auch einen ungewöhnlichen Raum für Verbündete, die Auswirkungen von Gewalt auf ihr Leben vollständig nachzuvollziehen. Sie konnten so angemessene Rollen für die Konfrontation mit der Gewalt identifizieren und das Gefühl der Isolation durchbrechen, indem sie andere anhielten, aktive Rollen zu übernehmen. Verbündete konnten ihre ambivalenten Gefühle und gemischten Loyalitäten gegenüber dem:der Betroffenen und der gewaltausübenden Person ausdrücken und zu größerer Klarheit gelangen. Wenn Gruppen Spannungen erlebten, während sie Interventionen durchführten, ermöglichte ein vermittelnder Raum, diese Spannungen zu benennen und aufzulösen. Unstimmigkeiten unter den Verbündeten, die die Intervention beeinträchtigten, waren keine Seltenheit. Vermittlung war notwendig und fand auch zwischen Gewaltbetroffenen und Verbündeten statt, um Spannungen und Konflikte zu reduzieren. Das CI-Modell vermittelte jedoch nicht zwischen Betroffenen und gewaltausübenden Personen. Der Ansatz von CI deckte sich mit anderen Kritiken an der Vermittler:innenrolle in Gewaltinterventionen, zum Beispiel mit einigen Modellen der »restaurativen Gerechtigkeit«. Als solche geht Vermittlung von einer gleichen Machtverteilung zwischen den Parteien aus und wird nicht eingesetzt, wenn ein Risiko der Vergeltung oder einer anderen Form von Gewalt besteht, falls der Prozess schieflaufen sollte.27 Ein Informationsaustausch während der Vermittlung könnte potentiell dazu führen, der betroffenen Person mehr Gewalt anzutun. Daher akzeptierte CI in Bezug auf die Verwendung des Vermittlungsrahmens vorsichtshalber die konventionell dichotome Sichtweise von betroffener und gewaltverursachender Person. Unter den Teilnehmer:innen der Pilotinterventionen waren Menschen, die in verschiedenste intime Beziehungen eingebunden waren: heterosexuell, gleichgeschlechtlich und nichtgeschlechterkonform. Einige kamen aus Situationen familiärer oder communitybasierter Gewalt. Nach den Erfahrungen von CI folgte Gewalt in 27 Ruth Busch, Stephen Hooper, »Domestic Violence and Restorative Justice Practices. The Risk of a New Panacea«, in: Waikato Law Journal, 4/1 (1996), S. 101-130, 〈http://www.austlii.edu.au/au/journals/WkoLawRw/1996/6.pdf〉, letzter Zugriff 17. 2. 2022.

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heterosexuellen Beziehungen dem Muster, dass ein Mann einer weiblichen Betroffenen Gewalt antut. Innerhalb der CI-Interventionsteams kam es zu Spannungen bezüglich der Zentralität und Einbeziehung einer Genderanalyse während der Intervention. Ich ging normalerweise von einer Geschlechterbinarität aus und befürwortete den Grundsatz, »dem Opfer zu glauben«, insbesondere wenn diese Person eine Frau innerhalb einer heterosexuellen Gewaltdynamik war. Meine Unfähigkeit, diese Vorannahmen hinter mir zu lassen, offenbarte sowohl meine eigenen inneren Herausforderungen als auch die innerhalb des Interventionsteams. Sollten wir die Art und Weise, wie Geschlecht innerhalb einer Gewaltdynamik zum Ausdruck kommt, grundsätzlich hinterfragen, statt sie vorauszusetzen? Die Aussagekraft dieser Genderanalyse in Frage zu stellen, erzeugte, neben anderen Bedenken, Unbehagen. Wenn es um ihre eigene Rolle ging, hielten einige CI-Vermittler:innen die Analyse für weniger wichtig, als den Teilnehmer:innen dabei zu helfen, ihre eigene Wahrnehmung der Gewaltdynamiken und Intervention zu erkunden. In diesem Pilotprojekt hat das Organisationspersonal die Rolle der Vermittler:in künstlich besetzt statt mit Personen, die organischer mit der community verbunden sind. Dies verschärfte Interventionsdilemmata hinsichtlich der Anwendung von Geschlechts- oder anderen Machtanalysen, die auf race, Klasse, Sexualität, Alter, dis-/ability oder Migrationsstatus basieren. Manchmal waren Menschen aus der eigenen community in die Intervention involviert. Unsere persönlichen Gewalterfahrungen wurden in das Team eingebracht und unterstützten so unsere eigenen Interventionen. Diese Erfahrungen waren für uns persönlich hilfreich und testeten die Anwendbarkeit des Modells. Sie beantworteten die treibende Frage, die dem CI-Projekt zugrunde lag: ob das Modell eine hilfreiche Alternative in unserem eigenen Leben darstellen würde. Dementsprechend entwickelten sich das Modell und die Hilfsmittel aus unseren eigenen Erfahrungen.

Die Geschlechterbinarität und die Opfer-Täter-Dichotomie Die Akzeptanz einer Geschlechterbinarität oder sogar der konventionellen Dichotomie zwischen der gewaltbetroffenen und der gewaltausübenden Person hindert uns nicht daran, potentiell her546

ausfordernde Prozesse für den:die Betroffene:n zu verstehen und zu unterstützen. Vor allem wenn sie Verbündete betrafen, die an der Gewaltintervention beteiligt waren. Das Interventionsteam sprach über die Möglichkeit, mehr Gelegenheiten zu schaffen, in denen Betroffene herausgefordert werden zu artikulieren, wie sie zur Gewaltdynamik innerhalb ihrer Beziehung beigetragen haben könnten. Wir versuchten zu verstehen, wie Menschen bezüglich der Art und Weise ihrer Interventionsdurchführung hinterfragt werden konnten. Solche Gelegenheiten zu schaffen, kann natürlich auch dazu beitragen, dass leicht die Grenze zum victim-blaming überschritten oder gefährlich vom Prozess der Verantwortungsübernahme abgelenkt wird. Tatsächlich treten diese Dynamiken beunruhigend häufig auf. CI war nicht besonders erfolgreich darin, konstruktive Wege aufzuzeigen, wie Betroffene hinterfragt werden konnten. Das daraus resultierende Modell und die Hilfsmittel beinhalten mehr Möglichkeiten, Differenzen zu identifizieren und zu verhandeln und Vertrauen innerhalb der Gruppe zu stärken. Sie sollten Interventionen anleiten, die sich an befreienden Werten und Prinzipien orientieren und so die Möglichkeit verringern, dass Interventionen selbst weiteres Leid hervorbringen. Im CI-Ansatz kann die gewaltausübende Person eine Intervention initiieren oder sich letzten Endes als Partner:in einer solchen anschließen, statt nur dessen Zielscheibe zu sein. Während der Pilotphase wurde diese idealisierte Version selten erreicht. In der Tat hielten interne Auseinandersetzungen unser Vorankommen zurück und schränkten unsere Fähigkeiten bezüglich des Ausmaßes unserer direkten Zusammenarbeit mit diesen Individuen ein. Es wurden Einwände erhoben, als wir mit einem internen Plan konfrontiert wurden, der spezifisch darauf ausgelegt war, eine Gruppe für gewaltausübende Menschen zu etablieren. Dieser könnte mit der community-basierten Intervention kollidieren, die uns vorschwebte. Es wurde angenommen, dass ein separater Bereich für gewaltausübende Personen unser Prinzip der Ganzheitlichkeit verletzen würde. Dieser würde sich künstlich auf gewaltausübende Menschen konzentrieren, statt ein einbindendes Modell des Wandels zur Verfügung zu stellen. CI war in diesen Fragen gespalten. Da es nicht möglich war, in Bezug auf diesen Aspekt zu einem Konsens zu kommen, wurde er nie realisiert. Am Ende der Pilotphase hatten wir daher keine ausreichenden Informationen, um beurteilen 547

zu können, wie ein community-basiertes Modell gewaltausübende Personen von Zielscheiben zu Partner:innen der Interventionen machen kann.

Den Prozess der Verantwortungsübernahme ausbuchstabieren Die Erfahrungen von CI bieten ein besseres Verständnis dafür, wie gewaltvolle Beziehungen variieren und Unterschiede in den gewünschten Ergebnissen zu klarer definierten Interventionsstrategien führen können. Zu klären, ob Gewalt in engen und intimen Beziehungen, unter Bekannten oder unter Fremden aufgetreten ist, kann helfen zu bestimmen, welche Art von Einfluss in der community vorhanden ist, um Veränderung herbeizuführen. Eine bessere Formulierung von Zielen ist möglich, wenn klar ist, ob die erwünschten Ergebnisse Hoffnung auf anhaltende Nähe oder Intimität, Koexistenz innerhalb sich überschneidender community spaces oder vollständige Trennung beinhalten. Schließlich stellt sich CI Verantwortungsübernahme als eine Reihe von Schritten oder Stufen vor, die dabei helfen können, Ziele und nächste Schritte anzuleiten. Diese Ausweisung von Schritten ist nützlich, auch wenn sie letztlich nicht erreicht werden. Da wir bei Widerstand gegen Gewalt immer mit Gegenwiderstand rechnen müssen, vor allem von der oder den gewaltausübenden Personen, ist Verantwortungsübernahme am besten im Sinne eines Veränderungsprozesses zu verstehen. Egal wie offen die Gewaltausübenden sind, Widerstand folgt zeitnah, wenn sie zuerst mit Forderungen nach Veränderung konfrontiert werden. Ein Verständnis für die Gemeinsamkeiten dieser Dynamik ergab sich aus unseren eigenen Reaktionen, wenn wir mit unseren verletzenden Einstellungen und Handlungen konfrontiert wurden. Die üblichen Taktiken des Leugnens, der Verharmlosung und der Schuldzuweisung an andere, einschließlich der Fokussierung auf wahrgenommene Ungerechtigkeiten während der Durchführung der Intervention, waren wahrscheinlich. Wie können community-Prozesse Widerstand als Teil der Intervention und nicht als Beweis des Scheiterns begreifen?

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Die Legitimität von Autorität, Zwang, Nötigung und Gewalt Grundlegend für den Prozess der Verantwortungsübernahme ist die Reduktion von Gewalt oder Androhung von Vergeltung bis zu dem Punkt, an dem tiefere Ebenen der Veränderung in Betracht gezogen werden können. Angesichts der Tatsache, dass eine gewisse Form der »Konfrontation« und eine Tendenz zum Widerstand gegen Veränderung in Situationen der Verantwortungsübernahme unvermeidbar sind, musste CI sich mit Fragen bezüglich der Ethik und Wirksamkeit von community-basierter Autorität, Einfluss, Zwang und sogar Gewalt oder der Androhung von Gewalt auseinandersetzen. Mitglieder der Bewegung gegen Gewalt hatten verständlicherweise einen schwachen Begriff von der gewaltvollen Dimension der Macht, waren aber offen dafür, sich mit ihrer Komplexität auseinanderzusetzen. Die offene Haltung von CI zu diesem Thema wurde durch die Selbstbeschreibung als Organisation gegen Unterdrückung (und nicht explizit als Antigewaltorganisation) angedeutet. Es gab großes Interesse an den Geschichten des STOP-Projekts, weil man wissen wollte, was sie in Bezug auf die Anwendung von Zwang oder Gewalt bei der Verantwortungsübernahme durch die community vermitteln konnten. Wir hatten eine niedrige Schwelle für Autorität, Gewalt und Zwang gesetzt. Oft behaupteten diejenigen, die Prozesse der kollektiven Verantwortungsübernahme auf sich nahmen, diese Formen der Macht abzulehnen, übten sie aber dennoch aus. Für sich selbst eine rechtschaffene Position oder moralische Überlegenheit zu behaupten, verdeckte oft die Tatsache, dass ein gewisses Maß an Zwang angewendet wurde. Zwanghafte Elemente finden sich sogar in Aufforderungen, sich die Schilderung von Gewalt anzuhören, zu einem Treffen zu kommen oder eine Liste von Forderungen zu verlesen – egal wie sanft oder höflich sie formuliert werden. Die Herstellung von Transparenz in Bezug auf den wohlbestimmten Einsatz von Macht und die möglichen Konsequenzen bei Nichtbefolgung war ein wichtiger erster Schritt bei der Artikulation von Prinzipien und Praktiken bezüglich ihrer legitimen Anwendung. Wir haben auch eine problematische Position innerhalb der Bewegung gegen Gewalt hinterfragt, die dazu tendiert, sich zu nicht549

hierarchischen und nichtautoritären Machtstrukturen zu bekennen und den Fokus auf die Betroffenen in Umkehrung ihrer Entmachtung und Viktimisierung sowie auf gewaltfreie Taktiken zu legen. Nichtsdestotrotz sind autoritäre Beziehungen meistens in Regeln, Vorschriften und Entscheidungsstrukturen von Antigewaltinstitutionen eingebettet; der Fokus auf die Gewaltbetroffenen wird oft von den Vorannahmen und dem engen Auswahlangebot von Optionen der Antigewaltvertreter:innen in den Schatten gestellt; und das Leugnen von Gewalt überlässt man letztlich dem Strafjustizsystem, das die Bewegung durch ihr Vertrauen auf Strafrechtsmittel aufrechterhält. Durch die Verlagerung des Interventionsortes vom Strafjustizsystem und den konventionellen Antigewaltinstitutionen zurück in die community spaces wandte sich das Interesse von CI der Rückgewinnung von Autorität innerhalb dieser Orte zu. Zu den community-Ressourcen können neu mobilisierte Aspekte der Autorität unter denjenigen gehören, denen zuvor der Zugang zur Macht verwehrt war. Eine Gruppe von Freund:innen kann sich zum Beispiel dafür entscheiden, sich zusammenzuschließen und für eine misshandelte peer einzusetzen. Community-basierte Interventionen sind auch auf traditionelle Autoritäten wie patriarchale Anführer angewiesen, die von Vätern, Onkeln und Geistlichen bis hin zu Gemeindeältesten reichen. Obwohl es bevorzugt wurde, ehemals marginalisierte Autoritätsaspekte zu mobilisieren, war es oft praktisch und effektiv, auf bereits existierende Formen der Autorität zurückzugreifen. Letztendlich lag in jeder community-Ressource eine Alternative zu konventionellen Mitteln der Gewaltbekämpfung und insbesondere im Fall von aktiv Beteiligten in den Bildungs- und Präventionskampagnen oder in direkten Interventionen gegen Gewalt. Schließlich wurde die Anwendung von Zwang oder Gewalt als Teil des Verantwortungsübernahmeprozesses zu einer offenen Frage. Täuschung ist ebenfalls eng mit diesen Taktiken verknüpft. Die Geschichten von STOP lieferten ebenfalls zahlreiche Beispiele dafür, wie diese Taktiken aktiv in community-basierten Interventionen gegen Gewalt eingesetzt wurden. Ein befreiender Prozess stellt jedoch die Legitimität von Täuschung und Gewalt in Frage. Auch institutionelle Bedenken existierten. Wie in der Geschichte zu Beginn angedeutet wird, müssen Organisationen wie CI Haftbarkeit, öffentliches Ansehen und Nachhaltigkeit der Organisation 550

in Betracht ziehen, wenn sie Taktiken formulieren, die einen in­ stitutionellen Präzedenzfall schaffen, der Gewalt fördert und leicht zu zivil- oder strafrechtlichen Anklagen führen könnte. Informelle community-Formationen könnten zur Androhung und Anwendung von Gewalt neigen. Diese Interventionsorte waren gegen ethische Bedenken und Risiken nicht gefeit, aber ihre Tätigkeiten neigten dazu, in der Regel weniger öffentlich zu sein. Manche Beteiligten suchten Unterstützung, um zu verhindern, dass Freund:innen oder Familienangehörige gewalttätige Vergeltungsmaßnahmen ergriffen, denn dieses Vorgehen könnte zu ihrer Verhaftung führen. Sie suchten nach Verantwortungsübernahmestrategien durch die community, die weitere Gewalt und ein mögliches Einschalten der Strafverfolgungsbehörden vermeiden sollten. Die CI-Praktiken zur Verantwortungsübernahme durch communities setzten weniger auf Zwang oder Bestrafung und mehr auf empathische Beteiligung. Unser befreiender Verantwortungsübernahmeprozess versuchte, alle Parteien zu mobilisieren, inklusive der gewaltausübenden Person. Wir vertraten die Ansicht, dass ein Verantwortungsübernahmeprozess durch die community allen Interessen diente. Anstatt Angst vor Konsequenzen zu fördern, zielt die Verantwortungsübernahme durch communities darauf ab, an höhere Werte zu appellieren oder das Eigeninteresse mit dem Gemeinwohl in Einklang zu bringen. In der begrenzten Erfahrung von CI waren befreiende Ziele erforderlich, um den Prozesses zu steuern, denn Pragmatismus konnte zum Einsatz von Zwang oder angedrohter oder realer Gewalt als vorübergehender Maßnahme führen, um die Stabilität und Sicherheit zu gewährleisten, die für die Ermöglichung weiterer Schritte benötigt wurden. Die Allgegenwärtigkeit von Bestrafung und die Assoziation des Begriffs »Verantwortungsübernahme« mit Vergeltung trugen zu Schwierigkeiten bei, über diesen Modus des Engagements hinauszugehen. So kann eine Praxis wie das Verbot, das ein gewisses Maß an Sicherheit ermöglicht und gleichzeitig einen stärker engagierten Prozess mobilisiert, eher zu einem Zweck als zu einem Mittel werden. Schon die unbeabsichtigte Annahme eines Kriminalisierungsparadigmas kann dazu führen, dass sich diejenigen, die Gewalt ausüben, und diejenigen, die sich beschützen, gegen eine Zusammenarbeit sträuben. Ein Verbot, selbst wenn es um vorübergehende Sicherheit geht, kann auf Widerstand stoßen. Als Reaktion darauf 551

können diejenigen, die einen Verantwortungsübernahmeprozess initiieren, ihre Entschlossenheit bestärken, die Durchsetzung eines Verbots zum Ziel statt zu einer Maßnahme innerhalb eines engagierteren Prozesses zu machen.

Öffentliches Bekanntmachen und Navigieren jenseits von Scham und Bestrafung Ein weiterer Aspekt der Verantwortungsübernahme durch communities ist ihr kollektiv-öffentlicher Charakter. Beteiligte von konventionellen Antigewaltmaßnahmen geben regelmäßig Informationen an Mitarbeiter:innen oder andere weiter, die in der Antigewaltinstitution arbeiten. Aber strenge Protokolle hinsichtlich der Vertraulichkeit außerhalb der Organisationswände verstärken das öffentliche Schweigen. Die organisatorischen Interessen von CI führten unbewusst zu einer widersprüchlichen Position hinsichtlich der Offenlegung von Informationen. CIs STOP-Projekt förderte eine öffentliche Darlegung von Gewalt und Gewaltinterventionen. In der Anfangsphase von STOP entwickelten wir ein Protokoll, um ein Gleichgewicht zwischen den Bedenken rund um Sicherheit und Privatsphäre mit dem Bedürfnis der Öffentlichkeit nach Informationen zu schaffen. In ihrem community-basierten Interventionsprojekt übte CI sich in Diskretion, während gleichzeitig eine durchdachte öffentliche Bekanntmachung seitens der Beteiligten ermutigt wurde. Vielleicht war es für den Offenlegungsprozess hinderlich, dass CI eine institutionelle Position als Interventionsvermittlerin im Gegensatz zu einer Position als organische Beteiligte einnahm. CIs befreiende Haltung in Bezug auf öffentliche Aufdeckung wurde dadurch erschwert, dass Gewalt in community-Kontexten nach wie vor mit Scham verbunden ist. Die Offenlegung von Gewalt kann in Klatschgeschichten umschlagen, und öffentliche Informationen können große, irreführende Lücken offenbaren, da die in die Gewalt Involvierten es müde werden, Details mitzuteilen. In communities, die interpersonelle Gewalt durch die Linse des Verleugnens und der Scham betrachten, können Gewaltbetroffene und Gewaltausübende die Offenlegung von Informationen leicht mit einer Bestrafung verwechseln. Communities, die mit allgegenwärtiger Gewalt zu kämpfen haben, können auf einen Prozess der öf552

fentlichen Sichtbarmachung zurückgreifen, um sie einzudämmen. Es kann gewaltausübenden Personen helfen, den Prozess der Verantwortungsübernahme zu befolgen. Betroffene und communities erwarten oft, dass gewaltausübende Personen sich im Rahmen des Verantwortungsübernahmeprozesses öffentlich äußern. Doch wie viel man offenlegen soll, für wie lange und wem gegenüber, sind Fragen, die nicht leicht zu beantworten sind.

Bedingungen schaffen, die die kollektive Verantwortungsübernahme unterstützen Verantwortungsübernahme durch die communities steht auf wackligem Boden, wenn sie mitfühlende und kollektive Antworten auf Gewalt nicht unterstützt und Verantwortungsübernahme mit einer Kriminalisierungslogik in Verbindung bringt. Die Prinzipien von Verantwortungsübernahme durch communities, community-basierte Antworten und transformativer Gerechtigkeit können schnell in eine Lähmung, Kollision oder Rache abgleiten, da die Bedingungen für gesunde, funktionierende communities unter dem Stress des täglichen Lebens und den systematischen Belastungen des Neoliberalismus mit seinen vielfältigen Formen der Gewalt geschwächt werden. Daher können die kleinen und großen Erfolge neuer sozialer Bewegungen bei der Artikulation von Leitprinzipien, tragfähigen Prozessen und Praktiken zu dauerhaften Ergebnissen führen, die hoffentlich die Gewalt unterbrechen und Bedingungen schaffen, die für die Stärkung emanzipatorischer community spaces notwendig sind.

