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German Pages 350 [344] Year 2014
Alexander Kratochvil, Renata Makarska, Katharina Schwitin, Annette Werberger (Hg.) Kulturgrenzen in postimperialen Räumen
Edition Kulturwissenschaft | Band 11
Alexander Kratochvil, Renata Makarska, Katharina Schwitin, Annette Werberger (Hg.)
Kulturgrenzen in postimperialen Räumen Bosnien und Westukraine als transkulturelle Regionen
Gefördert vom Excellenzcluster 16 »Kulturelle Grundlagen von Integration« der Universität Konstanz
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Inhalt
Einleitung Transkulturalität in postimperialen Räumen
Annette Werberger | 7
KULTURELLE GRENZZIEHUNGEN UND -ÜBERSCHREITUNGEN IN VORMODERNEN IMPERIEN UND MODERNEN N ATIONEN Galizien postcolonial? Imperiales Differenzmanagement, mikrokoloniale Beziehungen und Strategien kultureller Essentialisierung
Anna Veronika Wendland | 19 Kulturelle Trennlinien und wirtschaftliche Konkurrenz Galizische Modernisierungsdiskurse zwischen Subalternität und Dominanz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Klemens Kaps | 33 Ruthenische Folklore im Fokus der polnischen Folkloristik und Ethnographie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Katharina Schwitin | 61
MEHRSPRACHIGKEIT IN IMPERIALEN UND POSTIMPERIALEN R ÄUMEN Hybridität und Sprachgebrauch an Bruchlinien der Slavia Bosnien und Galizien
Christian Voß | 101 Sprachvariation, Diglossie und Sprachenkonflikte im Diskurs Zur linguistischen Erforschung der Galizischen Mehrsprachigkeit in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts
Stefaniya Ptashnyk | 117
Mehrsprachigkeit oder Mischsprachigkeit? Ostgalizische Literatur Anfang des 20. Jahrhunderts
Renata Makarska | 141 Berge und Jahrhunderte Nikola Šuhaj und die literarische Polyglossie in den Karpaten
Alexander Kratochvil | 165
KONKURRIERENDE NARRATIVE Zwischen Protomoderne und Postmoderne Eine komparatistische Sichtweise auf die Wiederkehr Galiziens in der Literatur
Werner Nell | 187 Ukrainische Polonophilie in der Zwischenkriegszeit
Ulrich Schmid | 221 Anschreiben gegen den Kanon Goethe- und Heine-Reskripte der »Moloda Muza«
Stefan Simonek | 231 Konkurrierende und konvergierende Narrative zur Geschichte der Stadt Lemberg Berichte über die Belagerung von 1648
Alois Woldan | 257 Laizismus als kulturpolitisches Postulat der bosnischmuslimischen Intellektuellen Ende des 19. Jahrhunderts
Kristin Lindemann | 277 Bosnische Brücken als Naht der Kulturen
Tanja Zimmermann | 301 Personenregister | 335 Autorinnen und Autoren | 343
Einleitung Transkulturalität in postimperialen Räumen A NNETTE W ERBERGER
Studien zu Integrationsprozessen in Zeiten von Globalisierung und verstärkter Migration bemühen gerne die multiethnischen und -religiösen Gebiete Ostmitteleuropas oder Südosteuropas wie Galizien, die Bukovina, die Vojvodina oder Bosnien zu Vorbildern von Transkulturalität. Im vorliegenden Band werden die kulturellen Verflechtungen dieser europäischen Projektsräume transkulturellen Zusammenlebens in historischen, linguistischen und narrativen Aspekten näher untersucht und geprüft. Eine Grundannahme dieser Überprüfung ist, dass sich diese Gebiete, die bis 1918 zu den Territorien dreier multiethnischer Imperialreiche (Habsburg, Russisches Reich und Osmanisches Reich) gehörten, von national geprägten Regionen dadurch unterscheiden, dass sie über viele Jahrhunderte so genannte vormoderne Organisationsformen von Gemeinschaft inkorporierten und zudem Grenzen zwischen ihren religiösen, sozialen und ethnischen Gruppen nicht nur vom Staat oder Zentrum aus gezogen wurden, sondern in langen schwierigen Prozessen ebenfalls untereinander ausgehandelt worden sind. Ostgalizien (bzw. die Westukraine) und Bosnien, die exemplarischen Untersuchungsgebiete der in diesem Buch versammelten Studien, unterscheiden sich somit in vielerlei Hinsicht von einem Multikulturalismus neuerer Provenienz in den europäischen Metropolen. Gerade diese Unterschiede und Besonderheiten stehen in den folgenden Beiträgen im Mittelpunkt, die sich vor allem Praktiken der Grenzziehung, Phänomenen der Mehrsprachigkeit und dem Wettbewerb von Narrativen widmen.
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Ö STLICHE
UND WESTLICHE
G RENZREGIME ?
Grenzen haben nicht nur heutzutage unter Reisenden einen schlechten Ruf. Wer liebt es schon, sich Passkontrollen, erniedrigenden Fingerabdrücken, Körperscanning oder Befragungen über Motiv und Grund für eine Einreise aussetzen zu müssen, wenn er Landesgrenzen überschreitet. Ganz davon abgesehen, dass dies mit langem Warten und Unsicherheit verbunden ist. Ein Europa mit weniger Grenzen ist eine attraktive Errungenschaft langen politischen Ringens – und das obwohl wir wissen, dass ein Weniger an innereuropäischen ein Mehr an außereuropäischen Grenzen nach sich gezogen hat. Grenzen müssen immer von zwei Seiten betrachtet werden, um wirklich verstanden zu werden. Landesgrenzen sind aber nur eine sehr primitive, wenn auch evidente Art von Grenze. Immerhin folgt die Überschreitung meist strikten Regeln und Bestimmungen. Viel schwieriger ist es hingegen, mit kulturellen, religiösen und sozialen Grenzen umzugehen, die nur für kulturelle Insider erkenntlich sind und öfter durch historische Langzeitentwicklungen als durch Recht etabliert wurden. Während man an einer Landesgrenze einen Pass vorzeigt, kann sich eine Migrantenfamilie nur in einem langsamen Prozess an das Leben hinter der überschrittenen Landesgrenze gewöhnen und etwa eigene kulturelle Praktiken mit neuen abgleichen. Spätestens seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gibt es eine politische und philosophische Kritik der Grenze, die versucht, das positive Potential von Grenzverkehr und Grenzüberschreitung herauszuarbeiten, die Grenzen also nicht einfach hinnimmt, sondern vom Nutzen und Nachteil von Grenzen für ein kulturelles Zusammenleben redet. Das Schützende und Nützliche von Grenzen ist hierbei oft aus dem Blick geraten. Nach einer langen Phase der ›Radikalisierung‹ der Grenze, die gerade vom »lateinischen Westen« ausging (Nolte 2004, 69), scheint die lateinische Elite diesen Grenzen heute zu Recht zu misstrauen und sie als Hindernis kultureller Fortschrittlichkeit zu interpretieren. Nicht überraschend sind deswegen Grenzüberschreiter die Helden unserer aktuellen Geschichten über das Leben in unserer Welt und sie stehen auch häufig im Fokus kulturwissenschaftlichen Forschens: Kosmopoliten, Weltenbummler, Abenteurer, Nomaden, Exilanten oder Trickster. Grenzen müssen historisiert und in ihrer kulturellen Funktion verglichen werden, damit man sie versteht. Gerade mit Blick auf Ostmit-
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teleuropa und Südosteuropa sollte dabei gefragt werden, ob es nicht entgegen der Szenarien der Multikulturalität Formen der Begrenzung gibt, die sich nicht von vornherein negativ auf gesellschaftliches und kulturelles Miteinander auswirken. Die Westukraine und Bosnien konstituieren sich historisch als Räume ethnischer und nationaler Vielfalt, die Transkulturalität hervorbringen, die man sich aber nicht so vorstellen darf, dass hier verschiedene Identitäten in einer Person verschmelzen, sondern dass die in diesem Gebiet angesiedelten Menschen eine vielmehr transkulturelle Alltagskompetenz besitzen, d.h. ein ausdifferenziertes Wissen über die Kulturen der Nachbarn und über das alle verbindende, ausgeklügelte Netz an Hierarchien, Beschränkungen, Loyalitäten, Autonomien und Verbindlichkeiten. Man könnte als ein Fazit der Beiträge in diesem Band ein ›westeuropäisches‹ Modell von Grenze mit einem ›osteuropäischen‹ konfrontieren. Die Begründung für diesen Vergleich beruht auf der in den letzten Jahren erhöhten Aufmerksamkeit gegenüber imperialen Strukturen, die einem eher nationalstaatlichen Verständnis von Grenzen gegenübergestellt werden müssen.1 Zugespitzt geht es um die Kontrastierungen von Grenzen in einem homogenen (nationalstaatlichen) und einem heterogenen (imperialen) Raum und damit um eine Erweiterung europäischer Grenzphilosophie um ostmitteleuropäische Erfahrungen und Einsichten. Dabei lassen sich nationale und imperiale Strukturen im 19. Jahrhundert lange schon nicht mehr klar trennen, Galizien und Bosnien waren in dieser Hinsicht bereits vor 1918 ›postimperial‹. Es kommt zu Überlappungen beider Modelle von Staatlichkeit, sodass eine klare Dichotomie nicht mehr existiert. Westliche Nationalstaaten wie Frankreich und Großbritannien erweiterten sich zu Kolonialreichen, zu ›imperialisierenden Nationalstaaten‹, während in den (ost)mitteleuropäischen Imperien, d.h. im Russischen Reich und in der Habsburger-Monarchie der Begriff Nationalität zu einer ›Konfliktkategorie‹ wurde, sodass es zu einer »selektiven Übertragung nationaler Deutungsmuster in den Erfahrungsraum der eigenen multiethnischen Gesellschaften« kommt (Leonhard/von Hirschhausen 2009, 12f.). Trotzdem scheint es angebracht, das Nachwirken imperialer Lebenswelten in nationalen Kontexten in Ostmitteleuropa zum Beispiel in sowjetischen und postsozialistischen Zeiten nicht zu unterschätzen.
1
Bei den Untersuchungen zu Habsburg, dem Russischen und Osmanischen Reich vgl. allgemein Leonhard/von Hirschhausen 2009, 9-15.
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Trotz dieser Einschränkungen durch die zunehmende Nationalisierung der Imperien, lohnt sich ein historischer Blick auf die spezifische ›Transkulturalität‹ Ostmitteleuropas und Südosteuropas. Diese Transkulturalität ist eben durch das historisch gewordene Zusammenleben unterschiedlicher Ethnien und Religionen entstanden und unterscheidet sich etwa vom gesellschaftspolitisch motivierten ›transnationalen Grenzverkehr‹ zwischen Nationalstaaten nach dem zweiten Weltkrieg oder von der durch Migration hervorgerufenen Multiethnisierung der westeuropäischen Metropolen der letzten Jahrzehnte. Der Blick auf das Erbe der Imperien verschiebt die wissenschaftliche Analyse: Im Fokus steht nicht, wie eine Zentralmacht ihre Herrschaft ausübt, sondern welche Bilderpolitik Imperien betreiben, um unterschiedliche Ethnien an sich zu binden, wie Eliten der Peripherie ans imperiale Zentrum gefesselt werden und wie bürokratische Regime und Verwaltungsakte erfolgreich installiert werden. Allgemein wird gezeigt, welche Aushandlungsprozesse immer wieder stattfinden, um Grenzen zu verschieben, zu ziehen oder einzureißen. Überraschend ist dabei, dass sich das Zentrum für diese Prozesse in den Peripherien manchmal gar nicht interessiert oder sie nicht bemerkt. Die scheinbaren Parallelen zwischen der imperialen und kolonialen Machtausübung haben dabei die postkoloniale Theorie als analytische Methode ins Zentrum gesetzt, wie ANNA VERONIKA WENDLAND in ihrem Beitrag zeigt, der vor emphatischen Projizierungen von Transnationalität in Galizien warnt und gleichzeitig unterstreicht, dass dabei Grenzziehungen nach innen stabilisierend und integrierend wirken oder »von katastrophaler, menschenverachtender Radikalität« sein konnten. Sie erweitert die Frage nach der gesellschaftlich stabilisierenden Wirkung von Grenzen um die Themen kultureller Hierarchisierung und Essentialisierung (Selbstindigenisierung), die gewissermaßen alle Bemühungen der Ukrainer nach nationaler Selbstbestimmung rahmen. Eine historische Untersuchung von Grenzen und Transkulturalität in Ostmitteleuropa schärft aber nicht nur den Blick dafür, dass der oben erwähnten ›Radikalisierung‹ von Grenze bis ins 19. Jahrhundert nicht das völlige Vergessen der Schutzfunktion folgen sollte, sondern dass Transkulturalität unter den Vorgaben der ›Modernisierung‹ immer auch mit Hierarchien von Kulturen zu tun hat, die auf einer Skala der Fortschrittlichkeit eingezeichnet werden. Modernisierung und Fortschritt als Überwindung vermeintlichen traditionellen Lebens bil-
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den deswegen wichtige Diskurse bei der Analyse von Grenzen in vermeintlich ›vormodernen‹ Imperien und ›modernen‹ Nationen, weil sie den Umgang mit kultureller Andersheit prägen. Die nationale Rahmung einer ethnischen Gruppe garantiert schon an sich einen Grad von ›Modernität‹. Fehlt sie, dann führt dies seit dem 19. Jahrhundert zu einer lang anhaltenden Auseinandersetzung von einzelnen ethnischen Gruppen in Ostmitteleuropa um Modernitätsgewinn, die sich in der Wissenschaft, in kultureller Repräsentation in Kunst und Literatur, in der Sprachenpolitik und vielen anderen gesellschaftlichen Diskursfeldern ablesen lässt. Klemens Kaps und Katharina Schwitin beweisen diesen Sachverhalt in den zwei ganz unterschiedlichen Bereichen der Ökonomie und Ethnographie. KLEMENS KAPS zeigt anschaulich wie Identitätspolitik in Galizien mit dem wirtschaftlichen Diskurs und der Güterverteilung über Argumente und Bilder von Rückschrittlichkeit, Subalternität, Zivilisierung, Verwestlichung und Dominanz verknüpft wurden. KATHARINA SCHWITIN untersucht, wie die polnischen Folkloreforscher die Ruthenen als traditionelle, subalterne slavische Kultur ethnographierten, um sie in die eigene großpolnische Geschichte zu integrieren. In einer Umkehrung dieser Zuweisung eignen sich schließlich die Ethnographierten aber selbst diese Folklore an, um eine eigene ›moderne‹ ukrainische Nation mit eigener Geschichte zu deklarieren.
M EHRSPRACHIGKEIT
IN IMPERIALEN UND POSTIMPERIALEN R ÄUMEN
Mit dem Nationalstaat wurde in den letzten Jahrzehnten oftmals die Nationalgeschichte und -literatur in Frage gestellt und obwohl die meisten Literaturgeschichten immer noch ein nationales Signifikat oder Teilsignifikat in den Mittelpunkt stellen, das sich an Nationsbildung, kultureller Eigenart oder der Entwicklung einer modernen Schriftnation orientiert, so wurde doch versucht, Mehrsprachigkeit (etwa in Kanada oder der Schweiz) und Bindestrich-Literaturen (wie die deutsch-türkische) historiographisch zu integrieren (Werberger 2012). Noch grundlegender ist Mehrsprachigkeit für die Beschreibung ostmitteleuropäischer Transkulturalität mittels linguistischer und literaturwissenschaftlicher Erforschung.
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Die vier Beiträge von Christian Voß, Stefaniya Ptashnyk, Renata Makarska und Alexander Kratochvil widmen sich der Mehrsprachigkeit in der mündlichen und schriftlichen Kommunikation in Bosnien, Galizien und der Karpatenregion. Die heute so faszinierende Vielsprachigkeit dieser Regionen scheint in der damaligen Auffassung sprachpolitischer Akteure die Herdersche Idee von der Einheit von Sprache, Nation und Literatur eher zu behindern. Zudem ist sie für die Verwaltung der Imperien eine kommunikative und mediale Herausforderung, die in unterschiedliche politische und ideologische Entscheidungen über Sprachenwahl mündet. CHRISTIAN VOSS streicht die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Sprachsituation in Bosnien, Galizien bzw. der Ukraine seit dem 17. Jahrhundert bis in die Zeit nach dem Zerfall Jugoslawiens und der Sowjetunion nach. Er betrachtet insbesondere die Funktion intralingualer ethnischer Marker, die eingesetzt werden können, um Grenzen sprachlicher Gruppen zu kennzeichnen und sie damit zu schützen. In Abgrenzung zu dieser flexiblen Markierung steht hingegen »die auf nationale Abgrenzung zielende, exklusive Sprachpolitik seitens der politischen Eliten und staatlichen Institutionen«. Auch STEFANIYA PTASHNYK widmet sich anhand historischer Quellen der Mehrsprachigkeit in Ostgalizien bzw. Lemberg und sieht die Untersuchung der Sprachwahl zwischen Deutsch, Polnisch oder Ukrainisch (Ruthenisch) neben Jiddisch, Hebräisch und Armenisch in verschiedenen gesellschaftlichen Domänen und Institutionen zurecht als Indikator für die gesellschaftspolitische Akzeptanz einer Sprachgruppe. Sprachpolitik bietet die Möglichkeit, eine ethnische Gruppe in einen Verwaltungsprozess einzubinden oder auszuschließen. RENATA MAKARSKA unterscheidet biographische Mehrsprachigkeit und den Sprachenwechsel ostmitteleuropäischer Autoren von der Mischsprachigkeit einzelner Texte, die auf eine ethnische Zuschreibung von Figurenrede zielen kann oder auch eine kulturelle Hybridisierung einzelner Figuren erreichen möchte, die bewusst die in den ostmitteleuropäischen Imperien allgegenwärtige Sprachenhierarchie in der Verwaltung unterläuft. ALEXANDER KRATOCHVIL untersucht in seinem Beitrag zu Ivan Olbrachts tschechischer Erzählung Der Räuber Nikola Šuhaj (Nikola Šuhaj. Loupežník) von 1933, wie sich funktionale mündliche Vielsprachigkeit mit verschiedenen kulturellen (karpato-ukrainischen, jüdischen, tschechoslowakischen) Narrativen in literarischen Texten ver-
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binden können. Er folgt Šuhajs Wanderung durch den Karpatenraum und analysiert, wie sich dabei das historische, sprachkulturelle und soziale Spannungsverhältnis dieses Raumes narrativ entfaltet.
K ONKURRENZ DER N ARRATIVE Die Intertextualitätsforschung hat gezeigt, dass Texte sich immer auf andere Texte beziehen und durch diese mitgeneriert werden. Die Literaturen Ostmitteleuropas bilden in dieser Hinsicht natürlich keine Ausnahme, aber um sie adäquat literaturhistorisch zu beschreiben, muss an vielen Stellen eine transkulturelle Narratologie und Poetologie eingesetzt werden. Das dichte Nebeneinander von Ethnien und Sprachen produziert oftmals miteinander konkurrierende Narrative, die sich auf dieselbe Landschaft (z.B. die Karpaten) beziehen, dieselben Figuren (den Out-Law oder Räuber)2 ins Zentrum des Erzählens setzen oder ähnliche Ziele beabsichtigen, wie zum Beispiel sich über ein affektives Erzählen in einer als subaltern geltenden Sprache als Gemeinschaft sichtbar zu machen, Geschichtlichkeit zu produzieren oder sich als nationale Stimme zu artikulieren. In Ostmitteleuropa muss ›Nationalität‹ dabei über lange Zeit und für viele Gemeinschaften innerhalb imperialer Strukturen, d.h. ohne Landesgrenzen oder nationalstaatliche Institutionen erzeugt werden. Die solchermaßen nationale Literatur produzierende Elite behält dabei das Tun der ukrainischen, jiddischen oder polnischen ›Nachbarn‹ im Auge, die mit ähnlichen kulturellen Projekten beschäftigt sind und jeweils unterschiedlichen Ausgangsbedingungen in den Imperien unterworfen sind. Die Raumforschung bietet ideale methodische Ansätze, um diese ostmitteleuropäische narrative und poetologische Transkulturalität zu untersuchen, weil sie eben nicht nur nationale Räume einbezieht, sondern Räume, die das ›Nationale‹ über- oder unterschreiten: Regionen wie Galizien, Städte wie Lemberg oder Czernowitz, Imperien wie Österreich-Ungarn oder gar interkontinentale Gebiete wie ›Eurasien‹ als Teil des Russischen Reichs oder der Sowjetunion. Theorie zum Raum
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Siehe hierzu den Beitrag von Alexander Kratochvil in diesem Band sowie den von mehreren Forschern gemeinschaftlich verfassten Artikel zu den Gesetzlosen und Outlaws in Ostmitteleuropa, siehe Leersen/Neubauer (2010).
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wurde deswegen nicht nur von der Osteuropaforschung entscheidend angestoßen (siehe Schlögel 2003), sondern auch bis heute enthusiastisch und folgenreich von ihr aufgegriffen. Eine nicht mehr an nationalen Grenzen und Nationalliteraturen orientierte Forschung erweitert auch den Literaturbegriff in Bezug auf Ostmitteleuropa, sodass Folklore, subalterne Literatur oder Nationalliteraturen nebeneinander untersucht werden, wobei die hierarchische Position des Sprechenden immer mitbeachtet werden muss, ohne dass diese Literaturen in ein Modernisierungsparadigma eingepasst werden. Im Anschluss an diese Forschungen zum Raum wirft WALTER NELL zu Recht einen kritischen komparatistischen Blick auf die Wiederkehr Galiziens in der Literatur. Gerade Galizien ist oftmals eine Art ›Probestück‹ für eine Literaturwissenschaft, die sich nicht nur an Nationalliteraturen als zentraler Vergleichsgröße orientieren möchte. Nell plädiert für eine komparatistische Perspektive, die die mit Galizien verbundenen Ambivalenzen und polyvalenten Semantisierungen nicht ausblendet, sondern den »vielfältigen Möglichkeiten der Sinnorientierung von Menschen« Rechnung trägt. Statt die Geschichte einer Konkurrenz beschreibt ULRICH SCHMID mit Foucault die ›polnische Gouvernementalität‹ der Zwischenkriegszeit und setzt hierbei einen Schwerpunkt auf das seltene Phänomen einer ukrainischen Polonophilie, das in den bisher die ukrainisch-polnischen Antagonismen hervorhebenden Forschungen eher vernachlässigt wurde. Aber auch im Fallbeispiel Schmids zeigt sich die intensive Bezugnahme der ethnischen Gruppen aufeinander in Ostmitteleuropa. Die beiden Wiener Slavisten Stefan Simonek und Alois Woldan präsentieren zwei Studien zu Galizien: Anschließend an die Postcolonial studies und Harold Bloom untersucht STEFAN SIMONEK ukrainische Varianten von Gedichten Goethes und Heines und gibt damit mittels einer gekonnten Mikrostudie über kulturelle Hierarchien zwischen der Literatur der Deutschen Klassik bzw. Romantik und der ukrainischen Moderne in Galizien Aufschluss. Ein Beispiel für eine transkulturelle Narratologie in der ›longue durée‹ bietet ALOIS WOLDAN: Er untersucht Berichte in verschiedenen Sprachen über die Belagerung der Stadt Lemberg im 17. Jahrhundert durch den Kosakenführer Bohdan Chmel’nyc’kyj und beachtet dabei genau Genese, Kontext und Adressaten der Berichte sowie den Zusammenhang von Sprachwahl, ideologischem Anliegen und Konver-
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genz sowie Konkurrenz von Narrativen über mehrere Jahrhunderte hinweg. Die letzten zwei Studien von Kristin Lindemann und Tanja Zimmermann führen nach Bosnien als südosteuropäische Vergleichsregion zu Galizien in Bezug auf imperiale Transkulturalität. Während in Galizien die Sprache und Religion ein wichtiger Differenzmarker zwischen ethnischen Gruppen darstellt, so ist es in Bosnien vor allem die Religion. Dieser Zusammenhang mag zwar für das heutige Bosnien gelten, trifft KRISTIN LINDEMANN zufolge aber für diese Region im 19. Jahrhundert nicht gleichermaßen zu. Sie zeigt anhand dreier Fallbeispiele muslimisch-bosnischer Intellektueller, dass die einfache Rechnung bosniakisch gleich muslimisch für den untersuchten Zeitraum nicht zutrifft. Hingegen wandeln sich die Selbstzuschreibungen und sind sehr viel dynamischer und offener als es sich die rigide südslavische Identitätspolitik des späten 20. Jahrhunderts wünschen würde. Bosnische Brücken sind einem westeuropäischen Publikum durch Ivo Andric’ Roman Die Brücke über die Drina und die im Jugoslawienkrieg zerstörte Brücke von Mostar bekannt geworden. Die Brücke als architektonisches Bauwerk und zugleich Metapher für kulturellen Austausch und Begegnung in Südosteuropa untersucht TANJA ZIMMERMANN in ihrer Filme (von Jean-Luc Godard und Pawel Pawlikowski) und Texte einbeziehenden Studie. Im Fokus stehen vor allem die Übergänge zwischen der Brücke als Realia und Metapher, Übersetzen und Übersetzung sowie Zerstörung und Heilung. Der Sammelband geht auf den Workshop »Kulturgrenzen im transnationalen Kontext: Bosnien-Herzegowina/Westukraine« an der Universität Konstanz zurück. Der Workshop fand im Rahmen des Projektes »Grenzerzählungen in transnationalen Räumen. Ostgalizien, 19./20. Jahrhundert« statt. Die Herausgeber danken dem Konstanzer Exzellenzcluster 16 »Kulturelle Grundlagen von Integration« für die Finanzierung des Projektes und des Workshops im Rahmen des Netzwerks Kulturwissenschaften Tübingen/Konstanz. Besonderer Dank geht an Schamma Schahadat für ihre anregenden Hinweise und ihre Unterstützung. Gedankt sei auch Katharina Zent sowie Veronika Süß für das aufmerksame Lektorat des Buches.
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L ITERATUR Leersen, Joop/Neubauer, John u.a. 2010: »The Rural Outlaws of EastCentral Europe«. In: Cornis-Pope, Marcel/Neubauer John (Hg.): History of Literary Cultures of East-Central Europe. Band IV: Types and Stereotypes. Amsterdam – Philadelphia, 407-441. Leonhard, Jörn/von Hirschhausen, Ulrike 2009: Empires und Nationalstaaten im 19. Jahrhundert. Göttingen. Nolte, Hans-Heinrich 2004: »Deutsche Ostgrenze, russische Südgrenze, amerikanische Westgrenze«. In: Becker, Joachim/Komlosy, Andrea (Hg.): Grenzen weltweit. Zonen, Linien, Mauern im historischen Vergleich. Wien, 55-74. Schlögel, Karl 2003: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. München. Werberger, Annette 2012: »Überlegungen zu einer Literaturgeschichte als Verflechtungsgeschichte«. In: Kimmich, Dorothee/Schahadat, Schamma (Hg.): Kulturen in Bewegung: Beiträge zur Theorie und Praxis der Transkulturalität. Bielefeld , 109-141.
Galizien postcolonial? Imperiales Differenzmanagement, mikrokoloniale Beziehungen und Strategien kultureller Essentialisierung A NNA V ERONIKA W ENDLAND
Jede geschichtswissenschaftliche Diskussion um ›Kulturgrenzen‹ und ›Transnationalität‹ braucht Referenzräume.1 Dieser Drang zur Verortung transnationaler Problemlagen in Geschichtsregionen kann gleichzeitig erkenntnisfördernd und problematisch sein, was die Diskussionen in diversen Forschergruppen und anlässlich von Bilanztagungen zeigen. Erhellenden Erkenntnissen aus Lokalstudien zu interkulturellen Beziehungen stehen grundsätzliche Zweifel an begleitenden Theoriekonjunkturen und ihrem globalen Erklärungsanspruch gegenüber.
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Dieser Beitrag versucht, die eigene Fragestellung unter Einbeziehung einiger anderer in diesem Band vertretenen Texte zu diskutieren. Ausgehend von allgemeinen Überlegungen zum Stand der Diskussion über Transkulturalität, Transnationalität, Kulturgrenzen wird für einen kritischen und differenzierten Umgang mit dem dazugehörigen theoretisch-methodischen Instrumentarium in der Geschichte Ost- und Ostmitteleuropas plädiert. Am Beispiel der Habsburgermonarchie und ihrer galizischen Peripherie wird diskutiert, welche Ansätze der ›postcolonial studies‹ Erkenntnisgewinn versprechen. Kurz werden einige Forschungsfelder und -perspektiven skizziert und anhand von Beispielen vorgestellt: 1. Kulturelle Differenzen und Hierarchien, 2. Macht und Recht, 3. Kulturelle Essentialisierung und Selbstindigenisierung, 4. Gewalt.
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In einer Leipziger Forschergruppe zum Thema »kultureller Interferenzen« spielt die Geschichts-Subregion Galizien eine prominente Rolle – allerdings bereits in »kritischen Anmerkungen«2 hinterfragt, ähnlich wie es Riccardo Nicolosi in seinem Aufsatz zur bosnischen kulturellen Identitäten tut. (Nicolosi 2012) Auch die von Andreas Kappeler zu einer Bilanz von zwei post-1989-Forschungsjahrzehnten zusammengerufenen Ukraine-Spezialisten diskutierten Sinn und Unsinn einer transnationalen Geschichte der Ukraine (Kappeler 2011), die bereits zum »Laboratory of transnational history« geadelt wurde, während außerhalb der kleinen, ›revisionistischen‹ und cultural theorygeschulten Kreise ganz andere Töne zu hören sind. (Kasianov/Ther 2009, Wendland 2011a) Im Umgang mit dem ukrainischen geschichtswissenschaftlichen Uni-Establishment oder in Diskussionen mit der ›interessierten Öffentlichkeit‹ trifft das transnationale Paradigma auf erheblichen Widerstand. Die westlich geschulten Historiker auf der Suche nach einem EU-kompatiblen ›master narrative‹ sollten doch, so der Vorwurf, Länder wie die Ukraine nicht zum Territorialcontainer ihrer trans- und multikulturellen Projektionen deklarieren – nebenbei auch ein Kolonisierungsakt – sondern den Betroffenen erst einmal die Zeit lassen, jahrzehntelang tabuisierte Themen ihrer Nationalgeschichte zu sichten und aufzugreifen. Daneben steht die nüchterne Feststellung, dass geschichtswissenschaftlich redliches Arbeiten über Regionen mit sprachlich-konfessionell generierten und sich vielfach überlagernden Grenzziehungen von jeher mit der Reflexion vor- und nichtnationaler Beweggründe historischer Akteure einhergeht, ohne dass man Transnationalität gleich zu einem neuen Paradigma erheben müsste. Symptomatisch für die Unsicherheiten in der Diskussion ist auch die Wortwahl einer Gießener Tagung zu »The transnational study of culture«, die sich mit den unterschiedlichen Sichtweisen verschiedener westlicher Wissenschaftskulturen zwischen cultural studies, sciences humaines und Kulturwissenschaft(en) beschäftigte, um dann aber unter dem Titel Translation and the East. A Challenge for Cultural history den Osten Europas als Problemzone nachholender Theoriearbeit zu fassen, ungeachtet der starken Tradition von ›Übersetzungs-
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Anna Veronika Wendland: »Kritische Anmerkungen zu Galizien als Referenzraum kultureller Interferenz«, Beitrag zum DFG-Projekt »Reflexion kultureller Interferenzräume. Ostmitteleuropa im 20. Jahrhundert«. GWZO Leipzig (in Vorbereitung).
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räumen‹ in den Sprachen und Kulturen Ost- und Ostmitteleuropas bzw. der eigenständigen osteuropäischen Wege zur Erforschung von Interkulturalität jenseits der cultural studies.3 Die genannten Kontroversen legen einen post-emphatischen Umgang mit Räumen kultureller Verflechtung nahe, der sich der Polykulturalität und den sie erklärenden Theorien skeptischer nähert als die (vor allem öffentliche) Diskussion der 1990er Jahre, die eine imperial generierte und garantierte, irgendwie positiv konnotierte kulturelle Vielfalt unter der nationalistischen Redefinition von Raum zerbrechen sah. Heute wird in der Ost(mittel-)europäischen Geschichte zunehmend danach gefragt, ob es die in die Zeit vor 1918 – oder vor 1939 – gedachten Formen von Grenzüberschreitung so je gegeben hat, und ob es »Formen der [...] Begrenzung gibt, die sich nicht von vorneherein negativ auf gesellschaftliches und kulturelles Miteinander auswirken«.4 Die zweifellos zutreffende Feststellung, Ost(mittel)europa weise Zonen besonderer Dichte von Kulturkontakten und Übersetzungsakten auf (vor allem hinsichtlich der Sprachkontakte und der Verbreitung von Multilingualität), wird zunehmend in Richtung der Interaktion oder Interferenz gleich welcher Ausformung interpretiert, weniger in Hinblick auf die legendären ›verwischten Grenzen‹ als einzig zulässiger Definition von Interaktion – verwischte Grenzen, die Joseph Roth in Lemberg noch in den 1920er Jahren gesehen hat, also in einer Zeit, als sich die städtischen Öffentlichkeiten schon auf dem Wege rapider sozio-ethnischer Segregation befanden. (Wendland 2009b und 2002)
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Was der Referent Boris Buden an dem (von den Veranstaltern vorgegebenen) Titel problematisierte: »The Transnational Study of Culture – Lost or Found in Translation? Cultural Studies – Sciences humaines – Kulturwissenschaft(en).« Tagung des Graduate Center for the Study of Culture (GCSC) der Justus-Liebig-Universität Gießen, 28.-30. Oktober 2009, Schloss Rauischholzhausen. Osteuropäische Ansätze der Erforschung von Interkulturalität sind neben der für die »westlichen« Kulturwissenschaften bedeutenden (stadt-)semiotischen Schule auch die vor- und frühsowjetische ukrainische und russische Orientalistik und Turkologie; die frühen eurasischen Schulen; die Ansätze zu einer indo-europäischen Geschichte der »Origins of Rus’« Omeljan Prytsaks, siehe Wendland (2008) und (2009a).
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So die Formulierung in der Konzeption der Organisatoren der diesem Band zugrundeliegenden Konstanzer Tagung »Kulturgrenzen im transnationalen Kontext«.
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Auch Vorstellungen von vorgeblich ›besonders‹ transkulturellen Identitäten und Fähigkeiten in bestimmten Gruppen wie den Juden (oder den bei Nicolosi diskutierten Bosniern), die Teil moderner Gruppenselbstbilder geworden sind, werden zunehmend differenziert. Wohnumgebungen und Lebenswelten waren ein bedeutender Faktor für die Ausformung transkultureller Beziehungen. Vermutlich gab es zwischen traditionell lebenden galizischen Dorfjuden und ihren gebildeten, polyglotten Lemberger Glaubensgenossen mehr Trennendes (übrigens auch konfessionell) als zwischen dem ruthenischen Bauern und seinem als Handwerker oder Schankwirt in der Dorfwelt etablierten – und vor der Verbreitung moderner Antisemitismen am Ende des 19. Jahrhunderts auch akzeptierten – jüdischen Nachbarn. Transkulturalität vollzog sich das eine Mal über die Teilhabe verschiedener Gruppen an einer universalen urbanen Hochkultur (später auch der regionalen polnischen), im zweiten Falle über räumliche Nähe und geteilte Lebenserfahrungen bei gleichzeitiger Bewusstheit und Akzeptanz von Grenzen, in diesem Falle der fast undurchlässigen konfessionellen Grenzlinie. Hier waren Jüdinnen und Juden nicht ›transkultureller‹ als Rutheninnen und Ruthenen, sondern die Beziehung zwischen ihnen war es. Die gleiche wohlwollende Skepsis kann auch der schon länger anhaltenden Diskussion um koloniale, ›quasi‹-, ›halb‹- oder ›post‹-koloniale Verhältnisse des Habsburgerreiches Impulse geben. Wohlwollend – weil bestimmte Ansätze der ›postcolonial studies‹ tatsächlich geeignet sind, Machtverhältnisse, Machtdynamiken und Diskurse an den Peripherien Österreich-Ungarns angemessen zu beschreiben. Skepsis – weil wir hier auch an den Peripherien in der Regel mit historischen Akteuren zu tun haben, die – anders als jene in den überseeischen Postkolonialgesellschaften – sich nicht auf eine prinzipielle kulturelle Andersartigkeit zurückzogen, sondern sich auf dieselben Wertesysteme (Fortschritt, Bildung, Entwicklung, Europäizität, in überwiegender Mehrheit auch christliche Werte) beriefen wie die ›Kolonialherren‹. Kritik am Kolonialverhältnis kam dann meistens als Kritik an der Verteilung ökonomischer und politischer Ressourcen daher, die den beschleunigten Weg der Peripherie ›nach Europa‹ blockiere, wie
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Klemens Kaps in seinem Beitrag zu galizischen Wirtschaftsdiskursen zeigt.5 Die Referenzräume Galizien und Bosnien spielen in einer postkolonial inspirierten Perspektive auf die Aushandlung und Regulierung kultureller Differenz im Habsburgerreich eine besonders herausgehobene Rolle. Um das problematische ›postcolonial word‹ jetzt doch einmal zu gebrauchen, handelt es sich hier um hochinteressante hybride Fälle imperialer Herrschaftsausübung – vielleicht ist für Formen von Herrschaftsausübung der Begriff der Hybridität ohnehin handhabbarer als für Kulturen. Galizien und Bosnien waren keine Kolonien im Sinne der klassischen Definition, da die österreichische Hegemonialmacht hier – mit Ausnahmen, auf die wir noch zu sprechen kommen – auf Eingliederung, Nivellierung von ökonomisch-politischen Unterschieden und allgemeine Staatsbürgerschaft aus war, nicht nur auf Unterwerfung, Kontrolle, Beibehaltung von Segregation zwecks ökonomischer Nutzung. Auf der anderen Seite finden wir im Falle der beiden Provinzen ein ganzes Bündel ineinander verwobener, von unterschiedlichen Akteursgruppen betriebener Verfahrensformen und Machttechniken, die ohne Zweifel typisch für Kolonialverhältnisse sind. Sie sollen im Folgenden am Beispiel Galiziens nur kurz skizziert werden, da vor diesen Überlegungen bereits ein Buchkapitel erschienen ist, das sich detaillierter mit all diesen Praktiken befasst. Erstens: kulturelle Differenzen und Hierarchien. Dazu gehören Diskurse kulturellen Sendungsbewusstseins in der Hegemonialkultur und kultureller Inferiorität (»Halbasien«) auf Seiten der Provinzbewohner und ihrer (teilweise in imperiale Karrieren überwechselnden) Eliten. Die Geschichte Galiziens und Bosniens sind seit ihrer jeweiligen Erwerbung begleitet von Reise- und Berichtsaktivitäten der Steuerfachleute, Kleriker, Geographen und sonstigen Gelehrten, später auch der Industriellen und Ingenieure, die sich ihr Bild von den zu ›hebenden‹ Gegenden machten und es eifrig in die Metropole transportierten, die sich erst über diesen Prozess als moderne imperiale Metropole definieren konnte. Wiens ökonomisches Herzland lag außerhalb der ›dominant-nation‹-Grenzen in Böhmen, was ökonomischen Überlegenheitsgefühlen der Metropole stets Grenzen setzte. Galizien und Bosnien mit
5
Siehe hierzu den Beitrag von Kaps in diesem Band und zu den folgenden Überlegungen allgemein Wendland 2010 und Feichtinger et al. 2003.
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ihren als dringend reformbedürftig definierten Feudalstrukturen und den zu disziplinierenden Bauernbevölkerungen gaben hingegen probate Projektionsflächen für die Inszenierung einer zivilisatorischen Mission ab. Zur Botschaft der Superiorität gesellten sich die reaktiven Strategien des Umgangs mit Inferiorität in den als unterlegen klassifizierten lokalen Gesellschaften. Deren Eliten suchten das Diktum der Rückständigkeit zu entkräften oder durch Verweis auf die Versäumnisse und Pressionen der imperialen Herrschaft zu begründen; eine weitere Verfahrensweise war der nach innen gerichtete Aufruf zu ›eigenen‹ Reform- und Arbeitsanstrengungen, der für Galizien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts symptomatisch wurde. Das Konzept der »organischen Arbeit« (praca organiczna) und die Kontroversen um die »nĊdza Galicji«, das in ganz Österreich sprichwörtlich gewordene »Elend« Galiziens entstammen diesem Kontext. (Szczepanowski 1888) Solche Kontroversen wurden auch als Diskussionen um Selbstbilder und Selbstkolonisierung geführt, Kritiker gerne als Nestbeschmutzer gescholten, welche die westliche Arroganz noch argumentativ munitionierten. Parallel entstanden neue Formen der Selbstvergewisserung, die bei allem Stolz über das Erreichte implizit oder explizit immer auf den Rückstandsvorwurf hin ausgerichtet waren, so anlässlich der galizischen Gewerbe- und Landesausstellungen. (Wendland 2009c) Dass die ›mission civilisatrice‹ sich auch jenseits der Elitendiskurse in die eroberten Gesellschaften hinein verselbständigte, ist ein interessanter Aspekt der österreichischen Imperialgeschichte: Den wirklich nachhaltigen erzieherischen Angriff auf die Bauernkulturen Galiziens und ihre anarchischen, gewaltförmigen, sexualisierten Aspekte führten – neben den staatlichen Disziplinierungsorganen der Schule, des Gerichts oder der Armee – nämlich erst die polnischen und ruthenischen Volksaufklärer(innen), welche die agrarischen Unterschichten mit dem Ziel der Kulturnationsbildung transformieren wollten. Wenn der Wahlkämpfer aus dem ruthenischen Pfarr- oder Schulhaus (später auch aus der Anwaltskanzlei) den Bauern ihre Wahlwurst und ihren Wahlschnaps missgönnte, dann war dies nicht nur dem politischen Kampf gegen dieses beliebte Bestechungsmittel der lokalen polnischen Grundbesitzer bei den berüchtigten ›galizischen Wahlen‹ geschuldet. Es stand auch im Kontext der Kampagnen gegen Alkoholmissbrauch, sonntäglichen Kneipengang, Ausschweifungen auf der Pilgerfahrt und
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all die kleinen Freuden und Schlupflöcher, die das galizische Bauernleben bot. Diese wollten die Volksaufklärer und ›national bewussten‹ Mitglieder der bäuerlichen Führungsschichten durch neue Geselligkeitsformen in Lese- und Abstinenzvereinen ein für allemal stopfen, um den Anschluss an Formen europäischer, ›deutscher‹ (wie es manchmal ausdrücklich hieß) Kultiviertheit und Vergesellschaftung zu unterstreichen und den galizischen Malus loszuwerden. Denn dies sei hier noch einmal betont: Im 19. und frühen 20. Jahrhundert waren die deutschen Begriffe ›Galizien‹, ›galizisch‹ eindeutig negativ konnotiert, im Jiddischen war es der ›galitsyaner‹. Im Polnischen trug Galizien lange Zeit den Makel des imperialen Oktrois: Es war der Name einer Kunstprovinz aus Territorien des historischen Kleinpolen und des ›wojewódzstwo ruskie‹, also der ostslawischen Grenzterritorien des in den Teilungen untergegangenen Königreichs Polen. Diese gesammelten semiotischen Hypotheken haben wesentlich zur raschen Entsorgung der Verwaltungseinheit (Ost-)Galizien in der Zweiten Republik und ihre Ummodellierung in ›Małopolska wschodnia‹ (Ost-Kleinpolen) beigetragen. Das Wiederaufleben als ›Distrikt Galizien‹ des NS-Generalgouvernements im Zweiten Weltkrieg hat nicht zur Aufwertung beigetragen. Allenfalls die Ruthenen/Ukrainer blieben dem Begriff treu, weil sie als einzige Bevölkerungsgruppe eine autochthone territoriale Erinnerung daran knüpften (das mittelalterliche Fürstentum Halyþ-Volyn’). Dass Galizien heute, vor allem in Österreich, aber auch in Polen interessiert-nostalgisches Aufhorchen erzeugt, ist dem Umdeutungsprozess der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu verdanken, der die polykulturellen Verhältnisse nach ihrer fast totalen Vernichtung im 2. Weltkrieg umfassend neu bewertete. Zweitens: Macht und Recht. Die Verwaltungspraxis an der habsburgischen Peripherie gibt instruktiven Einblick in Sonderformen des Managements kultureller und politischer Differenz, die auch als »Mikrokolonialismus« beschrieben wurden (früher als »divide et impera« vereinfacht und unterschätzt): Die komplexe Verschachtelung von Herrschaftsverhältnissen und Macht-Delegierungs-Techniken zwischen Hegemon und mehreren nichtdominanten Gruppen, die auf verschiedene Weise in den Verwaltungsprozess einbezogen bzw. von ihm ausgeschlossen oder aber dem tagespolitisch-taktischen Bedarf entsprechend instrumentalisiert oder subsidiert werden. Das österreichischpolnisch-ruthenisch-jüdische Verhältnis in Galizien kann so gewinn-
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bringend beschrieben werden, und viele Entwicklungen innerhalb nichtdominanter Gruppen werden besser verstehbar. So generierte die polnisch-galizische Auftragsverwaltung des Kronlandes ab 1867 nicht nur eine Art Vorlauf polnischer Staatlichkeit in einem der Teilungsgebiete, vor allem was die Amtssprache, die Bereitstellung gut ausgebildeten Personals und die Aggregierung parlamentarisch-bürokratischer Erfahrung und kulturell-symbolischen Kapitals anging. Mindestens genauso wichtig war die Genese ganzer sozialer Schichten und Denkschulen loyalistisch-konservativer Polonität durch imperiale Erfahrung, die für die Alternative »praca organiczna« vs. demokratisches Aufstandspathos im polnischen politischen Denken stand. Ähnliches gilt für die Ruthenen/Ukrainer, deren Sprachstandardisierung, Bildungs- und politische Mobilisierungsgeschichte (inklusive der Entwicklung russo- und ukrainophiler Strömungen) ohne Berücksichtigung des doppelten österreichisch-polnischen Hegemonialverhältnisses und der gleichzeitig sich entfaltenden phasenweisen Kooperation zwischen imperialer Staatsgewalt und ruthenischen Interessengruppen nicht hinreichend erklärt werden könnte. (Wendland 2011b) Phänomene wie die Entwicklung von galizischen Sprachkontakten und Polyglossie sind ohne den Blick auf die zugrunde liegenden, sich überlagernden Machtverhältnisse (Imperium mit Universalsprache Deutsch, lokale Macht mit Regionalsprache Polnisch, nichtdominante Gruppe mit ruthenisch-russoruthenisch-ukrainischen Sprachvarietäten) nicht zu verstehen, wie auch Stefaniya Ptashnyk zeigt.6 Auch ein lohnendes Thema für Lokalstudien mikrokolonialer Beziehungen ist die Geschichte der Verrechtlichung Galiziens, also der Durchsetzung (und des Scheiterns) von juristischen, imperial normierten Verfahrensformen zur Klärung von Konflikten in der agrarischen Welt nach 1848 (Grundentlastungs-, Servituten- und Besitzstreitigkeiten, quasi-politische Gerichtsverfahren wegen »Beleidigung« und »Störung der öffentlichen Ruhe«). Der Bedarf an juristischem Personal war von großer Bedeutung für die innere Struktur der neuen weltlichen ruthenischen Bildungsschichten, in denen Anwälte eine bedeutende Rolle spielten. Auch das Sozialprestige des Juristen, das an jenes der traditionellen Elite, des griechisch-katholischen Klerus, bald heranreichte, stammt aus jener Zeit. Später wiederum bildeten sich neue
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Siehe hierzu Stefaniya Ptashnyks Beitrag in diesem Band sowie die Studien von Fellerer 2005 und Moser 2004.
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Formen von Konfliktentscheidung in Galizien, die teilweise gewaltförmig waren: Agrarstreiks und polizeiliche Reaktion, in der Zweiten Republik Polen die sogenannte ›pacyfikacja‹ gewalttätiger wie friedlicher Demonstrationen in Ostgalizien mit militärischen Mitteln. Diese Entwicklung beruhte nicht zuletzt auf der Delegitimierung verrechtlichter, auf Gewaltverzicht basierender Konfliktlösungsformen im beginnenden 20. Jahrhundert. Drittens: Kulturelle Essentialisierung und Selbstindigenisierung. Kolonialgeschichtliche Vergleichsperspektiven ergeben sich auch hinsichtlich eines weiteren Umgangs mit kultureller Differenz, der unter Punkt 1 im Kontext der Zivilisierungsoffensiven bereits zur Sprache kam. Die Bildungs- und Kultivierungsoffensive stellte die ›non-dominant group‹ der Ruthenen vor ein Dilemma: Waren alle Anstrengungen zur Schaffung einer in Galizien gleichberechtigten Kulturnation durch Bauern-Bildung und -Mobilisierung letztendlich auf einen hochkulturell-urbanen Referenzrahmen ausgerichtet (Sprachstandardisierung, Verschriftlichung, Entwicklung von Hochliteratur, Genese nationalsprachlicher wissenschaftlicher und publizistischer Öffentlichkeiten), so war es der identitäre Kern, auf den die Nationalbewegten rekurrierten, ganz und gar nicht. Dieser Kern entwickelte sich aus dem ruthenischen Anspruch auf Anciennität und Indigenität in Ostgalizien: Die Argumentationslinie hinsichtlich politischer Gleichberechtigung basierte auf der Vorannahme, dass die ostslawische Bevölkerung Ostgaliziens die immer schon ansässig Gewesene sei, die seit dem Mittelalter sukzessive aus ihren vorher eingenommenen Macht- und Rechtspositionen verdrängt wurde. Polen, Juden oder aus den deutschen und böhmischen Ländern stammende Bewohner Galiziens waren in dieser Sicht die – wenn auch teilweise sehr historischen – Zuwanderer. Dieses Beharren auf dem Eingeborenenstatus ging mit einer Essentialisierung der ostslawischen Bauernkultur einher, die zu einer Zeit einsetzte, als Bildungsoffensive, Land-Stadt-Migration, Einzug der Geldwirtschaft und der überregionalen Markt- und Verkehrsbeziehungen (vor allem durch den Eisenbahnbau) diese Kultur bereits massiv transformierten. Die Folge war eine spezifische Form ruthenischer Selbstinszenierung und -exotisierung als traditionales, Originalität beanspruchendes Element Galiziens, das auf ethnographischen Ausstellungen und in diversen Initiativen zur Förderung und Erhaltung der bäuerlichen Kultur und bäuerlicher Produktionsverfahren zur Geltung kam.
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Der aufkommende Tourismus und das aus der Krise und Kritik der Stadt als Lebensform um 1900 erwachsene Interesse an traditionalem Anderssein leisteten dieser Entwicklung weiteren Vorschub. Die national-populistische Selbstindigenisierung war übrigens eine Selbstsicht, die sich in der sowjetischen Zeit, während der zweiten oder eigentlich dritten imperialen Periode der Ukrainer, als außerordentlich anschlussfähig für sowjetukrainische (und in der Stalinzeit xenophobe) Inszenierungen von ›Volk‹ und sozialistischer Volkstümlichkeit erwies. Sie steht somit am Anfang einer langen Entwicklungslinie der bis zum heutigen Tage noch nicht erledigten (Selbst-) Folklorisierung der ukrainischen Kultur(en), die in nur scheinbarem Gegensatz zur Industrialisierungs- und Urbanisierungsgeschichte der Ukraine stehen – ungeachtet der wichtigen Tatsache, dass an dieser Geschichte wesentlich auch nichtukrainische (russische, jüdische) Bevölkerungen teilhatten. Aus der letztgenannten Fragestellung ergeben sich mehrere transnationale Vergleichsperspektiven: Die Frage nach der Rolle des ukrainischen/ruthenischen Faktors in der polnischen, aber auch russischen Ethnographie und Folkloristik und bei der Definition polnischer bzw. russischer Indigenitäts- und Originalitätsansprüche in der slawischen Welt, die Katharina Schwitin (für den polnischen Fall) untersucht.7 Darüber hinaus ist die Vergleichsperspektive zu anderen Essentialisierungs- und Musealisierungsformen ›bäuerlicher‹ Tradition im Kontext von Nationsbildungsprozessen zu nennen, die nicht notwendig imperial überformt sein mussten, so in Skandinavien, in Böhmen, in den deutschen Ländern, denkbar aber auch im Falle der afrikanischen Gesellschaften im 20. und 21. Jahrhundert.8 Viertens: Gewalt. Ein relativ neues Forschungsfeld ist die Frage nach Kriegs- und Gewalterfahrungen als konstitutivem Bestandteil von Kolonial- und Imperialgeschichten bzw. bestimmten Territorialisierungsprozessen, so auch im Falle Österreich-Ungarns. In diesem Zusammenhang werden auch Vergleichsperspektiven zu außereuropäischen Kolonialkriegen interessant. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs kam es auf österreichischem Staatsgebiet oder in eroberten Gebieten in dessen unmittelbarer Nähe zu Phänomenen, die kolonialer asymmetrischer
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Siehe hierzu den Beitrag von Katharina Schwitin in diesem Band.
8
Zu Böhmen Stübner 2009.
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Kriegsführung ähnelten, insbesondere was die Einbeziehung von Zivilisten in Kriegshandlungen angeht. Zu den Techniken gewaltförmiger Machtausübung gehörte erstens eine psychologisch-kognitive Operation, welche die betroffenen Regionen als gefährdet oder unsicher deklarierte und zweitens die diskursive Ausgliederung der in solchen Regionen lebenden Menschen aus dem Kreis der zivilisierten (europäischen) Menschheit. Dies hatte eine Ausschließung ganzer Bevölkerungsgruppen aus dem Geltungsbereich reichsweit bzw. völkerrechtlich gültiger Standards zur Folge. Von diesem Umschlagen diskursiver in rechtliche Inferiorität waren im Spätsommer und Herbst 1914 vor allem Ruthenen und Juden in Galizien sowie Serben betroffen. Ihnen wurden wahlweise politische Unzuverlässigkeit, pro-russische Sympathien und Teilnahme an Spionageaktivitäten zum Vorwurf gemacht. Der Entzug von Rechten und die kollektive Feinderklärung dienten Militärs, aber auch zivilen Mobs zur Rechtfertigung von Pogromaktionen sowie Massenmorden und -deportationen, denen österreichische Staatsbürger und Zivilisten fremder Staatsangehörigkeiten zu Tausenden zum Opfer fielen.9 Dies sind, knapp skizziert, einige der möglichen Fragen und Antworten unter einer kritisch eingenommen postkolonialen Perspektive auf die Geschichte der Habsburgermonarchie. Der Schwerpunkt liegt hier weniger auf den durch imperiale Überformung generierten Kultur- und Sprachkontakten, die unter dem Schlagwort der ›hybriden‹ Kulturen oder ›Dritten‹ Aushandlungsräume von Differenz zu einem prominenten Gegenstand der ›postcolonial studies‹ bzw. der Translationswissenschaften wurden. Als Stärke des postkolonialen Ansatzes wird vielmehr die Analyse spezifischer Machtverhältnisse, Sehgewohnheiten und Selbstsichten verstanden, welche zwangsläufig mit Grenzziehungen, Aus- und Einschließungsvorgängen zwischen Eigenem, Anderem und ›Dazwischen‹ einhergingen. Einschließungen waren über lange Zeiten hinweg von integrativer Kraft – so im Falle Galiziens die Partizipation der Polen an imperialer Macht. Auf der anderen Seite konnten sie Integration verunmöglichen – so im Falle der Eigendynamiken, welche die österreichisch-polnische regionale Machtbalance auf Seiten der Ruthenen auslöste. Grenzziehungen konnten nach innen stabilisierend und integrierend wirken – so bewirkten sie wichtige Pro-
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Siehe hierzu Scheer 2009 und Wendland 2001, 540-566.
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zesse der ruthenisch-ukrainischen Mobilisierung und Nationsbildung – oder sie waren, wie das letztgenannte Beispiel zeigt, von katastrophaler, menschenverachtender Radikalität. Im Lichte der anfangs formulierten Kritik an allzu emphatischen Begriffen von Transnationalität, Kulturaustausch und -begegnung erscheint ein solches Analyseverfahren nur angemessen, da es eine geschichtswissenschaftliche Relativierung der allzu lang verklärenden Sicht auf ›kakanische‹ Verhältnisse ermöglicht. Nur so kann der imperiale Umgang mit kultureller Differenz in seiner gesamten Bandbreite erfasst werden – von den lange erfolgreichen Modellen der Delegierung und Teilung von Herrschaft bis hin zum Totalversagen bewährter Handhabungsformen von Andersheit unter den Bedingungen des modernen Krieges.
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Kulturelle Trennlinien und wirtschaftliche Konkurrenz Galizische Modernisierungsdiskurse zwischen Subalternität und Dominanz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts K LEMENS K APS
Sozial- und Kulturwissenschaften haben in den vergangenen Jahren das habsburgische Galizien für sich entdeckt und es zu einem Paradigma für die Erforschung einer plurikulturellen ostmitteleuropäischen Gesellschaft erklärt (z.B.: Bartal/Polonsky 1999; Hann/Magocsi 2005; Le Rider/Raschel 2010). Der ukrainische Historiker Jaroslav Hrycak bezeichnete insbesondere Ostgalizien als »ethnisches und zivilisatorisches Grenzland« (Hrycak 2006, 35). Die von der habsburgischen Bürokratie in der Ersten Teilung Polen-Litauens 1772 künstlich geschaffene Region (Augustynowicz/Kappeler 2007, 1) stand dabei im Spannungsfeld einer kulturellen Vielfalt im Inneren als auch der Interaktionen über die administrativen Grenzen hinweg – insbesondere mit den imperialen Zentren Wien, Prag oder Budapest. Dieses vielfältige und sich überlappende Beziehungsgeflecht soll in diesem Beitrag vor dem Hintergrund eines weiteren Spezifikums des Galiziendiskurses beleuchtet werden – nämlich der selbst im zentral- und ostmitteleuropäischen Vergleich besonders scharf ausgeprägten Armut und den bescheidenen sozialökonomischen Transformationen, die den Raum praktisch während seiner gesamten Zeit unter habsburgischer Herrschaft kennzeichneten. Dementsprechend meint Jaroslav Hrycak pointiert, in Galizien habe es zwar »viel Modernität,
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aber wenig Modernisierung« gegeben (Hrycak 2006, 17), während der polnische Historiker Maciej Janowski andererseits von »Modernisierung ohne Industrialisierung« spricht. (Janowski 2006, 845f.) Davon ausgehend, wird in diesem Beitrag weniger der wirtschaftsund sozialhistorischen Entwicklung Galiziens nachgespürt, sondern der Frage nach der Ökonomie als einem vielschichtigen Diskurs, dem bedeutende Relevanz für interkulturelle Kontakte und für die (Re)Produktion sozialer und nationaler Identitäten zukam. Hierbei wirkte die prekäre wirtschaftliche Lage vielfach als Katalysator für ethno-kulturelle Konkurrenz bis hin zu nationalen Grenzziehungen. (Schattkowsky 2004, 44f.)
DISKURSIVE KOLONIALISIERUNG IM SPANNUNGSFELD VON IMPERIALEM O RDNUNGSENTWURF UND SUBVERSIVEM G EGENDISKURS AUS DER PERIPHERIE Eine wesentliche kulturell-politische Trennlinie war räumlich definiert und verlief zwischen dem imperialen Konstrukt Galizien einerseits sowie den österreichischen und böhmischen Ländern andererseits. Die ›Erfindung‹ der habsburgischen Provinz beruhte neben der militärischen Eroberung auf der bürokratischen Neuordnung des Territoriums. Aus der Perspektive einer hegemonialen deutschen Kulturmission wurde in den Jahrzehnten nach 1772 die habsburgische Herrschaft durch ein selbst proklamiertes Entwicklungsprogramm gerechtfertigt, das Galizien den westlichen Regionen des Reichs – insbesondere den böhmischen Ländern – annähern sollte. (Wolff 2004; Maner 2007, 3061) Als ein wesentliches Element des imperialen Zivilisierungsdiskurses fungierten koloniale Raumanalogien – so verglich die aufgeklärte Bürokratie im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert Galizien mit Amerika (Beer 1899, 90-93; Hacquet 1790, 192; Bredetzky 1812, 22, 58), Indien (Hacquet 1790, 189) und Sibirien (Bredetzky 1812, 62). Die Persistenz dieser Etiketten verweist auf das Scheitern des vom imperialen Zentrum aus implementierten Entwicklungsparadigmas. Doch erst nach der Jahrhundertmitte erfuhr der imperiale Kolonisierungsdiskurs eine Antwort aus der Peripherie. In seinem im Jahr 1853 erstmals in Paris erschienenen und ein halbes Jahrhundert später in Krakau/Kraków neu aufgelegten Buch über
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Krakau und Galizien unter österreichischer Herrschaft schrieb der konservative Journalist und spätere römisch-katholische Priester Waleryan Kalinka (Kieniewicz 1964-65; Kargol 2007, 49; Chwalba 2005, 489f.) die Verantwortung für die ökonomische Misere der Wiener Regierung zu, [die diesen schönen Boden in einen Markt der Fabrikanten, in eine Kolonie der österreichischen Provinzen verwandelte. Jedes industrielle Streben in Galizien ist für die deutschen Produzenten des Kaiserreiches ein Verlust, jede Produktion, die die Bedürfnisse der Bürger decken würde, wurde also in Galizien verboten, da diese Bedürfnisse von den österreichischen Fabrikanten gedeckt wurden.] »który tĊ piĊkną ziemiĊ na targ fabrykantów, na koloniĊ austryackich prowincyi zamienił. Wszelkie usiłowanie przemysłowe w Galicyi, jest uszczerbkiem dla producentów niemieckich w Cesarstwie, wszelka zatem produkcya była dla Galicyi zakazana, która pokrywała potrzeby mieszkaĔców, zaspakajane zwykle fabrykantami austryackimi.« (Kalinka 1898, 254f.)
Kalinkas Wahrnehmung begriff Galizien als Element der innerhabsburgischen Arbeitsteilung, die durch den Staat hergestellt, vermittelt und aufrechterhalten wurde – politische Fremdherrschaft wurde zur Ursache für das unvorteilhafte Wirken ökonomischer Konkurrenz erklärt. Entgegen dem aufklärererischen Koloniediskurs setzte Kalinka das Etikett Kolonie als Leitkategorie eines Gegendiskurses aus der imperialen Peripherie ein. Mit dieser Umkodierung der Sprache des imperialen Zentrums ging eine räumliche Abgrenzung einher, indem Galizien in Opposition zu dem ›westlichen‹ Teil der Monarchie gesetzt wurde, der auch Dalmatien einschloss, womit eine nationale Dichotomie einherging (»die deutschen Produzenten des Kaiserreichs«). Dass Kalinkas Kolonienarrativ acht Jahrzehnte nach der Etablierung der habsburgischen Herrschaft über Galizien Eingang in den öffentlichen Diskurs fand, verweist auf dessen spezifischen zeitlichen Kontext. Insbesondere die sich verschlechternde ökonomische Lage im Anschluss an die Krisen nach Ende der Napoleonischen Kriege wirkte hierbei als Katalysator. Bereits 1842 formulierte Michał WiĞniewski in seiner in Posen/PoznaĔ erschienenen statistischen Skizze Galiziens viele Kritikpunkte (W[iĞniewski] 1842, 35, 109f.), die sich über ein Jahrzehnt später fast wortgleich bei Kalinka wieder finden, jedoch ins-
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besondere durch die 1848 beschlossene Grundentlastung eine völlig neue Stoßrichtung bekamen. Obwohl er der bürgerlichen polnischen Nationalbewegung angehörte, die sich für eine Gleichberechtigung der Bauern einsetzte (Kieniewicz 1964-65, 450; Fras 1997, 17-22), vertrat Kalinka die Position der adeligen Großgrundbesitzer. Er wies nicht nur die Kritik an der Leibeigenschaft zurück, sondern meinte sogar, diese sei für die ökonomische Entwicklung notwendig gewesen, während sie die Bauern nicht als drückend empfunden hätten. (Kalinka 1898, 203f., 212) Diese Einstellung mag in der von der habsburgischen Verwaltung unterstützten Bauernrevolte von 1846 wurzeln, die zum Scheitern des Aufstands der polnischen Nationalbewegung nicht unwesentlich beitrug. (Stauter-Halsted 2001, 1-4; Struve 2005, 46) Entgegen der sozialen Realität wurden die unternehmerischen Interessen des Adels mit dem regionalen Gemeinwohl gleichgesetzt. Kalinkas Kolonienarrativ, das auf der ökonomischen Dichotomie zwischen imperialen Zentren und Galizien fußte, verdeckte die sozialen Gegensätze innerhalb der regionalen Gesellschaft – während die Elite der Provinz den habsburgischen Staat als Machtkonkurrent wahrnahm, sahen die Bauern seit den josefinischen Reformen in den Behörden eine – wenn auch begrenzte – Schutzinstanz, die die Begehrlichkeiten der Grundherren eindämmte. (Rosdolsky 1992; Struve 2005, 74, 76f., 118f.) Die suggerierte Homogenität der räumlichen Kategorie Kolonie blendete die in das Konstrukt eingeschriebenen sozialen Positionen und Interessen aus. Bei Kalinkas Ausbeutungsnarrativ handelte es sich folglich um einen konservativen Elitendiskurs, der sich gegen die Machtzentren des Imperiums richtete und (wirtschafts)politischen Handlungsspielraum für die galizische Führungsschicht einforderte. Mit der Umwandlung der Habsburgermonarchie in den Doppelstaat Österreich-Ungarn und der Verabschiedung der Dezemberverfassung des Jahres 1867 in der österreichischen bzw. cisleithanischen Reichshälfte verschob sich diese diskursive Formation. Der galizischpolnische Adel, der im Zuge seines Paktes mit der Wiener Zentrale und der partiellen Dezentralisierung der Kompetenzen an der Ausübung von Macht sowohl im Kronland Galizien selbst als auch im politischen Zentrum beteiligt wurde, passte sich der Terminologie des Imperiums an. (Binder 2005, 29-31; Maner 2007, 136f.)
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So bezeichnete eine Adresse des galizischen Landtags an den Kaiser im Jahr 1866 die Monarchie als »Schutzwehr der Civilisation des Westens« und erklärte weiter, »im Glauben an die Mission Österreichs und im Vertrauen auf die Stabilität der Reformen, welche das kaiserliche Wort als unabänderliche Absicht aussprach, […] dass wir treu Eurer Majestät zur Seite stehen und stehen wollen«. (Maner 2007, 136f.) Demgegenüber holten polnisch-galizische bürgerliche Politiker das ökonomische Kolonienarrativ spätestens ab den 1880er Jahren in den Diskurs zurück und brachten es implizit gegen das konservative Arrangement zwischen kaiserlichem Thron und adeliger Landeselite in Stellung. Tadeusz Rutowski, Journalist und später auch Abgeordneter des galizischen Landtags (Kieniewicz 1991-92; Kramarz 2001) erklärte 1883 mit unübersehbaren Anlehnungen an Kalinka: [Seit der Teilung war Galizien ein Exploitationsterrain für etliche westliche Provinzen – die ›Erblande‹ der österreichischen Krone. Das Verhältnis Galiziens zur Monarchie war ebenso wie das Verhältnis Ungarns nach 1848, wie dasjenige der neu erworbenen Länder im Süden der Monarchie, die Beziehung einer Kolonie zum ›Mutterlande‹.] »Od chwili zaboru, Galicya była uwaĪana, jako teren eksploatacyjny dla kilku zachodnich prowincyj, ›krajów dziedzicznych‹ korony rakuzkiej. Stosunek Galicyi do monarchii był tak samo, jak stosunek WĊgier po r. 1848, jak nowonabytych krajów na południu monarchii, stosunkiem kolonii do kraju macierzystego, do ›Mutterlandu‹.« (Rutowski 1883a, 49f.)
Allerdings erweiterte Rutowski Kalinkas galizischen Partikularismus zum Postulat eines habsburgischen Binnenkolonialismus, der Ungarn ebenso implizierte wie das 1878 okkupierte, aber noch nicht annektierte Bosnien-Herzegowina, während die Tschechen weder als Herrschende noch als Unterdrückte in Erscheinung traten. Diese koloniale Selbstwahrnehmung war im Milieu der galizischen bürgerlichen Demokraten weit verbreitet. Der 1880 nach Galizien zugewanderte Erdölindustrielle Stanisław Szczepanowski setzte Galizien mit dem britisch beherrschten Indien gleich (Szczepanowski 1888, XX), während der Lemberger Industrielle Leopold LityĔski im Jahr 1902 im Zusammenhang mit Galiziens Außenhandelsstruktur von »afrikanischen Verhältnissen« (afrykaĔskie stosunki) sprach. (LityĔski 1902, 59) Der an der Krakauer Jagiellonen-Universität lehrende Wirt-
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schaftshistoriker Franciszek Bujak wiederum ortete 1910 eine »Kolonisierung der fremden Industrie« (kolonizacyĊ przemysłu obcego), worunter er die »Einführung fremder Fabrikanten und Meister anstelle fremder Fabrikate« (sprowadzenie obcych fabrykantów i majstrów, zamiast obcych fabrykatów) verstand. (Bujak 1910, 315) Diese Kritik, die eine Reaktion auf die sich formierenden Kartelle und die nach Galizien fließenden Kapitalinvestitionen darstellte, definierte das Fremde und das Eigene ausschließlich aus einer galizischen Perspektive und transzendierte den politischen Rahmen der Habsburgermonarchie. Dieser starke Regionalbezug markiert gleichzeitig die Internationalisierung von Kapitalströmen, Handel und Migration in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. Aber auch in anderen sozio-ethnischen Milieus wurde Galiziens prekäre ökonomische Lage auf einen kolonialen Status zurückgeführt. So begründete Vjaþeslav Budzynovs’kyj auf dem Gründungskongress der Ruthenischen Radikalen Partei im Jahr 1890 die Schaffung eines ruthenischen Staats in Ostgalizien damit, dass nur so die Armut überkommen und die wirtschaftliche Entwicklung Galiziens vorangebracht werden könne, da gegenwärtig die westlichen Provinzen der Habsburgermonarchie, besonders Wien und Böhmen, Galizien ausbeuten würden. (Potul’nyts’kyj 2005, 92f.) Zwei Jahrzehnte später schrieb das »Yiddishe Vochenblat«, nach den Plänen der österreichischen Regierung solle »Galizien offenkundig so weit als möglich ein Agrarland bleiben und die österreichischen Waren, die in den anderen Provinzen erzeugt werden, dort einen guten Absatz erhalten […]« (velche vil befeyeresh az Galitsien zol ferbleyben vi veyt meglich a Land fun Agrikultur, un die estreychishe Skhoyrot velche veren produtsirt in ihr Provintsen solen dort kriegen a guten Obzots; Yiddishes Vochenblat, 6. August 1909, zit. nach Hödl 1991, 19). Die Fokussierung der erneut vorwiegend ökonomisch gefassten Raumdichotomie zwischen Galizien und den westlichen Regionen der Monarchie richtete sich implizit gegen die Partizipation der Regionaleliten in der cisleithanischen Regierung, wie nicht nur die diesbezügliche Kritik Rutowskis und Szczepanowskis belegt. (Rutowski 1883b, 7f., 11; Szczepanowski 1888, VIII, X-XI, XVII, 160) So bezeichnete Adolf Gross, Gründer und Vorsitzender der »Partei der Unabhängigen Juden« (Partia Niezawisłych ĩydów), bei einer Debatte im Abgeordnetenhaus in Wien am 3. Juli 1907 Galiziens politisch-institutionellen
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Status als »ein System von Asien«: »Galizien ist kein ebenbürtiges Kronland des österreichischen Gesamtstaates […], wir bekommen nach Osten einen Gouverneur und der hat wie der Vizekönig in Indien zu schalten und zu walten« (Stenografische Protokolle des Abgeordnetenhauses des Reichsrats, 7. Sitzung der 18. Session am 3. Juli 1907, S. 589, zit. nach Maner 2007, 154; zu Gross: Binder 2005, 158). Entgegen der formell-institutionellen Gleichberechtigung Galiziens und dem von den Landeseliten vertretenen »Autonomie«-Diskurs (Binder 2006, 242-244, 252, 258, 261-264) setzte ein Krakauer Politiker aus einem ethnisch subalternen und politisch marginalisierten Milieu eine Kolonialmetapher ein, die zunächst die habsburgische Fremdherrschaft attackiert, jedoch damit untrennbar auch den loyalen Kurs der galizisch-polnischen Landeseliten ins Visier nimmt. Dies macht die Kategorie der Kolonie bzw. die kolonialen Raumanalogien, mit denen Galiziens Status in der Habsburgermonarchie bedacht wurde, nicht nur zu einer sozio-politischen Metapher im Konflikt zwischen Adel und Bürgertum, sondern darüber hinaus auch zu einem sozio-ethnisch kodierten Begriff, der die Dominanz der polnischgalizischen Elite angreift, die nach 1867 als Repräsentant der habsburgischen Herrschaft in Galizien fungierte. Im imperialen Zentrum hingegen überwog demgegenüber die Wahrnehmung von Galiziens angeblicher Dominanz. Nicht nur Kronprinz Rudolf sah Galizien im Jahr 1880 als »Teil Polens«, der »kaum noch als ein von Österreich regiertes Kronland bezeichnet werden kann« (Shedel 1999, 31). Nur zwei Jahre später forderten die Deutschnationalen im Linzer Programm die Abtrennung Galiziens von der Habsburgermonarchie, um die Hegemonie der Deutschen zu wahren. (Maner 2007, 147) In den 1890er Jahren war der antipolnische Diskurs im deutschnationalen Milieu fest etabliert. (Shedel 1999, 36f.) Die Aneignung eines Teils der Machtsphären des politischen Zentrums durch die galizische Regionalelite rief eine Nationalisierung der um ihre Hegemonie fürchtenden herkömmlichen imperialen Eliten hervor: Für die Verhinderung einer Ausweitung der Reichseliten waren diese sogar zur partiellen Aufgabe der imperialen Raumordnung bereit. Diese Wahrnehmung reichte weit in andere deutschsprachige Milieus hinein und hatte erneut eine ökonomische Dimension: Der Wiener Publizist Ignaz Leichner behauptete 1899, Galizien hemme den Fortschritt der westlichen Kronländer. (Leichner 1899, 1)
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G EGENREZEPTE UND IHR S CHEITERN: V ERWESTLICHUNG UND ZIVILISIERUNG Spiegelverkehrt zu der subalternen Selbstwahrnehmung der galizischen Gesellschaft verlief ein Diskursstrang, der durch Anschluss an die ›Zivilisation‹, oft auch mit den Prädikaten westlich bzw. europäisch versehen, eine Aufhebung der georteten Dichotomie proklamierte. Noch im Jahr 1863 wehrte sich die sozialkritische Lemberger Zeitschrift »Praca« gegen den Zivilisationsdiskurs, da diese Zivilisation »unser Denken und unsere Tätigkeit und unser Geld auf verderbliche, falsche und nicht natürliche Wege führt« (bo ona i myĞl i czynnoĞü nasze, i pieniądze nasze sprowadzi na drogi zgubne, fałszywe i nienaturalne; Praca I/9 10 lipca 1863). Diese Position war für die 1850er und 1860er Jahre charakteristisch, als man die im westlichen Ausland dominanten Sozial- und Wirtschaftsmodelle als eine Bedrohung konservativer Werte und Sozialformen ansah. (Jedlicki 1999, 154f.) Dies änderte sich mit der erwähnten Integration der galizischpolnischen Eliten in das Zentrum der Habsburgermonarchie und der Etablierung einer Allianz aus Romantizismus und Positivismus, der sogenannten »Organischen Arbeit« (praca organiczna): Zivilisation wurde zu einem diskursiven Leitcode. (Jedlicki 1999, 210, 216, 226) Tadeusz Rutowski schwärmte 1883 von der Industrie, »dieser modernen Macht, die […] für die Hebung […] der Zivilisation« (potĊgĊ nowoczesną która […] na podniesienie […] cywilizacyi; Rutowski 1883a, 10) unabdingbar sei. Fünf Jahre später konstatierte Stanisław Szczepanowski trocken: [Unabhängigkeit beruht auf der Beziehung von Mitteln zu Bedürfnissen. Wir sahen eben, dass wir in Bezug auf die Bedürfnisse zu Europäern geworden sind. Wir haben bereits europäische Bedürfnisse, nur sind wir noch nicht im Stande, dieselben Mittel zu finden, mit denen andere zivilisierte Völker ihre Bedürfnisse decken.] »NiezaleĪnoĞü ta polega na stosunku Ğrodków do potrzeb. OtóĪ widzieliĞmy, Īe co do potrzeb staliĞmy siĊ Europejczykami. Mamy juĪ potrzeby europejskie, tylko nie umiemy jeszcze odszukaü tych samych Ğrodków, jakimi inne ludy ucywilizowane pokrywają swoje potrzeby.« (Szczepanowski 1888, 67)
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Ebenso wie ›Kolonie‹ markierte auch das Bedeutungsfeld ›Zivilisation‹ verschiedene Modelle sozialökonomischer Transformation. Wandte sich der Autor des Artikels in der »Praca« 1863 vor allem gegen die negativen Folgen ungleicher Handelsbeziehungen, so versuchten zwei Jahrzehnte später die bürgerlichen Demokraten Rutowski und Szczepanowski ein Industrialisierungsprogramm ins Leben zu rufen, das diesen Zustand tatsächlich auch verändern würde. Allerdings verstanden sie gerade unter der Industrialisierung Schaffung von und Annäherung an ›Zivilisation‹, die sie durchwegs als (west)europäisches Modell verstanden, wodurch Galiziens subalterner Status aufgehoben werden und das Kronland im binären Schema der imaginierten räumlichen Trennung Europas in ›Ost und West‹ nach Westen rücken würde. Der im Artikel der »Praca« erkennbare Nativismus – die Abschottung vor äußeren Einflüssen – war einem neuen Umgang gewichen, der die Öffnung gegenüber dem Äußeren als Stärkung im Inneren nützen wollte. Die 1880er Jahre waren eine wichtige Sattelzeit, in der entscheidungsträchtige Weichenstellungen erfolgten. Dass die proklamierten und stattfindenden Änderungen in Richtung ›Verwestlichung und Fortschritt‹ eine fragmentarische Wahrnehmung widerspiegelten, machte bereits Ivan Franko in zwei Artikeln in der ukrainophilen Zeitung »Dilo« im April 1884 deutlich. Darin analysiert er die zahlreichen Zwangsversteigerungen bäuerlicher Wirtschaften zwischen 1873 und 1883 und kritisiert die Ansicht der offiziellen Statistiker Galiziens, nach denen im Land »alles besser werde« (ɜɫɟ ɣɞɟ ɞɨ ɥɿɩɲɨɝɨ; Franko 1884a, 353). Dies markiert die sozial und national differenzierte bis fragmentierte Wahrnehmung ökonomischer Transformation in der Region: Für die im bäuerlichen Milieu verankerten Ruthenen bedeutete diese v.a. eine spürbare Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage. Allerdings findet sich eine kritische Wahrnehmung auch im die positive Entwicklung betonenden Diskurs, sofern dieser »gegen den Strich« (Uhl 2003, 52) gelesen wird: Ein Jahr vor dem Ersten Weltkrieg zog Franciszek Stefczyk, Direktor des galizischen Landespatronatsbüros für Spar- und Darlehenskassen, auf einer Studienreise der »Wiener Staatswissenschaftlichen Vereinigung« nach Galizien Bilanz über die Entwicklung des Kronlandes seit Inkrafttreten der Verfassung von 1867:
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»Nachdrücklich soll aber betont werden, daß, wenn man die Gegenwartszustände unserer Heimat mit denjenigen im Westen der Monarchie vergleicht, man nicht unterlassen darf, den langen Weg abzumessen, den wir im Verlauf von fünf, oder vielmehr von vier Dezennien autonomer Verwaltung zurücklegen mußten, um auf das heutige Niveau zu gelangen. […] Überblickt man den Umschwung, der sich in Galizien während der letzten 50 Jahre vollzogen hat, so erscheinet die Überzeugung berechtigt, daß das Land doch nicht verloren ist. Wohl hat es wahrlich noch viel nachzuholen, um zu voller Kraft zu gelangen, die schlimmsten Krankheiten sind aber schon überwunden. Wir sind noch nicht so reich, wir sind noch nicht in der Kultur so vorgeschritten, wie die glücklicheren westlichen Länder, wir sind aber nicht mehr ein ›Volk der Bettler und Trinker‹, das Land ist kein ständiger Seuchenherd mehr, sondern vielmehr ein Bollwerk für die ganze Monarchie zum Schutze gegen die Pest vom Osten her. Wir sind auch nicht mehr das klassische Land des Wuchers, sondern haben schon angefangen, ein Volk der Sparer zu werden, ein Erfolg, der um so höher anzuschlagen ist, als unser Land geographisch einen langen, weit nach Osten ausgestreckten Arm Österreichs bildet und wir in dieser Lage fast von allen Seiten politisch und wirtschaftlich isoliert und unnatürlich abgeschnitten sind, indem wir nur durch einen schmalen Landstrich an der ostschlesischen Grenze mit dem Westen Österreichs zusammenhängen.« (Stefczyk 1913, 70, 86f.)
In dieser Präsentation der Errungenschaften der galizischen Elite gegenüber dem imperialen Zentrum sind die Fragilität des Erreichten und die Kontinuität der Hierarchie zwischen Galizien und den Zentralräumen der Monarchie eingeschrieben. Dies verknüpft sich mit einer auf den Westen gerichteten räumlichen Wahrnehmung, die die kulturellökonomische Marginalisierung auf einer mental map verortete. Hingegen grenzte man sich scharf gegen das Russische Reich ab – und damit auch gegenüber Räumen, die aus einer nationalen polnischen Perspektive als Territorium beansprucht wurden. Dabei handelte es sich keineswegs um eine Einzelmeinung: So galt Warschau in Krakauer Kreisen als »wild« und »asiatisch« (Wood 2006, 28), was das Zugehörigkeitsgefühl der polnisch-galizischen Elite zum Westen unterstreicht. (Jedlicki 1999, 144) Allerdings war diese Position in der Eigenwahrnehmung fragil: Die von Stefczyk akzentuierte räumlich schwache Verbindung mit dem Westen ist ein weit verbreiteter Topos, der auch im galizischjüdischen Diskurs verankert war. Der jüdisch-polnische Historiker Abraham J. Brawer schrieb 1910 in der Einleitung zu seinem Buch über
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die wirtschaftliche Lage Galiziens am Beginn der habsburgischen Herrschaft: »Die einzige Verbindung [Galiziens] mit dem Staate, dem es jetzt angehört, ist nur ein schmaler Streifen, der die Provinz mit den anderen Kronländern der Monarchie verknüpft, zugleich das einzige Fenster in die weite Welt des Westens hinaus«. (Brawer 1910, 7) Diese Wahrnehmung räumlicher Isolation Richtung Westen ist als Metapher für die Fragilität des bescheidenen Fortschritts zu lesen, den Galizien unter der Ägide der polnisch-galizischen Elite erreicht hatte. Wenige Jahre vor dem Zerfall der Habsburgermonarchie hatte sich somit strukturell in der Hierarchie zwischen Galizien und den westlichen Kronländern Österreich-Ungarns nichts Substanzielles verändert.