Wie geht es jetzt weiter? Die Bemühungen von CI sind Teil eines größeren Projekts sozialer Bewegungen, das das Fortbestehen des Heteropatriarchats und der white supremacy in unseren communities in Frage stellt und das Paradigma der Kriminalisierung ablöst, das als Reaktion auf interpersonelle Gewalt in den letzten vierzig Jahren entstanden ist. Der community-basierte Ansatz der Gewaltintervention – besser bekannt als Verantwortungsübernahme durch communities oder transformative Gerechtigkeit – schaut nach vorne und zurück auf die Institutio553

nen der Familie, Freund:innen, Nachbar:innen, Mitarbeiter:innen und der community. Folglich haben die Neukonzipierung und der Wiederaufbau von community-Praktiken der Verantwortungsübernahme die Freilegung und Rückgewinnung von community-»Traditionen« sowie tiefgreifende Transformationen unserer Annahmen über die Ursprünge und Lösungsansätze von Gewalt erfordert. Eine Fülle von Gefahren und Paradoxien steht der Neuausrichtung von community spaces im Weg, die von Individualismus und Wettbewerbsdenken fragmentiert, durch anhaltend ungleiche Machtverhältnisse organisiert und zunehmend von materiellen Realitäten der Armut, Überwachung und allgegenwärtiger Gewalt geplagt sind. So finden wir, Seite an Seite mit Geschichten erfolgreicher community-basierter Interventionen bezüglich verschiedener Formen von Gewalt, genügend Illustrationen von Herausforderungen, Grenzen und sich neu entfaltenden Widersprüchen. Bemühungen, diese komplexen Dimensionen von Verantwortungsübernahme durch communities zu dokumentieren, erfolgten spät in der institutionellen Lebensdauer von CI (jedoch in einem frühen Stadium der Entstehung der sozialen Bewegung) und sollten die politische Analyse und Praxis stärken. Dennoch kann die öffentliche Exponierung die vielfältigen Bedrohungen für das Projekt der sozialen Bewegung verstärken. CI erlebte externen Druck, der auch andere 501(c)(3)-Organisationen im heutigen Umfeld betrifft. Sie stehen unter Druck, Konzepte und Praktiken zu kommodifizieren und sich dem Aufruf der Geldgeber:innen anzupassen, Ansätze und am besten Praktiken zu schaffen, die mit der Institution identifiziert oder »markenrechtlich geschützt« werden können, und ihre Bemühungen in die staatlichen Institutionen einzubringen, gegen die sie sich bisher gewandt haben. Diese unausweichlichen Bedingungen des institutionellen Überlebens nehmen mit jedem Erfolg sowie mit allen Bemühungen, Scheitern abzuwenden, zu. Die bewusste Strategie von CI war es, mit einer institutionell begrenzten Lebensdauer zu beginnen. CI versuchte, ausreichend Ressourcen zu gewinnen, um ein rudimentäres Set von Modellen und Hilfsmitteln zu erstellen und öffentlich zu verbreiten, während gleichzeitig der Druck minimiert wurde, diese Ziele aufs Spiel zu setzen, um institutionelle Nachhaltigkeit zu erreichen. Über die Bedrohung von Inkorporation und Vereinnahmung 554

­ inaus gab es die einer schnellen Abwertung und des Verschwinh dens unserer Konzepte, Technologien und Institutionen. Verantwortungsübernahme durch communities und transformative Gerechtigkeit können zwar den Interessen von Graswurzelorganisationen und marginalisierten communities helfen, allerdings nur solange Staaten nicht die Macht erlangen, deren Inhalte zu kontrollieren und zu bestimmen. Die subtilere Gewalt des Wettbewerbs auf dem Innovationsmarkt ist für die Nachhaltigkeit unserer sozialen Bewegung ebenso bedrohlich. Veröffentlichungen können Analysen und Wissen über soziale Bewegungen und Verbündete hinweg verbreiten. Dies kann auch zur Überalterung dieses Wissens beitragen. Der Durst des Marktes nach schnell konsumierbaren Informationen kann von öffentlich zugänglichem Wissen zu Erfolgsgeschichten oder auch zu Abgesängen auf das Scheitern von utopischen Visionen führen. Bemühungen, Grenzen aufzuzeigen, können ungewollt Skepsis und Demoralisierung in einem sozialen Bewegungsprojekt schüren, das mit erheblichen Hindernissen konfrontiert ist. Angesichts der Ambitioniertheit unseres kollektiven Projekts und der verschwindend geringen Ressourcen, die es antreiben, sind die Verbreitung unserer Bemühungen und die Hartnäckigkeit, mit der sie verfolgt werden, nicht zu unterschätzen. Damit diese Geschichten nicht zu verlorenen archäologischen Überbleibseln werden, statt das Fundament für neue und dauerhafte Strukturen zu bilden, besteht unsere radikale Arbeit darin, diese Lektionen in der täglichen Praxis zu verkörpern und auf eine größere kollektive Wirkung zu drängen. Übersetzt von Carina Nagel

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Allegra M. McLeod Abolitionistische Demokratien entwerfen1 Was ist sozusagen der Gegenstand der Abolition, der Abschaffung? Nicht unbedingt die Abschaffung der Gefängnisse, sondern die Abschaffung einer Gesellschaft, die Gefängnisse haben könnte, die Sklaverei haben könnte, die den Lohn haben könnte, und darum also nicht Abschaffung als Beseitigung von allem, sondern Abschaffung als die Gründung einer neuen Gesellschaft. – Stefano Harney und Fred Moten, »Die Universität und die Undercommons«2

Einleitung Jahrzehntelang gehörte es in der US-amerikanischen Metropole Chicago zur gängigen Polizeipraxis, Menschen in Gewahrsam in dunklen, fensterlosen Räumen an die Wand zu ketten und Schlägen, Elektroschocks, analen Vergewaltigungen und rassistischen Beschimpfungen auszusetzen.3 Als im Juli 2016 Mitglieder des #Le1 Ich danke Amna Akbar, Geoff Gilbert, Sora Han, Stephen Lee und Alexandra Natapoff sowie den Teilnehmer:innen des Workshops an der University of California, Irvine School of Law für ihre sorgfältige Auseinandersetzung mit diesem Aufsatz. Mein Dank gilt auch den Redakteur:innen der Harvard Law Review und den Bibliothekar:innen an der Georgetown Law für ihre hervorragende Arbeit. Und am meisten danke ich Sherally Munshi für ihre brillanten Ideen und ihre redaktionelle Anleitung, ihre unerschütterliche Unterstützung und Inspiration. Dieser Aufsatz ist unserem Sohn, Kiran Bayard, gewidmet, in der Hoffnung, dass er eine Welt erlebt, die der Verwirklichung einer abolitionistischen Demokratie näher kommt. 2 Stefano Harney, Fred Moten, »Die Universität und die Undercommons«, in: dies., Die Undercommons. Flüchtige Planung und schwarzes Studium, hg. von Isabell Lorey, Wien 2016, S. 17-48, hier S. 47. 3 Zu einer Beschreibung des Chicago Torture Archive, das unter anderem Aussagen von Folteropfern, Ergebnisse von Folterfällen, Dokumente von Polizeibeamt:innen, die wegen Folter verklagt wurden, Medienartikel, Sonderberichte, Zusammenfassungen von Beweisen und Anhörungen des Stadtrats umfasst, siehe Chicago Studies, »Chicago Torture Archive«, 〈https://invisible.institute/ cpta〉; Juleyka Lantigua-Williams, »A Digital Archive Documents Two ­Decades

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tUsBreathe-Kollektivs, das im Anschluss an zahlreiche Tötungen durch die Polizei in Chicago und anderswo gegründet wurde, das an das Chicago Police Department angrenzende leerstehende Grundstück am Homan Square besetzten, knüpften sie explizit an diese Geschichte institutionalisierter Gewalt an, indem sie bewusst einen der Orte für ihre Aktion aussuchten, an dem ein solcher Übergriff stattgefunden hatte.4 Das Kollektiv verlangte Gerechtigkeit – allerdings nicht durch Strafgerichte oder Zivilprozesse, sondern durch eine Neukonzeption von Gerechtigkeit in Verbindung mit Bemühungen, unsere Abhängigkeit von Gefängnissen und Polizei zu beenden.5 Die Aktivist:innen benannten den Homan Square – der den Namen des Chicagoer Slumlords Samuel Homan6 trägt – in »Freedom Square« um.7 Die Idee der Aktivist:innen war es, im Kleinen zu verwirklichen, was die Wissenschaftlerin, Aktivistin und Professorin Angela Davis in Anlehnung an einen Begriff von W. E. B. Du Bois8 als »abolitionistische Demokratie« (abolition democracy)9 bezeichnet hatte. of Torture by Chicago Police«, in: The Atlantic, 26. 10. 2016, 〈https://www.theatlantic.com/politics/archive/2016/10/10000-files-on-chicago-police-torture-de cades-now-online/504233/〉; siehe auch Spencer Ackerman, »Homan Square Revealed: How Chicago Police ›Disappeared‹ 7,000 People«, in: The Guardian, 19. 10. 2015, 〈https://www.theguardian.com/us-news/2015/oct/19/homan-squarechicago-police-disappeared-thousands〉; Flint Taylor, »Homan Square Is Chicago’s New ›House of Screams‹, in: The Guardian, 13. 4. 2016; 〈https://www.theguardian. com/commentisfree/2016/apr/13/homan-square-chicago-police-station-houseof-screams〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 4 Vgl. Derrick Clifton, »How Protests in Ferguson Inspired the Occupation of ›Freedom Square‹«, in: Chicago Reader, 9. 8. 2016, 〈https://www.chicagoreader.com/ chicago/freedom-square-homan-square-occupation-ferguson/Content?oid= 23089791〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 5 Vgl. ebd.; Mission & Vision, #LETUSBREATHECOLLECTIVE, 〈https://letusbreathe collective.com/mission-vision〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 6 Vgl. Taylor, »Homan Square«; zu Homans umstrittenen und ausbeuterischen Praktiken als Vermieter in Chicago auch Joe Allen, People Wasn’t Made to Burn, Chicago 2011, S. 148, S. 162, S. 168. 7 Vgl. Maya Dukmasova, »Abolish the Police? Organizers Say It’s Less Crazy than It Sounds«, in: Chicago Reader, 25. 8. 2016, 〈https://chicagoreader.com/news-pol itics/abolish-the-police-organizers-say-its-less-crazy-than-it-sounds/〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 8 Vgl. W. E. B. Du Bois, Black Reconstruction in America, New York 2017, S. 163-166. 9 Siehe Angela Y. Davis, »Abolitionistische Demokratie« und »Strategien zur Abschaffung des Gefängnisses«, im vorliegenden Band.

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Die Aktivist:innen auf dem Freedom Square und in der ganzen Stadt griffen die straf-abolitionistischen Forderungen des Movement for Black Lives (M4BL) und des Black Youth Project 100 (BYP100) auf.10 Sie forderten, dass der Staat seine Ressourcen aus Polizei und Einsperrung abziehe und sie in neue Formen eines gerechteren Zusammenlebens investiere.11 Der Freedom Square sollte ein Experiment sein, bei dem Teilnehmer:innen sich »eine Welt ohne Polizei vorstellen«,12 eine Welt, in der das 1,4-Milliarden-Dollar-Budget der Chicagoer Polizei13 statt zur Einsperrung von Menschen für eine demokratische Wiederbelebung von öffentlicher Bildung, Beschäftigung, restaurativer Gerechtigkeit, psychischer Gesundheit, Wohnen, Suchtbehandlung, Kunst und Ernährung genutzt würde.14 Während der Besetzung versorgten die Beteiligten des Freedom-Square-Experiments Hunderte von Menschen täglich mit Mahlzeiten und boten Bildungsworkshops, Kleidung, Bücher und Spielmöglichkeiten für Kinder aus der Nachbarschaft an.15 Ähnliche Bemühungen fanden auch außerhalb von Chicago statt: von New York City, wo die Aktivist:innen im selben Sommer einen Protestort namens »Abolition Square« eröffneten,16 bis nach Los Angeles, wo Mitglieder von Black Lives Matter ein Gebiet in der Nähe des Polizeipräsidiums besetzten und zur »Dekolonisierung des Rathauses« aufriefen.17 Im ganzen Land haben 10  Siehe Movement for Black Lives, »Platform«, 〈https://m4bl.org/policy-plat forms/〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022; Black Youth Project 100, »BYP100 Announces Release of the Agenda to Build Black Futures«, 〈https://byp100.org/bbf/〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 11 Vgl. Dukmasova, »Abolish the Police?«. 12  #LetUsBreatheCollective, FreedomSquareOccupation&BlockParty, Facebook, 22. 6. 2016, 〈https://www.facebook.com/events/257503834630695/〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 13 Vgl. Chicago, IL, »Annual Appropriation Ordinance for the Year 2019«, 14. 11. 2018, S. 121. 14 Vgl. Clifton, »How Protests in Ferguson Inspired«. 15 Siehe ebd. 16  Ben Norton, »Black Lives Matter Activists Launch Abolition Square Encampment, Demanding Reparations, End to Broken Windows Policing«, in: Salon, 5. 8. 2016, 〈https://www.salon.com/2016/08/05/black-lives-matter-activistslaunch-abolition-square-encampment-demanding-reparations-end-to-brokenwindows-policing/〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 17 Yezmin Villarreal, »Day50, and BLM’s Los Angeles Protest Is Still Going Strong«, in: Advocate, 31. 8. 2016, 〈https://www.advocate.com/politics/2016/8/31/day-50-

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Bewegungen gegen Polizeigewalt sich die Abschaffung von Strafen auf die Fahne geschrieben, Einsperrung und lückenlose Kontrolle von Menschen angeprangert und gleichzeitig die Demokratie in wirklich befreienden Begriffen neu konzeptualisiert. Durch diese abolitionistischen Bemühungen – der Aktivist:innen in Chicago, die die jahrzehntelange Folter durch die Polizei kritisierten, der Menschen, die gemeinsam dafür kämpfen, die Folgen von sexuellen Übergriffen und Morden zu adressieren, der Aktivist:innen, die sich um mehr wirtschaftliches Wohlergehen und Sicherheit für ihre communities einsetzen – begann sich ein neues Verständnis von Gerechtigkeit herauszubilden. Gerechtigkeit bedeutet für Abolitionist:innen, die Gewalt, Heuchelei und Verlogenheit bestehender Rechtspraktiken aufzudecken und gleichzeitig zu versuchen, Frieden zu schaffen, Wiedergutmachung zu leisten und Ressourcen gerechter zu verteilen. Gerechtigkeit ist für Abolitionist:innen ein umfassendes Bemühen, Leid zu verhindern, in Leid einzugreifen, Reparationen zu erlangen und die Bedingungen, unter denen wir leben, zu verändern.18 Diese Auffassung von Gerechtigkeit setzt sich zum Beispiel dafür ein, die Kriminalisierung von Armut und von Strategien des Überlebens zu beseitigen und gleichzeitig die Kriminalität einer globalen Gesellschaftsordnung zu bekämpfen, in der die acht reichsten Männer »genauso viel besitzen wie« fünfzig Prozent aller Menschen auf der Erde.19 Gerechtigkeit in diesem Sinne zu verstehen, erfordert das, was die abolitionistische Philosophin Lisa Guenther als »kollektiven Widerstand und Revolution am Ort des ›Verbrechens‹ selbst« beschreibt.20 Ein solcher Widerstand beginnt mit der Entlarvung black-lives-matter-los-angeles〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. Zur Bedeutung der Dekolonisierung für eine sinnvolle Transformation der Strafvollzugspraktiken in Los Angeles und darüber hinaus vgl. auch Kelly Lytle Hernández, City of In­ mates, Conquest, Rebellion, and the Rise of Human Caging in Los Angeles 1771-1965, Chapel Hill 2017. 18 Reina Gossett, Dean Spade, »Prison Abolition + Prefiguring the World You Want to Live In« (Teil 1), Youtube, 〈https://www.youtube.com/watch?v=XDQlW1u J8uQ〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 19 Oxfam, »An Economy for the 99 %«, 2017, 〈https://d1tn3vj7xz9fdh.cloud-front. net/s3fs-public/file_attachments/bp-economy-for-99-percent-160117-de.pdf〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 20 Lisa Guenther, Solitary Confinement, Social Death and its Afterlives, Minneapolis 2013, S. 61.

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der Illegitimität dessen, was gegenwärtig unter Strafe gestellt wird – zum Beispiel die Verfolgung von Einwanderungsdelikten, die derzeit mehr als die Hälfte der US-Strafverfahren ausmachen.21 Widerstand am Ort des Verbrechens selbst bedeutet auch, sich für die Abschaffung bestehender strafender Institutionen einzusetzen und gleichzeitig sinnvolle Formen der Verantwortungsübernahme und Prävention zu finden, um auf tatsächliche Gewalt und Unrecht zu reagieren. Schließlich beinhaltet ein solcher Widerstand, dass man sich damit auseinandersetzt, wie die gängigen ökonomischen Praktiken und Ordnungen tagtäglich gewalttätigen Diebstahl in einer Weise begehen, die nur durch die Demokratisierung politischer und wirtschaftlicher Institutionen gründlich behoben werden kann, um die höchst ungleiche Verteilung von Ressourcen und Lebenschancen zu verhindern und darauf zu reagieren. Während reformistische Bestrebungen darauf abzielen, extremen Missbrauch oder Missstände im Strafprozess zu beheben, ohne die bestehenden Rechts- und Sozialsysteme weiter zu destabilisieren – oft in Form eines Tauschs von milderen Strafen für bestimmte »nicht gewalttätige Straftäter:innen« gegen höhere Strafen für andere –, erkennen abolitionistische Maßnahmen an, dass Gerechtigkeit nur durch eine fundamentale Umgestaltung unseres politischen, sozialen und ökonomischen Lebens erreicht werden kann.22 21 Trotz sinkender Verfolgungsraten Anfang 2017 machten die vom Heimatschutzministerium überwiesenen Strafverfolgungen immer noch 50,5 Prozent aller Strafverfolgungen auf Bundesebene aus; vgl. TRAC, Syracuse University, »Feder­ al Criminal Prosecutions Referred by DHS Continue to Fall«, 〈http://trac.syr. edu/immigration/reports/472/〉. Seit 2017 ist die Zahl der Strafverfolgungen im Bereich Einwanderung um geschätzte 19,5 Prozent von 2017 auf 28 sprunghaft angestiegen; vgl. TRAC, Syracuse University, »Immigration Criminal Prosecu­ tions Jump in March 2018«, 〈http://trac.syr.edu/immigration/reports/510/〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 22 »Reformistische Reformen erkennen nicht an, dass die Systeme, die Schwarze Menschen und im weiteren Sinne auch Braune, eingewanderte und arme Menschen betreffen, nicht grundlegend kaputt sind, sondern stattdessen daran arbeiten, die gegenwärtigen Machtverhältnisse zu festigen und zu legitimieren. Im Gegensatz dazu stellen transformative Forderungen die Legitimität der Systeme in Frage, unter denen wir arbeiten.« Marbre Stahly Butts, Amna A. Akbar, »Transformative Reforms of the Movement for Black Lives 4-5 (Apr. 2017)« (unveröffentlichtes Manuskript), 〈https://law.rutgers.edu/sites/law/files/attach ments/Stahly%20Butts-Akbar%20%20Transformative%20Reforms%20of%20 the%20Movement%20for%20Black%20Lives.pdf〉; zu einer Beschreibung der

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Die Verwirklichung von Gerechtigkeit im abolitionistischen Sinne erfordert daher eine intensive Auseinandersetzung mit den strukturellen Bedingungen, die zu Leid führen, sowie mit der zwischenmenschlichen Dynamik, die mit Gewalt einhergeht. In diesem Aufsatz wird argumentiert, dass diese abolitionistische Vorstellung von Gerechtigkeit eine gewaltige Herausforderung für die bestehenden Vorstellungen von rechtlicher Gerechtigkeit darstellt. Während herkömmliche Darstellungen der rechtlichen Gerechtigkeit die Verwaltung der Gerechtigkeit durch individualisierte Rechtsprechung und entsprechende Bestrafung oder Entschädigung betonen (meist in idealisierten Begriffen, die in krassem Widerspruch zur Wirklichkeit von Rechtsprozessen stehen), bietet die abolitionistische Gerechtigkeit eine überzeugendere und sub­ stantielle Anstrengung zur Verwirklichung der Gerechtigkeit – eine, bei der die Bestrafung zugunsten von Verantwortungsübernahme und Wiedergutmachung aufgegeben und bei der die diskriminierende Strafverfolgung durch Praktiken ersetzt wird, die die systemischen Grundlagen von Ungleichheit, Armut und Gewalt angehen. Ein großer Teil dieses Beitrags wird sich auf abolitionistische Projekte in Chicago konzentrieren, zum Teil deshalb, weil Chicago ein Ort ist, an dem abolitionistische Mobilisierung in den letzten zehn Jahren floriert hat und an dem sich plurale Koalitionen formiert haben, die sich für Einwanderungsgerechtigkeit und Inklusion von Personen mit Rassismuserfahrungen, für Reparationen, partizipative Haushaltsplanung und soziale und ökonomische Veränderungen einsetzen. Aber der dauerhafte Fokus auf einen einzigen Ort mit seiner besonderen Geschichte und Gegenwart ist auch eine wichtige Dimension des Gerechtigkeitsverständnisses der zeitgenössischen Abolitionist:innen, die sich nämlich für eine erfahrungsbasierte Gerechtigkeit einsetzen und nicht in erster Linie von Grenzen der gegenwärtigen Bemühungen zur Reform der Strafjustiz siehe auch Allegra M. McLeod, »Review Essay, ›Beyond the Carceral State‹«, in: Texas Law Review, 95 (2017), S. 651-706, hier S. 665-689, S.  651; zu einer Gegenüberstellung von Reformbemühungen mit abolitionistischen Alternativen siehe dies., »Prison Abolition and Grounded Justice«, in: UCLA Law Review, 62 (2015), S. 1156-1239, hier S. 1207-1218, S. 1156; zu einem einfachen Leitfaden zur Bewertung aller vorgeschlagenen »Reformen« der US-Polizeiarbeit in diesem historischen Moment vgl. Mariame Kaba, »Police ›Reforms‹ You Should Always Oppose«, in: Truthout, 7. 12. 2014, 〈https://truthout.org/articles/police-reforms-you-should-always-op pose/〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022.

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idealisierten und abstrakten Prämissen ausgehen, die wenig darauf achten, wie diese Ideale in die Praxis umgesetzt werden. Der restliche Teil dieses Beitrags ist wie folgt aufgebaut: In Teil I wird das Projekt der abolitionistischen Demokratie näher beleuchtet. Teil II konzentriert sich darauf, wie diese eine alternative Konzeption von Gerechtigkeit darstellt – eine Konzeption, die in politischen Mobilisierungen Gestalt annimmt, die darauf abzielen, eine gerechtere und friedlichere Welt zu schaffen, ohne sich auf Gefängnisse und Polizei zu verlassen. In Teil III wird argumentiert, dass diese aufkommende Vorstellung von Gerechtigkeit sinnvoller und transformativer ist als die bestehenden Ideale der rechtlichen Gerechtigkeit, die allzu oft so weit von der Realität der rechtlichen Prozesse entfernt sind, dass sie den Bezug zum Ziel der Gerechtigkeit völlig verlieren. Diejenigen, die sich für eine abolitionistische Demokratie einsetzen, achten dagegen genau darauf und nähern sich damit dem an, was Gerechtigkeit tatsächlich verlangt. I. Abolitionistische Demokratie

Abolitionistische Aktivist:innen verstehen ihre Arbeit in der Tradition der historischen Kämpfe gegen die Sklaverei und ihre Nachleben, gegen den Imperialismus und sein Erbe in den neueren Praktiken des racial capitalism sowie gegen die Abschiebebehörden und die Abschottung der Grenzen.23 Ebenso wie diese historischen Bewegungen danach strebten, sowohl unterdrückerische Institutionen zu beseitigen als auch neue Formen eines gerechteren Zusammenlebens zu schaffen, so tun dies auch zeitgenössische abolitionistische Bewegungen. Zeitgenössische Bewegungen für die Abschaffung des staatlichen Strafens haben sich – aufbauend auf einem langjährigen Korpus abolitionistischer Schriften und Theorien – sowohl ein negatives oder dekonstruktives Projekt der Abschaffung von Strafvollzugssystemen als auch ein positives Projekt des Aufbaus einer neuen Welt zu eigen gemacht. Die abolitionistische Denkerin, Schriftstellerin und Aktivistin Mariame Kaba meint: »Die Abschaffung des Gefängnisses ist zweierlei: Es ist die vollständige und totale Ab23 Davis, »Abolitionistische Demokratie«; Du Bois, Black Reconstruction; Amna A. Akbar, »Toward a Radical Imagination of Law«, in: 93 N.Y.U. Law Review, 405 (2018), S. 460-466.

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schaffung von Gefängnissen, der Polizei und der Überwachung, wie sie derzeit in unserer Kultur existieren. Und es ist auch der Aufbau neuer Formen der Beziehung zueinander.«24 Wie Davis erklärt: [D]ie Abschaffung der Sklaverei [ist] nur im negativen Sinn erfolgt. Um eine umfassende Abschaffung der Sklaverei zu erreichen, nachdem die Institution für illegal erklärt und die schwarzen Menschen aus ihren Ketten befreit wurden, hätten neue Institutionen geschaffen werden müssen, um die Schwarzen in die gesellschaftliche Ordnung einzubeziehen [...]. [Es ist] eine ganze Reihe demokratischer Institutionen notwendig [...], deshalb »abolitionistische Demokratie«. Und wenn wir den Ansatz der abolitionistischen Demokratie auf die Abschaffung der Gefängnisse anwenden, sollten wir dazu die Schaffung einer ganzen Reihe sozialer Institutionen vorschlagen, die sich mit der Lösung der sozialen Probleme befassen würden, die die Menschen auf den Weg ins Gefängnis befördern, und die somit dazu beitragen würden, die Gefängnisse überflüssig zu machen.25

In diesem Sinne versteht Rachel Herzing, Mitbegründerin der gefängnisabolitionistischen Organisation Critical Resistance, Abolition als »eine Reihe von politischen Verantwortlichkeiten«, um neue Formen der kollektiven Sicherheit zu organisieren, die nicht auf Polizei oder Einsperrung angewiesen sind.26 In Unapologetic: A Black, Queer, and Feminist Mandate for Radical Movements definiert Charlene Carruthers Abolition in ähnlicher Weise als »eine langfristige politische Vision mit dem Ziel der Abschaffung von Inhaftierung, Polizieren und Überwachung und der Schaffung dauerhafter Alternativen zu Bestrafung und Inhaftierung«.27 Allerdings beinhaltet abolitionistische Demokratie nicht nur alternative Formen der Prävention und der Beseitigung von Verbrechen. Vielmehr fordert sie eine Konstellation demokratischer Institutionen und Praktiken, um Polizeiarbeit und Gefängnis zu ersetzen und gleichzeitig auf die Verwirklichung gerechterer und fairer Bedingungen des kollektiven Lebens hinzuarbeiten.28 Das 24 Mariame Kaba, Radiosendung auf Airgo, 2. 2. 2016, 〈https://airgoradio.com/air go/2016/2/2/episode-29-mariame-kaba〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 25 Davis, »Abolitionistische Demokratie«, S. 74. 26 Vision 4 Black Lives Webinar Series, »Invest/Divest«, Ferguson National Response Network, 12. 4. 2017, 〈http://fergusonresponse.tumblr.com/post/156584034738/ vision-for-black-lives-webinar-series-political〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 27 Charlene A. Carruthers, Unapologetic: A Black, Queer, and Feminist Mandate for Radical Movements, New York 2018, S. x. 28 Davis, »Abolitionistische Demokratie«.

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Ziel, so die Professoren Fred Moten und Stefano Harney in »Die Universität und die Undercommons«, ist »nicht unbedingt die Abschaffung der Gefängnisse, sondern die Abschaffung einer Gesellschaft, die Gefängnisse haben könnte, die Sklaverei haben könnte, die den Lohn haben könnte, und darum also nicht Abschaffung als Beseitigung von allem, sondern Abschaffung als die Gründung einer neuen Gesellschaft«.29 Wie sähe eine Gesellschaft aus, die sich der abolitionistischen Demokratie verpflichtet? Zeitgenössische Abolitionist:innen erkennen in den gegenwärtigen Demokratien, insbesondere der der Vereinigten Staaten, eine Farce, die durch hohle Vortäuschungen von Inklusion gekennzeichnet ist, angesichts eines kollektiven Versagens, sich ehrlich mit der Geschichte der Sklaverei, des Völkermords an indigenen Völkern, der Lynchjustiz, der Segregation, der Ausbeutung der arbeitenden Armen, der geschlechtsspezifischen Gewalt und der anhaltenden Ungleichheiten, die diese Praktiken hervorgebracht haben, auseinanderzusetzen.30 »Wenn Gleichheit am Zugang zu repressiven Institutionen gemessen wird, die unverändert bleiben oder durch die Zulassung jener, denen der Zutritt zuvor verwehrt war, sogar noch gestärkt werden«, schreibt Davis, »scheint mir, dass wir auf anderen Kriterien für Demokratie beharren müssen: substantiellen ebenso wie formalen Rechten, dem Recht auf Freiheit von Gewalt, dem Recht auf Arbeit, Wohnung, Gesundheitsfürsorge und gute Bildung.«31 Abolitionist:innen sind der Ansicht, dass die bestehenden Rechtssysteme eher Gewalt aufrechterhalten als Gerechtigkeit schaffen und durch die sie begleitenden Ideologien die Aufmerksamkeit davon ablenken, was 29 Harney/Moten, »Die Universität und die Undercommons«. Während diese Auffassungen von Abolition breite Prinzipien vermitteln, die von vielen Abolitionist:innen übernommen wurden, ist es auch wichtig zu beachten, wie Dylan Rodríguez es tut, dass Abolition in verschiedenen Kontexten unterschiedliche Dinge bedeuten kann. Dylan Rodríguez, »Abolition as Praxis of Human Being: A Foreword«, in: Harvard Law Review, 132 (2019), S. 1575-1612, hier S. 1575, S. 1578 (»[A]bschaffung ist eine Praxis, eine Methode, eine Analyse, eine gegenwärtige Vision, eine im Entstehen begriffene Infrastruktur, ein kreatives Projekt, eine Performance, ein Gegenkrieg, ein ideologischer Kampf, eine Pädagogik und ein Lehrplan, eine angebliche Unmöglichkeit, die heimlich präsent ist«). 30 Siehe Davis, »Abolitionistische Demokratie«. 31 Ebd, S.  80.

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Gerechtigkeit in einer demokratischen Gesellschaft ist oder sein könnte.32 Die abolitionistische Demokratie ist dagegen einer Gerechtigkeitskonzeption verpflichtet, die nicht nur sorgfältig auf die tatsächlichen Ergebnisse von Prozessen achtet, die den Anspruch erheben, Gerechtigkeit zu schaffen, sondern auch eine gerechtere Verteilung von Ressourcen und Chancen anstrebt. Die Frage, wie genau eine gerechtere Verteilung erreicht werden kann, wird jedoch in den bestehenden abolitionistischen Ansätzen notwendigerweise nur teilweise beschrieben. Dies ist nach Ansicht der zeitgenössischen Abolitionist:innen so, weil unsere gegenwärtigen imaginativen und institutionellen Ressourcen durch die Parameter unserer höchst ungleichen Welt begrenzt sind.33 Für Davis würde die abolitionistische Demokratie die Verwirklichung einer Form von demokratisch-sozialistischer Regierung mit Rechten auf Arbeit, Wohnung, Gesundheitsversorgung und Bildung bedeuten,34 während für Moten und Harney Abolition einen Widerstand gegen den modernen Kapitalismus amerikanischer Prägung bedeutet, der auf die Schaffung einer kommunistischen Gesellschaft hinarbeitet oder zumindest eine Politik und Wirtschaft fordert, die kooperativ, solidarisch und egalitär ist.35 Ebenso definiert das Movement for Black Lives sein abolitionistisches Projekt als Organisation »gegen die Verwüstungen des globalen Kapitalismus und des anti-Schwarzen Rassismus, des vom Menschen verursachten Klimawandels, des Krieges und der Ausbeutung« und für eine »staatliche Wiedergutmachung des angerichteten Schadens« durch »gezielte langfristige Investitionen«.36 Obwohl es Unterschiede zwischen den Visionen zeitgenössischer Abolitionist:innen zur abolitionistischen Demokratie gibt, insbesondere in Bezug auf ihre ökonomischen Dimensionen, ist den zeitgenössischen Abolitionist:innen das Engagement 32 »Die Todesstrafe ist ein Auffangbecken für die Hinterlassenschaften des Rassismus, doch jetzt, unter der Herrschaft rechtlicher Gleichheit, kann sie gegen jede:n und unabhängig vom race-Status der Person angewendet werden«; ebd., S. 76. 33 Zu einer Erklärung dieser Dynamik siehe Allegra M. McLeod, »Confronting Criminal Law’s Violence: The Possibilities of Unfinished Alternatives«, in: Harvard Unbound, 8 (2013), S. 109-132, hier S. 109. 34 Siehe Davis, »Abolitionistische Demokratie«. 35 Vgl. Harney/Moten, »Die Universität und die Undercommons«. 36 Movement for Black Lives, »Platform«.

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für die Transformation strafrechtlicher Prozesse in Verbindung mit der Ausweitung gerechter sozialer und demokratischer Formen kollektiver Regierung gemein. Die Verwirklichung der abolitionistischen Demokratie erfordert daher, neue Wege zur Verhinderung und Verringerung von Gewalt zu entwickeln und gleichzeitig Gerechtigkeit umfassend neu zu entwerfen. Gerechtigkeit für Abolitionist:innen muss ein demokratisch informiertes Bemühen beinhalten, die Ursachen für zwischenmenschliches Leid zu bekämpfen und gleichzeitig Frieden und Wohlergehen zu gewährleisten. Ebenso hat sie die Überwindung von Polizei und Inhaftierung in Verbindung mit Bemühungen um größere soziale und wirtschaftliche Gleichheit zum Ziel. II. Die Präfiguration der Gerechtigkeit,

die Präfiguration der Abolition

Eine Welle abolitionistischer Mobilisierung erfasste die Organisierung Jugendlicher of color in Chicago, als nach einer Reihe von Polizist:innenmorden an jungen Menschen die Bemühungen um zivil- oder strafrechtliche Wiedergutmachung immer wieder scheiterten. Im Jahr 2012 schoss der Chicagoer Polizeibeamte Dante Servin außerhalb seines Dienstes einer 22-jährigen Frau namens Rekia Boyd in den Hinterkopf, während er in seinem Auto saß.37 Bevor er sie tötete, hatte Servin Boyd und ihre Freund:innen beschuldigt, zu viel Lärm zu machen, und er ermordete sie im Verlauf des darauf folgenden Streits.38 Im Jahr 2014 nahm die Polizei den 23-jährigen Dominique Franklin wegen des Diebstahls einer Flasche Wodka in einem Walgreens-Geschäft fest.39 Die Beamt:innen legten ihm Handschellen an.40 Anschließend misshandelte die Polizei Franklin mit einem Taser, während er gefesselt war, und schickten Elektroschocks durch den Körper des jungen Mannes, so dass er stürzte 37 Vgl. Ben Austen, »Chicago After Laquan McDonald«, in: New York Times Magazine, 2016, 〈https://nyti.ms/1SuTgIr〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 38 Vgl. ebd. 39 Siehe Maya Dukmasova, »›End of the Nightstick‹: Chicago Poets Fight ­Police Violence«, in: The Progressive, 26. 5. 2015, 〈https://progressive.org/magazine/ end-nightstick-chicago-poets-fight-police-violence/〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 40 Vgl. ebd.

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und mit dem Kopf gegen einen Lichtmast schlug.41 Franklin starb an den Folgen seiner Verletzungen.42 Ebenfalls 2014 tötete der Polizeibeamte Jason Van Dyke den Teenager Laquan McDonald, indem er wiederholt aus nächster Nähe in McDonalds Kopf und Körper schoss.43 McDonald, der nachts eine Straße entlanglief, als die Polizei ihm zu folgen begann, war lediglich im Besitz eines eingeklappten Taschenmessers und schien sich zum Zeitpunkt der Schüsse von dem Beamten abzuwenden.44 Wie die Videoaufnahmen der Ereignisse deutlich zeigen, waren andere Beamt:innen vor Ort und die Situation war unter Kontrolle, als Van Dyke aus seinem Auto sprang und McDonald ermordete, indem er sechzehnmal auf ihn schoss.45 Beamt:innen aus Chicago, darunter der Staatsanwalt und der Bürgermeister, versuchten über ein Jahr lang, das Filmmaterial von McDonalds Ermordung zu verbergen, bis sie unter wachsendem Druck gezwungen waren, das Video zu veröffentlichen.46 Obwohl mit den Familien der ermordeten Jugendlichen Vergleiche geschlossen wurden, ergriff das Chicago Police Department keine Maßnahmen gegen die Beamt:innen, die Boyd und Franklin getötet hatten – und im Fall McDonald wurde das Revier erst tätig, als es dazu gezwungen wurde.47 Im ganzen Land wurden immer mehr Morde durch die Polizei öffentlich bekannt. Nur sehr wenige davon führten jedoch zu strafrechtlichen Anklagen, und selbst in den Fällen, in denen die Täter:innen verurteilt wurden, schienen die Urteile in allen Fällen in keinem Verhältnis zu dem begangenen Unrecht zu stehen.48 Als die jungen Aktivist:innen diese Untätigkeit, die offenbare Unzulänglichkeit zivilrechtlicher Schlichtungen und strafrechtlicher Urteile sowie die Korruption, von der sowohl die Strafverfolgungsbehör41 Vgl. ebd. 42 Vgl. ebd. 43 Vgl. Austen, »Chicago After Laquan McDonald«. 44 Vgl. Mitch Smith, »Chicago Police Officer Defends His Shooting of Laquan McDonald«, in: The New York Times 2018, 〈https://nyti.ms/2NZ9DB5〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 45 Vgl. Austen, »Chicago After Laquan McDonald«. 46 Vgl. ebd. 47 Vgl. ebd. 48 Vgl. »Police Shootings, Trials Are Rare for Officers«, in: CNN, 18. 5. 2017, 〈https:// www.cnn.com/2017/05/18/us/police-involved-shooting-cases/index.html〉, ­letzter Zugriff 6. 1. 2022.

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den als auch die städtischen politischen Einrichtungen geplagt waren, erlebt hatten, erklärten sie das »ganze System [...] für schuldig wie der Teufel«.49 Sie nahmen sich vor, über den üblichen straf- und zivilrechtlichen Rahmen hinaus Wiedergutmachung für das an ihnen begangene Unrecht zu fordern. Anstatt einfach nur die Entlassung dieser mörderischen Polizist:innen oder eine Anklage gegen sie zu fordern, versuchten die Aktivist:innen, ihre Empörung über diese Morde mit den jahrzehntelangen Folterungen durch die Chicagoer Polizei und den tieferen Bedingungen sozialer Ungleichheit, Korruption und Ungerechtigkeit zu verbinden, die seit langem die Verteilung der Lebenschancen in Chicago und im ganzen Land kennzeichnen. Malcolm London, ein in Chicago ansässiger Aktivist von BYP100 und ein Freund von Dominique Franklin, beschrieb die Enttäuschung über die bestehenden rechtlichen Rahmenbedingungen mit diesen Worten: »Was heute Hoffnung macht, ist, dass mehr und mehr Menschen begonnen haben zu erkennen, dass die Strafverfolgung oder die Anklage eines:r Beamt:in oder der Gewinn eines Zivilprozesses durch ein paar Leute nicht die Art von Gerechtigkeit ist, die wir sehen wollen.«50 Veronica Morris-Moore, eine weitere Aktivistin aus Chicago, kam ebenfalls zu diesem Schluss: »Das bestehende System wird jungen Menschen wie Laquan McDonald niemals Gerechtigkeit verschaffen.«51 Page May, eine der Gründer:innen von Assata’s Daughters, einer in Chicago ansässigen generationenübergreifenden Organisation radikaler schwarzer Frauen, die mit Black Lives Matter verbunden ist, formuliert es so: »Wir sind abolitionistisch in unserer Politik [...]. Wir kämpfen für eine Welt, in der die Polizei obsolet ist.«52 Es stellte sich also die Frage, was Gerechtigkeit für Abolitionist:innen stattdessen bedeuten könnte. Der Freedom Square und andere abolitionistische Projekte – insbesondere die »Vision for Black Lives«53 des Movement for Black Lives und die »Agenda to 49 Ebd. 50 Dukmasova, »End of the Nightstick«. 51 Austen, »Chicago After Laquan McDonald«. 52 Ebd. 53 Zu einem Überblick der Forderungen der Bewegung für Schwarzes Leben siehe Movement for Black Lives, »A Vision for Black Lives«, 〈https://policy.m4bl.org/, letzter Zugriff 6. 1. 2022.

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Build Black Futures«54 des Black Youth Project 100 – nahmen zum Teil als Lösungsversuche dieser Frage Gestalt an. Sowohl die »Vision for Black Lives« als auch die »Agenda to Build Black Fu­tures« fordern Gerechtigkeit nach Polizeischüssen in Verbindung mit einer Bewegung, die Ressourcen vom repressiven Arm des Staates abzieht und sie in soziale Projekte, einschließlich Reparationen und demokratische Institutionen, investiert.55 Die »Vision for Black ­Lives«, verfasst von »einem Kollektiv von mehr als fünfzig Organisationen, die Tausende von Schwarzen Menschen aus dem ganzen Land repräsentieren«, bietet eine Analyse der Beziehung zwischen Justiz, ökonomischer Gerechtigkeit und racial justice.56 Die »Vision« fordert »ein Ende der Kriege gegen Schwarze Menschen« und ruft dazu auf, »die Systeme und Institutionen, die uns kriminalisieren und einsperren, nicht mehr zu finanzieren«.57 Während die »Vision« »eine grundlegend andere Welt« beschreibt, erkennt sie auch die Notwendigkeit von »politischen Maßnahmen, die das unmittelbare Leid Schwarzer Menschen« und die »gegenwärtigen materiellen Bedingungen« adressieren, um »uns besser zu rüsten, die Welt zu gewinnen, die wir fordern und verdienen«.58 Zu diesem Zweck befasst sich die »Vision« mit dem Thema Gerechtigkeit sowohl in Form weitreichender Transformationsbemühungen als auch in Form kurzfristig erreichbarer politischer Maßnahmen.59 54 Siehe Black Youth Project 100, »Agenda to Build Black Futures«. 55 Zur Reaktion auf »die anhaltende und zunehmend sichtbare Gewalt gegen Schwarze communities« und der Forderung nach einer transformativen politischen, sozialen und ökonomischen Politik vgl. Movement for Black Lives, »Platform«; mit einem Programm für »die Abkehr von lokaler, staatlicher und bundesstaatlicher Polizeiarbeit und Gefängnissen und für Investitionen in die Zukunft von Schwarzen Menschen« Black Youth Project 100, »Agenda to Build Black Futures«. 56 Movement for Black Lives, »Platform«. 57 Ebd. 58 Ebd. 59 Die Bewegung setzt sich für einen transformativen Reformansatz ein, siehe Butts, Akbar, »Transformative Reforms«, S. 13 (»Im Gegensatz zu dem, was manchmal behauptet wird, lehnt die Bewegung Reformen nicht ab: Sie lehnt jene oberflächlichen Reformen ab, die das System des racial capitalism und der weißen Hegemonie, in dem kriminelle Ungerechtigkeit gedeiht, nicht in Frage stellen«); Amna Akbar beschreibt die Vision der Bewegung als »langfristiges Bestreben […], begründet in […] praktischen Bedürfnissen«; Akbar, »Toward a Radical Imagination«, S. 426.

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In der »Agenda to Build Black Futures« wird das Streben nach Gerechtigkeit im »Gefolge zahlreicher Todesschüsse« ebenfalls mit der Notwendigkeit verknüpft, die »verheerenden Arbeitslosenquoten« und unerfüllte Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit und racial justice zu adressieren.60 In diesen Schriften wird das Streben nach Gerechtigkeit in der Folge von Polizeigewalt und angesichts sozialer Entrechtung so verstanden, dass es mit Demokratisierungsbestrebungen des Zusammenlebens unmittelbar verknüpft ist. Wie Janaé Bonsu von BYP100 zur Veröffentlichung der »Agenda« erklärte: »Solange unsere wirtschaftlichen Bedürfnisse nicht erfüllt sind, so dass wir in vollem Umfang an unserem sozialen und politischen Leben teilhaben können, können die USA nicht wirklich als demokratische Nation angesehen werden.«61 In ihrem Buch Undoing Border Imperialism beschreibt die Schriftstellerin, Aktivistin und Abolitionistin Harsha Walia das Potential lokaler Projekte für sozialen Wandel als Präfiguration – als Weg, die Art von veränderter Welt, in der wir leben möchten, zu präfigurieren und dadurch schrittweise zu realisieren. Für Walia erfordert ein grundlegender Wandel mehr als einen »Kampf gegen Macht und Kontrolle«: [E]s geht auch darum, sich alternative Institutionen und Beziehungen auszudenken und zu schaffen. Widerstand, der darauf abzielt, die gegenwärtigen Systeme kolonialer Herrschaft und systemischer Hierarchien zu demontieren und gleichzeitig Gesellschaften zu schaffen, die auf Gleichheit, gegenseitiger Hilfe und Selbstbestimmung beruhen [...], einer grundlegenden Neuausrichtung von uns selbst, unseren Bewegungen und unseren Gemeinschaften, um mit Intentionalität, Kreativität, Militanz, Demut und vor allem mit einem tiefen Sinn für Verantwortung und Gegenseitigkeit zu denken und zu handeln.62

Als in Chicago und anderswo Aktivist:innen, community-Mitglieder, gewaltbetroffene Personen, aktivistische Anwält:innen und andere daran arbeiteten, die in der »Vision« und der »Agenda« zum Ausdruck kommenden Ziele zu verwirklichen, verstanden sie ihr Streben nach Gerechtigkeit als präfigurativ. Gruppen wie die Chica60 Black Youth Project 100, »Agenda to Build Black Futures«. 61 Ebd. 62 Harsha Walia, Undoing Border Imperialism, Oakland 2013, S. 249.

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go Torture Justice Memorials und Black People Against Police Torture,63 das Movement for Black Lives, Assata’s Daughters, BYP100, Mijente und We Charge Genocide weigerten sich, sich mit bereits existierenden Maßnahmen zufriedenzugeben. Stattdessen verfolgten sie alle das Ziel, Gerechtigkeit in diesem weitreichenden, aber auch sofort umsetzbaren und größtenteils lokal spezifischen Sinne zu verwirklichen.64 In den folgenden Abschnitten werden abolitionistische Bemühungen beschrieben, die versuchten, auf staatlich verübte Gewalt zu reagieren, zwischenmenschliches Leid zu adressieren und lokale Macht aufzubauen, um ökonomische Gerechtigkeit zu erreichen. In all diesen Fällen haben Abolitionist:innen nicht nur dadurch Gerechtigkeit angestrebt, dass sie sich außerhalb der traditionellen rechtlichen Kontexte um die Bedürfnisse von Geschädigten gekümmert haben, sondern auch dadurch, dass sie die Machtstrukturen und unmittelbaren sozialen Beziehungen veränderten, die das Leid in erster Linie hervorbrachten. Diese Schilderungen zeigen, dass Gerechtigkeit für Abolitionist:innen in gelebter Erfahrung und positiver Veränderung verankert ist, Konzepte, die auf den folgenden Seiten noch näher erläutert werden.

A. Gerechtigkeit nach Gewalt Eine Herausforderung, die sich oft als Reaktion auf die Forderung nach Abolition stellt, ist die Frage, ob oder wie es möglich sei, auf die schrecklichsten Formen von Gewalt in einer Weise zu reagieren, die mit einer abolitionistischen Ethik vereinbar ist. Eine Möglichkeit, das zu durchdenken, wird dadurch deutlicher, dass wir untersuchen, wie Abolitionist:innen sich Gerechtigkeit ohne Gefängnisse und Polizei vorstellen und darauf hinarbeiten. Der vielleicht berüchtigtste Chicagoer Beamte, der sich der Fol63 Vgl. G. Flint Taylor, »The Long Path to Reparations for the Survivors of Chicago Police Torture«, in: Northwestern Journal of Law and Social Policy, Nr. 11 (3), (2016), S. 330-353, hier S. 330, S. 338, S. 340. 64 Siehe Movement for Black Lives, »Platform«; Assata’s Daughters, »Our Politics: What We Believe«, 〈http://www.assatasdaughters.org/our-politics〉; Black Youth Project 100, »Agenda to Build Black Futures«; Marisa Franco, »An Introduction to Mijente«, Mijente, 2015, 〈https://mijente.net/2015/12/10/an-introduc tion-to-mijente/〉; We Charge Genocide, »About«, 〈http://wechargegenocide. org/about/〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022.

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ter schuldig gemacht hat, ist der verstorbene Jon Burge, ein korrupter, bösartiger und brutaler weißer Polizeikommandant, der von den 1970er bis in die 1990er Jahre einem Terrorregime vorstand.65 Menschen, die in Burges Gewalt gerieten, wurden mit dem Kopf in Plastikbeuteln gewürgt, zu falschen Geständnissen gezwungen und mit Elektroschocks an den Genitalien gefoltert, die von einer Telefonzelle aus verabreicht wurden, eine Methode, die Burge während seines Militärdienstes in Vietnam gelernt hatte.66 Viele von denen, die diesen Formen der Folter ausgesetzt waren, lieferten schließlich erzwungene Geständnisse; eine beträchtliche Anzahl wurde zum Tode verurteilt.67 Die Bemühungen um Gerechtigkeit nach der von Burge und seinen Helfer:innen begangenen Folterung umfassten nicht nur oder nicht in erster Linie das Streben nach Bestrafung für Burges Unrecht, sondern auch eine weitreichende Aufarbeitung, die einen Einblick in die kontinuierliche Arbeit der Abolitionist:innen bietet, sich Gerechtigkeit neu vorzustellen. Tatsächlich waren konventionellere Formen der juristischen Gerechtigkeit für die Chicagoer Polizeifolter weitgehend unerreichbar; als die aktiven Versuche seitens der Stadtverwaltung, Beweise für Burges Fehlverhalten zu leugnen, zu vernichten und zu verbergen, beendet waren, waren die meisten seiner Verbrechen bereits verjährt,68 und zivilrechtliche Rechtsmittel allein schienen für das Ausmaß des begangenen Unrechts unzureichend. Im Jahr 2011 wurde Burge zu viereinhalb Jahren Haft in einem Bundesgefängnis verurteilt, nachdem er wegen Meineids und Behinderung der Justiz verurteilt worden war, weil er über sein Fehlverhalten gelogen hatte.69 Burge verbüßte dreiein65 Vgl. Natalie Y. Moore, »Payback«, in: The Marshall Project, 30. 10. 2018, 〈https:// www.themarshallproject.org/2018/10/30/payback〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 66 Siehe ebd.; John Conroy, »Tools of Torture«, in: Chicago Reader, 3. 2. 2005, 〈htt ps://chicagoreader.com/news-politics/tools-of-torture/〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 67 Vgl. Natalie Moore beschreibt mindestens zehn Fälle, in denen Männer »aufgrund von Geständnissen, die Burge und seine Männer aus ihnen herausgefoltert haben, zum Tode verurteilt wurden«, vgl. Moore, »Payback«. 68 Vgl. Carlos Sadovi, Bob Secter, »Report: Cops Used Torture«, in: Chicago ­Tribune, 20. 7. 2006, 〈https://www.chicagotribune.com/ct-jon-burge-archives-20 060720-story.html〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 69 Vgl. »Jon Burge and Chicago’s Legacy of Police Torture« [o. V.], in: Chicago Tribune, 19. 7. 2018, 〈https://www.chicagotribune.com/news/ct-jon-burge-chica go-police-torture-timeline-20180919-htmlstory.html〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022.