»UNSER LAND, UNSERE W AREN, UNSER K APITAL « – ÖKONOMISCHE ABGRENZUNG DER REGION NACH AUSSEN Diesen Narrativen, die wechselseitig die subalterne Position gegenüber den westlichen Regionen Österreich-Ungarns kritisierten oder durch Anpassung aufheben wollten, folgten konkrete Grenzziehungen in den einzelnen ökonomischen Sphären, von denen Waren und Kapital, Konsum und Investitionen besonders wesentliche Bereiche darstellten. Kalinkas Kritik an der Arbeitsteilung beruhte wesentlich auf den ungleichen Tauschbeziehungen. Auch der erwähnte Artikel der »Praca« vom Juli 1863 wandte sich gegen den Eisenbahnbau, da dadurch fremde Waren importiert würden, die die heimische Produktion verdrängten. Als Ausweg wurde die Beschränkung des Imports gefordert, bis sich in Galizien eine wettbewerbsfähige Gewerbe- und Industrieproduktion entwickelt hatte. Die Chancen, die sich durch den Export der galizischen Rohstoffe und landwirtschaftlichen Produkte ergaben, stehen in dieser Wahrnehmung hinter den Nachteilen weit zurück. (Praca I/9 10 lipca 1863, 69) Dieses vorwiegend negative Schema des Handels und damit des Konsums war ein Kontinuum des galizischen Diskurses – und stützte sich auf einen breiten Konsens, den beispielsweise Rutowski, Szczepanowski, LityĔski, Budzynovs’kyj und das »Yiddishe Vochenblat« teilten (siehe oben sowie Szczepanowski 1888, 62, 124, 126). Allerdings blieb die geforderte Regionalisierung des Konsums eine nie eingelöste Forderung. Noch im Jahr 1907 schrieb der »Tygodnik Po-
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dolski«: »Leider! Wir beschweren uns über Armut und Elend und dabei schaffen wir es, das hart erarbeitete Geld für den Kauf ausländischer Waren ins Ausland zu schicken« (Niestety! Narzekamy na biedĊ i nĊdzĊ, a przy tym umiemy ciĊĪko zapracowany grosz wysłaü za granicĊ, kupując zagraniczne towary; Chwalba 2005, 510). Franciszek Bujak konstatierte drei Jahre später: »Zweifellos wäre es eine sehr wünschenswerte Sache, dass wir unsere Konfektkonsumption sowohl für Herren als auch für Damen aus eigener Massenproduktion zu decken im Stande wären« (Niewątpliwie byłoby bardzo poĪądaną rzeczą, abyĞmy naszą konsumcyĊ konfekcyi zarówno mĊskiej jak i damskiej potrafili własną masową produkcyą zaspakajaü; Bujak 1910, 454). Die mit dem zunehmenden überregionalen Warenhandel sich verschärfende Konkurrenz rief den Wunsch nach einer stärkeren ökonomischen Abgrenzung Galiziens hervor. Dass diese Forderung bis zum Zerfall der Habsburgermonarchie nicht eingelöst werden konnte, akzentuierte Galiziens subalterne Position aus Sicht der regionalen Akteure. Etwas anders verhielt es sich mit dem Kapital, dessen Ankunft in der Region als wesentlicher Faktor für den Aufbau von Industriebetrieben erwünscht war. Ein Jahrzehnt, nachdem nach der Weltwirtschaftskrise von 1873 Kapital aus den österreichisch-ungarischen Zentren, Westeuropa und Nordamerika nach Galizien zu strömen begonnen hatte, zog Tadeusz Rutowski zufrieden Bilanz: [Das fremde Kapital hat uns gemieden als ein Land, in dem nichts geht. Heute steht jedoch mit dem Eisenbahnnetz ein großer Teil des Landes für Industrie und Handel offen. [...] Die Stufe der wirtschaftlichen Reife des Landes und der Grundbesitzer hat sich etwas gehoben. Und dennoch ist der Preis für Boden, Arbeiter und Baumaterialien usw. weit niedriger als in den westlichen Kronländern. Die Industriekapitalisten der westlichen österreichischen Provinzen müssen sich daher doch an uns wenden, an ein Land, dessen Zeit für eine gewisse wirtschaftliche Entwicklung, den Übergang der Landwirtschaft in den Stand einer intensiven Bewirtschaftung und die Entstehung der Landesindustrie kommt.] »Obcy kapitał stronił od nas, jak od kraju, w którym nic siĊ nie powodzi. DziĞ jednak sieü kolei Īelaznych, wielka czĊĞü kraju zostaje otwartą dla przemysłu i handlu. [...] Podniósł siĊ nieco stopieĔ dojrzałoĞci ekonomicznej kraju i ziemian. A przecieĪ ceny ziemi, robotnika, surowego materyału budowlanego
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itd., są daleko niĪsze, niĪ w krajach zachodnich. KapitaliĞci-przemysłowcy zachodnich prowincyj austryackich, muszą siĊ wiĊc nareszcie zwróciü do nas, jak do kraju, na który nareszcie przychodzi czas jakiegoĞ rozwoju ekonomicznego, przejĞcia rolnictwa w stan gospodarstwa intensywnego, powstania krajowego przemysłu.« (Rutowski 1883c, 117)
Entsprechend des positivistischen Fortschrittsoptimismus wurde in den frühen 1880er Jahren genau das erwartet, was schlussendlich nicht eintrat: der Aufbau einer nachhaltigen Industrie, »nach westeuropäischem Muster«, wie Franciszek Bujak es noch 1910 forderte. (Bujak 1910, 294) Von Beginn an trafen die externen Investitionen in Galizien auf kritische Stimmen. Ein wichtiges Konfliktfeld stellte die Erdölförderung dar, wohin die meisten Kapitalinvestitionen flossen. In den Debatten im galizischen Landtag (Sejm) um die Regelung der Eigentumsrechte hinsichtlich der Erdölförderung meinte der ruthenische Abgeordnete und Anwalt Vasyl’ Koval’s’kyj am 16. Januar 1874, der Naturreichtum Galiziens sei bei den polnischen Großgrundbesitzern am besten aufgehoben. Ausländische Investoren würden galizisches Öl fördern, es aber in Amerika raffinieren und Galizien dann verkaufen, wovon die Region keinen Nutzen habe. In der gleichen Sitzung gab ein weiterer ruthenischer Abgeordneter, der Geschichtslehrer Mykola Antonevyþ, zu Protokoll, in einer derartigen Situation »würde unser Land wie eine ausgequetschte Zitrone übrig bleiben, und die Großgrundbesitzer würden in Armut und Elend geraten«. (Frank 2007, 70) Beide Politiker appellierten an die von den polnischen Großgrundbesitzern dominierte Abgeordnetenmehrheit im galizischen Sejm, um ihre eigene Klientel − die ruthenischen Bauern − zu schützen. Denn diesen drohte die Verdrängung aus der Erdölförderung, indem kapitalkräftige, mit Technologie und Managementfertigkeiten ausgestattete externe Unternehmen nicht nur effizienter produzierten, sondern auch ihre Gründe erwarben. Damit wurden sie anders als bei einer Verpachtung des Bodens – wie es die Großgrundbesitzer praktizierten – am Erlös der Erdölförderung nicht beteiligt. (Bujak 1910, 159, 166) Der Appell blieb wirkungslos, 1884 wurde die Rechtslage im Sinne der Großgrundbesitzer geregelt. Durch die Umkrempelung des Produktions- und Verarbeitungsprozesses in der Erdölbranche zerbrach jene Allianz aus jüdischen Kleinbesitzern, ruthenischen Bauern und
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polnischen Grundbesitzern, die bis dato die galizische Erdölförderung gelenkt hatten. (Frank 2007, 71-74) Die Befürchtungen der ruthenischen Abgeordneten bestätigte drei Jahrzehnte später ein Bericht von Wilhelm Horoschowski in der »Ruthenischen Revue« über die Zustände des Erdölgeschäfts in Borysław/Boryslav, einer der wesentlichen Förderstädte im ostgalizischen Erdölbecken (Horoschowski 1904). Der Bericht zeichnet ein Bild sozioökonomischer Konflikte zwischen den ethnischen Gruppen in der Region selbst, betont aber die Allianz der traditionellen lokalen Elite (des polnischen Adels und seiner jüdischen Vermittler) mit dem ›Ausland‹. Der gemeinsame Bezug auf ›unser Land‹ war verschwunden. Das in der Erdölindustrie investierte externe Kapital beeinflusste Nationalisierungsprozesse der galizischen Gesellschaft, indem dadurch die national gefasste polnische Industrie etabliert werden konnte, die für die Ruthenen eine Konkurrenz und Bedrohung ihrer wirtschaftlichen Existenz darstellte. Die Verbindung von ›polnisch‹ mit ›Ausland‹ verstärkte die diskursiven Binnendifferenzen zwischen galizischen Ruthenen und Polen. Explizite Kritik am Kapitalimport kam jedoch auch von polnischer Seite. Bereits Stanisław Szczepanowski verwies auf die negative Zahlungsbilanz Galiziens und forderte vermehrte Sparsamkeit der einheimischen Bevölkerung. (Szczepanowski 1888, 62-64, 67) Dementsprechend setzte er auf eine Mobilisierung der ›polnischen Nation‹ – wirtschaftliche Entwicklung sollte dabei als Basis für die politische Unabhängigkeit dienen, wofür es notwendig sei, sich vom ›Deutschtum‹ zu befreien, da die Polen von den Deutschen genug ›gelernt‹ hätten. Damit legitimierte Szczepanowski retrospektiv den germanisierenden Zivilisierungsdiskurs der habsburgischen Bürokratie des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, was wiederum mit der an Europa orientierten Zivilisierungsmission korreliert, die Szczepanowski proklamierte. (Szczepanowski 1888, 180, 187) Drei Jahrzehnte später hatte nicht nur das Ausmaß des in Galizien engagierten externen Kapitals, sondern auch die Kritik daran deutlich zugenommen: [Durch den Massenkonsum fremder Industrieerzeugnisse, durch den Zufluss fremden Kapitals und fremder Elemente in Industrie und Handel, durch die Erwerbsemigration geraten wir schrittweise immer mehr in die wirtschaftliche Abhängigkeit von Fremden. Die fremde politische Beherrschung wird durch
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eine ökonomische ergänzt; die Fremden regieren uns nicht nur, sondern weisen uns an, für sie zu arbeiten, direkt als ihre Lohnarbeiter im In- und Ausland und indirekt als Konsumenten ihrer Industrieerzeugnisse. Infolgedessen lässt unsere Selbstständigkeit und kulturelle Einheit […] nach […] und immer deutlicher droht ihr ein Zerrinnen in Hinsicht auf das Überfluten durch die fremden kulturellen Organismen.] »Przez masową konsumpcyĊ obcych wyrobów przemysłowych, przez przypływ obcego kapitału i obcych elementów przemysłowych i handlowych, przez emigracyĊ zarobkową stopniowo coraz bardziej popadamy w zaleĪnoĞü gospodarczą od obcych. Obce władztwo polityczne uzupełnia siĊ ekonomicznem; obcy nie tylko nami rządzą, ale i na siebie kaĪą nam pracowaü, wprost jako swym najemnikom w kraju i zagranicą i poĞrednio jako konsumentom ich wyrobów przemysłowych. Wskutek tego nasza samodzielnoĞü i jednoĞü kulturalna, pozbawiona kolejno własnego paĔstwa, własnego terytoryum i własnej organizacyi społecznej maleje, rozprzĊga siĊ i coraz wyraĨniej grozi jej rozpłyniĊcie siĊ wzglĊdnie zalew przez obce organizmy kulturalne.« (Bujak 1910, III)
In dieser Kritik manifestiert sich die Verdichtung von Konsum und Kapitalimporten zu einem Bild allgemeiner externer Abhängigkeit und der daraus erwachsenden Angst, sowohl die ökonomische als auch kulturelle Eigenständigkeit zu verlieren. Erneut zeigt sich, wie Konkurrenz zwischen Räumen starke Auswirkungen auf regionale und vielmehr noch nationale Identität nach sich zieht. Gegenüber diesen skeptischen Stimmen, die Kontrollverlust und Gewinnabfluss ins Ausland befürchteten, gab es jedoch auch eine differenzierte bis positive Beurteilung des externen Kapitalengagements in Galizien. Dies betraf jene Banken und industriellen Großbetriebe, die zur Ausweitung ihrer Aktivitäten, aber auch zum Mithalten mit der externen Konkurrenz Kapital benötigten. Insbesondere der Aufbau von Industriebranchen war ohne Kapitalzufluss gar nicht zu bewerkstelligen. Der Textilunternehmer, Professor und spätere Rektor des Lemberger Polytechnikums, der 1868 in Warschau geborene Stanisław Anczyc, schrieb 1903: [Obwohl ich mir am meisten wünschen würde, dass die bei uns entstehende Textilindustrie sofort polnisch wäre, scheint es mir, dass dies nicht ohne die Einführung fremder Elemente ablaufen kann, weil uns vor allem daran liegt,
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dass bei uns eine effiziente Industrie entsteht, und erst danach, dass diese Industrie sofort polnisch, und nicht deutsch oder tschechisch von Anfang an ist.] »Jakkolwiek wiĊc najgorĊcej pragnąłbym, aby powstający u nas przemysł tkacki był odrazu polskim, zdaje mi siĊ, Īe siĊ nie obejdzie bez wprowadzenia Īywiołów obcych, bo przedewszystkim zaleĪy nam na tem, aby był u nas racyonalny przemysł, a potem dopiero, aby ten przemysł był odrazu polskim, a nie niemieckim lub czeskim z początku.« (Anczyc 1903, 37)
Anczyc vertrat allerdings die Meinung, man solle alles Mögliche tun, damit sich die in Galizien niederlassenden Unternehmer polonisieren – durch Assimilation sollte nationales Kapital geschaffen werden. Aus dieser Perspektive verband sich Kapitalimport mit der polnischen Nationsbildung in zweifacher Weise: Ökonomisch sollte für die ›Überlebensfähigkeit‹ der polnischen Nation (und eines später zu gründenden Nationalstaates) gesorgt werden, das importierte Kapital zugleich der Nation auch kulturell und identitätspolitisch zugeordnet werden. Anczyc geht dabei stärker als Rutowski von einer traditionellen Form des Kapitalimports aus, die jedoch zu der Zeit der Veröffentlichung seines Buchs immer mehr an Bedeutung verlor. Die strukturellen Beschränkungen der subalternen Position Galiziens verunmöglichten eine stärkere Abschottung von außerhalb der Region kommenden Einflüssen sowohl im Konsum als auch im Bereich von Kapitalinvestitionen. Die oft negative Erfahrung mit externer, überregionaler Konkurrenz, die wie bei Anczyc zunehmend in nationalen (und nicht mehr territorialen) Kategorien wahrgenommen wurde, konnte somit keine entsprechend abgrenzenden Maßnahmen nach sich ziehen, verstärkte jedoch die identitätspolitischen Grenzziehungen sowohl nach außen als auch nach innen.
»J ÜDISCHE W AREN, POLNISCHE BANKEN, MASURISCHE KOLONIEN « – ETHNISIERUNG UND N ATIONALISIERUNG IM I NNEREN Bereits in den bisherigen Ausführungen wurde deutlich, wie wenig die Wahrnehmung von Konkurrenz im Raum von der Wahrnehmung in nationalen Schemata und Kategorien zu trennen ist: Aufgrund der Plurikulturalität der galizischen Bevölkerung war die häufige Gleich-
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setzung des habsburgischen Kronlandes mit der polnisch dominierten politischen, ökonomischen und kulturellen Elite eine fragmentarische Wahrnehmung. 1884 kritisierte Ivan Franko, dass die polnische Gesellschaft in Galizien »anstatt sich um das gemeinsame Interesse von Land und Nation, sowohl der ruthenischen als auch der polnischen, zu kümmern, begonnen habe, als Instrument in den Händen bequemer ›Patrioten‹ zu dienen« (ɡɚɦɿɫɬɶ ɞɛɚɬɢ ɩɪɨ ɫɩɿɥɶɧɟ ɞɨɛɪɨ ɤɪɚɸ ɿ ɧɚɪɨɞɭ, ɹɤ ɪɭɫɶɤɨɝɨ ɬɚɤ ɿ ɩɨɥɶɫɤɨɝɨ, ɩɨɱɚɥɚ ɫɥɭɠɢɬɢ ɡɚ ɨɪɭɞɿɽ ɜ ɪɭɤɚɯ ɡɪɭɱɧɢɯ ›ɩɚɬɪɿɨɬɧɢɤɿɜ»; Franko 1884b, 372). Auch wenn die Wahrnehmung von der Bedrohung durch überregionale Konkurrenz einen unbestrittenen Konsens im galizischen Diskurs darstellte, waren die nationalen und ethnisch-kulturellen Einschreibungen in diesen so stark, dass die äußere Abgrenzung zugleich eine innere bedingte oder verstärkte. Auf der regionalen, innerräumlichen Ebene spiegelte sich somit ein Prozess von globaler Dimension. Deutlich lässt sich dies im Bereich des Konsums bzw. der Waren beobachten. Lag bei dem überregionalen Verhältnis der Fokus auf galizischen vs. fremden Produkten, so ergab sich im Inneren die Möglichkeit weiterer Differenzierungen: So druckte die ruthenische, nationalistische Zeitung »Bat’kôvšþyna« am 26. März 1886 einen Korrespondentenbericht aus dem zentralgalizischen Bezirk Sambor/Sambir ab, in dem von »jüdischen Waren« zu lesen ist. (Bat’kôvšþyna, 12, 26 Beresnja 1886, 77) Die im Diskurs oft behauptete Übervorteilung von Bauern durch Händler (Tokarski 2003, 169) wurde in einem ethnisch-kulturellen Schema verortet und führte zur Etablierung der bekannten christlichen Genossenschaftsbewegung, die jüdische Händler zu verdrängen versuchte. So beklagte ein Artikel in der zionistischen Zeitung »Die Welt« im Jahr 1899 den Verlust des Lebensmittelverkaufs jüdischer Händler im ostgalizischen Bolechów/Bolechiv. (»Die Welt« Nr. 16 vom 21.4.1899, 11) Analog verhielt sich die Sache im Kreditwesen: Während Stanisław Szczepanowski im Einklang mit römisch-katholischer und unierter (griechisch-katholischer) Kirche die Disziplinierung der ländlichen polnischen wie ruthenischen Bevölkerung forderte (Enthaltsamkeit bei Alkohol, Arbeitsdisziplin, Sparsamkeit), bedeutete seine Forderung nach Assimilation der galizischen Juden ihre Verdrängung aus Kreditwesen, Handel und Gewerbe. (Szczepanowski 1888, 172)
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Wurden aus polnisch-galizischer Sicht Dominanz und Macht jüdisch-galizischer Kreditgeber und Bankiers beklagt, so findet sich diese Wahrnehmung auf der jüdischen Seite spiegelverkehrt wieder. Ein Artikel der »Welt« übte im April 1899 scharfe Kritik an der Vormachtstellung des polnischen Krakauer Adels (der StaĔczyken): »Mit Hilfe einiger jüdischer Grossmäkler rissen sie [die StaĔczyken] während der Zeit ihres Regimes alle wirtschaftlichen Einrichtungen, besonders aber alle Bank- und Credit-Institute an sich. Dass diese Juden es nicht scheuten, trotz aller antisemitischer [sic] Tendenzen den StaĔczyken Factorendienste zu leisten, braucht nicht besonders hervorgehoben zu werden. […] Sie bekamen doch ihre entsprechende Sensarie und sonst non olet. Dieses Nonoletprincip fand aber auch bei den edlen StaĔczyken Eingang. Ihr antisemitisches Princip hinderte sie nicht daran, das Geld von überallher, ja sogar von den Juden zu nehmen. Und unsere Juden, waren ihrerseits ›überglücklich‹, dass ›solche Bank-Institute‹, wie die Galizische Sparcasse, die Galizische Creditbank, die Krakauer wechselseitige Versicherungs-Gesellschaft u. dgl. ›von ihnen Einlagen aufnahmen‹. […] Sie waren gänzlich blind für die ›Bankpolitik‹ dieser Herren, eine Bankpolitik, welche nicht darin bestand, der ökonomischen Bedeutung des Wortes gemäss, die Einlagen in Sparcassenerfordernissen entsprechender Art zu fructificieren, sondern die den jeweiligen Leitern politisch Gleich gesinnten zu fördern und die Juden wo nur möglich hauptsächlich von Handel und Industrie zu verdrängen.« (Die Welt 17, 28.4.1899, 10f.).
Aus der Perspektive der jüdischen Mittel- und Unterschichten, die sich dem Zionismus in Galizien zuwandten (Hödl 1991, 25f., 54), verstärkten die von der galizischen Regionalelite forcierten Entwicklungsprogramme ihre Marginalisierung. Die Kritik richtete sich jedoch auch gegen die jüdische Elite, die im Sinn des polnischen Assimilationsparadigmas in den ökonomischen Institutionen partizipierte. Formulierte der Artikel somit eine Kritik aus einer im sozialen wie nationalen Sinn subalternen Position, ermöglichte es die sozial dominante Position jüdischer Großhändler und Bankiers, als Teil der politisch und ökonomisch dominanten polnischen Elite zu erscheinen. Wie der weitere Verlauf des Textes aber deutlich macht, stießen assimilierte Juden nicht auf volle Akzeptanz seitens des polnischen Milieus – weshalb Assimilation einer sozioökonomisch potenten, aber kulturell subalternen Gruppe als Selbstzivilisierung bzw. Selbstanpassung gefasst werden kann, die jedoch die subalterne Position zumin-
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dest nicht unmittelbar aufheben konnte. Die unterschiedlichen sozialen Einschreibungen und Prämissen nationaler bzw. kulturell-ethnischer Diskurse machen die eigentliche Heterogenität der galizischen Gesellschaft deutlich, die durch klare Grenzziehungen zwischen als homogen gedachten nationalen Gruppen nicht fassbar war. Neben Waren und Kapital war aber noch in einem bedeutend stärkeren Ausmaß der Boden ein Konfliktfeld. Hatte die »Praca« noch im Februar 1865 in ihrem Aufmachertext unter dem Titel »Enteignung« (Wywłaszczenie) den Verkauf von Gütern polnischer Magnaten an fremde Adelsfamilien seit Beginn der habsburgischen Herrschaft beklagt (Praca IV/10, 4 lutego 1865, 1), so verlagerte sich nur wenige Jahre später die Wahrnehmung auf die zwischenethnischen Beziehungen innerhalb Galiziens. In einem Lehrstück des griechisch-katholischen, ukrainophilen Priesters Stepan Kaþala heißt es nur wenige Jahre später: »aber schaut, die Bauern bekommen nichts, und die Juden – was nie so war – besitzen die Gründe der Bauern« (aɥɟ ɛɚɱɢɬɢ, ɝɨɫɩɨɞɚɪ࣎ ɫɯɨɞ࣒ɬɶ ɧ࣎-ɢɚ-ɳɨ, ɚ ɠɢɞɶɿ, ɱɨɝɨ ɧɟ ɛԛɜɚɥɨ, ɩɨɫ࣎ɞɚɸɬ ɝɪԛɧɬɶɿ ɝɨɫɩɨɞɚɪɫɤɣ; Ʉɚþɚlɚ 1874, 4). Ein Jahrzehnt später rief Rutowski dazu auf, »den Boden für die Nation zu retten, ihn in polnischen Händen zu halten« (uratowaü ziemiĊ dla narodu, zachowaü ją w rĊkach polskich; Rutowski 1883a, 10). Szczepanowski wiederum klagte: »Er [der polnisch-galizische Adel] starb aus wie ein Anachronismus, […] und wird durch das neue jüdische Bürgertum ersetzt, das sich seit zwanzig Jahren einen bedeutenden Teil unseres Landes aneignete« (WyginĊła jako anachronizm, tak jak jeszcze ginie przed naszemi [sic] oczyma i ustĊpuje siĊ nowemu obywatelstwu Īydowskiemu, które od dwudziestu lat zagarnĊło tak znaczną czĊĞü kraju; Szczepanowski 1888, 74). Die weit verbreiteten Klagen über an die Stelle christlicher Bauern und polnischer Magnaten tretende jüdische Grundbesitzer reflektierten die nach der 1868 beschlossenen Aufhebung des Teilungs- und Verkaufverbots bäuerlicher Gründe massiv angestiegenen Zwangsversteigerungen von Bauernhöfen infolge von Verschuldung. (Dinklage 1973, 422) Zwar hatte ein Gros der Privatgläubiger einen jüdischen Hintergrund, diese machten jedoch nur einen Teil der Gläubiger insgesamt aus – zusammen mit christlichen Privatgläubigern, Banken, Sparkassen und Kreditvereinigungen. (Tokarski 2003, 96, 102-106) Das, »was vorher nie so war«, markierte somit eine neue Erfahrung von ökonomischer Prekarität in einer Marktwirtschaft, die in den Ter-
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mini ethnischer Differenz wahrgenommen wurde. Zwar stieg tatsächlich bis zum Ersten Weltkrieg die Anzahl jüdischer Grundbesitzer stark an – allerdings nicht in gleichem Ausmaß die von ihnen gehaltene Bodenfläche (da der pro Person gehaltene Grundstücksbesitz sich stark verkleinerte). In beiden Fällen stellten jüdische Besitzer und der von ihnen gehaltene Besitz eine Minderheit in Galizien dar, standen jedoch in überproportionalem Verhältnis zu ihrem Anteil an der Bevölkerung insgesamt. (Gąsowski 1999, 123-125) Somit ließ das von polnischer wie ruthenischer Seite bekundete Unbehagen an dem zunehmenden Landbesitz durch galizische Juden eine von den dominanten Akteuren befürchtete Verschiebung im Verhältnis von Dominanz und Subalternität erkennen. Die Existenzängste sozial prekär gestellter Gruppen wurden in Bezug zu den reklamierten Prärogativen politischkultureller Dominanz gesetzt, die die Eliten beider nationaler Gruppen in Bezug auf das galizische Judentum für sich beanspruchten. Doch der Konflikt um Grund, Boden, Land und schlussendlich Raum im physischen Sinn war nicht auf einen polnisch-jüdischen oder einen ruthenisch-jüdischen beschränkt. Der Vorsitzende der zu Beginn der 1890er Jahre gegründeten »Gemeinschaft der Volksschule« (Towarzystwo Szkoły Ludowej, kurz: TSL) Adam Asnyk erklärte auf der ersten Hauptversammlung 1893, das Ziel des Vereins sei es, »unsere Sprache und Nationalität überall dort zu verteidigen, wo dies erforderlich ist. Wir haben große Grenzgebiete, Marken des Polentums, in denen die Tätigkeit des Vereins einen enormen Einfluss ausüben kann. Wir haben Schlesien und die Bukowina und vor allem haben wir in Ruthenien masurische Kolonien, die durch lange Vernachlässigung, durch den Mangel an Schulen, die sie selbst nicht errichten können, gezwungen sind, ihre Kinder in ruthenische Schulen zu schicken, und die auf diese Weise der langsamen Entnationalisierung unterliegen.« (Sprawozdanie Zarządu Głównego TSL pod koniec roku 1893, 16, zit. nach Struve 2005, 264)
Analog zum christlich-jüdischen Beziehungsgeflecht ist auch hier ein Positionswechsel im Verhältnis von Dominanz und Subalternität erkennbar – mit dem wesentlichen Unterschied, dass dieser aufgrund der Besiedlungsmuster von Polen und Ukrainern in Galizien verräumlicht wurde: Die polnisch-galizische Elite, die politische, wirtschaftliche und soziale Vorherrschaft nicht nur reklamierte, sondern auch in mannigfacher Hinsicht ausübte, musste zur Kenntnis nehmen, dass Polen
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in Ostgalizien jenseits der großen Städte wie Lemberg, PrzemyĞl und Kolomea/Kołomyja/Kolomyja eine zahlenmäßige Minderheit darstellten. (Hrycak 2006, 37) In den Kategorien von politisch beanspruchtem Territorium gedacht suchten nicht nur nationalistische Kreise, die das TSL frühestens ab der Jahrhundertwende dominierten, dieses Territorium für einen zukünftigen polnischen Staat durch die Nationalisierung der dort lebenden Bevölkerung zu gewinnen. Bereits Szczepanowski hatte auf die Bedeutung der »masurischen Kolonien« (kolonie mazurskie) in Litauen, Podolien und der Ukraine als »ethnische Bindung der Gebiete der alten Republik [Polen]« (spójniĊ etniczną ziem dawnej Rzeczpospolitej) verwiesen und es bedauert, dass die polnischen Emigranten aus Galizien nicht in den Süd-Westen Richtung Schwarzes Meer zur Besiedlung umgeleitet werden konnten, sondern sich nach Nordamerika wandten. (Szczepanowski 1888, 106) Wie sich die territoriale Absicherung durch bevölkerungspolitische Siedlungsprojekte mit einem Gefühl kultureller Höherwertigkeit verband, hatte wenige Jahre zuvor Ivan Franko in einem Kommentar in »Dilo« zu einem Artikel der »Gazeta NaddniestrzaĔska« deutlich gemacht. Der Autor des Textes, Eduard Solecki, hatte Kritik an der »Zivilisierung« (ɭɰɢɜɿɥɿɡɭɜɚɧɧɹ) der ruthenischen Gebiete durch die »masurische Nation« (ɧɚɪɨɞ ɦɚɡɭɪɫɶɤɢɣ) geäußert und sich für eine »Vermischung der slawischen Geschlechter« (Ɇɿɲɚɧɧɹ ɩɥɟɦɟɧ ɫɥɨɜ’ɹɧɫɶɤɢɯ ɦɿɠ ɫɨɛɨɸ) stark gemacht. Diese solle allerdings freiwillig und nicht durch Zwang erfolgen. Zugleich wurde auf die gemeinsamen Interessen von Ruthenen und Polen gegenüber jüdischen Besitzern verwiesen. (Franko 1884c) Auch Franko selbst teilte diese Position und trat für ein Agrarprogramm ein, das durch Kollektivierungen Polen und Ruthenen den Grund- und Bodenbesitz sichern und alle »fremden Elemente«, worunter er vorwiegend Juden verstand, ausschließen sollte. (Hrytsak 1999, 144) Exemplarisch wird hier deutlich, wie die Trennlinien bis hin zum Ausschluss von Juden für eine Interessenallianz von Polen und Ruthenen in Ostgalizien konstitutiv waren. Dies kommt auch in der institutionellen Struktur der Gesellschaft zum Ausdruck: Der 1890 in Lemberg von der Bauernpartei um den Polen Bolesław Wysłouch gegründete »Verein der Freunde der Bildung« (Towarzystwo Przyjaciół OĞwiaty), an dem auch Franko beteiligt war, nahm gegenüber den Ruthenen eine kooperative Haltung ein. (Struve 2005, 264) Spätestens nach der Jahr-
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hundertwende gerieten diese Milieus nicht nur durch nationalistische Organisationen in die Defensive, sondern unterlagen selbst einer Nationalisierung: Ivan Franko räumte spätestens 1899 der nationalen vor der sozialen Frage Priorität ein (Hrytsak 1999, 143, 145), die Bauernpartei verpasste sich 1903 das Prädikat »polnisch«. Die sich dadurch verschärfende polnisch-ruthenische Polarisierung (Struve 2005, 415) manifestierte sich auch im Konflikt um Grund und Boden, wie ein Leitartikel im nationaldemokratischen »Słowo Polskie«, das von dem polnischen Erdölindustriellen Wacław Wolski herausgegeben wurde, vom 8. März 1910 belegt: [Wir sind eine Minderheit in Ostgalizien. Dennoch überragen wir die ruthenische Mehrheit durch unsere kulturelle, geistige und materielle Stärke. Und aus dem Titel dieser kulturellen Überlegenheit sind wir uns der uns übertragenen Zukunft des Rechts und der Obhutsverpflichtung gegenüber der gesamten Bevölkerung des Landes bewusst – sowohl der ruthenischen als auch der polnischen, somit der Regierung des Landes. […] Aber es rettet uns keine noch so effektive Organisation, es retten uns nicht die hervorragendsten politischen Erfolge im Bereich von Parlament und Landtag, wenn wir in den östlichen Dörfern den Boden unter den Füßen verlieren, […] falls wir in diesem Landesteil unseren bisherigen Grundbesitz verlieren. […] Wir müssen erkennen, dass die Städte allein kein ausreichendes Bollwerk des Polentums sein können […] Wenn in unseren Städten in der Gegend um Posen das polnische Element die Deutschen siegreich verdrängt trotz der ungeheuren Anstrengungen der preußischen Regierung, ›das Deutschtum in den östlichen Marken zu erhalten‹, so verdanken wir das vor allem der Immigration der polnischen Landbevölkerung in die Städte. […] Wir haben leider in den letzten Jahren [in Ostgalizien] schon sehr viel verloren. Und es ist eine Tatsache, dass die Mehrheit der parzellierten Güter in nicht-polnische Hände übergeht. […] Und unsere eifrigste Aufgabe in der nationalen Politik ist heute die Organisation einer intensiven polnischen Parzellierungskolonisation. Solange wir nicht die systematisch geplante Verteidigung polnischen Bodens in den östlichen Marken organisieren, solange wir nicht eine unter dem nationalen Gesichtspunkt rationale Parzellierungsvermittlung schaffen […], wird sich der polnische Grundbesitzstand weiter verringern und der ruthenische Grundbesitzstand wird sich vergrößern.] »JesteĞmy mniejszoĞcią we wschodniej Galicji. Górujemy jednak nad wiĊkszoĞcią ruską siłą kultury i duchowej i materialnej. I z tytułu tej wyĪszoĞci kulturalnej poczuwamy siĊ i dziĞ do przekazanego nam przeszłoĞcią prawa
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i obowiązku pieczy o całą ludnoĞü kraju zarówno ruską jak polską, rządzenia wiĊc krajem. [...] Ale nie uratuje nas Īadna, najsprĊĪystsza organizacja, nie uratują nas najwspanialsze sukcesy polityczne na terenie parlamentarnym i sejmowym, jeĪeli stracimy grunt pod nogami po wsiach wschodnich, [...] jeĪeli utracimy dotychczasową naszą w tej czĊĞci kraju własnoĞü ziemską. [...] NaleĪy zdawaü sobie sprawĊ, Īe same tylko miasta nie bĊdą, nie mogą byü dostateczną ostoją polskoĞci, jeĪeli zginie nasza po wsiach siła. [...] JeĞli w naszych miastach w PoznaĔskim Īywioł polski wypiera zwyciĊsko Niemców mimo olbrzymich zasiłków rządu pruskiego na ›utrzymanie niemieckoĞci na kresach wschodnich‹, zawdziĊczamy to przedewszystkiem [sic] immigracji do miast tych polskiej ludnoĞci wiejskiej. [...] UtraciliĞmy jej juĪ niestety bardzo duĪo ostatnimi laty. Parcelacja wzmaga siĊ ciągle. A faktem jest, Īe wiĊkszoĞü parcelowanej ziemi przechodzi ciągle jeszcze w rĊce niepolskie. [...] I najpilniejszym właĞnie zadaniem naszej tu narodowej polityki jest dziĞ zorganizowanie intensywnej polskiej kolonizacji parcelacyjnej. Póki nie zorganizujemy systematycznej planowej obrony ziemi polskiej na wschodnich kresach, póki nie wytworzymy racjonalnej pod wzglĊdem narodowym organizacji poĞrednictwa parcelacyjnego [...] polski stan posiadania ziemi zmniejszaü siĊ bĊdzie ciągle, a ruski stan posiadania ziemi bĊdzie siĊ zwiĊkszaü.« (Słowo Polskie, XV/III, 8 marca 1910, 1-2)
In diesem von einer eindeutig nationalistischen Logik getragenen Text wird der Konflikt um Raum in Ostgalizien nicht nur auf einen polnisch-ruthenischen Gegensatz beschränkt, sondern auch eine Verbindung zum polnisch-deutschen Konflikt im deutschen (ehemals preußischen) Teilungsgebiet gezogen: Als Ergebnis dieser Perspektive erscheinen Polen als von allen Seiten bedrängte Opfer und nicht als Vertreter einer begrenzt dominanten Kultur in Galizien, die Druck auf andere ausübte – was am Beginn des Texts noch in einer sich selbst versichernden Offenheit zum Ausdruck gebracht wurde. Die Brüchigkeit kultureller Hegemonie im Raum ließ somit die Grenzen nationalistischer Herrschaftsparadigmen erkennen, die keinen gemeinsamen Rahmen für eine plurinationale Gesellschaft formulieren wollten und konnten.
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KONKLUSION Aufgrund des dichten Interaktionsgeflechts der galizischen Gesellschaft sowohl im Inneren als auch über die regionalen Grenzen hinweg ergaben sich zahlreiche Möglichkeiten für die Formierung von sozialen und nationalen Identitäten, die stets vor der eingangs erwähnten prekären ökonomischen Lage der Region stattfanden. Neben den herkömmlichen Dichotomien zwischen dem Kronland und dem imperialen Zentrum bzw. den kulturell-ethnischen oder nationalen Gruppen wurde der relative und fragmentarische Charakter sowohl von räumlichen Konstrukten als auch nationalen Identitäten deutlich gemacht. Die unterschiedlichen Ansprüche von Subalternität und Dominanz zwischen Imperium und Region lassen sich durch eine sozialkritische Perspektive als partikulare Konzepte dekonstruieren, die die Verteilung von Macht, Ressourcen und gesellschaftlicher Partizipation regulierten. Dabei lässt sich um die Jahrhundertwende ein Wandel vom imperialen »divide et impera« zu einer nationalistischen Logik feststellen, die anstelle der homogenisierenden Integration die räumliche und gesellschaftliche Segregation setzte.
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Ruthenische Folklore im Fokus der polnischen Folkloristik und Ethnographie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts K ATHARINA S CHWITIN
E INFÜHRUNG Das gesamte 19. Jahrhundert hindurch aber auch in der Moderne stellte Folklore eine wichtige Grundlage für die Existenzberechtigung und nationale Selbstdefinition eines Volkes dar. Damit hängt zusammen, dass Folklore sich zu einem wichtigen Merkmal der Abgrenzung gegenüber anderen ethnischen und nationalen Gruppen entwickelte. Daher wurde folkloristisches Kulturgut nicht selten umkämpft und von unterschiedlichen Seiten für die eigenen nationalen Belange beansprucht.1 Innerhalb der Vielvölkergebiete Mittel- und Osteuropas stellten sich die Fragen der nationalen Beanspruchung und Vereinnahmung von Folklore oft mit besonderer Schärfe. Dies war vor allem dann der Fall, wenn die konkurrierenden Parteien einerseits kulturell viele
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Ein Beispiel für die mehr oder weniger bewusst undifferenzierte und vereinnahmende nationale Haltung hinsichtlich volkskultureller Erscheinungen im europäischen Kontext des 19. Jahrhunderts in Westeuropa ist dasjenige der Friesisch sprechenden Gemeinschaft Mitte des 19. Jahrhunderts in den Niederlanden und in Dänemark, deren materielle Kultur von zwei unterschiedlichen Nationen für sich beansprucht und für die eigene nationale Legitimation instrumentalisiert wurde. (Stoklund 1999, 10)
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Überschneidungen aufwiesen, andererseits durch eine gemeinsame Geschichte und ein gemeinsames Territorium verbunden waren. Beides trifft auf die polnische und ukrainische Kultur in der Westukraine zu, die so wie viele andere Kulturen in Europa seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts immer mehr zur Basis einer jeweiligen nationalen Identität ausgestaltet wurden. Die Romantik ist dabei besonders interessant, weil in dieser Periode des Übergangs erstmalig nationale Aspirationen formuliert wurden. Sie wird deswegen als eine Zeit der Ambivalenz und des Konflikts bezeichnet, in der kulturelle Güter für nationale Belange vereinnahmt wurden. Dabei wurden die wichtigsten Weichen bei der Definition der Rolle von Folklore für die Nationalkultur eines Volkes gestellt.
D IE POLNISCHE UND IN O STGALIZIEN
UKRAINISCHE
F OLKLORISTIK
Im Folgenden möchte ich zeigen, wie sehr die polnische und ukrainische Folkloristik und Kulturszene in den 1820er Jahren miteinander verflochten waren und wie sie ab den 1830er Jahren hinsichtlich der ruthenischen2 Folklore miteinander konkurrierten. Als besonders intensiv und entwickelt ließ sich dieses Verhältnis in Ostgalizien3 be-
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In den habsburgisch besetzten Gebieten der Ukraine bezeichneten sich die ukrainischen Bewohner selbst vorwiegend als ›Rusyny‹ (ɪɭɫɢɧɢ), was ins Deutsche als ›Ruthenen‹ übersetzt und von der habsburgischen Bürokratie als die offizielle Bezeichnung der Ukrainer auf dem Gebiet Österreich-Ungarns festgelegt wurde. Die Selbstbezeichnung als ›Ukrainer‹ setzte sich bei den ukrainischen Bewohnern des Habsburgerreiches im Laufe des 19. Jahrhunderts nur zögerlich durch. Auch die in diesen Gebieten kodierte ukrainische Sprache unterschied sich von derjenigen in den russisch besetzten ukrainischen Gebieten, weil sie überwiegend auf westukrainischen Mundarten beruhte. Sie wurde allgemein als ›Ruthenisch‹ (ɪɭɫɶɤɢɣ) bezeichnet. Daher verwende ich im Folgenden, vor allem wenn es dezidiert um die ukrainische Volkskultur in den österreichisch besetzten Gebieten geht, das Ethnonym ›ruthenisch‹. Vgl. Kozik 1986, 110-112; Moser 2003, 312; Sosnowska 2008, 12. Vgl. auch Ptashnyk in diesem Band.
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Die einzelnen Regionen der heutigen Westukraine unterlagen vor und nach den Teilungen Polens unterschiedlichen kulturellen Einflüssen: Transkar-
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obachten. Mich interessiert dabei überwiegend die Perspektive der polnisch-nationalen Folkloristik auf die ruthenische Volkskultur.4 Eine Kulmination in dieser Hinsicht stellt die folkloristische Liedersammlung von Wacław Zaleski5 (1799-1849) dar, die er im Jahr 1833 unter dem Pseudonym Wacław z Oleska im damaligen Lemberg/Lwów herausgab. Sie erschien unter dem Titel Polnische und ruthenische Lieder des galizischen Volkes. Mit musikalischer Begleitung, instrumentiert von Karol LipiĔski. Gesammelt und herausgegeben von Wacław z Oleska (PieĞni polskie i ruskie ludu galicyjskiego. Z muzyką instrumentowaną przez Karola LipiĔskiego. Zebrał i wydał Wacław z Oleska; s. dazu Kozik 1986, 35-36). Es handelt sich bei diesem Buch um die erste umfassende publizierte polnische folkloristische Sammlung. Gleichzeitig stellt es allerdings auch die bis dahin größte Sammlung ukrainischer Lieder auf dem gesamten Gebiet der Ukraine dar. (Borodin 2005, 122) Im Vorwort zu den Liedern, auf das ich mich im
patien war seit Jahrhunderten von Ungarn dominiert, die Bukowina unterlag der Prägung durch die rumänische Kultur, in Galizien dominierte die polnische Kultur – all diese Gebiete wurden im Rahmen des Habsburgischen Imperiums zusätzlich germanisiert –, während Wolhynien und Ostpodolien mit ihren polnischen Einflüssen zusätzlich einer Russifizierung infolge ihrer Zugehörigkeit zum Russischen Imperium ausgesetzt waren. Auf Ostgalizien möchte ich mich deshalb konzentrieren, weil sich hier das Verhältnis der polnischen und ukrainischen Kultur am wenigsten von anderen Einflüssen beeinträchtigt zeigt. 4
Ich bedanke mich bei den Teilnehmern der Tagung »Kulturgrenzen im transnationalen Kontext« für die wertvollen Literaturhinweise zum Thema dieses Aufsatzes.
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Wacław Michał Zaleski war polnischer Adeliger, Folklorist, Literat und Politiker in Galizien. Er wurde in Olesko, einem kleinen ostgalizischen Ort, der zum Besitz seiner Familie gehörte, geboren. Daher kommt auch sein Pseudonym Wacław z Oleska. Bis in den Anfang der zwanziger Jahre schrieb er auf Deutsch, danach auf Polnisch. Zaleskis literarische Texte waren dem Geist der Romantik und seinen eigenen Überzeugungen entsprechend teilweise im Stile der Volksdichtung verfasst. Allerdings ist seine folkloristische und literaturkritische Tätigkeit um einiges bedeutender als seine literarischen Texte. In den Jahren 1848-49 war Wacław Zaleski österreichischer Statthalter in Galizien. Siehe Kozik 1986; KrzyĪanowski 1965, 457-459.
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Weiteren wesentlich beziehen möchte6, beansprucht Zaleski das von ihm gesammelte ruthenische folkloristische Material für die polnische nationale Kultur und rechtfertigt dies auf vielfältige Weise. Die ukrainischen nationalen Aktivisten in Galizien waren wesentlich von der polnischen Kultur geprägt, bewegten sich unter den Vorzeichen der slawischen Solidarität in den polnischen intellektuellen, nationalen und sogar revolutionären Kreisen und arbeiteten eine gewisse Zeit eng mit diesen zusammen. Die 1830er und 1840er Jahre bildeten in dieser Hinsicht eine Phase des Übergangs. (Vgl. Himka 1999, 138-139) Die ruthenisch-ukrainische nationale Kultur war im Werden und in einem Prozess der Abgrenzung zu der sie wesentlich prägenden polnischen Kultur begriffen. Die Grenzen zwischen ihnen waren noch nicht so deutlich ausdifferenziert und die ukrainischen nationalen Strukturen noch nicht so klar herausgebildet, als dass sich eine klare Trennung zwischen den polnischen und den ukrainischen Kulturschaffenden einerseits und dem polnischen und dem ruthenischukrainischen Kulturgut andererseits ziehen ließ. Während jedoch die Ruthenen angestrengt daran arbeiteten, ihre eigenen ukrainisch-nationalen Differenzmarker7 herauszukristallisieren, war die polnische Öffentlichkeit umgekehrt darum bemüht, diese zu verwischen.
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Ich beziehe mich in meinen Ausführungen ausschließlich auf programmatische Texte überwiegend der polnischen aber auch der ukrainischen Folkloristik. In diesen kommen deutlich die jeweiligen Positionen zum Ausdruck, die sich einerseits in der Sammel- und Publikationspraxis von Folklore andererseits aber auch in den romantisch-nationalen Literaturkonzeptionen der polnischen und ukrainischen Kulturschaffenden niederschlugen.
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Diesen Begriff verwendet Danuta Sosnowska im Gefolge von Geoff Eley und Ronald Grigor Suny, wie sie ihn im Vorwort zu Becoming National: A Reader (1996) entwickeln. Demnach entsteht ethnische Differenzierung im Kontakt mehrerer unterschiedlicher Gruppen und existiert zwischen ihnen als konstruierte, symbolisch durch ständig wiederholte Differenzmarker ausgedrückte Grenze. Diese ethnischen Unterschiede und damit auch ihre Differenzmarker sind nicht von vornherein gegeben, sondern müssen am Rande einer bestimmten Kultur erarbeitet werden, um sich letztendlich von oder innerhalb dieser abzugrenzen. (Sosnowska 2008, 34-35)
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Die ukrainischen Kulturschaffenden, die sich in der genannten Zeit vor allem in dem Kreis um die sogenannte Ruthenische Triade8 (Ɋɭɫɶɤɚ ɬɪɿɣɰɹ) fanden, waren zunächst Kollaborateure und später Rivalen der polnischen Folkloristik in Galizien, deren bedeutendster Vertreter Ende der 1820er und in den 1830er Jahren Wacław Zaleski war. Dennoch kamen Wacław Zaleski und ĩegota Pauli (1814-1895), ein weiterer polnischer Folklorist in Galizien, ab den 1860er Jahren – als sich die ukrainische Nation in ihrem eigenen Bewusstsein als solche gefestigt hatte – in die von ihnen so sicherlich nicht intendierte Lage, Pioniere und Begründer der ukrainischen Folkloristik zu sein und als solche anerkannt zu werden. Die Vereinnahmung der ruthenischen Folklore für die polnische Nationalkultur wurde damit letzten Endes nicht nur für die polnische, sondern auch für die ukrainische Nationalkultur produktiv.
ZUR ENTWICKLUNG DER POLNISCHEN F OLKLORISTIK Ich möchte ansatzweise die unterschiedlichen Entwicklungen in der polnischen Ethnographie und Folkloristik zeigen, in deren Nachfolge Wacław Zaleski einerseits steht und andererseits sich selbst sieht. Die Tradition der Sammlung folkloristischen und ethnographischen Materials in Polen entsprang Anfang des 19. Jahrhunderts zunächst dem aufklärerischen Interesse der polnischen Adelsgesellschaft, deren Prämisse es war, die gesamte Kultur auf dem Gebiet des ehemaligen Polen-Litauen unter der polnischen Hochkultur zu subsumieren. Für diese Periode führe ich weiter unten im Text exemplarisch den Brief von
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Als die Ruthenische Triade wird eine ukrainische literarische Vereinigung in Galizien bezeichnet, die Anfang der 1830er Jahre existierte und in ihrem Kern aus Markijan Šaškevyþ (1811-1843), Jakiv Holovac’kyj (1814-1888) und Ivan Vahylevyþ (1811-1866) bestand. Alle drei besuchten das griechisch-katholische Priesterseminar in Lemberg. Šaškevyþ, Holovac’kyj, und Vahylevyþ gelten als die Begründer der ukrainisch-nationalen Bewegung in Galizien. Siehe dazu z.B. Kozik 1986.
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Hugo Kołłątaj9 (1750-1812) an Jan Maj aus dem Jahre 1802 (vgl. dazu KapełuĞ 1970, 15) – der die polnische Folkloristik initiierte – ausschnittsweise an. Die Volkskultur wurde als Grundlage zur Schaffung einer polnischen Nation und der Restauration eines polnischen Staates unter neuen romantischen Vorzeichen betrachtet. Zaleskis Vorwort wird im Wesentlichen von dieser Haltung bestimmt. Er führt jedoch den Anspruch fort, dass die polnische Nationalkultur ein Hoheitsrecht über die Gesamtheit der kulturellen Erscheinungen auf dem Gebiet der ehemaligen Rzeczpospolita (Polen-Litauen) habe und bei Bedarf mit diesen geschichtlich und kulturell angereichert werden könne. Von den sozialen Lebensumständen der Bauern, die weitgehend nur als Träger der begehrten Volkstradition interessant waren, wurde dabei in einer verklärenden Geste abstrahiert. Als einen Vorläufer Zaleskis in dieser Hinsicht möchte ich Krystyn Lach Szyrma10 (1790-1866) anhand seines
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Hugo Kołłątaj war polnischer Adeliger, Geistlicher, Aufklärer, Literat und Geograph. Geboren in Wolhynien, studierte er in Krakau, Wien und Rom. Danach wirkte er zunächst als Geistlicher und Bildungsreformator in Krakau, später als Staatsreformator in Warschau. Kołłątaj unterstützte aktiv den KoĞciuszko-Aufstand. Nach dessen Scheitern wurde er auf der Flucht aus Warschau nach Venedig von österreichischen Regierungskräften festgesetzt und befand sich einige Jahre in österreichischer Gefangenschaft. Hier begann er sein mehrbändiges anthropogeographisches Werk Kritische Analyse der Grundsätze der Geschichtswissenschaft die Anfänge des Menschengeschlechts betreffend (Rozbiór krytyczny zasad historii o początkach rodu ludzkiego). Nach seiner Freilassung lebte er in Wolhynien, wurde jedoch bald danach wegen vermuteter Kontakte zu Napoleon von der russischen Regierung deportiert. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte Hugo Kołłątaj in Warschau. Siehe Giergielewicz 1930.
10 Krystyn Lach Szyrma war polnischer Ethnograph, Literat und Professor der Warschauer Universität. Er wurde unter dem Namen Chrystian Lach in eine masurische Bauernfamilie hineingeboren. Den Namen Szyrma, die Bezeichnung eines polnischen Adelsgeschlechts, nahm er später an. Er wurde von einem protestantischen Geistlichen unterstützt und bekam durch diesen eine Ausbildung. Nach Beendigung des Gymnasiums begann Lach Szyrma ein Studium der Literatur und der Freien Künste an der Universität in Vilnius. Danach trat er eine Stelle als Hauslehrer beim Fürsten Czartoryski an. In dieser Zeit begann Lach Szyrma seine aktive literarische, eth-
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Begleitbriefes an den Redakteur des »Dziennik WileĔski« zu seinem darin 1818 veröffentlichten Artikel Dumki aus dem Liedgut der Dorfbevölkerung Rotrutheniens (Dumki ze Ğpiewów ludu wiejskiego Czerwonej Rusi) vorstellen. Wacław Zaleski sieht sich selbst in seinem Vorwort in der Nachfolge von Zorian DołĊga Chodakowski11 (1784-1825), einem der ersten polnischen romantischen Ethnographen und Folkloristen, dem Ver-
nographische und folkloristische Tätigkeit. Mehrmals durchwanderte er die Masuren mit dem Ziel der Erfassung der regionalen Volkskultur. 18201824 bereiste er England und Schottland. Die späteren Beschreibungen dieser Reise machten ihn in Polen sehr populär. Nach seiner Rückkehr bekam er den Lehrstuhl für Philosophie an der Universität in Warschau und wurde einige Jahre später Ehrenmitglied der Warschauer »Gesellschaft der Freunde der Wissenschaft« (Towarzystwo Warszawskie Przyjaciół Nauk), einer der einflussreichsten kulturellen Institutionen des damaligen Polen. Er nahm aktiv am Novemberaufstand der Jahre 1830-31 teil und musste danach emigrieren. Lach Szyrma lebte den Rest seines Lebens in England, wo er ein bedeutender Botschafter der polnischen Kultur war. Siehe Chojnacki 1971. 11 Zorian DołĊga Chodakowski war polnischer Adeliger, Ethnograph und Folklorist. Chodakowski, der in Minsk lebte und mit Geburtsnamen Adam Czarnocki hieß, wurde 1808 wegen seines Vorhabens, in die sich in Warschau formierende Armee einzutreten, dazu verurteilt, als einfacher Soldat in der russischen Armee zu dienen. Infolgedessen wurde er nach Omsk verschickt. 1811 floh er aus der russischen Armee nach Warschau und nahm später den Namen Zorian DołĊga Chodakowski an. Nach 1812 verliert sich seine Spur. Vermutlich bereiste er bis 1816 Wolhynien, Podolien und die Gebiete um Kiew und Poltawa. 1816 setzte er seine sammlerische Tätigkeit in Galizien fort. 1817 fuhr er nach Krakau und sammelte unterwegs weiteres Material. Aufgrund dieser Sammlungen schrieb er 1818 seine bedeutendste Arbeit O sławiaĔszczyĨnie przed chrzeĞcijaĔstwem. (Chodakowski 1967, 7-8; Juzvenko 1961, 30-31) Ab 1819 orientierte sich Chodakowski nach Russland, wo er der russischen Regierung ein Projekt zur Erforschung der slawischen Frühgeschichte vorstellte und von dieser eine Finanzierung dafür bekam. (Kleinmann 2009, 85-87) Chodakowski bereiste im Laufe seiner gesamten ethnographischen Tätigkeit polnische, weißrussische, ukrainische und südrussische Gebiete. Siehe auch Brock 1992; KrzyĪanowski 1965, 64; KapełuĞ 1970, 199-211, 218-220, 223-227.
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fasser der programmatischen Schrift Über das Slawentum vor dem Christentum (O sławiaĔszczyĨnie przed chrzeĞcijaĔstwem) aus dem Jahre 1818 und einer Ausnahmeerscheinung der polnischen Ethnographie. Denn Chodakowski ging von einem überaus demokratischen Modell der slawischen Kulturen aus und sprach keiner von ihnen eine übergeordnete Position zu. Er wurde im Folgenden zu einer mythischen und idealen Figur der polnischen und der slawischen Ethnographie stilisiert. Ein wichtiger Teil dieses Bildes war die Nähe zur bäuerlichen Lebenswelt, die er sowohl in seinen Schriften als auch durch seine Sammelpraxis suggerierte. Die polnische Ethnographie und Folkloristik begann sich nach den Teilungen Polens Ende des 18. Jahrhunderts zu entwickeln. Infolge der Teilungen unterlagen die einzelnen Gebiete Polens unterschiedlichen kulturellen, politischen und sozialen Einflüssen, während die Kommunikation zwischen ihnen erschwert war. Dementsprechend wirkten sich einzelne kulturelle Erscheinungen in den jeweiligen Regionen auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedlicher Dynamik aus. Dies trifft unter anderem auch auf die Folkloristik sowohl in ihrer Konzeption als auch in ihrer praktischen Umsetzung zu. Am frühesten und aktivsten wurde sie in Warschau und Vilnius voran getrieben. Vor allem die beiden wissenschaftlichen Gesellschaften, die »Warschauer Gesellschaft der Freunde der Wissenschaften« (Towarzystwo Warszawskie Przjaciół Nauk, gegründet 1800) und die »Gesellschaft der Philomathen« (Towarzystwo Filomatów, gegründet 1817) in Vilnius, fungierten als Motoren in diese Richtung. Letzterer gehörte auch Adam Mickiewicz an, dessen Vorwort »Über die romantische Dichtung« (O poezji romantycznej) und der Abschnitt »Balladen und Romanzen« (Ballady i romanse) seiner 1822 veröffentlichten Dichtungen (Poezje) als Einführung der polnischen Volkskultur in die polnische nationale Literatur und die gesamte polnische Kultur gilt.12 (S. KrzyĪanowski 1965, 230-231; KapełuĞ 1970, 209-227) In den von Österreich-Ungarn besetzten polnischen Gebieten ging sowohl die Entwicklung der polnischen romantischen nationalen Ideen als auch der Folkloristik aufgrund der dort frühzeitig durchgeführten massiven Germanisierung um einiges langsamer voran. Die Einflüsse
12 Zur Entwicklung und den Meilensteinen der polnischen Folkloristik von 1800-1863 siehe die chronologische, nach Regionen unterteilte Übersicht in KapełuĞ 1970, 494-509.
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aus Warschau und Vilnius drangen nur spärlich über die Grenzen. In Ostgalizien, das heißt vor allem in Lemberg, stagnierte die polnischnationale kulturelle Tätigkeit noch mehr als z.B. in Krakau. Forciert wurden diese Prozesse erst nach dem Novemberaufstand 1831. (KapełuĞ 1970, 299-303) Daher kommt es, dass Wacław Zaleski Anfang der 1830er Jahre, also relativ spät, zu einem der ersten bedeutenden polnischen Folkloristen und Vertreter der romantisch-nationalen Ideologie in Ostgalizien avancierte. (KrzyĪanowski 1965, 457-459; KapełuĞ 1970, 345-354) Seine Bedeutung für die gesamte polnische Fokloristik liegt jedoch darin, dass er außer an Volksdichtungen angelehnte literarische Texte zu verfassen – die es bis zu diesem Zeitpunkt schon in großer Zahl gab – die erste umfassende polnische folkloristische Sammlung veröffentlichte. Allerdings war sie gleichzeitig auch die bis dahin größte veröffentlichte Sammlung ukrainischer Volkslieder und damit ein initiierendes Moment für die ukrainische Folkloristik und das ukrainische romantisch-nationale Bewusstsein.
P ANSLAWISMUS Als besonderes Element kam in Mittel- und Osteuropa in der Zeit der Romantik die sich ebenfalls formierende Idee des Panslawentums hinzu, die von dem kulturellen Phänomen der Slawophilie begleitet wurde. Grundsätzlich auf die Stärkung der Gemeinschaft der slawischen Völker und der slawischen Kultur angelegt, hatte die Idee des Gesamtslawentums überaus heterogene Ausprägungen. Einige, wie der tschechisch-slowakische Dichter und einer der Begründer der Slawistik Pavol Jozef Šafárik (1795-1861), vertraten eine Position der Gleichberechtigung aller slawischen Völker. Einer der wichtigsten Impulsgeber der Idee des Panslavismus, Ján Kollár (1793-1852), hingegen sprach im Rahmen einer slawischen Gemeinschaft nur vier slawischen Sprachgruppen und damit auch Kulturen ein nationales Existenzrecht zu: der russischen, der polnischen, der tschechischen und der serbischen. Alle anderen slawischen Sprachen sollten sich einer dieser vier ›Hauptsprachen‹ angliedern, sich assimilieren oder als einer ihrer Dialekte gelten. (Kozik 1986, 9, 140) Damit drückte Kollár die Haltung vieler politischer und kultureller Vertreter dieser vier großen slawischen Volksgruppen aus. Das Slawentum entwickelte sich von einem integrativen Konzept immer mehr auch zum Vehikel nationaler
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Interessen einzelner slawischer Völker. Neben den großen vier nutzten jedoch auch immer mehr sogenannte ›kleine‹ slawische Kulturen, die sich zunehmend ihrer Ethnizität bewusst wurden und damit einen Anspruch auf den Status einer Nation entwickelten, das Gedankengut und die Rhetorik des Slawentums. Zu diesen ›kleinen Kulturen‹ zählte im 19. Jahrhundert auch die ukrainische Kultur. Zwischen der Idee des Slawentums13, dem Nationalgedanken und der Folklore gab es eine essentielle Verbindung. Da jedes dieser Konzepte sich wesentlich auf dem Gedanken der Authentizität und Wahrhaftigkeit begründete, reicherten sie einander mit diesen Eigenschaften an. Sie bedingten und legitimierten sich gewissermaßen gegenseitig. Je mehr slawische Folklore eine Kultur ausschließlich für sich beanspruchen konnte, desto mehr war ihr Status einer souveränen slawischen Nation berechtigt. Daher verwundert es nicht, dass in Galizien hinsichtlich der dort gesammelten slawischen Folklore eine Konkurrenzsituation entstand zwischen Vertretern der polnischen Nationalkultur und denjenigen einer sich immer mehr formierenden ukrainischen Nationalkultur. Sowohl Zaleski im Vorwort zu seiner Liedersammlung als auch Markijan Šaškevyþ in seiner polemischen Antwort (1836) darauf, auf die ich ebenfalls eingehen möchte, operieren mit dem Begriff des Slawentums, um die Berechtigung der jeweils eigenen Nationalkultur auf das ruthenische Kulturgut zu begründen und diese, zumindest im Falle Šaškevyþs, der Gegenpartei abzusprechen. Daher möchte ich im Zusammenhang mit der polnischen und der ukrainischen Folkloristik ansatzweise die Funktion und die Instrumentalisierung des Begriffs des Slawentums und deren zeitliche Entwicklung nachvollziehen.
13 Für einen allgemeinen Überblick über die Entwicklung der Idee des Slawentums, die Rolle und den Zustand der einzelnen slawischen Völker und die Bedeutung der Folkloristik für das Slawentum in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts siehe Kozik 1986, 3-13. Siehe auch Juzvenko 1961; Juzvenko 1988.
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S LAWENTUM UND V OLKSKULTUR AUS POLNISCHER PERSPEKTIVE In einem zentralen Abschnitt seines Vorwortes zu Polnische und ruthenische Lieder des galizischen Volkes vereint Wacław Zaleski die drei essentiellen Begriffe von Nation, in diesem Fall die polnische Nation, Volksdichtung und Slawentum: [Die Dichtung anderer Nationen ist wie ein Baum, der auf heimatlichem Boden gewachsen ist; es lässt sich zeigen, wie er aus dem heimatlichen Saatkorn entsprungen ist, wie er sich an den Säften der heimatlichen Erde gestärkt, wie er endlich einen Stamm ausgebildet und sich über dem Volk, das ihn gepflegt, in einem weiten Geäst ausgedehnt hat: unsere Dichtung dagegen konnte sich – wie jener Paradiesvogel, über den man sagt, dass er keine Füße hat und ewig in der Luft hängt – nicht auf polnischem Boden niederlassen; sie ist nicht der Seele des Volkes entsprungen, daher konnte sie nicht zu ihm gelangen; das polnische Volk war ihr fremd, und sie ist auch dem polnischen Volk fremd geblieben. Angesichts dieser Überzeugung erschien mir diese meine Sammlung sogenannter Volkslieder als ungeheurer Schatz. Darin offenbarte sich mir ein wahrhaft slawischer Geist, den ihr sicherlich niemand absprechen wird.] »Poezya innych narodów jest jakoby drzewo na rodzinnej zrosłe ziemi; moĪna wykazaü, jak z rodzinnego wykłuło siĊ ziarna, jak rodzinnej ziemi wzmagało siĊ sokami, jak nareszcie w pieĔ wystrzeliło, i nad narodem, który go pielĊgnował, w rozłoĪyste rozciągnĊło siĊ gałĊzie: nasza poezya zaĞ, jakoby ów ptak rajski, o którym powiadają, Īe nóg nie ma, i zawsze w powietrzu wisi, nie mogła siĊ osiąĞü na polskiej ziemi; nie wyszła z ducha narodowego, nie mogła wiĊc przejĞü do niego; naród polski był jej obcym, i ona teĪ narodowi polskiemu obcą została. W tem przekonaniu ów zbiór mój pieĞni tak zwanych gminnych, wydawał mi siĊ nieocenionym skarbem. W nich objawiał mi siĊ duch prawdziwie sławiaĔski, którego im nikt zapewne nie zaprzeczy.« (z Oleska 1833, V-VI)
Zaleski beschwört in diesem Abschnitt die nationale polnische Literatur und beklagt die fehlende Rückgebundenheit an die Volksdichtung, die er bei anderen Völkern als gegeben darstellt. Die Essentialität des Verhältnisses zwischen einem Volk und seiner Dichtung unterstreicht Zaleski dabei mit einer Wachstums- und Baummetapher. Er entwirft
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hinsichtlich der Verwurzelung der polnischen Literatur in der Volkskultur ein Defizit, in dessen Folge ein dringendes Handeln angebracht erscheint: Zaleski selbst möchte diesem Mangel durch seine Sammlung Abhilfe schaffen. Offenbar genügt es allerdings nicht, dass die von ihm gesammelte Folklore im Rahmen der polnischen Nationalkultur erscheint und diese bereichert. Ihr Wert wird um ein vielfaches gesteigert dadurch, dass sie einen »wahrhaft slawischen Geist« (duch prawdziwie sławiaĔski) transportiert. Das Prädikat des Slawischen stellt für ihn eine generelle Rechtfertigung dar, was auch an Zaleskis verteidigender Haltung: »den ihr [der Sammlung] sicherlich niemand absprechen wird« (którego im nikt zapewne nie zaprzeczy), deutlich wird. Über das Slawentum wird das von Zaleski gesammelte Volksgut – das er jedoch explizit im Dienste der polnischen Volkskultur wissen will – an eine ideelle Gemeinschaft anschließbar. Zaleski partizipiert und operiert in seinem Vorwort an wesentlichen Stellen an und mit der Kategorie des Slawischen und nutzt für seine Ausführungen und seine Argumentation ihre stark integrative, authentifizierende und damit in hohem Maße legitimierende Wirkung, um neben allgemeinen Verbrüderungsgesten spezifische Belange und Ansprüche der polnischen Kultur gegenüber anderen slawischen Kulturen – besonders jedoch gegenüber der ruthenischen Kultur – aufzustellen. Zudem rekurriert Zaleski immer wieder auf die ihm zeitgenössischen intellektuell aktiven slawischen Kreise, die stark von der Idee des Gesamtslawentums bestimmt wurden. Er macht sein eigenes Handeln von den Impulsen abhängig, die von diesen Kreisen ausgehen. Als er angefangen habe, die Lieder zu sammeln, hätte er nicht daran gedacht, diese zu veröffentlichen, da auch bei den »slawischen Brüdern« (u pobratymczych Sławian; z Oleska 1833, VIII) noch nichts dergleichen zu verzeichnen gewesen sei. Als nun allerdings allenthalben slawische folkloristische Sammlungen – hier führt Zaleski über eine Seite lang Titel solcher Sammlungen an – herauskamen und die Polen (er benutzt hier das Personalpronomen »wir« (my; ebd., X)) die Einzigen gewesen seien, die keine solche öffentlich gemachte Sammlung besaßen, entschloss er sich, die von ihm gesammelten Lieder herauszugeben. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte das Slawentum für die polnische Kultur aber auch für die polnische Nation unterschiedliche Implikationen, die sich nicht zuletzt wesentlich an die Volkskultur
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knüpften. Kurz nach den Teilungen Polens bot die Gemeinschaft der Slawen eine zur gescheiterten Adelsrepublik alternative Identitätsgrundlage. Auf dieser Basis konnte ein neues, vom zu diesem Zeitpunkt unpopulären Sarmatismus unbelastetes, polnisches Nationsparadigma entwickelt werden. (Rustemeyer 2009, 56, 62, 64, 67) Am Anfang des 19. Jahrhunderts sahen sich die Polen im Wesentlichen als integrativer und gleichberechtigter Teil der Gemeinschaft der Slawen an, zu der explizit auch die russische Kultur gehörte. Die Grundlage für diese demokratische Sichtweise bildete die Idee einer frühgeschichtlichen Urreligion aller Slawen, auf der auch die Arbeit Zorian DołĊga Chodakowskis aufbaut. (Ebd., 62-64)
BÄUERLICHE KULTUR UND DIE POLNISCHE F OLKLORISTIK Parallel mit einer slawischen Identitätsbildung – und im Zuge der allgemeinen europäischen Tendenzen – gewann immer mehr die Einsicht Raum, dass die polnische Nation nicht ausschließlich auf der Kultur des Adels aufbauen konnte. Dadurch gerieten die bäuerliche Kultur und im Besonderen die Volksdichtung mit ihrem historiographischen und poetischen Potential ins Blickfeld der polnischen intellektuellen Eliten. Damit verbunden waren der Wunsch und die Notwendigkeit, in der Bauernschaft der ehemaligen Rzeczpospolita eine substantielle Grundlage der polnischen Nation zu schaffen. Dass es in dieser Hinsicht Schwierigkeiten sowohl bei der Annäherung an die bäuerliche Kultur als auch an das Bewusstsein der Bauern geben würde, ließ der große soziale Abstand zwischen dem Adel der polnisch-litauischen Republik und ihren Bauern vermuten. (Himka 1999, 122-123; Rustemeyer 2009, 67-68) Für die Bauern in Galizien konstituierte sich Zugehörigkeit viel weniger nach ethnischen oder gar nationalen Kriterien als nach sozialen und religiösen. So war z.B. Bildung ein wesentlicher Differenzmarker und ein Grund der Entfremdung zwischen Bauernschaft und Intellektuellen, unabhängig von ihrer deklarierten nationalen Zugehö-
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rigkeit14. (Sosnowska 2008, 29-30) Die Religion war ein anderer starker identitätsstiftender Faktor. In Ostgalizien betrachteten die ruthenischen Bauern unabhängig vom Sprachgebrauch oder der sozialen Stellung jeden als Polen, der den katholischen – im Gegensatz zum griechisch-katholischen – Ritus praktizierte. (Himka 1984, 435) Auch auf der Seite der polnischen Intellektuellen gab es mehr oder weniger Ressentiments gegenüber und Berührungsängste mit den Bauern. Es ergab sich eine Diskrepanz zwischen dem Wunsch, die Volkskultur in die polnische nationale Kultur einzugliedern und die Bauern für die Sache der polnischen Nation zu gewinnen, und der Umsetzung dieser Ziele. So gut wie durchgängig gehörten die polnischen Intellektuellen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – und damit auch die führenden Theoretiker und Praktiker der Ethnographie und Folkloristik – dem Adel an oder waren zumindest durch vielerlei Beziehungen mit diesem verbunden. (Sosnowska 2008, 50) Die Bezeichnung ›chłop‹ (ins Deutsche kann sie mit ›Bauer‹ übersetzt werden), die die Position eines Bauern innerhalb eines feudalen Verhältnisses bezeichnete und noch weit nach der Abschaffung der Leibeigenschaft im allgemeinen polnischen Sprachgebrauch vorkam, trägt einen durchaus pejorativen Charakter. Das sich zunehmend herauskristallisierende ruthenisch-ukrainische Volk wurde von einer konservativen polnischen Mehrheit als eine Nation der »Priester und Bauern« (popy i chłopy; Sosnowska 2008, 49) gesehen und damit ihre Existenzberechtigung angezweifelt.15
14 Wobei in Galizien Bildung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer einen starken polnischen Einfluss mit einschloss. 15 Einen bezeichnenden Beleg für die Assoziation des griechisch-katholischen Glaubens mit der negativ konnotierten Bauernkultur und der polnischen Haltung diesen gegenüber liefern die Aufzeichnungen von Zofia z Fredrów Szeptycka, der Tochter von Aleksander Fredro und Mutter des griechisch-katholischen Metropoliten Roman Andrzej Szeptycki. Einem polnischen Adelsgeschlecht entstammend, konvertierte Szeptycki Ende des 19. Jahrhunderts mit der Unterstützung Roms vom katholischen zum unierten Glauben, um Metropolit zu werden. Seine Mutter war angesichts dieser Pläne ihres Sohnes überaus besorgt. Eine ihrer größten Sorgen war, dass er in diesem neuen Glauben und dem damit verbundenen Wirkungskreis »verbäuerlicht« (miĊdzy nimi on schłopieje! – Unterstreichung von Zofia Szeptycka; Sosnowska 2008, 45-46). Zum Antagonismus zwischen polni-
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In einem bemerkenswert inkonsistenten Verhältnis dazu steht die idealisierende Haltung gegenüber der Volkskultur, die polnische Folkloristen und Ethnographen im Gefolge der allgemein europäischen – einerseits pastoral, andererseits romantisch beeinflussten – und gesamtslawischen Entwicklung proklamierten. Allerdings zeigt sich auch in der Überhöhung der bäuerlichen Kultur die Tendenz zur herablassenden Typisierung. Ihre konstatierte Rückständigkeit wird als Ursprünglichkeit und Authentizität (ebd., 69) und damit unter anderem als eine Art Fundgrube für die polnische Historiographie bewertet. Von den Bauern selbst wird dabei mehr oder weniger abstrahiert. Diese Tendenz lässt sich z.B. in einem Begleitbrief Krystyn Lach Szyrmas an den Redakteur des »Dziennik WileĔski« zu seinem darin 1818 veröffentlichten Artikel Dumki aus dem Liedgut der Dorfbevölkerung Rotrutheniens (Dumki ze Ğpiewów ludu wiejskiego Czerwonej Rusi16) beobachten: [Eine überaus wünschenswerte Sache möge es sein, verehrter Herr Redakteur, wenn man sich aufrichtig bemühen wollte, Volksmärchen und -erzählungen, Aberglauben, Zauber, Weissagungen und Lieder zu sammeln; wenn man unterschiedliche Hochzeits- und Begräbnisbräuche erfassen, kurz gesagt, wenn man all die Erinnerungen der altertümlichen, uns unbekannten Lehre, diese Keimlinge der kindlichen Weisheit und des Wahns unseres Stammes ans Licht bringen würde, diesen wertvollen Nachlass, der aus dunklen vergangenen Jahrhunderten von Urvätern auf Urenkel und von diesen auf uns gekommen ist und von Dörflern, die treuer und beharrlicher auf den Bräuchen ihrer Ahnen bestehen, für uns bewahrt wurde: […] Sie [die altertümlichen Denkmäler – KS] sind die Überreste eines einst prächtigen Gebäudes, das zusammengestürzt ist, uns jedoch möglicherweise noch für den Bau des Nationalen Heiligtums als Eckstein dienlich sein kann. Beugen wir uns also hinab unter die niedrigen Strohdächer, dort ist die greise Volkstümlichkeit zu Gast.] »PoĪyteczną nader był oby rzeczą, MoĞci Redaktorze, gdyby siĊ szczerze chciano zatrudniü zbieraniem gminnych baĞni, powieĞci, przesądów, czarów,
scher Adels- und ruthenischer Bauernkultur im Kontext der polnischen und ruthenisch-ukrainischen Nationsbildung siehe Himka 1999, 122-124. 16 Lach Szyrma stützt sich in seinen Ausführungen auf von Zorian DołĊga Chodakowski gesammeltes Material, das er in seiner Arbeit auch teilweise anführt. (Juzvenko 1961, 34)
76 | K ATHARINA S CHWITIN wróĪb i Ğpiewów; gdyby spisano rozmaite obrzĊdy weselne, pogrzĊbowe, słowem; gdyby wydobyto wszystkie te pamiątki, staroĪytnej, nie znanej nam oĞwiaty, te zarodne pierwiastki mądroĞci dziecinnej oraz obłąkaĔ naszego plemienia, tĊ drogą puĞciznĊ, z ciemnych upłynionych wieków od pradziadów do prawnuków, a od tych do nas kolejno przechodzące, i od wieĞniaków wierniej i uporczywiej za zwyczajami swoich przodków obstających, nam dochowaną: [...] Są one [staroĪytne zabytki – KS] szczątkami gmachu niegdyĞ okazałego, który runął w zwaliskach, ale moĪe nam jeszcze do wzniesienia ĝwiątyni NarodowoĞci za wĊgielny posłuĪyü kamieĔ. ZniĪmy siĊ wiĊc pod niskie strzechy, tam goĞci sĊdziwa narodowoĞü.« (Zitiert nach Juzvenko 1988, 334-335)
Zu dieser Gruppe der Folkloristen gehört auch Wacław Zaleski. Für ihn stellt genauso wie für Szyrma die Volkskultur, und zwar sowohl die polnische als auch die ruthenische, eine wertvolle Ressource für die polnische Nationalkultur dar. Für die Bauern, deren Lieder er gesammelt hat, benutzt er den Begriff »lud« – in dem am Anfang dieses Kapitels angeführten Zitat heißt es besonders affirmativ »nasz lud« (unser Volk) –, womit das ›einfache Volk‹ gemeint ist. Komplementär dazu verwendet Zaleski den Begriff »naród«17, im Sinne des polnischen Volkes als Nation, in deren Hochkultur das von ihm gesammelte folkloristische Material mit einfließen und diese wesentlich bereichern soll (z.B. z Oleska 1833, V-VI).
V EREINNAHMUNG SLAWISCHEN KULTURGUTES FÜR DIE POLNISCHE N ATIONALKULTUR Die Beschäftigung mit der Volkskultur im Rahmen einer polnischen Kulturnation erforderte von den polnischen Folkloristen und Ethnographen eine – je nach Perspektive – Integrations- oder eine Vereinnahmungsanstrengung. In gewissem Ausmaß mussten damit verbunden auch soziale, religiöse oder ethnische Fragen diskutiert werden. Während der Adel der unterschiedlichen Teile Polens im Sinne einer Hochkultur weitgehend polnisch oder polonisiert und damit einherge-
17 Zum Verhältnis der Begriffe ›narodowoĞü‹ und ›ludowoĞü‹ bei den polnischen romantischen Autoren vgl. Brock 1992, 14.
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hend katholisch war, lebten die unteren sozialen Schichten ihre seit Jahrhunderten angestammte meist regional und lokal bestimmte Kultur, sei sie aus heutiger Sicht polnisch, ruthenisch, ukrainisch, litauisch, jüdisch o.ä. Die slawischen Kulturen auf dem Territorium des ehemaligen Polen-Litauen boten sich natürlich ganz besonders für eine Integration in die polnische Kultur und damit die polnische Kulturgeschichte an, zumal eine solche Angliederung von wichtigen Vertretern der panslawischen Bewegung propagiert wurde. Eine ähnliche Position vertritt auch Wacław Zaleski, wenn er in seinem Vorwort schreibt: [In diesem Sinne erscheint mir dieser Ausschluss der Ruthenen aus unserer Literatur für die allgemeine slawische Literatur, die wir stets anstreben müssen, sehr schädlich. Die Slowaken, die Slawen in Schlesien, die Mähren haben sich den Tschechen angeschlossen; wem sollen sich denn die Ruthenen anschließen? Oder sollen wir uns etwa wünschen, dass die Ruthenen ihre eigene Literatur haben? Was wäre denn aus der deutschen Literatur geworden, wenn die einzelnen germanischen Stämme versucht hätten, eine eigene Literatur zu haben? Wer mich in diesem Punkt nicht versteht, dem kann ich nicht helfen, denn es ist mir nicht möglich, mich deutlicher zu erklären.] »W wyĪszych wzglĊdach to wyłączanie Rusinów od naszej literatury zdaje mi siĊ dla ogólnej literatury sławiaĔskiej, do której wiecznie i zawsze dąĪyü powinniĞmy, byü bardzo szkodliwe. Sławaki, Sławianie na ĝląsku, Morawianie, przyłączyli siĊ do Czech; do kogoĪ siĊ mają Rusini przyłączyü? Lub czyli mamy Īyczyü, Īeby Rusini swojĊ własną mieli literaturĊ? CóĪby siĊ było stało z literaturą niemiecką, gdyby szczególne plemiona germaĔskie usiłowały były własną mieü literaturĊ? Kto miĊ w tym punkcie nie zrozumie, temu pomódz nie mogĊ, gdyĪ mi niepodobna jaĞniej siĊ tłómaczyü.« (Z Oleska 1833, XLIII)
Polen schrieb sich – nachdem es sich nach den Teilungen ein Stück weit konsolidiert hatte und nach dem Novemberaufstand 1830/31, vor allem auch in Abgrenzung zum Russischen Reich18 – eine führende Position unter den slawischen Völkern zu. Der Gedanke des Slawentums wurde immer mehr den polnischen Interessen angepasst und untergeordnet, während damit zusammenhängend das polnische ethno-
18 Joachim Lelewel schrieb das Russische Reich – die »Moskowiter« – dezidiert aus der Gemeinschaft der Slawen heraus und siedelte es jenseits der Grenze zu Asien an (Rustemeyer 2009, 65).
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graphische Interesse mit dem Ziel der Eingliederung in eine großpolnische Kulturnation sich zunehmend auf die Slawen auf dem Gebiet des ehemaligen Polen-Litauen einschränkte. (Brock 1992, 14; Rustemeyer 2009, 65-66)
DAS INTEGRATIVE MODELL ZORIAN DOŁĉGA CHODAKOWSKIS Während Wacław Zaleski deutlich als Vertreter einer sich andere slawische Kulturen einverleibenden polnischen Nation auftritt, die sich als ›Überkultur‹ begreift, stellt er sich in seinem Vorwort in die Nachfolge Zorian DołĊga Chodakowskis. Chodakowski, einer der ersten polnischen Folkloristen und Ethnographen, war ein Symbol des polnischen Slawentums, von dem die polnische Folkloristik das ganze 19. Jahrhundert hindurch zehrte. (Brock 1992, 13-16) Seine Reputation trug dazu bei, dass die polnische Folkloristik trotz aller Abgrenzungsbewegungen, Vereinnahmungs- und Führungsansprüche in die slawische Gemeinschaft integriert blieb. (Rustemeyer 2009, 62-64, 66) Er hatte eine große Vorbildfunktion nicht nur innerhalb der polnischen Folkloristik, sondern in der damaligen slawischen intellektuellen Gemeinschaft insgesamt. Auch die ruthenischen Folkloristen eiferten ihm nach. (Kozik 1986, 33-34, 61; Sosnowska 2008, 131) Es ist diese fast schon mythische Reputation Chodakowskis, die Zaleski aufruft und an der er teilhaben möchte, wenn er schreibt: [Irgendwann verbreitete sich tatsächlich die Nachricht, dass Zorian Chodakowski19 an einer Volksliedersammlung in Polen und Kleinrussland arbeitet. Zorian Chodakowski gegenüber, den ich nur von in Krzemieniec gedruckten wissenschaftlichen Abhandlungen kannte, fühlte ich eine wahre Verehrung. Seine Arbeit über das Slawentum vor dem Christentum, voll von tiefen Ideen, verrät genaue Sachkenntnis, eine ungewöhnliche Gabe der Vertiefung der Thematik, endlich Liebe zum Objekt, um das es hier geht, und einen andauernden Umgang damit. Ich habe von seinem Verfahren der Sammlung von Volksliedern gehört, wie er in einem kurzen Schafspelz, mit einem kleinen Bündel auf den Schultern und einer Flasche Schnaps unter dem Arm von Dorf zu Dorf
19 Hervorhebung im Original.
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geht, von Priester zu Priester, von Organist zu Organist, von Diakon zu Diakon, von einer Dorfsängerin zur nächsten, von einem Dudelsackpfeifer oder einem Alten mit Leier zum nächsten, und indem er überall bittet, überredet, bewirtet, eine Melodie andeutet und selbst singt, absorbiert er alles, was das Slawentum angeht. – Das ist die einzige wahrhafte Art und Weise Volkslieder zu sammeln.] »JakoĪ w samej rzeczy rozeszła siĊ wiadomoĞü, Īe Zorian Chodakowski trudni siĊ zbiorem pieĞni ludu w Polszcze i Małej Rossyi. Zorian Chodakowski znany mi tylko z üwiczeĔ naukowych w KrzemieĔcu drukowanych, prawdziwą czcią miĊ ku sobie napełnił. Rozprawa jego o SławiaĔszczyĨnie przed ChrzeĞcijaĔstwem, pełna głĊbokich pomysłów, wykazuje dokładną znajomoĞü rzeczy, niepospolity dar zgłĊbienia onejĪe, nareszcie zamiłowanie przedmiotu o który tu chodzi, i długie z nim obcowanie. Słyszałem o sposobie jego zbierania pieĞni ludu, jak on w krótkim koĪuszku, z małą torbeczką na plecach, i flaszką wódki pod pachą, chodzi od wsi do wsi, od ksiĊdza do ksiĊdza, od organisty do organisty, od diaka do diaka, od jednej baby Ğpiewaczki do drugiej, od jednego dudarza lub dziada z lirą do drugiego, i jak wszĊdzie prosząc, namawiając, czĊstując, przynukĊ dając i sam Ğpiewając wyssysa prawie wszystko, co siĊ SławiaĔszczyzny tycze. – Ten jest jedyny i prawdziwy sposób zbierania pieĞni ludu.« (Z Oleska 1833, X-XI)
Dennoch unterschied sich Chodakowskis Konzeption des Slawentums grundsätzlich von derjenigen Zaleskis. Chodakowski war einer der ersten, der die Idee des Slawentums propagierte und durch seine Person regelrecht verkörperte. In seiner programmatischen Schrift Über das Slawentum vor dem Christentum stellt er die Theorie auf, dass vor der Christianisierung die Slawen ein Gebiet bewohnten, das von der Elbe bis zum Balkan reichte, dabei jedoch eine sprachliche und kultische Einheit bildeten, was sich bis heute in der Toponymik und in den archäologischen Gegebenheiten dieses Gebietes widerspiegle. Das Gebiet sei in genau hundert kultisch-verwaltungsrechtliche Einheiten aufgeteilt gewesen, die miteinander in Kommunikation gestanden hätten und sowohl politisch, als auch rechtlich, kulturell und religiös die gleiche Struktur aufwiesen.20 (Chodakowski 1967, 20-21, 23) Cho-
20 Der Gedanke, die Slawen bildeten eine charakteristische nationale Einheit geht vor allem auf Herder zurück. Er führt ihn insbesondere in dem Kapitel »Slawische Völker« im sechzehnten Buch seiner »Ideen zur Philosophie
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dakowski nimmt an, dass das Volk der Slawen »immer ein ursprüngliches, eigentümliches Volk mit einer einheitlichen Sprache war« (był zawsze ludem pierwotnym, właĞciwym i jednosłownym; Chodakowski 1967, 20). Um seine Theorie zu begründen, spielen für ihn der Raum und dessen kulturelle Einschreibungen eine zentrale Rolle. Es sei vor allem die Interpretation des Raumes, die den Slawen das Bewusstsein ihrer Einheit zurück geben könnte. (Ebd., 22-23). Als das andere unabdingbare Element in der Rekonstruktion der slawischen Geschichte und Identität sieht er die vor allem orale und rituelle Kultur des einfachen Volkes, in der sich die Essenz der alten slawischen vorchristlichen Kultur erhalten habe. (Ebd., 24-27) Wenn Chodakowski davon spricht, dass sich urtümliche kulturelle Elemente bei den Bauern am vollständigsten erhalten haben, benutzt er ähnliche Bilder wie später Lach Szyrma. (Z.B. Chodakowski 1967, 24-25). Allerdings richtet Chodakowski seine Aufmerksamkeit nicht wie Szyrma auf den Nutzen des zu sammelnden folkloristischen Materials für die zukünftige polnische Nation, sondern auf das Material als Indiz der Größe und Einheit der Slawen in der Vergangenheit, die auch auf die Bauern als Träger dieses kulturellen Erbes ausstrahlen. Die Bauern befinden sich zwar sowohl in den Darstellungen Szyrmas als auch Chodakowskis in einem gegenwärtigen Zustand der Verelendung und Rückständigkeit, letzterer betont jedoch viel mehr die Prozesshaftigkeit des folkloristischen Sammelns und die vielfältigen, sowohl körperlichen als auch geistigen Anstrengungen, auf die sich ein Folklorist beim Sammeln einlassen muss. Die Abstraktion von der bäuerlichen Lebenswelt erscheint dadurch geringer als z.B. bei Szyrma, Kołłątaj oder Zaleski. Es entsteht der Effekt eines verringerten sozialen Abstandes zwischen dem adeligen Intellektuellen Chodakowski und den Bauern, folglich einer Nähe zum Objekt und eines authentischen folkloristischen und ethnographischen Zugangs, was ja auch einen großen Teil des Mythos um Zorian DołĊga Chodakowski ausmachte.
der Geschichte der Menschheit«, die er zwischen 1784-1791 verfasste, aus. (Herder 1965, 279-282)
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KULTURELLE ANEIGNUNG ODER KULTURELLE INTEGRATION [In einem Dorf geboren, die ersten Lebensjahre in einsamer Abgeschiedenheit verbringend, liebte ich diese Lieder, die so angenehm meine Kinderzeit gewiegt haben und die ich als erste Motive der sich entwickelnden Empfindungen im frühen Gedächtnis behalten habe. Diese Bindung, mit der Muttermilch aufgesogen, mit der Luft eingeatmet, blieb auch noch später erhalten. Als ich aus Berufung in die Stadt gehen und dort bleiben musste, sehnte ich mich nach dem Dorf, nach dem heimatlichen Gutshof, nach den Linden, unter denen ich als Knabe so frei gespielt. […] Die dadurch ausgelöste Rührung ließ sich nur durch diese in der Kindheit gehörten Lieder lindern. Wer einmal dazu kam, in einem fremden fernen Land plötzlich den Klang eines Volksliedes zu hören, das man vielleicht in der ersten Jugend unter Verwandten und Freunden selbst öfter geträllert hatte und dabei auf seine wehmütigen Gefühle achtete, der wird mich leicht verstehen.] »Urodzony na wsi, trawiąc pierwsze Īycia lata w ustronnem zaciszu, pokochałem te pieĞni, które tak przyjemnie wiek mój dzieciĊcy kołysały, i jako pierwsze pobudki rozwijającego siĊ uczucia w rannej pamiĊci utkwiły. Przywiązanie to wyssane z mlekiem, wciągniĊte z powietrzem, i na dal siĊ utrzymało. Gdy przyszło z powołania udaü siĊ do miasta i tam pozostaü, zatĊskniłem za wsią, za owym rodzinnym dworem, za owemi lipami, pod któremi, bĊdąc chłopcem, tak siĊ swobodnie bawiło. […] NastĊpowało rozrzewnienie, które tylko owe pieĞni w dzieciĔstwie słyszane ukoiü zdołały. Komu siĊ kiedy wydarzyło w obcej, odległej krainie usłyszyü nagle dĨwiĊk narodowej piosneczki, którĊ moĪe w pierwszej młodoĞci Ğród krewnych i przyjaciół i sam nieraz zanócił, jeĪeli zwaĪał na rzewnoĞü uczuü swoich, ten miĊ łatwo pojmie.« (Z Oleska 1833, IV)
Da Wacław Zaleski seine Kindheit in einem ostgalizischen Dorf auf dem Anwesen seiner Familie verbrachte, dürften die Lieder, auf die er sich hier bezieht, mehrheitlich ruthenisch gewesen sein. Zaleski suggeriert eine tiefe emotionale Verbundenheit, sowohl zum Ort seiner Kindheit als auch zu den Volksliedern, die diese Landschaft kennzeichnen. Sie werden als etwas Ureigenes markiert. Es wird keinerlei mögliche Differenz, weder sozial noch ethnisch, zwischen der eigenen Position und den Liedern der Kindheit reflektiert. Die Differenzierung findet vielmehr auf der Metaebene des Textes statt: Zum einen ge-
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schieht die Vereinnahmung der ruthenischen Volkslieder in polnischer Sprache, zum anderen wird das orale Medium des Volksliedes innerhalb eines schriftlichen Textes verhandelt21, was wiederum die soziale Differenz zwischen dem Verfasser des Textes und den originären Trägern dieser Volkstradition aufzeigt. Diese grundlegende Tendenz, unterschiedliche ethnische Kulturen mehr oder weniger selbstverständlich unter der polnischen Hochkultur zu subsumieren, lässt sich in der polnischen Ethnographie seit ihren Anfängen beobachten, unter anderem in Hugo Kołłątajs Brief aus dem Jahre 1802 an Jan Maj, einen Krakauer Publizisten. Kołłątaj ruft darin dazu auf, eine umfassende Geschichte Polens auf der Grundlage folkloristischer und ethnographischer Erkenntnisse zu schreiben, um dem als Nation untergegangenen, als Kultur jedoch bewahrenswerten Polen zu neuem Ruhm zu verhelfen. (Witkowska 1972, 7) Er entwirft ein detailliertes und umfassendes Programm bezüglich der einzelnen Erscheinungen, die einen Folkloristen und Ethnographen interessieren sollten: [Wenn wir demnach in unseren Bräuchen Kenntnis über unsere anfänglichen Traditionen und Ähnlichkeiten zu Urvölkern suchen wollen, müssen wir die gemeinschaftlichen Bräuche in allen Provinzen, Wojewodschaften und Landkreisen in Erfahrung bringen. Insbesondere jedoch 1) die Unterschiede in ihren Sprachen oder in den Mundarten einer Sprache; 2) Unterschiede in ihrer Kleidung, nicht nur was den Schnitt angeht, sondern sogar was die Farbe anbelangt, keinerlei Art ihrer Kleidung weglassend; 3) jeden ihrer Bräuche bei Hochzeiten, Geburtstagen, Begräbnissen gut untersuchend; […] 11) über einzelne Krankheiten und über die Art der Behandlung von Kranken in der Gemeinschaft.] »Chcąc atoli szukaü w obyczajach naszych wiadomoĞci o tradycjach początkowych, i podobieĔstwa do dawnych ludów, trzeba nam poznaü obyczaje pospólstwa we wszystkich prowincjach, województwach i powiatach. Osobliwie zaĞ:
21 Auf der Ebene des Textes selbst wird die Einverleibung des ruthenischen oralen Kulturgutes in die polnische Schriftkultur evident, wenn Zaleski am Ende seines Vorwortes ein ruthenisches Liebeslied aus seiner Sammlung beschreibt und zitiert und daraufhin ausruft »Ist denn dieser Einfall nicht des Genius eines Mickiewicz wert?« (CzyliĪ ten pomysł niewart geniuszu Mickiewicza?; z Oleska 1833, LIII).