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halb Jahre dieser Strafe.70 Der ehemalige Gouverneur von Illinois, George Ryan, begnadigte mehrere der von Burge und seinen Helfer:innen gefolterten Männer, die in Illinois in der Todeszelle saßen oder lange Haftstrafen verbüßten, oder wandelte ihre Strafe in eine Geldstrafe um, und mehrere der seit Jahrzehnten inhaftierten Personen schlossen mit der Stadt einen Vergleich, der die Zahlung beträchtlicher Geldsummen beinhaltete.71 Diese Ergebnisse wurden von allen Beteiligten als unzureichend und nicht als Beweis für die Herstellung von Gerechtigkeit wahrgenommen. Als die Bewegung, die weitreichende Gerechtigkeit gegen die Chicagoer Polizeifolter anstrebte, Gestalt annahm, erstellten Betroffene und andere Aktivist:innen zunächst eine öffentliche Dokumentation des Ausmaßes der Gewalt und begannen, umfassend und gemeinsam darüber nachzudenken, wie es möglich sein könnte, das Geschehene aufzuarbeiten. Durch ihre Arbeit, die Folterungen durch die Polizei in Chicago ans Licht zu bringen, trugen Betroffene und Aktivist:innen umfangreiches Beweismaterial zusammen.72 Die öffentlichen Aussagen der Betroffenen über die Folterungen boten einen überwältigenden Beleg für das von der Polizei in Chicago verursachte Leid.73 Betroffene, Aktivist:innen und Anwält:innen legten die Folterfälle in Chicago schließlich internationalen Gremien vor, darunter der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte und dem Ausschuss der Vereinten Nationen gegen Folter.74 Darüber hinaus gründete eine Koalition jugendlicher Aktivist:innen, die mit Black Lives Matter in Verbindung stehen, eine Gruppe namens We Charge Genocide, die den Vereinten Nationen Beweise für die in jüngerer Zeit von der Polizei in Chicago sowie in Gefängnissen und Haftanstalten im ganzen Bundesstaat verübte Gewalt vorlegte.75 70 Vgl. ebd. 71 Vgl. ebd. 72 Vgl. etwa We Charge Genocide, Police Violence Against Chicago’s Youth of Color, Chicago 2014, Chicago Torture Justice Memorials, Alternative Report by the Chicago Torture Justice Memorials on Survivors of Torture in Chicago, Chicago 2016. 73 Vgl. »Jon Burge and Chicago’s Legacy of Police Torture« [o. V]. 74 G. Flint Taylor, »The Chicago Police Torture Scandal: A Legal and Political History«, in: 17 CUNY Law Review, 329 (2014), S. 329-381, hier S. 357 f. 75 Siehe die Pressemitteilung von We Charge Genocide, »Chicago Police ­Violence Against Black and Latino Youth Called Out by United Nations Committee Against Torture«, 1. 12. 2014, 〈http://wechargegenocide.org/tag/uncat/〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022.

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Diese umfassende Bilanzierung außerhalb der Grenzen, die durch die restriktiven Beweisregeln in inländischen Straf- und Zivilgerichten gesetzt sind, stellte einen wichtigen ersten Teil des Prozesses dar, in dem darüber nachgedacht wurde, was Gerechtigkeit für die von der Polizei in Chicago verübte Folter bedeuten könnte. Die Gruppe We Charge Genocide verlangte eine andere Konzeptualisierung der Ungerechtigkeit polizeilichen Verhaltens und möglicher Wiedergutmachung, indem sie die Verstöße als Menschenrechts- statt als Bürger:innenrechtsverletzungen verstanden, und sie appellierte teilweise an internationale Gremien, um das Versagen und die Vernachlässigung des US-Staates zu unterstreichen.76 Wie Dylan Rodríguez argumentiert: [We Charge Genocide führte eine] kritische Analyse ein, welche eine deutliche Abkehr von liberalen Ansätzen zur Polizeireform erfordert. Die liberalen Ansätze neigen nämlich dazu, episodische Erzählungen von Polizeibrutalität zu reproduzieren, die daran scheitern, die grundlosen, manchmal spektakulären Darbietungen vergeschlechtlichter und rassistischer Polizeiarbeit als Teil einer allgemeinen historischen Kontinuität von Machtbeziehungen zu begreifen, die die staatlichen Institutionen der USA und die sozioökonomischen Formationen strukturieren, innerhalb derer sie ihre Souveränität ausüben.77

Teilnehmer:innen der Bewegung – darunter Betroffene, Aktivist:innen, Pädagog:innen, Künstler:innen und Anwält:innen – gründeten auch das Projekt Chicago Torture Justice Memorials (CTJM), welches Vorschläge aus der breiteren community einholte, wie man der Folter durch die Polizei in Chicago gedenken und sich weiterhin für Gerechtigkeit einsetzen könnte.78 Während des gesamten Jahres 2012 führte das CTJM Round-­ Table-Gespräche, Workshops, Lesungen, Aufführungen und andere Bildungsveranstaltungen durch.79 Im Herbst eröffnete es eine Ausstellung in einer lokalen Kunstgalerie mit dem Titel »Opening the Black Box, the Charge is Torture« (»Die Blackbox öffnen, die 76 Vgl. We Charge Genocide, Police Violence, S. 11-13. 77 Rodríguez, »Abolition as Praxis«, S. 1604. 78 Vgl. Chicago Torture Justice Memorials, »About«, 〈https://www.chicagotorture. org/?page_id=97〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 79 Vgl. Chicago Torture Justice Memorials, »History of the Campaign«, 〈https:// www.chicagotorture.org/?page_id=615〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022.

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Anklage lautet Folter«), die 75 folterbezogene Exponate zeigte, die von Künstler:innen, Pädagog:innen, Architekt:innen und Aktivist:innen als Vorschläge zur Erinnerung an die Folter der Chicagoer Polizei eingereicht worden waren.80 Später im Jahr, als die CTJM ihre Reihe von Kultur- und Bildungsveranstaltungen, einschließlich eines Filmfestivals, fortsetzte, entwarf sie auch die ursprüngliche Reparationsverordnung.81 Die CTJM wurde zu einem wichtigen Instrument, um die Frage offenzuhalten und weiterzuverfolgen, was Gerechtigkeit in Bezug auf die Chicagoer Polizeifolter beinhalten sollte. Die Aktivist:innen forderten nicht nur ein umfassendes öffentliches Verzeichnis des von den Chicagoer Beamt:innen begangenen Unrechts und die Einleitung einer kollektiven Diskussion darüber, was Gerechtigkeit bedeuten sollte, sondern auch eine formelle Entschuldigung und Reparationen (in Form einer umfassenden finanziellen Entschädigung und rehabilitativer Leistungen) für alle Betroffenen.82 Zwei Gruppen, die sich für die Aufarbeitung der Polizeifolter in Chicago einsetzen – Black People Against Police Torture, eine Graswurzelorganisation, und die National Conference of Black Lawyers –, bestanden darauf, die geforderte Entschädigung als »Reparationen« zu bezeichnen.83 Der Begriff war für die Aktivist:innen wichtig, weil er direkt an den rassistischen Charakter der Gewalt erinnerte – Burge und seine weißen Kommandeur:innen hatten es auf Schwarze abgesehen, benutzten in ihren Foltersitzungen rassistische Ausdrücke, malten ihre Elektroschockgeräte schwarz an und operierten ausschließlich in schwarzen communities, die durch Praktiken der Segregation und das Erbe der Sklaverei verwüstet waren.84 Laut G. Flint Taylor, einem aktivistischen Anwalt, der die Betroffenen der Folterungen in Chicago vertrat und an der Kampagne zur Erlangung von Reparationen mitwirkte,85 80 Vgl. Jeremy Ohmes, »The Charge is Torture«, School of the Art Institute Chicago, 〈https://www.saic.edu/150/charge-torture.html〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 81 Vgl. Taylor, »The Long Path«, S. 342. 82 Vgl. ebd., S. 342-344. 83 Vgl. ebd., S. 338. 84 Vgl. ebd., S. 342; Sandhya Somashekhar, »Why Chicago Used the Word ›Reparations‹«, in: Washington Post, 8. 5. 2015, 〈https://wapo.st/1EijFwO〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 85 Vgl. Taylor, »The Long Path«, S. 330.

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»war die direkte Verknüpfung der Chicagoer Polizeifolter mit der Brutalität der Sklaverei durch das Konzept der Reparationen – ebenso wie die Verknüpfung mit dem internationalen Ausmaß der Folter – ein wichtiger Schritt zur Schaffung einer wahren und vollständigen Geschichte, durch die Folteropfer Anerkennung und Reparationen erlangen konnten«.86 Wie Kaba beschreibt, spiegelte das Wort »Reparationen« wider, dass jegliche Entschädigung als Wiedergutmachung für den Missbrauch durch den Staat gedacht war, und betonte, dass Rassifizierung und Voreingenommenheit wesentliche Bestandteile der verübten Gewalt waren: »Der rassistische Aspekt ist ein wesentlicher Teil der Folter selbst [...]. [Die] Opfer waren wiederholt rassistischen Beschimpfungen ausgesetzt. Die Box, aus der die tödlichen Stromschläge kamen, wurde als die ›N*‹-Box bezeichnet [...]. Sie war schwarz angemalt.«87 Schließlich entwickelten die Teilnehmer:innen der Bewegung einen Gesetzesvorschlag, den sie »Illinois Reparations for Police Torture Victims Act« nannten.88 Die vorgeschlagene Gesetzgebung sah Reparationen für die noch inhaftierten Opfer von Burge vor und setzte sich mit dem »langfristigen Trauma, das die Folter den Opfern und ihren Familien zugefügt hat«, auseinander.89 Sie forderte die Einrichtung eines »Zentrums für Folteropfer und ihre Familien«, das rehabilitative Unterstützung und Behandlung, kommunale Bildung und berufliche Unterstützung anbietet, sowie die Einsetzung einer Unschulds-Untersuchungskommission, die sich mit glaubwürdigen Unschuldserklärungen von Folteropfern befassen soll.90 Die Bemühungen der Abolitionist:innen in Chicago unterschieden sich in mehrfacher Hinsicht von den herkömmlichen Bemühungen um Gerechtigkeit. Während ein Gerichtsverfahren durch die Ressourcen und Anreize von Anwält:innen begrenzt ist, konnte die öffentliche Kampagne in Chicago wachsen und sich entsprechend dem direkten Beitrag der Betroffenen und Aktivist:innen anpassen. Hinzu kommt, dass Gerichtsprozesse durch juristische Vorschriften begrenzt sind, die nicht unbedingt der Gerechtigkeit 86 Ebd., S.  338. 87 Somashekhar, »Why Chicago Used the Word Reparations«. 88 Vgl. Taylor, »The Long Path«, S. 339. 89 Ebd. 90 Vgl. ebd.

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dienen – Vorschriften, die beispielsweise bestimmte Arten von Beweisen ausschließen, die Verhältnismäßigkeit des polizeilichen Handelns extrem großzügig bewerten oder, wie in diesem Fall, Verjährungsfristen anwenden, um die Herstellung von Gerechtigkeit gänzlich zu verhindern. Die Bewegung in Chicago strebte also nach Gerechtigkeit, die nicht auf dem Rechtsweg erreicht werden konnte, und der Fokus auf der Förderung eines kontinuierlichen und öffentlichen Dialogs zwischen Betroffenen, Aktivist:innen und Pädagog:innen unterscheidet die gesetzesbezogene Lobbyarbeit der Chicagoer Bewegung von anderen, ähnlich reformistischen Initiativen. Schließlich gelang es den Aktivist:innen, die Stadt Chicago dazu zu bewegen, ein fortlaufendes Projekt zum Gedenken an die Folter ins Leben zu rufen, mehr als fünf Millionen US-Dollar an Reparationen für Betroffene bereitzustellen und ein Zentrum einzurichten, welches Betroffene von Polizeitraumata medizinisch, psychologisch und anderweitig unterstützt.91 Aktivist:innen haben es außerdem geschafft, dass der Lehrplan der öffentlichen Schulen in Chicago entsprechend geändert wurde und dass die zeitgenössische Geschichte der polizeilichen Folter und ihre Verbindungen zu Kolonialismus und Sklaverei thematisiert werden.92 Die Chicagoer Reparationsinitiative ist ein Beispiel dafür, wie eine neue Vorstellung von Gerechtigkeit in einem abolitionistischen Sinne aussehen könnte. Wie Kaba beschreibt: [D]ie Verordnung über Reparationen [ist] ein abolitionistisches Dokument [...], weil es ein Dokument ist, das sich nicht auf das Gerichts-, Gefängnisund Strafsystem stützt, um zu versuchen, eine umfassendere Vorstellung von Gerechtigkeit zu entwickeln. Die finanzielle Entschädigung war zwar ein Teil dieses Pakets, aber es gab auch eine ganze Reihe anderer Maßnahmen. [...] Wir forderten eine ganze Reihe von Dingen, von denen wir dachten, dass sie helfen, die Ge91 Vgl. Hal Dardick u. a., »Mayor Backs $ 5.5 Million Reparations Deal for Burge Police Torture Victims«, in: Chicago Tribune, 14. 4. 2015, 〈https://www.chicago tribune.com/news/breaking/ct-burge-reparations-emanuel-met-20150414-story. html〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 92 Vgl. Chicago Public Schools, Department of Social Science and Civic Engage­ ment, »Reparations Won: A Case Study in Police Torture, Racism, and the Movement for Justice in Chicago« (2017), 〈https://m4bl.org/wp-content/up loads/2020/11/Case-Study-One.pdf〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022.

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rechtigkeit für Menschen, denen Unrecht widerfahren ist, für Betroffene von Gewalt, neu zu überdenken [...]. Chicago ist die erste Stadt in der Geschichte, die jemals ein Gesetz zur Reparation von Gewalt durch Polizeibeamt:innen verabschiedet hat. Das ist also etwas, das andere Städte jetzt für sich selbst in Betracht ziehen, als Mittel der Gerechtigkeit, die keine persönlichen und individuellen Anklagen gegen die Polizei sind, keine Forderungen, Polizist:innen ins Gefängnis zu stecken [...], [nicht] die gleiche Art von Sprache, die wir immer wieder hören.93

B. Verwirklichung von transformativem Frieden und Gerechtigkeit Abolitionist:innen in Chicago und anderswo haben nicht nur überlegt, wie man auf die schrecklichsten Formen staatlicher Gewalt reagieren kann, sondern auch versucht, andere Formen von weniger öffentlichem zwischenmenschlichen Schaden zu adressieren. Dazu gehörte die Entwicklung alternativer Mittel zur Verhinderung von Gewalt und alternativer Möglichkeiten der Reaktion auf die Zufügung von Leid. Bei diesen Bemühungen handelt es sich um kleine Versuche, andere Beziehungen zwischen Menschen zu gestalten, sinnvolle und dichte Netze gegenseitiger Unterstützung zu entwickeln, echte Alternativen zum Eingreifen von Polizei und Gefängnis zu schaffen und Macht aufzubauen, die zur Verwirklichung weitergehender Veränderungen genutzt werden kann. Viele dieser lokalen Projekte bieten Rettungskräfte, Mediationsunterstützung oder andere alternative Formen der gegenseitigen Hilfe für diejenigen, die andernfalls wahrscheinlich Schikane, Verhaftung, möglicher Polizeigewalt oder Inhaftierung ausgesetzt wären. Bei diesen verschiedenen Programmen im ganzen Land versuchen die Mitglieder der community einzugreifen, bevor Konflikte eskalieren. In Chicago und einigen anderen Großstädten beispielsweise arbeiten Teams von »Gewaltunterbrecher:innen« (violence interruptors), die mit einem Programm namens Cure Violence verbunden sind, daran, Konflikte in der community zu identifizieren, die in Waffengewalt oder anderen gewalttätigen Übergriffen eska93 Zit. n. Dan Sloan, »A World Without Prisons. A Conversation with Mariame Kaba«, in: Lumpen Mag, 7. 4. 2016, 〈http://www.lumpenmagazine.org/a-worldwithout-prisons-a-conversation-with-mariame-kaba/〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022.

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lieren könnten.94 Dabei greifen als Mediator:innen oft Personen ein, die früher in Gangs involviert waren, um bei einer Lösung oder Deeskalation von Streitigkeiten zu helfen.95 Das Programm wird von einer fortlaufenden empirischen Analyse begleitet, die den Erfolg in Form einer »statistisch signifikanten Verringerung der Gewalt« nachgewiesen hat, und wird in communities im ganzen Land nachgeahmt.96 Advance Peace, ein Projekt, das in Richmond, Kalifornien, Pionier:innenarbeit geleistet hat, verwendet ein ähnliches Modell, bei dem Mediator:innen in Streitigkeiten eingreifen. Das Projekt bietet aber auch finanzielle Unterstützung und Mentor:innenenschaft für junge Menschen, bei denen die Gefahr besteht, dass sie Gewalttaten begehen.97 Das Programm geht davon aus, dass es die Zahl der Tötungsdelikte unter Jugendlichen in der Region erheblich verringert hat.98 Die Oakland Power Projects, die von der Critical Resistance Ortsgruppe in Oakland, Kalifornien, organisiert werden, bieten einen weiteren Ansatz, um Schaden zu adressieren, bei dem Straßenmediziner:innen und Mitarbeiter:innen des Gesundheitswesens Anwohner:innen in Deeskalation und anderen Taktiken ausbilden.99 Diese anderen Taktiken zielen darauf ab, Nachbar:innen zu unterstützen, die mit Angehörigen in einer psychischen Krise konfrontiert sind – ein häufiger Grund für Anrufe bei der Polizei, die in Gewalt und unnötigen Inhaftierungen enden.100 Das Programm geht davon aus, dass die Trainees nicht nur community-Mitgliedern   94 Vgl. Cure Violence, »Essential Elements«, 〈https://essentialcommunities.org/ program/cure-violence/〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022.   95 Siehe zum Beispiel Michael J. Lewis, »Two Ex-Gang Members Stop a Long-Running War in the Bronx Using Unconventional Methods«, in: Cure Violence Blog, 11. 1. 2016; sowie der Film The Interruptors (Kartemquin Films 2011).   96 Vgl. Cure Violence, »Scientific Evaulations«.  97 Vgl. Advance Peace, »The Solution«, 〈https://www.advancepeace.org/about/ the-solution/〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022.   98 Vgl. ebd. (»Als Ergebnis der Bemühungen von Advance Peace ist die Zahl der Schusswaffenangriffe mit Verletzungs- oder Todesfolge in Richmond, Kalifornien, zwischen 2010 und 2017 um 66 Prozent zurückgegangen.«)   99 Vgl. Candice Bernd, »Community Groups Work to Provide Emergency Medic­ al Alternatives, Separate from Police«, in: Maya Schenwar u. a. (Hg.), Who Do You Serve, Who Do You Protect? Police Violence and Resistance in the United States, Chicago 2016, S. 151-161, hier S. 151, S. 152-155. 100 Vgl. bd., S.151 f.

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in Notlagen helfen, sondern auch andere ausbilden werden, so dass die entsprechenden Fähigkeiten und Hilfsmittel im Laufe der Zeit in den communities immer weiter verbreitet werden.101 Auch das Projekt Harm Free Zone in Durham, North Carolina, und die Kampagne Safe OUTside the System Safe Neighborhood des Audre Lorde Project in Brooklyn, New York, bilden interessierte community-Mitglieder aus und schulen sie darin, Maßnahmen zu ergreifen, um Schaden ohne polizeiliches Eingreifen zu verhindern.102 Die Safe Neighborhood Campaign konzentriert sich insbesondere auf die Verringerung des Schadens für queere und geschlechtlich dissidente people of color – die häufig Belästigungen und Übergriffen durch Polizei und Privatpersonen ausgesetzt sind – durch die »Zusammenarbeit mit lokalen Unternehmen und Gemeinschaftsräumen«, um sichere Orte für Menschen zu schaffen, die mit Schikanen rechnen müssen.103 In Eugene, Oregon, dient das Programm Crisis Assistance Helping Out on the Streets (CAHOOTS) der White Bird Clinic, das aus öffentlichen Mitteln finanziert wird, als eine andere Art von alternativer Unterstützer:innen-vor-Ort-Initiative, die über eine zentrale städtische Rettungsleitstelle betrieben wird.104 CAHOOTS hilft in Teams, die aus mindestens einer Person aus dem medizinischen Pflegebereich oder einem:r Rettungssanitäter:in und einem:r Krisenspezialist:in bestehen, in Fällen von »Drogen- und Substanzmissbrauch, armutsbedingten Problemen und psychischen Krisen«, ohne die Polizei einzuschalten – oft zur Unterstützung von Obdachlosen und anderen sozialen Gruppen, die ansonsten häufig von der Polizei kontaktiert, festgenommen und inhaftiert werden.105 Das Ziel dieser verschiedenen lokalen Projekte ist es, die Kapazitäten und die Mitgliederzahl im Laufe der Zeit zu erhöhen, 101 Vgl. ebd., S. 154. 102  Vgl. Rachel Herzing, »Big Dreams and Bold Steps Toward a Police-Free Future«, in: Schenwar u. a. (Hg.), Who Do You Serve, S. 111-119, hier S. 111, S. 116. 103 Ebd., S. 116. Die Safe Neighborhood Campaign beschreibt sich selbst als »ein Antigewaltprogramm, das von und für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Two-Spirit, Transsexuelle und geschlechtsuntypische Menschen geführt wird«. Audre Lorde Project, »Safe Outside the System (SOS)«, 〈https://alp.org/programs/sos〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 104 Siehe Herzing, »Big Dreams«, S. 155. 105 Ebd., S.  156

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um ihren Erfolg und ihr Versprechen vorzuführen. Dabei geht es darum, die Meinung der Menschen zur Notwendigkeit polizeilicher Interventionen in einer Vielzahl von Kontexten zu ändern und dadurch die lokale Macht zur Unterstützung friedlicherer Mittel der kollektiven demokratischen Governance zu stärken. Natürlich können durch diese Maßnahmen nicht alle zwischenmenschlichen Schäden verhindert werden. Nichtsdestotrotz sind die bestehenden strafrechtlichen Maßnahmen nicht geeignet, solche Schäden zu beseitigen. Diese Projekte sind jedoch vielversprechender als strafrechtliche Maßnahmen, weil sie eine Verschiebung von Ressourcen, Werten und politischer Macht einleiten, die Menschen, deren Leben sie berühren, verändern und die Aufmerksamkeit darauf lenken, wie Leid vor Ort verringert werden kann, so dass mit der Zeit ein weitreichenderer Wandel möglich wird. Transformative Gerechtigkeit verfolgt einen verwandten Ansatz, der darauf abzielt, veränderte soziale Beziehungen zu schaffen, indem im Nachgang einer interpersonellen Schädigung interveniert wird. Transformative Gerechtigkeit – entwickelt von Aktivist:innen of color gegen Gewalt – ist ein community-basierter Ansatz, um auf Gewalt oder zwischenmenschlichen Schaden zu reagieren, der, wie Kaba und Kelly Hayes beschreiben, darauf abzielt, »Unterstützung und mehr Sicherheit für die geschädigte Person zu schaffen. Dazu zählt der Versuch, herauszufinden, wie der breitere Kontext die Entstehung des Schadens begünstigt hat und wie dieser Kontext so verändert werden kann, dass dieser Schaden mit geringerer Wahrscheinlichkeit wieder geschieht«.106 Transformative Gerechtigkeit unterscheidet sich insofern von bestimmten anderen Experimenten der restaurativen Gerechtigkeit – die sich oft primär, wenn nicht sogar ausschließlich auf die individuelle Verantwortung konzen­ trieren –, als sie auf einen breiteren sozialen, politischen und wirtschaftlichen Wandel hinarbeiten.107 Diese Prozesse manifestieren 106 Kelly Hayes, Mariame Kaba, »The Sentencing of Larry Nassar Was Not ›Transformative Justice‹. Here’s Why«, in: The Appeal, 5. 2. 2018, 〈https://theappeal. org/the-sentencing-of-larry-nassar-was-not-transformative-justice-here-s-whya2ea323a6645/〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 107 Der Aufsatz von Patrisse Cullors bietet eine weitere Darstellung dessen, was transformative Gerechtigkeit bedeutet: »Abolition and Reparations: Histories of Resistance, Transformative Justice, and Accountability«, in: Harvard Law Review, 132 (2019), S. 1689-1696.