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1) róĪnicĊ w ich mowie, albo w dialektach jednej mowy; 2) róĪnicĊ w ubiorze nie tylko co do kroju, ale nawet co do koloru, Īadnego gatunku ich okrycia nie opuszczając; 3) kaĪdy ich obrządek przy godach weselnych, przy urodzinach, przy pogrzebach, dobrze roztrząsnąü; […] 11) o chorobach szczególnych i o sposobie ratowania chorych miĊdzy pospólstwem.« (Zitiert nach Juzvenko 1988, 333)
Wie man sehen kann, spielt für Kołłątaj genauso wie für Zaleski die räumliche Komponente eine Rolle. Während allerdings Zaleski seine persönliche Beziehung zu einem bestimmten Raum zum Anlass nimmt, um über die typischen volkskulturellen Erscheinungen dieses Raumes zu sprechen und diese letztendlich als Folklorist im Sinne der polnischen Kulturnation und des Slawentums zu erfassen, hat Kołłątaj ein umfassendes Interesse an einem in seinem Verständnis ehemaligen nationalen kulturellen Raum Polens, dessen unterschiedliche folkloristische Kennzeichen akribisch gesammelt werden sollen. Kołłątaj indiziert in seinem Brief eine Kartierung des ehemaligen Gebietes PolenLitauens unter den Vorzeichen der Folkloristik und der Ethnographie mit dem Ziel einer erschöpfenden Kulturgeschichte der polnischen Nation.22 Dabei ist er sich durchaus der Unterschiede bewusst, die die einzelnen erfassten Identitätsgruppen aufweisen können, bis hin zu unterschiedlichen Sprachen. Kołłątaj scheint allerdings nicht daran zu zweifeln, dass all diese Gruppen mit unterschiedlichen Bräuchen, Traditionen und zuweilen Idiomen unter der polnischen Kulturnation zusammenzufassen sind. Darin folgt er der bis in das 20. Jahrhundert er-
22 Wie signifikant der räumliche Aspekt und das Territorium der Polnischen Republik unter Einschluss aller darauf lebenden Ethnien für das polnische nationale Selbstverständnis nach den Teilungen und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war, zeigt Serhiy Bilenky: »In general the Polish vision of Ukrainian geography (in both fictional and nonfictional sources) could be called ›geographical legitimism‹, since the historical/natural borders of the Polish-Lithuanian Commonwealth defined the geographical boundaries of modern Polishness. In this sense, the idea of the Polish nationality was constructed out of the mental geography of pre-partitioned Poland. It is surprising how little the romantic notions of nationality changed the largely traditional vision of Polish geography. Put another way, geography for Poles mattered much more than ethnography«. (Bilenky 2008, 86-87)
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innerten Tradition des Vielvölkerstaates (Rzeczpospolita Wielu Narodów), den die polnische Republik vor den Teilungen darstellte und der im polnischen kollektiven Gedächtnis vor allem durch den produktiven Austausch und die Symbiose der einzelnen Ethnien gekennzeichnet war. (Sosnowska 2008, 35)
UKRAINISCHE UND POLNISCHE NATIONSBILDUNG IN OSTGALIZIEN Tatsächlich war die nationale Orientierung des Großteils der ruthenischen Bevölkerung der Westukraine bis in die 1860er Jahre hinein und vielfach auch noch später nicht so selbstevident, wie es aus heutiger Sicht möglicherweise erscheinen möchte. Allein schon in Galizien war die Lage der nationalen Identifikation der Ruthenen so komplex, dass John-Paul Himka fünf mögliche unterschiedliche nationale Selbstzuschreibungen ausmachen kann, die die galizischen Ruthenen bis in die 1860er Jahre mit hoher Wahrscheinlichkeit hätten annehmen können: Ukrainisch, Polnisch, Russisch, Russinisch und eine, die die ukrainische und die belarussische Ethnien umfasst hätte. (Himka 1999) Demnach waren die nationalen Differenzmarker der ruthenischen Kultur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weit davon entfernt, eindeutig zu sein. Als Folge dürften diese auch für benachbarte, möglicherweise konkurrierende oder hegemonial orientierte nationale Kulturen nicht klar zu bestimmen gewesen sein.23 Tatsächlich schätzen sowohl Himka als auch Sosnowska die Bedingungen für die Entstehung einer ruthenisch-ukrainischen Nation in Galizien für schlecht ein. (Sosnowska 2008, 19-36) Diese Ambivalenzen dürften kulturelle Vereinnahmungs- oder Integrationsbestrebungen, wie sie die polnische nationale Kultur gegenüber der ruthenisch-ukrainischen Kultur zeigte, wesentlich unterstützt haben. Es gab allerdings in der polnischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts auch die Tendenz, nationale Differenzmarker der ruthenischen Kultur, die sie als der polnischen Nation nicht zugehörig auswiesen, bewusst zu verwischen. (Sosnowska 2008, 35)
23 Zur Verunsicherung angesichts der ruthenisch-ukrainischen nationalen Aspirationen auf polnischer Seite vgl. Sosnowska 2008, 24.
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Danuta Sosnowska geht der Frage nach, ob die Annahme, dass polnische Intellektuelle vor dem Völkerfrühling 1848 von der ruthenisch-ukrainischen nationalen Entwicklung nicht gewusst haben können und von dieser vollkommen überrascht wurden – wie sie bis heute ihrer Meinung nach unter den polnischen Historikern vorzuherrschen scheint – tatsächlich so stimmen kann. Sie kommt zu dem Schluss, dass dies höchstens bis in die 1820er Jahre der Fall gewesen sein kann, da bis zu dieser Zeit die Polonisierung der ruthenischen Eliten so gut wie umfassend war. Ab den 1830er Jahren jedoch begann es immer mehr öffentlich geäußerte ruthenische nationale Aspirationen und ebensolche Kritik am polnischen Umgang mit der sich neu formierenden ruthenischen Nationalkultur – beides in polnischer Sprache zugänglich – zu geben, so dass eine vollkommene polnische Ignoranz in dieser Hinsicht nicht möglich gewesen sein kann. Eine andere Sache sei es jedoch, dass dieses Thema für die meisten national orientierten Polen, die die Restauration der Rzeczpospolita anstrebten, hoch emotional besetzt gewesen sei, sodass ein sachlicher und konstruktiver Umgang damit so gut wie unmöglich schien. Über die publik geäußerten ruthenischen nationalen Ansprüche wurde in der polnischen Öffentlichkeit weitestgehend geschwiegen. Dadurch wurden diese aus dem polnischen öffentlichen Bewusstsein herausgehalten. (Sosnowska 2008, 58-64) Dafür ist symptomatisch, dass im Rahmen des sogenannten ›Ersten Alphabetkrieges‹24 in Galizien der Redakteur der überaus populären Beilage der »Gazeta Lwowska« »RozmaitoĞci« Mikołaj Michalewicz entlassen wurde. Er war ein polonisierter, jedoch an der ruthenischen Frage und Kultur interessierter Ruthene und ließ im Rahmen dieser Debatte Beiträge abdrucken, die der polnisch-nationalen Position nicht immer entsprachen. (Sosnowska 2008, 48) Trotz der scheinbaren Sicherheit, mit der Zaleski in seinem Vorwort zu Polnische und ruthenische Lieder die ruthenischen Volkslieder der polnischen Nationalkultur einverleibt, lassen sich auch bei ihm Unsicherheiten beobachten, was diese Vereinnahmung angeht. Diese kommen allein schon darin zum Ausdruck, dass er die Notwendigkeit sieht, den polnischen Anspruch auf dieses Material einerseits und seine methodische Vorgehensweise hinsichtlich der gemeinsamen Publikati-
24 Weiter im Text ausführlicher behandelt.
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on polnischer und ruthenischer Volkslieder andererseits erklären zu müssen: [Ich widerspreche dem nicht, dass es besser wäre, wenn wir jeweils eine gesonderte genaue Sammlung polnischer und ruthenischer Lieder hätten; in diesem Fall müsste man jedoch diese Lieder auf dem Gebiet ganz Polens und der ganzen Rus sammeln. Das eine oder das andere zu realisieren, scheint mir angesichts der gegenwärtigen politischen Verhältnisse für einen einzelnen Menschen unmöglich. Zu solchen Sammlungen können wir nur in Teilen gelangen. Ich habe mir vorgenommen, Lieder des galizischen Volkes zu sammeln und herauszubringen; da Galizien jedoch von Polen und Ruthenen bewohnt ist, habe ich polnische und ruthenische Lieder gesammelt und gebe sie heraus. Zusammen herausgegeben habe ich sie aus dem Grund, dass die Sammlung der einen als auch der anderen einzeln publiziert zu dünn gewesen wäre. Gemischt habe ich sie, weil in Galizien das polnische und das ruthenische Volk ebenfalls gemischt leben. Sie scharf zu trennen, kam mir nicht nötig vor, wenn sowieso das eine neben das andere gelegt sich besser in seinem Charakter widerspiegelt. Ich denke nicht, dass ich dadurch die nachfolgende Sammlung für die Polen und für die Ruthenen weniger brauchbar gemacht habe; ich denke im Gegenteil, dass sie gerade dadurch sowohl für die einen als auch für die anderen nützlicher ist. Jeder Ruthene wird die polnischen Lieder verstehen und ein Pole die ruthenischen, wenn er nur will und sich ein bisschen bemüht. Nicht zuletzt besingen die ruthenischen historischen Lieder Vorkommnisse aus der polnischen Geschichte; auch deshalb gehören sie in diese Sammlung.] »Nie przeczĊ ja temu, Īeby było lepiej, gdybyĞmy mieli osobny dokładny zbiór pieĞni polskich, a osobny ruskich; lecz w takim razie trzebaby zbieraü te pieĞni po całej Polszcze i po całej Rusi. Uskuteczniü jedno lub drugie zdaje mi siĊ przy teraĨniejszych politycznych stosunkach byü rzeczą niepodobną dla jednego człowieka. CzĊĞciowo tylko do podobnych zbiorów przyjĞü moĪemy. Ja sobie przedsiĊwziąłem zebraü i wydaü pieĞni ludu galicyjskiego; Īe zaĞ Galicya zamieszkała jest przez lud polski i ruski, zebrałem wiĊc i wydajĊ pieĞni polskie i ruskie. ĩem je razem wydał, uczyniłem to z tej przyczyny, iĪ zbiór tak jednych jak drugich osobno wydany byłby za nadto szczupły. Pomieszałem je, gdyĪ i w Galicyi lud polski i ruski pomieszany mieszka. Ostro je rozdzieliü nie zdawało mi siĊ byü rzeczą potrzebną, gdy i owszem jedne obok drugich połoĪone w swoich charakterach lepiej siĊ odbijają. Nie sądzĊ ja, Īebym przez to zbiór niniejszy i dla Polaków i dla Rusinów mniej przydatnym uczynił; myĞlĊ owszem, Īe siĊ tem samem staje i dla jednych i dla drugich wiĊcej uĪytecznym.
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KaĪdy Rusin zrozumie pieĞni polskie, a i Polak zrozumie ruskie, jeĪeli tylko zechce, i jakiegokolwiek do tego przyłoĪy starania. Nareszcie historyczne pieĞni ruskie opiewają dzieje z historyi polskiej; i pod tym wiĊc wzglĊdem do tego zbioru naleĪą.« (Z Oleska 1833, XLII-XLIII)
Zaleski scheint Polen und Ruthenen durchaus differenziert zu betrachten. Andererseits entsteht der Eindruck, als möchte er die Differenz zwischen der ruthenischen und der polnischen Bevölkerung Galiziens verschleiern, aus der allgemeinen Wahrnehmung entfernen, indem er das ruthenische Kulturgut einer allgemein galizischen Bevölkerung zuschreibt, die wiederum Teil der größeren Einheit der polnischen Kulturnation ist. Zaleski vermeidet an Stellen, an denen es nicht explizit um ethnische Zugehörigkeit des folkloristischen Materials und seiner Träger geht, den Gebrauch der Ethnonyme »ruthenisch« und »polnisch«. In diesen Fällen spricht er von dem »galizischen Volk« (lud galicyjski; z.B. z Oleska 1833, XI) oder »unserem Volk« (nasz lud; z.B. z Oleska 1833, XXIX). Wenn er jedoch von dem polnischen Volk als Nation spricht, verwendet er durchweg den Ausdruck »polnisches Volk« (naród polski) im Sinne von Nation (z.B. z Oleska 1833, V-VI). Eine Unterscheidung zwischen der polnischen und der ruthenischen Bevölkerung Galiziens trifft Zaleski allerdings, wenn er davon spricht, dass er in Galizien, einschließlich Westgaliziens viel mehr ruthenische als polnische Volkslieder gefunden habe. Damit nimmt er die homogenisierende Bewegung, die gesamte galizische Bevölkerung unter der polnischen Nationalkultur einordnen zu wollen, teilweise zurück. In diesem Zusammenhang benutzt er die Ausdrücke »lud polski« und »lud ruski« und widmet dem Erklärungsversuch und der Kategorisierung dieser Tatsache mehrere Seiten25 (z Oleska 1833, XXXIVXLI). Die Vereinnahmungsbewegung hinsichtlich der ruthenischen Kultur für die polnische Nationalkultur einerseits und der Versuch, die ruthenische Bevölkerung für die polnisch-nationale Sache und Kulturnation andererseits zu gewinnen, führten allerdings ungewollt dazu, dass gerade Polen den Grundstein für die ruthenisch-ukrainische Folkloris-
25 Auch Zorian DołĊga Chodakowski bedauert, dass er auf polnischem Gebiet viel weniger folkloristisches Material findet als auf ruthenischem. (Chodakowski 1967, 197)
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tik legten26 und dass bei den Ruthenen Galiziens sich ein Bewusstsein für ihre von Polen unabhängige Nationalität einstellte. (Himka 1999, 111-112; Kozik 29-30, 37) Angesichts der umfassenden Polonisierung der ruthenischen Eliten bis in die 1820er Jahre hinein ist es nicht verwunderlich, dass die meisten von ihnen an der Seite der Polen für einen unabhängigen polnischen Staat kämpften. Viele Ruthenen waren in dieser Zeit Mitglieder in studentischen polnisch-nationalen Geheimzirkeln. Sogar die Studenten der griechisch-katholischen Priesterseminare in Lemberg waren begeisterte Vertreter der polnisch-nationalen Sache.27 In diesem Umfeld kamen die Ruthenen mit der Idee von Nationalität erstmals in Berührung und entwickelten ab den 1830er Jahren das Konzept einer unabhängigen ruthenisch-ukrainischen Nation. (Himka 1984, 436-437; Himka 1999, 121; Kozik 1986, XIV, 37-40, 43-46) Die Mitglieder der Ruthenischen Triade und der ihr angeschlossene Kreis von Anhängern verdanken ihre kulturelle, darunter auch slawisch orientierte Formierung in starkem Maße ihrer polnisch dominierten Umgebung. (Kozik 1986, 29-31, 33, 132-133) Was die folkloristische Tätigkeit angeht, arbeiteten Ruthenen und Polen auch hier intensiv zusammen. Der Kreis um die Ruthenische Triade, an dieser Stelle ist insbesondere Hryhorij Il’kevyþ zu erwähnen, steuerte eigenes
26 Diese Rolle wird Zaleski unter anderem von Ivan Franko zugesprochen. (Borodin 2005, 123) 27 In das Bild der polnischen nationalen Bewegung als unfreiwilligem Wegbereiter der ukrainischen Nation passt auch, dass die ersten theoretischen und politischen Texte in ruthenisch-ukrainischer Sprache in Galizien von Polen und polonisierten Ruthenen geschrieben wurden, die die ruthenischen Bauern für die polnisch-nationale Bewegung gewinnen wollten. Einer ihrer wichtigsten Vertreter war Kaspar CiĊgliewicz, ein polonophiler Ruthene, der vehement die unter seinen polnischen Zeitgenossen übliche Meinung vertrat, das Ruthenische sei ein Dialekt des Polnischen und damit ungeeignet, als Grundlage einer selbstständigen Schriftsprache zu dienen. (Himka 1999, 114-115, 122; Moser 2003, 312-313, 316) Und dennoch haben er und einige seiner Mitstreiter agitative Texte geschrieben, die zum ersten Mal nicht auf der Grundlage des Kirchenslawischen, Russischen oder Polnischen verfasst wurden, sondern die Lexik und Grammatik westukrainischer Dialekte in der Manifestation ihrer Volkslieder akkurat widerspiegelten. (Kozik 1986, 40-42; Moser 2003, 318-320, 330, 335)
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gesammeltes ruthenisches Liedmaterial für die Sammlung Wacław Zaleskis bei, das er mit ihrer Zustimmung unter eigenem Namen veröffentlichte. (Kozik 1986, 61, 74) Es war eher möglich, das gesammelte Material im Rahmen der sich – im Gegenteil zur ukrainischen – schon lange formierten polnischen Hochkultur, die mit einem entsprechenden kulturellen polnischen Selbstverständnis einherging, zu veröffentlichen. Dass diese Möglichkeit allerdings auch mit einer vereinnahmenden polnisch-nationalen Perspektive auf die gesammelten ruthenischen Volkslieder einherging, wurde den ruthenischen nationalen Aktivisten offenbar erst im Nachhinein klar. Später, als sich die Fronten geklärt und vielfach verhärtet hatten, gab es von der ruthenischen Seite oftmals die Beschuldigung der unberechtigten kulturellen Usurpation durch die polnische Kultur, die in den 1830er Jahren allerdings so oft nicht wahrgenommen wurde. Dies lässt sich z.B. am Fall von ĩegota Pauli nachvollziehen, der 1837 eine folkloristische Liedersammlung unter dem Titel Lieder des polnischen Volkes in Galizien (PieĞni ludu polskiego w Galicji)28 herausgab, um zwei Jahre später (1839-40) zwei Bände Lieder des ruthenischen Volkes in Galizien (PieĞni ludu ruskiego w Galicji) zu publizieren. Er scheint eng mit dem Kreis um die Ruthenische Triade verbunden gewesen zu sein. Mit Jakiv Holovac’kyj war er zumindest gut bekannt, während er mit Šaškevyþ sogar befreundet gewesen sein dürfte. In seiner zweiten Publikation verwandte Pauli Material aus mehreren ruthenischen folkloristischen Manuskripten, darunter auch von Holovac’kyj und Šaškevyþ. Während die Ruthenen jedoch in den 1830er Jahren Pauli freien Zugang zu ihren Sammlungen gewährt haben, bezichtigte ihn Holovac’kyj in seinen späten Memoiren, sich unter Vorspiegelung einer »slawischen Einstellung« (»er benahm sich wie ein Slawe«) in ihr Vertrauen geschlichen und das Material gegen ihren Willen unter eigenem Namen veröffentlicht zu haben. (Juzvenko 1961, 63-65; Kozik 1986, 74, 134-135)
28 Allerdings enthalten sowohl die von Pauli in diesem Band vorgestellten Lieder als auch seine Kommentare dazu sehr viele Ukrainismen. Vgl. Pauli 1973.
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FRAGEN DER NOTATION – LATEINISCH ODER KYRILLISCH In seinem Vorwort spricht Zaleski auch eine Problematik an, von der er im Zusammenhang mit der Publikation seiner Sammlung unmittelbar betroffen ist: die Frage der Verschriftlichung der bis dahin in weiten Teilen nur in mündlich-dialektaler Form vorkommenden ruthenisch-ukrainischen Sprache: […] an welche Prinzipien soll man sich jedoch halten in der schriftlichen Gliederung der Lieder, die niemals verschriftlicht waren? Eine andere nicht weniger kleine Schwierigkeit ist, wie man diese ruthenischen Lieder aus dem Mund des einfachen Volkes schreiben soll, wenn dieses keine eigene Grammatik hat und in dessen Sprache nur eine Fibel und diese nicht einmal vollständig in seinem eigenen Dialekt gedruckt ist?] »[…] lecz jakichĪe trzymaü siĊ zasad w piĞmiennym podziale pieĞni, które nigdy napisane nie były? Druga niemniejsza trudnoĞü, jak pisaü te pieĞni ruskie, brane z ust ludu, który nie ma własnej grammatyki, i w którego jĊzyku ledwie jeden elementarz, i to nie zupełnie w jego dyalekcie, jest drukowany?« (Z Oleska 1833, XII-XIII)
Diese Fragen stellten sich in der slawischen Gemeinschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts viele Kulturschaffende – und bei weitem nicht nur national bewusste Ruthenen. Unterschiedliche Personen und Interessengruppen beschäftigten sich damit unter unterschiedlichen Vorzeichen. Polnisch-national orientierte Intellektuelle wie Zaleski strebten deren Lösung nicht mit dem Ziel an, eine eigenständige ukrainische Schriftsprache zu entwickeln, sondern um das vorliegende ruthenische Material zu erfassen und dieses der polnischen Nationalkultur einzuverleiben. Demgegenüber wollten ruthenisch-nationale Grammatiker, Folkloristen und Literaten wie Josyp Levyc’kyj, Josyp Lozyns’kyj, der Kreis um die Ruthenische Triade, unterstützt von einigen Mitgliedern der slawischen Gemeinschaft, einer sich formierenden ukrainischen Nation ihre eigene Schriftkultur geben. Darüber hinaus war die Frage der Verschriftlichung zahlreicher bis dahin nur mündlich existierender slawischer Idiome hoch aktuell im gesamten Mittel- und Osteuropa.
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Für die erstere Gruppe gab es keinen Zweifel daran, dass die Kodierung des Ruthenischen in lateinischen Schriftzeichen erfolgen sollte, während es unter den Befürwortern einer eigenständigen ruthenisch-ukrainischen Nation umfassende Debatten darüber gab, ob für die Verschriftlichung das lateinische oder das kyrillische Alphabet zu verwenden sei.29 Da allerdings sowohl die einen als auch die anderen bis in die 1840er Jahre hinein denselben intellektuellen Kreisen angehörten, sich meist persönlich kannten und oft schätzten, gab es auch hier einen gewissen Austausch und Überschneidungen. Wacław Zaleski gab mit seiner Liedersammlung den Anlass zur ersten dieser großen Diskussionen in der Westukraine, die unter dem Namen des ›Ersten Alphabetkrieges‹30 bekannt ist und die schließlich dazu führte, dass sich Ruthenen intensiv und differenziert mit der Frage der Notation des Ruthenisch-Ukrainischen auseinander setzen und Entscheidungen in dieser Hinsicht treffen mussten, die schließlich den Ausschlag für das Kyrillische gaben. Dies kann jedoch kaum die Absicht Wacław Zaleskis gewesen sein, als er in seinem Vorwort schrieb: [In der Hinsicht, dass ich dafür [die Verschriftlichung der ruthenischen Volkslieder – KS] die polnische und nicht die glagolitische oder die kyrillische Schreibweise benutzt habe, wird mich sicherlich jeder loben. Es wird sicher die Zeit kommen, wenn alle slawischen Völker diese alten Schreibweisen, die der Einverleibung der slawischen Literatur in die allgemeine Masse der europäischen Literatur im Wege stehen, ablegen.] »ĩem do tego uĪył charakterów polskich, nie głagolickich albo kirylickich, kaĪdy mi zapewne pochwali. Przyjdzie zapewne czas, Īe wszystkie narody sławiaĔskie porzucą te stare charaktery, które wcieleniu literatury sławiaĔskiej do ogólnej massy literatury europejskiej głównie stają na przeszkodzie.« (Z Oleska 1833, XLIX)
29 Der Bruder von Jakiv Holovac’kyj, Ivan Holovac’kyj z.B. sprach sich im Jahre 1840 für die Kodierung durch das lateinische Alphabet aus, während er schon 1845 das kyrillische Alphabet für die Kodierung des Ruthenischen bevorzugte. (Sosnowska 2008, 56-57) 30 Zum genauen Ablauf des ›Ersten Alphabetkriegs‹, seiner Bedeutung und seinen Konsequenzen siehe Moser 2003, 322-324; Mozer 2008, 322-323; Sosnowska 2008, 56-58. Zur allgemeinen sprachlichen Situation in Galizien siehe Mozer 2008.
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Und wieder ist es das Slawentum, das Zaleski vor allem am Herzen liegt, wenn er die polnische Schreibweise für die ruthenischen Volkslieder verwendet. In der Nachfolge Zaleskis – nachdem sein folkloristischer Versuch in den slawischen Kreisen positiv aufgenommen wurde – entschied sich auch der Ruthene und Befürworter einer eigenständigen ruthenischen Identität Josyp Lozyns’kyj31 (1807-1889), für die Kodierung des Ruthenischen das lateinische Alphabet in seiner polnischen Ausprägung zu verwenden. Daraufhin veröffentlichte er im Jahr 1834 in den »RozmaitoĞci« den Artikel Über die Einführung des polnischen Alphabets in das ruthenische Schrifttum (O wprowadzeniu abecadła polskiego do piĞmiennictwa ruskiego) und löste damit eine öffentliche Debatte aus. Zudem publizierte Lozyns’kyj 1835 eine folkloristische Studie zu ruthenischen Hochzeitsbräuchen unter dem Titel Ruthenische Hochzeit, beschrieben von J. ŁoziĔski (Ruskoje wesile, opysanoje czerez J. ŁoziĔskoho; ŁoziĔski 1835) unter Beibehaltung der ruthenischen Sprechweise, aber gleichzeitiger Verwendung des lateinischen Alphabets und der polnischen Orthographie, während er Anfang 1834 noch vorhatte, den gleichen Text in Kyrillisch herauszugeben. Vor allem Markijan Šaškevyþ griff sowohl Lozyns’kyj als auch Zaleski heftig an. 1836 verfasste er als Antwort auf Lozyns’kyjs Vorstoß eine Broschüre unter dem Titel Azbuka und abecadło. Beobachtungen zu der Abhandlung ›Über die Einführung des polnischen Alphabets in das ruthenische Schrifttum‹, geschrieben von Pater J. ŁoziĔski, erschienen in den Lemberger »RozmaitoĞci« vom Jahr 1834, Nr. 29 (Ⱥɡɛɭɤɚ i abecadło. Uwagi nad rozprawą ›O wprowadzeniu abecadła polskiego do piĞmiennictwa ruskiego‹, napisaną przez ks. J. ŁoziĔskiego, umieszczoną w »RozmaitoĞciach« Lwowskich z roku 1834, N-ro 29; Šaškevyþ 1982a, 112-118).32 Šaškevyþ polemisiert darin unter anderem mit Zaleski, in dessen Nachfolge Lozyns’kyj ja
31 Josyp Lozyns’kyj war griechisch-katholischer Priester, ukrainischer Folklorist und Grammatiker in Galizien. 1846 veröffentlichte er in polnischer Sprache unter dem Titel Grammatik der ruthenischen Sprache (Grammatyka jĊzyka ruskiego) eine der ersten Grammatiken des Ruthenischen. Siehe Kozik 1986, 85-91. 32 Šaškevyþ kritisierte in einer Rezension auch Lozyns’kys Ruskoje wesile. Siehe Šaškevyþ 1982b, 118-121.
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steht.33 Dabei setzt er bewusst den Begriff des Slawentums ein, um wiederum eigene – ukrainisch-nationale – Interessen zu vertreten. Es entsteht der Eindruck, als würde Šaškevyþ mit Zaleski darum streiten, wer von beiden – als Vertreter ihrer Nation – der bessere Slave sei, wobei er Zaleskis eigene Bilder verwendet. In der folgenden Passage bezieht sich Šaškevyþ auf den Absatz in Zaleskis Vorwort, den ich weiter oben in meinem Text zitiere (vgl. Zaleski 1833, V-VI) in dem Sinne, dass jemand, der selbst keine volkstümliche Dichtung vorzuweisen habe – wie Zaleski das für die polnische Literatur beklagt –, sich Westeuropa anbiedere und dabei die eigenen slawischen Wurzeln vergesse, keine Autorität für ihn sei: […] die Literatur welchen Volkes auch immer ist das Abbild seines Lebens, seiner Denkweise, seiner Seele; folglich muss sie aus dem eigenen Volke keimen und wachsen und blühen auf dem gleichen Felde, damit sie nicht so ist, wie der Paradiesvogel, über den man erzählt, dass er keine Füße hat und deshalb ständig in der Luft hängt. Die Literatur ist ein ständiges Bedürfnis dieses Volkes. Ihr hauptsächliches Ziel und ihre Aufgabe ist es, Bildung im gesamten Volke bis hin zu jedem seiner Vertreter zu verbreiten. Wenn wir folglich in die slawische Literatur fremde Ausdrücke und eine fremde Art der Aussprache einführen […], dann werden wir in einen Körper, der bereits eine Seele hat, mit einer anderen, fremden Seele, die das Volk nicht annehmen wird, vorstoßen. Auf diese Weise wird die Literatur nur einigen sogenannten europäischen Literaten gehören, wodurch sie wiederum ihr hauptsächliches Ziel verfehlen wird.] »[...] ɥɿɬɟɪɚɬɭɪɚ ɛɭɞɶɹɤɨɝɨ ɧɚɪɨɞɭ ɽ ɜɿɞɨɛɪɚɠɟɧɧɹɦ ɣɨɝɨ ɠɢɬɬɹ, ɣɨɝɨ ɫɩɨɫɨɛɭ ɦɢɫɥɟɧɧɹ, ɣɨɝɨ ɞɭɲɿ; ɨɬɠɟ, ɩɨɜɢɧɧɚ ɜɨɧɚ ɡɚɪɨɞɢɬɢɫɶ, ɜɢɪɨɫɬɢ ɡ ɜɥɚɫɧɨɝɨ ɧɚɪɨɞɭ ɿ ɡɚɰɜɿɫɬɢ ɧɚ ɬɿɣ ɠɟ ɫɚɦɿɣ ɧɢɜɿ, ɳɨɛ ɧɟ ɛɭɥɚ ɩɨɞɿɛɧɚ ɞɨ ɬɨɝɨ ɪɚɣɫɶɤɨɝɨ ɩɬɚɯɚ, ɩɪɨ ɹɤɨɝɨ ɪɨɡɩɨɜɿɞɚɸɬɶ, ɳɨ ɜɿɧ ɧɟ ɦɚɽ ɧɿɝ, ɚ ɬɨɦɭ ɩɨɫɬɿɣɧɨ ɜɢɫɢɬɶ ɭ ɩɨɜɿɬɪɿ. Ʌɿɬɟɪɚɬɭɪɚ ɽ ɩɨɫɬɿɣɧɨɸ ɩɨɬɪɟɛɨɸ ɭɫɶɨɝɨ ɧɚɪɨɞɭ. Ɉɫɧɨɜɧɚ ɦɟɬɚ ʀʀ ɿ ɡɚɜɞɚɧɧɹ – ɲɢɪɢɬɢ ɨɫɜɿɬɭ ɫɟɪɟɞ ɜɫɶɨɝɭ ɧɚɪɨɞɭ ɚɠ ɞɨ ɨɤɪɟɦɢɯ ɣɨɝɨ ɩɪɟɞɫɬɚɜɧɢɤɿɜ. Ɉɬɠɟ, ɹɤɳɨ ɛɭɞɟɦɨ ɜɩɪɨɜɚɞɠɭɜɚɬɢ ɞɨ ɫɥɨɜ’ɹɧɫɶɤɨʀ ɥɿɬɟɪɚɬɭɪɢ ɱɭɠɿ ɡɜɨɪɨɬɢ ɿ ɱɭɠɢɣ ɫɩɨɫɿɛ ɜɢɫɥɨɜɥɸɜɚɧɧɹ […],
33 Verwunderlich an dieser Stelle ist, dass Šaškevyþ Zaleski für dessen Sammlung, deren Vorwort er teilweise sehr scharf kritisiert, selbst einige Lieder geliefert hat und dabei Zaleskis Position bestimmt kannte, da beide innerhalb der gleichen Lemberger literarischen Kreise verkehrten. Vgl. dazu Borodin 2005, 119.
94 | K ATHARINA S CHWITIN ɬɨ ɛɭɞɟɦɨ ɜɬɪɭɱɚɬɢɫɹ ɜ ɬɿɥɨ, ɳɨ ɦɚɽ ɫɜɨɸ ɞɭɲɭ, ɿɧɲɨɸ, ɱɭɠɨɸ ɞɭɲɟɸ, ɹɤɚ ɧɟ ɩɪɢɯɢɥɢɬɶɫɹ ɞɨ ɧɚɪɨɞɭ, ɿ, ɬɚɤɢɦ ɱɢɧɨɦ, ɥɿɬɟɪɚɬɭɪɚ ɧɚɥɟɠɚɬɢɦɟ ɥɢɲɟ ɞɟɤɿɥɶɤɨɦ ɬɚɤ ɡɜɚɧɢɦ ɽɜɪɨɩɟɣɫɶɤɢɦ ɥɿɬɟɪɚɬɨɪɚɦ, ɱɟɪɟɡ ɳɨ ɪɨɡɦɢɧɟɬɶɫɹ ɡɿ ɫɜɨɽɸ ɝɨɥɨɜɧɨɸ ɦɟɬɨɸ.«34 (Šaškevyþ 1982a, 113-114)
Šaškevyþ greift die Wachstumsmetapher auf, die Zaleski in seinem Vorwort benutzt, um eine nationale Literatur zu beschreiben, modifiziert sie allerdings insofern, dass er suggeriert, Zaleski würde versuchen, auf fremdem, nämlich ruthenischem Boden den Baum der polnischen Nationalliteratur wachsen zu lassen. Diesem Versuch sagt Šaškevyþ ein Scheitern voraus, mit dem Bild des Paradiesvogels, der dazu verdammt ist, zwischen Himmel und Erde zu schweben, das auch Zaleski benutzt. Die Essentialisierung des Themas treibt Šaškevyþ noch weiter, indem er das Bild von einem Körper und dessen Seele – die versucht wird, durch eine fremde, dem slawischen uneigentliche Seele zu verdrängen – benutzt. In dieser Passage zieht Šaškevyþ eine deutliche Grenze zwischen Fremdem und Eigenem, indem er den Aneignungsversuchen durch die polnische Nationalkultur – die durch die zusätzlichen Argumente der slawischen Angliederung und der europäischen Anbindung unterstützt wurden – hinsichtlich der ruthenischen Volkskultur eine Absage erteilt und das Polnische in seiner lateinischen Verschriftlichung sogar als fremd und unslawisch markiert. Und dennoch lässt sich der Eindruck einer engen gegenseitigen Involviertheit nicht vermeiden, da sowohl Zaleski als auch Šaškevyþ für ihre Argumentation einerseits dieselben Topoi und Begrifflichkeiten, andererseits beide die polnische Sprache benutzen. Beides zeigt, wie eng die Entwicklung der ruthenisch-ukrainischen Nationalkultur mit der polnischen Nationalkultur – wenn es letztendlich auch um die Selbstdefinition in der Abgrenzung von dieser ging – verknüpft und von ihr abhängig war.
ZUSAMMENFASSUNG Sowohl die polnische als auch die ukrainische Folkloristik entwickelten sich parallel zu dem nationalen Bewusstsein und der nationalen
34 Im Original in polnischer Sprache.
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Kultur des jeweiligen Volkes. In Ostgalizien war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts jedoch die Situation sowohl hinsichtlich des polnischen und des ruthenischen Kulturgutes als auch hinsichtlich der ersten Versuche, dieses folkloristisch zu erfassen, bei Weitem nicht eindeutig: Polnische Kulturschaffende erhoben Anspruch auf die ruthenische Volkskultur als Teil einer großpolnischen Nationalkultur. Bis in die 1820er Jahre bestätigten vielfach polonisierte Ruthenen die polnischen Aspirationen, indem sie von ihnen gesammeltes ruthenisches Kulturgut für polnische folkloristische Publikationen zur Verfügung stellten. Ab den 1830er Jahren entwickelten jedoch immer mehr Ruthenen, von der polnischen nationalen Ideologie inspiriert, ein eigenes ukrainisch-nationales Bewusstsein. Damit verbunden war auch ihr Wunsch, sich die ruthenische Volkskultur wieder anzueignen. Die Folge war vor allem auf ruthenischer Seite eine in kultureller und nationaler Hinsicht durchaus unübersichtliche und konfliktgeladene Gemengelage. Währenddessen sahen polnische Kulturschaffende wie Wacław Zaleski weiterhin das Recht der polnischen Kultur auf das Kulturgut ›kleinerer‹ slawischer Kulturen – wie der ruthenischen – und den Nutzen ihrer Eingebundenheit unbestritten. Oft stellten sie dabei die Rhetorik und die Topoi einer slawischen Gemeinschaft und Kultur in den Dienst der polnischen Kulturnation. Letztendlich bot allerdings die polnische Folkloristik in Ostgalizien den anfänglichen Rahmen für das Sammeln und die Publikation der ruthenischen Volkskultur und trug damit – wenn auch unbeabsichtigt – zur Entwicklung der ukrainischen Folkloristik und Ethnographie bei. Die Konflikte und Diskussionen, die sich auf dieser Grundlage entwickelten, trugen ebenfalls zur Selbstbewusstwerdung, Ausdifferenzierung und Entwicklung der ukrainischen Folkloristik und damit auch der ukrainischen Nation bei.
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Hybridität und Sprachgebrauch an Bruchlinien der Slavia Bosnien und Galizien C HRISTIAN V OSS
In seinem Buch Clash of Civilizations nutzt Samuel Huntington Bruchlinien wie die zwischen der »Slavia orthodoxa« und der »Slavia latina«, um seinen Kulturkreisdeterminismus zu begründen. Unser Fokus beim Blick auf ostmitteleuropäische Kulturräume wie Galizien und Bosnien liegt auf ihrem experimentellen Potenzial, das zu religiöser Heterodoxie, zu Osmose und Synkretismus und somit – untypisch für die Peripherie – zu Innovation geführt hat und bis heute eine sprachlich hochkomplexe Situation bedingt. Die Beschäftigung mit Kulturgrenzen macht gerade in Grenzkulturen wie in Bosnien und Galizien Sinn, da der Grenzraum grundsätzlich stärkere und eindeutigere nationale Loyalitätsbekenntnisse fordert als das Zentrum. Die Polarisierung der regionalen und kleinlokalen Milieus in Ostmitteleuropa hat über Jahrhunderte gleichermaßen Grenzgängertum, Akkulturation und Segregation ermöglicht. Grundsätzlich kann Ostmitteleuropa als ein ländlich geprägtes, national weitgehend indifferentes Gebiet definiert werden, in das der Ethno- bzw. Sprachnationalismus eindringt (einschlägig u.a. StauterHalsted 2001, King 2002 oder Judson 2006). Auch die Klassiker der Nationalismusforschung Gellner und Hobsbawm sind (bereits biographisch) geprägt und geleitet durch diese ostmitteleuropäische Geschichte und den Konflikt von ›Megalomania‹ und ›Ruritania‹. In Ostmitteleuropa sind es nicht nur Menschen, die sich über Grenzen bewegen, sondern im 20. Jahrhundert Grenzen, die sich über
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Menschen bewegen. Instabile Grenzen und wiederholte Grenzverschiebungen und somit phasenweise wechselnde standardsprachliche Überdachungskonstellationen entwickeln spezifische Formen von Mischsprachlichkeit, können aber auch zu radikalen Formen von sprachlicher Dachlosigkeit führen. In den 1990er Jahren ist das gegenteilige Phänomen aufgetreten, nämlich sog. ›melting borders‹, deren neuerdings ermöglichter kleiner Grenzverkehr neue Dimensionen von sprachlicher Re-Konvergenz ermöglicht. (Voß 2005)
M EHRSPRACHIGKEIT
ALS
V ERGLEICHSEBENE
Gemeinsam ist Bosnien und Galizien eine bis heute verworrene Sprachsituation mit soziolinguistisch singulären Phänomenen wie BKS (Bosnisch-Kroatisch-Serbisch) und Suržyk (zum polnisch-ukrainisch basierten Suržyk in Lemberg vgl. Adamenko 2006), die neben der religiös-kulturellen Hybridität des 17. Jahrhunderts vor allem durch die problematische Applikation der nationalistischen Ideologien des 19. Jh.s zu erklären ist: Galizien gilt als Piemont der Polen und Ukrainer, wobei der habsburgisch initiierte ›dritte Weg‹ als Ruthenen zur russinischen Nationalbewegung führte. Bosnien war in dieser Zeit Brutstätte des serbischen Nationalismus. Der Ethnoregionalismus von Kállay nach 1878 war Vorläufer des bosnjakischen Nationalismus, der seit den 1960er Jahren im Rahmen der Renationalisierung Jugoslawiens einsetzte. Wenn es um den Umgang mit Sprache geht, so ist Folgendes zu bemerken: Polnisch und Ukrainisch sind Abstandsprachen: Niemand würde ernsthaft behaupten, dass die eine lediglich ein Dialekt des Anderen sei. Hier ist also von Mehrsprachigkeit zu sprechen. In Bosnien hingegen sprechen die drei Ethnien vor Ort dieselben Dialekte. Die Sprachpolitik seit den 1990er Jahren muss hier Ausbausprachen schaffen, die sich ihre Distinktivität mühsam erarbeiten. Der Vergleich Bosniens mit Galizien wird für uns durch die Kommensurabilität von intra- und interlingualer Sprachmischung relevant, die gleich oder zumindest sehr ähnlich funktioniert. Die Mesolekte (d.h. Zwischenvarietäten) zwischen Polnisch und Ukrainisch können dieselben Mechanismen wie Interferenz, Codeswitching, Entlehnung aufweisen wie intralingual zwischen muslimischen und orthodoxen Varietäten des Basisdialekts des ehem. Serbokroatischen. Die Ver-
H YBRIDITÄT
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S PRACHGEBRAUCH : B OSNIEN
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gleichbarkeit von Sprachkontakt, Dialektkontakt und Varietätenkontakt hat Auer 2000 unter den Begriff der »Heteroglossie« gefasst. Die Konfliktkonstellation des 19. Jahrhunderts lautet wie folgt: In ethnisch und sprachlich stark durchmischten Gesellschaften wird das Ideal überdialektaler Einsprachigkeit hineingetragen, wobei diese zugleich als Ausweis ethnischer und nationaler Zugehörigkeit gesehen werden. Es stellt sich aber die Frage nach dem tatsächlichen Ausmaß an Mehrsprachigkeit. Hier ranken die Mythen, z.B. um den sog. Balkansprachbund, in dem genetisch nicht eng verwandte Sprachen in ihrer Grammatik konvergiert sind und beispielsweise die bulgarische Morphosyntax der griechischen und albanischen ähnlicher ist als der russischen oder serbischen. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass der Balkansprachbund als fossilisierte ›learner varieties‹ zu verstehen sind, als kontinuierlich falsch gesprochene Sprache des Anderen, in der Regel nur zum Austausch auf dem Marktplatz. Wenn diese balkanische Sprachkonvergenz dennoch singulär ist, liegt dies wohl an der fehlenden ethnischen Hierarchie in der Region. Angesehen waren nur die Städter, die als Türken oder Griechen wahrgenommen wurden. Im Habsburger Reich gab es hingegen sehr klare ethnische Hierarchien, die eine Prestigestufung der Sprachen mit sich brachten – dies behindert Mehrsprachigkeit und lässt sie eigentlich nur als Diglossie zu. (Vgl. Schjerve-Rindler 2003) Würde ein Deutsch- oder Ungarischsprecher im 19. Jh. jemals einen slowakischen Dialekt sprechen, selbst wenn er ihn beherrschte? Dasselbe gilt für Polnisch und Ukrainisch: Eine sog. downward-Akkommodation, d.h. Anpassung seitens des sozial Stärkeren, hat niemals stattgefunden. Träger der Mehrsprachigkeit sind die assimilationisch orientierten Aufsteiger. Ich glaube, dieser Mechanismus ist in der transleithanischen Reichshälfte deutlich stärker gewesen – z.B. bei den magyarisierten Donauschwaben –, wird aber auch in Galizien Wirkung gezeigt haben.
R ELIGIÖSE UND SPRACHPOLITISCHE ANTAGONISMEN IN B OSNIEN UND G ALIZIEN Beide Regionen – dies gilt zumindest für die Zeit zwischen 1878 und 1918 – stehen im Kräftefeld imperial-kolonialer Politik Russlands und Habsburgs mit unmittelbarer kultur- und sprachpolitischer Komponente. Neben den Begriffen Osmose und Experiment kann ebenso von
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transimperialer Übergriffigkeit gesprochen werden, die dadurch ermöglicht wird, dass viele Kleingruppen transimperial siedeln (Extrembeispiel sind die Serben ab dem späten 17. Jahrhundert). Konkreter Kontext im 17. Jahrhundert ist die Gegenreformation, der katholische ›Gegenangriff‹. Seit dieser Zeit sind Gruppengrenzen kontestiert und in Bewegung. Hier bricht der für ethnische Identitäten unumgängliche Konsens zwischen Eigen- und Fremdzuschreibung auf und löst in der Dialektik von Inklusion und Exklusion sowie Gegenentwürfen der jeweils anderen Seite ein perpetuum mobile in Gang, das bis heute vor sich hinpendelt. Ausgangspunkt für den hier angestellten Vergleich ist die ähnliche Situation im späten 16. und 17. Jahrhunderts, als in einer religionshistorisch offenen Situation die Polemik zwischen Orthodoxie und Katholizismus eine enorme Sprachinnovation in Gang setzt. Vor allem die Rezeption der protestantischen ›apostolischen Sprache‹ wird eine Strategie der katholischen Kirche, um attraktiver zu sein als die kirchenslawische Orthodoxie. Während die Religionskriege in Westeuropa zu einer Entmischung der Konfessionen führen (»cuius regio, eius religio«), so bleibt ›Osteuropa‹ eigentlich bis weit ins 20. Jahrhundert von religiösen und somit ethnischen Gemengelagen geprägt: Das herrschende Individualprinzip (im Gegensatz zum westeuropäischen Territorialprinzip) ermöglicht den offenen religiösen Schlagabtausch. Diese Periode hat keine greifbare legacy im Sinne der Imperienforschung (vgl. Brown 1997) hinterlassen, so dass ich diesen Punkt recht kurz fasse. Grund für die fehlende Nachhaltigkeit ist vor allem die Tatsache, dass sich kurze Zeit später andere transimperiale Zusammenhänge bilden, die die Diglossiesituationen vor allem durch die neue hochsprachliche Varietät Deutsch (in Galizien nach 1772, in Bosnien nach 1878) modifizieren. (Fellerer 2005) Somit bleibt das 17. Jahrhundert eine vor allem für Philologen relevante Epoche. Die transkonfessionelle Beweglichkeit und die offene Aufforderung zur Konversion betrifft nicht Muslime und Juden, sondern gilt nur innerhalb des christlichen Lagers, noch konkreter könnte man gar sagen, dass es sich um eine gezielt expansionistische Sprachpolitik der jesuitischen Gegenreformation und die Abwehrreaktion der Orthodoxie handelt. Wie sah diese aus? 1622 gründete Rom die »Congregation de Propaganda fide«, die die Balkanorthodoxen in den Schoß Roms zurückholen sollte. Hierfür wurde der Jesuit Bartol Cassius (Kašiü) bereits 1606 auf eine ›ragusa-
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nische Mission‹ geschickt, die ihn über Bosnien nach Belgrad und bis Syrmien und Slawonien brachte. Ergebnis waren die berühmten Institutiones linguae Illyricae, verfasst auf Neuštokavisch von einem ikavisch-þakavisch-Sprecher (Cassius ist auf der Insel Pag geboren): Die spätere Dialektbasis des Serbokroatischen wurde von Cassius als der repräsentativste Ausdruck gewählt, um möglichst viele Gläubige in einer dialektal stark ausdifferenzierten Region zu erreichen. (Iovine 1984) Die fehlende Nachhaltigkeit von Cassius, dessen Institutiones die erste Grammatik einer volkssprachlichen kroatischen Sprache hätte sein können, liegt an der Entscheidung Roms, seinem Konkurrenten den Vorrang zu geben: Der kroatische Franziskaner Rafail Levakoviü wollte ebenfalls die Sprache vereinheitlichen, allerdings auf dem entgegengesetzten Weg, nämlich durch die Rückkehr zum Altkirchenslawischen und eine radikale Archaisierung der Sprache. Die Sprachenfrage im westlichen südslawischen Raum bleibt somit auch im 18. Jahrhundert offen, d.h. ungelöst. Erst das Projekt von Vuk Karadžiü bringt den durchschlagenden Erfolg, und dies nicht durch seine Unterstützung in Serbien selbst, sondern durch seine Rezeption im ›frühjugoslawischen‹ Illyrismus in Kroatien und durch die Habsburger Politik, mit Hilfe von Vuk den russischen kulturellen Einfluss in Südungarn einzudämmen. Schauen wir nun nach Galizien: Nachdem sich Russland im 15.16. Jahrhundert in der Rechtsnachfolge von Byzanz als ›Drittes Rom‹ begriff und kulturell eingeigelt hatte, kam der westlichen Peripherie die Rolle des Innovators zu: Die Isolation Moskaus von Westeuropa ist etwa daran ablesbar, dass die Moskauer Druckereien im 17. Jahrhundert dem Patriarchen unterstanden und von 483 gedruckten Büchern nur 7 (=1,5%) weltlichen Inhalts waren. Es sind die stark ostslawisch besiedelten westlichen Gebiete der Kiever Rus’, die als Teil des polnisch-litauischen Staates in Kontakt mit weltlich-humanistischer Bildung, aber auch mit dem Konflikt zwischen Reformation und Gegenreformation kamen. Die Gegenreformation hatte in Wilna oder Lemberg eine Latinisierungs-, aber auch Polonisierungswelle ausgelöst, die sehr spitzzüngig das Kirchenslawische als ›minderwertige‹, traditions- und regellose Sakralsprache anprangerte. So wetterte der Jesuit Piotr Skarga: »Sehr haben dich die Griechen betrogen, ruthenisches Volk, dass sie dir, als sie dir ihren heiligen Glauben gaben, nicht auch ihre griechische Sprache gaben,
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sondern geboten, bei diesem Kirchenslawisch zu bleiben, auf dass du niemals zum rechten Verständnis und zur rechten Lehre gelangst… Durch die kirchenslawische Sprache kann es niemals irgendeinen Gelehrten geben…« (Rabus 2008: 11)
Dies war nicht unzutreffend, existierte das Kirchenslawische doch bereits seit sieben Jahrhunderten, ohne eine Grammatik oder eine andere normgebende Instanz zu besitzen. Strategie der Orthodoxie wurde es, durch das Konstrukt einer hellenoslawischen Sprache sich unter den Schutz der unangreifbaren griechischen Schrifttradition zu stellen: 1591 erschien in Lemberg eine griechisch-kirchenslawische Grammatik, deren Titel Adelfotis (dt. Brüderschaft) bereits aussagekräftig ist (Untertitel: Grammatika dobroglagolivago Ellinoslovenskago jazyka, soveršennago iskustva osmi þastej slova. Ko nakazaniju mnogoimenitomu rossijskomu narodu, V drukarni Bratskoj, Roku 1591). Die wichtigste ostslawische Grammatik vor Lomonosov entstand in eben diesem Milieu, sie trägt den Titel Grammatiki slavenskija pravilnoe sintagma, Autor dieser »Rechten Ordnung der slawischen Grammatik« ist Meletij von Smotryþ. Die Orthodoxie reagierte in dieser Zeit also mit Normativität und Regelhaftigkeit. Der Sprachalltag sah anders aus, zumal sich durch die Kirchenunion von Brest 1596 eine offiziell sanktionierte Hybridität ausformte. (Vgl. Rabus 2008, Bunþiü 2006) Galizien bleibt ein Ort von Mischsprachlichkeit. Fellerer (2005) hat in seinem Buch zu Mehrsprachigkeit im galizischen Verwaltungswesen herausgearbeitet, wie sich seit der Annexion Galiziens durch Habsburg mit der ersten polnischen Teilung 1772 das bisherige Diglossiegefüge zwischen Polnisch und Ukrainisch (bzw. Ruthenisch/Russinisch) verschoben hat, im Laufe des 19. Jahrhunderts sich das Polnische neben dem Deutschen aber immer stärker emanzipierte. Im östlichen Teil der heutigen Ukraine setzte mit der Eingliederung in das Russische Reich ab dem 17. Jahrhundert die Russifizierung ein, deren sprachliches Ergebnis das sog. Suržyk ist, auf das ich nun eingehen werde. Russisch-ukrainisch basiertes Suržyk in der Zentral- und Ostukraine ist aufgrund der politischen Konstellation in der postsowjetischen Ukraine ein hochpolitisches Thema, während das ältere polnisch-ukrainische Suržyk in Galizien unterfokussiert ist.
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Suržyk ist im zaristischen und sowjetischen Russland ein Epiphänomen der sprachlichen Assimilierung der Ostukraine gewesen. Die Grundbedeutung von Suržyk lautet »Mischung aus Weizen und Roggen«, allerdings belegt bereits ein ukrainisches Lexikon von 1909 die pejorative Zweitbedeutung »Völker- oder Sprachgemisch«. (Vgl. Horbatsch 1988, 26) In seiner formativen Periode im 19. Jahrhundert ist Suržyk durch die Defizithypothese zu erklären, d.h. durch unvollständigen Zweitspracherwerb im ukrainisch-kleinrussischen Raum. Auf das Interludium der egalitären nationalsprachlichen Förderung, der sog. ›Einwurzelung‹ (russ. korenizacija) zwischen 1925 und 1932, folgte Stalins Nationalitätenpolitik, die die ukrainische Sprachnorm bis in orthographische und morphologische Details dem Russischen anzugleichen versuchte und russischen Nationalismus allmählich zur sowjetischen Integrationsideologie werden ließ. Eine postsowjetische Neuerscheinung ist die downward-Akkommodation der Russischsprecher, die eine akrolektale, russisch-basierte Mischsprache ausformt. Suržyk ist als Koine, Dialektkontinuum oder Soziolekt nicht hinreichend beschrieben und heute eher ein intraslavisches, postkommunistisch-subkulturelles und typisch männliches Register, zumal in der Ukraine – anders als im Baltikum – bisher wenige eher der Titularnation vorbehaltene white color jobs existieren. Wenn Suržyk heute von jungen Sprechern verwendet wird, obwohl sie durchaus die russische und/oder die ukrainische Norm beherrschen, ist ein Prozess sozialer Funktionalisierung im Gange, der sprachstabilisierend für die Nonstandardvarietät sein wird. Die Heterogenität der Ukraine wird bereits durch die Tatsache belegt, dass die politische Vereinigung des heutigen Territoriums der Ukraine (bis auf die Krim) erstmals 1939 im Gefolge des Molotov-Ribbentrop-Pakts unter sowjetischem Vorzeichen eintrat. Der äußerste Westen der Ukraine mit dem Zentrum Lemberg hatte nach vier Jahrhunderten im polnisch-litauischen Staat das 19. Jahrhundert als österreichisches Galizien (und ungarisches Transkarpatien) erlebt, wo eine starke ukrainische Nationalbewegung entstanden war, während in der rechtsufrigen Ukraine − bereits 1654 als Hetmanat von Moskau annektiert − ukrainische Sprachemanzipation zwischen 1876 und 1905 massiv unterdrückt worden war.
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Die faktische Russifizierung weiter Teile der Ostukraine und der Krim wurde während der Sowjetzeit fortgesetzt, als sich eine ethnisch russische technokratische Elite auf Dauer in den großen Industrie- und Kohlezentren ansiedelte. Sie steht im Gesamtkontext der sowjetischen Sprachpolitik, wenn man an Chrušþevs Schlagwort vom »slijanie« (Ineinanderfließen) aller Sowjetbürger denkt. Nur in der Westukraine findet man heute eine mehrheitlich ukrainischsprachige städtische Bevölkerung, wobei gerade Frauen sich stärker am Russischen orientieren, dessen offenes Prestige soziale Mobilität verspricht. (Bilaniuk 2003, 2005) In der Gesamtukraine haben sich in der Volkszählung von 1989 22% der Bevölkerung auf die Frage nach ihrer Nationalität als Russen und 73% als Ukrainer bezeichnet, wobei der Anteil der russischen Bevölkerung in den Kohlerevieren des Ostens (etwa Luhans’k, Donec’k) bei fast 45%, auf der Krim bei 67% liegt. (Oswald 2003: 312-315) Suržyk symbolisiert die sozialpsychologische Lage der ukrainischen Osthälfte, die sich weder als Teil Russlands sieht, sich zugleich aber durch einen radikalen westukrainischen Sprachpurismus abgestoßen fühlt. Mit Selbstironie deuten die Ostukrainer die alte großrussische Heterostereotypisierung als ›chochly‹, d.h. wörtlich als ›Kosakenzöpfe‹, und bezeichnen sich heute als Bewohner von ›Chochlandija‹, die eine Sprache namens ›chochlacki‹ sprechen: Die niedrige Position der Ukrainer innerhalb der ethnischen Hierarchie im Russischen Reich (Kappeler 2003) scheint z.T. internalisiert worden zu sein und impliziert die Abwertung des Ukrainischen als ›kleinrussisch(er Dialekt)‹. Indem die Suržyk-Sprecher Sprache nicht zum Hauptkriterium nationaler Zugehörigkeit machen, unterlaufen sie die bis heute wirksame, von der deutschen politischen Romantik entwickelte Vorstellung von der Kultur- und Sprachnation und belegen so einen selbst in der EU noch nicht selbstverständlichen Grad an Multioptionalität und Europäizität. Die Kontaminationssprache Suržyk steht in krassem Gegensatz zur sprachplanerischen Tätigkeit der ukrainischen Eliten, denen es heute um die Desowjetisierung des Ukrainischen geht, was u.a. die Reetablierung der früheren Sezessionsorthographie (d.h. mit graphematischem Abstand zum Russischen) symbolisiert. Die These, dass der Suržyk eine Protestbewegung gegen den neuukrainischen (antirussischen) Purismus ist, bestätigt etwa die Tatsache, dass sich der Suržyk strikt gegen den 1989 wieder eingeführten Verschlusslaut in Fremd-
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wörtern (graphisch als ›g mit Aufstrich‹: ›ʉ‹) sträubt und ausschließlich den sonst typisch ukrainischen Frikativ /Ȗ/ verwendet. Die Erosion der ukrainischen Diglossiesituation nach 1989 hat dazu geführt, dass die areal nicht gebundene Mischvarietät Suržyk in das binäre Hierarchiemodell aufrückt (Bilaniuk 1993): Durch die offizielle, bisher aber noch nicht erfolgreich vollzogene Aufwertung des Ukrainischen hat die Bevölkerung ihre L-variety verloren, so dass diese durch kein anderes Register besetzte Nische nun von einem Substandard aufgefüllt wird. Ich denke, dass im ostslawisch-ostslawischen Sprachkontakt in der Ukraine als auch im Bosnisch/Kroatisch/Serbisch-Sprachalltag in Bosnien das Funktionieren intralingualer ethnischer Marker innerhalb einer Diglossie-Skala zentral ist. Ihm steht eine normative, auf nationale Abgrenzung zielende, exklusive Sprachpolitik seitens der politischen Eliten und staatlichen Institutionen gegenüber. Doch letztlich sind es die intralingualen ethnischen Marker, die situativ und flexibel eingesetzt werden, um Solidarität und Loyalität auszudrücken (oder eben nicht).
S PRACHGEBRAUCHSWANDEL IN B OSNIEN Kann in Bosnien in ähnlicher Weise Serbisch und Kroatisch als kolonial konnotierte high variety gesehen werden? Die Frage ist schwierig. Auf sprachpolitischer Ebene war das Serbokroatische die Antwort auf die extremen ethnischen Gemengelagen. Aus serbischer Sicht waren die großen serbischen ›Minderheiten‹ in Bosnien und Kroatien das Hauptmotiv, um in das jugoslawische und dann auch serbokroatistische Experiment einzusteigen. Serbokroatisch ist bis 1991 eine plurizentrische Sprache gewesen, sie war ›weich kodifiziert‹ und hat Regionalvarianten zugelassen bzw. gefördert. In Bosnien leben spätestens seit der Einrichtung der habsburgischen Militärgrenze im 16. Jahrhundert drei konfessionelle Gruppen (Katholiken, Orthodoxe und Muslime) zusammen. Bringa 1995 zeigt, dass der Islam für die Muslime Bosniens ein System aus Praktiken und Werten darstellte, wobei ein Teil der Praktiken weniger dem Islam entsprach, sondern dazu diente, sich von Serben und Kroaten abzugrenzen – etwa das Tragen eines Talismans, die dimije (Pumphosen) oder der Besuch bestimmter Heiligengräber. Diese Mikrosymbolik fungier-
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te als ›gläserne Mauer‹ und bewahrte starke Gruppengrenzen; dasselbe gilt für die situationelle Differenzierung von ethnischen Begrüßungen (›selam alejk‹ oder ›merhaba‹ im Dorf vs. ›dobar dan‹ oder ›zdravo‹ in der Stadt). Dies formte eine Ethik aus, die der Andersheit der Nachbarn eher gleichgültig gegenüberstand, ohne dass man je das klare Bewusstsein der Unterschiede verloren hätte. Auf sprachlicher Ebene sieht es ähnlich aus: Die zugezogenen Serben hatten gewisse Innovationen mitgebracht, die Muslime bilden mit der Bewahrung des intervokalischen -h- (z.B. lahko, mehko) einen ethnischen Marker, ebenso wie in Thrakien nur die Muslime das ›akanje‹ (d.h. vokalische Allophonie in der Form, dass unbetontes ›o‹ wie ›a‹ gesprochen wird) aufweisen. Giles 1979 bezeichnet dieses Phänomen als intralinguale Ethnizitätsmarkierungen: Mehrere ethnische Gruppen sprechen dieselbe Sprache, aber durch den Gebrauch einiger weniger lexikalischer oder phonetischer Merkmale können die Gruppengrenzen aufrechterhalten werden. Diese Konstellation ist für die USA ausführlich beschrieben und dokumentiert worden: Im ›American Black English‹ der Afroamerikaner fehlen etwa die Phoneme /ș/ und /ð/, die in Initialpositionen in Wörtern wie ›thought‹ oder ›then‹ als [t] bzw. [d] oder frikativ (›afur‹ statt ›Arthur‹, ›cloving‹ statt ›clothing‹) realisiert werden. Vor allem in den goldenen Jahren Titojugoslawiens, den 1950-1960ern, kam es zu Akkommodation bis hin zu supraethnischer Koinebildung in Schmelztiegeln wie Tuzla oder Sarajevo. Allerdings haben sich auf dem Land die ethnischen Marker deutlicher gehalten (z.B. christlich ›baba‹, ›stric‹ und ›veþe‹ vs. muslimisch ›nana‹, ›amidža‹ und ›akšam‹ gehalten), und die heutige bosnjakische Sprachpolitik ist eine Reinstallierung des monoethnischen dörflichen Sprachgebrauchs. Die Dialektologie, die diese Prozesse dokumentieren sollte, ist in die Re-Nationalisierungsprozesse Jugoslawiens ab den 1960er Jahren verwickelt, so dass sie nicht in den Zeugenstand gerufen werden kann. (Vgl. Greenberg 1996 und 1998) Das heutige Bosnien mit einer im Dayton-Vertrag 1995 von oben verordneten bosnischen Standardsprache zeigt in Laborqualität das ›reinvention of tradition‹, das um Verankerung nationaler Eigenarten im Mittelalter bemüht ist. Die konfessionelle Labilität im bosnischen Raum hat (ähnlich wie im albanischen Fall) die Konversion zum Islam erleichtert. Mit der Besetzung Bosniens durch Österreich-Ungarn 1878 begann der Sonderweg der dortigen Muslime: Die neue Verwaltung versuchte, die Muslime den konkurrierenden serbischen und kroati-
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schen Vereinnahmungsversuchen zu entziehen und damit die bereits virulent werdende südslawische Frage zu entschärfen. Dieses von Benjamin Kállay initiierte sog. ›Bošnjak‹-Programm visierte die Bildung einer suprakonfessionellen Regionalidentität an, fand aber nur wenig Anhänger. Für die heutigen Sprachplaner sind die sprachpolitischen Vorstöße der österreichischen Periode dennoch wichtige historische Referenzpunkte. (Vgl. Nehring 2005) Wichtiger noch ist Titos Ethnopolitik: Während sich die Muslime Bosniens 1948 bis 1961 in Volkszählungen für Kroaten- oder Serbentum entscheiden mussten, wurden sie 1963 verfassungsrechtlich als Nation anerkannt. Der von Tito als Puffergebiet zwischen Serben und Kroaten genutzte Raum wurde so weiter neutralisiert, und 1971 konnten sich die bosnischen Muslime in der Volkszählung als ›Muslimani‹ mit großem M als Nation deklarieren (im Gegensatz zu ›musliman‹ als religiöse Zugehörigkeit). Die Marginalisierung von Religion in Titos Jugoslawien war nirgends so erfolgreich wie bei den Muslimen in Bosnien: Die fortgeschrittene Säkularisierung trägt heute dazu bei, dass der Bezug auf die geographische bzw. staatliche Einheit Bosnien-Herzegowina gegenüber der rein religiösen Identifikation überwiegt. Weiterhin wird Sprache symbolisch stark aufgeladen. Das heutige Bosnische bzw. Bosnjakische ist ein Teilaspekt des weltweit wohl einzigen Falls, wo sich drei (bzw. mit dem Montenegrinischen vier) Standardsprachen herausbilden, die alle dieselbe Dialektbasis (nämlich ijekavisches Neuštokavisch) benutzen. Der logische Kompromiss des 19. Jahrhunderts zwischen Kroaten und Serben, den beiden treibenden Kräften der südslawischen Vereinigung, war die Wahl dieses Dialekts mit der höchsten Inklusionswirkung. Diese Entscheidung forderte von beiden Seiten den Verzicht auf ethnisch exklusive Dialekte, bei den Kroaten auf das Kajkavische und ýakavische, bei den Serben auf das ekavische Štokavische. Ein zentrales Problem des Serbokroatischen war, dass kein dialektal-synthetisches und somit neutrales Sprachmodell geschaffen wurde, sondern ein Sprachsystem, das demjenigen der dominierenden Gruppe im Staat sehr ähnlich war und im 20. Jh. daher kontinuierlich als Symbol serbischer Hegemonie konnotiert war (und es während der Königsdiktatur 1929-1941 de facto war). Dies erklärt das Ende des Serbokroatischen nach 1991. Der 1850 entworfene Kompromiss zwischen Vuk-Anhängern und Illyristen hat
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eigentlich die Tür für die Ausarbeitung einer bosnischen Sprachnorm zugeschlagen, da der bosnische Raum prototypisch serbokroatisch ist: Lehfeldt 1999 und Neusius 2002 haben nachgewiesen, dass die sprichwörtliche Variantenneutralität bosnischer Sprecher zwischen kroatisch und serbisch markierten Dubletten bis heute fortwirkt. Wenn sich nun dennoch seit den 1990er Jahren und verstärkt durch die Genozid-Erfahrung während des Krieges 1992-1995 eine bosnjakische Standardsprache herausbildet, so zeigt sich, dass sich die Entwicklung von Schriftsprachlichkeit primär aus der soziopragmatischen Entwicklung herleitet. Im Falle der Muslime, die im 20. Jahrhundert massiv von ›minority building‹ im Sinne von Marginalisierung und wirtschaftlicher Peripherisierung betroffen sind, ist die nationale Staatspolitik ausschlaggebend. Das Bosnjakische der 1990er Jahre ist daher nicht eine Reaktion auf das sozialistische Jugoslawien, als dessen Opfer sich heute jeder erklärt, sondern es ist das konsequente Ergebnis der tito-jugoslawischen ›homeland‹-Politik (Blum 2002), die jeder der sechs Nationen quasi objektiv ein Territorium in Form einer Föderationsrepublik zugewiesen hat: Entlang dieser von Tito geschaffenen Grenzen ist Jugoslawien dann auseinandergebrochen.
F AZIT Für das 17. bis 19. Jahrhundert weisen Galizien und Bosnien viele Parallelen auf. Die Entwicklung nach 1918 ist dann jedoch stark divergent: Der historischen Kontingenz der Sowjetisierung Galiziens nach 1939 bzw. 1945 steht die – inzwischen abgeblätterte – jugoslawische Legierung des serbischen Nationalismus in Bosnien gegenüber. Ich denke, dass in der Ukraine im ostslawisch-ostslawischen Sprachkontakt als auch im BKS-Sprachalltag in Bosnien das Funktionieren intralingualer ethnischer Marker zentral ist. Ihm steht eine normative, auf nationale Abgrenzung zielende, exklusive Sprachpolitik seitens der politischen Eliten und staatlichen Institutionen gegenüber. Doch letztlich sind es die intralingualen ethnischen Marker, die situativ und flexibel eingesetzt werden, um Gruppengrenzen zu markieren und zu bewahren. Ausgehend von der konstruktivistischen Auffassung von Ethnizität, dass eine ethnische Gruppe von denjenigen Individuen gebildet
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wird, die sich als zugehörig zur selben ethnischen Kategorie wahrnehmen, wird die Freiwilligkeit und somit die Wandelbarkeit ethnischer Identifikation herausgestellt: Die verschiedenen Identitätsoptionen lassen sich am Sprachgebrauch ablesen, wofür Giles/Smith 1979 den Begriff der Akkommodation eingeführt haben, der situativ zu sprachlicher Konvergenz oder zu Divergenz und zur Ausbildung von in-groups und out-groups führt. Dies gilt einerseits für Einsprachige – der Plurizentrismus des BKS erlaubt weiterhin diese Einordnung – und betrifft nicht nur die Wortwahl, Höflichkeitsfloskeln, sondern auch die Syntax. Akkommodation greift jedoch auch bei Zweisprachigen wie den Suržyk-Sprechern im Rahmen des russisch-ukrainischen Bilinguismus. Es besteht ein unmittelbares Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Grad an Zweisprachigkeit und ethnischem Selbstverständnis: Minderheitenmitglieder erwerben eine quasi-muttersprachliche Kompetenz in der Mehrheitssprache, wenn sie die eigene Gruppe nur verschwommen wahrnehmen, ihre sprachliche Vitalität als schwach einschätzen, die Gruppenzugehörigkeit als nachteilig empfinden und sie andere Gruppenidentifikationen (z.B. beruflich) entwickeln, die stärker sind als die Identifizierung mit der ethnischen Gruppe (vgl. Giles/Smith 1979). Die Ähnlichkeit der Funktionsweise von monolingualer und bilingualer Akkommodation ermöglicht so die Vergleichbarkeit von Bosnien und Galizien, nachdem die Vielvölkerstaaten Sowjetunion und Jugoslawien ihre supranationale Legitimität eingebüßt haben und zerfallen sind.
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Sprachvariation, Diglossie und Sprachenkonflikte im Diskurs Zur linguistischen Erforschung der Galizischen Mehrsprachigkeit in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts S TEFANIYA P TASHNYK
DIE S PRACHENPOLITIK DER HABSBURGER UND DIE SPRACHENSITUATION IN G ALIZIEN BZW . IN LEMBERG IM 19. J AHRHUNDERT Die Habsburger Monarchie des 19. Jahrhunderts, insbesondere nach 1848, wird in der Geschichtsschreibung häufig unter den Aspekten des Nationalitätenrechts und des Sprachenrechts betrachtet. Viele Kronländer und Regionen des Habsburger Reiches stellten »Orte von Mischsprachlichkeit« dar, wie es Voß (vgl. in diesem Sammelband) formuliert. Angesichts der politischen Entwicklung im 19. Jahrhundert und der damit verbundenen Steigerung des Identitätsbewusstseins der Volksstämme gehörte der Umgang mit der Mehrsprachigkeit im genannten Zeitraum zu den wichtigsten politischen Herausforderungen innerhalb der Monarchie. Das Kronland Galizien und Lodomerien mit der Hauptstadt Lemberg (heute: L’viv) war in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Die mehrsprachige, multiethnische Kommunikationsgemeinschaft1, die sich hier vorfinden ließ, entstand als Ergebnis der po-
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Dabei lässt sich deutlich zwischen dem dominant ukrainischen Ostgalizien mit erheblichen deutschen, polnischen und jüdischen Minderheiten und
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litisch-geographischen Lage des Kronlandes und seiner komplexen historischen Entwicklung. Exemplarisch werden Ostgalizien und insbesondere die Stadt Lemberg im Fokus meines Beitrags stehen. In der sprachlichen Vielfalt Lembergs dominierten im untersuchten Zeitraum Polnisch, Ukrainisch (Ruthenisch)2 und Deutsch. Ferner wurden Jiddisch, Hebräisch sowie Armenisch verwendet. Im Schriftverkehr unierter Kleriker war bis in die 1860er Jahre hinein auch das Kirchenslawische in Gebrauch.3 Das Verhältnis der Sprachen, die in Galizien bzw. in Lemberg in Gebrauch waren, hatte über den gesamten Untersuchungszeitraum einen hierarchischen Charakter, obwohl das Prinzip ihrer Gleichberechtigung schon im Jahre 1848 in die Geschichte Österreichs eingetreten war.4 Eine der wichtigsten Regelungen der Sprachenrechte für die Habsburger Monarchie war im Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember
dem meist polnischsprachigen Westgalizien differenzieren. (Vgl. Brix 1982, 353) In beiden Teilen Galiziens waren neben Deutschen auch andere Minderheiten mehr oder weniger stark vertreten. 2
Das Ukrainische, das in den Gebieten der der k.u.k.-Monarchie gesprochen wurde, wird in den Quellen der österreichischen Periode meist als »Ruthenisch« bezeichnet. Es handelt sich um eine Reihe historischer westukrainischer Varietäten, auf deren Basis im 19. Jahrhundert eine Schriftsprache elaboriert wurde. Im Weiteren verwende ich die Bezeichnungen Ukrainisch und Ruthenisch bzw. Ukrainer und Ruthenen in Bezug auf die ukrainische Sprache bzw. ukrainischsprachige Bevölkerung, die bis 1918 auf dem Territorium der Habsburger Monarchie verwendet wurde bzw. lebte.
3
Da der Umfang des Beitrags nur eine sehr kurze Skizzierung erlaubt, möchte ich an dieser Stelle auf die etwas ausführlicheren Schilderungen der historischen Sprachensituation Galiziens bzw. Lembergs in den Arbeiten von Fellerer (2005; 2003) und Goebel (1996) sowie auf meinen eigenen Aufsatz (Ptashnyk 2007) verweisen.
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Der Verfassungsausschuss formulierte 1848 den § 21 des Verfassungsentwurfes folgendermaßen: »Alle Volksstämme des Reiches sind gleichberechtigt. Jeder Volksstamm hat ein unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität überhaupt und seiner Sprache insbesondere. Die Gleichberechtigung aller landesüblichen Sprachen in Schule, Amt und öffentlichem Leben wird vom Staate gewährleistet«. (Vgl. Wandruszka 1980, 985)
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1867 verankert. Der Artikel 19 proklamierte das Recht jedes Volksstamms auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität, die Gleichberechtigung der landesüblichen5 Sprachen in Schule, Amt und im öffentlichen Leben und garantierte die Ausbildung in der Muttersprache. Die Erklärung der Gleichberechtigung aller landesüblichen Sprachen als Verfassungsgrundsatz war ein bedeutender Versuch seitens der Habsburger, den Emanzipationsbestrebungen einzelner Nationalitäten der Monarchie gerecht zu werden. Nicht nur auf der Reichsebene, auch auf der Kronlandebene wurde das Prinzip der Gleichberechtigung der Sprachen gesetzlich verankert. Die Galizische Landesverfassung vom September 1850 erklärte die gleichen Rechte für alle Nationalitäten und ihre Sprachen: »jeder Volksstamm hat ein unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache« (§ 4 des Patents vom 29. September 1850).6 Die sprachliche Wirklichkeit in Galizien und in Lemberg wich dennoch deutlich von den politischen Regelungen ab. Die Präsenz der landesüblichen Sprachen war in verschiedenen Bereichen der öffentlichen Kommunikation (etwa Verwaltung, Schule, Kirche etc.) sehr unausgewogen.7 Demzufolge hatten die Sprachen unterschiedliches gesellschaftliches Prestige. Die grundsätzliche Asymmetrie im Ansehen der galizischen Kontaktsprachen wurde dadurch bekräftigt, dass diese im 19. Jahrhundert unterschiedliche Standardisierungsphasen erreichten. Während die Normierung der deutschen und der polnischen Schriftsprache (v.a. im grammatikalischen Bereich) im 19. Jahrhundert weitgehend abgeschlossen war, dauerte diese Entwicklung für das Ukrainische bis ins 20. Jahrhundert hinein an. Der Status Quo der gesellschaftlichen Mehrsprachigkeit Galiziens war allerdings nicht konstant. Die politischen Prozesse nach der Revolution von 1848 verursachten eine deutliche Steigerung des nationalen
5
Im Fall Galiziens galt das Gesetz für Polnisch, Deutsch und Ruthenisch. Das in der privaten Kommunikation weit verbreitete Jiddisch war bis 1918 nicht als Sprache anerkannt.
6
Zitiert nach Wandruszka 1980, 992.
7
Auf die Funktionen der landesüblichen Sprachen in Galizien weist auch Wendland in diesem Band hin: Das Imperium mit Universalsprache Deutsch, die lokale Macht mit Regionalsprache Polnisch und die nichtdominante Gruppe mit ruthenisch-ukrainischen Sprachvarietäten.
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Bewusstseins unter den Völkern der Monarchie, die nun die Gleichberechtigung ihrer Sprachen forderten. Das Primat des Deutschen als ›Universalsprache der Monarchie‹ wurde immer weniger akzeptiert. Das Deutsche spielte zwar hier bis zum Ausgleich mit Ungarn 1867 noch eine bedeutende Rolle, zumal es Latein im offiziellen Schriftverkehr vollständig ersetzte. Nach dem polnisch-österreichischen Ausgleich 1869 ist jedoch ein starker Schwund des Deutschen in den meisten gesellschaftlichen Bereichen zu beobachten. Im ausgehenden 19. Jahrhundert wurde der Gebrauch des Deutschen als Amtssprache auf zentralstaatliche Belange wie Militär, Eisenbahn und Post beschränkt. Außerdem blieb Deutsch die Sprache der evangelischen Kirche und noch lange Zeit die der Synagoge. (Vgl. Nagl/Zeidler/Castle 1937, 1390) Weiterhin erfolgte die Publikation der Gesetze auf Deutsch, auch für den externen Korrespondenzverkehr mit den Behörden außerhalb Galiziens und mit Wien wurde Deutsch genutzt. (Vgl. Fellerer 2003, 153) Das Polnische war die Sprache des überwiegenden Teils der Lemberger Elite (Lehrer und Universitätsdozenten, Richter, Beamte in höheren Positionen etc.) und hatte eine gesicherte soziale Stellung dank des hohen Ansehens seiner Trägerschaft. Im Zuge des polnischösterreichischen Ausgleichs 1869 erließ das Gesamtministerium eine Sprachverordnung für Galizien, die Polnisch als Amtssprache der k.u.k. Behörden, Ämter und Gerichte in Galizien sowie als Korrespondenzsprache zwischen den Landesbehörden vorschrieb. (Siehe Fischel 1910, Nr. 328) Von da an gewann Polnisch immer mehr an Bedeutung, bis es schließlich das Deutsche aus den öffentlichen Kommunikationsbereichen weitgehend verdrängte. Ende des 19. Jahrhunderts ist eine starke Polonisierung der Lemberger Gesellschaft zu konstatieren. (Vgl. Fellerer 2003, 145; Burger 1995, 58) Das Ukrainische war bis 1848 aus dem offiziellen Sprachgebrauch vollständig ausgeschlossen. Nach dem ›Völkerfrühling‹ erfuhr es eine grundsätzliche Aufwertung, nachdem die Ruthenen von der österreichischen Regierung als eigenständige Nationalität anerkannt wurden. 1848 fand das Ukrainische zum ersten Mal im Verwaltungswesen Verwendung, allerdings in sehr geringem Ausmaß. Zwischen 1848 und 1852 wurden alle staatlichen Gesetze und Verordnungen und zwischen 1848 und 1859 auch die des Landes aus dem deutschen Original ins Ukrainische übertragen. Später erfolgte dies nur noch sporadisch. (Vgl. Fellerer 2003, 147) Ferner wurde es als Unterrichtssprache im
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Schulwesen neben dem Deutschen und Polnischen eingeführt. Eine vollkommene Gleichstellung des Ukrainischen mit dem Deutschen und Polnischen, die ein Verfassungsziel war, wurde dennoch nie erreicht. Nach dem Ausgleich von 1869 verringerte sich die Präsenz des Ukrainischen im öffentlichen Leben Galiziens zunehmend. (Vgl. Fellerer 2003, 144; Fellerer 2005, 155) So berichtet Burger hinsichtlich der Sprachen im galizischen Schulwesen, dass 1874 das Ukrainische nur an den Volksschulen und in geringem Ausmaß an den Mittelschulen Galiziens präsent war, oft nicht als Unterrichtssprache, sondern nur als »relativ obligater Lehrgegenstand«. Das galizische Landesgesetz für Mittelschulen gestand Ukrainisch als Unterrichtssprache nur dem akademischen Gymnasium in Lemberg in den ersten vier Klassen zu. (Burger 1995, 60ff.) Grundsätzlich ist zu konstatieren, dass im untersuchten Zeitraum Galizien eine multilinguale Kommunikationsgemeinschaft darstellte, in der zahlreiche Sprachkontakte stattfanden, wobei die beteiligten Sprachen in unterschiedlichen funktionalen Kontexten und Kommunikationsbereichen eingesetzt wurden, d.h. die Sprachen wurden von denselben Sprechern unter verschiedenen Bedingungen gebraucht. Eine solche sprachliche Situation lässt sich aus der soziolinguistischen Sicht als diglossisch bzw. als polyglossisch bezeichnen.8 Die Diglossie ist zugleich als »eingeschränkte Sprachwahl« zu sehen, anders formuliert – als durch bestimmte individuelle oder gesellschaftspolitische Faktoren vorbestimmte Sprachvariation. (Vgl. Bechert/Wildgen 1991, 61) Die genannten linguistischen Konzepte – Diglossie und Sprachvariation – ermöglichen uns die Erfassung der historischen Mehrsprachigkeit, worauf ich im Weiteren am Beispiel Galiziens ausführlicher eingehen möchte.
8
Der Begriff Polyglossie wird parallel zu Di- und Triglossie in Bezug auf mehrsprachige Gesellschaften verwendet. (Vgl. Kremnitz 2004, 158ff.) Als diglossisch werden solche sprachlich-gesellschaftlichen Situationen verstanden, in denen zwei oder mehrere Varietäten »unterschiedlichen funktionalen Kontexten zugeschrieben werden«. (Bußmann 2008, 136; siehe auch Ferguson 1959, 325)
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S PRACHVARIATION UND DIGLOSSIE ALS LINGUISTISCHE K ONZEPTE ZUR B ESCHREIBUNG VON HISTORISCHEN MEHRSPRACHIGEN
G ESELLSCHAFTEN In der Linguistik wird zwischen der ›individuellen‹ und der ›gesellschaftlichen Mehrsprachigkeit‹ unterschieden. ›Die individuelle Mehrsprachigkeit‹ (auch als Bi- bzw. Polylinguismus bezeichnet) verweist auf die Fähigkeit einer Person, mehrere Sprachen »hinreichend kompetent, wenn auch nicht unbedingt gleich gut, zu verwenden« (Barbour/Stevenson 1998, 17). ›Die gesellschaftliche Mehrsprachigkeit‹ definiert man hingegen als eine sprachlich-gesellschaftliche Situation, in der mehrere Sprachen innerhalb einer Kommunikationsgemeinschaft weitreichend verwendet werden. Dabei ist es nicht notwendig, dass jedes einzelne Mitglied der Gruppe beide/alle Sprachen spricht; es handelt sich vielmehr um eine weitgehende Verbreitung der Kontaktsprachen innerhalb einer Kommunikationsgemeinschaft. (Vgl. Bechert/Wildgen 1991, 1) Multilinguale Sprecher(gemeinschaften) verfügen über zwei oder mehrere Sprachen samt ihrer Subsysteme (Standardvarietäten, Dialekten, lokalen Umgangssprachen etc.) und sind mit der Notwendigkeit konfrontiert, ihre Sprechweise den außersprachlichen (sozialen und situativen) Faktoren anzupassen und die situationsadäquaten sprachlichen Mittel zu wählen. Durch direkte oder indirekte mehrsprachige Interaktion zwischen den einzelnen Sprachträgern oder Gruppen entstehen Sprachkontakte, und sie umfassen »sowohl den Prozeß der Sprachberührung als auch das Resultat der Einflüsse einer Sprache auf die andere« (Oksaar 2004, 3160). Für die Beschreibung von multilingualen Gemeinschaften wird fruchtbringend das in der Soziolinguistik entwickelte Konzept der ›Sprachvariation‹ angewandt. (Häcki Buhofer 2000, 7f.; Löffler 2005b, 137f.; Polenz 2000, 60f.) Dabei geht es um folgende Phänomene: (a) Die handlungsbezogene multilinguale Variation oder Variation im mehrsprachigen Verhalten: Sie äußert sich in der situationsabhängigen Wahl einer bestimmten Sprache oder im intrasituativen Über-
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gang von einer zur anderen Sprache bzw. Varietät9, wodurch ein komplexes System sprachlicher Interaktionen entsteht. (b) Die innersprachliche Variation: Diese entsteht infolge des Sprachkontaktes, indem sich die beteiligten Sprachen bzw. Varietäten gegenseitig beeinflussen. Dabei geht es um konkrete Auswirkungen des Sprachkontakts auf die ›materielle‹ Seite der Kontaktsprachen auf der graphematischen, phonetischen, morphologischen, lexikalischen oder morphosyntaktischen Ebene, wie z.B. Interferenzen, Transferenzen (insbesondere Entlehnungen) und Integrationen. Die innersprachlichen Auswirkungen der mehrsprachigen Variation bilden eindeutig den Schwerpunkt der bisherigen kontaktlinguistischen Forschung (vgl. Veith 2002, 135; Oksaar 2004, 3162; Clyne 2004, 800f.) wie auch der Sprachgeschichte, da historische Sprachkontakte zur Erklärung synchroner Erscheinungen und diachroner Entwicklungen beitragen. (Vgl. Kremnitz 1990, 41) Die handlungsbezogene Variation wurde besonders intensiv in der Ortssprachenforschung betrachtet, in Untersuchungen über Städte als multiethnische und multilinguale Kommunikationsräume. (Vgl. als Beispiel Kolde 1981 oder Löffler 2001) Diese Studien haben ergeben, dass die bewusste Sprachwahl sowie der Wechsel zwischen Sprachen mit verschiedenen außersprachlichen Wirkungsfaktoren individueller oder situativer Art zusammenhängen. Zu den wichtigsten gehören die sprachliche Kompetenz des Sprechers bzw. das Sprachrepertoire einer Sprachgemeinschaft (vgl. dazu Pütz 2004, 227), die Sprachloyalität, die Präferenzen des Sprechers und des Adressaten, der Situationstyp, die Einstellung der Sprecher zur eigenen Sprache und die Bewertung der Sprache durch andere Sprechergruppen. (Vgl. Löffler 2005a, 159) Barbour und Stevenson weisen darauf hin, dass der Sprachgebrauch auch von gesellschaftspolitischen Faktoren bestimmt werden kann, und dass in vielen Gesellschaften »zumindest in bestimmten Domänen
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Die Variation kann sowohl einzelne Varietäten einer Sprache als auch zwei oder mehrere typologisch unterschiedliche Einzelsprachen umfassen. (Vgl. Veith 2002, 135; Franceschini 1998, 12) Als Beispiel ließe sich an dieser Stelle die Untersuchung von Riehl über deutsche Minderheiten in Transkarpatien anführen, die zeigt, dass die Sprecher neben ihrem deutschen Dialekt auch die deutsche Standardsprache, einen ukrainischen Regionaldialekt, die ukrainische Standardsprache, (Standard-)Russisch und Ungarisch verwenden. (Vgl. Riehl 2004, 160f.)
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der Gebrauch bestimmter Sprachformen legislativ festgelegt« ist (Barbour/Stevenson 1998, 249). Gesellschaftliche Normen, Sprachplanung, Sprachgesetze, gesellschaftliche Ideologien, der damit zusammenhängende soziale Status einer Sprache und ihre Elaboriertheit beeinflussen in entscheidendem Maße die Variation in einer mehrsprachigen Gesellschaft. (Vgl. Barbour/Stevenson 1998, 17f.; auch Löffler 2005a, 159)
P OLYLINGUALE V ARIATION IN DIACHRONER P ERSPEKTIVE AM BEISPIEL G ALIZIENS Zu der multilingualen Variation in Galizien bzw. in Lemberg gibt es bisher nur wenige Untersuchungen. Bezüglich der gegenseitigen Beeinflussung galizischer Kontaktsprachen im 19. Jahrhundert ist an dieser Stelle die Fallstudie von Fellerer (2005) zur Sprache der galizischen Verwaltungsdokumente zu erwähnen, die solche Phänomene wie Wortfolgevariation im Polnischen und Endungsalternation in der Substantivflexion im Ruthenischen beschreibt. Im Hinblick auf die lexikalischen Kontaktphänomene stellen unter anderem die in Lemberg publizierten mehrsprachigen Wörterbücher ein aussagekräftiges Material dar: Im Ruthenisch-deutschen Wörterbuch von Želechovs’kyj und Nedil’skyj (1884-1885) finden sich beispielsweise viele lemmatisierte Germanismen, Polonismen und Lehnübersetzungen aus dem Polnischen und Deutschen, die als Ergebnis des Sprachkontaktes anzusehen sind. Die meisten von ihnen konnten den späteren Normierungsmaßnahmen des Ukrainischen nicht standhalten. Ich möchte nun mein Augenmerk auf die handlungsbezogene Variation im Sinne von Sprachwahl richten. Für ihre Beschreibung hat sich in der historischen Sozio- bzw. Kontaktlinguistik die an den ›Sprachverhaltensdomänen‹ orientierte Vorgehensweise als fruchtbar erwiesen, da die Sprachwahl häufig an typische soziale Aktivitätssphären geknüpft ist.10 Schriftliche Sprachdokumente (Gerichtsprotokolle,
10 An dieser Stelle möchte ich die Studien zur Mehrsprachigkeit in der Habsburger Monarchie erwähnen, die in dem Sammelband Diglossia and Power, hg. von Rosita Rindler Schjerve (2003), erschienen sind. Die erwähnten Beiträge behandeln den Sprachgebrauch in multilingualen Sprachgemeinschaften wie Trieste, Lombardei, Plzno u.a. am Beispiel der
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amtliche Dokumente, Schulberichte, Kirchenblätter usw.), die einem Sprachhistoriker zur Verfügung stehen, bedürfen einer systematischen Analyse innerhalb der einzelnen Domänen (Verwaltung, Gerichts-, Schul- und Hochschulwesen, Presse, Theater etc.). Eine erschöpfende Beschreibung dessen, wie sich die situationsabhängige Wahl zwischen den Kontaktsprachen in Lemberg im 19. Jahrhundert gestaltete, ist bisher noch nicht erfolgt. Die zuvor angeführten Überlegungen zur polylingualen Variation möchte ich nun exemplarisch anhand der Quellen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erläutern. Für diese Zwecke werden eine Reihe von amtlichen, v.a. gerichtlichen und Verwaltungsquellen sowie Zeitungstexte11 herangezogen, die in der Stadt Lemberg geschrieben bzw. publiziert wurden. Wie im Folgenden gezeigt wird, dokumentieren sie die mehrsprachige Variation auf diversen sprachlichen Rängen, von einem Text oder Textabschnitt bis hin zu einer bestimmten Textsorte oder einem Kommunikationskontext. (1) Zum einen erfolgt der Wechsel zwischen zwei oder mehreren Sprachen innerhalb einer Äußerung oder eines Textabschnittes, in dem die Elemente dieser Sprachen nebeneinander auftreten, wodurch eine Art schriftlich festgehaltenes ›Code-Switching‹ entsteht. Diese Form von Variation kann sowohl einzelne Wörter oder Mehrworteinheiten als auch ganze Sätze umfassen. Im nachfolgenden Beleg finden wir beispielsweise einen deutschsprachigen lexikalischen Einschub im ukrainischen Zeitungsartikel: [A. Wenn uns ab und an doch noch eine erfreuliche Nachricht aus der Ukraine12 erreicht über die Erlaubnis, ein schriftstellerisches Werk von etwas größerer Bedeutung zu drucken (wie zuletzt etwa das ukrainisch-russische Wörterbuch von Naumenko und Tymtschenko im Verlag »Kievskaja Starina«), so be-
Domänen Schule, Gerichtswesen, Presse und Verwaltung. Zum Konzept der Sprachverhaltensdomäne siehe Rindler Schjerve 1996, 796ff. 11 Im Einzelnen sind es die deutschsprachige »Galizische Presse«, die polnischen Blätter »Kurier Lwowski« (KuLw) und »Dziennik Polski« (DzPol) sowie die ukrainische Zeitung »Ⱦɻɥɨ« (Dilo). 12 Gemeint ist hier der ukrainischsprachige Teil des damaligen Russischen Imperiums. Durch das Dekret des russischen Innenministers Valuev von 1863 und den Bad Emser Erlass von 1876 war die Publikation von ukrainischsprachigen Werken im zaristischen Russland (mit wenigen Ausnahmen) verboten.