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veränderte Dynamiken in kleinem Maßstab in den schwierigsten zwischenmenschlichen Begegnungen, während sie gleichzeitig berücksichtigen, welche breitere Veränderung unmittelbar notwendig und realisierbar ist.108 Mitglieder des Movement for Black Lives haben sich beispielsweise Prozessen der transformativen Gerechtigkeit zugewandt, um auf sexuelle Übergriffe zu reagieren, die von bestimmten Mitgliedern der Antigewaltbewegung für racial justice gegen andere verübt wurden. Als einer der Anführer von BYP100 der sexuellen Belästigung beschuldigt wurde, haben die Organisation und die gewaltbetroffene Person, die ebenfalls Mitglied der Bewegung ist, einen Prozess der transformativen Gerechtigkeit einberufen.109 Die gewaltbetroffene Person, Kyra, machte BYP100 in einem Brief auf den Übergriff aufmerksam, als die gewaltausübende Person, Malcolm London, in den sozialen Medien und anderswo öffentliche breite Aufmerksamkeit genoss, nachdem er bei einem Protest gegen die Tötung von Laquan McDonald durch die Polizei verhaftet worden war.110 Zur gleichen Zeit, als Kyra ihre Erfahrungen mit dem Übergriff öffentlich machte, betonte sie auch, dass sie nicht glaube, ein Strafprozess könne Gerechtigkeit schaffen oder sinnvolle Wiedergutmachung leisten.111 Kyra, Malcolm und die Mediator:innen für transformative Gerechtigkeit initiierten daraufhin einen mehr als ein Jahr dauernden Prozess, um den Übergriff auf Kyra zu thematisieren, wobei sie kontinuierlich Berichte über ihre jeweiligen Erfahrungen veröffentlichten.112 In Absprache mit ihrem Unterstützungsteam beschloss Kyra, dass sie sich von dem Prozess erhoffte, dass Malcolm das Leid, das er verursacht hatte, öffentlich eingestehen und sich zu einem »poli108 Vgl. ebd. 109 Vgl. den Beitrag von Sarah Daoud im Namen von Kyra, »Black Youth Project (BYP100), Community Accountability Process (Chicago, 2015-2016)«, Transformative Justice Initiative 1-2 (2015), 〈https://transformativejusticeinitiative. files.wordpress.com/2016/02/byp100-survivor-statement.pdf〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 110 Vgl. ebd. 111 Vgl. ebd. 112  »Summary Statement Re: Community Accountability Process (2017)«, Tumblr: Transforming Harm (2017), 〈http://transformharm.tumblr.com/post /158171267676/summary-statement-re-community-accountability〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022.

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tischen Bildungsprozess über sexuelle Gewalt und deutliche Zustimmung (in sexuellen Begegnungen)« verpflichten würde.113 Sie wollte auch ihr eigenes Selbstvertrauen aufbauen, damit sie sich bereit und in der Lage fühlen würde, sich mit Malcolm persönlich zu treffen und gemeinsam über das Geschehene zu sprechen.114 Ganz allgemein bat sie darum, dass BYP100 in ihre Orientierungs-, politischen Bildungs- und Organisationsprozesse auch einen Lehrplan für das Konzept der deutlichen Zustimmung und die Geschichte sexueller Gewalt in der schwarzen community umsetzt, den Kyra – die bereits über fünf Jahre Erfahrung in der Aufklärung über sexuelle Gewalt verfügte – mit entwickeln würde.115 Schließlich forderte Kyra, dass innerhalb der breiteren Bewegung Diskussionsplattformen über sexuelle Gewalt und darüber, wie Organisationen diese Probleme angehen könnten, geschaffen werden sollten.116 Nach fünfzehnmonatiger Arbeit mit ihren separaten Teams trafen sich Kyra und Malcolm mit allen am Prozess der transformativen Gerechtigkeit beteiligten Parteien, um zu besprechen, was zwischen ihnen geschehen war.117 Diese Zusammenkunft markierte das Ende des Prozesses, den Kyra, Malcolm und alle Beteiligten als zutiefst wirkungsvoll beschrieben, sowohl persönlich als auch als mögliche Quelle für weitreichende Veränderungen in der Praxis positiver sexueller Intimität in der breiteren Gemeinschaft.118 Über die Arbeit der einzelnen Teilnehmer:innen hinaus entwickelte BYP100 neue Richtlinien zum Umgang mit sexuellen Übergriffen.119 BYP100 beschloss im Allgemeinen, jedes Mitglied, das eines sexuellen Übergriffs beschuldigt wird, zu suspendieren, sich mit beiden Parteien zu treffen, um ihre jeweiligen Schilderungen anzuhören, eine interne Beratung über das weitere Vorgehen einzuleiten, was etwa einen dauerhaften Entzug der Mitgliedschaft, die Organisation einer Mediationssitzung, ein internes Treffen zur Ver113  »Community and Organization Accountability Process Update (3/1/16)«, Tumblr: Transforming Harm (2016), 〈http://transformharm.tumblr.com/ post/140296664386/community-and-organization-accountability-process〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 114 Vgl. ebd. 115 Vgl. ebd. 116 Vgl. ebd. 117 Vgl. »Summary Statement«. 118 Vgl. ebd. 119 Vgl. ebd.

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antwortungsübernahme oder eine »Verpflichtung zur Wiedergutmachung als Bedingung für die Wiederaufnahme als Vollmitglied« beinhalten könnte.120 BYP100 erkundete auch, wie man Praktiken der deutlichen Zustimmung unter den Mitgliedern verwirklichen und in der community Räume für Heilung schaffen kann.121 Es wurde ein Rat für Heilung und Sicherheit gegründet, um Prozesse der transformativen Gerechtigkeit einzuberufen, wenn ein Mitglied verletzt wurde.122 Der Rat setzt sich aus zwei Gruppen zusammen, von denen sich eine auf die Prävention und die andere auf die Intervention konzentriert, und beide zusammen bemühen sich darum, auf Schäden innerhalb der Ortsgruppen der Organisation zu reagieren und eine Kultur der »heilenden Praxis« zu fördern.123 Als Teil dieses Ansatzes hat der Rat einen Sicherheitsplan erstellt, in dem jedes Mitglied angeben kann, wie die BYP100-Mitglieder reagieren sollen, wenn ihnen ein Schaden zugefügt wird, und sie haben als Leitfaden für die Prävention und Intervention im Schadensfall auch ein Handbuch mit dem Titel Stay Woke Stay Whole: Black Activist Manual erarbeitet.124 Alle Teilnehmer:innen sahen diesen Prozess nicht als Patentrezept dafür an, wie unter allen Umständen auf Unrecht zu reagieren sei, sondern verstanden ihre gemeinsame Arbeit als Rahmenkonzeption für alternative Antworten, die mit ihrer Kritik an strafrechtlichen Praktiken und ihrem Engagement für die Verwirklichung alternativer Gerechtigkeitsformen vereinbar ist.125 Dies ist eine schwierige Arbeit, und es besteht keineswegs Einigkeit darüber, welche Rolle solche Prozesse als Reaktion auf sexuelle Übergriffe oder andere Formen von Gewalt spielen sollten. Indem sie jedoch einen alternativen Ansatz für den Umgang mit zwischenmenschlicher Gewalt entwickeln und sich für eine sinnvolle Verantwortungsübernahme und Wiedergutmachung einsetzen, beginnen die Teilnehmer:innen, eine Welt ohne Gefängnisse und Polizei zu entwerfen, indem sie die Rolle des Strafrechts in ihrem Leben verkleinern und damit den Weg für andere ebnen, das Gleiche zu tun. 120 Ebd. 121 Vgl. ebd. 122 Vgl. ebd. 123 Ebd. 124 Vgl. ebd. 125 Vgl. ebd.

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C. Sicherheit neu denken, Zufluchtsorte ausbauen Abolitionist:innen haben auch begonnen, das Verständnis dessen, was tatsächlich kriminelles Fehlverhalten ausmacht, auf breiter Basis neu zu konzeptualisieren, und treten für eine Demokratisierung lokaler politischer Ökonomien als Mittel zur Verringerung von Leid und zur Gewährleistung des kollektiven Wohlergehens ein. Für Abolitionist:innen sollte ein Großteil des Verhaltens, welches im Fokus der Strafverfolgung steht, überhaupt nicht als kriminell verstanden werden. Die überwiegende Mehrheit der Polizeikontrollen, Verhaftungen und Verurteilungen in den Vereinigten Staaten betreffen geringfügige »quality-of-life offenses« (»Verstöße gegen die Lebensqualität«, etwa Alkoholkonsum in der Öffentlichkeit oder öffentliches Urinieren) und andere triviale Übertretungen.126 Abo­ litionist:innen setzen sich dafür ein, einen Großteil dieser geringfügigen Strafverfolgung ganz abzuschaffen. Stattdessen versuchen sie, die demokratische Macht auf lokaler Ebene zu stärken, um öffentliche Ressourcen in Projekte zu investieren, die tatsächlich sinnvolle Sicherheit bieten und gleichzeitig den gewalttätigen Diebstahl reduzieren, der täglich von den gängigen Wirtschaftspraktiken und -institutionen begangen wird. Ein wesentlicher Teil dieser Arbeit besteht darin, die bestehende Ressourcenverteilung anzufechten, die selbst als zutiefst ungerecht empfunden wird – und in der Tat eine Ursache für viele kriminelle Handlungen ist.127 126  Siehe zum Beispiel Issa Kohler-Hausmann, »Managerial Justice and Mass Misdemeanors«, in: Stanford Law Review, 66/3 (2014), S. 611-694, hier S. 611, S. 613 (unter Hinweis darauf, dass allein im Jahr 2009 nach einer »konservativen Schätzung« aus sechzehn Staaten 5,9 Millionen Ordnungswidrigkeiten im Vergleich zu nur 1,4 Millionen Straftaten registriert wurden); siehe auch Division of Criminal Justice SERVS., N. Y. State, »Adult Arrests: 2005-2014« (2015), 〈http://www.criminaljustice.ny.gov/crimnet/ojsa/arrests/NewYorkCity. pdf〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022 (aus dem hervorgeht, dass zwischen 2005 und 2014 etwa zwei Drittel aller Verhaftungen in New York City wegen Ordnungswidrigkeiten erfolgten). Siehe allgemein Issa Kohler-Hausmann, Misdemeanorland: Criminal Courts and Social Control In An Age Of Broken Windows Policing, Princeton 2018; Alexandra Natapoff, Punishment Without Crime: How Our Massive Misdemeanor System Traps the Innocent and Makes America More Unequal, New York 2018. 127 Vgl. Davis, »Abolitionistische Demokratie«, Movement For Black Lives, »Platform« (»Wir fordern ökonomische Gerechtigkeit für alle und einen Umbau der

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Um diese Arbeit durchzuführen, haben Abolitionist:innen im ganzen Land eine Vielzahl unterschiedlicher Projekte durchgeführt. In Chicago haben Aktivist:innen eine öffentliche Debatte darüber angestoßen, was es bedeuten würde, Städte wirklich sicher zu machen. Sie fordern, dass Chicago eine echte »sanctuary city« (»Zufluchtsstadt«) wird, und drängen die Stadt, ihre Behauptungen, ein sicherer Zufluchtsort zu sein – also ein Ort, an dem alle Menschen wirklich vor staatlicher und privater Gewalt sicher sind –, zu verwirklichen.128 Aktivist:innen haben aufgedeckt, wie trotz Chicagos angeblichem Status als »Zufluchtsstadt« die Polizeiarbeit das Leben in Chicago für viele Jugendliche of color – mit und ohne Migrationshintergrund – unsicher macht, die immer wieder willkürlichen Kontrollen und Verhaftungen ausgesetzt sind.129 Der Unterschied zwischen »Unschuld« und »Kriminalität« ist, laut Abolitionist:innen oft nur das Produkt von Polizeipraktiken, die sich gegen einkommensschwache communities of color richten, wie Stop and Frisk (»Anhalten und Filzen«), Broken Windows,130 Predictive Policing (»vorhersagebasierte Polizeiarbeit«) und der Einsatz von »Gang-­ Datenbanken«, um Jugendliche zu verfolgen, die Gangfarben tragen, tätowiert sind oder mit community-Mitgliedern verkehren, von denen man behauptet, dass sie Gangs angehören.131 Wie die Aktivist:innen Reyna Wences und die Professorin Ruth Gomberg-MuWirtschaft, um sicherzustellen, dass Schwarze communities kollektives Eigentum und nicht nur Zugang haben«). 128 Zu einer Beschreibung des Vorhabens einer Chicagoer Koalition von Aktivist:innen, die Stadt Chicago dazu zu drängen, die Bedeutung von »Sanctuary City« zu erweitern, um Einwanderer:innen und in den USA geborene people of color, »die von der Polizei ins Visier genommen werden«, zu schützen, siehe zum Beispiel Erase The Database, »About«, 〈http://erasethedatabase.com/ab out〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 129 Vgl. Reyna Wences, Ruth Gomberg-Muñoz, »To Create True Sanctuary Cit­ ies, We Must End Racist Policing«, in: Truthout, 14. 5. 2018, 〈https://truthout. org/articles/to-create-true-sanctuary-cities-we-must-end-racist-policing〉; zu einer Zusammenfassung langjähriger Muster von institutionalisiertem Rassismus und diskriminierender Behandlung in der Polizeiarbeit in Chicago siehe auch Monica Davey, Mitch Smith, »Chicago Police Dept. Plagued by Systemic Racism, Task Force Finds«, in: The New York Times, 13. 4. 2016, 〈https://nyti. ms/1SgbFbX〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022). 130 Mit Broken Windows (»zerbrochene Fenster«) ist eine polizeiliche Nulltoleranzstrategie gemeint, die zuerst in New York City angewandt wurde. [Anm. d. Hg.] 131 Vgl. Wences/Gomberg-Muñoz, »To Create True Sanctuary Cities«.

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ñoz erklären, »haben die meisten kommunalen Schutzmaßnahmen eine zentrale Schwäche: Sie versuchen nur, Migrant:innen zu schützen, die als ›gesetzestreu‹ gelten, und lassen diejenigen, die bereits in ein rassistisches System der Kriminalisierung und Polizeiarbeit verstrickt sind, ungeschützt.«132 Die Debatte über die wahre Bedeutung von »sanctuary cities« hat eine breitere Diskussion darüber ausgelöst, was Sicherheit, Schutz und Wohlbefinden stattdessen bedeuten könnten, an der Abolitionist:innen maßgeblich beteiligt waren. Aktivist:innen, die sich für racial justice und Migrationsgerechtigkeit einsetzen – eine Zusammenarbeit von BYP100, Mijente, Communities Organized Against Deportations und Forscher:innen der University of Illinois at Chicago –, haben zusammengearbeitet, um Beweise zu sammeln und das Bewusstsein zu schärfen, um die Chicagoer Gangdatenbanken abzuschaffen und die Ressourcen auf Bildung und soziale Dienste umzulenken.133 Wie Wences und Gomberg-Muñoz schreiben: Während [diese Gruppen] die Aufmerksamkeit auf rassistische Polizeipraktiken und die falschen Versprechungen der Politiker:innen lenken, die versprechen, sie zu schützen, mobilisieren die Aktivist:innen die community-Mitglieder, um in ihren Beziehungen untereinander und in einer breiteren Chicagoer Gemeinschaft, die sich wirklich für Gleichheit und Gerechtigkeit einsetzt, echte Zuflucht zu schaffen.134

Diese Bemühungen haben auch die Aufmerksamkeit auf den Prozess der Haushaltsplanung gelenkt und die Verwendung öffentlicher Mittel für Polizeiarbeit und Bestrafung anstatt für soziale, restaurative oder andere Projekte in Frage gestellt. BYP100 hat in Zusammenarbeit mit einigen anderen Organisationen eine aussagekräftige Analyse darüber erstellt, wie partizipative Haushaltsplanung (participatory budgeting) die öffentlichen Ausgaben in Städten im ganzen Land umgestalten könnten.135 In Chicago beispielsweise wies die Stadt 2017 fast 1,5 Milliarden US-Dollar ihres 8,2 Milliarden 132 Ebd. 133 Vgl. ebd. 134 Ebd. 135 Siehe Centre For Popular Democracy u. a., »Freedom To Thrive: Reimagining Safety And Security In Our Communities« 21 (2017), 〈https://populardemoc racy.org/sites/default/files/Freedom%20To%20Thrive%2C%20Higher%20 Res%20Version.pdf〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022.

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US-Dollar schweren Betriebsbudgets (oder 17,6 Prozent) der Poli-

zeibehörde zu, was die Ausgaben für wichtige Ressourcen wie Gesundheitsdienste und Programme für Jugendliche bei weitem überstieg.136 Die Abteilung für öffentliche Gesundheit erhielt dagegen nur 0,4 Prozent der gesamten Haushaltsausgaben.137 Die Abteilung für Familien- und Unterstützungsdienste, in der Jugendprogramme, Programme zur Gewaltreduzierung, außerschulische Programme und Obdachlosendienste untergebracht sind, erhielt ebenfalls weniger als ein Prozent der Gesamtausgaben.138 BYP100 Chicago führte eine Organisationskampagne für einen partizipativen städtischen Haushaltsplanungsprozess an, in dem die Öffentlichkeit befähigt wird, die Polizei zu definanzieren und die Ressourcen zu reinvestieren, indem sie »einen existenzsichernden Lohn festlegt und Gesundheitsfürsorge, soziale Dienste, öffentliche Schulen und nachhaltige Wirtschaftsentwicklungsprojekte vollständig finanziert«.139 Die Aktivist:innen setzen sich jedoch nicht nur für eine Änderung der Mittelzuweisung ein, sie betonen auch den antidemokratischen Charakter der bestehenden Entscheidungsverfahren über öffentliche Ausgaben und kämpfen für eine Demokratisierung der lokalen politischen Ökonomie.140 Aktivist:innen in anderen Städten haben ähnliche Aufrufe gemacht, um die abolitionistische Arbeit zu Strafprozessen mit einer Thematisierung ökonomischer Gerechtigkeit und demokratischer politischer Wirtschaftsreform zu verbinden. Zachary Norris, der geschäftsführende Direktor des Ella Baker Center for Human Rights in Oakland, Kalifornien,141 hat eine »Wahrheits- und Reinvestitionskampagne« ins Leben gerufen, die für eine Reinvestition öffentlicher Mittel weg vom Strafrechtssystem hin zu communities einkommensschwacher Menschen und people of color eintritt.142 136 Vgl. ebd., S. 21. 137 Vgl. ebd. 138 Vgl. ebd. 139 Ebd., S.  20. 140 Vgl. ebd., S. 79 f. 141 Vgl. Ella Baker Center for Human Rights, »Our Team«, 〈https://ellabakercen ter.org/about/〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 142 Siehe Zachary Norris, Ella Baker Center, »Truth and Reinvestment: Why We Need Reparations for Right Now«, in: Medium, 9. 3. 2016, 〈https://medium. com/@ellabakercenter/truth-and-reinvestment-why-we-need-reparations-forright-now-2dba1f26cb49〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022.

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Zusammen haben Norris, das Ella Baker Center und organisierte community-Mitglieder ihre Kampagne »50 % for Jobs Not Jails, Books Not Bars, and Healthcare Not Handcuffs« (»50 % für Arbeitsplätze statt Gefängnisse, Bücher statt Gitter und Gesundheitsfürsorge statt Handschellen«) genannt,143 und ein Großteil ihrer Arbeit bestand darin, auf lokaler Ebene für Haushaltsentscheidungen einzutreten, wie zum Beispiel für die Umverteilung von Geldern von Sheriffs und Bewährungshelfer:innen zu community-basierten Informations- und Beratungszentren für Arbeiter:innen, die nach ihrer Inhaftierung in ihre communities zurückkehren.144 Anthony Newby, der mit Neighborhoods Organizing for Change (NOC) zusammenarbeitet, einer von Schwarzen Menschen geführten community-Organisation in Minneapolis, übte nach der Tötung von Jamar Clark durch die Polizei im Jahr 2015 Druck auf die Stadt und den Staat aus, um öffentliche Gelder neu zu investieren.145 Newby und andere Aktivist:innen legten ein Flughafenterminal und die Mall of America still.146 Letztendlich gelang es Newby und seinen Mitstreiter:innen, dreißig Millionen US-Dollar für die Reinvestition zu sichern.147 Der nächste Schritt für seine Organisation und seine Bewegung, so Newby, besteht darin, darüber nachzudenken, wie dieses Geld am sinnvollsten investiert werden kann, damit es nicht einfach an Träger geht, die sich für die Bewahrung des Status quo einsetzen.148 In Washington, D. C., wehrten sich 2015 und 2016 lokale Aktivist:innen von Black Lives Matter erfolgreich gegen das vom 143 Ella Baker Center for Human Rights, »Jobs Not Jails for Alameda County«, 〈https://ellabakercenter.org/our-victories/〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 144 Vgl. Vision4BlackLives Webinar Series, »Invest/Divest« (Kommentare von Zachary Norris). 145 Siehe Anthony Newby, »In North Minneapolis, Funding Should Be Prob­ lem-Solving, Not Punitive«, in: Star Tribune, 15. 12. 2015, 〈http://www.startri bune.com/in-north-minneapolis-funding-should-be-problem-solving-not-pu nitive/362549591〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 146 Siehe Amanda Holpuch, »Black Lives Matter Protest Shuts Down Mall of America and Airport Terminal«, in: The Guardian, 23. 12. 2015, 〈https://www. theguardian.com/us-news/2015/dec/23/black-lives-matter-organizers-protestmall-of-america〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 147 Vgl. Vision4BlackLives Webinar Series, »Invest/Divest« (Kommentare von Zachary Norris). 148 Vgl. ebd.

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Bürgermeister vorgeschlagene Gesetz zur Verbrechensbekämpfung, welches die Finanzierung der Polizeiarbeit ausgeweitet, die Polizeipräsenz erhöht und die Strafen für eine Reihe von Delikten verschärft hätte.149 Die Aktivist:innen drängten stattdessen auf eine separate Initiative, die einen »community-basierten Ansatz der ­öffentlichen Gesundheit zur Gewaltprävention« verfolgt.150 Gleichzeitig drängten Aktivist:innen in D. C. die Stadt dazu, die Investitionen in die gemeinnützige Landschaftsverwaltung zu erhöhen, eine Form des kollektiven Eigentums, die die Erschwinglichkeit von Häusern in gentrifizierenden Vierteln über einen längeren Zeitraum aufrechterhält.151 Die Aktivist:innen machten zudem bedeutende Fortschritte bei der Einführung eines existenzsichernden Lohns.152 Im Zuge dieser Projekte haben die Movement Black Lives und andere Aktivist:innen begleitende Webinare entwickelt, Verweise auf Materialien für Rechtsstreitigkeiten und gesetzgeberische Maßnahmen zusammengestellt und Mustergesetze im In- und Ausland erkundet.153 Die Idee ist, dass andere communities auf diese Ressourcen zurückgreifen können, um ihre eigenen ähnlichen Projekte zu entwickeln. Durch diese und andere Bemühungen haben lokale Aktivist:innen eine landesweite Bewegung aufgebaut, die gängige Annahmen über Verbrechen und Strafe ent-naturalisiert hat, indem sie die Frage der Strafrechtsreform mit Mobilisierungen für einen existenzsichernden Lohn, bezahlbaren Wohnraum, genossenschaft149 Vgl. Abigail Hauslohner, Aaron C. Davis, »Black Lives Matter Activists Disrupt Bowser Speech on How to Stop Killings«, in: Washington Post, 27. 8. 2015, 〈http://wapo.st/1fIrrKp〉; zu der Erklärung, dass Anwälte der community ein wichtiger Grund für die Überarbeitung des NEAR Act waren, vgl. Brent J. Cohen, »Implementing the NEAR Act to Reduce Violence in D. C.«, D. C. Policy Center, 25. 5. 2017; 〈https://www.dcpolicycenter.org/publications/implement ing-near-act-reduce-violence-d-c/〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 150 Cohen, »Implementing the NEAR Act«. 151 Vgl. Mary Hui, »In Bid to Keep Homes Affordable, Anacostia Will Have Its First Community Land Trust«, in: Washington Post, 24. 9. 2017, 〈http://wapo. st/2fK6wty〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 152 Vgl. Martin Austermuhle, »Bowser Signs Bill Raising D. C.’s Minimum Wage to $ 15, with Nod from Obama«, in: WAMU 88.5 American University Radio, 27. 6. 2016, 〈https://wamu.org/story/16/06/27/bowser_signs_bill_raising_dcs_ minimum_wage_to_15_with_nod_from_obama〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 153 Vgl. Movement for Black Lives, »Platform«.

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liches Eigentum und eine Umverteilung öffentlicher Ressourcen verband. Keeanga-Yamahtta Taylor hat unterstrichen, wie das Movement for Black Lives den öffentlichen Diskurs über Kriminalität, Polizeiarbeit und race verändert hat.154 Aber die Bewegung hat auch die demokratische Politik auf lokaler Ebene neu belebt, indem sie die Haushaltsplanung auf lokaler und bundesstaatlicher Ebene herausgefordert hat, und zwar zu einem großen Teil dadurch, dass sie die communities dazu gebracht hat, ihre eigenen staatlichen und lokalen Regierungen aktiv umzusteuern. In communities überall in den Vereinigten Staaten engagieren sich Aktivist:innen in der kollektiven politischen Arbeit für den Aufbau von Institutionen, die für die Verwirklichung einer abolitionistischen Demokratie unerlässlich sind.155 Die Frage, wie Demokratie und Gerechtigkeit ohne Gefängnisse und Polizei aussehen könnten, bleibt für Abolitionist:innen letztlich offen. Aber dies sind Versuche, sinnvollere Formen der Wiedergutmachung und eine befreiende demokratische Politik vorzuzeichnen.156 III. Abolitionistische Herausforderungen für die Rechtstheorie: Gerechtigkeit neu denken

Während die abolitionistische Demokratie die Frage offenhält, was Gerechtigkeit bedeutet, und sich um die konkrete Gestalt von Wiedergutmachung in spezifischen Kontexten kümmert, bestehen konventionelle Rechtstheorien im Gegensatz dazu aus formalen, abstrakten und lange etablierten, aber selten hinterfragten Kon­ struktionen. Konventionelle Rechtsauffassungen vernachlässigen typischerweise die überwältigende Diskontinuität zwischen den offiziellen Gerechtigkeitsidealen und ihrer zutiefst unzureichenden, oft gewalttätigen, rassifizierten und letztlich zerstörerischen Um154 Vgl. Keeanga-Yamahtta Taylor, From #Blacklivesmatter to Black Liberation, Chicago 2016, S. 153-156. 155 Vgl. Davis, »Abolitionistische Demokratie«. 156 Zu einer weiteren Untersuchung der in den Abschnitten II.B und II.C vorgestellten Ideen siehe Allegra M. McLeod, »Law, Critique, and the Undercommons«, in: Didier Fassin, Bernard E. Harcourt (Hg.), A Time For Critique, New York 2019, S. 252-270.

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setzung. Die abolitionistische Demokratie ist natürlich auch einer Reihe von Idealen verpflichtet. Aber das Problem mit den konventionellen Ansätzen der rechtlichen Gerechtigkeit ist nicht einfach eine noch unvollkommene Umsetzung ihrer bestehenden Ideale. Vielmehr sind schon die Grundlagen der bestehenden Konzeptionen von rechtlicher Gerechtigkeit unzureichend, kompromittiert, in den ihnen zugrundeliegenden Ideen für Gerechtigkeitsanreize begrenzt und durch unausweichlich bösartige und inegalitäre institutionelle Geschichten und Kulturen korrumpiert. Darüber hinaus haben die Standardansätze zur Beurteilung der Frage, ob der Gerechtigkeit Genüge getan wird, es versäumt, tatsächliche Erfahrungen zu berücksichtigen, indem sie sich fast ausschließlich auf idealisierte Rechtfertigungen der bestehenden Praktiken konzentrierten.

A. Strafjustiz Die am weitesten verbreitete Vorstellung davon, wie die Rechtsprechung nach einer Schadenszufügung aussehen sollte, beinhaltet die Inanspruchnahme des Strafrechtssystems. Verschiedene Begründungen für strafrechtliche Verhaftung, Verfolgung und Bestrafung wetteifern um die Vorherrschaft in der Rechtstheorie, wobei einige den Ansatz einer retributiven Gerechtigkeit vertreten,157 andere auf Abschreckung basierende Gründe befürworten und wieder andere sich auf den Ausdruck gemeinsamer Normen durch die Gemeinschaft konzentrieren.158 Die Realität des Strafrechtsprozesses steht jedoch in krassem Widerspruch zu diesen theoretischen Begründungen. Stattdessen geht die Strafverfolgung in der Regel nicht auf die Bedürfnisse der Betroffenen ein.159 Außerdem werden die An157 Vgl. allgemein Russell L. Christopher, »Deterring Retributivism: The Injus­ tice of ›Just‹ Punishment«, in: Northwestern University Law Review, 96 (2002), S.843-976, hier S. 843. 158 Zu einem Überblick über verschiedene Rechtfertigungen für Strafe, einschließlich Utilitarismus, Vergeltung und damit verbundener Theorien wie Rache und sozialer Zusammenhalt sowie gemischter Theorien, vgl. Sanford H. Kadish u. a., Criminal Law and Its Processes, Aspen 2017, S. 96-132; zu einer kritischen Überprüfung gängiger Argumente, die die Existenz von Gefängnissen rechtfertigen, einschließlich Vergeltungs- und Abschreckungstheorien siehe David Scott, »Why Prison? Posing the Question«, in: ders. (Hg.), Why Prison?, Cambridge 2013, S. 10-15. 159 Siehe zum Beispiel Mary Fan, »Adversarial Justice’s Casualties: Defending Vic-

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geklagten entwürdigt und brutalisiert.160 Dabei vernachlässigt das Strafrechtssystem die eigentlichen Ursachen der Probleme, so dass diese mit ziemlicher Sicherheit wieder auftreten werden. Die weit verbreitete Vorstellung, dass die strafrechtliche Rechtsprechung Gerechtigkeit verspricht, wird oft als unhinterfragter Glaubenssatz akzeptiert, obwohl die Erfahrung sie auf dramatische Weise widerlegt. Obwohl der Haupteinwand gegen die Abschaffung des Strafrechts darin besteht, dass Mord, Vergewaltigung und Kindesmissbrauch eine strafrechtliche Antwort161 erfordern, ist es in Wahrheit so, dass der Strafprozess auf viele dieser ungeheuerlichen Formen von Unrecht überhaupt nicht reagiert,162 und wenn doch, dann ist die Wiedergutmachung, die durch den Strafprozess möglich ist, in der Regel zutiefst ungerecht, gewalttätig und steht im Widerspruch zu jeder Vorstellung von sinnvoller Wiedergutmachung oder prinzipientreuer Verantwortlichkeit. Betrachten wir zunächst den Fall staatlich verübter Gewalt, wie zum Beispiel polizeiliche Tötungen gewöhnlicher Männer und Frauen oder die von der Chicagoer Polizei unter der Leitung von Burge verübten Folterungen. Im Fall von Morden oder Übergriffen durch Vertreter:innen des Staates führt die Strafverfolgung in der Regel zu keiner nennenswerten Wiedergutmachung, vielleicht weil die Verantwortlichen für die Einleitung der Strafverfahren durch ihre engen Verbindungen zur Polizei und damit verbundenen staatlichen Institutionen kompromittiert tim-Witness Protection«, in: Boston College Law Review, 55 (2014), S. 775-820, hier S. 775 f. (»Die Beweise häufen sich, dass die Rituale der kontradiktorischen Rechtsprechung die Opfer von Gewalt- und Sexualdelikten retraumatisieren«); Ilene Seidman, Susan Vickers, »The Second Wave: An Agenda for the Next Thirty Years of Rape Law Reform«, in: Suffolk University Law Review, 38 (2005), S. 467-492, hier S. 467, S. 472 (»[D]ie Strafjustiz ist zu langsam und schlecht ausgestattet, um vor den unmittelbaren verheerenden Folgen von Übergriffen zu schützen«). 160 Angel Sanchez’ Aufsatz »In Spite of Prison« ist ein Beispiel für diese Diskrepanz zwischen Theorie und Erfahrung; »In Spite of Prison«, in: Harvard Law Review, 132 (2019), S. 1650-1683, hier S. 1650. 161 Etwa Julia C. Oparah, »Why No Prisons«, in: Scott (Hg.), Why Prison?, S. 278301, hier S. 278, S. 285. 162 Vgl. etwa Aamer Madhani, »Unsolved Murders: Chicago, Other Big Cities Struggle; Murder Rate a ›National Disaster‹«, in: USA Today, 10. 8. 2018, 〈https:// www.usatoday.com/story/news/2018/08/10/u-s-homicide-clearance-rate-crisis/ 951681002/〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022.

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sind.163 Das Versäumnis, in diesen Fällen eine verhältnismäßige Strafe zu verhängen, verstößt eindeutig gegen die Prämissen der Vergeltung sowie gegen die Ziele der Abschreckung und ist auch weit davon entfernt, die Normen der Gemeinschaft zum Ausdruck zu bringen. Die häufige Weigerung, in Fällen von staatlich verübter Gewalt irgendwelche Konsequenzen zu verhängen, ist auffällig – zum Beispiel führten von fünfzehn öffentlichkeitswirksamen Fällen, in denen schwarze Menschen von der Polizei getötet wurden oder in Gewahrsam starben, nur drei zu einer Verurteilung.164 Diese Tatsache deutet stark auf die Unzulänglichkeit des Strafverfahrens bei der Reaktion auf diese Form von mörderischer Gewalt hin. Das Problem liegt jedoch tiefer, als es die Befürworter:innen von Verurteilungen vermuten lassen: Der Gerechtigkeit wäre auch dann nicht wirklich gedient, wenn alle Polizist:innen, die sich dieser Taten schuldig gemacht haben, strafrechtlich verfolgt, verurteilt und zu Gefängnisstrafen verurteilt würden.165 Dies ist mindestens aus drei Gründen der Fall. Erstens konzen­ triert sich die strafrechtliche Verfolgung staatlicher Gewalt – wie von der Polizei verübte Morde – auf die individuelle Schuld einzelner Beamt:innen, während sie die institutionelle und kulturelle Dynamik, die für die allgegenwärtige Polizeigewalt und ihre Konzentration auf bestimmte Körper und in bestimmten entrechteten 163 Vgl. etwa Safia Samee Ali, William Sherman, »Why Police Officers Often Aren’t Convicted for Using Lethal Force«, in: NBC News, 30. 7. 2016, 〈https://www. nbcnews.com/news/us-news/why-police-officers-often-aren-t-convicted-usinglethal-force-n619961〉, (»Im ganzen Land werden Polizeibeamte aufgrund einer Reihe von Faktoren oft nicht angeklagt, etwa dem Gewicht des Wortes eines Polizeibeamten und natürlich dem sanften Umgang der Staatsanwält:innen mit angeklagten Polizist:innen«); Joseph P. Williams, »Why Aren’t Police Prosecuted?«, in: U.S. NEWS, 13. 7. 2016, 〈https://www.usnews.com/news/ar ticles/2016-07-13/why-arent-police-held-accountable-for-shooting-black-men〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022 (»Lokale Staatsanwält:innen können zögern, Mitglieder einer Abteilung anzuklagen, mit der sie täglich eng zusammenarbeiten«). 164 Vgl. Jasmine C. Lee, Haeyoun Park, »15 Black Lives Ended in Confrontations with Police. 3 Officers Convicted«, in: The New York Times, 5. 10. 2018, 〈https:// nyti.ms/2B1l43S〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 165 Vgl. Paul Butler, »The System Is Working the Way It Is Supposed to: The Limits of Criminal Justice Reform«, in: Georgetown Law Journal, 104 (2016), S. 14191478, hier S. 1419, S. 1425 (»›[E]rfolgreiche‹ Reformbemühungen verbessern die Wahrnehmung der Polizei durch die Gemeinschaft erheblich, ohne die polizeilichen Praktiken wesentlich zu verbessern«).

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communities verantwortlich ist, unberücksichtigt lässt.166 Indem so getan wird, als ginge es lediglich um die Entfernung weniger Einzelfälle (bad apples), können strafrechtliche Anklagen und Verurteilungen missbräuchlich handelnder Beamt:innen sogar dazu führen, dass polizeiliche Praktiken im Allgemeinen legitimiert werden, obwohl diese Praktiken dazu neigen, Männer, Frauen und Kinder täglich zu dehumanisieren.167 Zweitens duldet das Recht selbst viele Formen übermäßiger Gewaltanwendung durch die Polizei – es räumt der Polizei das ein, was Paul Butler als »Supermacht« bezeichnet.168 Daher werden die rechtlichen Standards, die bei der strafrechtlichen Verfolgung mörderischer Beamt:innen angewandt werden, oft nicht den Umfang des gewalttätigen Verhaltens erfassen, das eigentlich verurteilt werden sollte, und suggerieren, dass bestimmte Übergriffe harmlos sind, obwohl sie in Wirklichkeit schweres Leid verursachen.169 Der dritte und vielleicht wichtigste Punkt ist, dass Verurteilung und Inhaftierung von Polizist:innen, die Gewalttaten begangen haben, weder eine greifbare Entschädigung für Betroffene und andere Geschädigte bringen noch dazu beitragen, ähnliche Taten in Zukunft zu verhindern.170 Der einzige Sinn, in dem man solche Verurteilungen und Inhaftierungen als Gerechtigkeit verstehen kann, ist vor dem Hintergrund eines Status quo völliger Straflosigkeit oder öffentlichen Stillschweigens zu sehen, wobei man davon ausgeht, dass die Anwendung strafrechtlicher Sanktionen eine sinnvolle Wiedergutmachung bietet, ohne tiefer zu erforschen, welchen Interessen damit tatsächlich gedient wird und worin die versprochene Gerechtigkeit im Wesentlichen besteht. Im Gegensatz dazu 166 Vgl. etwa Jeffrey Fagan, Garth Davies, »Street Stops and Broken Windows: Terry, Race, and Disorder in New York City«, in: Fordham Urban Law Journal, 28 (2000), S. 457-504, hier S. 457, S. 489, S. 496-503. 167 Vgl. Kaba, »Police Reforms«: »Es handelt sich nicht um das Problem einzelner schlechter Beamter, sondern um das Problem eines korrupten und repressiven Polizeisystems, welches auf der Kontrolle und Verwaltung von Randgruppen bei gleichzeitigem Schutz des Eigentums beruht.« 168 Butler, »The System Is Working«, S. 1446. 169 Vgl. Allegra M. McLeod, »Police Violence, Constitutional Complicity, and Another Vantage«, in: Supreme Court Review (2016), S. 157-197, hier S. 157, S. 159169. 170 Zu einer Erläuterung, warum Inhaftierung nicht der Abschreckung dient, vgl. Scott, »Why Prisons?«, S. 11 f.

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bemühten sich die Abolitionist:innen bei der Aufarbeitung der Polizeifolter in Chicago um ein Abhilfesystem, das dazu diente, die Betroffenen so weit wie möglich zu entschädigen, die der Gewalt zugrundeliegenden Ursachen anzugehen und sich dafür einzusetzen, dass sie in Zukunft nicht mehr vorkommt. Der Fall von Vergewaltigung und sexueller Nötigung ist hier auch lehrreich. Vergewaltigungen und sexuelle Übergriffe werden selten zur Anzeige gebracht und strafrechtlich verfolgt. Außerdem führen sie nur selten zu strafrechtlichen Verurteilungen oder nennenswerten Strafen.171 Doch selbst wenn ein:e Polizeibeamt:in wegen sexuellen Missbrauchs hart bestraft wird – wie Daniel Holtzclaw, der zu 263 Jahren Haft verurteilt wurde, weil er während seiner Tätigkeit als Polizeibeamter mehrere Frauen sexuell missbraucht hatte172 –, kann die verhängte Strafe das begangene Unrecht oft nicht wiedergutmachen. Die Inhaftierung von Holtzclaw beispielsweise lässt die Dynamik der uneingeschränkten Macht und Kontrolle von Polizeibeamt:innen über arme, drogenabhängige Frauen of color, die in der Sexarbeit tätig sind, bestehen, so dass sich seine Verbrechen leicht wiederholen könnten. Holtzclaws Verurteilung hat auch den Betroffenen seiner Übergriffe wenig zu bieten. Die Verhältnismäßigkeit der Strafe zu den Straftaten bleibt letztlich ungewiss, da sie weder die Opfer entschädigt noch die Übernahme von Verantwortung verlangt noch die Folgen des Verhaltens des Täters auf das von ihm verursachte Leid abstimmt. Darüber hinaus bringt die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe wie dieser die Normen der Gemeinschaft in Bezug auf sexuelle Übergriffe nicht konkret zum Ausdruck, da sie sich nicht mit den Praktiken der Gemeinschaft befasst, die dazu führen, dass sexuelles Fehlverhalten allgegenwärtig 171 Vgl. Allegra M. McLeod, »Regulating Sexual Harm: Strangers, Intimates, and Social Institutional Reform«, in: California Law Review, 102 (2014), S. 1553-1621, hier S. 1553, S. 1556 f., mit Verweis auf Lynn Langton u. a., U.S. Department Of Justice, Bureau Of Justice Statistics, »Special Report: Victimizations Not Reported To The Police, 2006-2010«, 2012, S. 4; siehe auch Kimberly A. Lonsway, Joanne Archambault, »The ›Justice Gap‹ for Sexual Assault Cases: Future Directions for Research and Reform«, in: Violence Against Women, 18 (2012), S. 145-168, hier S. 145, S. 157; Seidman/Vickers, »The Second Wave«, S. 472. 172 Vgl. Elliott C. McLaughlin u. a., »Oklahoma City Cop Convicted of Rape Sentenced to 263 Years in Prison«, in: CNN, 22. 1. 2016, 〈https://www.cnn. com/2016/01/21/us/oklahoma-city-officer-daniel-holtzclaw-rape-sentencing/ index.html〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022.

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ist und weitgehend unaufgearbeitet bleibt. Es wird keinerlei aktive Verantwortungsübernahme gefordert. Schließlich verstößt die Strafe gegen jede prinzipiengeleitete Vorstellung von Gerechtigkeit, da sie dazu führt, dass einem anderen Menschen – wie abscheulich sein Verhalten auch sein mag – ein Leben in einem Käfig auferlegt wird, wo er mit ziemlicher Sicherheit brutal behandelt und möglicherweise sexuell misshandelt173 oder in Einzelhaft, die weithin als Folter gilt, zermürbt wird.174 Aufschlussreich ist auch ein Blick auf die Häufigkeit von Tötungsdelikten im Zusammenhang mit Waffen. In bestimmten Vierteln von Chicago und anderen Städten wie Richmond, Kalifornien, kommen Tötungsdelikte mit Schusswaffen sehr häufig vor.175 Wie Marie Gottschalk feststellt: »Die Mordrate in Chicagos wohlhabendem Hyde Park liegt bei 3 pro 100 000 [...]. Die Mordopferrate junger schwarzer Männer, die in kriminell aktive Gruppen in einem Viertel mit hoher Kriminalität in Chicagos West Side involviert sind, liegt bei 3000 pro 100 000, was etwa dem 600-Fachen der landesweiten Rate entspricht.«176 Doch wie bei Vergewaltigung und sexuellen Übergriffen bleibt die große Mehrheit dieser Vorfälle unaufgeklärt.177 Die Polizei in Chicago klärt nur etwa eine 173 Vgl. Nancy Wolff u. a., »Sexual Violence Inside Prisons: Rates of Victimization«, in: Journal of Urban Health, 83 (2006), S. 835-848, hier S. 835 f., S. 841; allgemein auch Joanne Mariner u. a., No Escape: Male Rape In U.S. Prisons, Human Rights Watch 2001, 〈https://www.hrw.org/reports/2001/prison/report. html〉, letzter Zugriff 24. 2. 2022. 174 Vgl. etwa Craig Haney, Mona Lynch, »Regulating Prisons of the Future: A Psychological Analysis of Supermax and Solitary Confinement«, in: New York University Review of Law and Social Change, 23 (1997), S. 477-570, hier S. 477, S. 508; siehe auch Reginald Dwayne Betts, »Only Once I Thought About Sui­ cide«, in: Yale Law Journal Forum, 125 (2016), S. 222-229, hier S. 222. 175  Vgl. etwa Stef W. Knight, Michael Sykes, »The Deadliest City: Behind Chicago’s Segregated Shooting Sprees«, in: Axios, 14. 8. 2018, 〈https:// www.axios.com/chicago-gun-violence-murder-rate-statistics-4addeeecd8d8-4ce7-a26b-81d428c14836.html〉; Joaquin Palomino, Kimberly Veklerov, »In Richmond, High Number of Homicides Go Unsolved«, in: San Fran­ cisco Chronicle, 8. 4. 2017, 〈https://www.sfchronicle.com/crime/article/In-Rich mond-many-murders-go-unsolved-11055724.php〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 176 Marie Gottschalk, Caught: The Prison State and The Lockdown Of American Politics, Princeton 2014, S. 276 f. 177 Vgl. Annie Sweeney, Jeremy Gorner, »Chicago Police Solve One in Every 20 Shootings. Here Are Some Reasons Why That’s So Low«, in: Chicago Tribune,

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von zwanzig Schießereien auf.178 Folglich werden diese Fälle in der Regel nicht vom Strafprozess aufgegriffen – und auch hier versagt der Strafprozess bei der Durchsetzung von vergeltender Gerechtigkeit, der Erreichung von Abschreckungszielen oder der Darstellung von Gemeinschaftsnormen. In dem einen von zwanzig Fällen, in dem Anklage erhoben wird, trägt die Verurteilung eines jungen Menschen letztlich wenig dazu bei, die der Gewalt zugrundeliegende Dynamik zu bekämpfen, eine sinnvolle Verantwortungsübernahme zu ermöglichen oder die Opfer oder ihre Hinterbliebenen zu entschädigen. Natürlich handelt es sich bei der überwiegenden Mehrheit der strafrechtlich verfolgten Handlungen nicht um schwere Schäden in diesem Sinne. Der größte Teil der Arbeit der Strafgerichte besteht in der Bearbeitung von Verhaftungen armer Menschen wegen trivialer oder sogar opferloser Straftaten – Bagatelldiebstähle, geringfügiger Drogenbesitz oder -verkauf, Hausfriedensbruch oder Straftaten im Zusammenhang mit Sucht, Geisteskrankheit und Armut.179 Während einige der abscheulichsten Aspekte der Gefängnisstrafe mit den schrecklichen Bedingungen in Gefängnissen und Haftanstalten in Verbindung gebracht werden,180 würden die Probleme mit dieser Vorstellung von Gerechtigkeit auch dann noch bestehen, wenn die Bedingungen so weit verbessert werden könnten, dass sie den makellosen skandinavischen Gefängnissen entsprächen.181 Die Bestrafung würde selbst in sanierten Gefängnissen immer noch nicht den Bedürfnissen der Betroffenen oder der Öffentlichkeit entsprechen und die Täter:innen immer noch als entbehrlich behandeln, selbst wenn der Ort, an dem sie untergebracht sind, relativ komfortabel wäre. Es ist auch unaufrichtig zu behaupten, 8. 8. 2018, 〈https://www.chicagotribune.com/news/local/breaking/ct-met-chica go-violence-clearance-rate-20180807-story.html〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 178 Vgl. ebd. 179 Vgl. Kohler-Hausmann, »Managerial Justice«; Natapoff, Punishment Without Crime. 180 Vgl. etwa Sharon Dolovich, »Cruelty, Prison Conditions, and the Eighth Amendment«, in: New York University Law Review, 84 (2009), S. 881-979, hier S. 881, S. 887-889. 181 Vgl. etwa Erwin James, »The Norwegian Prison Where Inmates Are Treated Like People«, in: The Guardian, 25. 2. 2013, 〈https://www.theguardian.com/ society/2013/feb/25/norwegian-prison-inmates-treated-like-people〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022.

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dass die US-Gefängnisse denen in Norwegen oder Finnland ähnlicher werden könnten ohne die von Abolitionist:innen geforderten weitreichenden Veränderungen in der politischen Ökonomie der USA – und selbst wenn solche Veränderungen erreicht würden, ist nicht klar, warum eine demokratischere und wohlergehensorientierte Ausweitung und Umverteilung von Ressourcen am besten für die Verschönerung von Gefängnissen eingesetzt werden sollte, anstatt die Abhängigkeit von ihnen radikal zu reduzieren. In all diesen Zusammenhängen – vom häufigen Versagen bei der Aufklärung von Tötungsdelikten, Vergewaltigungen und sexuellen Übergriffen bis hin zur Kriminalisierung armer Menschen, die wegen Bagatelldelikten angeklagt werden – werden die vorherrschenden Vorstellungen darüber, wie der Strafprozess Gerechtigkeit schafft, eklatant verletzt. Strafrechtliche Gerechtigkeit – die Vorstellung, dass strafrechtliche Verurteilung und Bestrafung nach einem Schaden Gerechtigkeit schaffen – scheint eine Illusion zu sein, die eher mit Ideologie als mit tatsächlicher Strafverfolgung und deren Folgen zu tun hat. Den strafrechtlichen Prozess mit Gerechtigkeit gleichzusetzen, bedeutet, auf einer idealistischen Vorstellung dessen zu beharren, was strafrechtliche Bestrafung bewirkt, ohne die Erfahrungen derer, deren Leben sie berührt, überhaupt zu berücksichtigen. Wie ich weiter oben in diesem Beitrag beschrieben habe, sind die Bemühungen um eine Reform der Strafrechtsprozesse zur Verwirklichung idealisierter Gerechtigkeitsvorstellungen dazu verdammt, bestehende Ungerechtigkeiten nur weiter zu verfestigen, wenn sie nicht von transformativen Forderungen begleitet werden.