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deutet dies nur von Fall zu Fall eine Erleichterung im Hinblick auf die Beamtenwillkür dem ruthenisch-ukrainischen Wort gegenüber.]13 Ʉɨɥɢ-ɠɴ ɜôɞɴ ɱɚɫɭ ɞɨ ɱɚɫɭ ɣ ɧɚɫɩɻɽ ɞɨ ɧɚɫɴ ɹɤɚ ɜôɞɪɚɞɧɻɣɲɚ ɜɻɫɬɶ ɡɴ ɍɤɪɚɢɧɵ ɩɪɨ ɞɨɡɜôɥɴ ɧɚ ɞɪɭɤɴ ɹɤɨɝɨɫɶ ɛôɥɶɲɨɢ ɜɚɝɢ ɬɜɨɪɭ ɩɢɫɶɦɟɧɧɨɝɨ (ɹɤɴ ɨɫɶ ɜɴ ɧɚɣɧɨɜɻɣɲôɦ ɱɚɫɻ ɞɨɡɜôɥɴ ɧɚ ɞɪɭɤɨɜɚɧɽ ɭɤɪɚɢɧɶɫɤɨ-ɪɨɫɫɿɣɫɶɤɨɝɨ ɫɥɨɜɚɪɹ ɇɚɭɦɟɧɤɚ ɢ Ɍɢɦɱɟɧɤɚ ɩɪɢ ɪɟɞɚɤɰɿɢ »Ʉɿɟɜɫɤɨɣ ɋɬɚɪɢɧɵ«) ɬɨ ɜɫɟ ɬɟ ɦɚɽ ɡɧɚɱɻɧɽ ɯɢɛɚ ɩɨɥɟɤɲɻ von Fall zu Fall ɥɢɲɟ ɜôɞɴ ɱɢɧɨɜɧɢɱɨɢ ɫɚɦɨɜɨɥɻ ɧɚɞɴ ɪɭɫɤɨ-ɭɤɪɚɢɧɶɫɤɢɦɴ ɫɥɨɜɨɦɴ. (»Dilo« 2.(14.) Januar 1896, 1)
Im angeführten Zitat wird innerhalb des ukrainischsprachigen Textes die deutsche Zwillingsformel »von Fall zu Fall« eingeschoben. Die Verwendung dieser Formel dient allerdings nicht der Schließung einer Leerstelle im lexikalisch-semantischen System des Ukrainischen, da die deutsche Formel ein ukrainisches Äquivalent hat: »ɜɿɞ ɜɢɩɚɞɤɭ ɞɨ ɜɢɩɚɞɤɭ«. Eindeutig ist jedoch, dass der deutsche Phraseologismus orthographisch (und phonetisch) wesentlich kompakter ist als seine ukrainische Entsprechung, deshalb könnte man dieses Beispiel des ›CodeSwitching‹ als eine Art Formulierungshilfe sehen, die dem Bestreben nach einer kompakten Formulierung bzw. nach sprachlicher Ökonomie entgegen kommt. Da der Einschub eine phraseologische Wendung darstellt und keiner umständlichen morphologischen Integration im Satz bedarf, lässt er sich leicht innerhalb eines fremdsprachigen Textes einsetzen. Der Schreiber setzt selbstverständlich voraus, dass solche sprachlichen Elemente auch von ukrainischen Lesern problemlos verstanden werden können. Das nächste Beispiel dokumentiert einen Wechsel zwischen zwei Sprachen innerhalb eines karikierenden Dialogs zu einer Illustration in der polnischen Wochenzeitung »Tygodnik Lwowski« (Abb. 1): [B. Hör mal, Moszko, wann findet die zweite Versammlung des Gebietsrates statt? – Ich weiß nicht, wovon der Herr redet. – Weißt du etwa nicht, was ein Bezirksrat ist? Es ist eine zugelassene autonome Institution für das Land Galizien. – Ich bitte Sie, was ist das für eine Mode, dass derzeit die Herrschaften auf einmal Deutsch sprechen... Und dabei so gelehrt, dass niemand sie versteht.
13 Falls nicht anders angegeben, stammen die Übersetzungen von der Verfasserin, S.P.
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Ist es denn nicht besser, so zu sprechen wie früher, auf Polnisch? – Dumm bist Du, Moszko, man sieht, dass Du keine Zeitungen liest und von nichts weißt. Würdest du die Krakauer Rundschau lesen, so hättest du erfahren, dass wir mit den Deutschen ein Bündnis schließen.] »– Hörst du, Moszku, weissest du nicht, wann ist zweite zgromadzenie der Rada powiatowa? – Ny, abo ja wiem, o czem Wacpan gada. – No, weissest nicht, was Rada powiatowa gilt?... ist eine erlaubte instytucja autonomiczna für galicyjskisches Land. – ProszĊ pana, zaco teraz taka moda, Īe panowie gwałtem mówią po niemiecku... a tak uczono, Īe aĪ nikt nie rozumie; czy to nie lepiej mówiü tak jak dawniej, po polsku? – GłupiĞ, Moszku; widaü Īe ty gazet nie czytasz, i nic nie wiesz, bo gdybyĞ czytał ›Przegląd krakowski‹, tobyĞ siĊ dowiedział, Īe z Niemcami teraz przymierze zawieramy.« (»Tygodnik Lwowski« vom 29.03.1868, 104)
Abb.1: »Tygodnik Lwowski«, 29.03.1868, 104.
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Moszko, der hier prototypisch für einen jüdischen Vertreter der Lemberger Bevölkerung steht, spricht konsequent Polnisch. Sein Gesprächspartner, ein polnischer (Klein-)Bürger verwendet eine Mischung aus fehlerhaftem Deutsch und polnischen lexikalischen ›Einsprengseln‹. Grammatikalisch nicht korrekt sind etwa die Imperativformen »hörst«, »weissest« oder die Verwendung der Ordinalzahl »zweite« ohne entsprechenden bestimmten Artikel. Nach der deutschen Ordinalzahl folgen polnische Ausdrücke, die die Vermutung erlauben, dass die entsprechenden deutschen Bezeichnungen dem Sprecher nicht geläufig sind. Im Weiteren verbindet der Sprecher den deutschen bestimmten Artikel »die« mit der polnischen Bezeichnung für den Bezirksrat (»Rada powiatowa«). Das Wort »galicyjskisches« ist eine Art Wortkreuzung aus dem polnischen Adjektiv ›galicyjski‹ und dem deutschen ›galizisch‹ mit entsprechender deutscher Flexion. Diese Sprachvermischung mit Verletzung grammatikalischer Normen wird im Text als Stilmittel eingesetzt: Die fehlerbehaftete Ausdrucksweise des ›anpassungsfreudigen‹ polnischen Bürgers wirkt komisch und ungeschult, ja lächerlich, da er zugleich den Anspruch hat, sich seinem Gesprächspartner Moszko gegenüber als gut informiert, gebildet und fortschrittlich zu präsentieren. (2) Die nächste Form von Variation kann man als ›dokumentinterne Variation‹ bezeichnen. Sie besteht darin, dass innerhalb eines Dokumentes für verschiedene (Teil-)Texte unterschiedliche Sprachen verwendet werden. Als Beispiel mag hier eine Urkundenabschrift von 137914 dienen, die der Magistrat dem Städtischen Archiv zur Aufbewahrung überreichte (Abb. 2). Der Haupttext handelt von den Privilegien der Stadt Lemberg und ist auf Lateinisch verfasst, das in Lemberg bzw. Galizien bis in das 19. Jahrhundert hinein für den offiziellen Schriftverkehr Verwendung fand. Im Anschluss an den Urkundentext (auf der Rückseite) befindet sich ein auf Deutsch verfasster Beglaubigungsvermerk, was dadurch zu erklären ist, dass die Abschrift 1862 in Wien erstellt wurde. Die Notizen in der Kopfzeile sind auf Polnisch; diese wurden vom Magistrat zum Zweck der Inventarisierung gemacht, woraus sich schließen lässt, dass bereits vor 1867/69 das Polnische in Lemberg als (interne) Verwaltungssprache üblich war. Dieses Dokument ist ein
14 Staatliches Historisches Archiv L’viv; Archivsigle: F. 52, op. 1, Nr. 135.
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eindrucksvolles Beispiel der sprachlichen Variation, die durch historische Bedingungen und durch den Sprachwechsel im Verlauf der Geschichte zu erklären ist. Es ist gleichzeitig anzunehmen, dass diese Art Variation an bestimmte Textsorten oder institutionelle Bereiche gebunden ist: Es handelt sich um eine Urkunde mit amtlichen Vermerken bestimmter Institutionen sowie um die Kommunikation ›nach außen‹ (d.h. zwischen Lemberg und Wien). Vergleichbare Variationsbeispiele finden sich zahlreich in Dokumenten, die unmittelbar und ausschließlich in Lemberg entstanden sind, etwa in den Lemberger Grundbüchern, da für die Regelung der Eigentumsrechte im 19. Jahrhundert häufig die Bezugnahme auf ältere, lateinischsprachige Dokumente nötig war.
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Abb. 2: Abschrift der Urkunde von 1379 über die Privilegien der Stadt Lemberg.
(3) Ein weiteres und für die Erforschung der historischen Sprachvariation interessantes Phänomen stellt die handlungsbezogene Variation, die in einer bewussten, von verschiedenen sozialen und individuellen Faktoren gesteuerten Wahl einer adäquaten Sprache für einen bestimmten (eigenständigen) Text bzw. eine Textsorte oder einen bestimmten Handlungsbereich zum Ausdruck kommt. Die historischen Quellen liefern uns ein reichhaltiges Material für solche Untersuchungen. Als Beispiel seien an dieser Stelle die Dokumentationen des Stadtmagistrates in Sachen des Grafen Baworowski angeführt, eines reichen und angesehenen Vertreters des polnischen Adels in Lemberg. Der Graf wurde wegen der »Übertretung gegen die körperliche Sicherheit« durch seine Tiere (Bären und Kamele) angeklagt. Die im Lemberger Stadtarchiv erhaltene Akte15 umfasst elf Schriftstücke, die zwischen 1860 und 1864 von verschiedenen Absendern auf Deutsch und auf Polnisch verfasst wurden. Wenn man in diesem Fall die Motive für die Sprachwahl zu erklären versucht, so sind zunächst der Absender und der Empfänger zu betrachten: Die Wahl der Sprache für das jeweilige Schriftstück kann einerseits durch die Präferenzen seines Verfassers, andererseits aber durch den Rang des Empfängers oder durch den Status der an dieser Kommunikation beteiligten Institutionen bestimmt sein. Beispielswei-
15 Staatliches Historisches Archiv L’viv; Archivsigle: F. 52 op. 1 Nr. 951.
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se sind die Schreiben des Magistrates an Graf Baworowski auf Polnisch, die Stellungnahmen des Oberlandesgerichts und des städtischen Bezirksgerichts hingegen auf Deutsch geschrieben. Dies erlaubt mir die Behauptung, dass zu diesem Zeitpunkt für das Gerichtswesen (weitgehend) das Deutsche vorbehalten war, während sich die städtischen Behörden für die Kommunikation mit der Öffentlichkeit des Polnischen bedienten. Weitere einschlägige Beispiele von Sprachvariation liefert das Buch der städtischen Nachtwache aus dem Archiv des Lemberger Stadtmagistrates.16 Die dort eingetragenen Dienstmeldungen über die nächtlichen Vorfälle bzw. deren Nicht-Geschehen sind zwischen dem 18. März und dem 29. Oktober 1848 entstanden und umfassen 107 Blätter. Es handelt sich um ein mehrteiliges Sprachdokument; jeder Eintrag stellt einen eigenständigen Text dar, ist datiert und von den Mitgliedern der Wache17 unterschrieben. Die ersten Berichte dieser Sammlung sind auf Polnisch (Blätter 1-17); am 14./15. April wurde der erste Eintrag auf Deutsch gemacht (Blatt 18-19), danach wechselt wieder die Sprache. Insgesamt dominieren im Buch zu 90% polnische Eintragungen. Obwohl die Historiker für diese Zeit (1848) noch den Primat des Deutschen als Universalsprache der Monarchie konstatieren, geht aus den erwähnten Dokumenten hervor, dass das Polnische schon damals eine große Rolle in der amtlichen Kommunikation mit der Öffentlichkeit spielte. Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass die Mitglieder der Corps sowohl das Deutsche als auch das Polnische (wenn auch im unterschiedlichen Ausmaße) beherrschten. Die Sprachwahl lässt sich durch die individuelle Präferenz des Verfassers erklären. Es sei bemerkt, dass in dieser Textsammlung kein einziges Dokument in ruthenischer Sprache vorzufinden ist. Offensichtlich war sie zu dieser Zeit noch aus dem administrativen Bereich ausgeschlossen. Die angeführten Beispiele der mehrsprachigen Variation im historischen Kontext haben selbstverständlich nur exemplarischen Charakter. Eine systematische Aufdeckung der Faktoren, die die Variation innerhalb einer mehrsprachigen Kommunikationsgemeinschaft in Lemberg im 19. Jahrhundert beeinflussten oder steuerten, bedarf weiterer
16 Staatliches Historisches Archiv L’viv; Archivsigle: F. 52 op. 1 Nr. 52. 17 Aus den Unterschriften wird ersichtlich, dass die Wache abwechselnd von der bürgerlichen Infanterie, dem bürgerlichen Scharfschützen-Corps, dem Artillerie-Corps und dem Grenadier-Corps gehalten wurde.
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Recherchen. Die analysierten Beispiele zeigen jedoch deutlich, dass die mehrsprachige Variation sich auf allen sprachlichen Rängen, d.h. sowohl auf der Mikro- als auch auf der Makroebene beschreiben lässt – vom ›Code-Switching‹ innerhalb eines Textes oder einer mehrsprachigen Abfassung eines Dokumentes bis hin zur bewussten Sprachwahl für eine bestimmte Domäne, eine Textsorte oder einen bestimmten Kommunikationskontext.
S PRACHENKONFLIKTE IN G ALIZIEN ALS ERGEBNIS VON DIGLOSSIE Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass für die sprachliche Situation Galiziens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vielfältige Veränderungen der Sprachenkonstellationen charakteristisch sind, die durch eine stete Dynamik des gesellschaftlichen Status der Kontaktsprachen geprägt sind. Die Diglossie, wie man sie etwa 1848 vorfindet, bleibt keinesfalls konstant. Es finden komplexe Entwicklungen statt, wobei die Verschiebung der gesellschaftlichen Funktionen der jeweiligen Sprache, der Gewinn oder Verlust an Prestige im entscheidenden Maße mit der ideologischen und sprachpolitischen Entwicklung im Land zusammenhängen. Die Präsenz des Ruthenischen außerhalb privater Kommunikationsbereiche konnte nur durch die Anerkennung der Ruthenen als eigenständige Nationalität infolge der Revolution von 1848 erreicht werden. Der Schwund des Deutschen als Amtssprache in Galizien und seine Limitierung auf die zentralstaatlichen Angelegenheiten und den Schriftverkehr mit Wien, die zunehmende Präsenz des Polnischen im ausgehenden 19. Jahrhundert waren Folgen der bereits erwähnten Sprachengesetze von 1867 und 1869. Auch die politischen Bewegungen der Ruthenen im 19. Jahrhundert, die sprachideologischen Diskussionen im Zusammenhang mit den Badeni-Gesetzen für Böhmen und Mähren (1897) und viele andere politisch-ideologische Faktoren beeinflussten schließlich die Präsenz und das öffentliche Ansehen der Kontaktsprachen Galiziens. Die Diglossie in Galizien ging mit zahlreichen Sprachenkonflikten einher. Im Grunde handelte es sich dabei um wirtschaftlich und sozial bedingte Konflikte: Indem die nationalen Gruppierungen ihren divergierenden sozioökonomischen oder politischen Interessen Geltung verschaffen wollten, trugen sie die
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Konflikte unter anderem im Diskurs über das Symbol der Ethnosprache aus. Einen Zugang zur linguistischen Erfassung der Sprachenkonflikte ermöglicht die Auswertung diskursiver Äußerungen über die Kontaktsprachen, wie man diese in historischen Texten vorfindet. Sie erlauben eine Rekonstruktion dessen, wie die Sprachen innerhalb der Gemeinschaft kategorisiert und bewertet wurden, welche Leitbegriffe und Argumentationsweisen man dabei verwendete und wie der Sprachendiskurs mit den ideologischen Entwicklungen zusammenhing. Da die Explizierung dieses Themas eines gesonderten Rahmens bedarf, möchte ich an dieser Stelle nur wenige Beispiele für diskursive Äußerungen in den Lemberger Zeitungen von 1897 anführen. Der damalige Sprachendiskurs ist im engen Zusammenhang mit den schon erwähnten Sprachenverordnungen für Böhmen und Mähren zu betrachten, die einen Anstoß für rege monarchieweite Diskussionen über die nationalen Sprachenrechte im Kontext der interethnischen Verhältnisse in Österreich gaben. Das polnische Blatt »Kurier Lwowski« reagierte positiv darauf, dass die Tschechen größere Rechte bekommen haben. Die neue Sprachenregelung wird als »Fortschritt der Gerechtigkeit im Nationalitätenverhältnis« bezeichnet: [C. Wir können den Tschechen herzlich zu dieser neuen Errungenschaft gratulieren, welche zugleich einen Fortschritt der Gerechtigkeit im Nationalitätenverhältnis in Österreich bedeutet.] »My moĪemy szczerze pogratulowaü Czechom tej nowej zdobyczy, która zarazem jest postĊpem sprawiedliwoĞci w stosunkach narodowoĞciowych w Austrji.« (»Kurier Lwowski« vom 07.04.1897, 1)
Dass das Zugeständnis größerer Rechte für das Tschechische legitim und gerecht ist, wird sowohl in der ukrainischen (Beispiel D) als auch in der polnischen Presse (Beispiel E) mit der hohen kulturellen und wirtschaftlichen Stellung des tschechischen Volkes begründet. Die Nachteile, die die Sprachenverordnungen für Deutsche in Böhmen und Mähren mit sich brachten, werden nicht erwähnt. [D. Das Recht ist offenbar auf der Seite der Tschechen. Sie haben volles Recht zu verlangen, dass die jetzige Benachteiligung der tschechischen Sprache so-
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wie die Hegemonie der deutschen Sprache ein Ende nimmt, damit in ihrem Lande, auf welches sie viel mehr historische Rechte haben als die Deutschen, und in dem sie die absolute Mehrheit der Bevölkerung ausmachen, ihre Sprache die gleiche Stellung einnimmt, wie das Deutsche, umso mehr, da sie kulturell keine niedrigere Stellung haben als die Deutschen.] »[...] ɫɥɭɲɧôɫɬɶ ɽɫɬɶ ɨɱɟɜɢɞɧɨ ɩɨ ɫɬɨɪɨɧɻ ɑɟɯôɜɴ. Ɉɧɢ ɦɚɸɬɶ ɩɨɜɧɟ ɩɪɚɜɨ ɠɚɞɚɬɢ, ɳɨɛɵ ɬɟɩɟɪȭɲɧɟ ɭɩɨɫɥȭɞɠɟɧɽ ɹɡɵɤɚ ɱɟɫɤɨɝɨ ɚ ɝɟʉɟɦɨɧɿɹ ɹɡɵɤɚ ɧɻɦɟɰɤɨɝɨ ɫɤôɧɱɢɥɚ ɫɹ, ɳɨɛɵ ɜɴ ɢɯɴ ɤɪɚɸ, ɞɨ ɤɨɬɪɨɝɨ ɨɧɢ ɣ ɢɫɬɨɪɢɱɧɨ ɦɚɸɬɶ ɛôɥɶɲɟ ɩɪɚɜɨ ɹɤɴ ɇɻɦɰɻ ɢ ɞɟ ɨɧɢ ɫɬɚɧɨɜɥɹɬɶ ɚɛɫɨɥɸɬɧɭ ɛôɥɶɲôɫɬɶ ɧɚɫɟɥɟɧɹ, ɢɯɴ ɹɡɵɤɴ ɧɚ-ɪôɜɧɢ ɛɭɜɴ ɩɨɫɬɚɜɥɟɧɵɣ ɡɴ ɧɻɦɟɰɤɢɦɴ, ɬɵɦɴ ɛôɥɶɲɟ, ɳɨ ɨɧɢ ɤɭɥɶɬɭɪɧɨ ɧɟ ɫɬɨɹɬɶ ɧɢɡɲɟ ɜôɞɴ ɇɻɦɰɻɜɴ [...].« (»Dilo« 28.04 (10.05) 1897, 1) [E. Die Tschechen stehen in jeder Hinsicht – in der Wirtschaft, dem Handel, dem Denken, der Literatur usw. so hoch, dass sie offensichtlich mit gutem Recht die Gleichberechtigung ihrer Sprache mit der deutschen Sprache verlangen.] »Czesi pod kaĪdym wzglĊdem: gospodarczym, handlowym, umysłowym, literackim itd. stoją tak wysoko, iĪ zupełnie słusznie domagają siĊ równouprawnienia swego jĊzyka z jĊzykiem niemieckim.« (»Dziennik Polski« vom 11.04.1897, 1)
In »Dziennik Polski« wird im Kontext dieser Diskussion das generelle Plädoyer für das gleichrangige Erlernen der ›Sprache des Nachbarn‹ in den multilingualen Gebieten Österreichs geäußert, wie es der nachfolgende Beleg deutlich macht: [F. In Österreich sollte man sich grundsätzlich mit dem Gedanken abfinden, dass die Einwohner jener Länder, wo zwei Nationalitäten wohnen, b e i d e Landessprachen werden lernen müssen. Derjenige, der die Sprache seiner Mitbürger lernt, tut keineswegs einen Schaden seiner eigenen Muttersprache und verliert nicht die Merkmale seines Volkes.] »W Austrji w ogóle naleĪy pogodziü siĊ z tą myĞlą, Īe mieszkaĔcy tych krajów, w których zamieszkują dwie narodowoĞci, bĊdą siĊ musieli nauczyü o b u jĊzyków krajowych. Nikt, ucząü siĊ jĊzyku swego współobywatela, nie
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czyni ujmy swemu jĊzykowi ojczystemu i nie zatraca cech swego narodu.« (»Dziennik Polski« vom 11.04.1897, 1)
Die Meinung, dass das Beherrschen der Sprache des Nachbarn für alle Beteiligten von Vorteil ist, ist also durchaus im Diskurs vertreten. Es wäre dennoch falsch, diese Meinung als dominanten Diskurs anzunehmen. Gerade der nachfolgende Beleg aus »Kurier Lwowski« dokumentiert die gegenteilige Stellungnahme, dass das Erlernen einer fremden Sprache für Minderheiten den Verlust eigener nationaler Identität bedeutet: [G. Wenn es den in der Rus’ zerstreuten Polen derzeit noch nicht an nationalen Gefühlen mangelt, so kann das rasch eintreten. Sie sprechen und singen ruthenisch und entnationalisieren sich allmählich.] »JeĪeli Polakom, rozrzuconym po Rusi, dziĞ jeszcze nie brak narodowego poczucia, to wnet to nastąpiü moĪe. Mówią oni i Ğpiewają po rusku i powoli siĊ wynaradowjają.« (»Kurier Lwowski«, 04.05.1897, 1)
Hier werden die in Galizien lebenden Polen als eine gefährdete Gemeinschaft kategorisiert. Als potentieller Gefährdungsfaktor für ihre Gruppenidentität wird die Verwendung der ukrainischen Sprache gesehen und als Folge der potentielle Verlust des nationalen Gefühls, weshalb die Polen der potentiellen Assimilation ausgesetzt seien. Ein weiteres interessantes Beispiel aus dem Sprachendiskurs von 1897 findet sich in der deutschsprachigen »Galizischen Presse«: »H. [...] dass es nur eine unbegreifliche Unvernunft vermag, eine Sprache als gleichwertig mit den anderen hinstellen zu wollen, welche noch nicht Literatursprache geworden ist, deren Idiome von einander grundverschieden sind und aus diesem Grunde noch nicht als einheitliches Gemeingut des Volkes als Nationalsprache, betrachtet werden kann.« (»Galizische Presse«, 13.06.1897, 2)
Die zitierte Aussage bezieht sich auf das Ukrainische und greift den Diskurs der Gleichberechtigung aller ›landesüblichen‹ Sprachen auf. Die Gleichstellung von Kontaktsprachen wird als problematisch gesehen, was aus der angeführten Passage deutlich hervorgeht. Interessant ist hier die diskursive Argumentationsweise: Der Autor will dem Ukrainischen die Gleichberechtigung absprechen, und zwar mit der Be-
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gründung mangelnder Elaboriertheit. Die drei18 ›Idiome‹ des Ukrainischen, die im 19. Jahrhundert in Verwendung waren, als grundverschieden zu bezeichnen, ist eine diskursive Strategie der hegemonialen Gruppe, die ihren sprachlichen Status quo und entsprechend auch ihre dominante politische Stellung in der Gesellschaft zu erhalten versucht, da das Prestige und die Präsenz einer Sprache in zentralen gesellschaftlichen Bereichen unmittelbar mit dem sozial-politischen Status ihrer Sprecher zusammenhängen. Eine erschöpfende Analyse der Sprachenkonfliktdiskurse ist an dieser Stelle aus Platzgründen nicht möglich. Diese angeführten Beispiele aus dem massenmedialen Sprachendiskurs dürften jedoch deutlich gemacht haben, dass das Merkmal der Ethnosprache eine große Bedeutung für die Konstitution der Gruppenidentität und für den Erhalt der sozial-politischen Stabilität und des gesellschaftlichen Prestiges dieser Gruppen hat. Wie auch Wendland (vgl. in diesem Band) deutlich macht, ist die Sprache eine wichtige Komponente im komplexen Beziehungsgefüge zwischen hegemonialen und nichtdominanten Gruppen.
RESÜMEE UND AUSBLICK Die diglossische Situation in Galizien im 19. Jahrhundert brachte eine Reihe von linguistischen und insbesondere soziolinguistischen Phänomenen hervor. Wie es die Quellenanalyse deutlich machte, fixieren die in Galizien bzw. in Lemberg in diesem Zeitraum entstandenen Texte eine Reihe interessanter Manifestationsformen von Sprachvariation, die sich auf allen sprachlichen Rängen, von der Mikro- bis zur Makroebene beschreiben lassen, d.h. sowohl innerhalb eines Textes oder Dokumentes als auch innerhalb einer Domäne oder Institution, einer bestimmten Textsorte oder eines Kommunikationskontextes.
18 Es ist bekannt, dass im 19. Jahrhundert im Zuge der Standardisierung des Ukrainischen von verschiedenen politischen Gruppen oder kulturellen Organisationen drei (Schrift-)Varietäten verwendet wurden: das Kirchenslawische, das Russische und eine Mischung aus westukrainischen Varietäten (vgl. dazu Moser 2004).
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Die Frage, wie sich die sprachliche Realität in Lemberg und in Galizien im Verlauf des 19. Jahrhunderts gestaltete, bedarf noch einer umfassenden Untersuchung. Die Erforschung der galizischen Mehrsprachigkeit gehört zu den Forschungsdesideraten. Dabei ist von primärer Wichtigkeit, die sprachlichen Makroränge intensiver in die Untersuchungen mit einzubeziehen, um besser zu verstehen, welche sozialen und individuellen Faktoren die bewusste Wahl einer adäquaten Sprache für einen bestimmten Text, eine bestimmte Textsorte oder einen bestimmten Handlungsbereich steuerten. Die Faktoren der bewussten Sprachwahl für die Kommunikation in den zentralen gesellschaftlichen Domänen, aber auch die expliziten diskursiven Äußerungen über die Sprachenfrage beleuchten die gesellschaftspolitische Akzeptanz oder Nichtakzeptanz einer bestimmten Sprache, sind wichtige Indizien dafür, welche ethnischen Gruppen auf welche Weise in den politischen und in den Verwaltungsprozess einbezogen bzw. von ihm ausgeschlossen wurden. Die Erklärung dieser Aspekte im Kontext der historischen Mehrsprachigkeit würde einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der komplexen Sprachenverhältnisse in der Monarchie leisten.
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Mehrsprachigkeit oder Mischsprachigkeit? Ostgalizische Literatur Anfang des 20. Jahrhunderts R ENATA M AKARSKA
In der Einleitung zum Band Exophonie: Anders-Sprachigkeit (in) der Literatur weisen dessen Herausgeber, Susan Arndt, Dirk Naguschewski und Robert Stockhammer, auf die Beispiele der ›traditionellen‹ mehrsprachigen Gebiete in Europa hin. Sie nennen stellvertretend das »Elsaß, Luxemburg, die Bukowina oder Prag um 1900«1. Zwar sind das lediglich Beispiele, es überrascht jedoch trotzdem, dass eben die Bukowina und nicht Galizien genannt wird. Passiert dies, weil sich die Mehrsprachigkeit der Bukowina viel deutlicher als ein Teil deutscher Kultur manifestiert hat? Oder weil sie in literarischen Werken sichtbarer wurde? Galizien gehört nämlich zweifelsohne zu den wichtigsten polykulturellen und mehrsprachigen Regionen Europas. Im Folgenden möchte ich darstellen, wie sich die Mehrsprachigkeit dieses Raumes in literarischen Texten manifestiert. Dabei geht es mir sowohl um die Mehrsprachigkeit der Autoren, die sich – abhängig von der Thematik ihrer Werke oder von der Lebensphase – für die eine oder andere Sprache entscheiden, als auch um die Nachbarschaft mehrerer Sprachen innerhalb eines literarischen Werkes, die in der Literatur aus Galizien häufig zu beobachten ist.
1
Arndt/Naguschewski/Stockhammer 2007, 13.
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In der Analyse unterscheide ich konsequent zwischen einer ›Mehrsprachigkeit‹, die die Autoren selbst, die Gesellschaft generell oder auch den Raum betrifft und beschreibt, und einer ›Mischsprachigkeit‹2, die vor allem (aber nicht nur) eine Domäne der (literarischen) Texte bleibt. Weiterhin unterscheide ich zwischen einer biographischen und einer literarischen Mehrsprachigkeit, denn die Tatsache, dass ein Autor mehrere Sprachen beherrscht, bedeutet noch nicht, dass er in all den Sprachen publiziert; dies kann aber dazu führen, dass die Mehrzahl der Sprachen in seinem häufig einsprachigen Werk auf irgendeine Weise sichtbar wird. Unter ›literarischer Mehrsprachigkeit‹ verstehe ich – nach Kremnitz 2004 und Wytrzens 2009 – die Verwendung mehrerer (in der Regel zwei) Sprachen in einem Oeuvre, wobei man sich einig ist, zwischen einer synchronen (im Fall eines gleichzeitigen Schaffens in zwei oder mehr Sprachen) und einer diachronen (im Fall eines konsequenten Sprachwechsels) Mehrsprachigkeit unterscheiden zu müssen. Ostgalizien zu Beginn des 20. Jahrhunderts – das im Fokus meiner Untersuchung steht – ist zweifelsohne ein mehrsprachiger Raum, ein polykulturelles und -ethnisches Gebiet. Der Historiker Jaroslav Hrycak nennt es sogar einen »linguistischen Turm zu Babel.« (Hrytsak 2009, 249) Dies beeinflusst sicherlich auch die literarische Mehrsprachigkeit vieler Autoren, aber diese bleibt doch immer ein individuelles Phänomen, eine persönliche Entscheidung, die jedes Mal andere Ziele verfolgt. Trotz der Polykulturalität des Raumes ist die (polnische, österreichische, ukrainische, jiddische) Literatur, die dort entsteht, fast konsequent einsprachig. Sie trägt jedoch Spuren der Mehrsprachigkeit in Form der eben genannten ›Mischsprachigkeit‹: Der polnische, ukrainische oder deutsche Text wird mit einzelnen Passagen, Sätzen, einzelnen Wörtern oder gar Wortstämmen aus anderen Sprachen durchsetzt.3 Dies lässt sich als eine Bestätigung der These von Georg Kremnitz in-
2
Den Begriff benutze ich nach Knauth 2004.
3
Häufig wird im Fall der mischsprachigen Texte in der Linguistik von einem Code-switching gesprochen (vgl. den Aufsatz von Stefaniya Ptashnyk in diesem Band). In der letzten Zeit etablierten sich auch weitere Begriffe: eines Code-shifting, Code-mixing oder eines Fusionlectes in Bezug auf den »dritten Raum der Mehrsprachigkeit« – vgl. die Arbeit über das Viadrinisch, http://www.europa-uni.de/de/forschung/bericht/datenbank/kuwi/sw/sw1/promotion_wilniewczyc/index.html (Zugang: 06.03.2012).
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terpretieren, demzufolge die literarische Mehrsprachigkeit mit mehrsprachigen Gesellschaften und die Mischsprachigkeit mit mehrsprachigen Räumen zusammenhängt. (Vgl. Kremnitz 2004, 141-163) Im Folgenden widme ich mich zuerst der biographischen und literarischen Mehrsprachigkeit der Autoren, danach konzentriere ich mich auf die unterschiedlichen Arten der Mischsprachigkeit in ostgalizischen Texten.
I. MEHRSPRACHIGE AUTOREN Die Parallelität und die Koexistenz der Sprachen ist in Bezug auf Ostgalizien sowohl auf der gesellschaftlichen Makroebene (bedingt durch die physische Nachbarschaft verschiedener Ethnien sowie durch die offizielle Einführung einer Amtssprache) oder auch in einzelnen (vor allem polnischen und ukrainischen, aber auch jüdischen) Biographien sichtbar. Die biographische Mehrsprachigkeit der Autoren selbst wird von mindestens zwei Faktoren beeinflusst: einer mehrsprachigen Familie (oder einem mehrsprachigen näheren Umfeld) sowie einem von imperialen Strukturen bestimmten Bildungsweg; so dürften fast alle angehenden ukrainischen Autor/-innen Ende des 19. Jahrhunderts nach dem Abschluss einer ukrainischen Grundschule ein polnisches Gymnasium und – in der Regel – eine polnisch- oder deutschsprachige Universität absolviert haben. In diesem Kontext ist die Frage nach der Funktion der jeweiligen Sprache wichtig. Deleuze und Guattari schlagen in ihren Überlegungen zu einer »kleine[n] Literatur« das ›Vier-Sprachen-Modell‹ von Henri Gobard vor, das vernakulare, vehikulare, referentiale sowie mythische Sprachen unterscheidet. (Deleuze/Guattari 1976, 34) Die erste Sprache ist dabei mit dem Territorium (dem Umfeld) der Kindheit verbunden, die zweite markiert die Bewegung nach außen (z.B. den Bildungsweg), die dritte – die Zugehörigkeit zu einem breiteren Kulturkreis, die vierte schließlich – die religiöse Tradition. Im Fall einer Biographie aus Ostgalizien lässt sich nur selten ein Zusammenhang aller vier Sprachtypen beobachten. Für viele ukrainische Autoren spielt Polnisch die Rolle einer vehikularen Sprache, es ist die »städtische, […] die Sprache der primären Deterritorialisierung«. (Ebd.) Im Fall eines Studiums in Wien kommt noch Deutsch als referentiale Sprache
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hinzu, als »Sprache des Sinns und der Kultur« (kultureller Reterritorialisierung, ebd.). Von einer mythischen Sprache kann m.E. lediglich in Bezug auf jüdische Autoren die Rede sein, diese Funktion übernimmt hier Hebräisch. Dieses Modell ist keineswegs linear gedacht, häufig verbinden sich die Kategorien einer vernakularen, vehikularen oder referentialen Sprachen miteinander: Entweder wenn Eltern unterschiedliche Kulturen repräsentieren (und die Kinder de facto zweisprachig aufwachsen) oder wenn die weiteren Bezugspersonen (Amme bzw. Gouvernante) einer anderen Kultur als die Eltern angehören. Für die meisten hier von mir gelesenen Autoren aus Ostgalizien würde zumindest ein ›Drei-Sprachen-Modell‹ zutreffen. Trotz der unumstrittenen Polykulturalität des (ost)galizischen Territoriums spreche ich in diesem Zusammenhang sehr vorsichtig von einer gesellschaftlichen Mehrsprachigkeit (vgl. Kremnitz 1990) und übernehme hierbei die terminologische Spezifizierung des Phänomens, die 2004 Kremnitz vorgenommen hat: Der Romanist unterscheidet konsequent zwischen mehrsprachigen Gesellschaften und Territorien. Im ersten Fall denkt er an institutionell bilinguale Gesellschaften, wie im Elsass oder in den Katalanischen Ländern (ebd. 2004, 141-163), im zweiten spricht er vor allem über Metropolen, wo »Angehörige von verschiedenen sprachlichen Gruppen aufeinander stoßen und Schriftsteller, die in ganz unterschiedlichen Sprachen schreiben, in Kontakt kommen (können)«. (Ebd., 161) Das hier untersuchte Ostgalizien steht sichtbar dazwischen, der gesellschaftliche Bilingualismus, der als Folge imperialer Politik eingeführt werden sollte, hat sich vornehmlich in größeren Städten verbreitet, auf dem sonstigen Territorium herrschte eine weit verbreitete Mischsprachigkeit. Die biographische Mehrsprachigkeit der ostgalizischen Autoren wird in zwei Bereichen sichtbar: in den eigenen literarischen Werken sowie in der translatorischen Praxis. An dieser Stelle möchte ich insbesondere unter den ukrainischen sowie jüdischen Autoren einige repräsentative Beispiele der diachronen sowie synchronen literarischen Mehrsprachigkeit nennen. Obwohl Ol’ha Kobyljans’ka (1863-1942) auf Polnisch zu publizieren begann4, verdankte sie die erste öffentliche Auf-
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Ihre Familie war mütterlicherseits deutsch-polnisch.
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merksamkeit ihren deutschsprachigen Texten5; Ukrainisch schrieb sie erst ab Mitte der 1890er Jahre. (Simonek 2011, 118f.) Ähnliche Etappen der schriftstellerischen Arbeit lassen sich auch im Fall der jüdischen Autorin Debora Vogel (1902-1942) beobachten: Zwar debütierte sie auf Polnisch, bereits in den 1920er Jahren begann sie jedoch ihre Texte in Jiddisch (und zum Teil Hebräisch) zu verfassen.6 An diesen zwei Beispielen lässt sich gut beobachten, dass der Sprachwechsel nicht unbedingt immer entlang der im Vier-Sprachen-Modell sichtbaren Linearität (von einer vernakularen zur vehikularen oder referentialen) erfolgt. Von der Sprache der ersten Deterritorialisierung wechseln die ostgalizischen Autoren häufig im Geiste der nationalen Wiedergeburt zur ›Sprache der ersten Umgebung‹ oder zu der ›mythischen Sprache‹. Im Unterschied dazu gilt im Fall Ostgaliziens als prominentestes Beispiel der synchronen Mehrsprachigkeit Ivan Franko (1856-1916), der sich – je nach Thema und Gattung – einer anderen Sprache bediente (Ukrainisch, Deutsch oder Polnisch). Besonders zu betonen sind an dieser Stelle seine (belletristischen und essayistischen) Beiträge für die deutschsprachige Presse in Wien. Zu den multilingualen Aktivitäten veranlassten ihn nicht nur die Perspektive des Dialogs mit unterschiedlichen Leserkreisen, sondern auch, wie dies Stefan Simonek anschaulich dargelegt hat (Simonek 2011), »diskursive Möglichkeiten des Deutschen« (ebd., 121) innerhalb der Donaumonarchie. Deutsch veranlasste Franko oftmals zu einem individuelleren und kritischeren Schreibduktus. Die ostgalizischen Autoren lassen sich mit den zeitlich parallelen Beispielen aus Westgalizien vergleichen: Für Krakauer Schriftsteller war Deutsch die referantiale Sprache und Wien das entsprechende kulturelle Zentrum.7 Das repräsentativste Beispiel literarischer (sowohl synchroner als auch diachroner) Mehrsprachigkeit ist in Krakau Anfang des 20. Jahrhunderts Tadeusz Rittner (1873-1921), der – obwohl in Lemberg geboren – ab dem 11. Lebensjahr im Wiener Theresianum
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Ende der 1880er Jahre begann sie Deutsch zu schreiben (1901 erschien ihr deutschsprachiger Band Kleinrussische Novellen), ab der Mitte der 1890er Jahre schrieb sie auf Ukrainisch.
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Vgl. Werberger 2007.
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Innerhalb der Donaumonarchie. Ein anderes wichtiges kulturelles Zentrum außerhalb von Westgalizien war zu der Zeit selbstverständlich Berlin.
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lernte und nach dem Abitur an der Wiener Universität Jura studierte. Nach dem Debüt im Jahr 1894 in der Krakauer Tageszeitung »Czas« schrieb er zuerst auf Polnisch, aber schon um die Jahrhundertwende begann er eine journalistische Zusammenarbeit mit Wiener deutschsprachigen Zeitungen.8 Langsam »verwandelte sich Rittner von einem polnisch-deutschen Schriftsteller zu einem deutsch-polnischen«. (Taborski 1974, 103) Noch sichtbarer wird die biographische Mehrsprachigkeit der ostgalizischen Autoren in ihrem translatorischen Werk. Es seien hier nur einige wenige Beispiele genannt: Vasyl’ Stefanyk, Ol’ha Kobyljans’ka, Bohdan Lepkyj oder Józef Wittlin. Vasyl’ Stefanyk (1871-1936), geboren in der Nähe von Snjatyn, besuchte (polnischsprachige) Gymnasien in Kolomyja und Drohobyþ, um weiter – wie viele andere in seiner Zeit – in Krakau (Medizin) zu studieren. Während und nach dem Studium pflegte Stefanyk intensive Kontakte zu Schriftstellern des Jungen Polen – u.a. Przybyszewski, Orkan, WyspiaĔski und Kasprowicz. Obwohl die mehrsprachige Erziehung und Ausbildung kaum Eingang in seine literarischen Texte fand, eröffnete sie ihm den Weg in die damaligen Krakauer Salons und beschleunigte Stefanyks Rezeption in Polen. Aus dem westukrainischen Autor machte sie auch einen Übersetzer. (Vgl. WiĞniewska 1986) Die Übersetzungen entstanden häufig innerhalb einer (ostgalizischen) Kultur: Ins Deutsche wurde Stefanyk von Ol’ha Kobyljans’ka übertragen, ins Polnische von Bohdan Lepkyj (1872-1941). Lepkyj übertrug ins Polnische außerdem Franko und Kocjubyns’kyj, ins Ukrainische Maria Konopnicka und Adam Mickiewicz9. Viele Autoren bewegten sich sichtbar zwischen drei Sprachen und bildeten ein dichtes Netz von translatorischen Verbindungen. Lepkyj selbst wurde ins Polnische von Władysław Orkan übersetzt, dem auch zahlreiche Stefanyk-Übertragungen zu verdanken sind. 1908 veröffentlichte Orkan die Novellenanthologie Junge Ukraine (Młoda Ukraina) und 1911 die Anthologie der ukrainischen Dichter der Gegenwart (Antologia
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Bis 1905 schrieb er alle Dramen auf Polnisch, erst später erschienen ihre
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Ins Ukrainische übersetzte er auch Heinrich Heine.
deutschsprachigen Versionen, vgl. Taborski 1974.
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współczesnych poetów ukraiĔskich) mit Texten von u.a. Franko, Kobyljans’ka, Krušelnyckyj, Lepkyj sowie Makovej. Der polnische Autor Józef Wittlin (1896-1976) hat wiederum vor allem aus den klassischen Sprachen sowie aus dem Deutschen übersetzt. Ich möchte hier lediglich auf seine Übertragungen der Werke Joseph Roths, mit dem er befreundet war, hinweisen Die Flucht ohne Ende, Hiob und Zipper und sein Vater (1931), Beichte eines Mörders erzählt in einer Nacht sowie Die Kapuzinergruft (1937).10 Einen anderen Fall stellt der Autor Stanisław Vincenz (1888-1971) dar. Geboren in Słoboda Runguska, sprach er seit seiner Kindheit Polnisch sowie Ukrainisch (zusätzlich beherrschte er sicher den huzulischen Dialekt11), nach dem Studium in Wien (u.a. Jura, Sanskrit, slawische Literaturen sowie Philosophie) kehrte er u.a. mit der Kenntnis des Deutschen, Französischen und Altgriechischen in die Karpaten zurück. Vincenz lässt sich nicht als ein Beispiel literarischer Mehrsprachigkeit betrachten, auch ist er kaum als Übersetzer tätig gewesen. Dafür zählt seine Tetralogie Na wysokiej połoninie (Auf der hohen Bergalm, 1936-1979)12 zu dem prominentesten Beispiel der ostgalizischen Mischsprachigkeit. Der polnische Text von Auf der hohen Bergalm ist mit zahlreichen ukrainischen, deutschen, französischen oder altgriechischen Passagen durchsetzt.
II. MEHRSPRACHIGE RÄUME In einen Text aus Ostgalizien kann potentiell die biographische Mehrsprachigkeit der Autoren einfließen, aber auch die mehrsprachigen Elemente des Raumes, z.B. in der Form von Eigennamen oder der lokalen Onomastik. Als typisch hierfür halte ich den Raum der Ostkarpaten, der sprachlich wie auch kulturell immer ein Grenzgebiet war, und besonders die ýornohora. Die verschiedenen fremden Einwirkun-
10 Vgl. Pollack 2004. Wittlin übersetzte auch u.a. den Steppenwolf/Wilk stepowy von Herman Hesse (1929). 11 Diese Möglichkeit ergab sich dank der (huzulischen) Amme. 12 Im Folgenden gehe ich auf drei Teile der Tetralogie ein: Die Wahrheit der Urzeit (Prawda starowieku), Neue Zeiten (Nowe czasy) sowie Der Kranz aus Immergrün (Barwinkowy wianek).
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gen auf den dortigen Huzulendialekt sind spätestens in den 1920er und 1930er Jahren genauestens erforscht worden13, an dieser Stelle sei nur stellvertretend der Name »Huzule« genannt, der höchstwahrscheinlich eine Ableitung vom rumänischen oder moldawischen ›hoc‹ oder ›huc‹ mit dem rumänischen Suffix ›-ul‹ ist.14 Das Fremde oder Geheimnisvolle der karpatischen Namen setzen viele literarische Texte in Szene. Ich möchte hier nur drei Beispiele aus verschiedenen literarischen Perioden nennen: Auf der hohen Bergalm (Na wysokiej połoninie, der erste Band erschien 1936) von Stanisław Vincenz, Zonen (Strefy, 1971) von Andrzej KuĞniewicz sowie Zwölf Ringe (Dvanadcjat’ obruþiv 2003) von Jurij Andruchovyþ. Da Vincenzs »huzulische Tetralogie« vorwiegend in der ýornohora spielt, werden im Text häufig einzelne ukrainische Worte integriert: Anstelle von ›Freiheit‹ (wolnoĞü) ist hier von ›słoboda‹ (ukr. ɫɜɨɛɨɞɚ) die Rede, die ganze Region wird ›Wierchowina‹ (ȼɟɪɯɨɜɢɧɚ15) genannt, zudem betrifft dies die Gegenstände, Elemente der materiellen Kultur sowie der Almwirtschaft, die mit dem beschriebenen Raum zusammenhängen. Die Mischsprachigkeit ist zusätzlich auf der StrukturEbene sichtbar, einzelne Kapitel benutzen als Motti huzulische Melodien (Noten samt Text). In seinem Roman Zonen (Strefy) thematisiert Andrzej KuĞniewicz (1904-1993) die besondere Bedeutung dieses Raumes, der »seit Jahrhunderten eine Siedlung bunt gemischter Menschen«16 war. Die Dorfnamen haben hier auch eine ästhetische Funktion: Sie ähneln Klängen und vermischen sich mit dem Glockengeläut orthodoxer Kirchen: »Wenn man von Tatarów nach Worochta fuhr, erinnerst du dich? – da gibt es die Dörfer ArdĪeluĪa und Fenterale, das klingt wie eine Orgel und wie eine ferne Stimme der huzulischen Trombita, riecht nach Wacholder und sieht aus wie die Azalee, die an den Berghängen über dem Meer der Almen wächst –
13 Vgl. u.a. Janów 1927, Janów 1993, Hrabec 1950 sowie de Vincenz 1959. 14 Vgl. z.B. Hrabovec’kyj 1982, 38. 15 Es bezeichnet ein Gebiet, das in den Bergen gelegen ist. Seit den 1960er Jahren ist es auch der Name einer (nicht unbekannten) Stadt in der ýornohora. 16 Zit. nach Choroszy 1991, 329: »przedmiotem pamiĊci i opisu jest [...] kraj, który ›był od wieków siedliskiem ludnoĞci mieszanej‹«.
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merk dir für immer die Namen: Dancerz und Durniniec.« (KuĞniewicz 1991, 254f.)17 »...gdy siĊ jechało z Tatarowa ku Worochcie, pamiĊtasz? – wsie takie: ArdĪeluĪa i Fenterale, to brzmi jak organy i jak daleki głos huculskiej trombity, i pachnie jałowcem, a wygląda jak róĪanecznik porastający stoki górskie nad morzem połonin – zapamiĊtaj na zawsze nazwy: Dancerz i Durniniec.« (KuĞniewicz 1971, 179)
Die Namen gleichen einer Zauberformel, sie bilden einen Schlüssel zu der schwierigen Welt der Erinnerung, sie setzen auch eine ganze Kette von Assoziationen in Bewegung, sie eröffnen oder versperren den Zutritt zur Landschaft. Die mythische Funktion der (ostgalizischen) Eigennamen bleibt auch in Jurij Andruchovyþs (geb. 1960) ›karpatischem Roman‹ erhalten. Es reicht aus, die Alm in Zwölf Ringe (Dvanadcjat’ obruþiv) »Dsyndsul«18 zu nennen, um sofort die Kontexte der lokalen Exotik (Selbstexotisierung?) hervorzurufen. Dieser eindeutig rumänische Name verspricht in einem ukrainischen Kontext einen exotischen Inhalt. Schon dadurch wird »Dsyndsul« zu einem programmatischen Teil Andruchovyþs »fiktiver Landeskunde« (fiktyvne krajeznavstvo). Der Name ruft den ganzen ›rumänischen Kontext‹ auf – mit den Legenden über eine Teufelsburg in den Karpaten und über den Fürst Dracula selbst.19 Die Alm Dsyndsul wird schließlich zum Tatort eines Mordes.
17 Vgl. dazu auch Woldan 2008. 18 Dsyndsul könnte eine Kontamination unterschiedlicher geographischer Namen aus der ýornohora sein: Dsembronia, Dancyž, Breskul oder Menþul. 19 Vgl. hier eine ganze Reihe von »karpatischen Texten«: Le Château des Carpathes (1892) von Jules Verne, Dracula (1897) von Bram Stoker sowie Auf der hohen Bergalm (Na wysokiej połoninie, 1936) von Stanisław Vincenz (vgl. hier die Passagen »Doboš auf dem Schloss« (Dobosz na zamku). Vincenz 2002, 250-258). Vgl. auch Makarska 2010, 168f.
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III. MEHR - ODER MISCHSPRACHIGE TEXTE ? »…wenn die verschiedenen Sprachen eines Autors sich in seinen Texten zusammengemischt finden – welche Wirkungen sollen damit erzeugt werden? Dominieren ludistische Elemente? Stehen der Sprachwechsel und die Sprachvermischung im Zeichen politisch-zeitkritischer Interessen? Sind sie Formen des Protests gegen kulturelle Hegemonien?« –
fragt Monika Schmitz-Emans in der Einführung zu Literatur und Vielsprachigkeit. (Schmitz-Emans 2004, 13) Es geht hierbei nicht mehr um die bereits angesprochene synchrone oder diachrone Mehr- oder Zweisprachigkeit der Autoren, sondern durchaus um die Sichtbarkeit oder das Unsichtbarwerden der einzelnen Sprachen im Werk mehrsprachiger Autoren. Eine solche ›Zusammenmischung‹ verschiedener Sprachen eines Autors kann zu verschiedenen Zeiten aus unterschiedlichen Gründen durchaus als verpönt gelten. Von einem ästhetischen Standpunkt aus gesehen kann sie als ›Makkaronisieren‹ abgelehnt werden, von einem politischen aus – als Verunreinigung der eigenen, zu fördernden Sprache, von einem rezeptionsökonomischen – als Verletzung der Rezeptionsmuster und der Lesegewohnheiten: Die Texte müssen letztendlich auch für die Leser in Warschau, Berlin oder Kiew (also außerhalb des galizischen Raumes) verständlich sein. Die lexikalischen Sprachmischungen im Werk mehrsprachiger Autoren, die als »bewußte ästhetische Kunstgriffe und Teile des Werks« verstanden werden sollen, »signalisieren nicht nur die Interkulturalität ihres Autors oder doch zumindest des Textes, sondern bilden auch Ansatzpunkte für dessen Analyse eben im Hinblick auf dessen interkulturelle Dimension«, argumentiert der Komparatist und Germanist Andreas Wittbrodt. (Wittbrodt 2001, 100f.) Die Anwesenheit vieler Sprachen in einem literarischen Text ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein typisches Phänomen in Bezug auf Literatur aus Ostgalizien. Im Folgenden präsentiere ich – in Anlehnung an Monika Schmitz-Emans – verschiedene Funktionen, welche die erwähnte Mischsprachigkeit erfüllen kann.
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1. (Ent-)Hierarchisierung der Sprachen
Viele literarische Texte, die entweder in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Ostgalizien entstanden sind oder sich auf diese Zeit direkt beziehen, erwähnen die Mehrsprachigkeit der Bewohner des Raumes oder der einzelnen Protagonisten. So auch Józef Wittlins Roman Das Salz der Erde (Sól ziemi, 1935): »[I]m ĝniatyner Bezirk [begannen sich] die Ohren der Huzulen […] allmählich an das grausige Schnarren der rauen deutschen Sprache zu gewöhnen und an das sogenannte Armeeslawisch, wie man ein Ragout aus sämtlichen slawischen Sprachen nannte. Man wurde mit dem Klang der stupsnasigen tschechischen Sprache vertraut, die überhaupt keine Vokale zu besitzen schien. Längst war man mit dem melodischen rumaneschti der Bukowiner Nachbarn vertraut, und sogar der jüdische Jargon, der überall zu Hause [...] war, klang in den Huzulenohren wie Heimatklänge.« (Wittlin 1986, 179) »W ĞniatyĔskim powiecie [...] bĊbenki huculskie zaczĊły juĪ z wolna przywykaü do niesamowitych drgaĔ chropawej mowy niemieckiej i do tak zwanego armeeslavisch, czyli bigosu ze wszystkich jĊzyków słowiaĔskich. Oswoiły siĊ nieco z brzmieniem perkatej, jakby ze wszystkich samogłosek ogołoconej mowy Czechów. Od dawna poufaliły siĊ z melodyjnym rumaneszti bukowiĔskich sąsiadów, i nawet stały mieszkaniec tych ziem: Īydowski Īargon [...] czuł siĊ w huculskich uszach jak u siebie w domu.« (Wittlin 1991, 159)
Im Fall des hier beschriebenen Gebiets gesellen sich durch das Ereignis des Ersten Weltkrieges zu den bisher verwendeten Sprachen – Ukrainisch (in der huzulischen Variante) Jiddisch sowie Romanes – zusätzlich noch Deutsch und Tschechisch. Kaum jemand spricht jedoch in Wittlins Roman all diese Sprachen fließend. Es kommt vielmehr zu einem ständigen Code-mixing, das die literarischen Texte häufig dokumentieren. Nicht nur die Parallelität und Koexistenz der Sprachen spielen hier eine wichtige Rolle, sondern auch die Hierarchie und Konkurrenz unter ihnen, die mit der nationalen oder ethnischen Identität stark zusammenhängen. Einige literarische Texte, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Ostgalizien entstanden sind oder sich ausdrücklich auf diese Zeit beziehen, zitieren lange Passagen in den jeweils anderen Sprachen. In Bezug auf solche Phänomene spricht Wytrzens von einer
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›integrativen Mehrsprachigkeit‹.20 Sie kann als Ausdruck einer starken Hierarchisierung der Sprachen oder auch als ein Versuch ihrer Enthierarchisierung verstanden und so – wie es Schmitz-Emans definiert (2004, 13) – aus politisch-zeitkritischem Impetus in literarischen Texten verwendet werden. In Auf der hohen Bergalm von Stanisław Vincenz ist die Gleichberechtigung der Sprachen ein Argument gegen ihre Hierarchisierung sowie ein Protest gegen kulturelle Hegemonien überhaupt. Der polnischsprachige Roman wird regelmäßig durch ukrainische Passagen (allerdings in polnischer Phonetik) unterbrochen, dies sind u.a. – Eigennamen – Andrij (Andrijko), – Begrüßungen, Wünsche (»Sława Isù!«, Vincenz 2002, 66; »Oj koby sy wam bĪoły roiły«; Vincenz 2002, 113), – Dialoge (entweder nur in Ukrainisch oder gemischt: »Jak siĊ wam trwa? JakeĞcie dniowali? Jak spali? / Myròm«; Vincenz 2002, 66), – folkloristische Texte (»Gazda iz chaty, / A my do chaty / Jeły w gazdyĔki / Medu szukaty«; Vincenz 2002, 338). Der bereits angesprochene Roman Józef Wittlins Das Salz der Erde erwähnt nicht nur die vielen Sprachen, die man 1914 im »ĝniatyner Bezirk« zu hören bekam, sondern verwendet sie auch stellvertretend für die einzelnen ethnischen oder nationalen Gruppen. Diese Gruppen werden dadurch nicht nur charakterisiert, sondern auch symbolisch zusammengeführt: »StrzeĪ siĊ pociągu! / Sterehty sia pojizdu! / Achtung auf den Zug! / Sama la trenu!« (Wittlin 1991, 52) Dank des gemeinsamen (zeitlichen und räumlichen) Vorkommens der Sprachen wird die Existenz ihrer Sprecher sozusagen anerkannt; die ›Anerkennung‹ kommt hier jedoch von Seiten der Verwaltung, die durch die Verordnung von mehrsprachigen Schildern das Befolgen derselben erzielen möchte. Die politisch gewollte und akzeptierte Mehrsprachigkeit – so scheint Wittlins Text zu argumentieren – kann auch der Subordination der Bevölkerung dienen. Die Mehrsprachigkeit bzw. Mischsprachigkeit äußert sich auch in solch hybriden Formen wie ›Armeeslawisch‹21, das Wittlins Roman
20 Wytrzens 2009, 68: »Als solche kann man die Verwendung fremden Sprachgutes innerhalb eines Werkes verstehen, wobei nicht an komische Wirkung gedacht war«. 21 Über das Armeeslawisch schreibt in seiner Studie über den ÖsterreichMythos in der polnischen Literatur Alois Woldan. Außer Das Salz der Er-
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immer wieder verwendet – und aus Kontaminationen slawischer Sprachen mit dem Deutschen besteht: »Schweinerei! [...] Ja czi bende anzeigen, ti oferma!!« (Wittlin 1991, 26), die im Kontext des Krieges entstanden sind.22 Die Verbindungen der Sprachen, z.B. in einem Gespräch, können die Sprecher zum Teil charakterisieren, zum Teil aber auch demaskieren. »–– Was sind Sie im Zivil? Czym jesteĞcie w cywilu? –– A Kestkind!« (Wittlin 1991, 76)
lautet ein Wortwechsel während der Soldatenmusterung.23 Aus der Antwort kann der Leser schließen, dass der geladene Jude Deutsch oder Polnisch versteht, gleichzeitig jedoch demaskiert die Antwort, die in Jiddisch erfolgt, den Arzt – Dr. Jelinek – als einen im Dienst der österreichischen Verwaltung tätigen Juden.24 2. Vom Leben gezeichnet. Mischsprachige Protagonisten
In den von mir analysierten literarischen Texten kommen sowohl mehrsprachige Protagonisten vor als auch solche, die keine einzige Sprache zur Kommunikation ausreichend beherrschen, sondern ihr eigenes (mischsprachiges) Idiom entwickelt haben. Solche Figuren findet man u.a. in Werken Joseph Roths (Hiob 1930: hier die Figur des Menuchim), Stanisław Vincenz’ (Auf der hohen Bergalm: Der Kranz
de sowie Auf der hohen Bergalm untersuchte er auch andere Texte der Zwischenkriegszeit: u.a. Motors (Motory, 1938) sowie Das tote Meer (Martwe morze, 1939) von Emil Zegadłowicz, vgl. Woldan 1996, 84f. 22 Die deutsche Ausgabe kommt in diesem Fragment ohne Sprachhybridisierungen aus: »Schweinerei! [...] Ich werde dich anzeigen, du Krautwachter!« (Wittlin 1986, 36) 23 Auch in diesem Fall wird die Mehrsprachigkeit des Originals in der Übersetzung zum Teil verworfen, vgl. Wittlin 1986, 89: »Was sind Sie im Zivil? / A Kestkind!«. 24 Dr. Jelinek versteht genau, dass »Kestkind« ein Schwiegersohn ist, dem die Schwiegereltern das sorglose Studium der Heiligen Schrift ermöglichen, indem sie ihn zu sich ins Haus nehmen und ihn umsonst ernähren. (Vgl. Wittlin 1986, 89)
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aus Immergrün 1979: hier Bukolin) oder Gregor von Rezzoris (Blumen im Schnee 1989: Kassandra). Während sich Roth und Rezzori vorwiegend auf die Beschreibung der Idiome beschränken, liefert Vincenz’ »huzulische Tetralogie« konkrete Beispiele einer solchen ›Mischsprache‹. (Vgl. Makarska 2009, 300f.) Der »Roman eines einfachen Mannes«, Hiob (1930) von Joseph Roth, bedient sich außer einiger slawisch oder jiddisch klingender Namen kaum anderer Sprachen. Im ersten (galizischen) Teil des Romans werden auch keinerlei weitere Sprachen thematisiert. Erst nach der wichtigen Zäsur in Mendels Leben gewinnen die Sprache und die Mehrsprachigkeit an Bedeutung: Unmittelbar vor dem Antritt der Amerikareise spricht ein Beamter der Schifffahrtsgesellschaft die wartenden Familien »auf russisch, polnisch, deutsch und jiddisch« an (Roth 1974, 111), in Sprachen also, die dem Raum Ostgaliziens zugeschrieben werden. Im zweiten, ›amerikanischen‹ Kapitel kommen gelegentlich einzelne englische Worte vor. Erst jedoch in der Szene des Auftritts Alexej Kossaks (eigentlich Mendels Sohn, Menuchim) wird dessen Sprache zum Objekt einer genaueren Beschreibung. Nicht jedoch ausschließlich die polykulturelle galizische Umgebung hat auf sie ihren Einfluss ausgeübt, sondern auch mehrere Lebensbrüche – persönliche (Krankheit, Trennung von den Eltern, manifestiert in verschiedenen Namen des Protagonisten) sowie historische (Erster Weltkrieg, Oktoberrevolution). Die Sprache wird zum Sprachgemisch auch als Ergebnis einer Lebensmigration: »Kossak sprach den Jargon der Juden mangelhaft, er mischte halbe russische Sätze in seine Erzählung«. (Roth 1974, 203) Rezzoris autobiographischer Text Blumen im Schnee (1989) widmet sich in einigen Passagen dem »seltsame[n] Volapük« der Kassandra, der Amme des Hauptprotagonisten. Das Idiom wird jedoch samt seiner unterschiedlichen Funktionen lediglich beschrieben, der Leser findet keine Beispiele dessen. Blumen im Schnee weist auf die Entstehungsgeschichte sowie Struktur dieser besonderen Sprechweise hin: Die ukrainisch- und rumänischsprachige huzulische Amme, die aus der »Dunkelheit der Wälder« stammt und deren Name unbekannt bleibt, versucht sich unterwürfig »der Sprache ihrer Herren anzupassen« (Rezzori 1989, 51), weswegen Deutsch in Kassandras Idiom den Hauptteil bildet, begleitet von »Wörtern und Redewendungen aus sämtlichen anderen Zungen, die in der Bukowina gesprochen wurden«.
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(Rezzori 1989, 50) Ähnlich wie im Fall anderer mischsprachiger Protagonisten bleibt die Lebensgeschichte der Kassandra ›in Dunkelheit‹. Zu der sprachlichen kommt noch die körperliche Unvollkommenheit hinzu. Während Roths Menuchim in der Kindheit unheilbar krank ist, verfügt Kassandra (zwar leiblich gesund) über einen grotesken Körper. In Blumen im Schnee wird ausdrücklich auf ihre unglaubliche Hässlichkeit und ihr »Affengesicht« hingewiesen. Kassandras Mischsprachigkeit hängt demzufolge nicht nur mit einer mehrsprachigen Umgebung und mit zahlreichen Lebensbrüchen zusammen. Sie markiert auch etwas Groteskes in ihr: Kassandra trägt deutlich karnevalistische Züge und spielt in der Familie die Rolle »eines linguistischen Hofnarren«. (Rezzori 1989, 51) Ähnlich ist die Figur des armenischen Kaufmanns Bukolin im vierten Band von Auf der hohen Bergalm von Stanisław Vincenz entworfen.25 Bukolin ist 96 Jahre alt und stammt aus der Levante26, er genießt zwar eine im Vergleich zu Kassandra hohe soziale Stellung, lebt aber auch am Rande der Gesellschaft in vollkommener Abgeschiedenheit. Ähnlich wie andere hier beschriebene Protagonisten hat er mehrere Lebenskrisen hinter sich: Nach dem Tod seiner Kinder siedelt er nach Galizien über, zu seinen Verwandten, und weiter in die Bukowina (Suþava). Um mit seiner neuen Umgebung kommunizieren zu können, lernt er »eine slawische Mundart«, die lexikalisch immer wieder seine Lebensgeschichte anklingen lässt: [Er sprach keine Sprache. Das heißt, er sprach armenisch, griechisch, türkisch und arabisch. Aber wer kann es hier verstehen? Er eignete sich also irgendeinen slawischen Dialekt an, welcher entweder Kirchenslawisch, Bulgarisch oder Ruthenisch zur Grundlage hatte. Es leuchteten auf in der Sprache und wechselten zufällig ruthenische, polnische, russische und balkanische Wörter. Er benutzte nämlich vor allem Infinitive, außerdem Imperativformen oder nur Wortstämme. Seine Sätze hörten plötzlich auf oder waren unendlich. [...] Die Wortbetonung änderte er nach Lust und Laune. Mit all dem war es nicht einfach, ihn zu verstehen.]
25 Der Band ist erst 1979 erschienen. Als die Rahmenkonstruktion für die gesamte Tetralogie dient eine Hochzeit, die 1887 stattfindet. 26 Vincenz 2005, 136: [In seinen Erinnerungen kamen die fernen Länder des Kaukasus, der Türkei, sogar die arabischen Länder häufig vor.] »...w jego wspomnieniach dalekie kraje Kaukazu, Turcji, nawet Arabii były czĊste.«
156 | RENATA M AKARSKA »Nie mówił Īadnym jĊzykiem. To znaczy mówił po ormiaĔsku, po grecku, po turecku i po arabsku. Ale któĪ to tu zrozumie? Przyswoił sobie zatem jakąĞ słowiaĔską gwarĊ, której podkładem było nie wiadomo co: jĊzyk cerkiewny, bułgarski czy ruski? Migały w niej i zmieniały siĊ ad libitum słowa ruskie, polskie, rosyjskie, bałkaĔskie. UĪywał bowiem głównie infinitywów, poza tym trybu rozkazującego albo tylko tematów słownych. Zdania jego były niedokoĔczone i nieskoĔczone. [...] Akcenty słów zmieniał po swojemu. Z tym wszystkim niełatwo było go zrozumieü.« (Vincenz 2005, 136)27
Bukolins Idiom, obwohl ausdrücklich zur Kommunikation (und einer möglichen Integration) erschaffen, ist nur schwer verständlich und erschwert seine Kontakte mit der Außenwelt. Es ist nur ausgewählten und ›eingeweihten‹ Personen (Freunden, Nachbarn) vertraut und wirkt wie eine ›Geheimsprache‹, die Besonderes verkündet. Die Randposition Bukolins in der Gesellschaft – er ist alt, vom Leben gezeichnet und lebt zurückgezogen wie ein Mönch – wird mit einer geistigen Auserwähltheit verglichen und durch das Idiom der Mischsprache noch verstärkt.28 3. »Nasza majestata jest wasza tata«. Karnevalistische Elemente der Mischsprachigkeit Mit einer Mischsprachigkeit sind demzufolge nicht nur Protagonisten vom Rande der Gesellschaft markiert, sondern auch generell groteske Figuren. Oft dient eine wortwörtliche Verwendung einer Mischsprache karnevalistischen Zwecken. Als Beispiel möchte ich hier die Rede eines Kreiskommissars aus Kolomea (krajskomisar kołomyjski) aus dem vierten Band von Auf der hohen Bergalm präsentieren. Der Würdenträger sucht die Nähe der indigenen Bevölkerung, möchte daher kein Deutsch reden und kehrt dadurch (in einer Rede, in der er für Ordnung plädiert) die offizielle Ordnung (und Hierarchie) um. Die Rede des Kreiskommissars verwandelt sich in eine Daueranekdote und er selbst wird als Lach-Kommissar (»Ğmieszek-komisarz«) bezeichnet:
27 Soweit nicht anders angegeben, stammen die Übersetzungen der Zitate aus Auf der hohen Bergalm / Na wysokiej połoninie von mir, R.M. 28 Vincenz’ Roman liefert Beispiele für Bukolins Sprache, vgl. Makarska 2009.
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[Liebe Menschen, Untertanen des Kaisers, kehrt zur Ordnung zurück! Seid hier, in der Peripherie, höflich, brav (ein schnurrbärtiger Schreiber flüsterte ihm das Wort ›brav‹ zu), und wir – Würdenträger – werden zu Euch rücksichtsvoll sein (hier schaute er wieder in sein Büchlein hinein und der Schreiber sagte zu ihm ›gnädig‹, der Würdenträger redete jedoch schon weiter). Unsere Majestät ist Euer Vater. Und er liebt Euch, er liebt Euch sehr, wenn Ihr hier draußen brav seid. Und wenn Ihr nicht brav seid – dann kommt der Galgen…] »– Ludzie kochane, cesarskie poddane! Zurück zur Ordnung – wiwrócz, wiwrócz porzondek! Wi boĔdĨcie na dworze – ja, ja, na, so höflich, brav – (jakiĞ pisarczyk wąsaty podpowiedział mu: bądĨcie grzeczni) a my, dostojniki bendziem rücksichtsvoll – zaglądał do ksiąĪeczki – to jest: tył-sobie-pełny (pisarczyk znów szeptał: łaskawi), ale dostojnik przemawiał dalej z uniesieniem. […] Nasza majestata jest wasza tata. I was miluje, och! jak miluje. Jak wy na dworze, to jest – jak krzeczne. A jak niekrzeczne, oh, weh! To bĊdą szubienice […].« (Vincenz 2002: 422f.)
Die im Roman als Anekdote wiedergegebene Sprache des Kreiskommissars führt zur Belustigung der Zuhörer. Der Erzähler stellt sogar fest, der Kommissar werde mit einem »Zigeunerbär« vom Jahrmarkt verglichen (der Kommissar fällt dabei jedoch viel lustiger aus). Der Inbegriff der Hierarchie, der Vertreter der fremden Macht, wird durch seine Sprache zur puren Exotik und zum Gegenteil der Macht. Obwohl er eine offizielle Ankündigung macht und den Ungehorsamen gar mit dem Galgen droht, wirkt seine Ansprache keinesfalls bedrohlich. 4. Mischsprachigkeit als Zivilisationskritik Karnevalistische Züge besitzt auch ein weiterer Protagonist aus Vincenz’ Auf der hohen Bergalm PaĔcio, dessen Sprache jedoch vor allem ein Ausdruck des Protestes ist. PaĔcio bildet eine Synthese der bisher dargestellten mischsprachigen Figuren. Sein genaues Schicksal lässt sich zwar deutlich besser rekonstruieren als das von Bukolin – er ist etwa achtzig Jahre alt, fünfundzwanzig davon hat er in der österreichischen Armee gedient, weitere zwanzig zog er durch die Welt – er kehrt aber in die Karpaten zurück, wo er sich mit der Topfflickerei beschäf-
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tigt.29 Niemand kennt seinen wahren Namen: Er wird nur »PaĔcio« (eine Verkleinerung von ›Pan‹) genannt. Ähnlich wie Kassandra ist er ein Beispiel körperlicher und linguistischer Hybridität.30 PaĔcio ist ein heiterer Gesprächspartner und zugleich permanenter Unruhestifter, der die Menschen auf eine sonderbare Weise über die Welt aufklären möchte. Durch die ununterbrochene Verwendung von Fremdwörtern bleibt er meistens den Zuhörern (und Lesern) – ähnlich wie Bukolin – unklar und verschlossen. Er spielt aber tatsächlich die Rolle der mythischen Kassandra und warnt seine Umgebung vor der westlichen Zivilisation. Er warnt die Huzulen vor der im Westen herrschenden ›Ordnung‹. Während das Wort ›Ordnung‹ in der Rede des Kreiskommissars eher eine Belustigung hervorrief, wirkt es in PaĔcios Tirade eindeutig bedrohlich: Die Rede ähnelt einem Fluch, der das Böse vertreiben und fernhalten möchte: »Ordnung! zu Befehl! Habt Acht! Halts Maul! Rend! Parancs! [...] Für Gott und Kaiser! Dreck! Garde à vous, merde à vous, merde perdue, smerdy-perdy
29 Vincenz 2003, 213f.: [Der achtzigjährige herumziehende Topfflicker, der nach schweren fünfundzwanzig Jahren des harten Armeedienstes und nach weiteren zwanzig Jahren der Wanderschaft durch die Welt, sich von irgendwo, vom Ende der Welt, in die Berge verirrt hat.] »OsiemdziesiĊcioletni wĊdrowny połatajko garnków, co po ciĊĪkim dwudziestopiĊcioleciu twardej słuĪby wojskowej, i po drugich dwudziestu latach włóczĊgi po Ğwiecie, skądĞ, z koĔca Ğwiata, przyplątał siĊ w góry [...].« 30 Vincenz 2003, 213: [Durch das Gesicht und die Stirn des Landstreichers fuhr die tiefe Furche einer Narbe, im Mund – Scherben und Reste der Zähne [...]. Er ging immer auf schwankenden Füßen, war aber unermüdlich, und seine grauen Augen des Soldaten oder auch des Fischers griffen nach den Menschen raubgierig. Wer konnte aber feststellen, was seltsamer war: sein Gesicht oder seine Beine, oder eher seine Hose! Die strapazierfähige Hose, die er geschenkt bekam, [...] stimmte die Menschen auf den Straßen nachdenklich, belustigte sie in den Kirchen, entsetzte beim Holzfällen.] »Lico i czoło przybłĊdy przejechała głĊboka bruzda starej blizny, w ustach szczerby i resztki zĊbów [...]. Nogami plątał niepewnie lecz wytrwale, a siwe oczy Īołnierza czy rybaka haczyły drapieĪnie. KtóĪ by mógł zresztą orzec, co bardziej było dziwaczne: lice PaĔcia czy jego nogi, a raczej jego spodnie! Bowiem podarowane mu [...] niezniszczalne haczi [...] zastanawiały ludzi po drogach, Ğmieszyły po chramach, przeraĪały w butynie...«.
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[...]. Je m’en foue, égalité, pelottez, souffletez, calottez, liberté, bĊkarté, fajdanite [...]! – Biedaczynello, poverello, pauvre chien, szegeny kutya [...]. – Purec, gewałt, [...] puryc a trynk, a sztykełe brojt! [...] Hurra, auf alle Huren!« (Vincenz 2003, 309)31
Die Zuhörer sind nur im Stande, einzelne Worte zu verstehen, jeder in seiner Muttersprache, wobei PaĔcios Fluchen diesmal fast ohne Ukrainisch und Polnisch (also ohne die wichtigsten Sprachen der Zuhörer) auskommt.32 Selbst wenn in der Rede einzelne polnische Wortstämme vorkommen, sind es fast ausschließlich Vulgarismen, zusätzlich durch fremde Endungen entstellt.33 Das Publikum reagiert erschrocken und entsetzt, PaĔcios Wutanfall wird nicht nur als ein Ausdruck einer »schmutzigen Verdorbenheit« (Bachtin 1987, 187f.) verstanden, sondern auch als eine Beleidigung der Autoritäten und Heiligtümer: des Staates und – im zweiten Teil – der Kirche (bzw. Gottes selbst). In seiner Rede verbindet PaĔcio das Erhabene mit dem Niedrigen – die Parolen der Französischen Revolution (»liberté«) mit dem Bereich des Illegalen (»bĊkarté«, bĊkart – Bastard) und des Fäkalen (»fajdanite«, fajdaü – scheißen; »smerdy-perdy«, Ğmierdzieü – stinken, pierdzieü – furzen). Den Ruf »Hurra« ergänzt er onomatopoetisch mit »auf alle Huren«. Bemerkenswert ist, dass sich die darauffolgende ›Rede gegen die Kirche‹ (gegen Gott) ausschließlich des Ukrainischen und Polnischen bedient. Das, was wie ein Gebet beginnt, endet mit einer Gotteslästerung: »Gott, erbarme Dich unser! Heiliger Geist, erhebe Dich, den Geist gibt es nicht, er ist erstickt und ranzig geworden!« (»Hospody pomyłuj, pomyłuj, pomyłuj! [...] Swietyj duchu woznesy sy, nema ducha, udusyw sy, zasmerdiw sy!«; Vincenz 2003, 309-310). Der ›Staat‹ scheint für die Menschen etwas Fremdes zu sein, während die ›Kirche‹ etwas Eigenes bleibt.
31 Durch ihre ›internationale‹ Mischsprachigkeit bedarf diese Passage meines Erachtens keiner Übersetzung. 32 In seiner Fluchrede dominieren Deutsch (»Ordnung! zu Befehl! Habt Acht! Halts Maul!«), Französisch (»Garde à vous, merde à vous«), Ungarisch (»szegeny kutya«), Italienisch (»poverello«) sowie Jiddisch (»Purec, gewałt, [...] puryc a trynk, a sztykełe brojt!«). 33 Nach dem Sprachmuster von ›liberté‹ werden Neologismen »bĊkarté«, »fajdanite« gebildet, »biedaczynello« geht auf ›poverello‹ zurück und »smerdy-perdy« wird mit ›merde‹ assoziiert.
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Die am Turm zu Babel vermischten Sprachen sind in PaĔcios Rede wieder zusammengewachsen, allerdings zu einer Warnung oder zu einem Fluch, der nicht unbedingt verständlich sein muss, jedoch – in seiner performativen Kraft wirksam ist. Dieser Sprechakt soll den Verfluchten (dem Staat und der Kirche) Unglück bringen, den Sprecher jedoch soll er beschützen. Dadurch wird der mischsprachige PaĔcio – als ehemaliger Soldat, Weltenbummler, Sonderling – zu einer lokalen Kassandra, die das Unheil prophezeit und die Menschen (erfolglos) vor der Zivilisation und der Ordnung zu warnen versucht.
IV. ZUSAMMENFASSUNG Trotz der mehrsprachigen Kultur in Ostgalizien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bleiben die meisten dort entstehenden literarischen Texte einsprachig. Die biographische Mehrsprachigkeit der Autoren, häufig begleitet von einer literarischen – die erst in ihrem gesamten Oeuvre sichtbar wird –, bleibt in einem einzelnen Werk in der Regel unsichtbar. Während in Bezug auf die Lebensläufe der Schriftsteller und den Sprachwechsel innerhalb einer literarischen Biographie gewöhnlich von einer (biographischen, literarischen) Mehrsprachigkeit die Rede ist, benutze ich bei der Analyse und Interpretation eines einzelnen literarischen Textes bewusst den Begriff der Mischsprachigkeit. Eine solche Mischsprachigkeit kann einen geographischen und kulturellen Raum beschreiben (und auf die Parallelisierung, die Koexistenz oder Konkurrenz der Sprachen hinweisen) oder auch einzelne Protagonisten in literarischen Werken charakterisieren: Einerseits weist sie auf ihre ethnische Zugehörigkeit hin, andererseits beschreibt sie in einer kompakten Form ihren gesamten Lebensweg. Schließlich ist die Mischsprachigkeit in den von mir analysierten Texten ein beliebtes Mittel, um hybride Gestalten zu entwerfen, die zwischen Sprachen und Kulturen stehen. Einige Mehrsprachigkeitsforscher verweisen auf ludistische Zwecke einer ›Zusammenführung mehrerer Sprachen in einem Text‹. Eine im literarischen Text zu Beginn des 20. Jahrhunderts enthaltene Mischsprachigkeit kann auch als eine Stimme gegen die Hierarchisierung der Sprachen und Kulturen (Vincenz) interpretiert werden. Die hier von mir angeführten Beispiele bieten nur eine Übersicht und einen kleinen Katalog der möglichen Formen der literarischen Misch-
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sprachigkeit in belletristischen Texten dieser Zeit. Es würde sich auf jeden Fall lohnen, ein breiteres Textkorpus zu erschließen, um den Umgang der Autoren und ihrer Texte mit der Multi- und Transkulturalität des ostgalizischen Raumes in extenso zu untersuchen.
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Berge und Jahrhunderte Nikola Šuhaj und die literarische Polyglossie in den Karpaten A LEXANDER K RATOCHVIL
V ORBEMERKUNG Das Phänomen der Mehrsprachigkeit in einem polyethnischen Gebiet wie der westlichen Ukraine kann in unterschiedlichen Forschungskontexten untersucht werden. So behandeln einige Beiträge dieses Bandes sprachhistorische und funktionalstilistische Aspekte (siehe die Beiträge von Christian Voß, Stefania Ptashnyk) der Region oder literarische Besonderheiten mehrsprachiger Autoren und Texte (Renata Makarska, m.E. Alois Woldan und Stefan Simonek). Die Beiträge der drei zuletzt genannten Autoren untersuchen mündliche und schriftliche Kommunikation in einer mehrsprachigen Situation sowie die Darstellung von eigener und fremder Sprache und deren literarische Übersetzungs- resp. Umsetzungsprozesse. An diese Arbeiten knüpft der vorliegende Beitrag an, der untersucht, wie sich funktionale mündliche Vielsprachigkeit mit kulturellen Narrativen in literarischen Texten verbinden können. Das Phänomen ›literarische Mehrsprachigkeit‹ (in der Forschungsliteratur auch Vielsprachigkeit, literarische Di- und Polyglossie, Polyphonie/ Mehrstimmigkeit) lässt sich in Anlehnung an Struntz (1996, 181-201) und Schmidt-Emans (2002, 7-38) unterscheiden nach Autoren, d.h. nach zwei- oder mehrsprachigen Autoren mit einem einspra-
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chigen Werk1, oder nach Texten, d.h. nach quantitativ und qualitativ heterogenen Sprachmischungen in Texten. Bei dem Roman Der Räuber Nikola Šuhaj (Nikola Šuhaj. Loupežník) von 1933 handelt es sich um den zweiten Fall. Er bildet zusammen mit dem Erzählband Golet im Tal (Golet v údolí, 1937) und den Reiseessays Berge und Jahrhunderte (Hory a staletí, 1935) die Karpatentrilogie von Ivan Olbracht (1882-1952), die zugleich einen Höhepunkt seines Werkes darstellt. Die Trilogie beruht auf intensiven Recherchen des Autors im Karpatenraum. Held und Handlung des Romans Der Räuber Nikola Šuhaj gestalten tatsächliche Personen, Orte, greifen reale Begebenheiten auf, die sich nur ein gutes Jahrzehnt vor der Publikation des Romans zugetragen haben und die in ihrer Grundstruktur im Roman erkennbar nachvollzogen werden: Nikola Šuhaj desertiert kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs in sein Heimatdorf Koloþava, heiratet seine Jugendliebe Eržika2, ist aber auf Grund instabiler politischer und unklarer rechtlicher Verhältnisse gezwungen, das Dorf wieder zu verlassen und sich in den nahen Gebirgswäldern zu verbergen, wo er sich bald als Räuber einen Namen macht. Nach knapp zwei Jahren Räuberdaseins wird er durch eine hinterlistige Verwicklung zusammen mit seinem Bruder Juraj von seinen ehemaligen Raubkumpanen ermordet. Olbracht bemerkte dazu, dass es für ihn faszinierend war, zu beobachten, wie aus einem Menschen innerhalb kurzer Zeit eine Legende in der Tradition der Opryšken (Karpatenräuber) mit Oleksa Dovbuš als pattern wurde3, die oftmals mit einer sozialrevolutionären Aura a là
1
Als Beispiele werden meist genannt: Beckett, Conrad, Nabokov, Rilke,
2
Olbracht (1975, 103) schreibt etwas blumig: »[Šuhaj] uživaje svobody jako
Singer; mehr dazu bei: Goetsch 1987 und Forster 1974. zázrakem z nebe spadlé a miliskuje se s Eržikou« ([Šuhaj] genießt die plötzliche Freiheit und fühlt sich mit Eržika wie im siebten Himmel). 3
»Báje, povČst a zkazky o Nikolovi Šuhajovi jsou smČsí nedávné skuteþnosti, prastarých legendárních prvkĤ, opakujících se a znova se vracejících, a þisté umČlecké tvorby. Jsou na místČ nikoli posledním poutavČ tím, že se vztahují k þlovČku zemĜelému nedávno, že se rodí takĜka pĜed našima oþima, že mĤžeme sledovat jejich rĤst a ještČ pĜesnČ rozeznávat prvky, z nichž se skládají.« (Die Sagen, Legenden und Nachrichten über Šuhaj sind ein Gemisch aus uralten Legenden, die sich wiederholen und immer wiederkehren sowie rein literarischer Fiktion. Sie sind vor Ort nicht zuletzt deshalb spannend, weil sie sich auf einen vor kurzem Verstorbenen bezie-
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Robin Hood umgeben sind. Die Biographie des Karpato-Ukrainers Mykola Sjuhaj (1898-1921), wie Šuhaj eigentlich auf Ukrainisch hieß, der angeblich den »Reichen nahm und den Armen gab«, hatte in der Realität keine explizite sozial politische Programmatik. Allerdings hatte der historische Hintergrund des Räuberwesens der Opryšken, der in Geschichte und Tradition des Karpatenraums wurzelt, durchaus soziale Implikationen, Olbracht (1982, 78) erklärt sie so: [Aber sehen wir uns das Karpatenland an. […] Wer sind diese Räuber? Immer auf Beutezug. Häufig Menschen mit unklaren politischen oder sozialen Vorstellungen […] Immer tragische Gestalten. Weil sie nie auch nur in die Nähe ihres Ziels kamen und nie über die Anfänge hinausgekommen sind […] Und immer Opfer. Denn sie gingen in den Händen der Henker, an den Ränken ihrer Freunde und dem Verrat ihrer Geliebten zugrunde. Das Gesetz betrachtet sie als Verbrecher, als Aufrührer, die von keiner Gesellschaftsordnung als Mörder, Brandstifter und Räuber in ihrer Mitte geduldet werden. Das geschriebene Recht verurteilt sie. Das natürliche Rechtsgefühl des unterdrückten Volkes aber spricht sie frei. Denn sie sind der Ausdruck seines Sehnens nach Gerechtigkeit. Sie verkörpern das Verlangen der Schwachen, stark zu sein, sei es auch nur für einen kurzen Augenblick, selbst um den Preis des eigenen Lebens.4] »Ale pozorujeme Podkarpatsko. [...] Kdo jsou to loupežníci? Vždy koĜistníci. ýasto lidé s nejasnými touhami politickými nebo sociálními [...] Vždy postavy tragické. NeboĢ se nikdy svém metám ani nepĜiblížili, nepĜekroþivše prvních poþátku... A vždy obČti. NeboĢ zahynuli rukou katovou, úkladem pĜátel, zradou milenþinou. Zákon v nich vidí zloþince. VzbouĜence, jakých ve svém stĜedu ne bude trpČt žádný spoleþenský Ĝád. Vrahy, žháĜe, lupiþe. Psané právo je odsuzuje. PĜirozený právní cit utištČného lidu je osvobozuje. NeboĢ jsou výrazem jeho touhy po spravedlnosti. Jsou vtČlením žiznČ slabých stát se silnými byĢ i jen na chvilku a tĜeba za cenu vlastních životĤ.«
hen und weil sie sozusagen vor unseren Blicken entstehen, wir ihre Entwicklung verfolgen können und noch genau die einzelnen Teile erkennen, aus denen sie sich zusammen setzen). Olbracht 1982, 104f. 4
Diese und folgende Übersetzungen aus dem Tschechischen sind vom mir, AK.
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Diskursanalysen und insbesondere Untersuchungen der postcolonial studies verdeutlichen, dass literarische Mehrsprachigkeit einmal lingual und linguistisch gefasst werden können – wie in den Beiträgen von Stefania Ptashnyk und Christian Voß in diesem Band –, anderseits aber auch mit kultur- und literaturwissenschaftlichen Fragestellungen untersucht werden können5 – in diese Richtung zielen die Beiträge von Renata Makarska6, m.E. Stefan Simonek und Alois Woldan. Eine solche Ausweitung des Mehrsprachigkeitsbegriffs ist sicher nicht unumstritten, da die Begrifflichkeit dann geklärt werden muss. Deshalb sollte diese Ausweitung ebenso wie die Frage, wo und unter welchen Bedingungen literarische Mehrsprachigkeit beginnt, expliziert werden, denn die Ausweitung des Konzepts der literarischen Mehrsprachigkeit ist durchaus gewinnbringend, wenn soziokulturelle Konstellationen über literarische Verfahren und ästhetische Strategien als eigener Code greifbar werden7. Michail Bachtins Ausführungen zur Mehrsprachigkeit weisen in diese Richtung, wenn er sagt: »Der Roman ist künstlerisch organisierte Redevielfalt, zuweilen Sprachvielfalt und individuelle Stimmenvielfalt« (Bachtin 1979, 157). Er behandelt die Mehrsprachigkeit (bei ihm auch Mehrstimmigkeit) im Zusammenhang mit Stilfragen des Romans: »Der Stil des Romans besteht aus einer Kombination von Stilen; die Sprache des Romans ist ein System von ›Sprachen‹.« (Ebd.) Die Mehrsprachigkeit bezieht sich bei Bachtin zwar nicht speziell auf unterschiedliche Nationalsprachen, sondern eher auf diastratische und diatopische Varietäten und Ausdifferenzierung innerhalb einer Sprache und zwar abhängig von der Kommunikationssituation. Damit
5 6
Siehe auch Schmeling 2004, 221-223. Makarskas Beitrag steht im weiteren Kontext ihrer grundlegenden Monographie über die Konzeptualisierung des Karpatenraums in der Literatur der Moderne; vgl. Makarska 2010.
7
Vgl. Schmitz-Emans 2002, 30, deren Überlegung zu nonverbalen und intermedialen Ausdrucksformen in eine ähnliche Richtung gehen: »Erweitert man den Begriff der ›Sprache‹ vom Verbalen auf nonverbale und Dimensionen ästhetischer Kommunikation, so wir es damit möglich, die einzelnen Werke oder ihre performativen Realisierungen als Produkte der Mischung und Durchkreuzung von ›Sprachen‹ zu verstehen.«
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wird auch das soziale Moment8 der Codeauswahl betont. »Der Roman orchestriert seine Themen, seine gesamte abzubildende und auszudrückende Welt der Gegenstände und Bedeutung mit der sozialen Redevielfalt und der auf ihrem Boden entstehenden Stimmenvielfalt«. (Bachtin 1979, 157) Die soziale Redevielfalt und die daraus hervorgehende Stimmenvielfalt lassen sich auf die literarische Mehrsprachigkeit beziehen, und man kann diese nicht nur als Beschreibung/ Analyse der Mehrsprachigkeit anhand fremdsprachlicher Einsprengsel oder Redeeinheiten, als stilistische, Milieu charakterisierende oder linguistische Phänomene fassen, sondern auch als soziokulturellen Kode. Deshalb erscheint die Ausweitung des Begriffs der Mehrsprachigkeit in Richtung literarische Mehrsprachigkeit angebracht. Die Frage der Mehrsprachigkeit führt in transnationalen Räumen zur Problematik des Konzepts einzelsprachlicher Narrative. Untersuchungen wie diese, die mit räumlich konstruktivistischen Problemstellungen (seit dem sog. spatial oder topographical turn) arbeiten, untersuchen die Konstruktion eines exklusiven, z.B. nationalen Raums mit einer in sich geschlossenen Literatur mit Aus- und Abgrenzung gegenüber den Anderen. Dabei werden neben der nationalen Topographie auch Grenzen und Übergangszonen aufgezeigt werden, die das tradierte Konzept räumlich und national zentrierter, klar von einander unterschiedener Literaturen fragwürdig machen. Scharfe Grenzenlinien werden dabei zu unscharfen Rand- resp. Grenzzonen zerfasert und auch die Produktion sprachkultureller und nationaler Grenzen werden hinterfragt. Solch einen ausgefransten Bereich am Rande der nationalen Monologe stellt die oftmals hybride Mehrsprachigkeit des dynamischen »Dazwischen des dritten Raumes« (Homi Bhabha) dar. Diese macht literarisch-ästhetische wie auch politische und soziokulturelle Fragestellungen im Spannungsfeld unterschiedlicher kultureller Versprachlichung deutlich, z.B. in der literarischen Inszenierung des Grenzraumes Karpaten mit dessen z.T. gegenläufigen Narrativen. Die Mehrsprachigkeit des Grenzraumes Karpaten mit seinem ästhetischen Potenzial und seinen soziokulturellen Konflikten wird durch Grenzüberschreitungen in der polyethnischen Bevölkerungssituation gestaltet, die sich nicht nur als individuelle, moralische, religiöse, so-
8
Vgl. Wandruszka 1979, der von der Soziolinguistik ausgehend mit dem Konzept der muttersprachlichen Mehrsprachigkeit (also Soziolekte, Dialekte, Idiolekte) operiert.
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ziokulturelle (ethnologische), sprachkulturelle, sondern auch als topographische, staatliche, juridische und sprachliche Grenzerzählungen beschreiben lassen. Die historischen Sprachen und deren Varietäten in diesem Raum stecken ein Spannungsfeld soziokultureller und politischer Narrative ab und repräsentieren zum Teil sich widersprechende Traditionen und Wertsysteme. Vor diesem Hintergrund lässt sich das Spannungsfeld als Interaktion von Mehrsprachigkeit und Narrativen beschreiben, und aus dieser Interaktion auch die Konstruktion eines transkulturellen Grenzraumes ableiten. Exemplarisch kann dies anhand von Olbrachts Werk Der Räuber Nikola Šuhaj aufgezeigt werden. Unter Narrativ wird im Folgenden das Erzählen als Akt der Konstruktion und zugleich Repräsentation soziokultureller Beziehungen (Ordnung) verstanden; damit hat das Erzählte auch die Funktion eines soziokulturellen Wissensspeichers. Unter Mehrsprachigkeit (Polyglossie) werden implizite oder explizite, unterschiedliche nationale und regionale Idiome (Sprachen und Sprachvarietäten/ Dialekte/ Soziolekte), d.h. tatsächliche oder durch literarische Verfahren assoziierte Mehrsprachigkeit, metasprachliche und literarische Artikulation soziokulturellen Wissens im Grenzraum Karpaten verstanden.
DER RÄUBER NIKOLA Š UHAJ: LINGUISTISCHE MEHRSPRACHIGKEIT Am Anfang soll die Beschreibung der 1.) stilistischen, ›linguistischen‹ Mehrsprachigkeit des Textes und ihrer Funktionen stehen; danach wird 2.) die Ausweitung des Begriffs als Konstruktion literarischer Mehrsprachigkeit dargestellt. 1.) Mehrsprachigkeit im Sinne eines rein lingualen Gebrauchs fremdsprachiger Elemente ist in Olbrachts Roman kaum präsent, die fremdsprachige Lexik wird sparsam verwendet. Wenn sie auftritt, dann handelt es sich v.a. um jüdischsprachige (jiddisch und hebräisch) lexikalische Einsprengsel, meist emotional oder expressiv gefärbt, wie z.B. »Schweinskopf« (Chazrkopf) als Schimpfwortlexik, oder als Anrufe Gottes: »Schma Jisroel! Schma Jisroel! Höre Herr, ein Jude ruft
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dich!«9 (Šma Jesruel! Šma Jesruel! Slyš, Králi, Žid tČ volá!; Olbracht 1975, 36 ); »›Ribaunau schel aulom‹, Herr der Welt! rief Isaak Herschkovitz« (›Riboinoi šel ojlom! pane svČta!‹ vykĜikl Izák Herskoviþ, ebd., 57) oder einzelne Begriffe wie ›tóra‹, ›talis‹, ›tefelin‹, ›šachres‹, ›košerný‹ u.a.m.10, auch im Reim: »Oi, oi, oi,/ besoffen ist der Goj!/ Saufen muss er, / viel probieren,/ oi, oi, oi,/ denn er ist ein Goj« (Oj, oj, oj,/ ožralý je gój / Chlastat musí, / mnoho zkusí. / Oj, oj, oj, / protože je gój! Ebd., 36). Aufschlussreich ist auch die Wiedergabe direkter Rede jüdischer Protagonisten in emotionalen Redesituationen, mit z.T. alttschechischen Lexemen: »Ach welch weiser, welch heiliger Mann ist unser Großvater« (Ach jaký je to muž ten náš dČd! Jaký je to staĜec! Ebd., 36, Hervorhebung von mir, AK). Die Durchsicht des Verzeichnisses mit Worterklärungen der Akademieausgabe von Olbrachts Roman zeigt, dass es sich überwiegend um jüdischsprachige Einträge handelt, der Rest sind Worterklärungen wenig gebrauchter tschechischer Wörter, Sacherklärungen oder ukrainische Lexik des Karpatenraums wie ›bosorkaĖa‹ (Hexe)‚ ›baba jaga‹ (Hexe), ›tokan‹ (Maisbrei), ›gelet‹ (ukr. heleta, Melkeimer), ›obnova‹ (Neuschnee auf gefrorenem Schnee), ›gazda‹ (Bauer), ›kolomyjka‹ (Lied- und Tanzform), ›sopilka‹ (Hirtenflöte), ›oboroh‹ (ukr. oborih, ukr. Variante des Feimengerüst) und wenig andere mehr. Auch mit diesem sparsamen Gebrauch fremdsprachlicher Lexik ist die polyglotte Situation bereits offensichtlich – die Protagonisten sind Russen, Karpato-Ukrainer (Huzulen/ Rusinen)11, Tschechen, Deutsche, Rumänen, Ungarn und Juden. Im Heimatdorf Nikola Šuhajs, Koloþava, in dem ein Großteil der Handlung spielt, sind es v.a. karpatoukrainische, jüdische und, als Fremde, tschechische Protagonisten, die mit ihren je eigenen Idiomen ihre Positionen miteinander verhandeln müssen:
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»Šma Jesruel« kommt als häufigster Ausruf fünfmal im Text vor.
10 Ein Verzeichnis mit Worterklärungen findet sich in Olbracht 1975, 245248. 11 Der sprachkulturelle Aspekt der Zugehörigkeit der karpato-ukrainischen Bevölkerung zu Ethnien wie Huzulen, Bojken, Lemken u.a.m. kann bei der vergleichenden Analyse von Werken der Region bedeutsam sein, im vorliegenden Fall wird – ohne zu simplifizieren – allgemein von »karpatoukrainischer« Bevölkerung und ihrer Sprache gesprochen.
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[Der griechisch-katholische Christ wäre wahrhaftig durch nichts in der Welt zu bewegen, um Peter und Paul Milchspeisen zu essen, und der Jude würde lieber umkommen, als Wein zu trinken, den ein Goi berührt hat, aber sie sind an ihre beiderseitigen Eigenheiten schon seit Jahrhunderten so gewöhnt, dass ihnen eifernder Religionshass fremd ist. […] Sie sehen sich gegenseitig in ihre rituellen Gebete und religiösen Handlungen wie in ihre Küchen und Stuben. Und wenn ein Gazda des Morgens zu einem jüdischen Handwerker kommt und dieser gerade zu seinem Herrgott spricht, dann lässt der Meister ruhig den gestreiften Tallis, seinen Gebetsmantel über der Schulter und die Tefillin, die Gebetsriemen an der Stirn und am linken Arm. Er sagt dem Nachbarn guten Morgen und verhandelt mit ihm gründlich über den Preis für das Beschlagen des Gespanns, für das Flicken der Opanken oder für das Verglasen eines Fensters – der Ewige hat es ja nicht eilig. Er wartet. Juden und Christen sind durch das Leben aufeinander angewiesen, sie besuchen sich gegenseitig und sind einander etwas schuldig: ein wenig Maismehl, einige Eier, etwas Viehfutter, den Lohn für eine Fuhre oder andere verrichtete Arbeiten. Das ist ihr Alltag. Aber man hüte sich, einen Gedanken zwischen sie zu werfen! Sofort erscheinen zwei Gehirne und zwei verschiedene Nervensysteme, und zwei Gottheiten schleudern ihre Blitze gegeneinander.] »Pravda, Ĝeckokatolický kĜesĢan by za nic na svČtČ nepožil o petropavelském postČ mléþného jídla, a Žid by radČji zahynul, než by se napil vína, kterého se dotkl goj, ale za staletí si již na své podivnosti zvykli, náboženská nenávist je jim cizí, [...] Vidí si do svých rituálních záhad a náboženských þárĤ stejnČ dobĜe jako do svých kuchyní a jizeb, a pĜijde-li ráno gazda k židovskému Ĝemeslníkovi, který právČ hovoĜí se svým Pánem Bohem, nechá mistr klidnČ na ramenou pruhovaný talis, na þele kostku tefilinu a na levé ruce jeho Ĝemínky, dá si se sousedem dobré jitro a dĤkladnČ s ním vyjedná cenu za okování vozu, za pĜíštipek na opánky nebo za zasklení okna; VČþný nespČchá a poþká. Jsou svými životy odkázáni na sebe, navštČvují se, jsou si vzájemnČ dlužní trochu kukuĜiþné mouky nebo nČkolik vajec, jsou si dlužní za píci, za potahy, za práci i hotovČ. JistČ: všedního dne. Ale chraĖte se mezi nČ hodit myšlenku! Tehdy se ihned objeví dvojí mozky. A dvojí nervový systém. A dva Bohové šlehnou proti sobČ blesky.« (Olbracht 1975, 18f.)
Diese Art ›linguistischer‹ Mehrsprachigkeit kann verschiedene Funktionen haben: 1. sprachlich charakterisieren, 2. die Fiktion fördern, 3. Träger auktorialer Aussage sein, 4. zur Einheit in der Vielfalt beitragen, 5. komische Wirkung haben, 6. sprachspezifische Bedeutung ver-
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mitteln, 7. ein Faktor lautlicher Schönheit sein und 8. als Zitat fungieren12. Hier dominieren v.a. die Funktionen der Milieucharakteristik und der sprachspezifischen Bedeutungen, indem sie die Existenz von Sprachgrenzen in diesem mehrsprachigen Raum veranschaulichen. Entlang dieser Sprachgrenzen verlaufen trotz des friedlichen Alltags zwischen Karpato-Ukrainern und Juden unterschiedliche kulturelle Narrative (»Aber man hüte sich, einen Gedanken zwischen sie zu werfen! Sofort erscheinen zwei Gehirne und zwei verschiedene Nervensysteme, und zwei Gottheiten schleudern ihre Blitze gegeneinander«). Die Darstellung von Ausschreitungen gegen jüdische Ladenbesitzer verdeutlicht die Spannung dieses mehrsprachigen Grenzraumes, in dem unterschiedlich Narrative ausgehandelt werden müssen, z.B. durch eine De-Eskalierungsstrategie der jüdischen Bevölkerung, die von den Karpato-Ukrainern angenommen wird, sodass es nicht zu physischer Gewalt gegen Personen kommt: [Dann zog man zu Mordch Wolf, Josef Beer, Kalmán Lejbowitsch und Chaim Beer. Das Zerschlagen ihrer kleinen Läden ging ruhig und ohne Lärm vor sich. Die Besitzer standen ehrfürchtig vor ihren Ladenschildern und warteten schon. Ihre Gesichter drückten deutlich das Entsetzen vor der Menge aus und waren anderseits nicht so unerträglich verzweifelt, dass man bei ihrem Anblick in Wut geraten wäre und sich vergessen hätte. So wurden sie wenigstens vor Schlägen bewahrt.] »Pak se šlo na Mordcha Wolfa, Josefa Beera, Kalmána Lejboviþe a Chaima Beera. Rozbírání jejich malých krámkĤ šlo klidnČ a bez hluku, majitelé stáli uctivČ pĜed vývČsními štíty, þekajíce již, a jejich tváĜe vyjadĜovaly sdostatek hrĤzu pĜed mocí lidu a zase nebyly tak nesnesitelnČ zoufalé, že by se na pohled na nČ chtČlo zapomínati v ĜádČní. Tak byly ušetĜeny alespoĖ byty.« (Olbracht 1975, 34)
Auf den Dialog der durch literarische Verfahren konnotierten und metasprachlich evozierten jüdischen mit den karpato-ukrainischen und tschechoslowakischen sprachlichen Codes wird weiter unten ausführlich eingegangen.
12 Ausführlich zu den Funktionen linguistischer Mehrsprachigkeit siehe Horn 1981, 225-242.
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DER RÄUBER NIKOLA Š UHAJ: MEHRSPRACHIGKEIT UND NARRATIVE Das Spannungsfeld Mehrsprachigkeit und Narrative kann im Karpatenraum eine polyglotte geteilte literarische Tradition haben, wie die Gestaltung der zahlreichen Räuberfiguren, z.B. Nikola Šuhaj, Juraj Janošík, Dmytro Marusjak, Ondraszek, Moische Jankl Reisner und Taras Barabola13 zeigt, die in ihrer literarischen Bearbeitung oft auf den Olexa Dovbuš Mythos rekurrieren, und das zumeist unter expliziter intertextueller Bezugnahme. Dazu kommen die Autoren unterschiedlicher regionaler, staatlicher, imperialer und nationaler Zugehörigkeit, die den Grenzraum und die Figur des Räubers in seinen verschiedenen Sprachen – u.a. deutsch, polnisch, rumänisch, slowakisch, tschechisch, ungarisch, ukrainisch – gestaltet haben. Der literarische Stoff ›Karpaten‹ ist durch seine transkulturelle Artikulation in ›zeitlicher‹ und ›räumlicher‹ Hinsicht entgrenzt und konstituiert einen eigenen Chronotopos: »Berge und Jahrhunderte«, wie bezeichnend der Titel von Ivan Olbrachts Reiseprosa über die Karpaten lautet, ein RaumZeit-Konstrukt, das zu Beginn des Romans über den Karpatenräuber Nikola Šuhaj entworfen und zur Veranschaulichung in extenso zitiert wird: [Der Verfasser dieser Erzählung ist in der Heimat Nikola Šuhajs allen Spuren dieses »unverwundbaren« Mannes nachgegangen, der den Reichen genommen und den Armen gegeben und niemals einen Menschen getötet hat, außer in Selbstverteidigung oder aus gerechter Rache […] Und unten in den engen Flusstälern, in den Dörfern, wo die grünen Maisfelder und die gelben Sonnenblumen sind, leben Werwölfe, in die sich manche Männer verwandeln können: Nach Einbruch der Dämmerung legen sie sich quer über einen Baumstumpf und werden zu Wölfen; gegen Morgen kehren sie dann wieder in ihre menschliche Gestalt zurück. Hier vermag noch manche junge Hexe ihren schlafenden
13 All diese Räuberfiguren sind in der vielsprachigen (polnisch, ukrainisch, slovakisch, jiddisch, ungarisch, rumänisch) Folklore des Karpatenraumes präsent; nationale Konkretisierungen in Figuren wie Oleksa Dovbuš durch ukrainische Autoren wie Ivan Franko oder Hnat Chotkevyþ, oder der Figur des Juraj Jánošík durch verschiedene slovakische und polnische Schriftsteller entstanden dann ab dem 19. Jahrhundert.
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Mann in ein Pferd zu verwandeln, um in hellen Mondnächten auf ihm durch die Gegend zu jagen. Und richtige Zauberhexen braucht man nicht erst hinter den sieben Bergen und den sieben Flüssen zu suchen; man kann diesen Bösen auch auf den Viehweiden begegnen, wo sie Salz in die Spuren der Kühe streuen, damit die Tiere keine Milch mehr geben. Aber auch die guten Feen kann man jederzeit in ihren Hütten aufsuchen, kann sie vom Hanfbrechen wegrufen, damit sie einen Schlangenbiss beschwören oder einen Absud aus neunerlei Kräutern zur Kräftigung eines siechen Kindes bereiten. Hier lebt noch Gott. […] Es ist der uralte heidnische Gott, der Herr der Wälder und Viehherden, der es ablehnt, sich mit jenem stolzen, prahlenden Gott in Verbindung bringen zu lassen, der, in Gold und Seide gehüllt, in den bunten Ikonen wohnt, oder mit jenem verdrießlichen Alten, der sich hinter den schäbigen Vorhängen der Synagogen verbirgt.] »Když pisatel tohoto vypravování shledával v domovinČ Nikoly Šuhaje pĜíbČhy o tomto muži nezranitelném, který bohatým bral a chudým dával a který nikdy, kromČ v sebeobranČ nebo ze spravedlivé msty, […] A dole, v úzkých údolích Ĝek, ve vesnicích, které jsou zelené kukuĜiþnými poli a žluté kvČty sluneþnic, žijí vlkodlaci, kteĜí pĜekulivše se veþer po soumraku pĜes kládu, se mČní z mužĤ ve vlky a k ránu opČt z vlkĤ v muže, zde se v mČsíþních nocích mladé vČdmy prohánČjí po koních, v které promČnily své spící muže, a þarodČjnic netĜeba hledati za sedmi horami a sedmi Ĝekami ve vČtrných údolích, nýbrž ty zlé možno potkati na pastvinách, jak sypou do tĜí dobytþích stop soli, aby zbavily krávy mléka, a ony dobré lze kdykoli navštíviti v jejich chýších a odvolati od konopných trdlic, aby zaĜíkaly hadí uštknutí nebo koupelí v odvaru z devíti bylin udČlaly z dítČte neduživého silné. Zde žije ještČ BĤh. […] Prastarý pohanský BĤh, pán lesĤ a stád, který odmítá spojovati se s oním pyšnČ honosným Bohem, bydlícím v zlatČ a hedvábí za pestrými stČnami ikonostasĤ, i s oním nevrlým starcem, skrývajícím se za ošumČlými záclonkami purjochesĤ synagog.« (Olbracht 1975, 7)
Hier wird scheinbar eine mythische Zeit aufgerufen, in der das Menschliche vom Übermenschlichen nicht geschieden ist, eine Zone, in der das Übernatürliche nicht als Unnatürlich ausgegrenzt ist, es handelt sich dabei um eine Art »Exotik in der Zeit« (»der uralte heidnische Gott«), die durch archaische Erscheinungen hervorgerufen wird und eine Parallelzeit zur Gegenwart (mit dem stolzen, prahlenden Gott in den bunten Ikonen, und dem verdrießlichen Alten, der sich hinter den schäbigen Vorhängen der Synagogen verbirgt) konstituiert. In die-
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ser Zeit gibt es Werwölfe und Hexen oder »unverwundbare Männer« wie Nikola Šuhaj, die Dörfer, Wälder und Berge bevölkern. Doch ist diese Exotik nicht hermetisch wie in einem Märchen oder einer Sage. Diese mythische Zeit befindet sich parallel in einem Raum mit anderen Zeiten, interagiert, kommuniziert, bildet mit ihnen ein Spannungsfeld. Die »Exotik in der Zeit« steht der ukrainischen Prosa des chimären, magischen Realismus, wie Mychajlo Kocjubyns’kyjs Schatten vergessener Ahnen (Tini zabutych predkiv) oder Hnat Chotkevyþ’ Steinerner Seele (Kaminna duša) nah – bezeichnend, dass es sich dabei um einen der bekanntesten ukrainischen Romane über die Karpaten und Opryšken handelt –, anderseits auch der modernen Ballade, wie sie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts spezifisch war14. Magisch realistische oder balladenhafte Prosa über den in der Zwischenkriegszeit zur Tschechoslowakei gehörenden Karpatenraum findet sich bei einer Reihe von tschechischen Autoren, u.a. Karel ýapek, Jaroslav Durych, Vladislav Vanþura oder Ivan Olbracht. Der Karpatenraum erscheint in der tschechischen Prosa der 1920er und 1930er Jahre nicht weit entfernt von der Metropole zugleich freilich exotisch und einer anderen Zeit und einem anderen Raum zugehörig. Dieser wirkt aber nicht weniger real als die Zivilisation der Metropole. In Olbrachts Essays über die Karpaten (Berge und Jahrhunderte) wird die Reise durch die Bergregion einer Zeitreise gleich gesetzt (ersichtlich an den Kapitelüberschriften, z.B. das »Dorf des 11. Jahrhunderts« u.ä.), wobei hier das Narrativ der modernen Metropole gegenüber der Armut und Rückständigkeit, des Anachronismus und der sozialen und politischen Verhältnisse an der Peripherie hervortritt – »es war ein Leben wie im Mittelalter mit einer primitiven Wald- und Weidewirtschaft, mit der einfachen Herstellung von Stoffen, Schuhwerk und Haushaltsgräten, ohne Bildung, Schulden und Nachrichten aus der
14 Auch Karel ýapek verfasste Ende der 1920er Jahre eine Ballade, die im Karpatenraum spielt – Balada o Juraji ýupovi. Auf der Grundlage von Olbrachts Roman entstand dann das Bühnenstück mit Musikeinlagen Balada pro banditu von Milan Uhde, das auch erfolgreich verfilmt wurde; im deutschsprachigen Raum z.B. wurde auf Bänkelsang, Moritaten und andere Folklore zurückgegriffen, so von z.B. Frank Wedekind, Arno Holz, Bertold Brecht u.a., die die Fragwürdigkeit einer Ordnung darstellten, innerhalb der und gegen die Verbrechen begangen wurden; zu weiteren Texten tschechischer Autoren der Zwischenkriegszeit siehe Zand 2002.
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Welt« (byl to stĜedovČký život primitivního hospodáĜství s pastevectvím a kluþením lesĤ, s jednoduchou výrobou látek, obuvi a náĜadí doma, život bez gramoty, bez škol, beze zpráv o svČtČ, Olbracht 1982, 15). Dieses Narrativ der Metropole wird der vormodernen Ordnung gegenüber gestellt: [Und wenn man im Urwald der Karpatenhöhen einen Raben beobachtet, wie er über ein enges Tal langsam von einer Seite zur anderen gleitet, und man zwischen den Flügelschlägen sein bedächtiges und trauriges Krrraaa hört, als entstamme es der Tiefe einer menschlichen Kehle, dann denkt daran, was ihr in der Schule gelernt habt, dass der Rabe ein Vogel ist, der bei uns schon seit langer Zeit ausgestorben ist, hier seid ihr in dieser langen Zeit davor, hier ist es wie vor Jahrhunderten.] »Uvidíte-li nČkde v pralese karpatských hor, jak ze stránČ do stránČ a pĜes údolí jen desítky metrĤ široké letí zvolna krkavec, a uslyšíte-li jak mezi máváním kĜídly Ĝíká své pomalé a smutné k-k-k, jako by bylo vyslovováno odnČkud z hloubky lidského hrdla, nevzpomínejte na to, þemu jste se uþili ve škole, že je krkavec pták v našich krajích již dávno vyhynulý. Zde jste právČ pĜed tím dávno; a jste tu pĜed stoletími.« (Olbracht 1982, 9)
Das Imaginäre – sonst ungreifbar und doch allgegenwärtig – wird hier im Spannungsfeld literarischer Mehrsprachigkeit fassbar. Damit wird die Gegenwart des Vergangenen vermittelt und überhaupt erst erfahrbar. Diese Erfahrung präsentiert sich im Spannungsfeld von literarischer Mehrsprachigkeit als Narrativ. Die Mehrsprachigkeit des Karpatenraumes manifestiert sich somit hier im Narrativ (im soziokulturellen Wissen) eines urwüchsigen Mythos, in einer Ordnung außerhalb der Zivilisation, die im besonderen Maße durch die Tradition des Opryškentums15 und ihrer Helden wie Nikola Šuhaj verkörpert wird. Der Klang seines Namens durchdringt den Raum: »›Hahoh! Hier ist Šuhaj
15 Als Opryšken werden jene jungen Männer im Karpatenraum bezeichnet, die vom Militärdienst desertierten und deshalb in die Illegalität gehen mussten oder aber auf andere Weise wegen zumeist geringer Vergehen mit der Staatsmacht in Konflikt gerieten und sich der Verfolgung durch Flucht in die Bergwälder entzogen; dabei wurde der Kontakt in die Heimatgemeinde und Heimatregion zumeist aufrechterhalten; siehe auch Hrabovec’kyj 1982, Budivs’kyj 1999.
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Nikola Šuhaj!‹ Es war ihm als, als wüchse dieser Name, sein Name, über die Wipfel der Bäume hinaus und erfülle das ganze Tal bis an die Wolken« (»Hahó! Tady je Šuhaj! Nikola Šuhaj!« A zdálo se mu, že toto jméno, jeho jméno, roste nad vrcholky stromĤ a vyplĖuje celé údolí až k oblakĤm, Olbracht 1975, 154).16 Bezeichnenderweise werden in diesem mythischen Narrativ Šuhaj und ihm nahestehende Protagonisten in ihrem Verhalten mit Tieren gleichgesetzt, Šuhaj mit einem Luchs oder Wolf, sein Bruder Jura mit einem Wolfsjungen und seine Frau Eržika mit einem Wiesel oder einem scheuen Fisch. Die mythische Zeit außerhalb der Zivilisation ordnet den Raum mit einem Narrativ, das von übernatürlichen Wesen, von Hexen und ihren magischen Praktiken, von Unverwundbarkeit genauso ›natürlich‹ erzählt wie vom Wechsel der Jahreszeiten und vom Wunsch Šuhajs in Ruhe mit seiner Frau in ihrem Heimatdorf Koloþava zu wirtschaften. Eine ganze andere Sprache und mit ihr einhergehend soziokulturelle Zusammenhänge artikulieren sich im parallelen Zivilisationsnarrativ der Metropole, das den Raum ebenfalls ordnend auszufüllen bestrebt ist, ihn repräsentieren will. Dadurch entsteht ein Spannungsfeld, das einen konfliktgeladenen Grenzraum aufbaut. In diesem ist die tschechoslowakische Verwaltung im Heimatdorf Nikola Šuhajs Koloþava und den umliegenden Karpaten mit einer Alterität konfrontiert, die nicht mir ihrem Narrativ vereinbar ist, sie nicht in ihre Sprache übersetzen kann. Und so reagieren ihre Vertreter maßlos aggressiv, prügeln und verhaften alle, die nur entfernt mit Šuhaj in Verbindung gebracht werden: »Die Gendarmen waren ratlos. Sie tobten. […] Sie verhafteten Nikolas Kameraden oder diejenigen, die es sein konnten.« (ýetníci jsou bezradní. Jsou zbČsilí. [...] Pozatýkali Nikolovy kamarády nebo ty, kteĜí by jimi být jen mohli, Olbracht 1975, 69).
16 Vgl. Hrbata 2005, 493: »Šuhajs Name scheint die ganze Landschaft zu erfüllen oder sogar zu vertreten. Identität, Repräsentation und ein Ineinanderfließen schaffen eine Bildsprache. Diese konstruiert das Bild eines Raumes außerhalb der Zivilisation […]« (Šuhajovo jméno posléze jakoby zaplĖuje þi zastupuje celý kraj. Identitu, zástupnost a splývání vytváĜí obrazný jazyk. Ten tak konstruuje obraz prostoru mimo civilizaci […]).
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Ähnlich anschaulich wird das Spannungsfeld der Narrative in der Episode, als Šuhaj und ein Kamerad desertieren. Dieser Kamerad wird durch seine verallgemeinernde Bezeichnung als der ›Deutsche‹ zum Vertreter der Zivilisation und Moderne. In dessen Wahrnehmung ist die russische Hexe, zu der er zusammen mit Šuhaj geraten ist, nur ein lächerliches altes Weib: [Der Deutsche. Der dumme Deutsche, der nur seine Maschinen und Zahlen kannte, sonst aber nichts wusste und nichts glaubte, begann unbändig zu lachen. Aber Nikola Šuhaj wurde stutzig. Er stammte nämlich aus der KarpatoUkraine, und dort lebte Gott noch [...], er wusste sofort, dass hier vor ihm auf der Leiter eine alte Hexe stand.] »NČmec, hloupý NČmec, který zná jen svoje stroje a svoje þísliþky, nic neví a niþemu nevČĜí, se dal do nehorázného smíchu. Ale Šuhaj se zarazil. NeboĢ Šuhaj byl z Podkarpatská. A tam žije ještČ BĤh.[...] vČdČl ihned, že pĜed ním stojí baba jaga. BosorkáĖa. Povitrula. ýarodČjnice.« (Olbracht 1975, 9)
Von dieser Hexe erhalten Šuhaj und der Deutsche aber einen magischen Trank, der sie unverwundbar gegen Kugeln macht; nachdem sie diese Eigenschaft an sich bemerken, sprechen sie aus unterschiedlichen Gründen nicht darüber: Während Šuhaj es als gegeben akzeptiert, keinen Anlass sieht, lange über Übernatürliches zu reden, redet der Deutsche nicht, weil er das Übernatürliche nicht akzeptieren kann und »Angst hat, sich und den Freund anlügen zu müssen«. Hier zeigt sich anschaulich das eingangs angesprochene Spannungsfeld von Narrativ und literarischer Mehrsprachigkeit, die metasprachliche Ausweitung auf eine andere, fremde Sprache, ohne sie sprachlich (oder als Narrativ) im Einzelnen zu konkretisieren. Konkretisiert wird die Sprache der Zivilisation, die Sprache der Rationalität und liberalen staatsbürgerlichen Ordnung, Freiheit und Gleichheit der Bürger durch den Gendarmeriehauptmann. Die früher martialisch auftretenden tschechoslowakischen Gendarmen, laufen nun unbewaffnet und ohne Helm, ›wie gute Nachbarn‹, umher. Für die Einheimischen – Karpato-Ukrainer wie Juden – ein unverständliches, resp. unkluges Verhalten, genauso unverständlich und unklug wie die Rede des neuen Gendarmenhauptmanns. Die Rede beinhaltet den Appell an das staatsbürgerliche Gewissen, die Behörden im Kampf gegen das Verbrechen zu unterstützen (»Kampf gegen das Verbrechen«, boj
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se zloþinem; »Ich appeliere an ihre Bürgerehre: Machen Sie Šuhaj unschädlich!«; Apeluji na vaši obþanskou þest: UþiĖte Mikuláše Šuhaje neškodným! »Staatsbürgerliche Pflicht und Sinn für Recht und Gesetz«, Obþanská povinnost a smysl pro právo a zákon! Olbracht 1975, 161). Die Bürgerpflicht und solcher Art Sinn für Recht und Gesetz wird als Lüge gewertet (von den Karpato-Ukrainern: »Was lügst du hier rum? dachten die Bergbauern«, »Co lžež?« mysleli se gazdové) und als Dummheit gesehen (von den Juden: »›Fehler!‹ sagten die alten Juden. ›Schweinskopf!‹ kommentierte halblaut die jüdische Jugend«; ›Chyba!‹ Ĝekli se staĜí Židé. ›Chazrkopf!‹ pravila polohlasitČ židovská mládež, Olbracht 1975, 162). Für die Karpato-Ukrainer ist Nikola Šuhaj kein Verbrecher, sondern gerade die Verkörperung von Freiheit und Gleichheit, um die sich der Hauptmann vergeblich bemüht. Die Sprache des modernen Zentrums klingt in dem archaischen Raum nur komisch, plastisch durch das vielsprachige Gebrabbel des Hauptmanns: [Die komische Wirkung der weichen Aussprache des Redners, die weder Koloþavaer Dialekt noch Ukrainisch, Russisch oder Tschechisch war, sondern von jedem ein bisschen, schwand allmählich, die Leute gewöhnten sich daran und begannen sich zu langweilen.] »Veselá nálada, zpĤsobená mČkkou výslovností mluvþího a jeho Ĝeþí, jež nebyla ani koloþavským dialektem, ani ukrajinštinou, ani ruštinou, ani þeštinou, nýbrž vším tím dohromady, pomalu mizela, lidé si zvykli a poþínali se nudit.« (Olbracht 1975, 161)
Das mehrsprachige Spannungsfeld mit seinen Sprachgrenzen wird in der abschließenden Bewertung der Rede des Vertreters des modernen Staats deutlich: Der Hauptmann selbst ist mit seiner »diplomatischen Rede« äußerst zufrieden, für die Juden ist er ein Dummkopf und für die Karpato-Ukrainer ist er ein Lügner und Betrüger. Sprachgrenzen entsprechen hier soziokulturellen Grenzen. Das Tschechische impliziert das Narrativ der Metropole. In der Mehrsprachigkeit des Karpatenraums fungiert das Tschechische als fremde Sprache, ist Über- und Umsetzung fremdkultureller Ordnung, nicht nur im topographischen Sinn, sondern auch durch die semiotische Eroberung. Es nimmt eine bereits kolonialistische Perspektive in der Missachtung der Eigenwertigkeit fremder Narrative ein. Besonders augenfällig erscheint das in
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der Schlussszene, in der die getöteten Brüder Nikola und Juraj Šuhaj wie Jagdtrophäen für ein offizielles Foto arrangiert werden:
[...] auf dem Rasen vor der Gendarmerie lagen zwei Tote. Sie lagen fast überkreuz, die Beine Nikolas auf dem Bauch des Bruders. Vielleicht um die scheußliche Wunde Jurajs zu verbergen, aber wahrscheinlich handelte es sich eher um ein fachmännisches Arrangement, um beide als Jagdtrophäe auf eine Photographie zu bekommen und damit es ein hübsches Bild wurde. Über die Brust der Toten lagen zwei gekreuzte Gendarmeriekarabiner und darauf eine schwarze Tafel, auf der in Zierschrift mit Kreide stand: Šuhajs Ende: 16.8.1921.] »[...] na trávČ zahrady þetnické stanice leželi dva mrtví. Leželi proti sobČ trochu kĜížem jako lovecká trofej a nohy Nikolovy byly položeny na bratrĤv život. Snad proto, aby byla zakryta strašná rána Jurajova, þi že snad bylo tohoto odborného aranžování tĜeba, aby je oba bylo možno sejmout na jednu desku a obrázek aby byl hezký. PĜes prsa mrtvých byly zkĜíženy dvČ þetnické karabiny a uprostĜed nich byl na þerné tabuli nápis kĜídou, nakreslený ozdobnými písmeny: ŠuhajĤv konec: 16.8.1921.« (Olbracht 1975, 187)
Ein weiteres Idiom in diesem Raum spricht der jüdische Bevölkerungsteil. Dieser ist durch eine deutliche Binnenhierarchisierung gekennzeichnet, wodurch sich sozio-ökonomische und politische Religion- und Sprachgrenzen überschreitende Allianzen herausbilden können. Ein Beispiel dafür ist die gemeinsame Abneigung der ärmeren Juden und Karpato-Ukrainer gegen die reichen Juden (s.o.), aber auch die Differenzen zwischen tschechoslowakischen Staatsvertretern und reichen Juden und Rabbinern. Diese Konstellation wird von Olbracht ausführlich im Reiseessay Berge und Jahrhunderte thematisiert. Neben der expliziten sprachlichen Abgrenzung, die vor allem religiös motiviert ist, stellt das jüdische Idiom in diesem mehrsprachigen Raum, genauso wie das Ukrainische, ein Kommunikationsmittel dar. In dem Beitrag von Anna Veronika Wendland in diesem Band wird aus der Perspektive der Imperialismus-Forschung ausgeführt, dass die Vorstellung von besonderen ›transkulturellen‹ Fähigkeiten bestimmter Gruppen wie z.B. der Juden differenziert werden müssen, was auch dieser Beitrag aus einer literaturwissenschaftlichen Sichtweise hervorhebt: Das Jüdische ist in der mehrsprachigen Traditionen des Karpatenraums verwurzelt einschließlich der Räubertradition und ihrer lite-
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rarischen Tradierung. So ist Abram Beer offensichtlich ein Komplize Šuhajs. Die Kommunikation zwischen der karpato-ukrainischen und der jüdischen Bevölkerung – wie sie sich in Olbrachts inszenierter Mehrsprachigkeit des Karpatenraumes darstellt, – verläuft zumeist erfolgreich, auch hinsichtlich notwendiger Abgrenzungen.
S CHLUSSBEMERKUNG Der Frage nach funktionaler mündlicher Vielsprachigkeit und ihrer Verknüpfung mit kulturellen Narrativen in literarischen Texten wurde hier in einem transkulturellen Kontext nachgegangen. Das Spannungsfeld von literarischer Mehrsprachigkeit zu beschreiben und aus der Verflechtung von Mehrsprachigkeit und Narrativen einen Beschreibungsmodus abzuleiten, bedeutet Interpretation und Übersetzung in andere Zusammenhänge, eine Interpretation als Grenzraum, in dem unterschiedliche sprachkulturelle Ordnungen aufeinandertreffen. Dafür bietet sich die Karpatenregion als historisches polyethnisches ›borderland‹ an. Die literarischen Konstruktionen von Narrativen in diesem ›borderland‹ werden durch die Bewegung der Figuren möglich, die diesen Raum durchmessen. Durch ihre Bewegung werden Grenzzonen deutlich sowie Raum und Zeit in Kontakt gebracht, denn die Bewegung durch einen literarischen Raum wie die Karpaten erscheint, wie Ivan Olbracht es nannte, als Zeitreise. Die Beschreibung der Konstruktion literarischer Mehrsprachigkeit in den Karpaten exemplifiziert in Olbrachts Roman die Verflechtung von drei »sprachlichen Ordnungen«. Diese drei Idiome bilden narrative Räume aus, durch die sich die Figuren bewegen, fokussiert hier v.a. auf die Figur des Nikola Šuhaj. Seine Bewegung durch den Karpatenraum entfaltet das historische, sprachkulturelle und soziale Spannungsverhältnis, das als literarische Mehrsprachigkeit greifbar und in Narrativen entfaltet wird. Erzählerisch lässt sich dieses Spannungsverhältnis als Grenzraum und Šuhaj als Grenzgänger gestalten. Literarische Mehrsprachigkeit wie sie in Olbrachts Text inszeniert wurde, geht auch mit soziokultureller und politischer Dezentrierung einher. Darin liegt ein traditionell subversives Moment des Karpatenraums, dem der Diskurs aller imperialen und/oder zentralistischen Staatsordnungen auch sprachlich/semiotisch – z.B. den toten Räuber zu einer Jagdtrophäe zu degradieren – begegnen musste. Außerdem kann literarische
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Mehrsprachigkeit erhellend für die Frage nach den transkulturellen Kompetenzen und der – auch abgrenzenden – Kommunikation bestimmter Gruppen sein.
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Zwischen Protomoderne und Postmoderne Eine komparatistische Sichtweise auf die Wiederkehr Galiziens in der Literatur W ERNER N ELL
Im Anschluss an Ernst Cassirers Raumanalytik (Cassirer 1931) und Fernand Braudels geschichtlicher Ausleuchtung der Mittelmeerwelt (Braudel 1990) ist gegenwärtig einmal wieder erneut ins Zentrum der Überlegungen gerückt, dass geographische Räume – und deren Grenzlinien – kulturgeschichtliche Konstruktionen sind, sodass die solcherart geographisch abgesteckten Felder auch soziale Handlungsräume darstellen. Nicht zuletzt deshalb bedürfen und unterliegen sie zugleich gesellschaftlicher Semantisierung. Derzeit wird dies mit dem durchaus auch modisch getönten Begriff als ›spatial turn‹ angesprochen.1 Dabei treten natürlich Unterschiede in den Graden zutage, in denen der historische und soziale Konstruktionscharakter von Raumerfahrungen innerhalb der Wahrnehmung und Darstellung kulturell codierter geographischer Räume in Erscheinung tritt bzw. erkennbar wird. In der Folge ist freilich auch zu erkennen, dass sich im Zuge eines Prozesses der
1
In der Sichtweise einer kulturgeschichtlich ausgerichteten Komparatistik ist dieser »turn« eben nicht »ein Kind der Postmoderne« (so BachmannMedick 2006, 284), sondern vielmehr wie dies Manfred Beller und Joep Leerssen in ihrem 2007 erschienenen Handbuch der ›Imagology‹ tun, zumindest bis in die Kulturgeographie und Klimatheorien des 18. Jahrhunderts zurück zu verfolgen; vgl. Beller 2007.
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Aufwertung und Ausgestaltung von Landschaften zu nationalstaatlich codierten Räumen auch Narrative finden, in denen der Umstand ihrer kulturellen und politischen Herstellung und ihrer damit verbundenen Fragilität und Relativität auch zum Verschwinden gebracht werden kann.
R EGIONEN
UND
N ATIONEN
Dies gilt zumal für die sich als naturwüchsig darstellenden Nationalstaatsgeschichten etwa des modernen Frankreich (vgl. Weber 1976), aber auch für die theoretisch im Rahmen der soziologischen Modernisierungstheorien der 1950er Jahre entworfenen Vorstellungen eines ›nation building‹, das dort als eine Art von Überwindung regionaler Besonderheiten zugunsten ihrer Integration in einen sprachlich und kulturell homogen gedachten ›nationalen‹ Kommunikationsraum modelliert wurde.2 (Deutsch 1985) Für kurze Zeit nach 1990 wurde dieser Ansatz auch noch einmal in diversen Transformationstheorien und
2
Für deutsche Verhältnisse ist dabei vielleicht nicht unwichtig, dass die immer wieder erkennbare besondere Akzentuierung nationaler Homogenität als einer stets gefährdeten (Volkskörper, Überfremdungsängste, Leitkultur-Debatte) sich gerade daraus ergibt, dass sich hier zwei gegensätzliche Deutungen seit langem gegenüberstehen und um die Vorherrschaft konkurrieren, bestand doch das deutsche Volk, auch in den nationalsten Geschichten, immerhin seit der Ottonen-Zeit aus vier Stämmen, deren Integration in ein Reich ebenso viel Aufmerksamkeit und Geschichtskonstruktionen gewidmet wurde, wie dem gegenläufigen Erhalt regionaler, gruppenbezogener und konfessionell getönter Identitäten. Noch aktuell bestimmt sich der bayrische ›Nationalismus‹ aus der Gemeinschaftsveranstaltung von vier Stämmen, zu denen dann – durchaus ein politisierbarer Unterschied – die Sudetendeutschen als eigener Stamm mit eigenem Heimatrecht hinzugenommen wurden (vgl. Franzen 2010); vgl. auch Josef Nadlers monumentale Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften, die genau dieses Spannungsverhältnis ausarbeitet, oder auch den NS-Film Triumph des Willens (Leni Riefenstahl 1935), in dem Männer unterschiedlichen Herkommens, unterschiedlicher Landschaften und Stammeszugehörigkeiten ihr Bekenntnis dazu ablegen, zu einem Volkskörper verschmelzen zu wollen.
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Aufbau- bzw. Restrukturierungsprogrammen in Osteuropa wieder aufgenommen. Daneben existieren freilich – zumal im Blick auf ein Europa, dessen Besonderheit sich vielleicht am ehesten in der Formel Wolfgang Reinhards von »relativer Vielfalt in relativer Einheit« (Reinhard 2004) fassen lässt – eine Fülle von Räumen und Landschaften, deren Geschichte und Geschick sich zwar auch in den Einflusszonen und Bannstrahlen nationalstaatlicher Modellierung bewegte, ohne aber dabei diesen mehr oder weniger Einbahnstraßen förmig gedachten Weg weiter bzw. zu Ende gegangen zu sein. Hier handelt es sich um Landschaften bzw. Regionen, die es im Zuge neuzeitlicher Nationen-, dann Nationalstaatsbildung in Europa (vgl. Schulze 1994, 108ff.; 209ff.) nicht auf die Ebene einer sich nationalstaatlich formierenden Souveränität mit entsprechenden Homogenitätsansprüchen und Realisierungsprogrammen, z.B. in den Bereichen Bildung, Militär, Finanzverwaltung, Infrastrukturentwicklung, geschafft haben, sondern zu Regionen innerhalb größerer Staatsgebiete wurden. Damit wurden ihre regionalspezifischen Besonderheiten in einen Rahmen übergreifender nationaler Zuordnungen eingebunden, wo sie in nunmehr eher in ihren sprachlichen oder habituellen Kuriositäten wahrgenommen und in der Regel der Vormoderne zugeschlagen wurden: als Bergbewohner, vormoderne Landbevölkerung oder als Träger von Folklore. So ist es den Friesen oder Bayern in Deutschland, den Góralen in Polen oder auch den Bretonen in Frankreich ergangen. Als politische und historische Größen dagegen verschwanden sie vielfach ganz von den politischen Landkarten und treten bis in die Gegenwart hinein nur noch als historische Bezugspunkte bzw. in der Form kultureller Erinnerungsorte einer zunächst einmal ›vergangenen‹ Vergangenheit in Erscheinung. Dass diese Entwicklungen, sei es zu nationaler Selbständigkeit, sei es zu regionaler Besonderung oder aber zum Übergang in lediglich kulturelle Erinnerung, vielfältig von entsprechenden Narrativen begleitet, ja mitunter auch getragen wurden, stellt dabei noch einmal auch die besondere Rolle von Historikern sowie Literatur- und Sprachwissenschaftlern, nicht zuletzt die Bedeutung nationalsprachlich gehaltener Literaturen und deren Literaturgeschichtsschreibung heraus. (Vgl. Anderson 1988, 72ff.)
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REGIONEN ALS E RINNERUNGSRÄUME Natürlich ist gerade in diesem Zusammenhang – etwa im Blick auf die Konjunkturen ›Preußens‹ in den deutschen Erinnerungs- und Gedächtnisdiskursen der letzten Jahrzehnte – daran zu erinnern, dass es jeweils aktuelle Situationen, Machtansprüche und Deutungsinteressen sind, aus denen heraus Vergangenheiten thematisiert und entsprechende historische Gebilde in Erinnerung gerufen werden. Entsprechend werden – auch dies eine zentrale Dimension der Nationalstaatsbildungen des 19. und 20. Jahrhunderts – diese regionenbezogenen Erinnerungen immer mit Rückbezug auf jeweils unterschiedlich codierte Vergangenheiten dann als Geschichtsansprüche, zumal als Territorialvorstellungen und Grenzlanderfahrungen, in die jeweils aktuellen Debatten eingespeist. Hier treten sie dann in der für jede Identitätskonstruktion charakteristischen Form einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in Erscheinung und formen entsprechende Referenzsysteme. Nicht zuletzt können regionale Bezüge kontroverse Reaktionen provozieren3 und in dem Sinne, wie Klaus Eder von einer »polemogenen Funktion« der Kultur spricht, erneut Konsens und Dissens erzeugen bzw. Dissens im Blick auf die Ermöglichung von Konsens bewirken. (Vgl. Eder 1994) Freilich, so zeigen dies die Bürgerkriege im ehemaligen Jugoslawien der 1990er Jahre und diverse Konfliktkonstellationen im heutigen Ungarn, in Slowenien, Rumänien und eben in der Ukraine, können kulturelle Ansprüche, Impulse und Zuordnungen auch das Gegenteil bewirken: erneut Konflikt und Gewalt, Vertreibung und Massenmord auf den Weg zu bringen. (Vgl. Croissant et al. 2009)
G ALIZIEN UND SEINE GRENZEN Wie im Folgenden im Blick auf Galizien zu zeigen sein wird, spielt dieses Changieren von Bezugsgrößen, Bezugsfeldern und Rahmenset-
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Aktuell etwa die immer wieder auftretenden Dominanzansprüche und Versuche zur Aufmerksamkeitserregung bzw. -steuerung der bundesdeutschen Vertriebenenverbände, die sich inzwischen nachdrücklich als Opfer-Verbände konstruieren und darüber ins Rennen und in die Konkurrenz mit anderen Opfer-Narrativen zu treten suchen; vgl. Brumlik 2005.
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zungen, nicht zuletzt die Ausprägung und analytische Ausrichtung entsprechender Kategorien und Fachbegriffe für das Gebiet der Komparatistik eine wichtige Rolle. Denn in einer komparatistischen Perspektive stehen einer Ausrichtung deutlich an durch Nationalstaatsgrenzen und sprachliche Homogenität gekennzeichneten Nationalliteraturen als zentralen Vergleichsgrößen (vgl. Syndram 1988; Konstantinovic 1992) solche Ansätzen gegenüber, in denen stärker die individuelle Besonderheit und Vielstimmigkeit literarischer Werke und Autoren im Sinne überlappender, gemischter, zusammengebastelter (bricolage) Formenrepertoires und Erfahrungsfelder in den Vordergrund der Analyse gestellt werden können. (Vgl. Zima 1998) Ähnlich wie es Claudio Magris für seine Heimatstadt Triest und deren Umland beschrieben hat (Magris 1997) kann auch Galizien in dieser Hinsicht als eine Art Probestück für einen literaturwissenschaftlichen Arbeitsansatz gesehen werden, der Grenzen und Vergleichsgrößen als historisch und erfahrungsgebunden wechselnde und nach Erkenntnisinteressen zumindest zum Teil auch verschiebbare, modellierbare Bezugsfelder aufzufassen sucht. Innerhalb dieser Perspektive erscheinen literarische Texte dann als objektivierte, objektivierbare Schnittstellen unterschiedlicher Diskurse und individueller Ausdrucksbzw. Gestaltungsintentionen vor einander überlagernden und divergierenden Rahmensetzungen. Magris hat dies am Strand der Lagune von Triest beobachtet: »Die Linie, die das Meer von der Lagune trennt, ist sichtbar, widerruflich und dennoch unumgehbar, wie alle Grenzen in ihrer Notwendigkeit und ihrer Nichtigkeit, wobei es wenig ausmacht, ob es sich um Grenzen zwischen Gewässern, Farben, Ländern oder Dialekten handelt.« (Magris 1997, 95)
Eine solche Relativität und Relationalität von Grenzen wird auch durch Józef Wittlin in seiner Beschreibung Lembergs (L’viv, Lwów), der Stadt seiner Kindheit und Jugend, erinnert: »Im Gymnasium lehrte man mich, dass auf der sogenannten Kortumówka […] seltsame Dinge vorgehen. Dort steht ein Haus […] wenn es heftig regnet, leiten zwei Dachrinnen an der einen Hausecke das Wasser in ein schmales Bächlein, das in einen Bach mündet, der in ein Flüsschen mündet, das in den Bug mündet, der in die Weichsel mündet, die in die Ostsee mündet. Der Regen aber, der aus den Dachrinnen am anderen Ende des Häuschens fließt, speist durch eine
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ähnliche Kombination den Dnjestr, der in das Schwarze Meer mündet. Auf diese Weise liegt Lemberg gleichzeitig an der Ostsee und am Schwarzen Meer.« (Wittlin 1994, 34f.)
Mit dieser Schilderung eines Platzes zwischen den Welten, der im gleichen Maße auch ihr Mittelpunkt ist, gelingt Wittlin zugleich die Konstitution eines Referenzrahmens, der die nostalgische Färbung der Erinnerung durch die Konfrontation mit realen historischen Erfahrungen und ihrer sozialen Platzierung verbindet und doch damit von einem Bruch herkömmlicher Zuordnungen berichtet. Mehr noch, Wittlin entwirft mit dieser Beschreibung auch den Ansatzpunkt für eine weiter führende Literaturtheorie, zumindest für eine Poetik der Vielfalt4 und der Überlagerung von Zeitschichten und historischen Erfahrungen in geographischen Zwischenräumen: »Das ungeordnete Durcheinander von Erinnerungsfetzen, Erinnerungsgespenstern drängt sich in die Feder wie die Menge der Displaced Persons in die Küche der UNRRA. Jede Erscheinung aus der Vergangenheit ist obdachlos, hungrig, verfroren, bis ein mitleidiges Wort sie an sich zieht und wärmt. Doch selbst dann wird sie noch nicht an ihrem Platz sein.« (Wittlin 1994, 10)
KOMPARATISTIK IN ZWISCHENWELTEN Natürlich ist das mit dem Konzept historisch semantisierter Räume in den Blick gerückte, verwickelte Feld nationalgeschichtlicher Überund Umschreibungen sowohl lokaler als auch regionenüberschreitender Erfahrungszusammenhänge und der in ihnen agierenden Differenzen nicht nur das Thema geschichtswissenschaftlicher oder sozialhistorischer Studien5, sondern ebenso eines der Arbeitsfelder der Kompa-
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Zu diesem Ansatz einer Poetik der Vielfalt, einer »poétique des relations«
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Für eine weitergehende Betrachtung geographisch bestimmter Räume als
sei auf Glissant 1986, 143ff. verwiesen. Orte und Landschaften kultureller Überlagerungen, politischer, sozialer und historischer Interdependenzen und Wechselwirkungen vgl. die auch für Galizien instruktive Kulturgeschichte des Schwarzen Meeres bei Ascherson 1998.
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ratistik. Natürlich hat sie sich über weite Strecken in ihrer Fachgeschichte zunächst einmal als eine vergleichende Betrachtung nationalkulturell oder nationalsprachlich gefasster Literaturbestände und entsprechend repräsentativer Einzelwerke verstanden. (Vgl. dazu Weisstein 1968, 22-87) Zugleich aber sucht sie – und dies nicht erst in den letzten Jahrzehnten, sehr wohl aber doch auch durch die postcolonial studies verstärkt – nicht nur den Besonderheiten der jeweils einzelnen Werke Rechnung zu tragen, sondern gerade im Zusammenhang der Berücksichtigung von Werken, Autoren und Zeitumständen immer wieder jene Zwischenwelten zwischen Staaten, Sprachen, literarischen Traditionen und unterschiedlichsten Erfahrungsräumen auf, aus denen nicht nur die Werke sich herleiten, sondern, folgen wir Georg Steiner, auch die Impulse der Komparatistik selbst ihren Ausgang nahmen. »Die Geschichte der Komparatistik als einer professionell betriebenen akademischen Disziplin ist unübersichtlich und bis zu einem gewissen Grad auch düster.« (Steiner 1997, 122) Steiner sieht dabei – anders als es für weite Strecken der französischen Komparatistik des 19. Jahrhunderts und auch die Ansätze der deutschen vergleichenden Literaturgeschichte der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts gilt – den Ansatz einer vergleichenden Literaturbetrachtung weniger als eine Art vor dem Hintergrund von Positivismus und Evolutionismus ausgearbeiteter Rahmensetzung und Synthese bereits voraussetzbarer nationalliterarischer Darstellungen, wie sie die Bücherschränke des Bürgertums im 19. Jahrhundert zu füllen begannen, sondern vielmehr als Ergebnis von Verunsicherungs- und Dislozierungs- bzw. Raumentzugsprozessen. Zum Teil können diese Ansätze einer den vermischten Verhältnissen zugewandten komparatistischen Forschung als intendierte Reaktionen auf die Spannungen gerade zwischen den Nationalstaaten in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, namentlich Deutschlands und Frankreichs, gesehen werden. In ihren Ursprüngen lassen sich die Anfänge der Komparatistik tatsächlich auf jene von nationalen Homogenisierungsansprüchen besonders betroffenen regionalen Zwischenwelten wie etwa das Elsass zurückführen. Auch die unsicheren Verhältnisse von Menschen und sozialen Gruppen zwischen nationalistischen Programmen und unterschiedlichen ethnischen Mobilisierungen und
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Ausrichtungen wie sie in Mittelost- und Osteuropa anzutreffen waren6, spielen für die Ausbildung komparatistischer Fragestellungen eine Rolle. Schließlich sind nicht zuletzt die Ansprüche zu nennen, in denen es um den Ausdruck und die Verarbeitung der Erfahrungen des Exils, zumal der jüdischen Flüchtlinge aus Europa in Nordamerika, geht: »Ein Großteil dessen, was sich später zu Studiengängen in vergleichender Literaturwissenschaft oder Komparatistikabteilungen […] entwickelte, entstand aus einer partiellen ethnischen und sozialen Ausgliederung heraus […] Die Komparatistik trägt daher sowohl etwas von der Virtuosität als auch von der Traurigkeit in sich, die eine Exilsituation, eine Art von innerer Diaspora, entstehen lässt.« (Steiner 1997, 124)
E INE DOPPELTE OPTIK Es wird im Folgenden zu zeigen sein, wie diese beiden Rahmensetzungen der Komparatistik, eine ›harte‹ Rahmung, die mit auf Vergleichbarkeit hin angelegten nationalliterarischen Zuordnungen arbeitet und unter Bezugnahme auf diese Setzungen ihre Vergleiche vornimmt, und eine ›weiche‹ Rahmung, die sich aus der Korrespondenz von Mischungen der Motive und Fragestellungen mit denjenigen Erfahrungen und Formvorräten ergibt, die sich gleichermaßen aus den ›Zwischenwelten‹ nationaler oder sonstiger Großgruppen bezogener Schematisierungen herleiten, jeweils eine mögliche Perspektive auf die galizischen Verhältnisse konstituieren und ihrerseits eben aus der Blickrichtung dieser Verhältnisse auch wieder in Frage gestellt werden können. Dabei ist freilich auch zu berücksichtigen, dass es sich hierbei nicht einfach um zwei mehr oder weniger gleichermaßen zur Verfügung stehende Optionen handelt, so wie es sich im Rückblick einer heutigen Betrachtung darstellt, sondern dass diese Optionen selbst in umfassendere historische und epistemologische Programme einzuordnen sind. In diesen wird der Nationalstaat entweder als Muster und Entwicklungsziel gesehen oder kann als eine Art der Überformung und
6
Zur paradigmatischen Rolle und Bedeutung Hugo Meltzls von Lomnitz vgl. jetzt Fassel 2005.
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auch Überforderung erscheinen, in deren Folge in Analogie zu den historischen Vorgängen partikulare Erfahrungsräume, differente kulturelle Codierungen und gruppenspezifische Wertsetzungen, inklusive ihrer künstlerischen, literarischen Objektivationsmöglichkeiten, zum Verblassen oder gar Verschwinden gebracht werden können. Galizien als eine Landschaft, in der unterschiedliche soziale, teils ethnisch, teils konfessionell, teils sprachlich oder politisch definierte Gruppen miteinander um Anerkennung und z. T. Dominanz konkurrieren, es in diversen Projekten darauf anlegen, nationale Zielsetzungen zu verfolgen bzw. auch im politisch-geschichtsphilosophischen Sinne Nationen zu werden, dieses Ziel aber nicht erreichen, bietet in dieser Hinsicht ein ebenso spannungsreiches wie Erkenntnisse vermittelndes Arbeitsfeld für einen komparatistischen Arbeitsansatz, der seine Begrifflichkeiten schaffen und überprüfen, ggf. entsprechend zu Ergebnissen und Fragestellungen jeweils neu justieren muss und zugleich doch der Erschließung und Vermittlung der Texte in ihren jeweils besonderen und zugleich übergreifenden Kontexten Rechnung zu tragen sucht.
M ACHT
UND
G RENZEN
DER
N ARRATIONEN
Auf die Aktualität vermeintlich ältester Gründungsnarrative und ihr Wirken unterhalb der Oberfläche modern sich darstellender Kohärenzerzählungen der letzten beiden Jahrhunderte hat vor vielen Jahren der Historiker František Graus in einem noch heute lesenswerten Buch mit dem scheinbar harmlosen Titel Lebendige Vergangenheit aufmerksam gemacht. Lange vor Benedict Anderson7 wies Graus dabei auf den konstruktiven Anteil entsprechender Narrative und gelehrter Bildungsschichten sowie anderer Funktionseliten an der Ausbildung nationaler Master-Narrative hin: »Diese Überlieferungen waren weder mythisch geprägt, noch waren sie (im Sinne der romantischen Auffassung vom Volk) urtümlich; bei jedem der untersuchten Beispiele [Frankreich, Deutschland und Böhmen stellen hier für Graus die Untersuchungsbereiche dar – W.N.] konnte ein enger Zusammenhang zwi-
7
Zu den Möglichkeiten und Grenzen, im Anschluss an Anderson GalizienStudien zu betreiben vgl. Ruthner 2002.
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schen gelehrter Überlieferung und Geschichtsbewusstsein nachgewiesen werden.« (Graus 1975, 374)
Dementsprechend lässt sich ein Wechselbezug zwischen einer zumindest den Intentionen nach zentral ausgerichteten politisch-territorialen Herrschaft, einer in diesem Rahmen dann konstituierten Schicht gleichförmig ausgerichteter Bildungsträger und den von diesen hergestellten bzw. ausgearbeiteten und tradierten Kohärenzerzählungen erkennen. Gerade im Falle ihrer erfolgreichen Einbettung gelingt es diesen, zumindest zeitweise, anders gelagerte, differente Erzählungen und Erfahrungsräume entweder zu delegitimieren (bspw. als Ausdruck von Unbildung, Aberglauben oder Rohheit), zeitlich zu distanzieren, also in der Form von Brauchtum, Märchen oder Sagen darzubieten, oder auch als unselbstständige, vornehmlich mit Unterhaltungs- oder Erinnerungswerten versehene Überreste (Folklore) in den Funktionszusammenhang des jeweils nationalgesellschaftlichen ›Ganzen‹ zu integrieren bzw. im Blick auf nationale Integration hin zu funktionalisieren. Dies gilt etwa für die Übernahme von Trachten in ›nationale‹ Stile, die partielle Aufnahme regionaler Feiertage in einen übergreifenden Festtagskalender oder die Sammlung lokaler Märchen zu einem nationalen Geschichten-Buch, wie dies nicht nur die Brüder Grimm in Deutschland, sondern für die Ukraine bspw. Ivan-Franko im 19. Jahrhundert unternommen haben.8 Dass es sich bei dieser Restitution der vormodernen Bauernkulturen unter den Bedingungen der Moderne weitgehend um von einem städtisch geprägten Bildungsbürgertum getragene und auch an dessen Leitvorstellungen orientierte Rekonstruktionen, genau genommen um rückwärts gerichtete Erfindung und Projektionen handelt, hat Rüdiger Wischenbart an der Entstehung der ungarischen Bauerntrachten als Folge spezifisch moderner Entwicklungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gezeigt: »Da erst konnten sie die Füße in die so typischen Stiefel stecken und die weißen Hemden, die ein gar nicht bäuerlicher Ledergürtel zusammenhält, reich besticken«. (Wischenbart 1993, 32) Bemerkenswert, auch im Blick auf Galizien, ist freilich der Umstand, dass der damit erreichte Zustand und seine kulturellen Ausdrucksfor-
8
Zu diesen zwischen Funktionalisierung, Aufwertung und Erfindung der Volkskulturen sozialisierenden Tendenzen vgl. Bormann 1998; Korff 1978, 63ff.
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men in anderen Landschaften schon bald von einer fortschreitenden Moderne überrollt wurden. Während sich der kulturelle bzw. mediale ›Wert‹ dieser Formen und damit zugleich ihre Attraktivität durch diese Verschiebung ins Imaginäre sogar noch steigerte, wurden die Träger dieser Zeichen aufs Neue ihrer Möglichkeiten zur Setzung von Differenz und Repräsentativität enthoben: »Nicht lange hielt die Mode, die auf ein städtisches Bürgertum ›authentisch‹ wirkte, denn sobald die Bauern zu Proletariern wurden, wurde auch ihre Kluft wieder grau«. (Ebd.)
KONKURRENZ DER NARRATIVE Für Galizien erscheint vor diesem Hintergrund charakteristisch, dass es eben nicht nur eine Mastererzählung, eine Herrschaft und eine dazu gehörende Klasse/Gruppe kultureller Vermittler gibt, selbst wenn diese unter den Vorgaben des Habsburger-Reiches, aber auch verschiedener national auftretender Bevölkerungsgruppen auf den Weg zu bringen versucht wurde. Gerade aber unter dem Dach habsburgischer Herrschaft konnten konkurrierende Akteure innerhalb gleicher Schichtungen und verschiedene Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlichen kulturellen, sprachlichen, religiösen und politischen Ausrichtungen in Erscheinung treten, die sich im Zuge der historischen und politischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts freilich gerade nun nicht zu einer auf Dominanz hin angelegten Volksgemeinschaft zusammenfanden. Stattdessen lassen sich zwei einander der Tendenz nach gegenläufige Erscheinungen bemerken, die zugleich in ihrem Zusammenwirken die Besonderheit der galizischen Situation, damit ihrer kulturellen Orientierungen und literarischen Entwicklungen ausmachen. Denn gerade auf der Basis der von unterschiedlichen Gruppen getragenen Ideologien nationaler Kohäsion, aber eben auch durch die zeitgleich auftretenden Erscheinungsformen fortschreitender sozialer, wirtschaftlicher und vor allem alltagsbezogener Modernisierung entwickelten sich hier sowohl gruppenbezogen als auch gruppenübergreifend bestimmte Muster unterschiedlicher Eigenorientierungen, zugleich noch einmal gesteigert durch unterschiedliche Formen der Abweichung und Dispa-
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ratheit, individueller Besonderheiten und gruppenbezogener Sonderregelungen.9 Vor diesem Hintergrund werden damit zugleich Muster sozialer Integration, aber auch Erscheinungsformen sozialer Desintegration erkennbar – und zur Disposition gestellt, die nicht auf nationaler oder sonstwie programmatisch formulierter Homogenität aufruhen, sondern eine gewisse Vielfalt bzw. Disparität sowohl im Sinne von Bedingungen und Hindernissen als auch als Chancen und Ansatzpunkte einer Art von Entwicklung darbieten und in ihrer Zwiespältigkeit zugleich auf eine mögliche, keinesfalls unbedingt umsetzbare plurifunktionale Verknüpfung von Unterschieden und Gemeinsamkeiten zielen. Gerade in der Unausgewogenheit und Widersprüchlichkeit einander konträrer und doch zugleich auch miteinander verwobener Impulse und Orientierungen – und damit gegenläufig zu den sich im 19. Jahrhundert allenthalben durchsetzenden Vorstellungen sozialer und nationaler Homogenität – erscheint so unter den anachronistischen Rahmenbedingungen zentraleuropäischer Peripherie eine Form komplexer, unruhiger sozialer Zusammenhänge, die anderswo von vorherrschenden bzw. national implementierten Narrativen überdeckt werden. Aus der Sicht späterer Reflexionen zu den Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen sozialer Integration in ausdifferenzierten Gesellschaften fortgeschrittener Moderne (vgl. Esser 1980, 237ff.; Stichweh 1998; Hondrich 2006) könnten freilich an diese Lagen und Befremdungserfahrungen, wie sie auch ansonsten im alten Europa offensichtlich stärker an der Tagesordnung waren, als es sich ein modernes Europa vorstellen wollte (vgl. Matthes 1999, 412f.) anknüpfen. In einer Facette mag dies vielleicht erklären, warum aus den Literaturen und Erfahrungen Galiziens nicht nur diverse sozialtheoretische Anregungen übernommen wurden10, sondern darüber hinaus zum Ende des 20. Jahrhunderts sogar eine gewisse, teilweise nostalgisch gefärbte Verklä-
9
Ein Beispiel für diese Art der Besonderung bzw. Individualisierung zwischen verschiedenen Gruppenbezügen und entlang der Achse Protomoderne – Moderne bietet Karl Emil Franzos’ 1905 erschienener Roman Der Pojaz. Vgl. Franzos 1994; zur Begrifflichkeit vgl. Broch 2008.
10 So spielt Galizien in postkolonialen ebenso wie in multikulturell ausgerichteten Theorie-Debatten eine offensichtlich ebenso attraktive wie instruktive Rolle; vgl. Feichtinger 2003; Kraft/Lüdtke/Martschukat 2010.
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rung der Lebensverhältnisse und der Sozialordnungen Galiziens im Sinne einer für wünschenswert gehaltenen Vielfalt zu beobachten ist.11
MODERNE UND PROTOMODERNE Herbert Spencers berühmte Formel aus den Anfängen der modernen Soziologie: »Entwicklung ist definierbar als ein Wandel von unzusammenhängender Gleichartigkeit zu zusammenhängender Verschiedenartigkeit« (1876; zit. Klages 1972, 87) ließe sich im Blick auf Galizien im oben angesprochenen Sinne umformulieren. Statt eines linearen Weges durch die Moderne hat Galizien, nimmt man Dan Diners Metapher von Zeitstau auf (vgl. Diner 2003, 8), in dieser gestauten Zeit bzw. in der Zeitschleife einer an den Peripherien dreier Großreiche angesiedelten Welt eine Verschlingung von Protomoderne12 und Postmoderne aufzuweisen. Bereits in lokalen Zusammenhängen fassbare, und zugleich in lokalen Kooperationsbeziehungen seit älteren Zeiten bestehende Verschiedenartigkeit wird unter dem Einfluss moderner Homogenitätsansprüche in eine neue Form gesteigerter Verschiedenartigkeiten und – nicht zuletzt durch die interne Mobilisierung der einzelnen Gruppen forcierte – Gleichheitsforderungen transformiert. In diesem Prozess differenzieren sich sowohl Aspekte der Homogenität als auch solche der Heterogenität aufs Neue aus und können so selbst auf einer Ebene der Erkenntnis, der Kritik, der Gestaltung, aber eben auch der ideologischen Durchdringung und Instrumentalisierung erscheinen und in dieser Zusammensetzung ggf. auch einer diesbezüglichen Reflexion zugängig gemacht werden. In diesem Sinne hat der ukrainische, aus Ivano-Frankivs’k stammende Schriftsteller Jurij Andruchovyþ vor einigen Jahren Galizien als »eine hundertfünfzig Jahre alte Erfindung einiger österreichischer Minister« bezeichnet. Wie in übrigen sozialen Konstruktionen jedweder Art in der Moderne kommt aber dieser Erfindung die Geltung und Ausstrahlung anderer sozialer Institutionen und vergleichbarer Kohäsion und Repräsentation versprechender Gebilde zu, wobei deren Künstlichkeit keineswegs ihrer Anerkennung und Wirksamkeit scha-
11 Vgl. dazu u. a. Grobe 2009; Radisch 2006. 12 Vgl. Broch 2008.
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den muss: »Galizien ist durch und durch künstlich, mit den Fäden pseudohistorischer Kombinationen und quasipolitischer Intrigen zusammengesponnen«. (Andruchowytsch 2003, 62) Vielleicht, so ließe sich im Blick auf diesen Befund ein wenig spekulativ sagen, waren die Verschlingungsprozesse in Galizien 1772 zur Zeit seiner Entstehung als politisch gerahmte Region schon soweit fortgeschritten – und in diesem Sinne dann auch als Protomoderne anzusprechen –, dass nunmehr mit dem Eintritt in die Sphäre moderner Nationalstaatlichkeit die vorhandenen und – auch im Zuge der mit Fortschritt und Verbürgerlichung – vorangetriebenen Mischungen aus Standardisierung und Differenzierung, kein einheitliches, kulturell homogenes Leitbild mehr ausbilden konnten. Hinzu kam, dass die Konturen der unterschiedlichen vorhandenen älteren Gemeinschaften offensichtlich schon so dauerhaft ausgebildet, verfestigt und ihrerseits auf dem Weg einer Modernisierung waren, dass das Leitbild effektiverer Gruppenzusammengehörigkeit selbst zum Gegenstand unterschiedlicher Teilhomogenisierungsansprüche wurde. Damit aber fiel die Vorstellung nationaler Repräsentativität gerade als generelles, universalisierbares Muster aus, mehr noch es wurde zugleich in seiner Fragwürdigkeit erkennbar und so selbst in die Felder und Prozesse einer Dissensbildung, eines Streites der Legitimitäten, einbezogen, innerhalb deren die weitere Entwicklung dann vor allem die Nicht-Repräsentativität, die Künstlichkeit und Kritikwürdigkeit dieser Ansprüche, allerdings zugleich auch wieder die Möglichkeit ihrer nationalistischen Überhöhung und ideologischen Besetzung, in den Vordergrund rückte.
D ER Z EICHENCHARAKTER G ALIZIENS UND SEINE G RENZEN Freilich wäre es zu einfach, diesen Unterschied zu anderen Modernen im Anschluss an Andruchovyþs ebenso bittere wie ironische Zuordnung anhand der damit naheliegenden Gegenüberstellung von Moderne und Postmoderne zu verhandeln. Zwar finden sich gerade im literarischen Feld, zumal im Rahmen tatsächlich postmodern konzipierter Texte, wie dem viel beachteten, auch in der Verfilmung ein Bestseller gewordenen Roman Everything is illuminated von Jonathan Safran Foer (2002), eine ganze Reihe gleichsam frei flottierender ›Galizien‹-
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Zeichen, die vom Shtetl bis zur Shoah, von den Märkten und Händlern bis zur Folklore, vom Mystizismus und bis zu einer Art ProtoAufklärung reichen und auf einen »Signifikanten-Wert« Galiziens – zumindest in der westlichen Welt nach 1945/1989 verweisen. Tatsächlich kommt diese Art kultureller Repräsentation Galiziens offensichtlich sogar weitgehend ohne Referenzen auf die heutige Westukraine bzw. den Südosten Polens aus. Allenfalls rekurriert sie auf jene vor Ort vorhandenen, insbesondere für entsprechende Touristen mit ihren jeweiligen Erwartungsprofilen geschaffene Erinnerungssymbole, in denen Galizien als polnischer, jüdischer, habsburgischer, auch deutscher Erinnerungsraum fungiert, wobei diese Perspektiven dann noch einmal mitunter nach ideologisch-politischen Vorgaben differenziert werden können. Polnische Nationalisten suchen nach anderen Symboliken und Narrativen als jüdische Zionisten oder deutsche Touristen auf den Spuren von Joseph Roth, Paul Celan oder deutschstämmigen Siedlern des 18. Jahrhunderts. (Vgl. Dohrn 1993) Aber selbst wenn sich diese Differenz-Setzungen aus der Sicht neuerer postmoderner literarischer Texte nur allzu leicht anbieten und in den Angeboten für Touristen, auch für mancherlei ideologische Bedarfe ihre nicht ungefährliche Entsprechung finden – so berichtet Delphine Bechtel von der Umgestaltung der Uniformen der ukrainischen Einheiten, die mit den Nazis kollaborierten in den aktuellen Museumspräsentationen in L’viv: »Zu diesem Zweck wurden von den ausgestellten Uniformen die Totenköpfe, Borten, Spiegel und Dienstabzeichen der SS entfernt und die Museumsexponate auf diese Weise verharmlost« (Bechtel 2009, 38) –, umfasst die tatsächliche Geschichte dieser Landschaft doch ein erheblich umfangreicheres Maß an Gewalterfahrungen und sonstigen Belastungen der einzelnen Individuen und Gruppen, die dann auch als eine Art Gegengewicht gegenüber der Überführung Galiziens aus der Geschichte in die Literatur oder andere nostalgisch aufgeladene Kunst-Zeichen-Welten fungieren können. Nicht zuletzt bietet die Literatur selbst, bieten Romane von der Art des von Józef Wittlin verfassten Salz der Erde (Sól ziemi, 1935) hier eine deutliche Korrektur und Gegenakzent-Setzung, indem sie bspw. die auch ansonsten historisch beachteten Schrecken des Kriegsbeginns 1914 aus der Perspektive der Landbevölkerung Galiziens in ihren diversen Zuordnungen als ein zugleich gruppenübergreifend von allen gemeinsam erfahrenes Schreckensereignis beschreiben. Bei Wittlin wird das Anfahren des Zuges, der die wehrpflichtigen Männer des
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Dorfes Topory in den Krieg bringt, als ebenso individuelles wie kollektives Leiden fassbar: »In diesem Augenblick schrien zwei alte Jüdinnen laut auf. […] Es war das Signal für ein allgemeines Weinen. Die ganze Station fing an den jüdischen Flammen Feuer und erzitterte von einem Schluchzen. Die Jüdinnen jammerten wie Anführerinnen griechischer Chöre, Huzulinnen winselten wie geprügelte Hündinnen, Säuglinge wimmerten, Hunde […] kläfften, die Gendarmen stießen mit den Gewehrkolben zu und trieben die Weiber weg.« (Wittlin 2000, 168)
Die Ambivalenz eines solchen Anschlusses Galiziens an die Moderne wird von Wittlin in ihrem ganzen Ausmaß einige Absätze später im Blick auf eben jenes technische Instrument ausgeführt, das auch ansonsten als zentrales Modernisierungsgerät des 19. Jahrhunderts, zumal auch Galiziens selbst, in Erscheinung tritt: an der Eisenbahn: »Die ratlosen Augen starrten auf die die Schienen. Einst zogen sich diese Schienen in die Welt, ins Leben, nach Kolomea, Stanislau, Lemberg. Jetzt führten sie nur in den Krieg, geradezu in den Tod«. (Ebd., 169) Freilich stellt ein Blick auf die Natur dazu die Gegenwelt zu einer durch Militärverwaltung und Technik bestimmten Erfahrung der Moderne vor Augen, ein Blick, der Galizien als historische Landschaft anspricht und damit zugleich die Lagerung der aktuellen Irritationen in einer Zeitschleife hervorhebt: »Eine weiße Rauchwolke schwebte noch als einzig sichtbare Spur des Zuges über den Schienen und fiel langsam auf die Abhänge herab, von den Fichten- und Tannenzweigen wie dünne Schleier zerzupft, bis sie ins Nichts zerfloß.« (Ebd.)
G ALIZIEN
ALS
L ITERATUR
Wenn Galizien im Folgenden als Modellfall und Paradigma einer historisch und politisch konstruierten, kulturell und sozial ›gefüllten‹ und ebenso durch politische und historische Prozesse dann wieder in einen Zerfall geführten Form einer mit Bezugnahme auf unterschiedliche Integrationsmuster imaginierten Gemeinschaftsbildung dargestellt wird, so erfolgt dies an dieser Stelle mit dem durchaus eingeschränkten Ziel, vor dem Hintergrund eben einer solchen ›gesetzten‹, aus Vielfalt zusammengesetzten, aber auch durch Kontingenz bestimmten Form von
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Vergemeinschaftung die Möglichkeiten, Erscheinungsformen und Grenzen eines Symbol-, Handlungs- und Funktionssystems Literatur13 zu bestimmen. Sicherlich hat dieser Ansatz einen Gutteil seiner analytischen Instrumente, Erkenntnisperspektiven und Interpretationsansätze zunächst einer an den Nationalphilologien gewonnenen Sichtweise zu verdanken, nunmehr soll es aber darum gehen, die unterschiedlichen literarischen Abbildungen und Bezugnahmen auf diese Landschaft anhand einer komparatistischen Sichtweise zu erörtern, auch zu problematisieren und ggf. neu zu perspektivieren. Hierzu könnten die folgenden fünf Fragestellungen aufschlussreich sein, die zugleich eine Beschäftigung mit den literarischen Texten und Literaturen Galiziens nahelegen und zur Ausarbeitung führen könnten. 1. Die Konstitution des Bezugsobjekts War die ältere Komparatistik deutlich an nationalliterarisch umrissenen Einheiten orientiert, zu deren Konstitution sich politische Geschichte, die historische Ordnung eines Territoriums, eine Nationalsprache und die in der Regel über das Bildungssystem von oben nach unten weitergegebene Vorstellung einer dominanten (Hoch-)Kultur zusammenfanden, die ihrerseits auf vorgängige, gefundene oder ›erfundene‹ volkskulturelle Erscheinungen zurückzugreifen suchte, so hat sich dieser Ansatz nach 1945 – auch durch die allgemeine seit den 1960er Jahren zumindest die westlichen Gesellschaften betreffende Infragestellung nationalstaatlicher Orientierungen – in Richtung einer Orientierung an Sprachen, die ihrerseits als Repräsentationsformen sozialer Gebilde verstanden werden, verschoben. Dabei hat sich bspw. das kanadische Französisch, bitterer noch für Anglisten das ›kanadische Englisch‹, nicht nur als Sprachvariante erwiesen, sondern in den Zusammenhängen einer Forderung nach sozialer, politischer und kultureller Anerkennung als eine Form der Repräsentation, deren Grundzüge, deutlich durch das kanadische Modell des Multikulturalismus geprägt und von Charles Taylor oder Will Kymlicka in einer Weise umrissen worden sind14, dass sie als eine Art Modell auch für andere Landschaften und Regionen in Betracht gezogen werden können.
13 Zur Ausdifferenzierung dieser Aspekte vgl. Schmidt 1991. 14 Vgl. dazu Taylor 1993; Kymlicka 1999.
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Chris Hann und andere haben freilich dagegen zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass Galizien nur bedingt als ›multikulturelles Gebilde‹ anzusprechen ist: Zum einen sind die in Rede stehenden unterschiedlichen – in einem weiten Sinne des Begriffs – kulturellen Einheiten und Unterschiede in wesentlich langfristiger bestehenden älteren Zusammenhängen entstanden. Sie haben sich in entsprechend unterschiedlichen Prozessen ausdifferenziert und z. T. auch wieder angeglichen, ohne dass in spezifisch repräsentativer Weise politische Impulse bzw. Setzungen kultureller Einheiten überhaupt erfolgt sind. (Vgl. Hann 2005, 211) Zum anderen ging es in den verwickelten Auseinandersetzungen um Macht und Interessen gar nicht durchgängig um kulturelle oder religiös codierte Muster; vielmehr müssen diese vielfach lediglich als Akzidenzien der sozialen, politischen und vor allem religiösen Gruppenbildungen und Konflikte angesehen werden. (Ebd.) Dies heißt freilich nicht, dass mit dem Modell gegenwärtigen Multikulturalismus nicht auch wiederum eine Beschreibungsgröße existiert15, die zugleich nicht nur genutzt werden kann, um eben die Reichweite einer solchen Deutung und die zugehörigen Grenzen dieser Betrachtung im Blick auf die Vergangenheit zu erkennen. Vielmehr erscheint dieser Rückbezug gerade in aktuellen Konfliktlagen als ein Instrument der Repräsentation und als Medium eines Strebens nach Anerkennung, nicht zuletzt dadurch dass Verbindungen aktuell in der Westukraine anzutreffender Gruppen, auch der Schriftsteller und Wissenschaftler, zu entsprechenden aktuellen Diskursen um Multikulturalität und Anerkennung in Nordamerika bestehen. Vor diesem Hintergrund lässt sich zu einem Bezugsobjekt ›galizische Literatur‹ aus komparatistischer Perspektive zweierlei sagen: Zum einen gibt es, folgen wir der weitgehend akzeptierten komparatistischen Praxis, literarische Texte nach Sprachen zuzuordnen, auch aus dem Raum der Landschaft des alten Galizien verschiedene Literaturen in verschiedenen Sprachen. In diesem Sinne ließe sich, ähnlich wie im
15 Auch der kanadische Multikulturalismus hat, denkt man an die Besonderheiten und Auseinandersetzungen um den Status von Quebec, eine immerhin vierhundertjährige Geschichte, die freilich – ggf. ist dies dann auch mit bestimmten Entwicklungen in Galizien zu vergleichen – in den nationalistischen Aufladungen des 19. Jahrhunderts und nicht zuletzt innerhalb der ›kulturrevolutionären‹ Ideologisierung des Québécois seit den 1970er Jahren ihre Konjunkturen hatte.
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Blick auf andere mehrsprachige Landschaften und Länder wie Indien oder eben Kanada von ›galizischen‹ Literaturen – im Plural – sprechen. Möglicherweise könnten Texte, die in einer für Galizien spezifischen Weise hybride Sprachformen verwenden, also Sprachvarietäten oder Sprachenmischungen nutzen, die nur oder weitgehend nur in diesem Raum in Erscheinung treten, noch am ehesten als ›galizische Literatur‹ anzusprechen sein. Unter dieser Signatur würden damit Texte stehen, die in einem jiddisch, polnisch oder auch russisch getönten, vielleicht dann noch spezifisch mit dem Habsburgerreich identifizierbaren Deutsch oder in entsprechenden Varianten des Polnischen oder Ukrainischen geschrieben sind. Ansätze solcher gemischter Sprachtönungen, auch der Kreolisierung finden sich etwa bei Karl Emil Franzos16 oder auch bei Paul Celan. Gegenläufig ist dazu allerdings auch der Befund zu sehen, dass es gerade die Schriftsteller und Literaturpolitiker von der Art Ivan-Frankos waren, die auf die Ausbildung einer jeweils ›reinen‹ Nationalsprache als Grundlage einer entsprechenden Nationalliteratur Wert gelegt haben, sodass hybride Texte ggf. als Zwischenstufen oder auch Gegendiskurse, in gewissem Sinn damit auch als Beispiele gerade fragwürdiger literarischer Praxis wahrgenommen und entsprechend dann aus kanonischen Vorgaben ausgeschlossen wurden. Zum Zweiten ist gerade für die Gegenwart allerdings darauf hinzuweisen, dass es den Raum Galizien aktuell im Wesentlichen nur als Vorstellungsraum in deutscher, österreichischer, jüdischer und polnischer Erinnerungs-Perspektive, in entsprechenden Projektionen und für bestimmte soziale Gruppen der Westukraine auch aus einer ukrainischen Sichtweise gibt, hier zugleich in der Regel aber mit politischen Ansprüchen verbunden, die im Rückgriff bzw. auch in der Rückerfindung Kakaniens bis zur Autonomie der Westukraine und einer Se-
16 Vgl. dazu das Dokument der Freundschaft dreier unterschiedlichen Gruppen zugehöriger Schillerfreunde, eines polnischen Mönchs, eines jüdischen, deutschsprachigen Studenten und eines ruthenischen (ukrainischen) Lehrers in der signifikanten Erzählung Schiller in Barnow; Franzos 1988, 27f.
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paration von der Ostukraine reichen.17 In dieser zweiten Hinsicht erscheint galizische Literatur oder eine Literatur des galizischen Raums vor allem als Beschreibung eines historisch vergangenen, zumal in der Erinnerung aber rekonstruierbaren Raums, dann aber auch als eine Programmsetzung mit Ansprüchen auf politische Umsetzung in der Gegenwart, in diesem Sinne also als Teil einer Thematisierungs- und Politisierungsstrategie, die ihrerseits in den kulturpolitischen Programmen der EU und deren Ausstrahlung auf unterschiedliche National- und Minderheitenkulturen ihre durchaus zwiespältige Korrespondenz haben. (Vgl. Elkar 1981) 2. Die Suche nach Referenzebenen und Adressatengruppen Angesichts dessen, dass viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus dem Raum des alten Galizien aus mehrsprachigen Familien bzw. Sprachumwelten kamen, stellt sich das Thema der Sprachenwahl, der literarischen Mehrsprachigkeit und auch des Sprachenwechsels als ein zentrales Thema komparatistischer Literaturinterpretation dar. Hinzu kommt, dass sowohl Literalität als ein besonderes Interesse an der Lektüre belletristischer Texte und an entsprechenden Schreiboptionen an bestimmte soziale Lagerungen gebunden ist und im Wesentlichen damit als Folge-Erscheinung eines Modells bürgerlicher Bildung und Kultur erkennbar wird (vgl. Tenbruck 2004, 13f.), von dem seinerseits insbesondere für Ost-Europa, zumal unter dem Einfluss der deutschen Romantik und auch bestimmter Seiten der Klassik (von Lessing bis Schiller) seit dem 19. Jahrhundert eine gewisse Prägekraft ausging. Auch hier lässt sich eine deutlich ambivalente Ausrichtung erkennen, denn zum einen bot der Rückbezug auf Aufklärung und Klassik, zumal in der Verehrung Lessings, Goethes18 und Kants die Möglichkeit einer die kulturellen Grenzen der eigenen Gruppe überschreitenden kosmopolitischen Orientierung, zum anderen stehen literarische und sprachliche Optionen in einer engen Verbindung, auch Wechselwirkung mit
17 So etwa auch in der Unterstützung der Orangenen Revolution in der Westukraine in den Jahren 2005/2006 durch diverse avantgardistische Schriftsteller in Lemberg und anderswo. 18 Zur Rezeption Goethes in einem spezifisch bürgerlich-jüdischen Milieu vgl. Barner 1992.