B. Verfahrensgerechtigkeit Verfahrensgerechtigkeit – ein einflussreicher Ansatz zur Reform des Strafrechts – zielt darauf ab, das Strafverfahren gerechter zu gestalten, indem die Art und Weise, wie die Polizei und andere Beamt:innen mit den Bürger:innen interagieren, geändert wird, um Respekt und Fairness zu signalisieren und die Wahrnehmung der Legitimität der Strafverfolgung zu verbessern. Der Sozialpsychologe Tom Tyler führte dieses Konzept der Verfahrensgerechtigkeit in seiner weithin einflussreichen Studie Why People Obey the Law ein, in der er argumentierte, dass die Befolgung von Gesetzen nicht so 599

sehr deshalb erfolgt, weil die Menschen eine Bestrafung fürchten, sondern weil sie das Gesetz für legitim halten und seine Autorität respektieren.182 Tracey L. Meares erläutert die Bedeutung der Verfahrensgerechtigkeit für die Reform des Strafrechts: Wissenschaftler:innen, die sich mit Verfahrensgerechtigkeit befassen, stellen fest, dass die Menschen im Allgemeinen viel mehr Wert darauf legen, wie sie von der Polizei behandelt werden, als darauf, ob die Polizei Verbrechen wirksam bekämpft oder Entscheidungen trifft, die ihnen persönlich nützen. Alle Menschen, ungeachtet ihrer race und ihres Geschlechts, möchten mit Würde, Respekt und Rücksicht auf ihre Rechte behandelt werden. Die Tatsache, dass diese minimale Erwartung eine so überraschend hohe Messlatte setzt, bedeutet, dass sie einen überzeugenden Ausgangspunkt für Überlegungen zur Polizeireform über konventionelle soziale Schranken hinweg bietet.183

Strafrechtliche Reformen, die sich an der Verfahrensgerechtigkeit orientieren, zielen darauf ab, die Wahrnehmung des Strafrechtssystems durch die Bevölkerung zu verbessern (und damit die Einhaltung der Gesetze zu erhöhen), indem sie die Art und Weise ändern, wie die Strafverfolgungsbehörden mit den Mitgliedern der Gemeinschaft umgehen. Das prominenteste Beispiel für Verfahrensgerechtigkeit wurde im Mai 2015 im Abschlussbericht der »White House Task Force on 21st Century Policing« vorgestellt, dessen Grundlage eine Reformstrategie ist, die sich auf die Stärkung des Vertrauens in die Strafverfolgung und deren Legitimität konzentriert.184 Das Kernproblem dieses Ansatzes, die Strafverfolgung zu retten und sie mit den Anforderungen der Gerechtigkeit in Einklang zu bringen, besteht vor allem darin, dass die Verfahrensgerechtigkeit sich auf ein Gefühl des Respekts oder der Fairness konzentriert und nicht auf die Verwirklichung substantiell gerechter Bedingungen auf einer grundlegenderen Ebene. Wie Monica Bell in einer überzeugenden Kritik der Verfahrensgerechtigkeit erklärt, verortet die 182 Tom Tyler, Why People Obey the Law, Princeton 1990, besonders Kapitel 1. 183 Tracey L. Meares, »Policing: A Public Good Gone Bad«, in: Boston Review, 1. 8. 2017, 〈http://bostonreview.net/law-justice/tracey-l-meares-policing-publicgood-gone-bad〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 184 »President’s Task Force on 21st Century Policing, U. S. Department of Justice, Final Report of the President’s Task Force on 21st Century Policing«, Washington, D. C., 2015.

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Legitimitätstheorie die Probleme mit dem Strafrechtsprozess in der sozialen Dynamik der Interaktion zwischen Beamt:innen und Bürger:innen und nicht in grundlegenderen strukturellen Problemen und Dynamiken auf Gruppenebene.185 Die Unfähigkeit des Strafrechtsprozesses, nach schweren zwischenmenschlichen Schäden sinnvolle Gerechtigkeit zu schaffen, und seine Überbetonung der Durchsetzung von Gesetzen gegen Verhaltensweisen, die nicht kriminalisiert werden sollten, werden nicht durch Polizeischulungen oder einen respektvolleren Umgang der Beamt:innen mit den von ihnen Polizierten korrigiert werden. Das Konzept der Verfahrensgerechtigkeit ist auch insofern unzureichend, als es sein Argument für mehr Fairness und Respekt bei der Strafverfolgung an einer besseren Einhaltung der Gesetze festmacht. Gerechtigkeit sollte sich nicht in erster Linie damit befassen, wie oft Menschen gesetzliche Vorschriften einhalten, sondern sich stattdessen umfassend mit der Qualität des kollektiven Lebens, einer fairen und gerechteren Verteilung der materiellen Ressourcen und dem menschlichen Wohlergehen auseinandersetzen.

C. Zivilgerechtigkeit Eine andere verbreitete Vorstellung von Rechtsprechung bezieht sich auf das Zivilrechtssystem und insbesondere auf den als Deliktsrecht bezeichneten Rechtsbereich. Benjamin Zipursky, Professor für Deliktsrecht, erklärt: »Das Deliktsrecht ist ein privates Klagerecht, das der Staat durch Gerichte bestimmten Kläger:innen gegenüber bestimmten Beklagten einräumt.«186 Eine Ergänzung oder Alternative zur strafrechtlichen Bestrafung besteht demnach darin, Gerechtigkeit durch einen Zivilprozess zu erlangen, bei der die geschädigte Person versucht, entschädigt zu werden, indem der Prozess dem:der Täter:in etwas wegnimmt, um ihm:ihr seinen:ihren ungerechtfertigten Gewinn zu nehmen, und diese Summe an das Opfer oder den:die Betroffene:n des Schadens überweist.187 185 Vgl. Monica C. Bell, »Police Reform and the Dismantling of Legal Estrangement«, in: Yale Law Journal, 126 (2017), S. 2054-2150, hier S. 2054, S. 2058 f. 186 Benjamin C. Zipursky, »Civil Recourse and the Plurality of Wrongs: Why Torts are Different«, in: New Zealand Law Review, Nr. 1 (2014), S. 145-169, hier S. 145 f. 187 Diese Sichtweise des Deliktsrechts, bei der es in erster Linie darum geht, etwas von dem:der Täter:in auf den:die Geschädigte:n zu übertragen, die sogenann-

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Die Probleme mit diesem verschuldensabhängigen Ansatz in der Ziviljustiz sind vielfältig. Erstens steht die tatsächliche Funktionsweise des Zivilrechtssystems wie auch des Strafrechts in krassem Gegensatz zu seiner idealisierten Darstellung. Ein:e Betroffene:r hat kein Recht auf einen Anwalt oder eine Anwältin, um zivilrechtliche Ansprüche geltend zu machen, und die einschlägigen Rechtsverfahren sind schwerverständlich und für Laien häufig unzugänglich. Für viele arme Opfer und Betroffene von Polizeigewalt, sexuellen Übergriffen oder anderem Unrecht bietet eine Zivilklage daher keinerlei Aussicht auf Gerechtigkeit.188 Qualifizierte Immunität und andere Prinzipien schützen viele vor zivilrechtlicher Haftung, die sonst als schuldig angesehen würden.189 Selbst wenn Opfer oder Betroffene in der Lage sind, sich einen Anwalt oder eine Anwältin zu nehmen und einen Antrag auf Abweisung ihrer Ansprüche zu überstehen, sind die Beweisregeln in einem Zivilprozess so beschaffen, dass die Darstellung der eigenen Geschichte des:der Betroffenen verzerrt, der zermürbenden Prüfung eines Kreuzverhörs unterworfen und wahrscheinlich auf andere Weise verdreht wird.190 Ob ein:e te zivilrechtliche Rückgriffstheorie, wurde von den Professoren John Goldberg und Benjamin Zipursky überzeugend vertreten. Siehe John C. P. Goldberg, Benjamin C. Zipursky, »Torts as Wrongs«, in: Texas Law Review, 88 (2010), S. 917986, hier S. 917, S. 946 (»Das Deliktsrecht bietet den Opfern eine Möglichkeit des zivilrechtlichen Rückgriffs auf diejenigen, die ihnen gegenüber ein relationales und schädigendes Unrecht begangen haben«). Obwohl die zivilrechtliche Rückgriffstheorie Gegenstand einiger Debatten war, siehe zum Beispiel Guido Calabresi, »Civil Recourse Theory’s Reductionism«, in: Indiana Law Journal, 88 (2013), S. 449-468, hier S. 449, S. 451-459, sowie Jane Stapleton, »Evaluating Goldberg and Zipursky’s Civil Recourse Theory«, in: Fordham Law Review, 75 (2006), S. 1529-1562, hier S. 1529, S. 1532), kommt die Zivilrechtstheorie der idealisierten Version der Rechtsprechung in Zivilrechtssystemen am nächsten. 188 Vgl. Legal Services Corporation, The Justice Gap: Measuring the Unmet Civil Legal Needs of Low-Income Americans, Washington, D. C. 2017, S. 4-8. 189 Zu einer Darstellung der qualifizierten Immunität als Hindernis für die zivilrechtliche Entschädigung bei Klagen wegen Polizeibrutalität vgl. Rob Yale, ­»Searching for the Consequences of Police Brutality«, in: California Law Review, Nr. 6 (1997), S. 1841-1860, hier S. 1841, 1850. 190 Zu einer Beschreibung der Beweisregeln, die Betroffene von Polizeibrutalität bei Zivilklagen gegen ihre Täter:innen benachteiligen, vgl. etwa Taylor Dolven, »Shot by Cops, Smeared in Court«, in: Vice News, 30. 10. 2017, 〈https:// news.vice.com/en_us/article/pazq57/police-shootings-rule-609〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022; zu einer Untersuchung der Art und Weise, wie der zivilrechtliche Prozess die Aussagen und die Glaubwürdigkeit von Betroffenen sexueller Gewalt

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Richter:in oder eine Jury ein positives Urteil fällt, kann durchaus von rassistischen, geschlechtsspezifischen oder anderen Voreingenommenheiten beeinflusst sein, wie es auch oft der Fall ist.191 Letztendlich wird der:die Betroffene den Schadenersatz erst dann erhalten, wenn die Prozess- und sonstigen Kosten beglichen sind, was die Entschädigung erheblich verringert. Aus all diesen Gründen bleibt die Erfahrung des zivilrechtlichen Verfahrens weit hinter der würdevollen Vision von Gerechtigkeit zurück, die durch die angeblichen Versprechen der Rechtsstaatlichkeit heraufbeschworen wird. Selbst in den seltenen Fällen, in denen ein Zivilprozess einem Opfer eine ausreichende Entschädigung verschafft, so dass die Person in der Lage ist, psychologische und medizinische Betreuung zu erhalten und andere Bedürfnisse zu befriedigen, bleibt der Zivilprozess in anderer Hinsicht unzureichend. Die Struktur eines Zivilprozesses sieht in der Regel vor, dass das Recht auf individueller Ebene oder im Falle einer Sammelklage in Bezug auf eine vorher festgelegte gemeinsame Gruppe ausgeübt wird. Die durch schweres Unrecht Geschädigten sind jedoch oft über die gesamte Gemeinschaft verteilt, und ein Prozess, der Gerechtigkeit anstrebt, sollte sich mit diesen Geschädigten ganzheitlicher befassen als durch die Überweisung einer Geldsumme an eine:n einzelne:n Betroffene:n oder selbst eine Gruppe ähnlich geschädigter Personen. Nach den Folterungen durch die Polizei in Chicago beispielsweise führten mehrere erfolgreiche Zivilklagen zu beträchtlichen Entschädigungssummen, aber Hunderte von Menschen, die in ähnlicher Weise Folterungen überlebt hatten und zum Tode oder zu langen Haftstrafen verurteilt worden waren, erhielten keine Entschädigung.192 Außerdem bedurfte es erst Jahrzehnte später eines Beschlusses der Stadt, um vielen Betroffenen und ihren Familien Reparationen zu gewähren, um anzuerkennen, was sie erlebt hatten.193 Die relativ diskreditiert und verunglimpft, siehe auch Deborah Epstein, Lisa A. Goodman, »Discounting Credibility: Doubting the Testimony and Dismissing the Experiences of Domestic Violence Survivors and Other Women«, in: University of Pennsylvania Law Review, 167 (2019), S. 399-461. 191 Zu einer Darstellung »zwingender Beweise« für die Auswirkungen des Faktors race auf die Ergebnisse von Gerichtsverfahren vgl. zum Beispiel Samuel R. Sommers, »Race and the Decision Making of Juries«, in: Legal and Criminological Psychology, 12 (2007), S. 171-187, hier S. 171, S. 183. 192 Vgl. Taylor, »The Chicago Police Torture Scandal«, S. 380 f. 193 Vgl. Moore, »Payback«.

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uneingeschränkte Macht und Befugnis der Polizei von Chicago, die am stärksten segregierten und benachteiligten communities der Stadt zu überwachen und Gewalt anzuwenden, bleiben weiterhin bestehen. Das Deliktsrecht verwendet in der Regel den Status quo als Maßstab für das, was es wiederherstellen will, aber der Status quo selbst ist oft zutiefst ungerecht. Der zivilrechtliche Prozess kann den Status quo wenn überhaupt nur stückweise, individuell und schrittweise verändern. Es ist kein Verfahren, auf das man sich verlassen kann, wenn es darum geht, Gerechtigkeit im Sinne einer grundlegenden Veränderung der bestehenden Welt zu erreichen.

D. Grounded Justice, abolitionistische Demokratie und das Unvollendete Gerechtigkeit besteht für Abolitionist:innen darin, auf erlebtes Leid und seine Folgen aufmerksam zu sein, auf die Bedürfnisse der Betroffenen einzugehen und Menschen, die Schaden angerichtet haben, auf eine Art und Weise zur Verantwortungsübernahme zu bewegen, die nicht entwürdigt, sondern auf Wiedereinbeziehung abzielt, während sie gleichzeitig die Grundursachen des Unrechts verstehen und daran arbeiten wollen, sie zu beseitigen. Gerechtigkeit, die in einer Sorge darum verankert ist, wie Wiedergutmachung erlebt wird, zielt auch darauf ab, die bestehende Welt zu verändern, um Betroffenen mehr Möglichkeiten zur Heilung einzuräumen und um die Wahrscheinlichkeit zu reduzieren, dass anderen in Zukunft Schaden zugefügt wird. Mit dieser Vorstellung von Gerechtigkeit haben Abolitionist:innen in Chicago Reparationen für Betroffene angestrebt und erreicht: einen Fonds zur Unterstützung von Polizeiopfern, ein Zentrum, das Ressourcen für medizinische und psychiatrische Dienste für diejenigen bereitstellt, die sie benötigen, ein fortlaufendes Projekt zur öffentlichen Erinnerung an das geschehene Unrecht und eine Änderung des Lehrplans an öffentlichen Schulen, damit die Schüler:innen daraus lernen und die Stadt ähnliche Ereignisse in Zukunft verhindern kann.194 Transformative GerechtigkeitsprozesSiehe ebd.; Marwa Eltagouri, »Chicago’s New Center for Police-Torture 194  Victims Is First of Its Art in U.S.«, in: Chicago Tribune, 26. 5. 2017, 〈https://

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se versuchen, den Bedürfnissen der Geschädigten gerecht zu werden, zukünftigen Schaden zu minimieren und Verantwortung und größeres Verständnis zu fördern. Aber über die Wiedergutmachung von Unrecht hinaus geht es bei der Gerechtigkeit in einem abolitionistischen Sinne auch darum, Schaden zu verhindern, indem materielle Ressourcen gerechter verteilt werden, zum Beispiel durch partizipative Haushaltsplanung. Abolitionist:innen entwerfen und verwirklichen dabei eine größere kollektive Sicherheit und erweitern und vertiefen gleichzeitig das demokratische Engagement. Dieser Gerechtigkeitsansatz lehnt rein abstrakte und stark idealisierte Theorien der strafrechtlichen Verantwortlichkeit oder der Ziviljustiz ab und setzt stattdessen auf eine schrittweise Veränderung der Mittel zur Verhinderung und Wiedergutmachung von Schäden, wobei kontinuierlich aus den Beiträgen und Erfahrungen der Öffentlichkeit gelernt wird. Auf die Gegenfrage »Aber was würden wir ohne Polizei und Gefängnisse tun?« antworten zeitgenössische Abolitionist:innen: »Was du wirklich fragst, ist: ›Was würden wir ohne zivilen Tod, Ausbeutung und staatlich sanktionierte Gewalt tun?‹«195 Denn in den Vereinigten Staaten waren Gefängnisse und Polizeiarbeit schon immer tief in rassistischen Missbrauch und Entrechtung verwickelt und untrennbar damit verbunden.196 Stattdessen lehnen Abolitionist:innen in der Abkehr von Polizeiarbeit und Gefängnissen das Projekt ab, »die Fallen der Vernichtung und der Knechtschaft neu zu ordnen«, während wir uns »frei« nennen.197 Für Abolitionist:innen müssen, um »Freiheit oder Sicherheit zu verwirklichen und Frieden mit unseren eigenen Ängsten zu schließen, passive Bestrafungen durch aktive Wiedergutmachung und Verantwortungsübernahme ersetzt werden«.198 Aufgrund dieser Verpflichtung zu aktiver Wiedergutmachung und Verantwortungsübernahme hat eine Justiz, die mit einer aboliwww.chicagotribune.com/news/local/breaking/ct-burge-torture-justice-cen ter-met-20170526-story.html〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 195 Hayes/Kaba, »The Sentencing«. 196 Vgl. etwa Du Bois, Black Reconstruction, S. 624 f. Siehe allgemein Naomi Murakawa, The First Civil Right: How Liberals Built Prison America, Oxford 2014; David M. Oshinsky, »Worse Than Slavery«: Parchman Farm and the Ordeal of Jim Crow Justice, New York 1996, S. 109 f.; Bruce Western, Punishment and Inequality in America, New York 2017, S. 11-33. 197 Hayes/Kaba, »The Sentencing«. 198 Ebd.

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tionistischen Ethik im Einklang steht, den Betroffenen von Schaden mehr zu bieten. Joshua Briond reflektiert dazu als Betroffener und Gefängnisabolitionist: Wir sollen das Gefühl haben, dass es akzeptabel ist, Lebewesen in Käfige zu sperren [...], als ob das für den Schaden, der bereits angerichtet wurde, und den unvermeidlichen Schaden, der weiterhin stattfinden wird, ausreicht [...]. Strafe und Rache werden den Schaden, der mir zugefügt wurde, nicht heilen. Sie werden mir weder den Schmerz nehmen, noch werde ich mich dadurch besser fühlen [...]. Aber [...] ein radikaler Wandel in unserer Kultur, in unserer Art, diese Gräueltaten zu überleben und mit ihnen umzugehen und sie kollektiv zu verhindern, wird es tun.199

Abolitionistische Gerechtigkeit trägt auch der Würde und Menschlichkeit derjenigen besser Rechnung, die Unrecht begangen haben. Gleichzeitig zielt sie darauf ab, die Zusammenhänge und Ursachen des kriminellen Verhaltens anzugehen. Obwohl ihre allgemeinen Konturen klar genug sind, muss Gerechtigkeit für Abolitionist:innen auch unvollendet bleiben, damit sich die abolitionistische Bewegung mit der Erfahrung weiterentwickeln kann. Gerechtigkeit in einem abolitionistischen Rahmen ist nicht nur auf diese Weise verankert, als Aufmerksamkeit für die konkrete Erfahrung von Gerechtigkeit, sondern sie ist auch bestrebt, als Reaktion auf sich wandelnde Bedürfnisse und Zeiten stets offen für Veränderungen zu bleiben.

Fazit Um zum Homan Square zurückzukehren, wo wir begonnen haben: Als die Aktivist:innen diesen Platz in Freedom Square umbenannten, machten sie nicht nur auf die kriminellen Strafverfolgungspraktiken auf dem angrenzenden Polizeigelände aufmerksam. Sie erinnerten auch an die vergessene Geschichte des Slumlord Samuel Homan und anderer Akteur:innen, die in der Mitte des 20. Jahrhunderts eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung von Chicagos stark segregierter, ungleicher Landschaft spielten – gekennzeichnet 199 Joshua Briond, »When You’re a Prison Abolitionist and a Survivor«, in: Afropunk, 19. 12. 2017, 〈https://afropunk.com/2017/12/navigating-need-justice-sexualabuse-survivors-youre-abolitionist-survivor/〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022.

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durch Nischen von Armut und Gewalt und andere Räume mit konzentrierten Ressourcen und Vorteilen, die bis weit ins 21. Jahrhundert hinein fortbesteht.200 Homan profitierte von räuberischen Immobilienpraktiken, die viele Afroamerikaner:innen in Chicago in Wohnungen mit minderer Wohnqualität zwangen, die die rassistische Isolation und wirtschaftliche Verzweiflung vertieften. Am berüchtigtsten dürfte Homan dafür sein, dass er ein Gebäude mit zweiundzwanzig Wohneinheiten in der West Ohio Street in 101 kaum bewohnbare Wohnungen »renoviert« hat, in denen fast 300 afroamerikanische Mieter:innen untergebracht waren. Die Mieter:innen mussten für die umgestalteten winzigen Zimmer mit gemeinsamen Badezimmern und Küchen ein Vielfaches der Kosten zahlen, die den weißen Bewohner:innen vorher in Rechnung gestellt worden waren.201 Dann brannte das Gebäude ab – unter Umständen, die eher auf Brandstiftung als auf einen Unfall schließen lassen.202 Unabhängig von der Brandursache war Homan jedoch zumindest dafür verantwortlich, dass er lange Zeit von den Mieter:innen profitierte, denen er keine Fluchtmöglichkeiten bot, und sich an der Erniedrigung anderer bereicherte – und zwar vieler Bewohner:innen des Gebäudes, die bei dem Brand entweder ums Leben kamen oder schwer verletzt wurden.203 Heute gehört Chicago nach wie vor zu den am stärksten segregierten Städten des Landes, mit vielen afroamerikanischen Bürger:innen, die in ar200 Vgl. Whet Moser, »Chicago Isn’t Just Segregated, It Basically Invented Modern Segregation«, in: Chicago Magazine, 31. 3. 2017, 〈https://www.chicagomag.com/ city-life/March-2017/Why-Is-Chicago-So-Segregated/〉, letzter Zugriff 6.  1.  2022. 201 Vgl. Allen, People Wasn’t Made to Burn, S. 148. 202 Vgl. ebd., S. 148-158. 203 Siehe ebd. Die Jury gab eine Erklärung ab, in der sie Homan verurteilten: »Wir, die Jury, betrachten die unglaublich schockierenden Zustände in dem Todeshaus in der 940-42 West Ohio Street – die Überbelegung, die schändlichen Verstöße gegen Sicherheits- und Bauvorschriften und gegen die üblichen Anstandsnormen – als direkt mitverantwortlich für die Todesfälle [...]. Die Geschworenen können nicht genug betonen, dass es keine Todesfälle in diesem Mietshaus gegeben hätte, wenn der Betreiber auch nur das geringste Gefühl für menschlichen Anstand gegenüber seinen Mieter:innen gehabt hätte.« Ebd. S. 168. Das Urteil fuhr fort, dass die Verantwortung für diese schrecklichen Zustände nicht nur bei Samuel Homan lag, sondern auch »bei der Polizei, der Bauaufsichtsbehörde, den Immobilienbetreiber:innen und -verwaltungen und Tausenden von Hausbesitzer:innen in ganz Chicago«. Ebd., S. 168 f.