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nationalstaatlichen und darüber hinaus nationalistischen Vorstellungen. Es geht dabei um Werkformen, aber ebenso um Optionen für bestimmte Referenzsysteme: Deutsche Klassik, französische Aufklärung, polnische Romantik, panslawische Folklore bilden für spezifische Adressatengruppen ein jeweils nach unterschiedlichen Interessen und Differenz-Setzungsoptionen nutzbares Reservoir an Sinndeutungen und Etiketten. Innerhalb eines eben auch sprachlich differenzierten und zugleich in unterschiedlichen sozialen Schichten fassbaren Publikums bieten sich Optionen für entsprechende Märkte an. Diese wiederum stehen mit der Literaturkritik und mit wissenschaftsbezogenen Diskursen in Verbindung, die je nachdem ob sich die Ausrichtung auf Wien oder Berlin, Krakau oder Paris bezog, später dann in Richtung Moskau oder Kiew, Sankt Petersburg oder Helsinki orientiert war oder gegenwärtig in Richtung Toronto, Paris, New York, Berlin oder Montréal ausstrahlt (vgl. Andruchowytsch 2003, 54), auch unterschiedlich ausfallen bzw. ausgefallen sind. In dieser Hinsicht spiegelt die Sprachenentscheidung nicht nur soziale Verhältnisse und Bildungsbiographien, sondern stellt im Blick auf Literaturgeschichte und Literatur auch rezeptionsästhetische Modelle und rezeptionsgeschichtliche Vorgänge in den Mittelpunkt der Betrachtung; zu erinnern wäre hier etwa an die Rezeption Lessings in Galizien (vgl. Nell 2012) bzw. in der Biographie Joseph Roths (Bronsen 1974, 86), an Krakau als Referenzpunkt polnischsprachiger Bildungsdiskurse zum einen, als Vermittlungsstelle einer polnischen, durchaus dann – ähnlich zum deutschen Galizienbild nach 1900 – auch auf Abschätzigkeit hin angelegten Wahrnehmung Galiziens zum anderen. Zu erinnern wäre in diesem Zusammenhang auch an die Rezeption des US-amerikanischen, Polnischen und/oder Moskauer Undergrounds in den Avantgardezirkeln Lembergs in den 1970er und 1980er Jahren, von denen u. a. Andruchovyþ berichtet. (Vgl. Andruchowytsch 2003, 88) Eine Literaturgeschichte Galiziens spielt so über die Bande diverser Nationalliteraturen, die im Blick auf ihre jeweiligen Wirkungsgeschichten sowohl eine Spezifizierung als auch eine gewisse Sphäre der Überschneidung, der Hybridisierung, ebenso aber auch der rekursiven ›Reinheits‹-Orientierungen zu Tage fördern kann.
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3. Werkindividualität, Textsorten und Genremischungen Methodologisch und literaturtheoretisch wäre aus der Lektüre der Vielfalt mit Galizien verbundener literarischer Texte einzig und allein der Schluss zu ziehen, zunächst einmal in der guten Tradition einer ästhetischen Theorie der Moderne das jeweilige Einzelwerk in den Mittelpunkt der Analyse zu stellen und auf eine schnelle Zuordnung, auch in Gattungsfragen und im Blick auf Referenzsysteme, erst recht solche ethnischer oder völkischer Art zu verzichten. Möglicherweise ist dies der Zwischenlage und Künstlichkeit, dem Vergangenheitscharakter und der Vielfalt miteinander konkurrierender Deutungssysteme des galizischen Raumes zu verdanken, dass durch diese prekären Rahmenbedingungen die Singularität, auch Irreduzibilität literarischer Texte auf Vorgänge, Gruppenmuster und Traditionsbestände besonders deutlich hervortritt. Zugleich dürfte die Vielfalt der aufgebotenen Gattungen und Textsorten, zumal die erkennbaren Übergänge und Mischungen, nicht zuletzt die etwa bei Joseph Roth oder Józef Wittlin erkennbare Ausarbeitung spezifisch moderner Formen wie Reportagen und Kollagen, auch als eine Form der Erarbeitung einer Literatur vielfältiger Erfahrungen, als Bauform von literarischen Reaktionen auf eine in Galizien wie in einem Brennglas erkennbare Verschachteltheit von Moderne, Proto- und Nachmoderne zu sehen und auszuwerten sein. Sicherlich findet diese sich so auch – vielleicht verstellter – anderswo. Freilich wird eine solche Formung literarischer Texte im Rückbezug auf Galizien nicht zuletzt dadurch verallgemeinerbar, dass grundlegende Erfahrungen der galizischen Literatur wie Exil, das Schreiben in einer Minderheitensprache im Umfeld anderer dominanter Sprachen und die Reflexion vielsprachiger Sprachumwelten inzwischen – als Resultat der von Galizien im späten 19. und dann 20. Jahrhundert ausgehenden Wanderungs- und Fluchtbewegungen – an vielen Plätzen der Erde anzutreffen sind. (Vgl. Baier 1995, 13ff.) Zu diskutieren wäre in diesem Zusammenhang, ob sich angesichts dessen, dass sich neben offenen Formen in der galizischen Literatur eine Fülle ideologisch besetzter, auf Schließung und klassizistische Formung hin angelegter literarischer Texte findet, eine Art Maßstab literarischer Wertung entwickeln ließe, der diesem Umstand, dieser Alternative von ideologischer Schließung oder reflexionsorientierter Öffnung und einem Oszillieren zwischen diesen beiden Polen Rechnung tragen könnte.
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4. Littérature mineure, postkoloniale Lektüren, Mythenkritik Mitte der 1970er Jahre wurde von Gilles Deleuze und Félix Guattari die im Blick auf Kafkas Schreiben entwickelte Kategorie der »littérature mineure« ins Spiel gebracht: »Eine kleine oder mindere Literatur ist nicht die Literatur einer kleinen Sprache, sondern die einer Minderheit, die sich einer großen Sprache bedient. Ihr erstes Merkmal ist daher ein starker Deterritorialsierungskoeffizient, der ihre Sprache erfasst. In diesem Sinne hat Kafka die Sackgasse definiert, die den Prager Juden den Zugang zum Schreiben versperrte und ihre Literatur ›von allen Seiten unmöglich‹ machte. Sie lebten zwischen ›der Unmöglichkeit, nicht zu schreiben, der Unmöglichkeit, Deutsch zu schreiben, und der Unmöglichkeit, anders zu schreiben‹«. (Deleuze, Guattari 1975, 24 [Zitat im Zitat: Kafka aus einem Brief an Max Brod vom Juni 1921 – W. N.])
Dieser Ansatz muss im Blick auf Galizien und seine Schriftsteller nicht unbedingt psychoanalytisch oder existentialontologisch weitergeführt werden. Das Zitat bietet aber einen Hinweis auf die sozialhistorischen und historisch-politischen Konstellationen, in denen Texte und literarische Werke in einem Raum entstehen, der von starken sozialen Hierarchien und Konkurrenzen, Ausschließungsmustern und marginal gestellten Individuen und Gruppen in ihren wechselseitigen Sichtweisen und Interessenüberlagerungen bestimmt wird. Dementsprechend lassen sich also in der Ausbildung eines bestimmten Textes, zumal auch in der Entwicklung neuer Textsorten, etwa den von Karl Emil Franzos entwickelten »Kulturbildern«19, auch Ausschluss und Platzierung, Selektionserfahrungen und Anerkennungsbestrebungen finden, die sich – z. B. im Sinne postkolonialer Lektüren – auch gegen den Strich der herrschenden Zuordnungen und ihrer diskursiven Abbildungen lesen lassen. Dass dies nicht nur eine Anwendung postkolonialer Studien auf ein weiteres Gebiet bedeutet, sondern entlang der Arbeit mit Texten aus Galizien die postkoloniale Theorie eine Reformulierung erfahren kann, ist aus historischer Perspektive, so bei Anna Veronika Wendland, schon hinreichend deutlich gemacht worden und kann
19 Vgl. Gauss 2004.
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aus der Sicht einer literaturkomparatistischen Arbeit nur noch einmal hervorgehoben werden.20 Ein Gleiches gilt für den Umgang mit den auf diese Landschaft und ihre Menschen bezogenen Mythen, genauer für den v. a. durch literarische Texte geprägten Mythos Kakaniens bzw. Galiziens selbst. Für die deutsche, aber auch die zeitgenössischen nordamerikanischen Sichtweisen hat dabei Paul Celans Hinweis, es handele sich um ein Land, in dem »Bücher und Menschen lebten«, aus seiner Dankesrede zum Bremer Literaturpreis 195821, eine Art Schlüsselfunktion eingenommen. Das Ineinander-Verwobensein von Textwelten, individuellen Weltsichten und sozialen Erfahrungen, das sicherlich die literarischen Texte zumal jüdischer Autoren und im Umfeld des Chassidismus und anderer mystischer Vorstellungen aufgewachsene Menschen prägte (vgl. Sperber 1974), gehört offensichtlich noch in den gegenwärtigen, auf Galizien bezogenen Texten aus den USA oder Kanada zu den zentralen Merkmalen, mit deren Hilfe Galizien und seine im Ganzen vergangenen Welten evoziert werden. Dass es demgegenüber eine aktuell noch ›wirkliche‹ Westukraine gibt, kann dagegen offensichtlich nur in vermeintlich humoristischer, grotesker und ein bisschen die Ukrainer denunzierender Brechung, so bei Jonathan Safran Foer22, eingearbeitet werden. Denn trotz aller ansonsten in Foers Roman aufgebotenen dekonstruktivistischen Kniffe23 wird im Blick auf den ukrainischen Übersetzer und dessen defiziente Sprache gerade bei Foer keine postkoloniale Lektüre ermöglicht, sondern ein kolonialer Diskurs fortgesetzt. Gerade im Blick auf die Möglichkeiten und Überzeichnungen sozialer Erfahrungen und politischer Konstellationen in den Medien der schönen Literatur ist daher den Bedenken Dietlind Hüchtkers durchaus Rechnung zu tragen:
20 Vgl. Wendland in diesem Band. 21 Vgl. Celan 1983. 22 So hält sich der Einfall Foers, den ukrainischen Dolmetscher ein recht einfaches, kreolisierend-verfremdetes Englisch sprechen zu lassen und ihm einen schwulen Hund mit dem Namen Sammy Davis Jr. Jr. zuzuordnen doch recht nah an der Grenze zur geschmack- und einfallslosen Denunziation auf. 23 Zeitstrukturen und Bewusstseinsströme, Chronotopien und Erinnerungsdiskurse.
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»Das Faszinierende der Literatur besteht in der Problematisierung normativer Setzungen, insbesondere in der Brechung von Nationalität und Modernität. Die Ferne des geographischen und politischen Zentrums ermöglicht eine Distanzierung von der historischen und kulturellen Norm. Mit Bezug auf Barthes’ Konzept des Mythos könnte man sogar sagen, dass erst die Literaturwissenschaft Galizien ›mythologisiert‹, indem sie es als eine Art unveränderbaren Naturzustand interpretiert. Indem die Galizienliteratur als mythologisch gelesen wird, wird sie entpolitisiert und es wird ihr die Geschichte entzogen. Die Literaturwissenschaft, aber auch eine den Gegensatz Fiktion und Realität übernehmende Geschichtswissenschaft konstruieren erst die Traditionalität und A-Historizität Galiziens und dadurch, entlang dominierender Entwicklungs- und Interpretationslinien, auch den Kontext der Modernität und der geschichtlichen Folgerichtigkeit des Zentrums oder Nationalstaats«. (Hüchtker 2003, 13)
Damit sind wir wieder bei den Bedenken und Ausgangspunkten des Anfangs angelangt. 5. Netzwerke und Rezeptionsrouten Claudio Magris hat der Druckfassung seiner Dissertation über Joseph Roth mit Bezug auf eine Anekdote, die Peter Szondi berichtet, den schönen Titel Weit von wo gegeben. Auf einer Pariser Abendgesellschaft mit vielen Emigranten berichtete einer von seinen Plänen, nach Uruguay auszuwandern und beantwortete den Hinweis, dass dies aber »weit weg« sei, mit der Gegenfrage: »weit von wo?«. (Magris 1971, 10) Eine entsprechende Verschränkung von Horizonten auf einer Erde ohne Zentrum gehört inzwischen in vielfacher Weise zu den Konditionen von Menschen aller Herren Länder. Goethe, der bereits im Zusammenhang seiner Reflexionen über ›Weltliteratur‹ auch auf historische, durch wirtschaftliche und technologische Entwicklungen geprägte Rahmenbedingungen eines solchen Zusammenwachsens von Literaturen und Horizonten eingegangen war (Koch 2002, 23ff.), hatte freilich nicht vorausgesehen, dass diese eher durch Flucht, Exil, Deportation und Arbeits- bzw. Armutsmigration zustande kommen würde als durch »mehr oder weniger freien geistigen Handelsverkehr«.24 Gerade im Blick auf die aus Galizien sich begründenden und mit Galizien
24 Goethe 1830; zit. nach Lamping 2010, 24.
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verbundenen Literaturen der Welt spielen allerdings unterschiedliche Migrantengruppen und Migrationsanlässe eine wichtige Rolle. So enthält der von Hermann Mittelmann im Jahr 1907/08 in Czernowitz herausgegebene Illustrierte Führer durch die Bukowina, der als Nachdruck für Touristen auch im Jahr 2008 dort wieder erhältlich war, direkt nach dem Titelblatt eine zeitgenössische Werbeanzeige der »Hamburg-Amerika-Linie«: »Direkte Beförderung ohne Umsteigen … von Hamburg nach New York, Canada, Brasilien, Süd-Afrika, dem La-Plata und Ost-Asien« mit dem besonderen Hinweis: »Zwischendeckpassagieren jüd. Konfession wird auf unseren sämtlichen Dampfern rituelle Kost verabfolgt«. (Mittelmann 1907/08, I; Hervorh. im Text – W.N.) Armut und die Suche nach einem Glück in der Ferne, die nach 1880 einsetzenden Pogrome in Russland, der österreichische Militärdienst, das Elend auch vieler familiärer Verhältnisse, Generationenkonflikte und ein Überschuss an Jugend, nicht zuletzt die Verschärfung nationalistischer und rassistisch angeheizter Konflikte haben seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch in Galizien immer wieder zu Schüben von Auswanderungen in die in der Schiffsanzeige genannten Länder und Landschaften geführt. Nicht zuletzt wurde Galizien auch im Rahmen dieser Ausweitung von Familiennetzwerken und Familienerinnerungen zu jenem literarisch gestalteten Erinnerungsraum, als der es heute in der Literatur, in anderen künstlerischen Medien und nicht zuletzt in diversen Erinnerungspolitiken fungiert. Wenn sich in der kanadischen Literatur seit den 1950er Jahren avantgardistische und spezifisch der Literatur der Moderne zugehörige Impulse mit den – so durch die Brüder Singer – repräsentierten Erinnerungsliteraturen an osteuropäische Dörfer, Shtetl und Landschaften mischen, so beschreibt dies auch Rezeptionsrouten, auf denen nach 1989, aber auch schon zuvor eine ganze Gruppe von Schriftstellern und anderen Künstlern den Weg hin (und mitunter auch wieder zurück) gefunden hat. (Vgl. Nell 2010) Abraham Moses Klein (1909-1972), einer der bedeutendsten Lyriker Kanadas, ist hier ebenso zu nennen wie der Romancier Mordechai Richler (1931-2001) und der sich als Schüler Kleins bezeichnende Leonard Cohen (*1934), nicht zuletzt die ebenfalls wie Klein noch in Galizien geborene Rachel Korn (1898-1982). Solche über Migration und Familienbeziehungen zustande kommenden Netzwerke stellen aber aktuell, so hat es u.a. der Wiener Migrationsforscher Heinz Fassmann
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gezeigt25, keine spezifisch für Galizien charakteristische Erscheinung dar, wie wohl diese sich hier gleichsam in nuce fassen lässt. Vielmehr handelt es sich dabei tatsächlich um ein zentrales Feld gegenwärtiger Weltgesellschaft, so auch um Muster und Themen einer Literatur, die sich in diesem Sinne nur komparatistisch erkunden lässt.
P ERSPEKTIVEN Sören Kirkegaard hat sich in einer berühmten Abhandlung mit den Bewusstseinsvorgängen und Handlungsmustern des Erinnerns und Wiederholens beschäftigt. Dabei kam dem Erinnern die Erfahrung einer uneinholbaren Vergangenheit zu, bestand also in einer lediglich melancholisch nachspürbaren Erfahrung des Verlustes, während die Vorstellung der Wiederholung die vorgestellte Erfahrung einer aufs Neue, den Fluss der Zeit überwindenden ›zweiten Chance‹, also ein Glück umfasst. (Kirkegaard 1955) Literarische Texte sind in diesem Sinne darauf angelegt, das Feld der Erfahrungen und der Geschichte(n) in seiner ganzen Breite, zwischen Verzweiflung und Glück, zwischen Erinnerung und Wiederholung anzusprechen. Zugleich ist aber zu bedenken, dass beide Modi des sich Bewegens in der Zeit ambivalent ausgestattet sind. Nicht nur ist, wie gerne und nur allzu wohlfeil gesagt wird, die Erinnerung der Schlüssel dazu, dass sich Katastrophen und Gewaltaktionen nicht wiederholen. Vielmehr stellt sie leider allzu oft und aufs Neue auch den Schlüssel zur Vorbereitung neuer Gewaltaktionen dar, was sich aktuell an einer scheinbar unverfänglichen Stelle leicht feststellen lässt. So enthält die in diesem Jahr gerade erschienene Tagungsdokumentation des europäischen Netzwerkes »Erinnerung und Solidarität«, das ja gerade gegenüber den mit dem vom Bund der Vertriebenen geforderten Dokumentationszentrum »Flucht und Vertreibung« und den dort zu Recht kritisierten Ansprüchen auf eine dominante Deutung der Gewaltprozesse des Zweiten Weltkriegs, den Anspruch auf eine dezentrale und vielstimmige Erinnerung vertritt, allein zu Lemberg/Lwów/L’viv drei Texte, die unterschiedlicher nicht sein können: Eine skeptisch-fragende Darstellung des in Großbritannien lehrenden Historikers Christoph Mick, eine kritische, vor neuen Umschreibungen und Verharmlosungen der Geschichte warnende der
25 Fassmann/Münz 1996.
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französischen Literaturwissenschaftlerin Delphine Bechtel und eine heroische, erneut nationale Verblendungen idealisierende des jungen polnischen Juristen Adam Redzik: »›Der Blick der jüngsten Generation‹, so heißt es hier pathetisch, ›die bereits im freien Polen aufgewachsen ist, ist […] ein ganz anderer. Die meisten identifizieren Lemberg mit dem Friedhof der Lemberger ›Adlerjungen‹ […] Es ist vorstellbar, dass in einigen Jahrzehnten ein Ort wie der Friedhof der ›Adlerjungen‹ eine Brücke zwischen dem polnischen und ukrainischen Volk schlagen wird, als ein Erinnerungsort des Kampfes der Jugend gegen das Böse‹«. (Redzik 2009, 34)
Hier scheinen die Gefahren einer Re-Essentialisierung von Kategorien und auch Texten offenkundig und offensichtlich können sie durch eine wissenschaftliche Beschäftigung mit ihnen nicht nur geklärt, sondern auch verfestigt werden. Eine komparatistische Perspektive, wie sie hier vorgestellt wurde, zielt dagegen gerade darauf, anhand der mit Galizien verbundenen Ambivalenzen und polyvalenten Semantisierungen eine Art von Reflexionsraum zu umreißen, der sowohl der Vielgestaltigkeit der Landschaft und der in ihr erkennbaren Menschen als auch den vielfältigen Möglichkeiten der Sinnorientierung von Menschen, wie sie sich in ihren höchst unterschiedlichen Lese- und Lebenserfahrungen und in ihren Schreibprojekten finden lassen, Rechnung trägt. Statt einer erneuten Schließung von Räumen und Kategorien im Sinne einer patriotischen Geschichtsschreibung Vorschub zu leisten, geht es darum, eine Offenheit zu konstituieren, in der die Unhintergehbarkeit individueller Erfahrung und der dazu gehörenden entsprechend vielfältigen Lebensentwürfe erkennbar wird. Zur Veranschaulichung eines solchen Bezugspunktes soll deshalb hier noch einmal abschließend Józef Wittlin mit seinem Porträt des polnischen, jüdischen Lemberger Schriftstellers deutscher Herkunft Ostap Ortwin zu Wort kommen, eines Menschen, dessen Einzigartigkeit, so berichtet Wittlin, offensichtlich so beeindruckend war, dass er sogar von seinem Doppelgänger, dem Ingenieur Piotrowski, ehrerbietig gegrüßt wurde: »Ortwin, der letzte Vorsitzende des Lemberger Schriftsteller-Verbandes, war – so scheint es – der einzige polnische Schriftsteller jüdischer Abstammung, dem sogar die Trottel des Antisemitismus ihre Referenz erwiesen. Er machte den Eindruck des Unberührbaren«. (Wittlin 1994, 61) Wittlin will allerdings auch das Ende, mit dem diese fantastische Ge-
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schichte in ihrer Zeit und in der konkreten Geschichte des 20. Jahrhunderts ankommt, nicht verschweigen: »Im Jahr 1942 zeigte sich, dass Ortwin nicht unberührbar war. Die Deutschen vertrieben seine große und störrische Seele aus der ›herrenhaften‹ Gestalt«. (Ebd., 62)
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Ukrainische Polonophilie in der Zwischenkriegszeit U LRICH S CHMID
Die meisten kulturhistorischen Untersuchungen konzeptualisieren das ukrainisch-polnische Verhältnis entweder als offenen Antagonismus oder als latenten Konflikt, der immer wieder von verschiedenen Politikern für ihre eigenen Zwecke instrumentalisiert wurde. In der Tat war der ukrainische Separatismus eines der wichtigsten Probleme der Zweiten Republik1: Die Auseinandersetzung nahm ihren Anfang bei der Eroberung L’vivs durch die polnische Armee 1918 und fand ihre Fortsetzung im polnischen Angriffskrieg des Jahres 1920, der zu einer dreiwöchigen Okkupation von Kiev führte. Nach der Konsolidierung der polnischen Regierung nach dem Maiputsch 1926 entstand in den Reihen der ukrainischen Nationalisten ein aggressiver Terrorismus. 1926 wurde der Lemberger Kurator Stanisław SobiĔski ermordet, 1928 und 1929 erfolgten Bombenanschläge auf die Redaktion der Zeitung »Słowo Polskie« und die Ausstellungen der Ost-Messe (»Targi Wschodnie«). Anfang der 1930er Jahre häuften sich Überfälle und Sabotageakte, bis Piłsudski schließlich zur Politik der sogenannten ›Pazifizierung‹ überging: Die polnische Polizei führte sich in den östlichen Wojewodschaften wie eine Besatzungsmacht auf und missachtete die verfassungsmäßigen Freiheitsrechte der ukrainischen Bürger Polens
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Vgl. dazu exemplarisch Dąbrowska 1988, 52: »Polen bricht sich das Genick an zwei Dingen: an der Sache der Bauern und an der ukrainischen Sache.« (Polska skrĊci kark na dwóch sprawach: sprawie chłopskiej i na sprawie ukraiĔskiej.)
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systematisch. Zwar wurde so der Terrorismus weitgehend eingedämmt; allerdings um den hohen Preis einer weiteren Entfremdung zwischen den Polen und den Ukrainern. (Garlicki 2008, 119) Vereinzelte Anschläge erregten weiterhin Aufsehen: 1934 wurde der Innenminister Bronisław Pieracki durch einen ukrainischen Nationalisten ermordet. Auch in der offiziellen Statistik spiegelte sich der Versuch, die Ukraine zu polonisieren. So ergab die Volkszählung von 1931 für Galizien folgendes Ergebnis: 2.246.000 Polen, 1.665.000 Ukrainer und 1.119.000 Ruthenen. Durch die Aufspaltung der Ukrainer in zwei Volksgruppen wurde so der Eindruck erzeugt, die Polen stellten die zahlenmäßig stärkste Ethnie in Galizien dar. (Kubijovyc 1966, 11) Erstaunlicherweise entstand genau zu dieser Zeit das »PolnischUkrainische Bulletin« (Biuletyn Polsko-UkraiĔski), das sich diesem spannungsreichen Verhältnis widmete. Es erschien in den Jahren 1932-1938 und wurde von Włodzimierz Bączkowski geleitet. Zwar war die Ausrichtung der Zeitschrift hauptsächlich polnisch, unter den Autoren befanden sich aber auch Ukrainer wie Iwan Kedryn-Rudnicki oder Bohdan Lepkyj. (Kował 2002, 13) Bączkowski arbeitete zu dieser Zeit eng mit Jerzy Giedroyc zusammen. Die spätere proukrainische Publizistik der Nachkriegszeit in Giedroyc’ »Kultura« hat ihre Wurzeln in der intellektuellen Arbeit des »Biuletyn«. Bączkowski insistiert indes auf der Modernität seiner Konzeption und grenzt sich deutlich von der Tradition der antirussischen Ukrainophilie des 19. Jahrhunderts ab. In einem programmatischen Artikel aus dem Jahr 1935 schreibt er: [Wir wissen, dass wir Großpolen nur in großen Würfen einer großen Außenund Innenpolitik bauen werden. Wir wissen, dass unsere Macht nicht auf der Verringerung der ukrainischen (weißrussischen oder litauischen) Kräfte beruht, sondern in der Markierung einer gemeinsamen Stoßrichtung, in einer gemeinsamen Expansionsanstrengung, in der gemeinsamen Öffnung des von unseren nationalen Grenzen geschlossenen Verbindungsraums zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer, hin zu einer globalen Rolle. Den Ukrainismus (Weissrussismus und das Litauertum) behandeln wir als unseren Verbündeten. Seine begrenzte und gesunde Entwicklung, die sich der Richtung ihrer Ziele und ihrer Expansion bewusst ist, behandeln wir als eine Verstärkung unserer Kräfte. Deshalb rufen wir: ›Die Ukraine muss frei sein!‹] [Kursiv im Original, U.S.]
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»Wiemy, Īe PolskĊ Wielką zbudujemy jedynie i tylko wielkimi rzutami wielkiej polityki wewnĊtrznej i zagranicznej. Wiemy, Īe moc nasza nie na pomniejszeniu sił ukraiĔskich (białoruskich czy litewskich) polega, a na wytkniĊciu wspólnego koryta biegu, we wspólnym wysiłku ekspansywnym, we wspólnym wyniesieniu zamkniĊtego naszymi granicami narodowymi miĊdzymorza bałtycko-czarnomorskiego, do roli wszechĞwiatowej. Ukrainizm (białorutenizm i litewskoĞü) traktuemy jak swego sojusznika, zaĞ jego ograniczony i zdrowy rozwój, uĞwiadamiający sobie własny kierunek celów i ekspansji, traktujemy jako potĊgowanie sił naszych. I dlatego wołamy ›Ukraina wolną byü musi!‹« (Bączkowski 2002, 141-146, 144)
Hier wird deutlich, dass die Lösung der ›ukrainischen Frage‹ nicht als Selbstzweck, sondern nur im Kontext großpolnischer Ambitionen behandelt wird. Genau dieselbe Haltung hatte auch Jerzy Giedroyc 1938 in seiner Broschüre Die polnische imperiale Idee (Polska idea imperialna) eingenommen. Giedroyc forderte weitgehende kulturelle Autonomie für die polnische Ukraine. Dazu gehörte für ihn die behördliche Anerkennung des Begriffs ›ukrainisch‹, die Gleichstellung der polnischen und der ukrainischen Sprache, die Einführung von ukrainischen Schulen, die Gründung einer ukrainischen Universität und ein politischer Minderheitenschutz. Allerdings war für Giedroyc auch klar, dass die polnische Bevölkerung in der Ukraine »eines der wertvollsten Elemente für den Staat« darstelle, dass die territorialen Grenzen der Zweiten Republik nicht angetastet werden dürften und dass der ukrainische Chauvinismus abzulehnen sei. (Giedroyc 1938, 39f., vgl. dazu Kowalczyk 2003, 75-86) Es verbietet sich also, das polnisch-ukrainische Verhältnis nur als feindlichen Gegensatz zu beschreiben. Das Spektrum der Positionen ist breiter und differenzierter. Bezeichnend ist etwa das Schicksal von Tadeusz Hołówko, einem der engsten Mitstreiter Piłsudskis. Nach dem Maiputsch war Hołówko Vizepräsident des staatstragenden Parteilosen Blocks für Zusammenarbeit mit der Regierung BBWR (Bezpartyjny Blok Współpracy z Rządem) und befürwortete den Verbleib der Ukraine in den Grenzen der Zweiten Republik. Hołówko wurde zu einem wichtigen Instrument der antisowjetischen Politik des Sanacja-Regimes. Piłsudski beauftragte ihn mit dem sogenannten »prometheischen Projekt«: Durch das Anstacheln nationaler Aspirationen in der Sowjetunion sollte der Bolschewismus zur Implosion gebracht werden. (Snyder 2005, 41, 74) Ungelöst blieb dabei freilich der Widerspruch, dass
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die Autonomieaspirationen der Ukrainer in Polen selbst unberücksichtigt bleiben mussten. Hołówkos erklärtes Ziel bestand in der Errichtung eines »Piemonts der national-kulturellen Wiedergeburt« der Ukraine auf polnischem Territorium. Dazu befürwortete er vor allem eine kulturelle Autonomie der polnischen Ukraine mit eigenen Schulen und eigener Verwaltung. (Hołówko 2002, 103-113) Marschall Piłsudski hatte 1926 seinen Maiputsch unter dem Schlagwort der Sanacja durchgeführt: Das marode Staats- und Gesellschaftssystem Polens sollte »saniert« werden. Hołówko dehnte diesen Anspruch auch auf die dringend notwendige Verbesserung der polnisch-ukrainischen Beziehungen aus. Allerdings war Hołówkos Sache von vornherein zum Scheitern verurteilt. 1930 wurde er von zwei Extremisten der OUN (Ɉɪɝɚɧɿɡɚɰɿɹ ɍɤɪɚʀɧɫɶɤɢɯ ɇɚɰɿɨɧɚɥɿɫɬɿɜ) ermordet, weil seine polonophile Politik – wenn ihr denn Erfolg beschieden gewesen wäre – den revolutionären Leidensdruck in der Ukraine gemildert hätte. Einen Schritt weiter als Hołówko ging der ukrainische Politiker Stepan Tomašivs’kyj, der die ukrainische Taktik der politischen Obstruktion verurteilte. Pessimistisch wies er darauf hin, dass die Ukrainer in Polen über keine ausreichenden ökonomischen, kulturellen und sozialen Grundlagen verfügten, um überhaupt erfolgreich einen eigenen Staat organisieren zu können. Deshalb müssten sich die Ukrainer zuerst innerhalb Polens weiterbilden. (Tomašivs’kyj 1929, 21-29) Unschwer lässt sich in diesem Postulat eine kulturelle Lehnübersetzung der »organischen Arbeit« (praca organiczna) feststellen, die den nationalistischen Diskurs des polnischen Positivismus gekennzeichnet hatte. (Potocki 2003, 100) Im ausgehenden 19. Jahrhundert bezeichnete dieser Begriff die konstruktive Bildungsarbeit im polnischen Volk unter den erschwerten Bedingungen der fehlenden Staatlichkeit. Das Konzept der »organischen Arbeit« war explizit gegen eine Wiederholung eines militärischen Aufstands gerichtet, der als sinnlose romantische Schwärmerei verurteilt wurde. Eine Stimme im Sejm erhielt diese Position durch den Abgeordneten Dmytro Levyc’kyj, der 1935 zur Schaffung eines ukrainischen Piemont in Polen aufrief: »Wir wollen keinen Kampf der Nationalitäten, wir wollen konstruktive Arbeit« (Nie chcemy walki narodowoĞciowej, chcemy pracy konstruktywnej; Łewicki 1935, 53-59). Unter den ukrainischen Dichtern zeichnete sich vor allem Jevhen Malanjuk durch eine besondere Polonophilie aus. Nachdem er 1917
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für die UNR (ɍɤɪɚʀɧɫɶɤɚ ɇɚɪɨɞɧɚ Ɋɟɫɩɭɛɥɿɤɚ) gekämpft hatte, ließ er sich zunächst in der Tschechoslowakei, später in Polen nieder und versuchte, die ukrainische Dichtung in der polnischen Kultur zu verbreiten. Dazu verfasste er auch selbst Gedichte, in denen er den polnischen patriotischen Diskurs aufgriff und mit Mickiewicz eine Ikone des Messianismus beschwor. In einem Gedicht mit dem Titel »Warschau« (ȼɚɪɲɚɜɚ) aus dem Jahr 1932 heißt es etwa: »Bewache, bewache deine Stadt, / Bronzener Wächter Adam!« (ɋɬɟɪɟɠɢ, ɫɬɟɪɟɠɢ ɫɜɨɽ ɦɿɫɬɨ / ȼɚɪɬɨɜɢɣ ɿɡ ɛɪɨɧɡɢ, Ⱥɞɚɦɟ!; Serednicki 1994, 64). Malanjuk beklagte selbstverständlich das Scheitern der ukrainischen Autonomiebestrebungen nach dem Ersten Weltkrieg, zeigte sich aber doch als loyaler Immigrant in der polnischen Kultur: [Wenn unsere Generation die Staatlichkeit in den Jahren 1917-1919 erlangt hätte, wären „unsere“ ukrainischen Polen ein wichtiges Kapital unseres auferstandenen Vaterlandes; ein vielseitiges Kapital: von den Bauern über die Zuckerbäcker bis zur Wissenschaft und Diplomatie.] »Gdyby nasze pokolenie zdobyło paĔstwowoĞü w latach 1917-1919, ci ›nasi‹ ukraiĔscy Polacy stanowiliby wielki kapitał naszej odrodzonej ojczyzny, kapitał wszechstronny: od rolnictwa i cukrownictwa aĪ po naukĊ i dyplomacjĊ.« (Małaniuk 1952, 105)
Malanjuk war besonders mit Julian Tuwim und Jarosław Iwaszkiewicz befreundet. An Iwaszkiewicz schrieb er im Februar 1930 sogar eine ukrainische Postkarte, auf der er ihn mit »Lieber Freund« (Ʌɸɛɢɣ ɞɪɭɠɟ) anspricht und sich mit den Worten »ich küsse dich und die Hand deiner Gattin. Dein Jevhen« (ɰɿɥɭɸ ɬɟɛɟ ɿ ɪɭɤɭ ɬɜɨɽʀ ɞɪɭɠɢɧɢ. Ɍɜɿɣ ȯɜɝɟɧ) verabschiedet. (Serednicki 1994, 78) Anders als Malanjuk war Józef Łobodowski kein ethnischer Ukrainer, betrachtete sich aber selbst sowohl als Pole als auch als Ukrainer, weil er einen Teil seiner Kindheit in der Ukraine verbracht hatte. Łobodowski arbeitete am ›Wolyner Experiment‹ des Wojewoden Henryk Józewski mit, der in seinem Gebiet die Entwicklung der ukrainischen Kultur aktiv förderte (vgl. dazu Krasicki 1939). Józewski wollte in seiner Wojewodschaft eine »Enklave der Ideologie von 1920« schaffen, als Piłsudski und Petljura gemeinsam gegen Sowjetrussland kämpften. (Partacz 1999, 235-252, 240) Bezeichnenderweise gab Łobodowski im Jahr 1935 einen Band mit Übersetzungen ukrainischer
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und russischer Lyrik heraus, der den programmatischen Titel Bei Freunden (U przyjaciół) trug. 1937 veröffentlichte er in der Zeitschrift »WołyĔ« den Artikel Das große Erbe (Wielka spuĞcizna), in dem er das gemeinsame kulturelle Erbe der Ukraine und Polens präsentierte. Dabei konzentrierte er sich vor allem auf die ukrainische Schule der polnischen Romantik und verwies auf polonophile Aussagen von Platon Kostec’kyj und Taras Ševþenko. (Serednicki 1999, 22f.) Łobodowskis utopische Vision richtete sich auf eine polnisch-ukrainische Vereinigung, die zwar ihre tragische Vergangenheit kennt, aber dennoch auf eine lichte Zukunft ausgerichtet ist. (Grabowicz 1980, 107-131, 126) Schließlich taucht das Thema in klischeehafter Verkürzung auch in der Populärliteratur auf. Marjan Sulima veröffentlichte seinen Roman Auf dem Wege Kains (Kainowym szlakiem) 1936 in Warschau: HryĔko Pawłyszczuk, Sohn eines Polen und einer Ukrainerin, verliebt sich in eine Polin, heiratet aber dann aufgrund der Intrigen seiner Mutter eine Ukrainerin. Er zündet eine Schule an, ersticht seine polnische Geliebte und erhängt sich schließlich selbst. Das bizarre Sujet soll zeigen, wie verhängnisvoll der »ukrainische Weg« für einen Bewohner Galiziens ist. Die kitschhafte Tragik des Geschehens besteht darin, dass dem Protagonisten der lichte polnische Weg ebenfalls offengestanden hätte. Es bietet sich an, das Phänomen der ukrainischen Polonophilie unter Rückgriff auf Michel Foucault zu analysieren. Foucaults berühmte Machtkonzeption in Sexualität und Wahrheit lässt sich sehr gut auf diesen Anwendungsbereich übertragen. Foucault geht davon aus, dass Macht nicht einfach als Ausübung von Herrschaft beschreibbar sei, sondern an verschiedenen »Herden« aufflamme. Die Macht ist in diesem Sinne vor allem ein kommunikatives Phänomen, das »von unten kommt«. (Foucault 1983, 15) Macht ist nur dann effizient, wenn sie ein Bedeutungsangebot macht, das im öffentlichen Raum auf Resonanz stößt. Gerade der nationalistische Diskurs im Zwischenkriegspolen erfüllt diese Bedingung in prominenter Weise: Zahlreiche Publizisten griffen auf eine militarisierte Rhetorik zurück, die sich während der Zeit der Teilungen herausgebildet hatte und in den Kriegshandlungen 1914 bis 1921 noch verstärkt worden war. Foucault beschreibt diese Spezifik mit der Umkehrung von Clausewitz’ berühmter Formel: Die Politik ist die Weiterführung des Krieges mit anderen Mitteln. Diesen Gedanken, der bereits in Sexualität und Wahrheit auftaucht, hat Foucault im Jahr 1976 in einer Vorlesungsreihe unter dem Titel In
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Verteidigung der Gesellschaft weiter ausgearbeitet. Hier gibt Foucault drei Deutungen für die innere Kontinuität zwischen Krieg und Politik: Erstens perpetuiert die politische Macht das kriegerische Ungleichgewicht und übersetzt es in einen stillen Kampf in Institutionen, ökonomischen Verhältnissen und sogar in Sprache und Körper. Zweitens müssen alle politischen Auseinandersetzungen zu Friedenszeiten als Ausdruck des andauernden, unterschwelligen Krieges verstanden werden. Und drittens bedeutet die Umkehrung der Clausewitzschen Formel, dass der letzte Zweck des Politischen in einem Endkampf bestehe. Macht manifestiert sich also in komplexen Herrschaftsbeziehungen, die in der Regel gerade nicht vertikal verlaufen. Foucault verdeutlicht seine Diskurstheorie mit der Homonymie von »sujet«, die im Französischen das »Subjekt« mit dem »Untertan« gleichsetzt. Wenn man nach dem »sujet« in einem Herrschaftsgeflecht fragt, geht es nicht in erster Linie um die soziologisch beschreibbaren Formen der Unterdrückung des Untertans, sondern um die subjektbildende Kraft der Sinnangebote, die von jedem Herrschaftssystem an den Einzelnen ergehen. Foucault weist schließlich auf einen Paradigmenwechsel in der Organisation der Macht zu Beginn des 19. Jahrhunderts hin: Die Staatsgewalt reklamierte für sich nicht mehr einfach das Recht, über juristische Herrschaftstechnologien einzelne Menschen dem Tod zuzuführen, sondern kümmerte sich um Biopolitik im weitesten Sinne: um Lebensräume, Geburtsstatistiken, Epidemieeindämmungen. Foucault bringt diesen Gegensatz auf folgende Formel: Die traditionelle Macht der Souveränität machte sterben und ließ leben, während die neue BioMacht umgekehrt leben machte und sterben ließ. (Foucault 1999, 26f., 280ff., 306) Macht ist mithin für Foucault keine Substanz, auch kein Fluidum, sondern ein »Ensemble von Prozeduren«, die zusammen eine »Politik der Wahrheit« ergeben. (Foucault 2004a, 14f.) Dieses Erkenntnisinteresse mündet schließlich in das Konzept der ›Gouvernementalität‹, d.h. »die Gesamttechnologie der Macht« (Foucault 2004a, 180), die in einem Staatsgefüge wirksam ist, um das »Verhalten der Menschen zu steuern«. (Foucault 2004b, 261) Foucault versteht unter »Gouvernementalität« die aus den Institutionen, den Vorgängen, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und Taktiken gebildete Gesamtheit, welche es erlauben, diese recht spezifische, wenn auch sehr komplexe
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Form der Macht auszuüben, die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als wichtigste Wissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat. (Foucault 2004a, 162) Auch hier ist entscheidend, dass Foucault keinen vertikalen Machtdiskurs im Auge hat, sondern die Gouvernementalität als Praxis versteht, die von jedem Einzelnen ausgeht. Das Leben selbst wird also zum Gegenstand von Machtdiskursen. Die einzelnen Definitionsangebote konkretisieren sich in institutionalisierten Organisationsformen des Herrschaftswissens: in der Literatur, in der Kunst, in der Politik. Die ukrainischen Polonophilen versuchten, durch ihre Konzeptionen einer »praca organiczna« der Ukrainer, einer tragischen Verbindung der beiden Nationen oder einer kulturellen Überlegenheit der Polen, die zunächst durchaus biopolitisch geprägte Gouvernementalität der Zweiten Republik zu beeinflussen. Aus der Interaktion der verschiedenen jeweils national geprägten Diskurse entstand in Polen ein komplexes Netz von Wahrheitsentwürfen. Verschiedene Akteure strebten danach, ihre Position zu stärken und gegen konkurrierende Konzeptionen durchzusetzen. Aus dem Ensemble dieser Techniken, Praktiken und Prozeduren lässt sich die polnische Gouvernementalität in der Zwischenkriegszeit beschreiben, in der auch das seltene Phänomen der ukrainischen Polonophilie seinen Platz einnimmt.
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Anschreiben gegen den Kanon Goethe- und Heine-Reskripte der »Moloda Muza« S TEFAN S IMONEK
M ETHODOLOGISCHE P RÄMISSEN Die in diesem Beitrag angerissenen Überlegungen kreisen um die Frage, auf welche Weise sich Muster kultureller Hierarchien zwischen der klassischen deutschen Literatur und der ukrainischen Moderne in Galizien um 1900 aufzeigen lassen und welche methodologischen literaturwissenschaftlichen Instrumentarien dabei sinnvollerweise zum Einsatz gebracht werden können. Die erwähnten kulturellen Hierarchien manifestieren sich in diesem Kontext einmal über die kulturpolitischen Parameter in Galizien als Kronland der cisleithanischen Hälfte der Donaumonarchie, in dem der ukrainischen Kultur im Vergleich zur polnischen als Emanation der politisch dominierenden Gruppierung lediglich eine subalterne Position zugewiesen war, daneben aber auch im literarischen Rang jener Autoren, die 1907 in Lemberg mit einem von Ostap Luc’kyj verfassten Manifest als Vereinigung der »Jungen Muse« (also der »Moloda Muza«) hervortraten und von Ivan Franko als zentralem Vertreter der älteren literarischen Generation sogleich heftig angefeindet wurden. (Vgl. dazu Simonek 1997, 204-286) Bei der Frage nach möglichen methodologischen Zugängen zur Thematik wären in einem ersten Schritt sicherlich die theoretischen Ansätze der Intertextualität in ihren verschiedenen Ausformungen zu nennen: So entsprechen die Variationen der »Moloda Muza« auf hoch kanonisierte Texte von Goethe und Heine (die im Folgenden im Zeichen postkolonialen Zurückschreibens gegen den europäischen Kanon
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auch als ›Reskripte‹ bezeichnet werden sollen) zweifelsohne jener Relation zwischen Hypo- und Hypertext, wie sie in Gérard Genettes grundlegender Studie Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe 1982 exemplifiziert wurde; Genette definiert das Phänomen der Hypertextualität hier wie folgt: »Darunter verstehe ich jede Beziehung zwischen einem Text B (den ich als Hypertext bezeichne) und einem Text A (den ich, wie zu erwarten, als Hypotext (kursiv jeweils im Original) bezeichne), wobei Text B Text A auf eine Weise überlagert, die nicht die des Kommentars ist«. (Genette 1993, 14f.) Daneben müsste in diesem methodologischen Zusammenhang zweifellos Renate Lachmanns 1990 veröffentlichte Studie zur Intertextualität in der russischen Moderne (die Lachmann chronologisch signifikanterweise bis zu Aleksandr Puškin hinabreichen lässt) berücksichtigt werden, hier wiederum besonders der mit »Die aus Literatur gemachte Literatur: Weiter-, Wider-, Um-Schreiben« betitelte Abschnitt, in dem die Verfasserin von der »Bestimmung der in den Text eingespielten semantischen und ästhetischen Differenz, wie sie durch die ›Usurpation‹ fremder Texte, Textkonventionen und Gattungsschemata erreicht wird« (Lachmann 1990, 68), bzw. etwas später von der »Zersetzung und Usurpation (des Sinnpotentials des fremden Textes)« spricht. (Lachmann 1990, 85) Diese Positionierungen, die auf eine bewusst und strategisch entstellende semantische Umkonstituierung des alludierten Primärtextes hin abzielen, scheinen für die hier referierte Fragestellung durchaus praktikabel, fokussieren allerdings beinahe durchgängig auf Autoren, die als mehr oder weniger prominente Figuren des westlichen literarischen Kanons fungieren (Lachmann erwähnt direkt im Anschluss an das erste Zitat neben Andrej Belyj die Namen Rabelais, Sterne, Joyce, Doderer und Arno Schmidt). Zu fragen bliebe in diesem Zusammenhang naturgemäß, wie sich jene Autoren in die von Lachmann umrissenen literarischen Strategien des »Widerschreibens« einfügen sollen, die aus dem westlichen Kanon ausgeschlossen und jenseits seiner Grenzen positioniert sind. Die Problematik, Lachmanns Ansätze im Zeichen einer methodologischen Neujustierung auf die Goethe- und Heine-Reskripte der »Moloda Muza« zu transferieren, zeigt sich z. B. in der starken appellativen Funktion aller drei ukrainischen Texte, die gerade diese appellative Wirkung ja über die Bezugnahme auf die deutschen Fremdtexte generieren; für Lachmann dagegen macht gerade diese Doppelcodierung einen außertextlichen, lebensweltlichen Bezug der entsprechen-
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den Texte unmöglich. (Lachmann 1990, 85) Der Rekurs auf den fremden Text deckt laut Lachmann die Scheinhaftigkeit des außertextlichen Referenzbereichs auf, die der gegebene Text jeweils für sich beansprucht – in den Reskripten der »Moloda Muza« in Richtung deutscher kanonisierter Primärtexte soll aber in umgekehrter Weise gerade die Doppelcodierung, die bei Lachmann eine rein textimmanente Semantik generiert, den außertextlichen Referenzbereich zusätzlich legitimieren. Weitere produktive Ansätze zum methodologischen Umgang mit den hier zur Diskussion stehenden ukrainischen Texten eröffnen sicherlich Harold Blooms zentrale Monographien Einflußangst (1973) sowie Eine Topographie des Fehllesens (1975). Blooms pointiert formulierter, psychoanalytisch grundierter Aufweis jener ödipalen Mechanismen, mit denen Autoren aus dem Schatten ihrer als stark und übermächtig erlebten literarischen Vorgänger treten wollen, scheint auf den ersten Blick ebenfalls als methodologischer Ausgangspunkt für die hier zu leistende Textanalyse verwendbar, wenn man etwa das folgende, durchaus programmatische Zitat aus der Einflußangst (Kapitel Clinamen oder Poetisches Fehlverstehen) berücksichtigt (im Original ist der gesamte Absatz kursiv gehalten und damit schon allein graphisch als besonders relevanter Abschnitt der Argumentation ausgewiesen): »Poetischer Einfluß vollzieht sich – wenn zwei starke, authentische Dichter beteiligt sind – immer durch die Fehllektüre des früheren Dichters, durch einen Akt der kreativen Korrektur, die wirklich und notwendig eine Fehlinterpretation ist. Die Geschichte des fruchtbaren poetischen Einflusses, also sozusagen die Haupttradition der westlichen Dichtung seit der Renaissance, ist eine Geschichte der Angst und der selbstrettenden Karikatur, der Verzerrung, des perversen, absichtsvollen Revisionismus, ohne den die moderne Dichtung als solche nicht bestehen könnte.« (Bloom 1995, 30)
Der von Bloom hier erwähnte Akt der kreativen Korrektur bzw. der Verzerrung ist sicherlich bei den drei zur Diskussion stehenden ukrainischen Gedichten gegeben, allerdings bleibt die Frage offen, ob die drei ukrainischen Autoren Bohdan Lepkyj, Petro Karmans’kyj und Vasyl’ Paþovs’kyj tatsächlich auch unter Blooms Zielgruppe der starken, authentischen Dichter fallen. Bloom operiert in seinen Analysen (mit Ausnahme von Emily Dickinson) nämlich in den allermeisten
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Fällen mit männlichen Repräsentanten des westlichen Kanons wie etwa Robert Browning, John Milton, Ralph Waldo Emerson oder Wallace Stevens. Diese westlich ausgerichteten Präferenzen finden sich dann späterhin in Blooms Studie The Western Kanon (1994) auch nachdrücklich dokumentiert: Am Schluss des Bandes stehen insgesamt vier Lektürelisten in chronologischer Reihenfolge, in Liste C (The Democratic Age, Bloom meint damit das 19. Jahrhundert) firmiert hier als einzige slawische Literatur die russische (die laut Bloom damals an Stärke zu gewinnen begann) von Aleksandr Puškin bis zu Aleksandr Blok; in Liste D (The Chaotic Age, das 20. Jahrhundert) finden sich neben der russischen Literatur von Anna Achmatova bis Iosif Brodskij an weiteren slawischen Literaturen noch die polnische mit sechs, die tschechische mit fünf und die serbokroatische Literatur mit drei Repräsentanten, dagegen aber kein einziger ukrainischer Autor. Die ukrainische Literatur (sofern man nicht den auf Russisch schreibenden Nikolaj Gogol’ zu ihr rechnen möchte) bleibt für Bloom also zur Gänze aus dem westlichen Kanon ausgeklammert. (Bloom 1994, 545 bzw. 557f.) Wenn Bloom von einem »westlichen Kanon« spricht, so kann dies kaum als geographisch ausgerichteter, sondern weit eher als axiologischer Begriff verstanden werden, da sich der westliche Kanon in seiner Reichweite offenbar keine Beschränkungen auferlegen will und sich als universal versteht (und von daher eben auch die russische Literatur inkludiert). Würde man dieses universalistische Modell Blooms nun mit der Existenz eines »östlichen Kanons« konfrontieren, der seinem westlichen Konterpart radikal entgegengesetzt ist, so ließen sich die Permutationen der Gedichte von Goethe und Heine in den ukrainischen Reskripten der »Moloda Muza« vielleicht als Reibungsverluste beim keinesfalls friktionsfreien Übergang der Texte aus einem Kanon in den anderen verstehen. Gerade an dieser Stelle würden sich nun Theorien der Postcolonial Studies anbieten, wie etwa die (die ästhetischen Wertsetzungen der dominant gesetzten Kolonialliteratur neujustierenden) Textstrategien des Zurück-Schreibens (»re-writing«), die sich als eines der signifikantesten Muster postkolonialer Literatur erwiesen haben. (Vgl. Ashcroft/Griffiths/Tiffin 1989) Daneben wäre in diesem Kontext auch an Tamara Hundorovas rezente, auf Friedrich Nietzsches Genealogie der Moral fußende Neuinterpretation des Begriffs ›Ressentiment‹ zu denken, die ebenfalls als probate Strategie des Zurückschreibens einer aus dem westlichen Kanon ausgeschlossenen Literatur verstanden werden kann. Auch wenn sich Hundorova in ih-
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rem Beitrag ganz primär auf die ukrainische postmoderne Literatur und hier konkret auf Jurij Andruchovyþ und Serhij Žadan stützt, so scheinen die von ihr veranschaulichten Mechanismen, über die eine marginalisierte Kultur auf Vorgaben einer dominant gesetzten Kultur antwortet, indem sie diese in dekontextualisierter und verzerrter Form reflektiert, durchaus auch auf die zwischen deutscher Literatur und westukrainischer Moderne ablaufenden Prozesse umlegbar. (Hundorova 2008)
U M -S CHREIBUNGEN G OETHES DURCH P ETRO K ARMANS ’ KYJ UND B OHDAN L EPKYJ Die westukrainischen Autoren, die sich im Zeichen eines im Vergleich etwa zu Stanisław Przybyszewskis Programmtext Confiteor recht zaghaften, von Ostap Luc’kyj verfassten und am 18. November 1907 in einer Lemberger Tageszeitung veröffentlichten Manifestes zusammenschlossen, waren sicherlich keine Großmeister ihres Faches, sondern bestenfalls »minor poets« im Sinne T. S. Eliots1, die zweite Garde der »Moloda Muza« wohl gar nur »minor minor poets«, von denen Harold Bloom bei seiner Erstellung des westlichen literarischen Kanons nichts wusste und wohl auch nichts wissen wollte.2 Es handelt sich also um
1
Über T. S. Eliots Behauptung, wonach sich geringere Dichter dadurch auszeichnen, dass man sie lediglich in Anthologien lese (Eliot 1988, 406), lässt sich insofern ein Konnex zur »Moloda Muza« herstellen, als auch deren Reintegration in die ukrainische Literatur in den späten achtziger und den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts weniger über Einzelausgaben als eben über Anthologien verlief. Als entsprechende Beispiele können etwa die 1989 von Volodymyr Luþuk in Kyjiv edierte Sammlung Die Junge Muse. Eine Anthologie westukrainischer Lyrik vom Anfang des 20. Jahrhunderts (Moloda Muza. Antolohija zachidnoukrajins’koji poeziji poþatku XX stolittja) oder die 1991 ebenfalls in Kiev von Mykola Il’nyc’kyj herausgebrachte, den Titel von Vasyl’ Paþovs’kyjs erster Lyriksammlung wiederaufnehmende Anthologie Verstreute Perlen. Die Dichter der »Jungen Muse« (Rozsypani perly. Poety »Molodoji Muzy«) erwähnt werden.
2
Das Verdikt künstlerischer Zweitrangigkeit wird auf die Autoren der »Moloda Muza« immer wieder appliziert; verwiesen sei in diesem Kontext auf
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Schriftsteller, die von der Teilhabe am westlichen Kanon ausgeschlossen waren, diesen aber in bestimmten Teilen sehr wohl gut kannten. Dies betrifft ganz vorrangig die polnische, aber auch die deutsche Literatur, die in galizischen Schulen unterrichtet wurde und den Autoren der »Moloda Muza« von daher schon von Kindheit an geläufig war.3 Dass diese Konstellation alles andere als harmonisch gewesen ist, zeigen etwa Ivan Frankos wichtige Erzählungen Ein Pater mit Humor (Otec’-humoryst), die den Polnischunterricht in der Schule als sadistische Demütigung der ukrainischen Schüler schildert, oder Schönschreiben, in der die Superiorität des Deutschen innerhalb des Schulunterrichts schon durch den deutschen Titel des ukrainischen Textes signalisiert wird.4
eine Aufsatzreihe mit dem Übertitel Discussion: Ukrainian Modernism, die 1991 in der Zeitschrift »Harvard Ukrainian Studies« erschien. Ungeachtet der divergierenden Ansätze der einzelnen Beiträger fand man sich im Verweis auf die ästhetischen Schwächen der »Moloda Muza«: In den Augen von Danylo Husar Struk waren sogar die drei talentiertesten Mitglieder der Gruppe, Vasyl’ Paþovs’kyj, Petro Karmans’kyj und Mychajlo Jackiv, bestenfalls zweitrangige Autoren (Struk 1991, 256), und auch George G. Grabowicz hob in Bezug auf die »Moloda Muza« den auffallenden Mangel an Talent bei deren Vertretern hervor. (Grabowicz 1991, 281) 3
Zur Frage der Vorbildwirkung des Jungen Polen, also der polnischen Mo-
4
Vgl. in diesem Kontext der deutschen Sprache und Kultur als im Wege der
derne, auf die »Moloda Muza« vgl. Simonek 2000. Schule vermittelten Medien zur Befestigung politischer Herrschaftsansprüche auch die Erinnerungen des slowenischen Autors Ivan Cankar, der einige Jahre nach Franko ebenfalls in Wien studierte und so wie dieser auch Beiträge in deutscher Sprache veröffentlichte. In seinen Erinnerungen mit dem Titel Die Realschule (Realka) bemerkt Cankar eben zu den deutschen Klassikern, deren kanonische Texte von der »Moloda Muza« neu interpretiert werden, Folgendes: »Widerlich waren mir die sogenannten deutschen Klassiker; wir mußten genau wissen, wann und wo diese widerlichen Fremden geboren wurden, was sie gemacht und was sie geschrieben haben […]. Erst in späterer Zeit überwand ich mich mühevoll und machte mich wenigstens so weit frei, daß ich die Größe Goethes erkannte«. (Cankar 2008, 316)
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Vor diesem Hintergrund sind auch die Umdeutungen des Kanons deutscher Literatur zu interpretieren, die Petro Karmans’kyj, Bohdan Lepkyj und Vasyl’ Paþovs’kyj (also die drei wohl wichtigsten und talentiertesten Repräsentanten der »Moloda Muza« mindestens auf dem Gebiet der Lyrik) in den Jahren des Ersten Weltkriegs und knapp danach vorgelegt haben. Die im Folgenden referierten Kontrafakturen von Goethes Erlkönig und dessen Mignon sowie von Heines Grenadieren können dabei wahlweise aus der psychoanalytischen Perspektive eines Harold Bloom heraus als bewusste »Fehllektüre« von paradigmatisch starken Dichtern wie Goethe5 und Heine6 durch paradigmatisch schwache wie jene der »Moloda Muza«, aus westlich-postkolonialem Blickwinkel als Zurückschreiben des Empires (in diesem Falle nicht des britischen, sondern der Donaumonarchie) gedeutet oder mit der ukrainischen Literaturwissenschaftlerin Tamara Hundorova unter das Signum des Ressentiments gestellt werden, mit dem eine in starkem Ausmaß marginalisierte einer hoch kanonisierten Kultur begegnet. All diese Deutungsansätze werden zweifellos noch durch die Krisen- und Schwellensituation des Ersten Weltkriegs intensiviert, der gerade an der galizischen Front nicht zuletzt aufgrund der außerordentlichen Brutalität der österreichisch-ungarischen Armee als apokalyptischer Zusammenbruch tradierter Ordnungssysteme erlebt wurde;7 der in der Schule gelehrte Kanon der deutschen Literatur wurde von diesem Zusammenbruch zweifelsohne mit erfasst, so dass die zeitliche Koinzidenz des Krieges mit den im Folgenden präsentierten drei Textproben sicherlich nicht zufällig ist. Beginnen wir mit dem Lyriker Petro Karmans’kyj, der 1899 mit der Sammlung Aus der Mappe eines Selbstmörders (Z teky samoubi-
5
Zur einer Übersicht über die Aufnahme Goethes in der Ukraine vgl. Žyla
6
Zur Rezeption Heines in der ukrainischen Literatur vgl. den synthetischen
1989. Überblick von Rudnytzky/Kipa 1999. 7
Stepan ýarnec’kyj, einer der Lyriker aus den Reihen der »Moloda Muza«, verlieh diesem apokalyptischen Szenario in seinem Gedicht An den Ivan! (Ivanovy!) plastischen, auch über das Mittel ukrainisch-deutscher Mehrsprachigkeit generierten Ausdruck, vgl. die Zeilen: »Dein Vater hing eines Sommertages an einem Ast, / Du selbst bist anders gestorben: für Kaiser und Land« (Ɍɜɿɣ ɛɚɬɶɤɨ ɧɚ ɝɢɥʀ ɩɨɜɢɫ ɜ ɥʀɬɧɭ ɞɧɢɧɭ, / Ɍɢ ɝɢɧɭɜ ɢɧɚɤɲɟ: für Kaiser und Land) (ýarnec’kyj 1917, 11).
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jcja) debütierte und mit den Bänden Irrlichter (Bludni ohni) (1907) und Wir schwimmen durch ein Meer von Finsternis (Plyvem po mori t’my) (1909) zentrale Sammlungen der westukrainischen Moderne vorlegte, die auf paradigmatische Weise den Motivbestand europäischer ästhetistischer Lyrik variierten.8 Karmans’kyj, der sich intensiv mit italienischer und deutscher Literatur beschäftigte, veröffentlichte 1917 die Sammlung Al fresco, die über ihren Titel und das den Band eröffnende Grillparzer-Motto: »Gar viele sind meinem Gedichte geneigt;/Nur daß, wie es geht beim Lesen,/Ich bloß diejenigen überzeugt,/Die früher bereits es gewesen« (Karmans’kyj 1992, 156), die Auseinandersetzung mit eben diesen zwei Literaturen nachdrücklich dokumentiert. Hier stößt man nun auf Karmans’kyjs Reskript von Goethes Erlkönig, der zwar nicht direkt Erwähnung findet, aber durch die dem ukrainischen Text vorangestellte Zeile »Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?« eindeutig als alludierter Prätext von Goethe ausgewiesen wird.9 In weiterer Folge wird von Karmans’kyj aber nicht nur die formale Struktur der Goetheschen Ballade verändert (aus den acht vierzeiligen Strophen des Prätextes werden fünf sechszeilige), auch die Semantik des Textes gewinnt ausgehend von Karmans’kyjs Titel Ukrainische Ballade (Ukrajins’ka balada) eine ganz neue, viel stärker im sozialen Kollektiv verankerte Dimension. Goethes Dreigespräch zwischen Vater, Sohn und den naturmagischen, Verderben bringenden Kräften des Erlkönigs wird der Semantik des neuen Titels folgend zur dialogisch gehaltenen Reflexion über das harte Schicksal und die Passivität des gesamten Volkes geweitet, dies der Poetik des gesamten Bandes Al fresco folgend durchaus nicht ohne satirische und pathetische Untertöne. Der im Individuellen verharrende Raum des Prätextes wird von Karmans’kyj auf recht simple Art rhetorisch erweitert, der Sohn artikuliert hier nicht seine Angst vor dem Erlkönig, sondern strebt danach, sich mit dem ganzen Volk in Beziehung
8
Vgl. etwa zum über den Titel Irrlichter evozierten Motiv eines ziellosen, kreisförmig wieder an den Beginn zurückführenden Bewegungsmodells in den Gedichten der »Moloda Muza«. (Simonek 1997, 375f.)
9
Vgl. Nr. 1 im Anhang dieses Beitrags. – Dass Goethes Erlkönig in Galizien bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts präsent war, zeigt Michael Moser, der auf eine 1838 in PrzemyĞl gedruckte ukrainische Übersetzung der Ballade durch Josyp Levyc’kyj hinweist und die erste und letzte Strophe dieser Übertragung anführt. (Moser 2004, 90)
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zu setzen10, wie dies besonders deutlich in den folgenden Zeilen der zweiten Strophe abzulesen ist: »Vater, ich möchte Mitleid hineingießen/In die Brust der Millionen von Traurigen und Armen;/Ich möchte mein Volk ans Herz drücken,/Und mit meinem Blut die Nahen und Verwandten nähren« (Ɍɚɬɭ, ɹ ɯɨɱɭ ɠɚɥɶ ɩɟɪɟɥɢɬɢ/ȼ ɝɪɭɞɶ ɦɿɥɿɨɧɿɜ ɫɤɨɪɛɧɢɯ ɿ ɛɿɞɧɢɯ;/ɏɨɱɭ ɞɨ ɫɟɪɰɹ ɥɸɞ ɦɿɣ ɬɭɥɢɬɢ,/Ʉɪɨɜ’ɸ ɤɨɪɦɢɬɢ ɛɥɢɠɧɿɯ ɿ ɪɿɞɧɢɯ). Karmans’kyjs Zurück-Schreiben im Sinne von Ashcrofts, Griffiths’ und Tiffins Titel The Empire Writes Back besteht also in einer grundlegenden Neusituierung und einem radikalen Kontextwechsel, als dessen Folge einer der am stärksten kanonisierten lyrischen Texte der deutschen Literatur nunmehr als Hintergrundfolie für eine politisch-soziale Anklage historisch verortbarer Zustände funktionalisiert wird. Es ist folgerichtig am Schluss der Ballade nicht mehr das Kind, das in den Armen des Vaters stirbt – »In seinen Armen das Kind war tot« –, sondern das vor Schmerz hinscheidende Herz des Poeten (ɋɟɪɰɟ ɩɨɟɬɚ ɡ ɛɨɥɸ ɜɦɢɪɚɽ), der seinerseits überhaupt erst dazu in der Lage ist, im Namen einer größeren Gemeinschaft seine Stimme zu erheben. Noch stärker als bei Karmans’kyj kann diese Strategie des ressentimentgeladenen Anschreibens gegen den westlichen Kanon und dessen Rekontextualisierung dann bei Bohdan Lepkyj beobachtet werden, einem zweiten wichtigen Repräsentanten der »Moloda Muza«, der neben seinen Lyrikbänden wie Herbst (Osin’) oder Die Blätter fallen (Lystky padut’) (beide 1902) auch eine Reihe von Erzählsammlungen und eine Romantetralogie zu Hetman Mazepa veröffentlicht hat. Lepkyj trat daneben auch als Literaturwissenschaftler und Übersetzer sowohl ins Ukrainische als auch ins Polnische hervor.11 In der Lyrik Lepkyjs findet sich nun ein Text, der die interkulturelle Konstellation, die schon bei Karmans’kyjs Ukrainischer Ballade zu beobachten war – nämlich ein hochgradig kanonisierter Prätext der deutschen Klassik, dem von ukrainischer Seite her eine gegen den westlichen Kanon gerichtete, diesen gleichzeitig aber gerade deshalb auch perpetuierende, rekontextualisierende Gegenschrift entgegengehalten wird – in noch deutlicherer Form repräsentiert. Ist es bei Karmans’kyj Goethes Erlkönig, der in einen ukrainischen Kontext transformiert und resemantisiert
10 Zu national-patriotischen Elementen in Karmans’kyjs Lyrik vgl. Prisovs’kyj 1992. 11 Vgl. dazu die Monographie von Syvic’kyj 1993.
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wird, so greift Lepkyj mit der Mignon auf einen vielleicht noch stärker kanonisierten Prätext Goethes zurück und verlegt den Charakter des Zurückschreibens, der in Karmans’kyjs Titel Ukrainische Ballade lediglich implizit gegeben ist, an die Textoberfläche, wenn er der Mignon des deutschen Klassikers Unsere Mignon (Naš [sic] Min’jon) gegenüberstellt.12 Mit dieser, im April 1920 im deutschen Wetzlar13 entstandenen Absage an die mit Goethes Gedicht verbundene deutsche Italien-Sehnsucht zugunsten der Thematisierung von kriegsbedingten Zerstörungen perpetuiert Lepkyj die seit dem 19. Jahrhundert zu beobachtenden Versuche westukrainischer Lyriker, sich vom ›starken‹ Dichter Goethe zu emanzipieren – schon Osyp-Jurij Fed’kovyþ’ deutsche Gedichte standen teilweise im Zeichen der Mignon, und Petro Karmans’kyj bot 1909 in seinem Gedichtband Wir schwimmen durch ein Meer von Finsternis (Plyvem po mori t’my) unmittelbar nach dem Eingangsgedicht mit dem deutschen Titel Leitmotiv eine zu Lepkyj in weiten Punkten analoge Polemik mit Goethes Mignon, die zwar mit Kennst du das Land… überschrieben ist, die Semantik des alludierten Textes aber bereits in den ersten beiden Zeilen entschlossen zurückweist: »Kennt ihr das Land, wo die ewige Finsternis der Unfreiheit/Das traurige Volk mit dem grauen Star der Blindheit geschlagen hat?« (ɑɢ ɡɧɚɽɬɟ ɜɢ ɤɪɚɣ, ɞɟ ɜɿɱɧɚ ɬɶɦɚ ɧɟɜɨɥʀ/ȼɟɪɝɥɚ ɧɚ ɫɤɨɪɛɧɢɣ ɥɸɞ ɩɨɥɭɞɭ ɫɥʀɩɨɬɢ?; Karmans’kyj 1909, 11). Das hier angesprochene Land ist nämlich ganz offensichtlich eines, in dem keine Zitronen blühen, sondern im Gegenteil die ewige Finsternis der Unfreiheit herrscht. Vergleicht man nun die Ukrainische Ballade Karmans’kyjs mit der Mignon Lepkyjs, so springt bei letzterer eine noch intensivere Bezugnahme auf den deutschen Prätext ins Auge, die gerade über die engere motivische Anbindung an diesen eine wesentlich stärkere polemische Wirkung entfaltet als Karmans’kyjs lyrische Reaktion auf den Erlkönig – Goethes Gedicht Mignon wird von Lepkyj ja nicht in zustimmend-affirmativer Funktion aufgerufen, sondern im Gegenteil gleichsam dazu, um angesichts der Verheerungen des Krieges über Goethes
12 Vgl. Nr. 2 im Anhang dieses Beitrags. 13 Lepkyj war in Wetzlar im dortigen Internierungslager für ukrainische Kriegsgefangene aus den Reihen der zaristischen Armee tätig, später dann bei der ebenfalls in Wetzlar angesiedelten »Ukrainischen Militär- und Sanitärkommission«. (Göbner 1998, 402f.)
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idealistische Ästhetik zu Gericht zu sitzen. Während Karmans’kyj im Wesentlichen nur die dialogische, zwischen Sohn und Vater wechselnde Struktur des Erlkönigs sowie die rekurrierende Anrufung des Vaters durch den Sohn übernimmt, erweitert Lepkyj zwar den Umfang der Mignon von drei auf fünf Strophen, behält aber den Aufbau der Goetheschen Strophen selbst konsequent bei. Dies betrifft sowohl die bei Goethe jeweils einleitende Frage »Kennst du… (das Land, das Haus, den Berg)?« als auch die Wiederholung der Frage jeweils in der fünften Zeile der Strophe und des Weiteren Goethes Schlussformel »Dahin! Dahin/Möcht ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn«. Diese wird aber anders als im Prätext bei Lepkyj nicht von Strophe zu Strophe von »o mein Geliebter« über »o mein Beschützer« hin zu »o Vater« variiert, sondern lautet unverändert stets »O dorthin, dorthin,/Möchte ich mit dir, mein Lieber, gemeinsam gehen!« (O, ɬɭɞɢ, ɬɭɞɢ / ɏɨɬɿɥɚ ɛ ɹ ɡ ɬɨɛɨɸ, ɦɢɥɢɣ, ɣɬɢ!). Lepkyj behält im Sinne des zuvor Gesagten (also motivische Nähe zum Prätext eben gerade deshalb, um ihn in dialogisch-polemischer Weise zu widerlegen, um im Sinne der Postcolonial Studies »zurückzuschreiben«) auch die Eingangsmotive von Goethes erster und zweiter Strophe bei. Die Fragen nach dem Land und dem Haus stellt auch das lyrische Subjekt Lepkyjs, freilich mit dem Unterschied, dass das angesprochene Land im ukrainischen Reskript des Textes weder Zitronenblüten noch Goldorangen, weder Lorbeer noch Myrten kennt, sondern Blutvergießen, Gräberreihen, Hunger und Krankheit; ganz analog verhält es sich auch mit dem bei Goethe angesprochenen Haus, das nun nicht mehr von klassischer Architektur geprägt ist, sondern von seinen Bewohnern wohl als Folge des Krieges verlassen werden musste. Diese allumfassenden apokalyptischen Bilder der Verheerung, die den Text Lepkyjs vielleicht nicht seinem Rang, aber sicherlich seinem außerkünstlerischen Kontext nach Georg Trakls Gedicht Grodek oder Miroslav Krležas galizischen Kriegserzählungen an die Seite stellen, setzen sich dann auch in der dritten und vierten Strophe des Gedichtes fort, in denen eine zerstörte und entweihte Kirche bzw. eine zu Tode gefolterte Lehrerin Erwähnung finden, ehe Lepkyj in Strophe fünf im Bild des völlig auf sich allein gestellten, das Land aber dennoch verteidigenden Militärs eine indirekt appellative Note in seinen Text einbringt. Auch wenn diese letzte Strophe aus heutiger Perspektive die ästhetische Reichweite des Gedichts eher nach unten hin limitieren mag,
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so kann doch kein Zweifel daran bestehen, dass Lepkyjs Goethe-Reskript ein besonders markantes Beispiel dafür bietet, in welcher Weise eine in die Position des Subalternen gedrängte Literatur gegen ein dominierendes und den literarischen Kanon bestimmendes kulturelles Zentrum anschreiben kann. Dass sich dieser literarischen Strategien des Anschreibens gegen den Kanon mit Karmans’kyj und Lepkyj ausgerechnet zwei Repräsentanten der »Jungen Muse« bedienten, die eigentlich versuchte, die ukrainische Literatur in ein breiteres europäisches Kontinuum zu integrieren14, belegt die ambivalente Anziehungskraft, die stark kanonisierte Texte entfalten – sie können in Bezug auf jene Literaturen, die außerhalb des Kanons positioniert sind, als Movens fungieren, in verstärktem Ausmaß Zugang zum Kanon zu suchen, sie können aber (in dialektischer Umkehrung der ersteren textuellen Strategie) auch dazu Anlass geben, die Wertsetzungen des Kanons von einer Außenposition her gezielt in Frage zu stellen.
V ASYL ’ P AýOVS ’ KYJS G RENADIERE Das dritte und letzte Beispiel eines zentralen Lyrikers der »Jungen Muse«, das hier abschließend noch kurz präsentiert werden soll, reduziert im Vergleich zu Lepkyj die Vehemenz des Anschreibens gegen den Kanon zugunsten von dessen Neukontextualisierung für das eigene weltanschauliche Anliegen, das vom Autor in einen aktuellen zeitgeschichtlichen Zusammenhang gerückt wird. Vasyl’ Paþovs’kyj, der 1901 mit dem Lyrikband Verstreute Perlen (Rozsypani perly) debütierte und schon mit dieser Sammlung eine führende Stellung innerhalb der »Moloda Muza« erringen konnte, veröffentlichte 1918 in Wetzlar eine Variation auf Heinrich Heines bekanntes Gedicht Die Grenadiere, die in ihrem Untertitel Nach Heine (Za Hajnem) offen und im Titel Zwei Siþ-Schützen (Dva stril’ci siþovi)15 verdeckt auf den entsprechen-
14 Zum ästhetischen Diskurs der »Moloda Muza« vgl. Ljachovyþ 1992, Hundorova 1997, 142-159 bzw. Pavlyþko 1999, 111-116. 15 Bei den Siþ-Schützen handelte es sich um ein Kontingent der k.-k. Armee, das sich aus ukrainischen Freiwilligen rekrutierte und an der galizischen Front zum Einsatz kam. Die für die Schützen geschriebenen Lieder erfreuen sich in der Westukraine bis heute großer Beliebtheit, wobei auch zahlreiche Autoren der »Moloda Muza«, wie z. B. eben Lepkyj, Karmans’kyj
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den Prätext verweist.16 Dass sich Heines Grenadiere in der Zeit des Ersten Weltkriegs ganz offensichtlich auch in der Westukraine bei den Repräsentanten der »Jungen Muse« besonderer Wertschätzung im Zeichen einer Instrumentalisierung des Textes für eigene ideologische Positionen erfreuten, belegen neben Paþovs’kyjs rekontextualisierender Neudeutung Übersetzungen des Gedichts von Mykola Holubec’ in dessen 1915 in Wien erschienenem Gedichtband Aus der fernen Fremde (Iz þužyny dalekoji) und von Stepan ýarnec’kyj in dessen Sammlung In der Stunde der Nachdenklichkeit (V hodyni zadumy…) aus dem Jahr 1917. Stehen die beiden Übersetzungen von Holubec’ und ýarnec’kyj also eindeutig im Kontext des Ersten Weltkriegs, so zielt Paþovs’kyjs Rekontextualisierung der Heineschen Grenadiere ganz offensichtlich auf die militärischen Konflikte zwischen der Westukrainischen Volksrepublik und dem neu erstandenen polnischen Staat Ende 1918 ab – Zeile 4 der zweiten Strophe des gegenüber Heine insgesamt um eine Strophe längeren Gedichts von Paþovs’kyj weist in der abfälligen Bezeichnung ›ljac’kij‹ (polnisch) mindestens in diese Richtung. Anders als Karmans’kyj und Lepkyj in ihren Um-Schreibungen des Erlkönigs und der Mignon weist Paþovs’kyjs Rekontextualisierung des Heineschen Prätextes im Milieu der westukrainischen Siþ-Schützen weit affirmativere Züge auf: Paþovs’kyj ist nicht daran gelegen, das semantische Potential des Prätextes als ›Gegenschrift‹ in eine radikal neue, dem Prätext entgegengesetzte Richtung umzupolen, sondern als ›Umschrift‹ in seiner ursprünglichen Valenz zu übernehmen und in einen neuen historischen Zusammenhang einzugliedern. Es sind nun nicht mehr wie bei Heine zwei Grenadiere, die aus russischer Gefangenschaft nach Frankreich zurückkehren, sondern zwei Siþ-Schützen, es steht nun nicht mehr der Kaiser im Mittelpunkt, sondern der Wunsch nach der Befreiung Ostgaliziens und nach dessen politischer Vereinigung mit der Zentralukraine. Heines in den Strophen 2, 5 und 9 rekurrierendes Motiv des gefangenen Kaisers (»Und der Kaiser, der Kaiser gefangen«; »Mein Kaiser, mein Kaiser gefangen!«; »Den Kaiser, den Kaiser zu schützen«) wird von Vasyl’ Paþovs’kyj in den Strophen 2, 6
und Paþovs’kyj, als Textautoren dieser Lieder hervortraten. Eine repräsentative, wenn auch durchaus apologetisch kommentierte Sammlung der Schützenlieder bietet Salyha 1992. 16 Vgl. Nr. 3 im Anhang dieses Beitrags.
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und 10 in Richtung politischer Unfreiheit Galiziens verschoben: »Galizien ist in polnischer Gefangenschaft!« (Ƚɚɥɢɱɢɧɚ – ɜ ɥɹɰɶɤɿɣ ɧɟɜɨɥɿ!), »Unser Galizien ist in Gefangenschaft!« (Ƚɚɥɢɱɢɧɚ ɧɚɲɚ ɜ ɧɟɜɨɥɿ!) sowie schließlich »Unser geliebtes Galizien!« (Ƚɚɥɢɱɢɧɭ ɧɚɲɭ ɤɨɯɚɧɭ!). Als geopolitische Zentralbegriffe bringt der ukrainische Autor die Termini »Galizien«, »Kiew« und »Ukraine« sowie die Helden aus den Karpaten ins Spiel, die auch für den eigenmächtigen Einschub der gesamten dritten Strophe verantwortlich sind; daneben lässt sich auch Paþovs’kyjs historiosophische Hoffnung auf die Genese einer neuen »Siþ«, also eines neuen unabhängigen ukrainischen Staates (ȱ ɩɪɢɣɞɟ ɞɟɧɶ ɧɨɜɨʀ ɫɿɱɿ!) als Erweiterung der prätextuellen Folie Heines verstehen.17
17 Daneben eröffnet Paþovs’kyjs Interpretation der Heinenschen Grenadiere auch einen Konnex zu den beiden einige Jahre zuvor veröffentlichten Übersetzungen des Gedichtes durch Mykola Holubec’ und Stepan ýarnec’kyj: Während Paþovs’kyj das Motiv der Gefangenschaft an Galizien bindet, ist es bei Holubec’ dem Prätext Heines entsprechend an den Kaiser gebunden, Heines Zeilen »Und der Kaiser, der Kaiser gefangen« bzw. »Mein Kaiser, mein Kaiser gefangen!« lauten bei Holubec’ »Und der Kaiser… ist in Gefangenschaft geraten…« (Ⱥ ɐʀɫɚɪ... ɩɨɩɚɜ ɭ ɧɟɜɨɥɸ…) bzw. »Mein Kaiser… mein Kaiser… in Gefangenschaft!…« (Ɇɿɣ ɐʀɫɚɪ… ɦɿɣ ɐʀɫɚɪ… ɜ ɧɟɜɨɥʀ!...) (Holubec’ 1915, 61). Auffällig ist in der Übersetzung auch die Abschwächung des Bezugs zu Frankreich, indem aus Heines Zeilen »So nimm meine Leiche nach Frankreich mit,/Begrab mich in Frankreichs Erde« die zweimalige Erwähnung des Landes getilgt ist. Es heißt hier: »Nimm den Sarg mit dir mit,/Und trag ihn in das unglückliche Land...« (Ɍɨ ɬɢ ɡɚɛɟɪɢ ɡɿ ɫɨɛɨɸ ɬɪɭɧɭ,/Ƀ ɧɟɫɢ ɞɨ ɧɟɳɚɫɧɨɝɨ ɤɪɚɸ...) (62). ýarnec’kyjs Übersetzung trägt gegenüber dem Prätext Heines den spezifizierten und bereits auf Paþovs’kyjs Zwei Siþ-Schützen vorausweisenden Titel Zwei Grenadiere (Dva grenadyri); auch hier ist entsprechend der politischen Konstellation der Bezug zu Frankreich ausgeblendet; Heines Zeile »Daß Frankreich verloren gegangen«, die von Holubec’ noch mit der Erwähnung des Landes übertragen wurde, lautet nun bei ýarnec’kyj »Über das traurige Schicksal des Heimatlandes« (Ɉɛ ɪɿɞɶɧɨɝɨ ɤɪɚɸ ɡɥɿɣ ɞɨɥʀ) (ýarnec’kyj 1917, 41). Auch die beiden weiteren Erwähnungen Frankreichs werden ähnlich wie bei Holubec’ getilgt und durch einen Appell an die Heimat ersetzt: »Nimm meinen toten Körper mit in heimatliche
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Alle hier präsentierten Textproben von Petro Karmans’kyj, Bohdan Lepkyj und Vasyl’ Paþovs’kyj, drei zentralen Vertretern einer spezifisch ukrainischen Ausformung der Moderne in Galizien, partizipieren und parasitieren gleichermaßen an zentralen Segmenten des Kanons deutscher Literatur, der auch in den galizischen Schulen am Ostrand der Donaumonarchie vermittelt wurde, sich in Zeiten politischer Umbrüche zu Beginn des 20. Jahrhunderts ganz offensichtlich aber als zunehmend problematisch erwies. Dieser um- und zurückschreibende Umgang mit stark kanonisierten Texten oszillierte bei den Autoren der »Moloda Muza« zwischen der für die zentraleuropäische slawische Moderne typischen Bestrebung, das eigene Schreiben in ein als vorbildhaft konzipiertes, supranationales Kontinuum zu integrieren und mindestens bis zu einem gewissen Grad darin aufzugehen (also einer Form der »Einflusssehnsucht«, um Harold Bloom in abgewandelter Weise zu bemühen), und dem von Tamara Hundorova skizzierten Ressentiment einer subaltern positionierten Kultur gegenüber dominant gesetzten kulturellen Entitäten. Diese Spannung, die auch eine produktive Anschlussstelle in Richtung der Postcolonial Studies eröffnet, sollte hier in aller gebotenen Kürze skizziert werden. Sie vermag auch nachdrücklich zu belegen, dass Mechanismen interkultureller Kommunikation nicht automatisch unter dem Vorzeichen von Harmonie und Gleichrangigkeit der daran beteiligten Kräfte verlaufen müssen, sondern im Gegenteil von internen hierarchischen Abstufungen und Brüchen geprägt sein können.
LITERATUR Ashcroft, Bill/Griffiths, Gareth/Tiffin, Helen 1989: The Empire Writes Back. Theory and practice in post-colonial literatures. London – New York. Bloom, Harold 1994: The Western Canon: The Books and School of the Ages. New York – San Diego – London. Bloom, Harold 1995: Einflußangst. Eine Theorie der Dichtung. Basel – Frankfurt a. M.
Gefilde,/Damit ich in meiner Heimaterde zu liegen komme« (ȼɿɡɶɜɢ ɦɟɪɬɜɟ ɬʀɥɨ ɞɨ ɪɿɞɧʀɯ ɫɬɨɪɿɧ,/ɓɨɛ ɥɹɝ ɹ ɜ ɡɟɦɥɸ ɫɜɨɸ ɪɿɞɧɭ).
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Cankar, Ivan 2008: Weiße Chrysantheme. Kritische und politische Schriften. Klagenfurt. ýarnec’kyj, Stepan 1917: V hodyni zadumy… L’viv. Eliot, T. S. 1988: Essays I. Frankfurt a. M. Genette, Gérard 1993: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt a. M. Göbner, Rolf 1998: »Ukrainische Emigrationsschriftsteller und -wissenschaftler im Deutschland der Weimarer Republik. Eine Bestandsaufnahme.« In: Rothe, Hans/Thiergen, Peter (Hg.): Polen unter Nachbarn. Polonistische und komparatistische Beiträge zu Literatur und Sprache. Köln – Weimar – Wien, S. 395-417. Goethe, Johann Wolfgang 1992: Gedichte. Stuttgart. Grabowicz, George G. 1991: »Commentary: Exorcising Ukrainian Modernism.« In: Havard Ukrainian Studies XV. 3-4, S. 273-283. Heine, Heinrich 1968: Sämtliche Schriften, Bd. 1. München. Holubec’, Mykola 1915: Iz þužyny dalekoji. Viden’. Hundorova, Tamara 1997: ProJavlennja Slova. Dyskursija rann’oho ukrajins’koho modernizmu. Postmoderna interpretacija. L’viv. Hundorova, Tamara 2008: »Postkolonial’nyj melancholijnyj ressentiment.« In: Dies. (Hg.): Jevropejs’ka melancholija. Dyskurs ukrajins’koho okcydentalizmu. Kyjiv, 103-117. Karmans’kyj, Petro 1909: Plyvem po mori t’my. L’viv. Karmans’kyj, Petro 1992: Poeziji. Kyjiv. Lachmann, Renate 1990: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt a. M. Lepkyj, Bohdan 1990: Poeziji. Kyjiv. Ljachovyþ, Zorjana 1992: »»Moloda Muza« na šljachu do modernizmu.« In: »Moloda Muza« i literaturnyj proces kincja XIX – poþatku XX stolittja v Ukrajini i Jevropi. Tezy dopovidej naukovoji konferenciji (19–20 lystopada 1992 roku). L’viv, 15-17. Moser, Michael 2004: »Die sprachliche Erneuerung der galizischen Ukrainer zwischen 1772 und 1848/1849 im mitteleuropäischen Kontext.« In: Pospíšil, Ivo/Moser, Michael (Hg.): Comparative Cultural Studies in Central Europe. Brno, 81-118. Paþovs’kyj, Vasyl’ 1984: Zibrani tvory, t. 1. Philadelphia – New York – Toronto. Pavlyþko, Solomija 1999: Dyskurs modernizmu v ukrajins’kij literaturi. Kyjiv.
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Prisovs’kyj, Jevhen 1992: »Nacional’no-patriotyþne j zahal’noljuds’ke naþala v poeziji Petra Karmans’koho.« In: „Moloda Muza“ i literaturnyj proces kincja XIX – poþatku XX stolittja v Ukrajini i Jevropi. Tezy dopovidej naukovoji konferenciji (19-20 lystopada 1992 roku). L’viv, 61-62. Rudnytzky, Leonid/Kipa, Albert 1999: »Heinrich Heine und die Ukraine: Versuch eines Überblicks.« In: Studien zu deutsch-ukrainischen Beziehungen 3. München, 18-30. Salyha, Taras (Hg.) 1992: Strilec’ka Golgofa. Sproba antolohiji. L’viv. Simonek, Stefan 1997: Ivan Franko und die »Moloda Muza«. Motive in der westukrainischen Lyrik der Moderne. Köln – Weimar – Wien. Simonek, Stefan 2000: »Zur intertextuellen Präsenz des Jungen Polen in den Gedichtbänden der Moloda Muza.« In: Besters-Dilger, Juliane/Moser, Michael/Simonek, Stefan (Hg.): Sprache und Literatur der Ukraine zwischen Ost und West. Bern, 55-69. Struk, Danylo Husar 1991: »The Journal ›Svit‹: A Barometer of Modernism.« In: Havard Ukrainian Studies XV.3-4, 245-256. Syvic’kyj, Mykola 1993: Bohdan Lepkyj. Žyttja i tvorþist’. Kyjiv. Žyla, Wolodymyr 1989: Johann Wolfgang von Goethe in der ukrainischen Literatur. München.
ANHANG I.1 Johann Wolfgang Goethe: Erlkönig Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist der Vater mit seinem Kind; Er hat den Knaben wohl in dem Arm, Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm. Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? – Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht? Den Erlenkönig mit Kron und Schweif? – Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif.
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»Du liebes Kind, komm, geh mit mir! Gar schöne Spiele spiel ich mit dir, Manch bunte Blumen sind an dem Strand, eine Mutter hat manch gülden Gewand.«
Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht, Was Erlenkönig mir leise verspricht? – Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind; In dürren Blättern säuselt der Wind.
»Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn? Meine Töchter sollen dich warten schön; Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn, Und wiegen und tanzen und singen dich ein.«
Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort Erlkönigs Töchter am düstern Ort? – Mein Sohn, mein Sohn, ich seh es genau; Es scheinen die alten Weiden so grau.
»Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt; Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.« – Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an! Erlkönig hat mir ein Leids getan! –
Dem Vater grauset’s, er reitet geschwind, Er hält in den Armen das ächzende Kind, Erreicht den Hof mit Müh und Not; In seinen Armen das Kind war tot. (Goethe 1992, 76 f.)
I.2 ɉɟɬɪɨ Ʉɚɪɦɚɧɫɶɤɢɣ: ɍɤɪɚʀɧɫɶɤɚ ɛɚɥɚɞɚ (1917) Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Goethe
Ɍɚɬɭ, ɬɭɬ ɬɿɫɧɨ! Ⱦɭɯ ɦɿɣ ɜ ɡɚɞɭɦɿ, ȼ ɝɪɭɞɹɯ ɠɟɜɪɿɽ ɜɿɱɧɚ ɝɟɽɧɚ. ȼɢɥɥɸ ɜɫɟ ɝɨɪɟ ɜ ɩɥɚɦɟɧɧɿɣ ɞɭɦɿ, ɇɚɣ ɡɚɪɢɞɚɽ Ȼɨɝ ɿ ɜɫɟɥɟɧɧɚ.
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Ƚɨɫɩɨɞɶ ɡ ɬɨɛɨɸ! Ʉɥɹɬɚ ɝɨɞɢɧɚ ɉɿɫɧɸ ɡɛɭɞɢɥɚ. Ȼɿɞɧɚ ɞɢɬɢɧɚ ... Ɍɚɬɭ, ɹ ɯɨɱɭ ɠɚɥɶ ɩɟɪɟɥɢɬɢ ȼ ɝɪɭɞɶ ɦɿɥɿɨɧɿɜ ɫɤɨɪɛɧɢɯ ɿ ɛɿɞɧɢɯ; ɏɨɱɭ ɞɨ ɫɟɪɰɹ ɥɸɞ ɦɿɣ ɬɭɥɢɬɢ, Ʉɪɨɜ’ɸ ɤɨɪɦɢɬɢ ɛɥɢɠɧɿɯ ɿ ɪɿɞɧɢɯ. ɇɚɣ ʀɯ. ɇɚ ɧɚɪɿɞ ɜɩɚɥɚ ɝɥɭɯóɬɚ, ȼ ɠɢɥɚɯ ɝɟɪɨɥɶɞɿɜ ɩɿɞɥɿɫɬɶ ɿɥɨɬɚ. Ɍɚɬɭ, ɧɟɫɢɥɚ ɜ ɩɪɨɩɚɫɬɶ ɞɢɜɢɬɢɫɶ, Ɉɱɿ ɡɚɯɨɞɹɬɶ ɤɪɨɜ’ɸ ɿ ɬɶɦɨɸ. ɏɨɱɭ ɨɝɧɟɧɧɢɦ ɫɨɧɰɟɦ ɡɚɣɦɢɬɢɫɶ, Ȼɿɥɶ ʀɦ ɫɩɚɥɢɬɢ ɫɦɭɬɤɨɦ, ɥɸɛɨɜ’ɸ. ɐɢɬɶ, ɦɨɹ ɩɟɪɥɨ! ɋɤɚɠɭɬɶ ɥɭɤɚɜɨ: »Ƚɨɪɞɢɣ! ȱ ɡɜɿɞɤɢ ɜ ɬɟɛɟ ɫɟ ɩɪɚɜɨ?« Ɍɚɬɭ, ɧɟ ɦɨɠɭ ɡɞɚɜɢɬɢ ɦɨɜɢ, ȼɫɹɤɿ ɡɦɚɝɚɧɧɹ ɧɚɲɿ ɞɚɪɟɦɧɿ. ȼ ɝɪɭɞɹɯ ɛɟɡɞɨɧɧɚ ɩɪɿɪɜɚ ɥɸɛɨɜɢ, Ɋɜɟɬɶɫɹ ɡɿ ɫɟɪɰɹ ɜɢɡɨɜ: ɧɿɤɱɟɦɧɿ! ɉɪɨɛi, ɦɿɣ ɫɢɧɭ! Ȼɪɚɬɬɹ ɩɨɱɭɸɬɶ, ɋɤɚɠɭɬɶ, ɬɢ ɘɞɚ. ȱ ɜɤɚɦɿɧɭɸɬɶ. Ⱦɚɪɨɦ. ɉɨɟɬɿɜ ɫɦɭɬɨɤ ɧɟ ɱɭɽ. ɇáɪɿɞ ɜ ɪɨɡɩɭɰɿ ɝɢɧɟ ɩɿɞ ɩɥɨɬɨɦ, ɉ’ɹɧɢɣ ɦɟɰéɧɚɫ ɜ ɤɨɪɲɦɿ ɬɨɪɝɭɽ Ʌɸɞɨɦ, ɹɤ ɜɥɚɫɧɢɦ ɩɚɫɟɧɢɦ ɫɤóɬɨɦ, ɋɟɪɰɟ ɩɨɟɬɚ ɡ ɛɨɥɸ ɜɦɢɪɚɽ ȱ ɧɚ ɦɨɝɢɥɚɯ ɡ ɜɿɬɪɨɦ ɪɢɞɚɽ. (Karmans’kyj 1992, 158 f.)
I.3. Übersetzung [Vater, hier ist es so eng! Mein Geist ist nachdenklich,/In der Brust glimmt die ewige Hölle,/Ich gieße alles Leid in ein flammendes Lied,/Mögen Gott und das All aufheulen./Gott sei mit dir! Die verfluchte Stunde hat/Das Lied geweckt. Das arme Kind...//Vater, ich möchte Mitleid hineingießen/In die Brust der Millionen von Traurigen und Armen;/Ich möchte mein Volk ans Herz drücken,/Und mit meinem Blut die Nächsten und Verwandten nähren.//Lass sie. Das Volk ist von Taubheit befallen,/In den Adern der Herolde fließt die Niedertracht des Heloten.//Vater, ich habe keine Kraft in den Abgrund zu blicken,/Die Augen füllen sich mit Blut und Dunkelheit./Ich möchte als feurige Sonne entflammen,/Ihnen den Schmerz mit Trauer und Liebe verbrennen./Still, mein Schatz! Sie
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werden hinterlistig sagen: »Du Stolzer! Woher nimmst du das Recht dazu?«//Vater, ich kann meine Worte nicht unterdrücken,/All unsere Anstrengungen sind vergebens./In der Brust fühle ich einen bodenlosen Abgrund an Liebe,/Dem Herzen entringt sich ein Schrei: Ihr Nichtswürdigen!/Genug, mein Sohn! Die Brüder werden es hören,/Und sagen: Du Judas. Und dich steinigen.//Vergeblich. Die Trauer vernimmt die Poeten nicht./Das Volk geht in Verzweiflung in der Gosse zugrunde,/Ein trunkener Anwalt handelt in der Schenke/Mit Menschen, wie mit dem eigenen Weidevieh, –/Das Herz des Dichters stirbt vor Schmerz/Und weint auf den Gräbern gemeinsam mit dem Wind.]18
II.1 Johann Wolfgang Goethe: Mignon Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn, Im dunklen Laub die Gold-Orangen glühn, Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht, Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht? Kennst du es wohl? Dahin! Dahin Möcht ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn.
Kennst du das Haus? Auf Säulen ruht sein Dach, Es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach, Und Marmorbilder stehn und sehn mich an: Was hat man dir, du armes Kind, getan? Kennst du es wohl? Dahin! Dahin Möcht ich mit dir, o mein Beschützer, ziehn.
Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg? Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg; In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut; Es stürzt der Fels und über ihn die Flut – Kennst du ihn wohl? Dahin! Dahin Geht unser Weg! O Vater, laß uns ziehn! (Goethe 1992, 88)
18 Übersetzungen von St.S.
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II.2 Ȼɨɝɞɚɧ Ʌɟɩɤɢɣ: ɇɚɲ Ɇɿɧɶɣɨɧ (1920) ɑɢ ɡɧɚɽɲ ɤɪɚɣ, ɞɟ ɤɪɨɜ, ɹɤ ɦɨɪɟ, ɥɥɽɬɶɫɹ, Ʉɭɞɢ ɧɟ ɝɥɹɧɶ – ɫɬɨʀɬɶ ɩɪɢ ɝɪɨɛɿ ɝɪɿɛ. Ⱦɢɬɢɧɚ, ɧɿɛɢ ɤɜɿɬ, ɧɿɦ ɪɨɡɿɜ’ɽɬɶɫɹ, Ɂɦɚɪɧɿɽ ɡ ɡɢɦɧɚ, ɝɨɥɨɞɭ, ɯɜɨɪɿɛ, – ɑɢ ɡɧɚɽɲ ɤɪɚɣ ɰɟɣ? Ɉ, ɬɭɞɢ, ɬɭɞɢ ɏɨɬɿɥɚ ɛ ɹ ɡ ɬɨɛɨɸ, ɦɢɥɢɣ, ɣɬɢ! ɑɢ ɡɧɚɽɲ ɞɿɦ? Ⱦɚɜɧɨ ɜ ɧɿɦ ɧɟ ɩɚɥɢɬɶɫɹ Ɉɝɨɧɶ ɜ ɩɟɱɿ; ɩɨɫɟɪɟɞ ɛɿɥɢɯ ɫɬɿɧ Ⱦɚɧɜɨ ɧɿɯɬɨ ɧɟ ɩɥɚɱɟ ɣ ɧɟ ɫɦɿɽɬɶɫɹ. əɤ ɝɪɿɛ, ɧɿɦɢɣ ɫɬɨʀɬɶ ɭ ɩɨɥɿ ɜɿɧ. ɑɢ ɡɧɚɽɲ ɞɿɦ ɰɟɣ? Ɉ, ɬɭɞɢ, ɬɭɞɢ ɏɨɬɿɥɚ ɛ ɹ ɡ ɬɨɛɨɸ, ɦɢɥɢɣ, ɣɬɢ! ɑɢ ɡɧɚɽɲ ɯɪɚɦ? ɋɬɨɪɨɳɟɧɿ ɿɤɨɧɢ, Ɉɫɤɜɟɪɧɟɧɢɣ, ɫɩɥɸɝɚɜɥɟɧɢɣ ɩɪɟɫɬɿɥ. Ɇɨɜɱɢɬɶ ɞɡɜɿɧɢɰɹ, ɛɨ ɡɚɛɪɚɥɢ ɞɡɜɨɧɢ, Ⱥ ɡ ɛɚɧɿ ɯɪɟɫɬ ɭɩɚɜ ɭ ɬɪɚɜɭ, ɧɚ ɞɿɥ. ɑɢ ɡɧɚɽɲ ɯɪɚɦ ɰɟɣ? Ɉ, ɬɭɞɢ, ɬɭɞɢ ɏɨɬɿɥɚ ɛ ɹ ɡ ɬɨɛɨɸ, ɦɢɥɢɣ, ɣɬɢ! ɑɢ ɡɧɚɽɲ ɲɤɨɥɭ? Ⱦɿɬɢ, ɩɬɚɲɟɧɹɬɚ, Ɍɢɧɹɸɬɶɫɹ ɩɨɩɿɞ ɱɭɠɿ ɩɥɨɬɢ, Ȼɨ ɲɤɨɥɚ ɜɨɪɨɝɨɦ ɬɟɩɟɪ ɡɚɣɧɹɬɚ, Ⱥ ɜɱɢɬɟɥɶɤɭ ɡɚɦɭɱɢɥɢ ɤɚɬɢ. ɑɢ ɡɧɚɽɲ ɲɤɨɥɭ? Ɉ, ɬɭɞɢ, ɬɭɞɢ ɏɨɬɿɥɚ ɛ ɹ ɡ ɬɨɛɨɸ, ɦɢɥɢɣ, ɣɬɢ! ɑɢ ɡɧɚɽɲ ɩɨɥɤ? ȼ ɪɭɲɧɢɰɹɯ ɤɭɥɶ ɧɟɦɚɽ, ɇɟɦɚɽ ɯɥɿɛɚ, ɨɞɹɝɭ, ɱɨɛɿɬ. Ɍɚ ɳɨ ɣɨɦɭ? ȼɿɧ ɤɪɚɣ ɨɛɨɪɨɧɹɽ ȼɿɞ ɜɨɪɨɝɿɜ, ɚ ɜɨɪɨɝɨɦ – ɜɟɫɶ ɫɜɿɬ. ɑɢ ɡɧɚɽɲ ɩɨɥɤ ɰɟɣ?
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Ɉ, ɬɭɞɢ, ɬɭɞɢ ɏɨɬɿɥɚ ɛ ɹ ɡ ɬɨɛɨɸ, ɦɢɥɢɣ, ɣɬɢ! (Lepkyj 1990, 303 f.)
II.3 Übersetzung [Kennst du das Land, wo Blut in Strömen fließt,/Wo Grab an Grab in dichter Reihe steht,/Ein Kind, gleich einer Blume, eh’ sie welkt,/Erfroren und krank zugrunde geht – /Kennst du dies Land?/Dahin! Dahin/Möcht ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn!//Kennst du das Haus? Schon lange brennt darin/Kein Ofen mehr, verfallen ist das Dach./Und niemand weint dort mehr, und niemand lacht –/Verwaist und traurig schimmert das Gemach./Kennst du dies Haus?/Dahin! Dahin/Möcht ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn!//Kennst du die Kirche? Zersplittert die Ikonen,/Besudelt und geschändet der Altar./Die Glocke schweigt, sie haben sie mitgenommen,/Nachdem das Kreuz vom Turm gestoßen war./Kennst du die Kirche?/Dahin! Dahin/Möcht ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn!//Kennst du die Schule? Verwaiste kleine Kinder/Irren fremd umher in Angst und Not./Der Feind ist nun der Herr der Schule,/Die Lehrerin – gefoltert, tot./Kennst du die Schule?/Dahin! Dahin/Möcht ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn!//Kennst du das Heer? Das keine Waffen,/Und weder Brot, Gewand noch Stiefel mehr erhält./Was macht das schon? Es schützt die Heimat,/Und Feind ist ihm – die ganze Welt./Kennst du das Heer?/Dahin! Dahin/Möcht ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn!]
III.1 Heinrich Heine: Die Grenadiere Nach Frankreich zogen zwei Grenadier, Die waren in Rußland gefangen. Und als sie kamen ins deutsche Quartier, Sie ließen die Köpfe hangen.
Da hörten sie beide die traurige Mär: Daß Frankreich verloren gegangen, Besiegt und zerschlagen das große Heer – Und der Kaiser, der Kaiser gefangen.
Da weinten zusammen die Grenadier Wohl ob der kläglichen Kunde. Der eine sprach: Wie weh wird mir, Wie brennt meine alte Wunde!
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Der andre sprach: Das Lied ist aus, Auch ich möcht mit dir sterben, Doch habe ich Weib und Kind zu Haus, Die ohne mich verderben.
Was schert mich Weib, was schert mich Kind, Ich trage weit beßres Verlangen; Laß sie betteln gehn, wenn sie hungrig sind – Mein Kaiser, mein Kaiser gefangen!
Gewähr mir, Bruder, eine Bitt: Wenn ich jetzt sterben werde, So nimm meine Leiche nach Frankreich mit, Begrab mich in Frankreichs Erde.
Das Ehrenkreuz am roten Band Sollst du aufs Herz mir legen; Die Flinte gib mir in die Hand, Und gürt mir um den Degen.
So will ich liegen und horchen still, Wie eine Schildwach, im Grabe, Bis einst ich höre Kanonengebrüll Und wiehernder Rosse Getrabe.
Dann reitet mein Kaiser wohl über mein Grab, Viel Schwerter klirren und blitzen; Dann steig ich gewaffnet hervor aus dem Grab – Den Kaiser, den Kaiser zu schützen. (Heine 1968, 47 f.)
III.2 ȼɚɫɢɥɶ ɉɚɱɨɜɫɶɤɢɣ: Ⱦɜɚ ɫɬɪɿɥɶɰɿ ɫɿɱɨɜɿ (1918) Ɂɚ Ƚɚɣɧɟɦ Ɂ ɋɢɛɿɪɭ ɿɲɥɢ ɞɜɚ ɋɬɪɿɥɶɰɿ ɋɿɱɨɜɿ ȼ Ƚɚɥɢɱɢɧɭ ɪɿɞɧɭ ɡ ɩɨɥɨɧɭ. Ⱥ ɹɤ ɧɚ ȼɤɪɚʀɧɭ ɞɿɛɪɚɥɢɫɶ ɠɢɜɿ, Ƚɨɥɨɜɤɢ ɫɤɥɨɧɢɥɢ ɞɨ ɫɤɨɧɭ!
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Ɂɚ ɪɚɞɿɫɬɸ ɬɪɿɫɥɨ ʀɦ ɫɟɪɰɟ ɧɚ ɜɿɫɬɶ: ɍɤɪɚʀɧɿ ɧɚ ɜɨɥɿ ɞɜɿ ɞɨɥɿ – Ⱥ ɫɹ, ɳɨ ɡɚ ɧɟʀ ɞɚɥɚ ɤɪɨɜ ɿ ɤɿɫɬɶ, Ƚɚɥɢɱɢɧɚ – ɜ ɥɹɰɶɤɿɣ ɧɟɜɨɥɿ! ȱ ɫɬɚɥɢ ɜ ɨɱɚɯ ʀɦ ɝɟɪɨʀ ɡ Ʉɚɪɩɚɬ, ɓɨ ɤɪɨɜɸ ɜɫɿ ɝɨɪɢ ɤɪɚɫɢɥɢ: Ⱥɯ, ɹɤ ɜɨɧɢ ɪɜɚɥɢɫɶ ɩɿɞ ɝɭɤɨɦ ɝɚɪɦɚɬ: Ɂɚ ɜɨɥɸ, ɡɚ ɜɨɥɸ ɳɨ ɫɢɥɢ!.. Ƀ ɡɚɩɥɚɤɚɥɢ ɪɟɜɧɨ ɋɬɪɿɥɶɰɿ ɋɿɱɨɜɿ, Ⱥ ɨɞɢɧ ɡ ɧɢɯ ɤɚɠɟ ɞɪɭɝɨɦɭ:
»Ȼɨɥɢɬɶ ɦɟɧɟ ɪɚɧɚ, ɹɤ ɥɹɠɭ ɜ ɪɨɜɿ, ȼɨɡɶɦɢ ɦɨɝɨ ɬɪɭɩɚ ɞɨ ɞɨɦɭ!« Ⱥ ɞɪɭɝɢɣ ɡ ɧɢɯ ɤɚɠɟ: »Ɉ, ɞɪɭɠɟ ɬɢ ɦɿɣ, ə ɪɚɞɛɢ ɡ ɬɨɛɨɸ ɜɦɿɪɚɬɢ – Ɍɚ ɜ ɦɟɧɟ ɞɪɭɠɢɧɚ, ɞɢɬɢɧɚ ɜ ɬɹɠɤɿɣ ɇɭɠɞɿ ɛɭɞɭɬɶ ɜɿɤ ɤɨɪɨɬɚɬɢ!« –
»Ɍɚ ɳɨ ɦɟɧɿ ɠɿɧɤɚ, ɬɚ ɳɨ ɦɟɧɿ ɫɢɧ, – əɤ ɛɚɬɶɤɨ ɧɟ ɜɢɛɨɪɨɜ ɞɨɥɿ, ɏɚɣ ɠɟɛɪɚɸɬɶ ɯɥɿɛɚ ɜ ɥɸɞɟɣ ɩɨɩɿɞ ɬɢɧ – Ƚɚɥɢɱɢɧɚ ɧɚɲɚ ɜ ɧɟɜɨɥɿ! Ɍɨɣ ɬɭɫɤ ɦɟɧɿ ɜ ɫɟɪɰɟ ɹɤ ɝɚɞɢɧɚ ɜɪɿɫ, Ɇɟɧɿ ɜɿɧ ɲɦɚɬɭɽ ɭɬɪɨɛɭ – əɤ ɜɦɪɭ ɹ, ɦɿɣ ɞɪɭɠɟ, ɜɥɨɠɢ ɦɟɧɿ ɤɪɿɫ ȱ ɲɚɛɥɸ ɣ ɪɭɱɧɢɰɸ ɞɨ ɝɪɨɛɭ! Ⱥ ɯɪɟɫɬ ɡɨɥɨɬɢɣ, ɳɨ ɩɚɥɢɬɶ ɦɟɧɿ ɝɪɭɞɶ, ȼɨɡɶɦɢ ɬɚɦ ɿ ɤɢɧɶ ʀɦ ɭ ɜɿɱɢ, ɏɚɣ ɡɧaɸɬɶ, ɳɨ ɡɨɥɨɬɨɦ ɞɭɯɚ ɧɟ ɣɦɭɬɶ ȱ ɩɪɢɣɞɟ ɞɟɧɶ ɧɨɜɨʀ ɫɿɱɿ! ə ɠɞɚɬɢɦɭ ɜ ɝɪɨɛɿ ɧɚ ɱɚɬɚɯ ɛɟɡ ɫɧɭ, – Ⱥɠ ɜ Ʉɢʀɜɿ ɬɪɭɛɢ ɡɚɝɪɚɸɬɶ, Ɂɚɬɪɭɛɥɹɬɶ ɞɨ ɛɨɸ ɡɚ Ƚɚɥɢɱɢɧɭ, Ƚɚɪɦɚɬɢ ɜɿɞ ɤɭɥɶ ɡɚɥɭɧɚɸɬɶ!
A NSCHREIBEN
GEGEN DEN
K ANON : »M OLODA M UZA« | 255
ȱ ɤɿɧɶ ɡ ɍɤɪɚʀɧɢ ɨɛ ɝɪɿɛ ɡɚɞɭɞɧɢɬɶ, Ɍɨɞɿ ɹ ɡɿɪɜɭɫɹ ɿ ɜɫɬɚɧɭ – ȱɡ Ʉɢʀɜɨɦ ɡɟɦɥɸ ɪɿɞɧɭ ɡɥɭɱɢɬɶ, Ƚɚɥɢɱɢɧɭ ɧɚɲɭ ɤɨɯɚɧɭ!« (Paþovs’kyj 1984, 571 f.)
III.3 Übersetzung [Aus Sibirien kehrten zwei Siþ-Schützen/In das heimatliche Galizien aus der Gefangenschaft zurück./Aber als sie sich lebend in die Ukraine durchgeschlagen hatten,/Ließen sie tief ihre Köpfe hängen.//Vor Freude hüpfte ihnen das Herz bei der Nachricht:/Die Ukraine ist zu zwei Teilen befreit –//Aber Galizien, für das sie ihr Blut und ihre Knochen hingaben,/Ist in polnischer Gefangenschaft!//Und vor den Augen standen ihnen die Helden aus den Karpaten auf,/Die mit Blut die Berge rot gefärbt hatten:/Ach, wie sie unter dem Donnern der Geschütze gekämpft hatten:/Für die Freiheit, mit aller Kraft für die Freiheit!...//Und die Siþ-Schützen begannen bitter zu weinen,/Und einer von ihnen sagt zum anderen:/»Mich schmerzt die Wunde, wenn ich im Graben liege,/Bring meinen Leichnam nach Hause.«//Und der zweite von ihnen sagt: »O mein Freund,/Ich würde gerne mit dir sterben,/Aber Frau und Kind werden ewig/In schwerer Not leben!« –//»Was bedeuten mir Frau und Sohn, –/Wenn der Vater nicht die Freiheit erkämpft hat,/Sollen sie doch bei den Leuten ohne Zuhause um Brot betteln,/Unser Galizien ist in Gefangenschaft!//Diese Angst wuchs mir im Herzen wie eine Schlange,/Sie reißt mein Inneres in Stücke –/Wenn ich sterbe, mein Freund, so lege mir das Gewehr,/Den Säbel und die Flinte in das Grab!//Und das goldene Kreuz, das mir auf der Brust brennt,/Nimm mit und wirf es ihnen ins Gesicht,/Mögen sie wissen, dass man mit Gold den Geist nicht fangen kann/Und dass der Tag einer neuen Schlacht kommen wird!//Ich werde in meinem Grab ohne zu schlafen auf der Lauer liegen, –/Bis in Kiew die Fanfaren erklingen/Und für den Kampf um Galizien ertönen werden,/Und die Geschütze von den Granaten widerhallen.//Und wenn das Ross aus der Ukraine das Grab zum Erzittern bringt,/Dann werde ich mich losmachen und aufstehen –/Um die Heimaterde mit Kiew zu vereinigen,/Unser geliebtes Galizien!«]
Konkurrierende und konvergierende Narrative zur Geschichte der Stadt Lemberg Berichte über die Belagerung von 1648 A LOIS W OLDAN
Die Geschichte der Stadt Lemberg in der frühen Neuzeit ist an dramatischen Szenen reich, von denen einige auch im ›Text‹ dieser Stadt, wenn man unter diesem Begriff die Fülle von Einzeltexten über Lemberg zusammenfassen möchte, ein deutliches Echo gefunden haben. Dazu gehört vor allem die erste Belagerung der Stadt durch die Kosakenheere Bohdan Chmel’nyc’kyjs 1648 im Zug des bekannten Aufstands, eines »nationalen Befreiungskrieges« laut ukrainischer historischer Terminologie, der aus polnischer Sicht eher als Rebellion gegen die polnische Herrschaft in der Ukraine und Abspaltung von der Rzecz Pospolita verstanden wird. Wir finden dazu Texte polnischer, jüdischer und ukrainischer Autoren, zunächst von Zeitgenossen aus dem frühen 17. Jahrhundert, dann aber mehr als 200 Jahre später in populärwissenschaftlichen Darstellungen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Im Rahmen unserer Thematik stellt sich bei der Lektüre dieser Berichte die Frage nach deren ideologischer Ausrichtung, nach dem Zusammenhang von Ideologie und ethnischer Zugehörigkeit der Verfasser, aber auch nach der Sprache als dem Code, in dem eine je unterschiedlich akzentuierte Botschaft zur Sprache gebracht wird. Der historische Sachverhalt ist einigermaßen leicht zu rekonstruieren: Anfang Oktober 1648 begann Chmel’nyc’kyj mit einer ziemlich großen Streitmacht von ca. 200.000 Mann die Belagerung Lembergs,
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das kurz vorher von den letzten Einheiten der polnischen Kronarmee verlassen worden war; die Stadt war schlecht befestigt und unzureichend verteidigt, man musste also mit den Kosaken verhandeln; gegen ein gewaltiges Lösegeld – die Angaben zu dessen Höhe divergieren – erklärten sich Chmel’nyc’kyj und der mit ihm verbündete Khan der Tataren, Tuhaj Bej, bereit, etwa 20 Tage später die Belagerung aufzuheben und zogen in Richtung Nordwesten ab. Während der Belagerung wurden nicht nur die Vorstädte geplündert und zerstört, sondern auch wichtige Orte, die heute mitten in der Stadt liegen, sich damals aber außerhalb der Mauern befanden, wie das Hohe Schloss (pln. Wysoki Zamek, ukr. Vysokyj Zamok). Den ersten systematischen Bericht darüber findet man in der Chronik der Stadt Lemberg des Denis Zubrzycki (Zubrzycki 1844), deren Verfasser sich bei seiner Darstellung auf Augenzeugenberichte stützt. Zubrzyckis Chronik ist polnisch verfasst, die ukrainische Übersetzung dieses Buchs bemüht sich im Vorwort zu zeigen, dass Zubrzycki ein Ukrainer gewesen sei (Zubryc’kyj 2006: IIIff.) – auch in der Historiographie stellt sich die Frage nach der Differenz zwischen der nationalen Zugehörigkeit eines Autors und der Wahl seiner Schriftsprache. In Bezug auf dieses Ereignis soll zunächst ein Text herangezogen werden, der nie als historisches Dokument galt und aus diesem Grund auch für die ideologiekritische Analyse von besonderem Interesse ist; dessen Verfasser, Józef Bartłomiej Zimorowic (1597-1677), galt immer als polnischer Autor1, inzwischen ist er, nicht nur was sein lateinisches Werk betrifft, auch von der ukrainischen Kulturgeschichte vereinnahmt worden2. Zimorowic, der es in Lemberg vom Maurermeister bis zum Bürgermeister brachte, schrieb seine wissenschaftlichen Werke in Latein, seine Dichtung in Polnisch. Er ist der Verfasser der ersten Stadtgeschichte von Lemberg, Leopolis triplex (um 1660), die allerdings bis Ende des 19. Jahrhunderts nie im Druck erschien3 und die
1
So gut wie jede Geschichte der polnischen Literatur nennt ihn als wichti-
2
So finden sich in der Anthologie Ukrajins’ki humanisty epochy Vid-
gen Vertreter des polnischen Barock. rodžennja (Ukrainische Humanisten der Renaissance) auch Texte von Zimorowic’ in ukrainischer Übersetzung ohne jeden Hinweis auf die polnische Originalfassung. (Zimoroviþ 1995, 225) 3
Die bislang beste Ausgabe dieser Chronik findet sich in Heck 1899; seit 2002 gibt es auch eine Übersetzung ins Ukrainische. (Zimoroviþ 2002)
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nicht bis zum Jahr 1648 geführt wird (vgl. Heck 1899), sowie einer ausführlichen Beschreibung über die Türkenbelagerung von 1672, Leopolis a Turcis, Tartaris, Cosacis, Moldavis anno 1672 obessa. (Heck 1899) Einen Bericht über die Ereignisse von 1648 finden wir jedoch dort, wo wir ihn am wenigsten vermuten – in Zimorowic’ Idyllen. 1663 erschienen in polnischer Sprache seine Neuen Ruthenischen Idyllen (Sielanki nowe Ruskie), ein Zyklus von 17 Idyllen, die in antiker Tradition mit Antiidyllen angereichert sind – Nr. 15 Kosaken-Umtriebe (Kozaczyzna) und Nr. 16 Ruthenischer Aufruhr (Burda ruska) werfen ein interessantes Licht auf die Ereignisse von 1648. In beiden Stücken kommen drei Vertreter der Lemberger Oberschicht zur Sprache, welche die Gräuel der Belagerung überlebt haben – schon von ihren Namen her sind diese drei, die eindeutig dem Herren- und nicht dem Dienerstand angehören, keine Polen: Dorosz, Ostafi, Wojdyłło sind Namen, die aufgrund ihrer Lautung und Morphologie als ukrainisch gelten können. Wojdyłło sucht wie viele andere griechisch-katholische Bürger Lembergs sein Heil nicht in der überfüllten Stadt, sondern in der Klosteranlage auf dem Georgshügel, in der Annahme, dass »gleicher Glaube, gleiche Taufe und gleiches Sakrament« (Raczej, iĪ są Kozacy jednej z nami wiary, / jednegoĪ zaĪywamy chrzestu i ofiary, Zimorowic 1999, 149) die orthodoxen Kosaken davon abhalten würde, diesen Zufluchtsort zu stürmen. Es passiert genau das Gegenteil, die Kosaken brechen in Kloster und Kirche ein, verhöhnen den Abt, richten ein Blutbad an, graben sogar die Toten auf dem Friedhof aus.4 Der Erzähler überlebt nur, weil er von einem Tataren gefangen und später gegen Lösegeld freigekauft wird. Ostafis Leidensgeschichte ist mit einem zweiten Gedächtnisort von 1648 verbunden, dem Hohen Schloss. Er hat dort Zuflucht gefunden und nimmt aktiv an der Verteidigung der Festung teil, muss aber feststellen, dass die Vorräte immer weniger werden und die Besatzung immer häufiger zu den Feinden überläuft. Nachdem die Feste eingenommen ist – hier fällt auch der Name des Eroberers Maksym Kryvo-
4
Laut Ivan Franko, der über 40 literarische Berichte zur Belagerung Lembergs 1648 untersucht hat, ist diese, für die Kosaken wenig rühmliche Episode erfunden, weil sie nur von Zimorowic, sonst aber von niemandem berichtet wird. (Franko 1981, 239ff.)
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nis, dessen Denkmal heute im mittleren Teil des Schlossbergs zu sehen ist, – droht auch Ostafi, von den Kosaken als Ruthene erkannt, ein grausames Ende, würde er nicht von einem Tataren für den Sklavenmarkt gekauft. Seine Schilderung der Einnahme des Hohen Schlosses endet mit einem Hinweis auf die fatalen Folgen dieses Konflikts, welche den ursprünglichen Gegensatz zurücktreten lassen: Nicht nur die Polen, Hauptfeind der Kosaken, seien die Leidtragenden in diesem blutigen Krieg, sondern die Rus als Ganze: »Schon ist fast die Hälfte der Ruthenen umgekommen, ihre Ländereien stehen zum größten Teil leer« (JuĪ to Rusi zginĊła niemal polowica / po wiĊkszej czĊĞci pusta stoi ich ziemica, Zimorowic 1999, 157). Das Land ist verwüstet, die Bauernhäuser sind leer, die Sklavenmärkte in Stambul aber voll von ruthenischen Gefangenen; und die »heilige östliche Kirche« (wschodnia cerkiew ĞwiĊta, Zimorowic 1999, 157), für die man in den Krieg gezogen ist, wird leer sein, wenn so viele ihrer Gläubigen umgekommen sind. In der 16. Idylle kommt der Dritte der drei Freunde zu Wort, Dorosz, der die Ereignisse aus der Sicht der in der Stadt Eingeschlossenen schildert. Auch er, der in den Augen der Freunde zu den Polen übergelaufen ist, deklariert sich über seine religiöse Zugehörigkeit als Ruthene, kann aber angesichts der Untaten, die seine Glaubensgenossen angerichtet haben, Zweifel an der gemeinsamen Kirche, die so unterschiedliche Kinder hervorgebracht hätte, nicht unterdrücken: [Unsere Mutter ist die allgemeine Kirche, dieser Mutter Kinder/als ich sie sah, tausendmal schlimmer als die Heiden,/eine Ausgeburt, wurden mir zum Verdruss/Ich muss mich (verzeiht mir) einer solchen Mutter schämen.] »Matka nasza jest Cerkiew powszechna, tej matki/Widząc tysiąckroü gorsze nad pogany dziatki,/Musiałem sobie bractwo tych wyrodków zbrzydziü,/MuszĊ siĊ matki takiej (odpuĞcie mni) wstydziü.« (Zimorowic 1999, 164)
Mit Dorosz’ Erzählung bekommen die Ereignisse um die Belagerung Lembergs eine deutlich apokalyptische Färbung: Der Weltenbrand ist in den Brandschatzungen vorweggenommen und der Antichrist, der sich vor dem Jüngsten Gericht zeigt, wird mit den Kosaken und Tataren in Verbindung gebracht:
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[Der Feind Christi selbst, das glaub’ ich zutiefst,/nimmt sich die Kosaken samt den Tataren zu Gesellen,/denn keine Ungeheuer der Hölle samt den Teufeln/können schlimmer sein als diese beiden Kumpane.] »Sam przeciwnik Chrystusów, nawiĊcej ja wierzĊ,/W towarzystwo Kozaków z Tatary nabierze,/Bowiem Īadne furyje piekielne z szatany/Gorsze juĪ byü nie mogą nad te dwa kompany.« (Zimorowic 1999, 172)
Von seiner ideologischen Ausrichtung ist der Text des polnischen Autors Zimorowic eindeutig gegen den Aufstand der Kosaken gerichtet – auch wenn bisweilen die Frage nach dem sozialen Unrecht als Motiv für den Aufstand angesprochen wird, so hat sich dieser doch durch die verübten Grausamkeiten selbst diskreditiert. Um diese Kritik besonders effektvoll zu gestalten, führt der Autor ruthenische Sprecher ein, die mit dem Zeugnis der eigenen leidvollen Erfahrung quasi von innen die Sinnlosigkeit dieses Krieges entlarven. Es gibt bei Zimorowic keinen gemeinsamen ethnischen Überbegriff für Ruthenen und Kosaken (wie etwa das moderne ›Ukrainisch‹ es wäre), es gibt aber einen gemeinsamen religiösen Nenner – die ›allgemeine Kirche‹ (Cerkiew powszechna) als die Gemeinschaft aller im byzantinischen Ritus verwurzelten Christen. Die Trennlinie zwischen Freund und Feind verläuft also nicht – so wie gegenüber den katholischen Polen – über die Konfession, sondern über die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stand (die Protagonisten sind Herren und werden als solche Opfer ihrer rebellierenden Diener) und über die Zugehörigkeit zu einer lokal definierten Gruppe: Auch die ruthenischen Herren sind Bürger der ›civitatis Leopoliensis‹, sie sind Bewohner der Stadt, die sich gegen einen Ansturm von außen, gegen die Horden vom Land, Kosaken, Bauern und Tataren, die allesamt nicht dieser städtischen Gemeinschaft angehören und sie vernichten wollen, zur Wehr setzen müssen. Der Krieg zwischen Herren und Knechten, Polen und Ukrainern, Katholiken und Orthodoxen, ist also auch ein Krieg zwischen Stadt und Land. Für die Gruppe der ›cives Leopolienses‹ scheint das Polnische der angemessene Code zu sein, nicht nur aus historischen Gründen (etwa ab 1500 setzte sich in der Stadtverwaltung Polnisch durch), sondern auch aus ideologischen: Eine Stadt, die dem polnischen Staat ihr
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»semper fidelis«5 zugesagt hat, setzt sich auch sprachlich von einer diesem Staat feindlichen, anderssprachlichen Übermacht ab. Zimorowic’ Text zeigt, wie sehr sich das Polnische als Code für alle Bürger der Stadt anbietet, ganz gleich, welcher ethnischen Zugehörigkeit sie sind. So wie die Notwendigkeit der Verteidigung der Stadt alle ihre Bürger eint, so lässt sich das Polnische als der entsprechende Code dieser Erzählung von der bestandenen Probe verstehen. In dieser belletristischen Schilderung übergeht der Autor allerdings eine Gruppe der Lemberger Bevölkerung mit Schweigen – die Lemberger Juden. Zimorowic kannte diese Gruppe bestens, er hat ihr in seiner Leopolis triplex ausführliche, wenn auch abträgliche Bemerkungen gewidmet. Wir wissen aus anderen historischen Quellen, dass die Auslieferung der Juden eine der wichtigsten Forderungen der Kosaken an die belagerten Städte war und dass die Lemberger Juden nicht ausgeliefert wurden – warum der Autor von diesem Wissen nicht Gebrauch gemacht hat, bleibt unklar. Genau diesen Umstand akzentuiert ein jüdisches Dokument aus jener Zeit, das Buch Jawen Mezula. Schilderung des polnisch-kosakischen Krieges und der Leiden der Juden während der Jahre 1648 – 1653 des Krakauer Rabbiners Nathan Neta, das in hebräischer Sprache in Venedig 1653 erschienen war (Benjamin 1863, IV); die russische Übersetzung, die zwanzig Jahre später angefertigt wurde, schreibt dieses Werk einem »Natan Hannover, Juden und Zeitgenossen« (Natan Gannover, evrej-sovremennik, Gannover 1883) zu. Die Übersetzung ins Deutsche ist zwanzig Jahre älter und scheint aufgrund der Texttradition zuverlässiger zu sein, wenngleich es auch hier offensichtlich zu Missverständnissen gekommen ist. So werden die Kosaken durchwegs als »Griechisch-Katholisch(e)« bezeichnet (Benjamin 1863, XIIf.), was natürlich nicht zutrifft – die Kosaken waren immer erbitterte Gegner der Union. Ansonsten kann aber diese Übersetzung mit beeindruckenden Fakten aufwarten, die eine wichtige Ergänzung zur bisher geschilderten Erzählung bilden – schon mit dem Titel, den man mit »aus tiefster Bedrängnis« übersetzen könnte, ist eine gewisse Nähe zu den erwähnten polnischen Texten gegeben, apokalyptische Vorstellungen finden sich auch in diesem hebräischen Text. Bereits in seiner Vorrede
5
Anna Veronika Wendland zeigt, dass dieser Wappenspruch des polnischen Lemberg auch von der ukrainischen Seite übernommen wurde (Wendland 2002).
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leitet der Verfasser aus dem Zahlenwert des Namens Chmel’nyc’kyj einen Hinweis auf jene Schrecken ab, die der Ankunft des Messias vorausgehen. (Benjamin 1863, XIIIf.) Auch die von den Kosaken verübten Grausamkeiten decken sich oft bis ins Detail mit jenen, die der polnische Autor bzw. seine ruthenischen Erzähler berichten. Bei der Belagerung Lembergs erwähnt auch der jüdische Augenzeuge die Eroberung des Hohen Schlosses und die wenig später aufgenommenen Verhandlungen. Durch eine enorme Summe von 200.000 Golddukaten, die nur aufgebracht werden kann, weil alle, »Juden und Edelleute«, ihr Letztes geben, kann Chmel’nyc’kyj zum Abzug bewogen werden. Dahinter verbirgt sich aber eine religiöse Erklärung dieses günstigen Ausgangs, die deutlich macht, dass es nicht das Geld allein war, das die Kosaken zum Abzug bewog: »Dank dem Herrn, daß er sich über Israel erbarmte, das dort zu Tausenden und Zehntausenden wohnte, die alle große Gelehrte waren. Sie taten Buße, bis ihr Wehklagen zur Höhe stieg und der Herr in die Herzen der Schelme den Gedanken legte, mit ihnen Frieden zu schließen.« (Benjamin 1863, 40)
Auch Nathan Neta berichtet im Fall der Belagerung Lembergs nichts von der Forderung Chmel’nyc’kyjs, die Juden auszuliefern – genau diese Forderung der Kosaken wird aber zum Prüfstein für das Geschick anderer Städte aus der Umgebung, deren Schicksal der Verfasser sehr genau kennt: so wäre in Niemirow die polnische Bevölkerung auf die Forderung der Kosaken eingegangen und hätte die Juden ausgeliefert – und sei dann erst recht niedergemacht worden. (Benjamin 1863, 18f.) In Tulczyn hätten Juden und Polen zunächst gemeinsam die Kosaken zurückgeschlagen, bis sich die Polen dazu überreden ließen, die Habe der Juden auszuliefern – beide Seiten hätte derselbe grausame Tod ereilt. (Benjamin 1863, 21f.) Nur in Lemberg und PrzemyĞl hätte es echte Solidarität gegeben, man hätte mit einem gemeinsam aufgebrachten Lösegeld den Feind zum Abzug bewegt. Allerdings ist, wie der Verfasser schon im Vorwort erwähnt, diese von der Not diktierte Allianz von Polen und Juden ganz und gar nicht typisch für das Verhältnis beider Gruppen im Allgemeinen: »In den Zeiten der Noth und Gefahren drückt man Israel brüderlich die Hand und ladet es ein, mit Gut und Leben gegen den Feind einzustehen, – ist aber der Feind durch seine Hilfe mit zurückgeschlagen, dann hat mit der Noth auch die
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brüderliche Gesinnung ein Ende und Israel ist der zu Erniedrigung und Steuerzahlung verurtheilte Fremdling wieder.« (Benjamin 1863, IV)
Die ideologische Ausrichtung dieses jüdischen Textes ist ähnlich wie die des polnischen – der Aufstand der Kosaken wird mit aller Entschiedenheit verurteilt, deren Grausamkeiten lassen diesen Krieg zu einem Vorspiel des Weltendes und damit zu einer letzten großen Prüfung für das auserwählte Volk werden. Ebenso erinnert die Konzentration der dargestellten Ereignisse auf Stadtgeschichte – die meisten der Kapitel des Buches sind mit den Namen der belagerten und eroberten Städte überschrieben, die großen Feldschlachten werden nur knapp erwähnt – an die polnischen Idyllen. Auch die jüdische Narration entspringt einer urbanen Situation, ist eine Erzählung von ›innen‹, aus der Sicht der jüdischen Stadtbewohner, die in allen Städten dieser Gegend auf engstem Raum mit anderen ethnischen Gruppen zusammenleben, solange keine fundamentale Bedrohung von außen sie in ihrem Bestand gefährdet. Die gemeinsame Situation der Not in der Stadt kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es keine echte Gemeinsamkeit mit den polnischen Nachbarn gibt, das Schicksal der Juden in dieser Zeit der Bedrängnis ist spezifisch und die hebräische Sprache ist ein Ausdruck dafür. So ist denn dieser Bericht ursprünglich auch nur für jüdische Zeitgenossen gedacht, zur Ermahnung, Erinnerung, aber auch religiösen Belehrung (die heilsgeschichtliche Dimension der Ereignisse ist nur für gläubige Juden verständlich). Polnisch käme aus diesem Grund für eine derart wichtige Narration sicher nicht in Frage. Sucht man nach einer ukrainischen Erzählung über jene Zeit, so wird man auf die älteste der sog. »Kosakenchroniken« stoßen, die Chronik eines Augenzeugen (Litopys samovydcja) aus dem späten 17. Jahrhundert, die 1846 das erste Mal im Druck erschien. Die Belagerung Lembergs wird dort allerdings nur mit einem einzigen Satz erwähnt: [Chmel’nyc’kyj zog mit seinen Heeren und den Tataren oder den großen Horden geradewegs gegen Lemberg, sie verwüsteten alle Städte, und als sie vor Lemberg angekommen waren, verwüsteten sie, nur die Stadt Lemberg selbst gab ein Lösegeld.]
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»ɏɦɟɥɧɢɰɤɿɣ ɡ ɫɜɨʀɦɢ ɜɨɣɫɤɚɦɢ ɢ ɬɚɬɚɪɦɢ ɢɥɢ ɫ ɨɪɞɚɦɢ ɜɟɥɢɤɢɦɢ ɩɪɨɫɬɨ ɤɭ Ʌɜɨɜɭ ɩɨɬɹɝɥɢ, ɩɭɫɬɨɲɢɥɢ ɭɫɿ ɝɨɪɨɞɢ, ɢ ɩɨɞ ȱɥɜɨɜ ɩɨɞɫɬɭɩɢɜɲɢ, ɩɨɩɭɫɬɨɲɢɥ, ɬɢɥɤɨ ɫɚɦɿɣ ɝɨɪɨɞ Ʌɜɨɜ ɨɤɭɩ ɡɚ ɫɟɛɟ ɞɚɥ.« (Dzyra 1971, 53)
Das verweist auf einen fundamentalen Unterschied in der Sichtweise: aus der Sicht von außen, im Rahmen des Berichts über die gewaltige Bewegung des Volksaufstands, ist die Belagerung einer einzelnen Stadt nur eine Episode. Im Rahmen dieses Berichts über den »Krieg des Jahres 1648« (ȼɨɣɧɚ ɫɚɦɚɹ ɪɨɤɭ 1648, Dzyra 1971, 49) wird auch die Frage nach dessen Ursachen gestellt, die der Autor am Beginn seiner Erzählung ausführlich behandelt; schuld daran ist vor allem die polnische Oberschicht in der Ukraine, die systematisch die Rechte und Freiheiten der Kosaken verletzt hätte. Aber auch die Juden werden aus der Sicht des Verfassers dafür verantwortlich gemacht – sie hätten, als Handlanger der polnischen Herren, durch Pachtgebühren und Wucherzinsen zur Verarmung der ukrainischen Bevölkerung beigetragen. In diesem Zusammenhang werden auch konfessionelle Unterschiede akzentuiert, vor allem der zwischen griechisch-katholisch und orthodox: ganz im Unterschied zum Erzähler von Zimorowic, der sich auf einen gemeinsamen Glauben und eine gemeinsame östliche Kirche beruft, betont der Verfasser der Chronik – ganz im Sinn der Ideologie der Kosaken – einen nicht zu überbrückenden Gegensatz zwischen diesen beiden Formen eines byzantinischen Christentums. Die Unterdrückung der Orthodoxie durch Unierte und Katholiken ist in seinen Augen ein weiterer Grund für den Ausbruch des Krieges, und in den Überläufern aus den eigenen Reihen ortet er die größten Feinde der Ukrainer: »Aber das schlimmste Gespött und die Unterdrückung erlitt das ruthenische Volk von denen, die vom ruthenischen Glauben den römischen angenommen hatten« (Ⱥ ɧɚɣɝɨɪɲɨɟ ɧɚɫɦɿɜɿɫɶɤɨ ɢ ɭɬɢɫɤɢ ɬɟɪɩɿɥ ɧɚɪɨɞ ɪɭɫɤɿɣ ɨɬ ɬɢɯ, ɤɨɬɨɪɿʀ ɡ ɪɭɫɤɨɣ ɜɿɪɢ ɩɪɢɧɹɥɢ ɪɢɦɫɤɭɸ ɜɿɪɭ, Dzyra 1971, 51). Es verblüfft aber, dass diese Erzählung eines gebildeten Mannes aus der Kanzlei Chmel’nyc’kyjs ebenso die Eskalation der Gewalt bedauert wie der polnische Bericht, dass der anonyme Autor in Bezug auf die Leiden der Juden in manchen Details mit der hebräischen Erzählung übereinstimmt (eher äußert er Mitgefühl als Rachegelüste), dass auch hier apokalyptische Töne anklingen und dieser Krieg als eine Strafe Gottes empfunden wird. Die heidnischen Tataren schließlich,
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die von den Kosaken als strategischer Partner im Krieg mit Polen dringend gebraucht werden, werden als Feinde der Christenheit äußerst negativ charakterisiert, ein Bündnis mit ihnen ist dem Verfasser immer suspekt. (Vgl. Dzyra 1971, 60) Im Hinblick auf diese Details konvergieren – ungeachtet der Außenperspektive – ukrainische, polnische und jüdische Narrationen. Mehr als 200 Jahre später kommt es im literarischen Leben Galiziens zu einem deutlichen Rückgriff auf die Ereignisse von 1648, der sich einmal mehr in sprachlich unterschiedlichen Narrativen abspielt. Von polnischer Seite ist hier vor allem Ludwik Kubala (1838-1918), passionierter Amateurhistoriker, zu nennen, unter dessen Historischen Skizzen (Szkice historyczne, 1880) sich auch eine Erzählung befindet, die der Belagerung Lembergs gewidmet ist: Die Belagerung Lembergs im Jahr 1648 (OblĊĪenie Lwowa w roku 1648, Kubala 1909). Kubala macht für seine Leser Geschichte lebendig, indem er historische Fakten in belletristischer Form vermittelt – die Gattung der Erzählung eignet sich hierfür am besten. Er führt am Ende seines Textes alle verwendeten Quellen an, Augenzeugenberichte aus der Chronik von Zubrzycki u.a., mit einer Ausnahme – den beiden erwähnten Idyllen von Zimorowic. Liest man seinen Bericht von der Erstürmung der Georgskathedrale bzw. des Hohen Schlosses, so steht der Bezug unter anderem auch auf diese beiden Idyllen außer Zweifel; offenbar galt Zimorowic nicht als historische Quelle, die zitiert werden musste, ließ sich aber als Material für die belletristische Bearbeitung gut gebrauchen. Kubala illustriert polnische Geschichte, erzählt aus deren Blickwinkel und muss also auch die fehlende Unterstützung der Stadt durch die Truppen der Krone erklären. Er beschönigt nicht den Abzug der polnischen Truppen kurz vor dem Aufmarsch der Belagerer, einen Abzug, der von jenem Jeremia WiĞniowiecki befohlen wird, der kurz zuvor in der Lemberger Bernhardiner-Kirche zum neuen Feldhetman gewählt und auch von Seiten der Stadt mit großen Geldmitteln ausgestattet worden war, um Lemberg zu verteidigen. Was die Figur WiĞniowieckis angeht, wurde Kubala wenige Jahre später von Henryk Sienkiewicz im ersten Band seiner historischen Trilogie, Mit Feuer und Schwert (Ogniem i mieczem, 1883/84) korrigiert6 (ansonsten benutzte
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In Kap. 9 des Teils II seines Romans schildert Sienkiewicz die Wahl WiĞniowieckis zum Oberbefehlshaber im Kampf gegen Chmel’nyc’kyj,
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Sienkiewicz Kubalas Historische Skizzen gern), der diesen polnischen Adeligen im Widerspruch zur historischen Wahrheit glorifizierte. Die Verteidigung Lembergs ist in Ogniem i mieczem nicht geschildert, nicht nur, weil sie nicht zur Apotheose WiĞniowieckis gepasst hätte, sondern auch aus dem Grund, weil Sienkiewicz’ Roman keine Stadterzählung ist. Es geht dort um den Krieg gegen Chmel’nyc’kyj, der das ganze Land erfasst hat und der, um in seiner ganzen Breite dargestellt werden zu können, an den verschiedensten Orten und in großen Feldschlachten geschildert wird. Demgegenüber ist Kubalas Skizze eine ›Stadterzählung‹, die die Belagerung Lembergs von ›innen‹, aus der Sicht der Belagerten, erzählt. In den Blickwinkel der Stadtgeschichte passt auch die Legende vom (inzwischen) Heiligen Jan v. Dukla, die Kubala überliefert: Beim ersten großen Sturm, den die Stadt wohl nicht überstanden hätte, sei der Heilige auf den Wolken des Himmels erschienen und hätte die Feinde zum Rückzug bewegt. (Kubala 1909, 19f.) ›Beweis‹ für diesen Glauben ist die Statue des Heiligen, die zu Zeiten Kubalas vor der Bernhardiner-Kirche stand7, und die Inschrift auf deren Sockel, die an diese Rettung gemahnte. Die eigentliche Rettung der Stadt erfolgt in dieser Erzählung durch die Verhandlungen mit Chmel’nyc’kyj und Tuhaj-Bej sowie durch einen für die Stadt äußerst günstigen Tauschhandel: Statt der fehlenden Geldmengen kann man vor allem die beutegierigen Tataren mit Wertgegenständen aus Kirchen und Privathäusern, die von Kommissaren requiriert werden, abfinden. Bei der Nennung der Unterhändler, die mit dem Gegner verhandeln, wird erstmals deutlich, dass die Stadt auch andere als polnische Bürger hat: es gibt eine armenische und eine ruthenische Gruppe in dieser Delegation. (Kubala 1909, 25) Von den Juden war zuvor schon die Rede, als sich die Stadtverwaltung weigerte, die jüdischen Bürger auszuliefern. (Kubala 1909, 24) Das Polnische, in dem diese Erzählung verfasst ist, entspricht einem polnischen ideologischen Blickwinkel: Der Verfasser ist Pole, der sein historischpublizistisches Geschäft immer auch als patriotischen Auftrag ver-
um in Kap. 10 dessen völlig unerwarteten Abzug aus der Stadt zu rechtfertigen. 7
Die Säule, auf der diese Statue stand, steht in L’viv bis heute vor der ehem. Bernhardiner-Kirche, die Statue des Heiligen wie auch die Inschrift auf dem Sockel ist verschwunden.
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steht; die Rettung der Stadt Lemberg ist ein kleines, aber wichtiges Detail im größeren Ganzen der Rettung der Republik, das aber den Anteil nicht-polnischer Gruppen an diesem Werk nicht verheimlicht. Es ist kein spektakulärer Erfolg polnischer Waffen, sondern vielmehr ein Sieg bürgerlicher Entschlossenheit sowie kommunaler Realpolitik – auch solche Seiten der polnischen Geschichte sind es wert, der Vergangenheit entrissen, popularisiert und weitergegeben zu werden. In der polnischen Heldenerzählung nach dem Modell von Sienkiewicz sind solche Aspekte nicht zu gebrauchen, andere ethnische Gruppen haben dort keinen Platz. Auch Jan Lam (1838-1886), bekannter galizischer Romancier und Publizist, hat sich mit der Belagerung Lembergs 1648 beschäftigt. Lam, der in unzähligen ›Chroniken‹, d.h. Feuilletons, über Jahrzehnte hinweg aus dem aktuellen politischen Leben Lembergs berichtete, geht mit zwei Essays, Der Dreißigjährige Lemberger Krieg (Trzydziestoletnia wojna lwowska, 1870) und Aus den Tagen der Bedrängnis (Z dni trwogi, 1875), auf die heroische Vergangenheit der Stadt ein, um mit dieser Form von aktualisierter Geschichte der trägen k.u.k.Mentalität seiner Zeitgenossen ein Gegenbeispiel vor Augen zu führen. Während sich im Dreißigjährigen Lemberger Krieg, der für den Verfasser mit 1648 beginnt und mit der Türkenbelagerung 1672 endet, eine ähnliche Darstellung wie bei Kubala, angereichert noch um eine Analyse der vorhandenen historischen Quellen, findet, zeigt die zweite Darstellung, Aus den Tagen der Bedrängnis, deutlich antisemitische Züge, die wir auch aus vielen von Lams Feuilletons kennen. Ausgangspunkt ist die historisch belegte Forderung Chmel’nyc’kyjs, die Juden auszuliefern, der die Stadt bekanntlich nicht Folge geleistet hat. Nicht aus Gründen der Sympathie für die Juden, wie der Autor betont, sondern aus Respekt vor dem König und dem Adel, unter deren Protektorat die Juden standen. Mit der anschließenden Behauptung, die Juden hätten sich nicht am großen Lösegeld beteiligt, sie hätten über Jahre Handel und Handwerk der Stadt lahmgelegt u.ä. (vgl. Lam 1957, 453ff.), betritt der Autor bekannte Pfade antisemitischer Agitation; seine Erzählung verschweigt den jüdischen Anteil an dieser Geschichte zwar nicht, diskreditiert ihn aber, um den polnischen damit zu verabsolutieren. Polnisch wird in dieser Schilderung ›von innen‹ zum Idiom, das andere Lesarten der Geschichte ausschließt. Den ukrainischen Blick auf 1648 finden wir im späten 19. Jahrhundert in einschlägigen Beiträgen ruthenischer Periodika, die im sog.
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Jazyþije, einem seltsamen Gemisch aus Kirchenslawisch, Volkssprache und Russisch8, geschrieben und gedruckt sind. Schon 1869 erschien im Literarischen Sammelband (Literaturnyj Sbornik), in Lemberg von der konservativen »Galicko-russka Matica« herausgegeben, eine populärwissenschaftliche Reihe von Artikeln, die mit Abschnitte aus der Geschichte der Ukraine und des Kosakentums (ɍɫɬɭɩɵ ɢɡɴ ɢɫɬɨɪiɢ ɍɤɪɚɢɧɵ ɢ ɤɨɡɚɰɬɜɚ, Stefanovyþ 1869) betitelt sind und ausführlich von der Belagerung Lembergs durch Chmel’nyc’kyj berichten. Erstaunlicherweise legt der Verfasser, V. Stefanovyþ, seiner Abhandlung die Chronik des Jan Tomasz Józefowicz aus 1854 zugrunde, die in der polnischen Originalfassung wortwörtlich abgedruckt ist, soweit sie die Ereignisse von 1648 betrifft. An wenigen Stellen fügt der Autor in den polnischen Text seinen eigenen, in Jazyþije gehaltenen Kommentar ein, um dem ruthenischen Leser das, was bei Józefowicz zu lesen ist, auf andere Weise zu deuten. Es entsteht auf diese Weise ein makkaronistischer, zweisprachiger Text, der einen zumindest zweisprachigen Leser erfordert. Der Sinn dieser Kontamination ist leicht ersichtlich: Vom polnischen Autor stammen die Daten, der ruthenische Kommentator verleiht ihnen einen zusätzlichen Sinn – er stellt das Vorgefallene in seiner Bedeutung für seine Gruppe, das »ruthenische Volk« (»ruskij narod«) bzw. die »Ruthenen« (»Rusiny«) heraus und macht die Geschichte der Kosaken auch zur Geschichte der Ruthenen, indem er das gemeinsame Vorgehen beider Gruppen betont: [Ich führe jetzt die Stellen an, aus denen sichtbar wird, dass überall dort, wo sich die Kosaken zeigten, sich das ruthenische Volk erhob und mit den Kosaken gegen die polnischen Herren verbündete...] »ɇɚɜɟɞɭ ɬɟɩɟɪɶ ɬɨɬɢ ɦɟɫɬɰɹ, ɡɴ ɤɨɬɨɪɵɯ ɜɢɞɧɨ, ɳɨ ɜɫɸɞɚ, ɝɞɟ ɫɹ ɩɨɤɚɡɚɥɢ ɤɨɡɚɤɢ, ɪɭɫɤɿɣ ɧɚɪɨɞɴ ɜɫɬɚɜɚɥɶ ɢ ɥɭɱɢɥɫɹ ɫɴ ɤɨɡɚɤɚɦɢ ɧɚɫɭɩɪɨɬɢɜɴ ɩɚɧɨɜɴ-Ʌɹɯɨɜɴ... « (Stefanovyþ 1869, 31)
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Der Begriff ›Jazyþije‹ wird aufgrund seiner pejorativen Bedeutung bzw. seiner mangelnden Exaktheit von manchen Forschern abgelehnt. Paul R. Magocsi spricht stattdessen von »Slaveno-Rusyn book language« (Magocsi 1984, 51); Michael Moser sieht unter diesem Begriff drei unterschiedliche Idiome subsumiert, für die von uns zitierten Texte postuliert er die Bezeichnung ›Russoruthenisch‹. (Moser 2004, 124)
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Die Erzählung des polnischen Chronisten wird damit zu einem Bericht ›von außen‹ umgedeutet, der Verfasser der ruthenischen Überschreibung stellt sich eindeutig auf die Seite derer, die die Stadt belagern, wenn er abschließend konstatiert: Chmel’nyc’kyj hätte die Stadt Lemberg sofort einnehmen können, wenn er nur gewollt hätte. Er hätte aber das Lösgeld gebraucht, um die verbündeten Tataren abzufinden, und er wollte andererseits die Stadt nicht der Plünderung und Zerstörung aussetzen. (Vgl. Stefanovyþ 1869, 32) Die Übermacht Chmel’nyc’kyjs, aber auch sein Großmut im Umgang mit der Stadt und seine Sympathie für diejenigen, die sich bei den Lösegeldverhandlungen zeigen, unterstreichen die Souveränität der in der Erzählung demonstrierten ruthenischen Position, die sich in Galizien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ebenso aus polnischer Bevormundung lösen will wie sich die Kosaken 1648 aus der polnischen Vorherrschaft befreit hatten. Auch eine zweite wichtige Zeitschrift der Lemberger Ruthenen, der Galizier (Galiþanin/Halyþanyn9) bringt im Jahr 1868 eine vergleichbare populärwissenschaftliche Nationale Geschichte der Rus’ (ɇɚɪɨɞɧɚɹ ɂɫɬɨɪɿɹ Ɋɭɫɢ, Halyþanyn 1868), die allerdings, was den antipolnischen Tenor angeht, viel radikaler ist: die Ereignisse des Jahres 1648 werden mit »Ausrottung der Polen in den ruthenischen Ländern im Sommer des Jahres 1648« (ɂɫɬɪɟɛɥɟɧɢɟ ɥɹɯɨɜɴ ɜɴ ɡɟɦɥɹɯ ɪɭɫɫɤɢɯɴ ɥɻɬɨɦɴ 1648 ɝ., Halyþanyn 1868 þ. 28, 433) überschrieben, polnische Geschichte in der Ukraine soll – im Unterschied zur vorherigen Darstellung – nicht mehr überschrieben, sondern komplett beseitigt werden. Der anonyme Autor zitiert Erlässe Chmel’nyc’kyjs, denen zufolge »unsere ganze Rus von den Karpaten bis zu den Moskowitischen Grenzen« (Ɋɭɫɶ ɧɚɲɚ ɨɬɴ Ʉɚɪɩɚɬɶ ɚɠɴ ɞɨ ɝɪɚɧɢɰɶ ɦɨɫɤɨɜɫɤɢɯɴ, Halyþanyn 1868 þ. 28, 433) – man beachte die geographische Dimension des Begriffs Rus! – von Polen und anderen nicht-russischen Ethnien »zu säubern« sei (ɨɱɢɳɚɬɢ ɪɭɫɫɤɭɸ ɡɟɦɥɸ, Halyþanyn 1868 þ. 28, 434). Und über die ganze Länge seines Berichts zeigt der Autor nicht ohne Befriedigung, wie dieses Programm von den einzelnen Teilen des Kosakenheeres konsequent durchgeführt wird. Von der
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Transliteriert man den Titel, Ƚɚɥɢɱɚɧɢɧɴ, nach den Regeln für die Transliteration des Ukrainischen, so ergibt sich diese zweite, häufiger verwendete Namensform.
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Belagerung Lembergs findet sich kein Wort, wohl aus dem Grund, weil diese Strategie nicht in das Programm der Ausrottung der Anderen, gleich ob es sich um Polen, Katholiken, Unierte oder Juden handelt, gepasst hätte, und weil wir es in dieser Erzählung einmal mehr mit einem Bericht ›von außen‹, aus der Perspektive der Angreifer, zu tun haben. Was die jüdischen Opfer dieses Krieges betrifft, so nennt der Verfasser in Anlehnung an einen Rabbiner, der das große Morden überstanden hat – wahrscheinlich ist Nathan Neta gemeint (vgl. Halyþanyn 1868 þ. 28, 436) – eine Zahl von 100.000. So ist Chmel’nyc’kyj aus der Sicht unseres Erzählers am Ende des Jahres 1648 nicht nur Herr über ein riesiges Land von den moskowitischen Grenzen bis zu den Karpaten, sondern ist dieses Land im oben erwähnten Sinn von allem Polnischen gesäubert: [So wurde den ganzen Sommer 1648 die Säuberung der ruthenischen Länder vom polnischen Auswuchs durchgeführt, wurde der polnische Samen samt seinen Wurzeln ausgerissen, kaum dass er sich in der Rus’ eingenistet hatte – und im Herbst dieses Jahres wurde die ganze Weite des Landes von den Steppen des Dnepr bis zu den Grenzen Polens wieder rein ruthenisch.] »Ɍɚɤɴ ɬɨ ɱɟɪɟɡ ɰɟɥɟ ɥɟɬɨ 1648 ɩɪɨɢɡɜɨɞɢɥɨɫɶ ɞɟɥɨ ɨɱɢɳɟɧɢɹ ɡɟɦɟɥɶ ɪɭɫɫɤɢɯ ɨɬɴ ɥɹɰɤɨɝɨ ɧɚɩɥɨɞɚ, ɜɵɪɵɜɚɥɨɫɶ ɫɴ ɤɨɪɟɧɶɟɦɴ ɥɹɰɤɨɟ ɧɚɫɟɧɶɟ, ɝɞɟ ɥɢɲ ɨɧɨ ɡɚɧɟɬɢɥɫɴ ɩɨ Ɋɭɫɢ – ɢ ɩɨɞ ɨɫɟɧɶ ɬɨɝɨɠɶ ɝɨɞɚ ɜɫɹ ɩɪɨɫɬɨɪɨɧɶ ɡɟɦɥɢ ɨɬɴ ɡɚ-Ⱦɧɟɩɪɹɧɫɤɢɯ ɫɬɟɩɨɜ ɚɠɶ ɞɨ ɝɪɚɧɢɰɶ ɉɨɥɶɳɢ ɫɬɚɥɚ ɧɚ-ɱɢɫɬɨ ɪɭɫɫɤɭɸ.« (Halyþanyn 1868 þ. 29, 454)
Den Begriff der ethnischen Säuberung gab es zur Zeit der Entstehung dieses Artikels noch nicht, er wird allerdings von dieser Argumentation vorweggenommen. Wer von dieser Erde vertilgt werden muss, ist klar, wem dann dieses Land aber gehören soll, ist nicht so genau zu sagen, denn das Adjektiv ›russkij‹ (mit zwei ›s‹ geschrieben) kann von den Kosaken über die ruthenische Landbevölkerung der Westukraine bis zu den Großrussen alles bedeuten – es verweist auf eine typisch moskophile Argumentation, die die Unterschiede zwischen ›Ruthenisch‹ und ›Russisch‹ tunlichst verwischt. Der Code des Jazyþije aber leistet einer solchen Argumentation mit rein sprachlichen Mitteln Schützenhilfe. Die Texte aus dem ruthenischen Lager in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in ein- und derselben Mischsprache geschrieben, er-
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zählen beide aus der Außenperspektive, entweder aus der Sicht der Belagerer Lembergs oder überhaupt nur, indem sie den Gesamtverlauf dieses Krieges schildern. Die ideologische Position, die hinter dieser Narration steckt, ist jedoch unterschiedlich. Während die Erzählung aus dem Literaturnyj Sbornik auf einem polnischen Narrativ basiert, dieses einschließt und erst im Kommentar umdeutet, lebt die Erzählung im Halyþanyn von einem unversöhnlichen Gegensatz zwischen Polnisch und Ruthenisch (›ljackyj‹ und ›russkij‹), der zur Ausrottung alles Polnischen führen muss, auch wenn die Geschehnisse um Lemberg nicht in dieses Bild passen. Hier lassen sich unterschiedliche Auffassungen innerhalb einer ethnischen Gruppe feststellen. Jazyþije als Code, der bewusst die ukrainische Volkssprache als Schriftform ausschließt, dient zum Ausdruck unterschiedlicher Positionen im ruthenischen Lager, ganz ähnlich wie das Polnische in den Schilderungen von Kubala und Lam: einmal wird die gegnerische, polnische Position miteingeschlossen, um dann dem ruthenischen Blick auf die Ereignisse untergeordnet zu werden, ein anderes Mal wird sie als das absolut Feindliche radikal ausgeschlossen. Auch in der jüdischen Literatur des 19. Jahrhunderts griff man auf die Belagerung Lembergs von 1648 zurück. Nathan Samuely (18461921), Hebräischlehrer in Lemberg und Verfasser von Culturbilder aus dem jüdischen Leben in Galizien (1885, 1891) gab 1902 in Wien ein Büchlein mit dem Titel Alt-Lemberg heraus, das nichts anderes als eine Erzählung von den Leiden der jüdischen Bevölkerung der Stadt seit dem späten Mittelalter ist. In dieser Chronik jüdischen Unglücks darf auch das »Jahr des Unheils 1648« nicht fehlen, »als ein verheerender Sturm über die Lande zog – der Kosakenhetman Chmielinski [sic!] mit seiner Räuberbande«. (Samuely 1902, 10) Die Schilderung der Ereignisse ist sehr kurz, konzentriert sich auf die Gräuel in der Stadt Niemirów und berichtet von der Belagerung Lembergs überhaupt nichts. In der großen Erzählung vom Leiden der Juden in Lemberg spielt 1648 keine große Rolle – an der Stadt Lemberg war ja die große Katastrophe, die dieses Jahr für die Gesamtheit der jüdischen Bevölkerung in der heutigen Ukraine gebracht hatte, relativ glimpflich vorüber gegangen. Aus Samuelys Sicht kennt die Stadtgeschichte größere Unglücksfälle, wie die Erzählung von jüdischen Heldinnen und Märtyrerinnen wie der »Goldenen Rose« beweist. (Vgl. Samuely 1902, 14ff.) Auch diese Erzählung ist aus einer Innenperspektive verfasst, welche in diesem Fall sich sogar innerhalb der Stadtmauern von Lemberg lo-
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kalisieren lässt. Immer wieder kam mit antijüdischen Ausschreitungen großes Leid über die jüdischen Bürger der Stadt auch innerhalb von deren Mauern – die Belagerung von außen durch Kosaken und Tataren lässt sich mit gewalttätigen Übergriffen von Seiten katholischer, polnischer Mitbürger vergleichen. Die deutsche Sprache dieses Berichts macht deutlich, dass die Erzählung von den Leiden der Juden auch für Nichtjuden (vgl. den Titel Alt-Lemberg, der an einen Reiseführer erinnert) bestimmt ist: Wer immer den Hof einer bestimmten Lemberger Synagoge betritt und Näheres über die Grabsteine, die dort stehen, erfahren will, dem wird man die Geschichte der hier Begrabenen erzählen und damit auch die Geschichte des Leidens der jüdischen Bevölkerung in Lemberg über die Jahrhunderte. Die Verwendung des Deutschen als Code weist auf eine bestimmte Tendenz der Assimilation und trägt dem Umstand Rechnung, dass Samuely, hätte er auf Hebräisch geschrieben, eine viel kleinere Anzahl von Lesern erreicht hätte. Die jüdische Erinnerungserzählung um 1900 ist also nicht notwendig an Hebräisch oder Jiddisch gebunden. Zwei Jahre nach Samuelys Alt-Lemberg erschien eine militärhistorische Abhandlung, die einmal mehr die Ereignisse von 1648 thematisiert, dieses Mal nicht von einem jüdischen Friedhof, sondern von jenem Hügel in Lemberg ausgehend, auf dem im 17. Jahrhundert noch das Hohe Schloss stand. Aus den Ruinen dieser Festungsanlage, aber auch den Berichten von Augenzeugen, rekonstruiert und analysiert der Verfasser die dramatischen Ereignisse, die 1648 zwar zur Einnahme der oberen Befestigung, nicht aber der Stadt geführt hatten: Die Erstürmung der »Hohen Burg« in Lemberg im Jahre 1648. Episode aus der Belagerung Lembergs durch Chmielnicki (K.v.L. 1904). Auch diese Erzählung kommt aus einer Innenperspektive, der Verfasser rühmt die Bemühungen der Verteidiger des Hohen Schlosses unter dem Befehl des Burggrafen Bratkowski, er weist darauf hin, dass nur Verrat zur Einnahme der Befestigung führen konnte. Zu einer Zeit, da die wenigen Reste des Hohen Schlosses seit einigen Jahrzehnten unter einem künstlichen aufgeschütteten Gedächtnishügel begraben lagen10,
10 1869 hatte man auf Betreiben Ludwik Smolkas zum 300-jährigen Jubiläum der Union von Lublin auf dem Hohen Schloss den sog. ›Unionshügel‹ (Kopiec Unii Lubelskiej) aufgeschüttet, der heute von einer Aussichtsplattform mit ukrainischer Flagge bekränzt wird.
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wollte diese Abhandlung mehr als nur militärhistorische Studie sein: sie wollte die Erinnerung an die Belagerung der Stadt von 1648, die mit den Ruinen des Hohen Schlosses förmlich verschüttet wurde, wiederbeleben: »Das Andenken an diese Katastrophe, bewahrt von Geschlecht zu Geschlecht, erhielt sich lange in Lemberg und erst im vergangenen Jahrhundert erlosch die Erinnerung hieran gänzlich. Diese Erinnerung neu belebt zu haben, ist ein schönes Verdienst des eingangs genannten Herrn Verfassers.« (K.v.L. 1904, 42)
Das Hohe Schloss wird auf diese Weise zum Erinnerungsort (vgl. Woldan 2006), einem Ort, an dem Geschichte lebendig wird, weil sie in der räumlich verorteten Erinnerung greifbar ist11. Als solcher aber lässt sich das Hohe Schloss von beiden Seiten lesen, von der Seite der Verteidiger wie auch der Angreifer. So wie die Mauerreste in der deutschen Erzählung vom Beginn des 20. Jahrhunderts die Erinnerung an die damaligen Stadtbewohner – gleich ob polnisch, deutsch oder jüdisch – weitergeben sollten, so sollte das Kryvonis-Denkmal aus sowjetischer Zeit den Bericht vom Erfolg der Angreifer an eine ukrainischrussische Bevölkerung ein halbes Jahrhundert später vermitteln. Auch der Code der zuletzt zitierten Abhandlung entspricht dem übernationalen Charakter des Erinnerungsortes. Nachdem diese Studie ursprünglich von Aleksander Czołowski in polnischer Sprache verfasst worden war, wurde sie für die zitierte Veröffentlichung ins Deutsche übersetzt, sodass auch die deutschsprachigen Österreicher, die erst mehr als hundert Jahre nach dem denkwürdigen Geschehen des Jahres 1648 nach Lemberg gekommen waren, an der Erinnerungsgemeinschaft teilhaben konnten, die zunächst auf polnisch und ukrainisch verfassten Narrationen beruht. Die Berichte über die Belagerung Lembergs 1648 zeigen, wie zwei große Narrationen miteinander konkurrieren, eine Erzählung ›von innen‹, aus der Sicht der Belagerten, und eine Erzählung ›von außen‹,
11 Für Pierre Nora, den Schöpfer des Terminus ›Erinnerungsorte‹ (lieux de mémoire), sind solche Orte wesentlich durch eine Überschneidung von Geschichte und Erinnerung charakterisiert, sie finden sich »am Schnittpunkt dieser beiden Bewegungen« (à la croisée de deux mouvementes, Nora 1984, XXIII).
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aus der Sicht der Belagerer, die mit bestimmten sprachlichen Codes zusammenfallen, dem Polnischen und Hebräischen als dem Code für die Erzählung aus der Innensicht, dem Ukrainischen bzw. Jazyþije für die Sicht von außen. Zur Konkurrenz der unterschiedlichen Narrationen kommt aber auch eine Konvergenz, dort, wo sich Berichte ›von innen‹ und solche ›von außen‹ in manchen Details und in Bezug auf eine historiosophische Beurteilung des Geschehens decken. Die Gebundenheit der Narration an einen nationalsprachlichen Code verliert erst mit Beginn des 20. Jahrhunderts ihre Stringenz, als das Deutsche als Sprache sowohl der jüdischen als auch der polnischen Erinnerungserzählung in Erscheinung tritt und das erinnerte Geschehen – vermittelt über einen Ort der Erinnerung – auch für andere zugänglich macht. Damit wird auch die Grenze zwischen der Erzählung ›von innen‹ und der von außen‹ zumindest partiell aufgehoben: Der jüdische Friedhof bzw. das Hohe Schloss können sowohl ›von innen‹, aus jüdischer bzw. polnischer Perspektive, als auch ›von außen‹, aus ukrainischer, österreichischer, deutscher oder sonstiger nationaler Perspektive wahrgenommen werden.
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Laizismus als kulturpolitisches Postulat der bosnisch-muslimischen Intellektuellen Ende des 19. Jahrhunderts K RISTIN L INDEMANN
Für Bosnien markiert der Berliner Kongress im Jahre 1878 das Ende der osmanischen und den Anfang der fast vierzig Jahre währenden österreichisch-ungarischen Regierungszeit. Der k.u.k. Finanzminister Benjámin von Kállay übernahm vier Jahre später die Gestaltung der gesamten Kultur- und Bildungspolitik. Es begann die selbsternannte Habsburger Modernisierungsmission: Mit ihrer Hilfe sollten die während der Türkenherrschaft »in unglückliche Abhängigkeit versunkenen Völker sich selbst, d.h. ihren ursprünglichen reinen und edlen Eigenschaften zurückzugeben« werden, schreibt der Wiener Professor und Lehrstuhlgründer für Prähistorik Moriz Hoernes in Dinarische Wanderungen – Cultur- und Landschaftsbilder aus Bosnien und der Hercegovina (1894, 115f.). Praktisch bestehe die Modernisierungsmission darin, »neue Erziehungsanstalten, Fabriken und Amtsgebäude« zu erschaffen, in denen »die Orientalen über die Grundbedingungen der abendländischen Civilisation« belehrt werden konnten (Hoernes 1894, 95). Denn »in jeden (sic) östlichen Ländern bedeutet der Katholicismus den Einfluss der abendländischen Cultur, seine Anhänger sind ein Element des Fortschritts und der Civilisation, welches die Pflege verdient, die ihm von einsichtsvollen Regierungen zu Theil geworden ist.« (Ebd., 60)
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Die ›Orientalen‹, die im Laufe der osmanischen Herrschaft konvertierten bosnischen Muslime, stellten knapp 40 % der Einwohner Bosniens1 und besaßen durch den Großgrundbesitz die wirtschaftliche und lokalpolitische Macht. Ihre Söhne durchliefen auch nach der Machtübernahme durch die Habsburger Monarchie weiterhin das klassische islamische Bildungssystem, das aus dem Besuch einer ›Mekteb‹ (Grundschule) und einer ›Medresse‹ bzw. ›Madrasa‹ (Mittel- und Hochschule) bestand. (Vgl. Babuna 1996, 178) Häufig folgten weiterführende Studien in orientalischen Sprachen oder islamischem Recht in Sarajevo und Istanbul. Mit dem Anschluss an Österreich-Ungarn kamen nun für einige von ihnen noch Aufenthalte an den Universitäten in Zagreb, Wien und Budapest hinzu – neben Arabisch, Türkisch und Persisch lernten die jungen Muslime Deutsch und Französisch, studierten Jura und setzten sich mit den Prinzipien der Moderne auseinander. (Vgl. Džaja 1994, 213) Sie verfolgten den gesellschaftlichen und ökonomischen Aufschwung im Westen und ließen sich von der Euphorie der Nationalentwicklungen anstecken. Zeitgleich mit den Jungtürken in Istanbul (vgl. u.a. Hanio÷lu 1995; Özcan 2005) und z.B. den muslimischen Gelehrten im Kaukasus (vgl. Kemper 1997, Allen 1998), beschäftigte anschließend auch die bosnischen Muslime die Frage, wie sich islamische Traditionen mit der Selbstbestimmung von Völkern, mit der Industrialisierung des Handwerks, dem Ausbau des Handels, dem Studium der Naturwissenschaften und vor allem mit der Trennung von Religion und staatlichen Einrichtungen verbinden ließen. An dieser Stelle sollen drei Autoren vorgestellt werden, deren ausschließlich im Original vorliegende Werke außerhalb des südslawischen Sprachraums kaum bekannt und selbst in Bosnien in Vergessenheit geraten sind: Osman Nuri Hadžiü, Ivan Aziz Miliþeviü und Osman Ĉikiü.
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Bei der Volkszählung in Bosnien-Herzegowina von 1885 ergaben sich folgende Zahlen: Bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 1,3 Millionen Einwohnern waren 42,88% Orthodoxe (Serben), 36,88% Mohammedaner und 19,88% Katholiken (Kroaten). (Vgl. Behschnitt 1980, 40)
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O SMAN -AZIZ UND O SMAN Ĉ IKIû Osman Nuri Hadžiü (1869-1937), im herzegowinischen Mostar geboren und aufgewachsen, besuchte erst die islamische Richterschule in Sarajevo, bevor er Jura in Wien und Zagreb studierte. Nach seinem Diplom arbeitete er einige Jahre als Kadi und wurde Direktor der Sarajevoer Richterschule. Er veröffentlicht zahlreiche religionshistorische Werke und gesellschaftskritische Traktate, u.a. über den Islam und Kultur (Islam i kultura, 1894) oder Islam und Aufklärung (Islam i prosvjeta, 1903). Nach dem Ersten Weltkrieg zog er nach Belgrad und arbeitete bis zu seiner Pensionierung im serbischen Parlament. Der katholische Ivan Aziz Miliþeviü (1868-1950), Neffe des bekannten kroatisch-herzegowinischen Herausgebers der literarisch-politischen Zeitschriften »Hercegovaþki Bosiljak« und »Glas Hercegovca« Don Frane Miliþeviü, wuchs in Mostar und Split auf, bevor er in Sarajevo aufs Gymnasium ging. Auch er studiert Jura in Zagreb und Wien, wo er Hadžiü kennen lernte. Unter dem Pseudonym Osman-Aziz veröffentlichten sie zusammen mehrere Jahre lang kurze Romane und Erzählungen. Anschließend zog Miliþeviü zurück nach Mostar und verlegte bis zu seinem Tod zahlreiche Literaturzeitschriften. Der ebenfalls aus Mostar stammende Osman Ĉikiü (1879-1912) besuchte das Gymnasium in Mostar, Istanbul und Belgrad. Dort verfasste und publizierte er mit Anfang 20 drei Gedichtbände: Bruderschaft (Pobratimstvo, 1900), Der muslimischen Jugend (Muslimanskoj mladeži, 1902) und Der Verehrer2 (Ašiklija, 1903). In seinen Werken kommt es zu ungewöhnlichen Kombinationen. Er verbindet orientalische Elemente der Sevdalinke3 mit serbischem Patriotismus, sowie
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Vom türkischen aúık: ein um eine Frau werbender Mann.
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»Die Sevdalinka, im islamisch-urbanen, ökonomisch stabilen Umfeld des Handels und Handwerks entsprungen, und oftmals weibliche Kreation, ist in ihrer ›lyrischen Struktur, Gefühlshaftigkeit, Versgesetz, Symbolik, Imagination [und] Archetypik‹ und besonders auch in der Tonalität orientalisch geprägt; wird in Bosnien-Herzegovina jedoch als etwas ›authochthonbosnisches‹ rezipiert. Zumeist ohne instrumentale Begleitung vorgetragen, wurden und werden sie von Frauen über Frauen gesungen. Tief verwurzelt im kulturellen Gedächtnis und getragen von einer breiten Masse des Volkes, die sich den Veränderungen der Zeit nur langsam anpasste, wurden ihr
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sein herzegowinisches Idiom mit türkischer Lexik und kyrillischer Schreibweise. Die jungen bosnischen Muslime bewegten sich frei in einem heute scharf abgegrenzten sprachpolitischen und religiösen Raum. Sie bildeten Doppelautorenschaften, in denen religiöse Differenzen zum Zweck eines höheren kulturpolitischen Zieles überwunden wurden. Sie publizierten in arabischer, kyrillischer und lateinischer Schrift, in Wien, Belgrad, Zagreb und Sarajevo, parallel in ›pro-muslimisch‹, ›pro-serbisch‹, ›pro-kroatisch‹ und ›pro-Habsburg‹ deklarierten Zeitschriften. In einer Zeit, die gemeinhin als »Beginn der muslimischen Nationsbildung« (u.a. bei Pinson 1994, Babuna 1996, Wieland 2000) in Bosnien bezeichnet wird, sieht die einheimische Literaturforschung darin »Orientierungslosigkeit«. (Rizviü 1973, 1990; Tomiü-Kovaþ 1991 u.a.) Sie wirft den muslimischen Intellektuellen jener Jahre fehlendes nationales Bewusstsein vor. Dabei verkennt sie jedoch aus der politischen Teleologie der 1990er Jahre heraus die Situation: Die bosnisch-muslimischen Intellektuellen Ende des 19. Jahrhunderts sind nicht orientierungslos; sie nehmen ganz im Gegenteil an einer in mehreren Regionen des Osmanischen Reiches zeitgleich entstehenden Säkularisierungsbewegung teil. Diese führt bei den Autoren zu einer modernen laizistischen Differenzierung zwischen Religion und Konzepten der Gemeinschaftsstiftung und macht einen ausschließlich auf Konfession basierten Nationalismus, der 1971 in der neu eingeführten Bezeichnung ›Muslim als Nationalität‹ seinen Höhepunkt fand, unmöglich. Beeinflusst wurden die bosnischen Muslime hierbei von der jungtürkischen Bewegung. Sie hatte sich Ende des 19. Jahrhunderts aus einer Modernisierungsbewegung innerhalb der osmanischen Intelligenz entwickelt. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte bis hin zur Gründung der Türkischen Republik 1923 noch mehrmals modifiziert, bestand der Grundgedanke aus einer klaren Trennung von weltlicher und geistlicher Sphäre: Wissenschaft, Philosophie und Bildung sowie Kultur und Gesellschaft sollten sich von der »Kontrolle, Aufsicht und Bevormundung durch religiöse Institutionen emanzipieren«. (Özcan 2005, 5) Zugehörigkeit zu einem modernen Staatsgebilde sollte nun nicht mehr durch »völkische, rassische oder religiöse Kriterien definiert werden. [...] Nach dem türkischen Nationalismus (Milliyetcilik) gehörten zum
Aufbau und ihre Inhalte im Laufe der Jahrhunderte wenig verändert« (Baliü 1992, 189).
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Staatsvolk der türkischen Nation alle, welche innerhalb der Grenzen der türkischen Republik aufgewachsen waren und Türkisch sprachen«. (Ebd., 3) Der Laizismus (türk. laiklik) bedeutete für die Jungtürken »nicht nur die Trennung der religiösen und politischen Autorität voneinander, sondern beinhaltete auch, dass die religiösen Angelegenheiten dem persönlichen Gewissen des Individuums überlassen werden, so dass der Staat gegenüber der Religion unabhängig bleibt und somit Religionsfreiheit gewährleistet«. (Ebd.) So forderten die Jungtürken, die den kulturellen Fortschritt des Westens als ein Resultat der verstärkten Hinwendung zur Rationalität sahen, neben der Abschaffung der Theokratie und somit des mächtigen Kalifats, u.a. eine generelle Reform ihres Bildungssystems (vor allem eine Wiederaufnahme weltlicher Bücher in die auf Koran-Studium beschränkten islamischen Schulen). Dabei ging es ihnen jedoch um einen kulturpolitischen Laizismus, nicht um eine herrschaftspolitische Säkularisierung wie beispielsweise in Frankreich. Man wollte einen klaren Bruch zu dem Irredentismus des Osmanischen Reiches erreichen, nicht jedoch Religiosität per se in Frage stellen: »Modernization was to be stitched into an Islamic jacket«. (Hanio÷lu 1995, 8) Diese Forderungen lassen sich genauso in der Prosa und Lyrik der bosnisch-muslimischen Autoren um die Jahrhundertwende wiederfinden.