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mutsbetroffenen Vierteln wie dem um den Homan Square leben, die von generationenübergreifender Benachteiligung, intensiver Polizeiüberwachung, Arbeitslosigkeit, Gewalt und Verzweiflung geprägt sind, obwohl es auch an diesen Orten viel Lebendiges und Hoffnungsvolles gibt.204 In den letzten Jahren haben gemeinnützige Organisationen und Wohnungsbaugesellschaften versucht, das wirtschaftlich angeschlagene Viertel rund um den Homan Square wiederzubeleben, aber steuerbefreite Spenden und kommerzielle Entwicklungspläne reichen nicht aus, um das Problem zu beheben.205 Schließlich werden solche Bemühungen in der Regel von denjenigen angeführt, die die Beute der rassistisch motivierten Enteignung geerbt haben, und nicht von den Enteigneten,206 und solche Projekte gehen nicht an die Wurzeln der generationenübergreifenden Benachteiligung heran und bleiben weit hinter der Demokratisierung der grundlegenden wirtschaftlichen und politischen Institutionen zurück, welche die Verteilung der Lebenschancen bestimmen. Zeitgenössische Abolitionist:innen hingegen haben sich verpflichtet, die anhaltende Ungleichverteilung zu beseitigen und die Stimmen und die Führungsrolle derjenigen zusammenzufassen, die allzu oft ausgeschlossen sind. Auch dieser Aufsatz hat versucht, diese Stimmen, die sonst im juristischen Diskurs weitgehend fehlen, in den Mittelpunkt zu rücken und sich eine abolitionistische Demokratie vorzustellen, die von ihrer unermüdlichen Arbeit, ihren Vorstellungen und ihren Ideen lernt. Übersetzt von Mihir Sharma 204 Aaron Williams, Armand Emamdjomeh, »America is More Diverse Than Ever – But Still Segregated«, in: Washington Post, 10. 5. 2018, 〈https://www.washingtonpost.com/graphics/2018/national/segregation-us-cities/〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022; siehe auch Madhani, »Unsolved Murders«; Moore, »Payback«. Zu einer eingehenden Untersuchung der Funktionsweise des Strafrechtssystems in Cook County siehe Steve Bogira, Courtroom 302, New York 2005. 205 Corilyn Shropshire, »40 Years After Sears Left Homan Square, Catalog Build­ ing Gets Second Life«, in: Chicago Tribune, 22. 6. 2017, 〈https://www.chicago tribune.com/business/ct-sears-homan-square-affordable-housing-0623-biz20170622-story.html〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 206 Zu einer Beschreibung einer Wohnsiedlung in der Nähe vom Homan Square, die zum Teil von der Chicago Housing Authority, der Federal Home Loan Bank of Chicago und der Nationwide Insurance über die Royal Bank of Canada finanziert wurde, siehe zum Beispiel ebd.

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Che Gossett Abolitionistische Alternativen. Schwarzer Radikalismus und die Verweigerung von Reform Ein großer Teil der Arbeit der Unterdrückung besteht aus dem Polizieren der Imagination. – Saidiya Hartman

Die politischen Konturen der frühmodernen Schwarzen abolitionistischen Bewegung wurden von Frederick Douglass, Harriet Jacobs, Olaudah Equiano, Harriet Tubman und unzähligen anderen in ihren alltäglichen Formen von Widerstand geprägt und in den Brennpunkten der Aufstände, der Rebellion und der Empörung gegen die Gewalt der rassistischen Sklaverei politisch artikuliert. Abolitionistische Solidarität in der frühen Periode zerbrach entlang der Bruchlinien des politischen Antagonismus des Anti-Schwarzseins. Die Kluft zwischen den abolitionistischen Parteien war das Ergebnis einer inkommensurablen Parallaxe. Auf der einen Seite lag der Standpunkt des rassistische Paternalismus der weißen Abolitionist:innen, die bestrebt waren, Freiheit für Schwarze Menschen zu bestimmen. Auf der anderen Seite lag die Schwarzradikale Vorstellung von dem, was Robin Kelley »Freiheitsträume« nennt, die nicht auf die beständige Unfreiheit der »Emanzipation« reduzierbar sind.1 Schwarzsein radikalisiert sowohl Emanzipation – deren juristische Etymologie auf das Aufgeben eines Eigentums zurückzuführen ist – als auch Revolution.2 Schwarzsein revolutionierte das Subjekt beziehungsweise das Objekt der Revolution selbst – die Hai1 Siehe Robin D. G. Kelley, Freedom Dreams: The Black Radical Imagination, Boston 2002. 2 Charlton T. Lewis, Charles Short, A Latin Dictionary, Oxford 1879, S. 640, Eintrag »Emanzipation«, 〈http://www.perseus.tufts.edu/hopper/text?doc=Perseus: text:1999.04.0059:entry=emancipatio&highlight=emancipation〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. Ich bedanke mich bei Anna So dafür, dass sie mich an diesen Text ­herangeführt hat.

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tianische Revolution ist emblematisch für diese Radikalisierung. Der:die Sklav:in war, wie Saidiya Hartman argumentiert, die Grundlage des modernen politischen Subjekts.3 »Die Versklavten wurden weder als Teil der ›imaginären Souveränität des Staates‹ gedacht, noch wurde ihnen das Privileg gewährt, sich selber als Teil davon zu verstehen.«4 Der:die Sklav:in war die Grundlage für emanzipatorische und revolutionäre Kämpfe, und diese politischen Kategorien – sowie die Kategorie des Politischen in seiner Gesamtheit – waren weißen Bürger:innen vorbehalten, wie an den anti-Schwarzen Repressionen, karzeraler Staatsgewalt und inländischer Kriegsführung (domestic warfare) gegen jeden Schritt des anhaltenden Schwarzen Aufstandes von Nat Turners Rebellion bis zur Bürgerrechtsbewegung, die James Baldwin als »den neuesten Sklavenaufstand« ansah, abzulesen ist.5 Die politische Grammatik Schwarzer Freiheit benötigt die Abolition der gegebenen Begriffe der politischen, klassischen und philosophischen Ontologie der Freiheit. Schwarzer Freiheitskampf stellt die Koordinaten der Freiheit in Frage. Abolition meint das Ende von dem, was Hortense J. Spillers die »Grammatiken der Gefangennahme (capture)«6 nennt, die die rassifizierte, liberale Grammatik der »Freiheit« einschließt, und dessen politische Ontologie die Sklaverei ist. »Sklaverei ist die Schwelle der politischen Welt.«7 Die De-jure-Abschaffung der Sklaverei hat Anti-Schwarzsein nicht beendet, sondern nur reformiert. »Die Abschaffung von amerikanischer Sklaverei ermöglichte die Verfrachtung von Kapital aus weißen Ländern in Schwarze Länder, wo Sklaverei vorherrscht«, bemerkte Du Bois in Black Reconstruction und beschrieb Kapitalismus als das Nachleben von Sklaverei. Freiheit ist – wie Hartman so gründlich bewiesen hat – eine Szene der Unterwerfung.8 Vielleicht 3 Siehe Saidiya V. Hartman, Scenes of Subjection: Terror, Slavery, and Self-Making in Nineteenth-Century America, Oxford 1997, S. 62. 4 Ebd., S.  65. 5 James Baldwin, The Cross of Redemption: Uncollected Writings, New York 2001, S. 141. 6 Hortense J. Spillers, Black, White, and in Color: Essays on American Literature and Culture, Chicago 2003, S. 14. 7 Jared Sexton, »The Vel of Slavery: Tracking the Figure of the Unsovereign«, in: Critical Sociology, 42/4-5 (2016), S. 583-597, hier S. 593. 8 Siehe Hartman, Scenes of Subjection.

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ist die bloße Grammatik von »Welt« selbst – als die Kolonisierung und Propertisierung der Erde – ebenfalls eine der Gefangennahme. Die gefängnisabolitionistische Bewegung fordert und präfiguriert soziale Emanzipation und das Ende aller Formen des sozialen Exils, der Verbannung, der Kriminalisierung oder Einkerkerung. Abolition bleibt ein anhaltendes Projekt gegen die allgemeine Institutionalisierung des Nachlebens der Sklaverei und seine karzerale und rassistisch-kapitalistische Topologie: von der Stätte des Gefängnisses bis zur Stätte der Psychiatrie, von der neoliberalen unternehmerischen Universität zum Geflüchtetenlager und mehr. Ruth Wilson Gilmore erklärt das Projekt der Abolition in seiner partikularen und universalen Totalität: »Abolition bedingt, dass wir eine Sache ändern, nämlich alles.«9 Was Mariame Kaba den »Horizont der Abolition« nennt, ist sowohl zeitlich als auch räumlich.10 Was ist die Zeitlichkeit der Abolition? Wie unterscheidet sie sich von anderen Arten der säkular-eschatologischen und messianisch-revolutionären Zeit? Abolition ist unzeitgemäß und sagt sich von der Illusion kapitalistischer und kolonialer Zeit als Maßstab des zivilisatorischen Fortschritts los. Sie ist nicht atemporal in Bezug auf die rassifizierte liberale Zeitlichkeit der Post-»Emanzipation«, sondern sie durchbricht sie. Abolition, wie Audre Lorde in ihrem Aufsatz »Learning from the 60s« über die Revolution sagt, ist »kein einmaliges Ereignis«, sondern, wie Angela Davis behauptet, »ein ständiger Kampf«.11 Abolition verändert die soziale und politische Ontologie der Revolution. Entscheidend hierbei ist, wer mitmachen kann – damit die ableistische und heteronormative Grenzziehung innerhalb der Revolution aufgelöst wird, ebenso wie Revolution nicht als ein einmaliges   9 Ruth Wilson Gilmore, »Making Abolition Geography in California’s Central Valley«, Interview mit Léopold Lambert, in: The Funambulist, 21 (2019), 〈https://thefunambulist.net/magazine/21-space-activism/interview-making-abolition-geo graphy-california-central-valley-ruth-wilson-gilmore〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 10 Mariame Kaba, John Duda, »Towards the Horizon of Abolition: A Conversation with Mariame Kaba«, in: The Next System Project, 9. 11. 2017, 〈https:// thenextsystem.org/learn/stories/towards-horizon-abolition-conversation-ma riame-kaba〉, letzter Zugriff 6. 1. 2022. 11 Audre Lorde, »Von den Sechzigerjahren lernen«, in: dies., Sister Outsider. Essays, München 2021, S. 145-162, hier S. 155. Siehe Angela Y. Davis, Freiheit ist ein ständiger Kampf, Münster 2016.

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Ereignis – oder gar durch den Rahmen des Ereignisses überhaupt verstehbar – rekonzeptualisiert wird, sondern eher als eine immanente Modalität. Deshalb ist, wie Jared Sexton es formuliert, der Abolition »eine endlose Radikalisierung jeder radikalen Bewegung« zu eigen. Damit werden Polizieren und das Karzerale ständig auch innerhalb derjenigen Formen von revolutionärer Sozialität hinterfragt, die sich ihrer Opposition verschrieben haben.12 Um auf Audre Lordes Aufsatz zurückzukommen, der über die Lehren des revolutionären Schemas, die aus der Zeitperiode gesammelt wurden, und die Notwendigkeit, das Revolutionäre ständig neu zu fassen und zu revidieren, reflektiert, so lautet die Passage folgendermaßen: »Revolution ist kein einmaliges Ereignis. Sie wartet immer wachsam auf die kleinste Gelegenheit, um in bestehenden, überkommenen Reaktionen einen echten Unterschied zu machen.«13 Revolution und Abolition, als sowohl revolutionär als auch die Bedingungen beziehungsweise Begriffe von Revolution selbst radikalisierend, sind nicht nur externe, sondern auch interne Prozesse. Was ist die Räumlichkeit des Horizonts der Abolition? Was ist die (An-)Architektur von Abolition, und wie kann Architektur ein Ort für Abolition sein – im Sinne von Wohnraum für alle und einer Umnutzung der bebauten Umgebung? Gilmore nennt Abolition eine »Präsenz« im lebensbejahenden Sinne von kollektiver Macht und Möglichkeit, mit der sie das mächtige Konzept durchfärbt.14 »Abolition heißt, die Zukunft von der Gegenwart aus zu schaffen, auf alle erdenklichen Arten und Weisen.«15 Um zurück auf Sextons Konzept der Endlosigkeit (interminability) zu kommen, Abolition kann, wenn wir Frank Wildersons Metapher anwenden, als »zwei fahrende Züge« verstanden werden. Oder auch analog zu einem Möbiusband – eine unendliche Falte – mit einer Seite als Kampf gegen karzerale Form und Reform (das karzerale Kontinuum) und der anderen, nach Gilmore, als Präsenz im Sinne von abolitionistischem Werden und Gedeihen. In ihrem Schaffen von Präsenz strebt Abolition nicht- und antifaschistisches Leben an. In seinem Vorwort zu Deleuze’ und Guattaris Anti-Ödipus, den 12 Jared Sexton, »The Vel of Slavery«, S. 593. 13 Audre Lorde, »Learning from the 60s«, S. 155 f. 14 Gilmore, »Making Abolition Geography«, S. 14. 15 Ebd.

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er eine »Einführung in das nicht-faschistische Leben«16 nannte, zeigt Foucault, wie der Faschismus (wir können das Karzerale als eine Gattung des Faschismus betrachten) nicht auf der Ebene des Staates, sondern auch intern auf der Ebene der Psyche und des Innenlebens funktioniert. Foucault erkennt nicht nur den Faschismus von staatlichem Autoritarismus, sondern auch »den Faschismus in uns allen, in unseren Köpfen und in unserem alltäglichen Verhalten, der Faschismus, der uns die Macht lieben läßt, der uns genau das begehren läßt, was uns beherrscht und ausbeutet«.17 Außerdem stellt und antizipiert Foucault Fragen, die für abolitionistische Praxis lebendig sind und durch sie verstärkt werden – besonders wenn wir »karzeral« als »faschistisch« lesen beziehungsweise dadurch ersetzen – immerhin sind die beiden Begriffe letzten Endes austauschbar. Foucault fragt: »Wie kann man sich davor bewahren, Faschist:in zu sein, auch (und besonders dann) wenn man sich für eine:n revolutionären Militant:in hält? Wie können wir unser Sprechen und unser Tun, unsere Herzen und unsere Lüste vom Faschismus befreien? Wie ziehen wir uns den Faschismus, der in unserem Verhalten tief verwurzelt ist, aus der Nase?«18 Die abolitionistische Variante desselben formuliert Paula X. Rojas kurz und bündig als »die Polizist:innen in unseren Köpfen und Herzen«.19 Der Faschismus, wie George L. Jackson ihn definierte, ist nicht nur die Form des karzeralen Staates, sondern auch (seine) Reform: »Wir werden nie eine vollkommene Definition von Faschismus haben, denn er befindet sich in ständiger Bewegung. […] Aber, wenn man gezwungen wäre, um der Klarheit willen ihn mit einem Wort zu definieren, 16 Der Titel der deutschen Übersetzung unterscheidet sich vom Englischen: »Der ›Anti-Ödipus‹ – Eine Einführung in eine neue Lebenskunst«. [Anm. d. Übers.] 17 Michel Foucault, »Der ›Anti-Ödipus‹ – Eine Einführung in eine neue Lebenskunst«, in: ders., Dispositive der Macht: Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, S. 225-230. 18 Ebd. Die letzte Frage beziehungsweise Zeile wurde in der deutschen Übersetzung weggelassen. Der Text wurde zuerst auf Englisch veröffentlicht, siehe Michel Foucault, »Preface«, in: Gilles Deleuze, Félix Guattari, Anti-Oedipus: Capitalism and Schizophrenia, übersetzt von Robert Hurley u. a., New York 2009, S. xiii. [Anm. d. Übers.] 19 Paula X. Rojas, »Are the Cops in Our Heads and Hearts?«, in: INCITE! Women of Color Against Violence (Hg.), The Revolution Will Not Be Funded: Beyond the Non-Profit Industrial Complex, Durham 2011, S. 197-214, hier S. 213.

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das alle verstehen, dieses Wort wäre ›Reform‹.«20 Jacksons Schwarzradikale Studie über Faschismus, seine Umarbeitung der Definition, offenbart seine Elastizität, Ausdauer und seine Naturalisierung als »Reform«. Abolitionistisches Leben ist antifaschistisches Leben. Übersetzt von Smaran Dayal

20 George L. Jackson, Blood in My Eye, New York 1972, S. 118.

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Textnachweise Mumia Abu-Jamal, »Weihnachten im Käfig«, zuerst als »Christmas in a Cage (1982)«, in: ders., Writing on the Wall. Selected Prison Writings of Mumia Abu-Jamal, hg. von Johanna Fernandez, San Francisco: City Lights 2015, S. 1-6. Amna A. Akbar, »Reform (der Polizei) – ein abolitionistischer Horizont«, zuerst als »An Abolitionist Horizon for (Police) Reform«, in: Californa Law Review, 108/6 (2020), S. 1781-1846. Angela Y. Davis, »Abolitionistische Demokratie«, zuerst als »Abolition Democracy«, in: dies., Abolition Democracy. Beyond Empire, Prisons, and Torture. Interviews with Angela Y. Davis, New York u. a.: Seven Stories 2004, S. 77-103. Angela Y. Davis, »Gefängnisreform oder Abschaffung des Gefängnisses?«, zuerst als: »Introduction – Prison Reform or Prison Abolition?«, in: dies., Are Prisons Obsolete?, New York 2003: Seven Stories Press, S. 9-21; deutsche Übersetzung zuerst in: dies., Eine Gesellschaft ohne Gefängnisse?, Berlin: Schwarzerfreitag 2004, S. 11-27. Die Übersetzung wurde für den vorliegenden Band geringfügig angepasst. Angela Y. Davis, »Strategien zur Abschaffung des Gefängnisses«, zuerst als »Abolitionist Alternatives«, in: dies., Are Prisons Obsolete?, New York 2003: Seven Stories Press, S. 105-115; deutsche Übersetzung zuerst in: dies., Eine Gesellschaft ohne Gefängnisse?, Berlin: Schwarzerfreitag 2004, S. 128-142. Die Übersetzung wurde für den vorliegenden Band geringfügig angepasst. Andrew Dilts, »Kritik, Krise und Abolitionismus«, zuerst als »Crisis, Critique, and Abolition«, in: Bernard Harcourt, Didier Fassin (Hg.), A Time For Critique, New York: Columbia University Press 2019, S. 230-251. Michel Foucault, »Gefängnisse und Gefängnisrevolten«, zuerst in: Dokumente: Zeitschrift für übernationale Zusammenarbeit, 29/2 (1973), S. 133-137; hier aus ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band II: 1970-1975, Berlin: Suhrkamp 2014, S. 530-538. Ruth Wilson Gilmore, »Was tun?«, zuerst als »What Is to Be Done?«, in: dies., Golden Gulag. Prisons, Surplus, Crisis, and Opposition in Globalizing California, Berkeley: University of California Press 2007, S. 241-248.

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Che Gossett, »Abolitionistische Alternativen. Schwarzer Radikalismus und die Verweigerung von Reform«, zuerst als »Abolitionist Alternatives. Black Radicalism and the Refusal of Reform«, in: Cabinet Magazine, 15. 12. 2020, 〈https://www.cabinetmagazine.org/kiosk/gossett_che_15_december_2020. php〉, letzter Zugriff 8. 2. 2022. Klaus Günther, »Kritik der Strafe«, zuerst erschienen als »Kritik der Strafe I«, in: WestEnd – Neue Zeitschrift für Sozialforschung, 1 (2004), S. 117-131. Joy James, »Foucaults Schweigen vom Spektakel rassistischer staatlicher Gewalt«, zuerst als »Erasing the Spectacle of Racialized State Violence«, in: Resisting State Violence. Radicalism, Gender, and Race in US Culture, Minneapolis: University of Minnesota Press 1996, S. 24-43. Mimi E. Kim, »Über Kritik hinausgehen. Kreative Interventionen und Rekonstruktionen kollektiver Verantwortungsübernahme«, zuerst als »Moving Beyond Critique: Creative Interventions and Reconstructions of Community Accountability«, in: Social Justice, 4/37 (2011/2012), S. 14-35. Sarah Lamble, »Karzerale Logiken transformieren: Zehn Gründe dafür, den gefängnisindustriellen Komplex durch queere/trans Analysen und Aktionen zu demontieren«, zuerst als »Transforming Carceral Logics: 10 Reasons to Dismantle the Prison Industrial Complex Using a Queer/Trans Analysis«, in: Nat Smith, Eric A. Stanley (Hg.), Captive Genders: Trans Embodiment and the Prison Industrial Complex, Oakland: AK Press (2011), S. 235-266. Victoria Law, »Gegen den Strafrechtsfeminismus«, zuerst als »Against Carceral Feminism«, in: Jacobin, 17. 10. 2014, 〈https://www.jacobinmag. com/2014/10/against-carceral-feminism/〉, letzter Zugriff 8. 2. 2022. Robyn Maynard, »Über staatliche Gewalt und Schwarze Leben«, zuerst als »On State Violence and Black Lives«, in: ders., Policing Black Lives. State Violence in Canada from Slavery to the Present, Halifax: Fernwood (2017), S. 1-17. Das Kapitel wurde geringfügig gekürzt. Geoffroy de Lagasnerie, Assa Traoré: »Der Kampf Adama«, zuerst als »La gendarmerie, la police et le corps« und »Qu’appelle-t-on violences policières?«, in: Le combat Adama, Paris: Stock 2019, S. 35-72 und S. 129-133.

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Allegra M. McLeod, »Abolitionistische Demokratien entwerfen«, zuerst als »Envisioning Abolition Democracy«, in: Harvard Law Review, 132 (2019), S. 1613-1649. Andrea J. Ritchie, »Polizeiliche Antworten auf Gewalt gegen Frauen«, zuerst als »Police Responses to Violence«, in: dies., Invisible No More Police Violence Against Black Women and Women of Color, Boston: Beacon Press 2017, S. 183-202. Nikhil Pal Singh, »Das Weißsein der Polizei«, zuerst als »The Whiteness of Police«, in: American Quarterly, 66/4 (2014), S. 1091-1099. Alex S. Vitale: »Grenzen der Polizeireform«, zuerst als »The Limits of Police Reform« und »The Police Are Not Here to Protect You«, in: ders., The End of Policing, London, New York: Verso 2017, S. 1-30 und S. 31-54. Wir danken den Autor:innen, Übersetzer:innen und Verlagen für die freundliche Abdruckgenehmigung.

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Über die Autor:innen Mumia Abu-Jamal ist politischer Aktivist und Journalist. Er ist seit 1982 in den USA inhaftiert, bis 2011 mit der Erwartung der Todesstrafe. Amna A. Akbar ist Professorin für Rechtswissenschaften an der Ohio State University. Angela Y. Davis ist politische Aktivistin und emeritierte Professorin für Feministische Studien an der University of California at Santa Cruz. Andrew Dilts ist Associate Professor für Politikwissenschaften an der Loyola Marymount University in Los Angeles. Michel Foucault (1926-1984) war Philosoph, Soziologe und Historiker. Zuletzt unterrichtete er am Collège de France in Paris. Ruth Wilson Gilmore ist Direktorin des Center for Place, Culture, and ­ olitics und Professorin für Geographie an der City University New York. P Che Gossett ist Autor:in und zurzeit Graduate Fellow am Center for Cultural Analysis der Rutgers University, New Jersey. Klaus Günther ist Professor für Rechtswissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Joy James ist Ebenezer-Fitch-Professorin der Humanwissenschaften am Williams College, Massachusetts. Mimi E. Kim ist Assistenzprofessorin an der California State University, Long Beach. Geoffroy de Lagasnerie ist Professor für Philosophie an der École nationale supérieure d’arts de Cergy-Pontoise. Sarah Lamble ist Reader für Kriminologie und Queer Theory an der Birkbeck University in London. Victoria Law ist freie Journalistin, Autorin und Aktivistin.

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Robyn Maynard ist Autorin, feministische Theoretikerin, Aktivistin und Vanier Scholar an der University of Toronto. Allegra M. McLeod ist Professorin für Rechtswissenschaften an der Georgetown University, Washington, D. C. Andrea J. Ritchie ist Anwältin, Aktivistin und zurzeit Researcher in Residence am Barnard Center for Research on Women in New York. Nikhil Pal Singh ist Professor für Sozialwissenschaften, Kulturanalyse und Geschichte an der New York University sowie Leiter des NYU Prison Education Program. Assa Traoré ist Aktivistin und Mitbegründerin des Comité Adama, einer Initiative gegen rassistische Polizeigewalt, die nach ihrem 2016 von der Polizei ermordeten Bruder Adama Traoré benannt ist. Alex S. Vitale ist Professor für Soziologie am Brooklyn College, New York.

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