O SMAN -AZIZ Osman Nuri Hadžiü und Ivan Aziz Miliþeviü verfassten als OsmanAziz insgesamt fünf Werke in Buchform, die von der Matica Hrvatska publiziert wurden: Die Erzählungen Marijans Wunden (Marijanova rana, 1895) und Tod und Rache von Smailaga ýengiü (Pogibija i osveta Smailage ýengiüa, 1985), Ohne Hoffnung: Eine Erzählung aus dem mostarischen Leben (Bez nade: Pripoviest iz mostarskoga života, 1895), Ohne Sinn: Bilder aus dem Leben (Bez svrhe: Slika iz života, 1897) sowie die Sammlung Auf der Schwelle einer neuen Zeit (Na pragu novoga doba: Pripoviesti, 1896). Am Beispiel von Ohne Sinn soll die Besonderheit ihrer Zusammenarbeit verdeutlicht werden, denn den beiden Autoren gelang es, in dieser Erzählung zwei auf den ersten Blick eigentlich gegensätzliche Einflüsse zu kombinieren: die bereits beschriebene Modernisierungsforderungen der Jungtürken und die kroatisch-nationalistische Politik
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von Ante Starþeviü4. Konkret bedeutete dies für Ohne Sinn, dass Hadžiü und Miliþeviü darin die von den Jungtürken geforderte Öffnung des streng islamischen Schulsystems sowie die Trennung von Religion und politischen Konzepten der Gemeinschaftsbildung propagierten und gleichzeitig versuchten, die bosnischen Muslime von ihrer sprachlichen und kulturgeschichtlichen Verwandtschaft mit den Kroaten zu überzeugen. Das Konzept, das die Autoren für die literarische Umsetzung wählten, gleicht dem deutschen Bildungsroman. Zwar als solcher in keiner Weise tituliert, determiniert in Ohne Sinn die biographische Lebenslinie des Helden »in der Regel die Fabel, die eine Tendenz zur Einsträngigkeit aufweist. Die innere Progression des Helden kann sich nur mittels einer zeitlichen Progression narrativ verwirklichen, weshalb die Handlungsgegenwart, in der sich der heranwachsende Protagonist bewegt, in der Regel chronologisch geordnet ist«. Dabei sind »die einzelnen Phasen dieser Progression [...] meistens an bestimmte Räume gebunden und haben eine irreversible Abfolge«. (Kim 2001, 30) In Ohne Sinn wird der Protagonist Fehim durch seine Ausbildung an der bereits erwähnten Richterschule in Sarajevo begleitet. Er gilt als Rebell, denn er liest »wallachische« (»vlaške knjige«, Osman-Aziz 1897, 124), d.h. westliche oder auch christliche Bücher. Als Schauplätze wählten Osman-Aziz in der Erzählung Orte, die dem ihnen zeitgenössischen Leser gut bekannt sind, denn sie schrieben für eine genau
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Ante Starþeviü (1823-1896) war Mitbegründer der Stranka prava (Rechtspartei, seit 1861) in Kroatien und Anhänger der illyrischen Bewegung. Diese Mitte des 19. Jahrhunderts entstandene ›nationale Wiedergeburt‹ propagierte die kulturelle, ethnische und politische Einheit aller Südslawen. Beeinflusst von Herder und basierend auf einem neuen Interesse an Geschichte, Kultur und Volkstum, entstand eine große Anzahl neuer Studien und Werke zur vergleichenden Sprachwissenschaft und südslawischen Volkskultur, mit deren Hilfe Kroatien seine Ansprüche auf die Nachbarländer begründete. Als Persönlichkeit ist Starþeviü besonders wegen seines radikalen politischen Kroatismus und wegen seiner Feindlichkeiten gegenüber Österreich, Serbien und der jugoslawischen Akademie umstritten. Doch neben seiner erklärten Verehrung der Nation und Nationalität, die er als »neue Heiligkeit« betrachtete, vertrat auch er, der gläubige Katholik, eine Trennung von Politik und religiösen Institutionen. (Vgl. Behschnitt 1980, 172f.)
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festgelegte Zielgruppe: bosnisch-muslimische Schüler und Studenten. Fehim ist ein durchschnittlicher Madrasa-Schüler, der jedoch nach mehr Wissen strebt, als seine Lehrer ihm bieten können oder, noch wichtiger, wollen. Ihm werden alle weiteren, weitgehend eindimensional bleibenden Figuren funktional zugeordnet. Diese dienen primär der schlichten Repräsentation der für seine Entwicklung relevanten Lebens- und Erfahrungsabschnitte, z.B. als Mitschüler oder HodžaKollege und plakatieren Fehims Entwicklung durch entweder gleiche oder gezielt konträre Verhaltensweisen. Gleichzeitig werden ihm, sozusagen als pädagogischer Trick, Personen an die Seite gestellt, die theoretisch die gleichen Voraussetzungen haben, aber durch fehlende Bildung (bzw. das ihnen bewusst vorenthaltene Wissen) nicht vermögen, aus ihrem beengten Leben auszubrechen. (Vgl. Kim 2001, 30f.) Ein streng personaler Erzähler sorgt dafür, dass der Leser und der Protagonist stets auf dem gleichen Wissensstand bleiben und so gemeinsam zu einer ›Erkenntnis‹ gelangen. Als Lehrmeister bzw. Kontrapart in den ideologischen Diskussionen über die Zukunft Bosniens und des Islam im Allgemeinen fungiert die Figur eines Jungtürken. In Ohne Sinn tritt dieser in Gestalt von Edhem auf. Der Sohn eines emigrierten Bosniers reist nach Sarajevo, um sein Heimatland kennen zu lernen. Neue Ideen und Ansichten werden immer von ihm präsentiert, denn die Jungtürken besaßen in der Realität als »Brüder im Glauben« (»braüi po vjeri«) die notwendige innere Verbundenheit und konnten als literarische Figur gleichzeitig eine Außenansicht suggerieren, z.B. wenn Edhem in Ohne Sinn Bosnien-Herzegowina wegen seiner geographischen Lage und seiner politischen Situation5 als »wichtigste Verbindung zwischen Westen und Osten« bezeichnet und so den bosnischen Muslimen eine besondere Verantwortung auferlegt. Edhem erklärt einem bosnischen Hodža, den er in der Madrasa in Sarajevo trifft: [Der nationale Gedanke erwacht jetzt allmählich auch bei den islamischen Völkern, und wenn er zur vollen Entfaltung gekommen sein wird, so wird jedes islamische Volk, für sich und für die Hebung seiner Bedeutung unter den anderen Völkern arbeitend, erst dann den Ruhm des Islam wirklich fördern und
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Als ›Kronland‹ wurde es zwar von Österreich-Ungarn verwaltet, der Sultan des Osmanischen Reiches bleib jedoch bis zur endgültigen Annexion 1908 offiziell das politische Oberhaupt. (Vgl. Malcolm 1996, 165f.)
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heben. Daher wünsche ich euch, dass auch ihr hier, die Muslime in Bosnien und Herzegowina, die ihr doch dem niemals ruhenden Westen am nächsten seid, euer eigenes Volksleben zu leben beginnt. Ihr seid keine Türken, ihr seid nur dem Glauben nach unsere Brüder; ihr könnt uns vielleicht mehr lieben, als irgendein anderes Volk, aber deswegen müsst ihr doch, gerade wegen des Islam, die nationale Idee pflegen.]6 »Misao se je narodnosti sad poþela buditi i kod islamskih naroda, a kad se ona probudi, svaki üe islamski narod, radeüi za se i svoj ugled, tek onda pravo dizati i slavu Islama. S toga ja želim, da i vi ovdje, muslimi u Bosni i Hercegovini, jer ste najbliži nikad nemirujuüem zapadu, poþmete živiti životom vašega naroda. Vi Turci niste, vi ste nama braüa samo po vjeri; možete prama nama gojiti ljubav više nego prama kojemu drugomu narodu, ali se za to morate priljubiti narodnostnoj ideji upravo radi Islama.« (Osman-Aziz 1897, 178f.)
Die ganze Problematik, vor der Hadžiü und Miliþeviü in jenen Jahren standen, wird in diesem kurzen Abschnitt deutlich: Von den Nationalisierungsbewegungen der Türken, Serben und Kroaten eingerahmt, verspürten auch sie die Notwendigkeit, ihr ›bosnisch-herzegowinisches‹ Volk zu definieren. Bosnien war jedoch aus der osmanischen Tradition heraus entlang konfessioneller Linien organisiert und die katholischen und orthodoxen, in Bosnien lebenden Bauern orientierten sich an dem jeweiligen kroatischen und serbischen Mutterland. Osman-Aziz’ laizistische Auffassung von politischer Gemeinschaftsstiftung erlaubte ihnen aber keinen ausschließlich auf Religion basierten ›muslimischen Nationalismus‹. Dieser stand zudem im Widerspruch zu der von beiden Seiten erwünschten Trennung der ›bosnischen Türken‹ (so die geläufige Eigenbezeichnung) von den ›osmanischen Türken‹. Die Autoren lösen das Problem anhand der Sprache. Diese hat zwei Funktionen: Erstens dient sie der Modernisierungsforderung: Die bosnisch-muslimischen Kinder lernten in der Grundschule lediglich Arabisch lesen, »aber ohne Abkürzungen, und das, was sie lasen, haben sie nicht verstanden, denn in der Mejtef lernen die Kinder nicht Türkisch und Arabisch zu verstehen« (»ali bez kratica, a ono, što je þitao, nije razumievao, jer se u mejtefu ne uþi, da djeca uzmognu što razumjeti turski ili arabski«, Osman-Aziz 1897, 26). In der Madrasa
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Diese und alle folgenden Zitate sind eigene Übersetzungen der Verfasserin.
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verlernen sie dann auch noch ihre »kroatische Muttersprache« (»materinji hrvatski jezik«, ebd.). Beeinflusst von Herder, mit dessen Lehren Hadžiü und Miliþeviü während ihres Studiums in Zagreb in Kontakt gekommen waren, bilden Sprache und Volkstum für sie die Identitätsgrundlage eines jeden Volkes. Damit führen die Autoren zweitens eine Neudefinition des Begriffes ›narodnost‹ ein: Er ist an Starþeviü’ politisches Konzept der Nationalität angelehnt und wird als ein sprachbasiertes, kulturpolitisches (nicht religiöses) Konstrukt gesehen. »Was den Glauben anbetrifft, so sind wir Muslime, der Sprache und dem Volkstum nach sind wir jedoch Kroaten… Der Türke spricht türkisch, wir kroatisch!« (»Ako je po vjeri, mi smo muslimi, a ako po narodu i jeziku, mi smo Hrvati … Turþin govori turski, mi hrvatski!«, OsmanAziz 1897, 169f.). Osman-Aziz’ Mitarbeit in der aus dem Illyrismus7 entstandenen Matica Hrvatska wird diese Überzeugung noch verstärkt haben. So antwortet Fehim auf den Vorwurf, die Bücher, die er liest, seien nicht von »Türken wie wir« (»turci kao mi«) verfasst8: [Wie Türken, welche Türken? Muslime, meinst du? Du wirst dir eingestehen müssen, dass wir weder Chinesen noch Amerikaner noch Engländer sind – doch etwas müssen wir sein… der Islam ist nicht so eng und klein, wie du
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Zum Illyrismus im südslawischen Raum vgl. Lauer 1974.
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In dem 1880 von dem tatarischen Gelehrten Šihabaddin al-Mar÷ani (18181887) verfassten Werk Mustafad al-axbar kommt eine auffällig ähnliche Passage vor (hier in der Übersetzung von Michael Kemper): »Weil die Russen den Ausdruck ›Tataren‹ als Beleidigung und Herabwürdigung benutzten und damit ausdrückten, daß jemand anderes weniger wert sei als sie selbst, verstehen einige [unserer Landsleute] es als Mangel, ein Tatare zu sein, und hassen diesen Namen. Sie sagen: ›Wir sind keine Tataren, sondern Muslime!‹ und fangen an zu streiten. Aber nein, nein und nochmals nein! [Das ist doch so klar wie] der Unterschied zwischen Nil und Euphrat! Oh Du Armer: Wenn der Feind Deiner Religion und Deines Volkes Dich unter keinem anderen Namen als ›Muslim‹ kennen würde, würde er ganz sicher auch den Namen ›Muslim‹ als Beleidigung für Dich benutzen! Wenn Du kein Tatare bist, aber auch kein Araber, kein Tadschike, Nogaier, ebenfalls kein Chinese, Russe, Franzose, Preuße oder Deutscher – was bist Du dann« (Mar÷ani, Mustafad al-axbar, 6, zitiert nach Kemper 1998, 456f.).
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denkst. Würde etwa nicht der Franzose, der Italiener, der Schwede genau das bleiben, auch wenn sie alle den Islam annähmen? Der Islam schließt kein Volk aus, er hindert uns auch nicht daran, dass wir nach der Vergangenheit, nach Blut, Sprache, nach der Zukunft das bleiben, was wir sind – Kroaten … Und ist der Araber – wenn auch Muslim oder wie du wünscht ›Türke‹ – nicht ein Araber? Und Araber und Muslim sind nicht das Gleiche: die ganze Welt könnte muslimisch werden – aber sie wird nicht arabisch oder türkisch sein. [...] Könntest du etwa behaupten, dass keiner, sagen wir, Kroate sein kann, der nicht Muslim ist? Und wenn es so ist, wenn wir es so halten, dann sind wir bereit, den Tanz anzuführen, und wir werden die Macht, das Können haben … Aber auf diese Weise, solange wir unsere Sache nicht zu unserer eigenen Sache machen werden, solange wir den anderen überlassen für uns zu denken, dabei lügend, dass uns der Islam das Prinzip der Nationalität verbietet – so werden wir wie Kinder sein und bleiben, welche über ihr Schicksal nicht selber entscheiden.] »Šta Turci, kakvi Turci? Misliš muslimi? I sam üeš priznati, da mis nismo ni Kinezi, ni Amerikanci, ni Englezi – nešto moramo biti … Islam nije tako uzahan i malen, kako ga ti držiš. Zar Franak, Talijan, Šved ne bi ostali to isto, sve kad bi i Islam prigrlili? Islam ne izkljuþuje ni jednoga naroda, pak ni nama ne brani da ostanemo po prošlosti, po krvi, jeziku, po buduünosti ono, što jesmo – da ostanemo Hrvati … Zar Arab – makar muslim ili kao što ti veliš ›Turþin‹ – sve isto nije Arab? A Arab i muslim nije jedno te isto: þitav bi sviet od jednom mogao postati muslimski – ali za to ne üe nikada biti ni arabski ni turski. [...] Zar i ti ne bi mogao postaviti tvrdnju, da me može, recimo, biti Hrvat, tko nije muslim? I ako je do toga, da se toga držimo, onda evo nas, budimo spremni, povedimo kolo – I onda üemo mi biti snaga, moü … A ovako, dok mi našu stvar ne üemo da uþinimo našom vlastitom, dok drugima prepuštamo da za nas misle, lažuü zu to, da nam Islam zabranjuje naþelo narodnosti – ovako üemo biti I ostati djeca, koja o svomu udese ne odluþuju …«. (OsmanAziz 1897, 124f.)
Die Orientierungslosigkeit, die Osman-Aziz von der bosnischen Forschung vorgeworfen wurde, kann nach der genauen Betrachtung des Materials nicht nachvollzogen werden. Osman Nuri Hadžiü und Ivan Aziz Miliþeviü scheinen im Gegenteil ein sehr klares Bild ihrer eigenen Identität zu besitzen: Hadžiü ist Muslim, Miliþeviü Katholik. Beide sind Herzegowiner und Bewohner Bosnien-Herzegowinas. Doch da sowohl in der Herzegowina als auch in Kroatien das ijekavische Idiom
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gesprochen wird, sehen sie sich, basierend auf ihrem Verständnis von politischer Gemeinschaftsstiftung, als Kroaten im nationalen Sinne. Die Trennung der einzelnen Identitäten – regionaler von religiöser von politischer – muss hier im Gegenteil als ziemlich modern betrachtet werden: konfessionelle Unterschiede wurden bei einem gemeinsamen Ziel nebensächlich, historisch gewachsene Zusammengehörigkeit wird höher bewertet als ethnische oder religiöse Differenzen. Und der Islam, im Westen oft als ein modernisierungsfeindlicher und exkludierender Glaube betrachtet, wird von Osman-Aziz gerade als Argument für politischen Fortschritt und für die Zugehörigkeit zu einem westlich-christlichen Land eingesetzt.
O SMAN Ĉ IKIû Osman Ĉikiü wurde ebenfalls in Mostar geboren, wechselte später auf ein Gymnasium nach Belgrad und absolvierte die Handelsschule in Istanbul und Wien. Gläubiger Muslim und patriotischer Herzegowiner (mehrere seiner Gedichte tragen Überschriften wie »Gruß an die Heimat« (»ɉɨɡɞɪɚɜ ɞɨɦɨɜɢɧɢ«, ɋɚɛɪɚɧɚ ɞjeɥa 1971) oder »Ich bin ein junger Herzegowiner« (»Jɚ ɫɚɦ ɦɥɚɞɨ ɏɟɪɰɟɝɨɜɱɟ«, ebd.), kam er schon früh über die Mitarbeit bei »Zora« in Kontakt mit dem serbischnationalistisch-aufklärerischen Gedankengut und widmete sich in Sarajevo ab 1898 der ›Rekrutierung‹ muslimischer Schüler für die serbische Gesellschaft Gusle. Ab 1909 arbeitete er für die muslimische Organisation Gajret. Neben seinen Beiträgen in diversen Literaturzeitschriften und einigen frühen Dramen, die sich mit Themen wie den Unabhängigkeitsbewegungen auf dem Balkan, der Emigration von Muslimen aus Bosnien und auch mit der Modernisierung des Osmanischen Reiches selbst auseinandersetzen9, veröffentlichte er während der Zeit in Belgrad die drei bereits erwähnten Lyrik-Bände. Sie zeichnen sich durch eine Kombination einiger bemerkenswerter Aspekte aus: Auf Kyrillisch verfasst, verwendet Ĉikiü in ihnen durchgehend das in der Herzegowina übliche ijekavische Idiom; dasselbe, anhand dessen Osman-Aziz ihre Zugehörigkeit zu Kroatien argumentierten.
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In seinem Drama Zlatija geht es z.B. um den Konflikt zwischen den muslimischen ›Ureinwohnern‹ Bosniens und den Vertretern der türkischen Regierung. (Vgl. Lešiü 1971, 27)
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Ĉikiü’ Gedichte sind jedoch eine nostalgische Erinnerungen an die großserbische Vergangenheit, kombiniert mit Elementen der westeuropäischen Romantik und der südslawischen Mythologie. Gleichzeitig verwendet er mehr orientalische Elemente, besonders Turzismen und Arabismen bis hin zu ganzen türkischen Sätzen (auch diese in kyrillischer Schrift), als andere bosnische Schriftsteller seiner Zeit und verehrt Allah und den Islam offenkundig. Auch Osman Ĉikiü’ erklärtes Ziel war es, eine Verbindung zwischen westlicher Moderne und osmanischen Traditionen generell zu finden; in seinem spezifischen Fall zwischen islamischer traditioneller Ästhetik, herzegowinischem Patriotismus und serbischem Nationalismus. Vier Motive ziehen sich dabei durch seine Werke: der Kampf gegen einen (wechselnden) Feind, der Glanz der vergangenen, präosmanischen Zeit, die brüderliche Einheit und der Glaube bzw. Gott/ Allah. Josip Lešiü beschreibt den Autor in dem Vorwort der Gesammelten Werke (ɋɚɛɪɚɧɚ ɞjɟɥɚ, Sarajevo 1971) wie folgt: [Literatur war für ihn nicht das Ziel, sondern ein Mittel. [...] Moralische Werte waren bei ihm vorherrschend vor der Ästhetik. Und deswegen war und blieb er, sowohl als Dichter als auch als Dramatiker und Journalist in erster Linie national-kultureller Aktivist und Sozialreformer.] »Ʌɢɬɟɪɚɬɭɪɚ ɡɚ ʃɟɝɚ ɧɢʁɟ ɛɢɥɚ ɰɢɥj ɜɟʄ ɫɪɟɞɫɬɜɨ. [...] Ɇɨɪɚɥɧɟ ɜɪɟɞɧɨɫɬɢ ɫɭ ɤɨɞ ʃɟɝɚ ɩɪɟɨɜɥɚɻɚɜɚɥe ɧɚɞ ɟɫɬɟɬɫɤɢɦ. ɂ ɡɚɬɨ ʁɟ ɨɧ, ɤɚɨ ɩʁɟɫɧɢɤ, ɢ ɤɚɨ ɞɪɚɦɫɤɢ ɩɢɫɚɰ ɢ ɧɨɜɢɧɚɪ ɛɢɨ ɢ ɨɫɬɚɨ ɩɪɟɜɚɫɯɨɞɧɨ ɧɚɰɢɨɧɚɥɧɨ - ɤɭɥɬɭɪɧɢ ɪɚɞɧɢɤ ɢ ɞɪɭɲɬɜɟɧɢ ɪɟɮɨɪɦɚɬɨɪ.« (Lešiü 1971, 9)
Zwei Gedichte sollen an dieser Stelle stellvertretend näher betrachtet werden: »Traum« (ɋɚɧ) und »Gebet« (Ɇɨɥɢɬɜɚ), beide aus dem Gedichtband Bruderschaft (Pobratimstvo, 1900). Für diese Arbeit ist die Betrachtung einiger Verse ausreichend: Nachdem Ĉikiü im ersten Gedicht »Traum« beschrieben hat, wie ihm im Traum eine Fee (Vila10)
10 Die Verehrung von Feen und Nixen ist spätestens seit dem 6. Jahrhundert dokumentiert: »In den weit verbreiteten Erzählungen werden die Vily als schöne Mädchen mit durchsichtigem Körper, weißem Kleid, langem goldenem oder rötlich blondem Haar beschrieben, das das Zentrum ihres Lebens und ihrer Kraft birgt – der Verlust eines einzigen Haars bedeutet ihren Tod. Zu ihrer bezaubernden Erscheinung tritt noch eine überaus schöne
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erscheint, »hübscher als das Morgengrauen in einer purpurfarbenen Toga« (»ʂɟɩɲɚ, ɧɟɝɨ ɡɨɪɚ ɭ ɝɪɢɦɢɡɧɨʁ ɬɨɡɢ«), lauten die Verse drei bis fünf: [Aus roten Rosen, tiefblauen Veilchen Und weißen Tulpen ein Kranz aus drei Farben, Geflügeltes Mädchen, mitten in der Blumenwiese Im Traum berichtet sie uns, ihre weißen Hände Pressend auf die überquellende Brust, Wie das Singen der Engel, volle paradiesische Wonne Gemischt mit Wehmut erweckt sie das Lied, Und sang es lang durch die stille Nacht. Sie besang die Ehre meiner Vorzeiten, Und die Macht der Serben während Dušans Zeit, Sie besang den Mut des ruhmreichen Krieges Vom blutigen Kosovo – des Serben Grab.]
»Ɉɞ ɪɭɦɟɧɟ ɪɭɠɟ, ʂɭɛɢɰɟ ɩɥɚɜɟɬɧɟ ɂ ɛɢʁɟɥɟ ɥɚɥɟ ɜ’ʁɟɧɚɰ ɨɞ ɬɪɢ ɛɨʁɟ, Ʉɪɢɥɚɬɚ ɞʁɟɜɨʁɤɚ, ɫɪɟɞ ɥɢɜɚɞɟ ɰɜ’ʁɟɬɧɟ ɍ ɫɧɭ ɦɢ ɫɟ ʁɚɜɢ, ɛ’ʁɟɥɟ ɪɭɤɟ ɫɜɨʁɟ. ɉɪɢɬɢɫɤɭʁɭʄ’ ɨɧɚ ɧɚ ɩɪɟɛɭʁɧɟ ɝɪɭɞɢ, Ʉɚɨ ɩɨʁ ɚɧɻɟɥa, ɩɭɧɭ ɪɚʁɫɤɨɝ ɦɢʂɚ ɉɨɦʁɟɲɚɧɭ ɬɭɝɨɦ ɩʁɟɫɦɢɰɭ ɪɚɡɛɭɞɢ, ɂ ɤɪɨɡ ɩɨɧɨʄ ɧ’ʁɟɦɭ ɞɭɝɨ ʁɭ ʁɟ ɜɢɥɚ. ɉɨʁɚɥɚ ʁɟ ɫɥɚɜɭ ɩɪɟɻɚ ɦɨʁɢɯ ɞɚɜɧɢ’, ɂ ɦɨʄ ɋɪɛɢɧɨɜɭ Ⱦɭɲɚɧɨɜɢ ɞɨɛɚ, ɉɨʁɚɥɚ ʁɟ ɯɪɚɛɪɨɫɬ ɛɨɪɢɨɰɚ ɫɥɚɜɧɢ’ ɋ’ Ʉɨɫɨɜɚ ɤɪɚɜɚɜɚ, – ɋɪɛɢɧɨɜɚ ɝɪɨɛɚ.« (Ĉikiü 1971, 56f.)
Die drei Farben rot, blau und weiß repräsentieren die serbische Flagge, später dann auch die südslawische (= jugoslawische) Einheit. Doch
Stimme. Sie singen und tanzen mit Vorliebe in einem Kreis (die sog. vilino kolo bei den Südslawen).« (VáĖa 1992, 111)
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auch die von Ĉikiü gewählten Blumen haben eine symbolische Bedeutung. Die rote Rose als Metapher für Liebe und Leidenschaft ist eindeutig. Das Veilchen steht im Volksmund zwar eher für Bescheidenheit und Demut, in anderen Deutungen jedoch auch für Hoffnung, Fruchtbarkeit und das Paradies. Die Tulpe, als Symbol des Lebens, ist jedoch besonders interessant. Sie war im Osmanischen Reich eine der kostbarsten Blumen und findet sich im Wappen wieder. (Vgl. Beuchert 2004) Ĉikiü verbindet Liebe, Hoffnung und Leben mit der serbischen Flagge – und schafft, über die Tulpe, eine Assoziation zum Osmanischen Reich. Die Fee drückt die Blumen zudem auf ihre »von paradiesischer Wonne überquellende Brust«, eine Liebeserklärung an das serbische Mutterland. Doch dann mischt sich Wehmut in ihre Stimme, als sie »die Macht der Serben während Dušans11 Zeit« besingt. Hier ist besonders Ĉikiü’ Kombination der Heldenverehrung Dušans als Kirchenvater, dessen gesetzliche Pflicht es war die Häresie (und damit den Islam) zu bekämpfen, mit seiner persönlichen muslimischen Überzeugung interessant: Ĉikiü vertrat offensichtlich ebenso wie Hadžiü und Miliþeviü ein laizistisches Politikkonzept. Das serbische Staatsverständnis war für Ĉikiü nicht an die Orthodoxie gekoppelt. Es ist das moderne Postulat seiner Gedichte. Dies wird in den folgenden Versen noch deutlicher: [– Dann besang sie die Spaltung der einblütigen Brüder, die wegen religiösen Hasses sich wie Henker schlachteten, dann besang das Mädchen jene schwarzen Tage, als ein Bruder seinen Bruder einen verfluchten Feind nannte.]
11 Stefan Uroš IV. Dušan Silni (der Mächtige) herrschte von 1308 bis 1355 über ein als ›Großserbien‹ bezeichnetes Reich. Diese Jahre gelten heute im kollektiven Gedächtnis Serbiens als das ›Goldene Zeitalter‹. Neben seinen kriegerischen und politischen Leistungen – er dehnte sein Reich nicht nur auf eine gewaltige Größe aus, sondern verteidigte es auch gegen die mächtigen Osmanen – gründete er ein eigenes serbisches Patriarchat mit Sitz in Peü; er gilt somit als Gründer der serbischen Nationalkirche. In dem 1349 von ihm veröffentlichten ersten serbischen Gesetzbuch wird zudem der serbische Kaiser und König als Verteidiger der orthodoxen Kirche und des Christentums festgelegt (vgl. http://www.spcoluzern.ch/index.php?pg=2038&lang=de, Zugriff: 08.11.2010).
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»– Ɍɚɞ ɡɚɩɨʁɚ ɪɚɡɞɨɪ ɛɪɚʄɟ ʁɟɞɧɨɤɪɜɧɟ, ɲɬɨ ɪɚɞ ɜʁɟɪɫɤɟ ɦɪɠʃɟ ɤɪɜɧɢɱɤɢ ɫɟ ɤɥɚɲɟ, Ɍɚɞ ɩɨʁɚɲɟ ɞʁɟɜɚ ɨɧɟ ɞɚɧɟ ɰɪɧɟ, Ʉɚɞ ɛɪɚɬ ɛɪɚɬɚ ɤɥɟɬɢɦ ɞɭɲɦɚɧɢɧɨɦ ɡɜɚɲɟ.« (Ĉikiü 1971, 56f.)
Während Osman-Aziz konkret von einer Blutsverwandtschaft der bosnischen Turci und der Kroaten sprechen, kann man bei Ĉikiü nur vermuten, dass er sich mit den »einblütigen Brüdern« auf die in Bosnien lebenden »muslimischen Serben«, die in Kroatien lebenden »römischen Serben« und die in Serbien lebenden »orthodoxen Serben« bezieht – die Bezeichnung Bosnier, Bosniaken oder auch Kroaten findet sich in seinen lyrischen Werken nicht. Wie für Osman-Aziz eine historische Verbindung zwischen Bosnien-Herzegowina und Kroatien bestanden hatte, sieht Ĉikiü die gleiche Verwandtschaft zwischen Bosnien und Serbien. Vermutlich wurde er sowohl von Ilija Garašanins zunächst noch geheimer Denkschrift Programm der auswärtigen und nationalen Politik Serbiens Ende 1844 (Belgrad 1844), die später unter dem Titel Entwurf (Naþertanije) bekannt wurde, als auch von Vuk Stefanoviü Karadžiü’ Serben sind alle und überall (Srbi svi i svuda, Belgrad 1836) sowie dessen kulturpolitischen Errungenschaften rund um das 1850 geschlossene Wiener Schriftsprachenabkommen (Beþki književni dogovor) inspiriert.12 Besonders Karadžiü’ sprachbasierter Nationalismus, der sich auf die ›vernunftgemäße‹ Bestimmung nationaler Identität durch einheitliche Sprache stützt, entsprang Ĉikiü’ (und Osman Nuri Hadžiü sowie Ivan Aziz Miliþeviü’) geliebter Heimatregion: der »ostherzegowinische Typ der ijekavischen Štokavština« (Behschnitt 1980, 69) sollte zum Standard einer gemeinsamen serbo-kroatisch bzw. kroato-serbischen Schriftsprache erhoben werden. Die Serben, Bosnier und Kroaten seien, verfolgt man Karadžiü’ Theorie weiter, ein von drei Konfessionen gespaltenes Volk, das im Laufe seiner Geschichte und durch äußere Einflüsse (z.B. die pragmatische Wahrung von Privilegien bei den zum Islam konvertierten Bosniern) seinen wahren nationalen (= serbischen) Namen verloren habe. (Vgl. ebd., 74) »Wenn die kroatischen Patrioten dieser auf der Vernunft gründen-
12 Seine Bewunderung für letzteren drückt Ĉikiü in dem Gedicht »An Vuk Stefanoviü Karadžiü« (»ȼɭɤɭ ɋɬ. Ʉɚɪɚʇɢʄɭ«, ɋɚɛɪɚɧɚ ɞjeɥa 1971, 70) aus.
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den Einteilung nicht zustimmen, so kann man gegenwärtig nichts anderes machen, als daß wir uns nach dem Glaubensbekenntnis oder der Religion unterscheiden. […] Über diese unsere Unterscheidung«, so fügt er sofort ironisch hinzu, könnten Ausländer »in der heutigen Zeit lachen, aber was sollen wir tun, wenn wir unglückliche Menschen sind und nicht anders können?« (Karadžiü, in: Behschnitt 1980, 81) Dem angeschlossen ist Ĉikiü’ erklärtes literarisches Ziel einer Aussöhnung aller Serben: [– Dornenreich ist der Pfad, auf welchem du wandelst, Aber der Weg zum Recht ist immer voller Schwierigkeiten; Marschiere beständig, glücklich wirst du ihn überqueren, Und eine schöne Zukunft voller Glück wird kommen. – Halte durch, verzweifele nicht, dieser Weg ist heilig, Allah wird ewig geben und die dreigläubigen Brüder Durch den Glauben entbrüdert, verbrüdern sich erneut, Und werden sich wirbeln im serbischen Reigen, umarmt.] »– Ɍɪɧɨɜɢɬɚ j’ ɫɬɚɡɚ, ɤɨʁɨɦ ɬɢ ɫɟ ɤɪɟʄɟɲ, Ⱥɥ’ ɩɭɬ ɤ ɩɪɚɜɞɢ ɭɜ’ʁɟɤ ɩɪɟɩɭɧ ʁɟ ɬɟɲɤɨʄɟ; ɍɫɬɪɚʁɧɨ ɫɬɭɩɚʁ, ɫɪɟʄɧɨ ʃɟɝɚ ɩɪɟʄɟɲ, Ⱥ ɛɭɞɭʄɧɨɫɬ ʂɟɩɲɚ, ɩɭɧɚ ɫɪɟʄɟ ɞɨʄɟ. ɍɫɬɪɚʁ, ɧɟ ɨɱɚʁɚʁ, ɫɜɟɬɚ ʁ’ ɫɬɚɡɚ ɨɜɚ, Ⱥɥɥɚɯ ɜʁɟɱɧɢ ɞɚʄɟ ɢ ɛɪɚʄɚ ɬɪɨɜʁɟɪɧɚ ȼʁɟɪɨɦ ɪɚɡɛɪɚʄɟɧɚ, ɡɛɪɚɬɢʄɟ ɫɟ ɫ’ ɧɨɜɚ, ɂ ɜɢɧɭʄɟ ɫɪɩɫɤɢɦ ɤɨɥɨɦ ɡɚɝɪʂɟɧɚ.« (Ĉikiü 1971, 56f.)
Seine großserbische Überzeugung wird hier noch einmal durch die Erwähnung der »dreigläubigen Brüder«, die durch den Glauben entzweit wurden und sich jetzt, erneut versöhnt, im »serbischen Reigen« umarmen, versinnbildlicht. Und dies alles geschieht mit Allahs Segen. Denn die Religion, in diesem Fall der Islam, ist ein fester Bestandteil seiner Identität und kann nicht negiert werden. Generell wird der Glaube bei keinem der hier betrachteten Autoren in Frage gestellt. Der später in Jugoslawien experimentierte Versuch des Zurückdrängens der Religion für die über-ethnische Einheit ist (noch) keine Option. Stattdessen propagiert Ĉikiü besonders in seinem ersten Werk Bruder-
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schaft eine intra- und suprareligiöse Bruderschaft der Muslime und Christen in Bosnien, Serbien und Kroatien, ohne dabei jedoch einen südslawischen Gedanken zu formulieren: Vermutlich wurde er auch hier von Vuk Karadžiü’ Theorie beeinflusst, dass »sich einst alle slawischen Völker Serben nannten und der Name Serbe älter als Slawen (›Slaveni‹) oder Slowen (›Sloveni‹)« sei. (Karadžiü, in: Behschnitt 1980, 76) Das zweite Gedicht, Gebet, ist eine Lobeshymne auf Gottes Größe und Stärke. Die ersten fünf Strophen sind an dieser Stelle inhaltlich wenig interessant, doch Strophe sechs und sieben bilden für den heutigen Leser einen klaren Bruch: [Segne diesen Felsen Allah, Allah, starker Gott Lass hier immer erklingen die liebliche Stimme des Muezzins. Das Licht des muslimischen Glaubens, wird uns das Herz ewig wärmen! Gott bewahre, dass dichte Dunkelheit das Licht der Sonne verdecke!] »Ȼɥɚɝɨɫɥɨɜɢ ɫɬ’ʁɟʃɟ ɨɜɨ, Ⱥɥɥɚɯ, Ⱥɥɥɚɯ, Ȼɨɠɟ ɋɢɥɧɢ, ɇɟɤ ɫɟ ɜʁɟɱɧɨ ɬɭɧɚ ɨɪɢ, Ɇɭʁɟɡɢɧɚ ɝɥɚɫ ɭɦɢɥɧɢ! ɋɜɟɬɚ ɜʁɟɪɚ Ɇɭɫɥɢɦɚɧɫɤɚ ɇɟɤ ɧɚɦ ɜʁɟɱɧɨ ɫɪɰɟ ɝɪɢʁɟ! ɇɟ ɞɚʁ Ȼɨɠɟ, ɝɭɫɬɚ ɬɦɢɧɚ ɋɜɟɬɥɨɫɬ ɫɭɧɰɚ ɞɚ ɫɚɤɪɢʁɟ!« (Ĉikiü 1971, 54f.)
Dass Ĉikiü dabei Allah und Gott synonym verwendet, scheint für ihn keinen Konflikt darzustellen, es findet sich in mehreren seiner Gedichte. Doch wie passt der Wunsch, dass die liebliche Stimme des Muezzins für immer erklingen möge und der muslimische Glaube ewig bestehe mit Ĉikiü’ serbischem Patriotismus zusammen? Betrachtet man das Inhaltsverzeichnis seiner Gesammelten Werke, so findet sich neben der Hymne der serbischen Muslime (ɏɢɦɧɚ ɋɪɛɚ Ɇɭɫɥɢɦɚɧɚ), in der
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Ĉikiü fordert, dass Gerechtigkeit und Bruderliebe von einem Lied durch die serbische Heimat getragen werden, neben dem bereits erwähnten Ich bin ein junger Herzegowiner, in dem er die Heldenvergangenheit der Bewohner seiner Region rühmt, neben einem Gedicht mit dem klangvollen Namen Ihm. Dem Zar. Seiner Majestät, dem Sultan – Abdul Hamid Han II.(ȵɟɝ. ɐɚɪ. ȼɟɥɢɱɚɧɫɬɜɭ ɫɭɥɬɚɧɭ – Ⱥɛɞɭɥ ɏɚɦɢɞɭ ɏɚɧɭ II-ɨɦɟ), das Ĉikiü anlässlich der djulus, einer Art Krönungszeremonie (vgl. Bosworth et al. 1991, 530) des Sultans im Jahre 1899 verfasste. In letzterem beendet er jede Strophe mit einem türkischen Ausruf – etwa: »Dem Sultan gute Gesundheit!« (»ɉɚɞɢɲɚɯɭɦ ɱɨɤɥɟɪ ʁɚɲɚ!«), den er konsequent ebenfalls mit kyrillischen Schriftzeichen wiedergibt. Auch Ĉikiü verfügte über mehrere, parallele Identitäten, wenn man so will auf verschiedenen Ebenen: Er war, ebenso wie Osman Nuri Hadžiü und Ivan Aziz Miliþeviü ein stolzer Herzegowiner, der Mostar mehr als seine Heimat betrachtete als ›BosnienHerzegowina‹, zudem war er (soz. ›privat‹) ein Muslim – und, nationalpolitisch gesehen, ein Serbe. Den Widerspruch darin brachte erst die zunehmende Nationalisierung der Nachbarländer und der breiten Masse der bosnischen Muslime, besonders nach dem Auseinanderbrechen Jugoslawiens, mit sich.
R ESÜMEE Betrachtet man die Arbeiten der hier vorgestellten drei Autoren, lassen sich folgende Aussagen festhalten: Die Verknüpfung von nationaler und religiöser Identität in den klaren Kategorisierungen Serbisch = Orthodox, Kroatisch = Katholisch und Bosni(aki)sch = Muslimisch, die heute in Bosnien-Herzegowina das gesellschaftliche und politische Leben bestimmt, lässt sich bei den betrachteten Autoren so nicht erkennen. Stattdessen existierten verschiedene Identitäten parallel: Osman Nuri Hadžiü sieht sich erst als Türke, dann als kroatischer Muslim bzw. muslimischer Kroate, später wird er (muslimischer) Serbe. Osman Ĉikiü bezeichnet sein Volk als »serbisch« (die serbische Vila aus ɋɚɧ sagt »Ich bin die Fee deines Volkes« (»jɚ ɫɚɦ ɬɜɨɝɚ ɪɨɞɚ ɜɢɥɚ«, Ĉikiü 1971, 57), den Sultan als seinen Kaiser, sich selber als Herzegowiner und als Muslim. Diese religiös-nationalen Grenzen, heute als historisch gewachsen und dementsprechend irreversibel angesehen,
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waren im Bosnien-Herzegowina der Jahrhundertwende offensichtlich weitgehend offen und verschwommen. In den hier vorgestellten Arbeiten wird deutlich, dass sich die jungen bosnisch-muslimischen Autoren ihrer Identität bzw. ihrer Identitäten darüber hinausgehend sehr deutlich bewusst waren: Sie waren Muslime und Bewohner Bosniens bzw. der Herzegowina. Doch eine ›Nation‹ konnte ihrem modernen Politikverständnis nach lediglich auf gemeinsamer Sprache oder gemeinsamer Kulturgeschichte basieren – nicht ausschließlich auf gemeinsamer Religion. Eine bosnisch-herzegowinische Nation, gegründet auf der muslimischen Oberschicht, entbehrte für sie jeder über den kulturellen Rahmen hinausgehenden gemeinschaftsstiftenden Grundlage. Auch die Verknüpfung von Schriftsprache bzw. Alphabeten und politischen Überzeugungen in der ebenfalls bekannten Gleichung proSerbisch=Kyrillisch und pro-Kroatisch=Lateinisch ist ein nachträglich in jene Zeit projiziertes Denken: Die bosnisch-muslimischen Intellektuellen verwendeten in ihren Werken oft mehrere Alphabete parallel (z.B. lateinisch und arabisch). Ĉikiü’ Verbindung des herzegowinischen Idioms oder der türkischen Wörter bei gleichzeitiger kyrillischer Schreibweise lässt darauf schließen, dass die Autoren die verwendete Schrift vermutlich aus praktischen Aspekten wählten. Dem Gesamtkonzept der serbisch und kroatisch orientierten Zeitschriften mag eine politische Intention zugrunde gelegen haben, die einzelnen Publikationen der Autoren passten sich dann vermutlich lediglich der übergeordneten Publikationsform an. Auffällig ist zudem, dass der Begriff ›Bosnier‹ nicht in den Werken vorkommt, obwohl dieser eine durchaus geläufige Eigenbezeichnung war. Er wurde zusätzlich von der österreichisch-ungarischen Politik jener Jahre unter Benjámin von Kállay nachdrücklich propagiert – sowohl als Bezeichnung für die Sprache als auch für das Volk. (Vgl. Džaja 1994, 208) Dies hatte zum einen ganz praktische Gründe: ein selbstbewusstes Bosnien ließ sich leichter vor den Einflüssen Serbiens und Kroatiens bewahren. Doch noch ein anderer Grund spielt hier mit hinein. Die fehlende ethnisch-nationale Identität der bosnischen Muslime wurde erst in der österreichisch-ungarischen Wahrnehmung bzw. durch die Nationalbewegungen der Nachbarländer zu einem Problem. Dabei entstand ein Paradoxon: Denn um die religiöse Trennung der bosnischen Bewohner zu überwinden, führte die k.u.k. Regierung neue ethnische Kategorien ein. Indem sich jedoch hauptsächlich die bosni-
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schen Muslime als Bosnier bzw. Bosniaken bezeichnen sollten, setzte die Habsburger Monarchie einen Prozess in Gang, dessen Substrat in der nationalen Entwicklung der bosnischen Muslime in Jugoslawien wirksam wurde und in der bereits erwähnten Kategorie ›Muslim als Nation‹ endete. Am bedeutendsten jedoch scheint die hier deutlich gewordene Verbindung von Islam und Laizismus seitens der bosnischen Muslime bzw. von Katholizismus und Politik seitens der Habsburger zu sein: Die österreichisch-ungarische Monarchie machte den sog. orientalischen Einfluss für den mangelnden zivilisatorischen Fortschritt in Bosnien-Herzegowina verantwortlich, z.B. in Schweiger-Lerchenfelds Bosnien. Das Land und seine Bewohner (1878), in dem ein Kapitel die Überschrift »Der Islam als Hinderungsgrund der Civilisation« trägt. Bis heute wird auch in Bosnien selbst die fünfhundert Jahre währende osmanische Herrschaft als ein dunkles, unglückliches Kapitel der eigenen Geschichte präsentiert. Das osmanische System wird dabei als alleiniger Grund für die bis heute bestehende enge Verknüpfung von politischer, religiöser und ethnischer Identität verantwortlich gemacht. Die Beispiele Osman Nuri Hadžiü’, Ivan Aziz Miliþeviü’ und Osman Ĉikiü’ zeigen jedoch, dass zum Ende der Türkenherrschaft eine Modernisierungswelle durch die osmanisch-islamischen Gesellschaften ging, die in der Radikalität der Umsetzungsforderungen der ‚modernen’ Gedanken dem Westen voraus war. Die Politisierung der bosnischen Sprache und der Religion – sowohl der christlichen als auch der islamischen – durch die österreichisch-ungarische Monarchie, und diese These wird an anderer Stelle noch ausführlicher zu analysieren sein, beendete diese Entwicklung jedoch, bevor sie sich auch außerhalb der kleinen Intellektuellengemeinschaft durchsetzen konnte. Interessant ist an dieser Stelle noch die Rezeption von OsmanAziz’ und Ĉikiü’ Arbeiten: Sie fand und findet bis heute kaum statt. Außer der bereits genannten Vorwürfe an Osman-Aziz, dass ihre Literatur mehr zweckdienlich als literarisch anspruchsvoll sei, erlangte die Kooperation der beiden Studenten nicht allzu viel Aufmerksamkeit – tatsächlich waren sie als Einzelautoren erfolgreicher. (Vgl. Sariü 2005, 25) Ein großer Teil der Bevölkerung sah ihre gemeinsamen Ansichten nicht nur als unpatriotisch, sondern als Verrat ›aus den eigenen Reihen‹ an. Ein ähnliches Schicksal erfährt Osman Ĉikiü: Seine Gesammelten Werke sind seit den 1970er Jahren nicht wieder neu aufgelegt worden
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und die Behandlung seiner Gedichte in der derzeit umfassendsten Chrestomathie bosnischer literaturkritischer Texte, dem 1998 in Sarajevo von Enes Durakoviü herausgegebenen Sammelband Bosniakische Literatur in der Literaturkritik (Bošnjaþka književnost u književnoj kritici), fällt mit nur zwei kurzen Aufsätzen äußerst knapp aus. Die Tatsache, dass die drei Autoren nicht zu einer klaren religiösen, politischen und dementsprechend nationalen Linie zugeordnet werden konnten, wurde ihnen vermutlich zum (beruflichen) Verhängnis.
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Bosnische Brücken als Naht der Kulturen T ANJA Z IMMERMANN
B RÜCKEN SCHLAGEN ALS UND ARTEFAKT
M ETAPHER
Brücken sind nicht nur funktionale Bauwerke, die zu politischen und wirtschaftlichen Zwecken Territorien miteinander verknüpfen. Brücken zu schlagen ist stets auch ein metaphorischer Akt, welcher die Bauwerke in »Realmetaphern« (Nibbrig 1995, 27f.) oder gar »absolute Metaphern« (Blumberg 1998, 10f.) transformiert. Die Brücke ist in diesem Sinne nicht nur ein räumlicher Übergang von einem zum anderen Ufer, sondern zugleich auch der Übergang des Artefakts in eine Metapher. Es handelt sich um eine Bewegung vom Konkreten ins Übertragene und vice versa. Diese Eigenschaft der Brücke erkannte der jugoslawische Schriftsteller Ivo Andriü lange bevor er seinen berühmten und nobelpreisgekrönten Roman Die Brücke über die Drina (Na Drini üuprija, 1945, Nobelpreis 1961) veröffentlichte. Bereits in einem Essay aus dem Jahre 1932 bezieht er sich auf die Brücke als eine besondere rhetorische Figur und gebraucht sie sozusagen als eine Metapher für die Metapher. Andriü stuft Brücken wegen ihrer Gemeinnützlichkeit schließlich nicht nur höher als andere Bauwerke, wie z.B. Kirchen und Häuser, ein. Seine Gedanken lösen sich vielmehr im selben Moment von dem Bauwerk und gehen im Zuge der Reflexion in die Sphäre des Metaphorischen über:
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»Von allem, was der Mensch in seinem Lebenstrieb errichtet und erbaut, scheint meinen Augen nichts besser und wertvoller zu sein als die Brücken. Sie sind wichtiger als Häuser, heiliger, weil gemeinsamer als Kirchen. Allen gehörig und allen gegenüber gleich nützlich, immer sinnvoll errichtet an dem Orte, an dem sich die meisten menschlichen Bedürfnisse kreuzen; sie sind ausdauernder als andere Gebäude und dienen keinem heimlichen oder bösen Zwecke. […] So begegne ich überall auf der Welt, wohin sich mein Gedanke auch bewegt und wendet, getreuen und schweigsamen Brücken, als Zeichen des ewigen und immer ungesättigten Wunsches der Menschen, alles miteinander zu verbinden, zu versöhnen und zu vereinen, was vor unserem Geist, unseren Augen und Füßen auftaucht, damit es keine Trennung mehr gäbe, keine Gegnerschaft und keinen Abschied. […] Und endlich: Alles, worin sich unser Leben ausdrückt – Bemühungen, Gedanken, Blicke, Lächeln, Worte, Seufzer – all dies drängt zum andern Ufer; strebt ihm als Ziel entgegen und wird an ihm erst seinen wahren Sinn finden. All dies hat etwas zu überwinden und zu überbrücken: Unordnung, Tod oder Sinnlosigkeit. Denn alles ist Übergang, Brücke, deren Enden sich im Unendlichen verlieren […].« (Andriü 1956, 150)
Diese metaphorische Dimension verleiht dem Bau von Brücken ebenso wie ihrer Zerstörung stets einen symbolischen Charakter. Ein prominentes Beispiel ist etwa die Sprengung der Alten Brücke von Mostar am 9. November 1993 durch eine Einheit der kroatischen Artillerie. Auch in ihrer sozialen Funktion nehmen Brücken eine besondere Funktion ein. Andriü bemerkte schließlich bereits, dass sie anders als Häuser, Burgen oder Siedlungen, die eine räumliche Fixierung implizieren, auf eine dynamische Bewegung in Raum und Zeit hindeuten. Dennoch besitzen sie, wie eine Stadt auch, die Eigenschaften eines sozialen Dreh- und Angelpunktes. Laut Georg Simmel erzeugen sie als ein solcher unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen, zwischen denen sie eine bestimmte Distanz etablieren, welche wiederum in einer komplexen Wechselwirkung auf Abhängigkeit beruht. (Simmel 1995, 146-150, 201-220) Durch ihre paradoxe soziale Funktion – schließlich sind sie zugleich zentripetal und zentrifugal ausgerichtet – vermitteln Brücken zwischen Bewegung und Stillstand, Transfer und Niederlassung. In Narrativen der südosteuropäischen Literaturen markieren Brücken nicht nur räumliche Übergänge, sondern stets auch temporale Brüche, wie z.B. zwischen Tradition und Moderne oder eine Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen. Als territorial und temporal limina-
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ler Passagenraum ermöglichen sie die Begegnung und Aushandlung verschiedener nationaler und transnationaler Identitätskonstruktionen. Dabei nimmt die Brücke die Funktion einer (chirurgischen) Naht (suture) an, die zwischen unterschiedlichen Kulturtraditionen und Gemeinschaften vermittelt. Die Vernähung der Kulturen erfolgt durch spezifische Erzählstrategien, für welche der zugehörige psychoanalytische Begriff von Jacques Lacan und Jean-Pierre Oudart gewinnbringend operationalisiert werden kann.1 Lacan, der den medizinischen Terminus suture in die Psychoanalyse importierte, sieht in der Subjektkonstituierung einen Akt der Vernähung des Imaginären mit dem Symbolischen, des Bildes mit der Sprache. (Lacan 1996, 67) Die Urszene der Vernähung verortet er im sogenannten Spiegelstadium, in dem das motorisch noch ungeschickte Kleinkind beim Anblick seiner selbst im Spiegel eine Einheit zwischen dem Ich und dem Anderen herstellt. Die Vernähung erfolgt laut Lacan in einer antizipierenden Vervollständigung des Ich – als eine Projektion in einer zeitlichräumlichen Dialektik, durch die das Fremde im Spiegel dem Eigenen inkorporiert wird.2 Diese Entwicklung wird erlebt als eine zeitliche Dialektik, welche die Bildung des Individuums entscheidend als Geschichte projiziert: Das Spiegelstadium ist ein Drama, dessen innere Spannung von der Unzulänglichkeit auf die Antizipation überspringt und für das an der lockenden Täuschung der räumlichen Identifikation festgehaltene Subjekt die Phantasmen ausheckt, die, ausgehend von einem zerstückelten Bild des Körpers, in einer Form enden, die wir in ihrer Ganzheit eine orthopädische nennen können, und in einem Panzer, der aufgenommen wird von einer wahnhaften Identität, deren starre Strukturen die ganze mentale Entwicklung des Subjekts bestimmen werden. So bringt der Bruch des Kreises von der Innenwelt zur Umwelt die unerschöpfliche Quadratur der IchPrüfungen (récolements du moi) hervor. (Lacan 1996, 67)
Als Brücke vom fiktiv-virtuellen zum realen Raum bürgerte sich der Begriff der suture in den frühen 1970er Jahren auch in der psychoanalytischen Filmtheorie ein. Jean Pierre Oudart versteht darunter eine
1
Zum Begriff der suture: Pabst 2004, 82ff.; Kolokitha 2005, 69-74; Eibl-
2
Zum Spiegel als Kreuzungspunkt und Drehmoment zwischen der Funktion
mayr 1995, 5f. des Imaginären und Symbolischen: Tholen 2002, 81.
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Blickkonstellation, in welcher der Zuschauer eine von der Kamera freigelassene Stelle in der Montage von Schuss- und Gegenschusseinstellung besetzt und beide Szenen miteinander vernäht. (Oudart 2007) Durch seine Als-Ob-Präsenz im Film nimmt er also die fehlende Position des Kameraauges bzw. eines imaginären Subjekts ein und konstruiert als sehende Ersatzinstanz einen einheitlichen diegetischen Raum. Bei Lacan wie bei Oudart ist das Begehren nach dem Fremden die Triebfeder hinter dem Vernähungsprozess. So wird sie zuerst als Genuss empfunden, dem jedoch nach der Erkenntnis der Illusion die Enttäuschung folgt. Ein ähnliches Verfahren des Vernähens lässt sich auch in der sprachlichen und visuellen Gestaltung der bosnisch-herzegowinischen Brücken in Erzählungen und Romanen feststellen. Im Akt der Vernähung verschmilzt dort der Beobachter-Erzähler zu einer Art gephyroantropo-morphen Einheit, sofern die subjektiv-individuelle Erzählperspektive nicht durch eine subjektlose, überindividuelle ergänzt wird. Auch die um die Brücke gruppierten, entgegen gesetzten Pole (wie z.B. Materielles und Immaterielles, Organisches und Anorganisches, Natur und Kultur, Sprache und Dinge, Traditionelles und Modernes) oder Prozesse (Aufbau und Zerstörung) gehen ineinander über. Die Vernähungsprozesse anhand von Brücken sollen in den folgenden Werken analysiert werden: Zuerst wird der Reisebericht Fahrten in den Reichslanden (1912) des österreichischen Schriftstellers Robert Michel untersucht, ehe das Manifest der serbischen AvantgardeGruppe »Zenitismus mit dem Titel An die Barbaren des Geistes und Denkens auf allen Kontinenten (Manifest varvarima duha i misli na svim kontinentima,1926) genauer studiert wird. Danach stehen die Erzählung Die Brücke über die Žepa (Most na Žepi, 1924) sowie der Roman Die Brücke über die Drina des Nobelpreisträgers Ivo Andriü im Fokus der Analyse, bevor sich die Aufmerksamkeit auf den Partisanenfilm Die Schlacht an der Neretva (Bitka na Neretvi, 1969) des jugoslawischen Regisseurs Veljko Bulajiü richtet. Anschließend soll der Roman Die Brücke mit den drei Bögen (1993) des albanischen Schriftstellers Ismail Kadare untersucht werden und zuletzt wird festgestellt, auf welche Weise der Zuschauer in Jean-Luc Godards Film über den Bosnien-Krieg, der den Titel Notre musique (2004) trägt, »vernäht« wird. Dabei gilt, dass die bosnischen Brücken zu verschiedenen historischen Zeitpunkten und unter verschiedenen politischen Konstellationen zu einem Ort werden, an dem zwischen Nähe und
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Ferne, Identität und Differenz, Identifikation und Distanzierung, Integration und Desintegration eine Wunde aufklafft, die zugleich vernäht wird. Dabei wird stets die utopische Perspektive einer Heilung in Aussicht gestellt. Robert Michel stellt die bosnischen Brücken in seinem Reisebericht Fahrten in die Reichsländer (1912) weniger als Funktionsarchitektur dar, sondern betrachtet sie vor allem als das Produkt eines lang anhaltenden, starken Begehrens nach dem Anderen, das sich schließlich materialisiert habe: »Es waren Uferstellen, wo nacheinander oder gleichzeitig Tausende von Menschen, mit Sehnsucht oder mit zusammengeballtem Willen, mit dem kühnen Drang des Eroberers oder mit der jagenden Angst des Fliehenden, hinüberzukommen verlangten, bis eines Tages der Weg über das Wasser wirklich zustande kam, scheinbar mehr das Ergebnis dieses Aufwandes an seelischen Kräften als das Werk eines Brückenbaumeisters und seiner Arbeiter.« (Michel 1912, 10f.)
Auch in den Legenden und Sagen über die bosnischen Brücken, für die Michel nur selten eine Quelle anführt, rückt er das Begehren in den Vordergrund. So überspannt in einer Legende die Ziegenbrücke im Tal Lapišnica einerseits real den Fluss Miljaþka, andererseits symbolisiert sie die Sehnsucht eines Waisenjungen, die durch die Lektüre nicht näher benannter Bücher entfacht wurde. So spannt die Brücke die Fäden der Begierde über die Ufer und die jenseitigen Territorien bis hin nach Istanbul: »Die Eltern hatten den Knaben arm und einsam in dieser Welt zurückgelassen. Weil aber Meho fromm und brav war, nahm sich das Ehepaar aus der Nachbarhütte, dem Gott eigene Kinder versagt hatte, seiner an. Als er heranwuchs, ließen ihn seine Wohltäter vom Hodža des Ortes in allem unterweisen, was ihm im Leben nützen könnte. Da hörte der Knabe auch manches über die Hauptstadt des Osmanenreiches, das glänzende Stambul am Goldenen Horn, und über die Heldentaten Mehmeds II. Als Meho der Schulbank entwachsen war, musste er die Ziegenherde seiner Pflegeeltern hüten. Er liebte seine Herde und er liebte die Berge, auf denen sie weideten. So wäre sein Glück vollkommen gewesen, wenn nur nicht seine Gedanken gerne weiter geschweift wären über die Berge hinaus in die Ferne, bis nach Stambul, wo es ein Leben voll Glanz und Ruhm gab. Der Hodža lieh dem Knaben manchmal ein Buch, das Meho
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mit auf die Weide nahm; durch das Lesen wurde aber seine Einbildungskraft noch mehr befeuert und seine Sehnsucht nach der Stadt des Sultans und nach einem Leben mit großen Taten; und diese Sehnsucht wollte ihm das Herz aufsprengen wie einen reifen Granatapfel. […] Meho spann seine Gedanken durch die Gassen und Paläste von Stambul bis an das goldene Horn; und wieder zog ihn die Sehnsucht dahin und gleichzeitig überkam ihn eine tiefe Traurigkeit, weil es ihm klar war, dass er als armer Hirte nie in die ersehnte Stadt gelangen könnte.« (Michel 1912, 17f.)
Doch laut der Legende gräbt eines Tages eine entlaufene Ziege am Ufer Gold aus und ermöglicht dem Jungen so die Reise nach Istanbul, wo er in den Dienst des Sultans tritt und zum Pascha avanciert. Aus Dankbarkeit lässt Meho an der Stelle des Fundes eine steinerne Bogenbrücke erbauen, der er den Namen Ziegenbrücke gibt. Michel erkennt eine enge Verwandtschaft zwischen dieser Legende und der über die Drinabrücke in Višegrad, die 1571 im Auftrag des Großwesirs Mehmed Pascha Sokoloviü errichtet wurde3 und später auch Andriü als Vorlage für seinen Roman diente. In beiden Erzählungen stört die ursprüngliche christliche Herkunft der zum Islam konvertierten Stifter die lustvolle Vereinigung von Orient und Okzident nicht. (Hörmann 1933, 598)4 Daher erfolgt auch die Vernähung des Eigenen mit dem Fremden schmerzlos und sozusagen narbenfrei.
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Michel 1912, 20: »Offenbar ist der sagenhafte Meho, der die Ziegenbrücke
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Das türkische Chronogramm (Tarih) auf der steinernen Tafel auf der Brü-
erbaute, auch kein anderer als Mehmed Pascha Sokoloviü.« cke, das später den Weg in Andriüs Roman fand, lobt den wohlhabenden Stifter, der sich mit der Brücke ein Denkmal errichtete (vgl. Hörmann 1933, 598f.; Michel 1912, 21f.: »Mehmed Pascha, zur Zeit dem Asaf [Rathgeber Salomons des Weisen] vergleichbar,/Hat durch seine erhabene Persönlichkeit die Welt verherrlicht./Er wendete sein Vermögen für die Stiftung zur Ehre Gottes./Niemand wird behaupten, dass das Vermögen, so verwendet, verschleudert worden sei./Lebenslang hat er Gold und Silber zu Stiftungen gewidmet;/Denn es war ihm bekannt, dass diese ein schönes Andenken hinterlassen./Über die Drina in Bosnien erbaute er eine großartige Brücke./Eine Reihe von Bogen spannte er über diesen Fluss,/Diesen tiefen Fluss, dessen Gewässer reißend sind./Seine Vorgänger konnten Ähnliches nicht erbauen;/Nach Gottes Ratschluss tat es aber der Pascha,/Damit sein Name mit Ehrfurcht und dank genannt werde./Er baute diese Brücke,
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Konnten die Stifter das Begehren nach Überwindung der Distanz und nach Vereinigung mit dem Fremden noch widerstandslos befriedigen, so tritt in den Viten der Baumeister, die ihrem ursprünglichen christlichen Kulturkreis verhaftet bleiben, der Spalt zwischen Ost und West deutlicher hervor. Anders als die türkischen Quellen und Reiseberichte5 schreibt Michel nämlich die bosnischen Brücken den christlichen Baumeistern zu.6 Deren Errichtung ist aber stets mit Gefahren und Opfern verbunden: Der Bau der Brücke von Višegrad wird beispielweise von einer Wassernixe gestört, die mit Hilfe von Amuletten und teils grausamen rituellen Handlungen (einer Geldspende an den Fluss, dem Einmauern eines Geschwister-, eines Liebespaares, einer stillenden Frau sowie der Gattin des Baumeisters, der Spaltung eines den Brückenpfeiler bedrohenden Fichtenstamms, aus dem Blut hervortritt) besänftigt wird.7 Rade, angeblich der Meister der berühmten Brü-
die ihresgleichen nicht hat auf der Welt./Gewiss wird niemand sagen, dass das Geld, so verwendet, vergeudet sei!/Von Gottes Gnade erhoffte ich, dass des Erbauers Leben und Glück verlaufen und durch keinerlei Ungemach getrübt seine werde./Badi, welcher sah, wie der Bau beendet wurde, schrieb nieder diesen Tarih:/Gott möge den Bau, diese wunderbar schöne Brücke segnen! 979«). 5
Zahlreiche frühe türkische, bosnische, englische und österreichische Quellen und Reiseberichte über die Alte Brücke in Mostar zitiert Jezernik 2004, 191-205 (Kap. 10: »A Bridge between Barbarity and Civilisation«).
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Michel 1912, 11: »Fast alle von den jetzt noch bestehenden alten Brücken sind während der Türkenherrschaft entstanden, und zwar die meisten von ihnen bald nach der Eroberung des Landes durch die Osmanen, die um die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts erfolgt war. Indessen waren diese Brücken zum großen Teil nicht von türkischen Baumeistern erbaut, sondern von auswärtigen, zumeist von Ragusaner Meistern«; Jezernik (2004, 191205) hat anhand der westeuropäischen Reiseberichte nach Bosnien gezeigt, dass man im Laufe des 19. Jahrhundert begann, die Brücken den römischen Architekten zuzuschreiben. Diese Geschichtsfälschung verlief parallel zur Schwächung des Osmanischen Reiches und der Herabsetzung der türkischen Kultur durch westeuropäische Autoren.
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Ebd., 23-29. Als Quelle benutzt Michel das bosnische Volkslied »Der Bau der Brücke in Višegrad«, das in den Sammelband Volkslieder der Mohammedaner in Bosnien und der Herzegowina (Narodne pjesme Muhame-
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cke über die Neretva in Mostar8, kauft mit dem Bauwerk sein Leben von den Türken frei. (Michel 1912, 33) Die Vernähung der Kulturen durch den Brückenbau erfolgt hier auf mehreren Ebenen: Der nicht mehr christliche Stifter ist auf den christlichen Baumeister angewiesen, der die wilde Natur in Form des Flusses zähmt und in Kultur überführt. Wie in Hegels Phänomenologie des Geistes (1807) braucht der Herr den Knecht, um die Dingwelt zu beherrschen. (Hegel 2009, 7175) Die Brücke selbst versöhnt durch ihre Konstruktion die Statik mit der Dynamik, d.h. die organische Welt mit der anorganischen und den Himmel mit der Erde. Schließlich verschmilzt auch der Erzähler Michel trotz seiner imperialen österreichischen Perspektive zur harmonischen Einheit mit der Brücke und fühlt sich zugleich leichter, sicherer, geborgen in einer harmonischen Einheit. »In diesem wundervollen schlanken Steinbogen ist die Festigkeit des Steines mit der Leichtigkeit des Vogelfluges eins geworden. Wenn man den hochgeschwungenen Bogenbau betrachtet, beginnt man sich selbst leichter und sicherer zu fühlen. Von mir kann ich sagen, dass mich noch nie ein Bauwerk so ergriffen hat wie diese Brücke. In meinem Buche ›Mostar‹ vergleiche ich die alte Narentabrücke mit einem versteinerten Halbmond und dann mit einer riesigen Möwe, die hier, im Fluge mit den Flügelspitzen die Felsenufer der Narenta berührend, zu Stein geworden ist. Und wenn ich zu Beginn dieses Buches sagte, dass manche Brücken in Bosnien und der Hercegovina so hoch gewölbt sind, als hätte sich der Baumeister einen Regenbogen zum Vorbild genommen, so dachte ich vor allem an die alte Brücke von Mostar.« (Michel 1912, 31)
Auch in Michels Erzählung Die Verhüllte (1907) und dem Roman Die Häuser an der Džamija (1915) wird der Riss zwischen dem christlichen und dem islamischen Bosnien vernäht. So entpuppt sich die vergewaltigte Türkin in der Erzählung Die Verhüllte – einer Parodie auf den französischen Orientalismus – am Ende als selbstbewusste christliche Verführerin. Die Vergewaltigung wird also zu einer quasiemanzipatorischen bzw. quasi-feministischen Geste, die als Maskerade dient und eine bizarre Erotik bedient. Die Unschlüssigkeit des Textes
dovca u Bosni i Hercegovini, Sarajevo 1888) einging. (Vgl. Hörmann 1933, 78-82, 597-599) 8
In den Archiven ist der muslimische Name Mimar Haireddin überliefert. (Vgl. Jezernik 2004, 191)
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lässt Bosnien nicht nur als geheimnisvolles Land dastehen, sondern es auch als einen Ort der kulturellen Ambivalenz erscheinen, wo slawische Christen und Muslime austauschbar werden. Nicht das Christentum und der Islam stehen bei Michel vordergründig einander gegenüber, sondern eher eine westliche und eine östliche, slawisch-orientalische Perspektive. Die Dorfbewohner in dem Roman Die Häuser an der Džamija verhalten sich in der Regel entsprechend der Vorgaben ihrer jeweiligen Konfession und überschreiten deren Grenzen nicht. Die Ausnahme davon stellt jedoch Muharrem dar. Muharrem ist der Sohn christlicher Eltern, die ihm wegen ihres Aberglaubens einen muslimischen Namen gaben. Sie befürchten, dass ihr Kind anderenfalls stirbt – wie die anderen Kinder vor ihm gestorben sind. Nach dem Tod der Eltern nimmt eine muslimische Familie das Kind auf, die wegen des Namens überzeugt ist, dass es sich um einen verwaisten Muslim handelt. Dort befolgt er sein Leben lang die muslimischen Rituale. Als Steinmetzgehilfe, der sich beiden Religionsgemeinschaften verbunden fühlt, meißelt er einerseits ein Kreuz für die verstorbene Mutter seines christlichen Freundes, andererseits ein Grabmal mit einem Turban für den örtlichen Hodža. Die kulturelle Grenze zwischen dem Christentum und dem Islam in Bosnien zeichnet sich, wie die Figur des Muharrem demonstriert, bei Michel nicht scharf ab. Die Übergänge sind durchlässig und die Identität oszilliert.
W UNDEN ZWISCHEN O ST UND UND IHRE V ERNÄHUNGEN
W EST
In Andriüs früher Erzählung Die Brücke an der Žepa stiftet der Großwesir Jusuf Ibrahim das Geld für den Bau der titelgebenden Brücke, nachdem es ihm gelingt, aus einer lebensgefährlichen Intrige in Carigrad als Sieger hervorzugehen. Schließlich erinnerte sich der Großwesir während dieser schwierigen Zeit in Carigrad oft an seinen Heimatort und an das Land, aus dem er im Alter von neun Jahren weggebracht wurde. Mit dem Bau der Brücke will er daher den Bewohnern seines Geburtsortes, die in dem Chaos nach Aufständen und Kriegen an Armut, Hunger sowie Krankheiten leiden, zu einem besseren Leben verhelfen. Zum Baumeister ernennt er einen Italiener aus Carigrad, der bereits einige Brücken in der Nähe der Hauptstadt errichtet hat. Ob-
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wohl dieser graues Haar hat und von gebeugter Statur ist, wirkt sein Gesicht jugendlich und rötlich. Er quartiert sich allerdings nicht bei den Einwohnern ein, sondern wohnt einsam in einer Holzhütte an dem Zusammenfluss von Drina und Žepa, wo er die ganze Zeit für den Bau Kalkulationen anstellt und Pläne zeichnet. Um mit den Einheimischen zu kommunizieren, nutzt er Dolmetscher. So wie sein Vorgänger bei Michel, so hat auch er mit dem Bau der Brücke Schwierigkeiten. Auch in diesem Fall scheint sich der Fluss dagegen zu wehren. Zudem droht wegen der Stimmungsschwankungen des Stifters das Geld vorzeitig auszugehen. Schließlich gelingt es dem Baumeister dennoch, die Brücke zu errichten. Sie erweckt den Eindruck »als hätten beide Ufer einen geschäumten Wasserstrom gegeneinander gerichtet und die Ströme beim Zusammenprallen einen Bogen errichtet und wären einen Augenblick, schwebend über der Schlucht, so verblieben«.9 Die Brücke scheint also das Ergebnis des Kampfes der beiden Ufer gegeneinander zu sein, die letztlich einander im Gleichgewicht halten. Als das Bauwerk beendet ist, verlässt der Baumeister den Ort ohne auch noch einen einzigen Blick zurück auf die Brücke zu werfen. Kurz nach seiner Ankunft in Carigrad stirbt er an der Pest und hinterlässt keine Erben. Erst nach seiner Abreise beginnen sich die Bewohner des Ortes für ihn zu interessieren und merkwürdige Geschichten über ihn zu erzählen. Ein muslimischer Lehrer und Dichter in Carigrad möchte ihm beispielsweise ein Chronogramm mit den folgenden Zeilen widmen: [Als die Gute Verwaltung und die Edle Fertigkeit einander die Hand reichten, entstand diese wunderschöne Brücke, die Freude der Untergebenen und der Ruhm Jusufs für beide ein Segen.]10 »Kada Dobra Uprava i Plemenita Veština Pružiše ruku jedna drugoj, Nastane ovaj krasni most,
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»Izgledalo je kao da su obale izbacile jedna prema drugoj po zapenjen mlaz vode, i te se mlazevi sudarili, sastavili u luk i ostali tako za jedan trenutak, lebedeüi nad ponorom«. (Andriü 1924, 45)
10 Wenn nicht anders angegeben, stammen die Übersetzungen von der Verfasserin.
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Radost podanika i dika Jusufova Na oba sveta.« (Andriü 1924, 47)
Unter dem Chronogramm befindet sich ein in zwei Hälften geteiltes Siegel. Eine davon ziert der Name des Stifters, »des wahren Sklaven Gottes« (Jusuf Ibrahim, istinsku rob božji), und die andere die Inschrift »Im Schweigen ist Gewissheit« (U þutanju je sigurnost, Andriü 1924, 47). So wie das Leben des Baumeisters, so nimmt letztlich auch das Leben des Großwesirs kein gutes Ende. Seitdem er das Chronogramm vor Augen hat, denkt er einerseits immer öfter an die vergangenen Intrigen und daran, dass sein Ruhm und sein Verderben ganz eng beieinander lagen. Andererseits erinnert er sich auch an ›sein‹ gebirgiges und dunkles Bosnien. Schließlich entscheidet er sich dazu, auch dieses Andenken zu vernichten. Die Brücke bleibt daher ohne Namen und Zeichen. So wie der Stifter und der Baumeister einander nicht mehr begegnen können, so wird also auch das Chronogramm, das die »gute Verwaltung« mit der »edlen Fertigkeit« versöhnen sollte, nicht ausgeführt. Selbst die Brücke vermag sich nicht mit ihren Ufern zu versöhnen. [Aber der Landstrich konnte sich nicht an die Brücke anschmiegen und auch die Brücke nicht an den Landstrich. Betrachtet von der Seite sah sein weißer, kühn gebeugter Bogen immer ausgeschieden und allein, und überraschte den Reisenden wie ein ungewöhnlicher Gedanke, der sich verirrt und in dem Schutt und in der Wildnis verfangen hat.] »Ali predeo nije mogao da se priljubi zu most, ni most zu predeo. Gledan sa strane, njegov beo i smelo izvinjen luk je izgledao uvek izdvojen i sam, i iznenadjivo putnika kao neobiþna misao, zalutala i uhvaüena u kršu i divljini.« (Andriü 1924, 49)
Alle Protagonisten in Andriüs Erzählung gehen aneinander vorbei. Bereits das Aussehen des italienischen Baumeisters ist in sich gespalten bzw. widersprüchlich, weil er zugleich alt und jung aussieht. Er integriert sich außerdem nicht in das Dorf und kommuniziert nicht mit seinen Bewohnern. Ebenso begegnen sich der Stifter und sein Baumeister nie und die schriftliche Erinnerung an deren fruchtvolle Zusammenarbeit wird ebenfalls ausgelöscht. Auch die Brücke selbst scheint aus bzw. in dem Kampf der beiden Ströme gegeneinander zu
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ent- bzw. zu bestehen und bleibt für die Anwohner ein Fremdkörper in der Landschaft. Lediglich der Erzähler, der über sich selbst in der dritten Person schreibt, vermag zu dem Stein ein fast menschliches Verhältnis herzustellen. Als er sich eines kühlen Abends auf der Brücke ausruht, spürt er schließlich ihre Wärme: »Angenehm und merkwürdig war die Berührung des warmen gemeißelten Steins. Sofort haben sie sich verständigt. Damals hat er sich entschieden, ihre Geschichte aufzuschreiben« (»Prijatan i þudan je bio dodir toplog klesanog kamena. Odmah se sporazumeše. Tada je odluþio da mu napiše istoriju«, Andriü 1924, 49). Anders als bei Michel und in seiner frühen Erzählung von 1924 hat die Brücke in Andriüs preisgekröntem Roman von 1945 die Funktion eines Übergangs- und Schwellenortes zwischen der christlichen Orthodoxie und dem Islam. Sie vermag allerdings nicht, die schmerzhafte Trennung des Stifters Sokoloviü von seinem bosnischen Heimatdorf zu kurieren. (Lachmann 2001, 43-70) Schließlich wurde er im Zuge der osmanischen Knabenlese gewaltsam seinem früheren Zuhause entrissen. Diesen Verlust spürt er sogar noch als alter Mann, »obgleich er Leben und Glauben, Namen und Heimat wechselte«. (Andriü 2007, 25)11 »Als ein körperliches Unbehagen irgendwo in sich trug der Junge die Erinnerung an diesen Ort, wo der Weg abbricht, wo sich die Hoffnungslosigkeit und die Trübsal des Jammers auf den steinigen Ufern des Flusses ablagern, dessen Übergang schwer ist, teuer und voll Unsicherheit. Das war der wunde Punkt […].« (Andriü 2007, 24f.) »Kao fiziþku nelagodnost negde u sebi – crnu prugu koja s vremenam na vreme, za sekundu-dve preseþe grudi nadvoje i zaboli silno – deþak je poneo seüanje na to mesto, gdje se prelama drum, gdje se beznaÿe i þamotinja bede zgušnjavaju i talože na kamenitim obalama reke preko koje je prelaz težak, skup, i nesiguran. To je bilo ranjavo i bolno mesto […].« (Andriü 1984-85, 62)
Dieser zeitlichen wie auch räumlichen Sehnsucht nach dem verlorengegangenen Geburtsort entspringt Sokoloviüs Vision der Brücke. Er
11 » […] kako je on promenio život i veru, ime i zaviþaj« (Andriü 1984-85, 62).
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versucht mittels dieses Bildes schon lange vor dem Baubeginn seinen Schmerz zu lindern: »Das erste Bild einer Brücke, dem es bestimmt war, verwirklicht zu werden, leuchtet, natürlich noch völlig unbestimmt und nebelhaft, in der Phantasie eines zehnjährigen Jungen aus dem benachbarten Dorf Sokolowitschi an einem Morgen des Jahres 1516 auf, als man ihn auf dem Wege von seinem Dorf zum fernen, strahlenden und furchtbaren Stambul dort vorbeiführte.« (Andriü 2007, 20) »[…] So war er der erste, der in einem Augenblick hinter geschlossenen Augenliedern die feste und schlanke Silhouette der großen steinernen Brücke erschaute, die an dieser Stelle entstehen sollte.« (Andriü 2007, 26) »Prvu sliku mosta, kojoj je bilo suÿeno da se ostvari, blesnula je, naravno još posve neodreÿena i maglovita, u mašti destogodišnjeg deþaka iz obližnjeg sela Sokoloviüa. Jednog jutra 1516. godine, kad su ga tuda proveli po putu iz njegovog sela za daleki svetli i strašni Stambol.« (Andriü 1984-85, 58, 63) »[...] Tako je on bio prvi koji je u jednom trenutku, iza sklopljenih oþnih kapaka ugledao þvrstu i vitku siluetu velikog kamenog mosta koji treba na tom mestu da nastane.« (Andriü 1984-85, 93)
Für Andriü steht die Brücke, wie Renate Lachmann resümiert hat, zugleich für das Sichtbarmachen des Grabens zwischen Muslimen und Christen als auch für dessen Über-brückung. (Lachmann 2001) Ihr Bau und ihr Bestehen fordern bei Andriü wie schon zuvor bei Michel Menschenopfer: Einerseits stirbt der Bauarbeiter Arapin aus Ulcinj bei einem Unfall, indem ein großer Steinblock eines Pfeilers seinen Unterkörper zerquetscht. (Andriü 2007, 74; Andriü 1984-85, 102) Andererseits wird am Serben Radoslav, der sich dem Bau der Brücke widersetzt, ein Exempel statuiert. So wie die Ufer des Flusses, so wird auch dessen Leib genau vermessen, bevor schließlich der Pfahl an seinen Eingeweiden vorbei stoßweise durch seinen Körper hindurch getrieben wird. Im Augenblick seines lange herausgezögerten Todes verschmilzt er mit dem Bau und nimmt wie eine Skulptur dessen steinerne Struktur an. »Er stand nicht auf der Erde, er hielt sich nicht mit den Händen, er schwamm nicht, er flog nicht; er trug seinen Schwerpunkt in sich selbst; […] So, nackt bis zum Gürtel, mit gebundenen Händen und Füßen, aufrecht, den Kopf zum
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Pfahl zurückgeworfen, erinnerte dieses Bild nicht so sehr an einen menschlichen Körper, der wächst und zerfällt, als vielmehr an ein erhobenes, festes und unvergängliches Standbild, das dort für immer bleiben würde.« (Andriü 2007, 62) »Ne stoji na zemlji, ne drži se rukama, ne pliva, ne leti; on ima svoje težište u samom sebi; […] Odnako nag do pasa, vegani ruku i nogu, prav, zabaþene glave uz kolac, taj lik nije liþio toliko na ljudsko telo koje raste i raspada se koliko na visoko uzdignut, tvrdi i neprolazen kip koji üe tu ostati zauvek.« (Andriü 1984-85, 93)
Radoslav stirbt einen Märtyrertod und vernäht zudem als skulpturaler Dekor der Brücke nicht nur horizontal die beiden Ufer des Flusses miteinander, die die orthodoxe und muslimische Kultur repräsentieren, sondern auch vertikal den Himmel mit der Erde. Wie der anonyme (christliche) Erzähler berichtet, verbindet die Brücke über die Drina in Višegrad nämlich nicht nur die Stadt mit der Vorstadt (Andriü 2007, 8; Andriü 1984-85, 48) und »Bosnien mit Serbien und, über Serbien hinaus, auch mit den übrigen Teilen des Türkischen Reiches bis nach Stambul«12. Sie partizipiert am Leben der Menschen13 und beeinflusst
12 Andriü 2007, 7f.: »Aus dieser Blickebene betrachtet, sieht es aus, als ergösse sich aus den breiten Bögen der weißen Brücke nicht nur die grüne Drina, sondern auch die ganze sonnige und gezähmte Fläche mit allem, was auf ihr ist, und mit dem südlichen Himmel über ihn«; Andriü 1984-85, 48: »Tako, posmatrano sa dna vidika, izgleda kao da iz širokih lukova belog mosta teþe i razliva se ne samo zelena Drina nego i ceo taj župni i pitomi prostop, sa svim što je na njemu i južnim nebom nad njim.« 13 Andriü 2007, 19: »Eines indessen ist sicher: zwischen dem Leben der Menschen in der Stadt und dieser Brücke besteht eine innige, jahrhundertealte Bindung. Ihre Geschicke sind so miteinander verflochten, dass sie sich getrennt nicht vorstellen lassen – und nicht ausgedrückt werden können. Daher ist die Erzählung vom Werden und Geschick der Brücke zu gleicher Zeit auch eine Erzählung vom Leben der Stadt und ihrer Menschen von Geschlecht zu Geschlecht, ebenso wie sich durch alle Erzählungen über die Stadt die Linie der steilen Brücke hindurchzieht, der Brücke auf elf Bögen, mit der Kapija als Krone in der Mitte«; Andriü 1984-85, 56f.: »Svakako, jedno je izvesno: izmeÿu života ljudi u kasabi i ovoga mosta postoji prisna, vekovna veza. Njihove su sudbine tako isprepletene
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deren Schicksal.14 Wie durch eine große Ader strömt deren Leben über sie hinweg,15 nichts kann sich ihrer Anziehungskraft entziehen.16 Umgekehrt ist die Brücke wie ein menschlicher Körper aufgebaut: Mitten auf ihr befindet sich ein Torgebäude, die kapija – das »Herz« der Brücke.17 Obwohl das Leben über sie dahin fließt, erfüllt sie dennoch auch die Funktion eines Hauses, wie Damir Šabotiü betont (Šabotiü 2005, 45-55). Die Anbauten – der Eingang, die »Terrasse«, das »Sofa« und die Sitzplätze – verwandeln ihre Räumlichkeit in eine Art Behausung.
da se odvojeno ne daju zamisliti i ne mogu kazati. Stoga je priþa o postanju i sudbini mosta u isto vreme i priþa o životu kasabe i njenih ljudi, iz naraštaja u naraštaj, isto kao što se kroz sva priþanja o kasbi provlaþi i linija kamenog mosta na jedanaest lukova, sa kapijom, kao krunom, u sredini.« 14 Andriü 2007, 17: »Irgendjemand hat vor langen Jahren behauptet (es war zwar ein Fremder, und er sprach im Scherz), dass diese Kapija einen Einfluss auf das Schicksal der Stadt und selbst auf den Charakter ihrer Bürger gehabt hätte«; Andriü 1984-85, 55: »Neko je davno tvrdio (istina, to je bio stranac i govorio j u šali) da je ova kapija imala uticaja na sudbinu kasabe i na sam karakter njenih graÿana.« 15 Andriü 2007, 15: »So verläuft das Leben der Stadtkinder unter der Brücke und um sie herum in ziellosem Spiel oder kindlichen Phantasien. Aber mit den ersten Jahren der Reife verlegt es sich auf die Brücke, oder besser auf die Kapija, wo die jugendliche Phantasie neue Nahrung und neue Räume findet, wo aber auch schon die Sorgen, Kämpfe und Geschäfte des Lebens beginnen«; Andriü 1984-85, 53f.: »Tako se život kasabalijske dece odigrava ispod mosta i oko njega, u beskorisnoj igri ili deþijim maštanjima. A sa prvim godinama zrelosti on se prenosi na most, upravo na kapiju, gde mladiüka mašta nalazi drugu hranu i nove predele, ali gde poþinju veü i životne brige i borbe i poslovi.« 16 Andriü 2007, 31: »[…] diese Arbeiten nahmen einen solchen Umfang und eine solche Gewalt an, dass sie alles Lebende und Tote nicht nur in der Stadt selbst, sondern auch noch in weitem Umkreis in ihren Wirbel hineinzogen«; Andriü 1984-85, 67: »[…] ali ovi radovi uzimaju takav obim i toliki mah, da uvlaþe u svoj vrtlog sve živo i mrtvo ne samo u kasabi nego i nadaleko oko nje.« 17 Andriü 2007, 16: »Ihre Kapija ist das Herz der Brücke, und die ist das Herz dieser Stadt, die jedem im Herz bleiben muss«; Andriü 1984-85, 54: »[…] njihova kapija je srce mosta koji je srce ove kasabe koja svakom mora da ostane u srcu«.
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Verräumlicht zum Ort des Beisammenseins, als eine Art offenes Haus, wird sie zur Metapher des Dialogs der Kulturen in Bosnien. Als Brücke, die zwei Kulturkreise verbindet, werden auch die Legenden und die Lieder um sie stets doppelt, orthodox und muslimisch, kodiert. (Andriü 2007, 13 -15; Andriü 1984-85, 51f., 130.) Das Fremde wird der jeweiligen Kultur angepasst und in sie integriert: »Und jeder Hörer behielt die Verse, die seinem Ohr und seiner Sinnesart am besten entsprachen. So wurde, was dort vor den Augen aller Welt in den festen Stein gehauen stand, von Mund zu Mund auf die verschiedenste Art, häufig verändert und bis zur Sinnlosigkeit entstellt, wiedergegeben.« (Andriü 2007, 81) »A svaki od slušalaca pamtio je one stihove koji su njegovom uhu i njegovoj üudi najbolje odgovarali. Tako se ono što je bilo tu, na oþigled celog sveta, urezano u tvrdi kamen, ponavljalo od usta do usta na razne naþine, þesto izmenjeno i iskvareno do nesmisla.« (Andriü 1984-85, 108)
Der Einmarsch der österreichischen Armee 1878, genauer die schriftliche Proklamation des Kaisers zum Protektorat über Bosnien und die Herzegowina, kündigt bei Andriü jedoch die Zerstörung der Brücke an. Sie nimmt schließlich die tatsächliche Sprengung durch die Österreicher während des Ersten Weltkrieges vorweg. Daher erscheint dem Wächter der Brücke, dem Muslimen Alihodscha, diese »[...] plötzlich in der Mitte, dort bei der Kapija zerbrochen, als sei sie durch das große weiße Papier des schwäbischen Aufrufs in der Mitte wie von einer lautlosen Explosion zerrissen worden, als klaffte dort ein Abgrund und ständen nur noch einzelne Pfeiler rechts und links dieses Einschnittes, als gäbe es keinen Übergang mehr, denn die Brücke verband ja nicht mehr zwei Ufer, und jeder müsse für ewig auf der Seite bleiben, auf der er sich in diesem Augenblick zufällig befunden.« (Andriü 2007, 156) »[...] þini mu se da nikad više neüe preüi na drugu obalu, da je ovaj most, koji je dika kasabe i od svog postanka i najužoj vezi sa njegovom porodicom, na kome je odrastao i pored kojeg vek provodi, odjednom porušen na sredini, tamo kod kapije; da ga je ona bela, široka hartija švapskog proglasa presekla po polovini kao bezglasna eksplozija i da tu zjapi provalija; da još stoje pojedini stubovi, levo i desno od toga preseka, ali da prelaza nema, jer most ne vezu-
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je više dve obale, i svak ima da ostane doveka na onoj strani na kojoj se u tom trenutku zadesio.« (Andriü 1984-85, 169f.)
Durch die Eingliederung Bosniens in das Habsburger Imperium und den Bau der Eisenbahn verliert die Brücke ihre ursprüngliche Funktion als Vernähung zwischen der Orthodoxie und dem Islam: »Das linke Ufer und mit ihm die Brücke starben völlig ab« (Andriü 2007, 280)18 und »der Weg über die Brücke war nicht mehr, was er einst gewesen: die Verbindung des Ostens mit dem Westen« (Andriü 2007, 283)19. Die Dreiländergrenze zwischen Österreich, Serbien und der Türkei gibt es nach dem Anschluss nicht mehr, sodass die Brücke »nun wirklich von Ost und West gleichermaßen abgeschnitten und wie ein gestrandetes Schiff oder eine verödete heilige Stätte sich selbst überlassen« blieb (Andriü 2007, 303). Nach dem prekären Aufgehen Bosniens in der Donaumonarchie vernäht die Brücke keine Wunde mehr, sondern markiert eine Stelle, an der eine Amputation stattgefunden hat. Die multinationale Habsburgermonarchie galt Andriü schließlich nicht als Ort des Dialogs der Kulturen, sondern der Dominanz einer vorherrschenden, alles andere abschnürenden Kultur.20 In seiner Dissertation Die Entwicklung des geistigen Lebens in Bosnien unter Einwirkung der türkischen Herrschaft (1924), die er zwanzig Jahre früher in Graz einreichte, waren nicht die Österreicher, sondern die Türken die Quelle des Leidens in Bosnien. (Loud 1995, 187-199) In dem Moment, in dem die reale Višegrader Brücke ihre Funktion als Naht der Kulturen einbüßt, wird an ihrer Stelle eine metaphorische Brücke errichtet. Diese dient der revolutionären serbischen Jugend mit ihren panslawistischen Ideen als Surrogat für einen gemeinsamen südslawischen Staat. Statt der Brücke wirkt sich nun die davon losgelöste Metaphorik wie eine kurierende Naht aus:
18 Andriü 1984-85, 271: »Leva obala, i sa njom most, potpuno su umrtvljeni«. 19 Andriü 1984-85, 274: » [...] put preko mosta ne vodi više u svet i da most nije ono što je nekada bilo: veza Istoka sa Zapadom«. 20 Zur Begegnung und zum Kampf der Kulturen in Andriüs Werk vgl. auch Jakiša 2005, 637-648.
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»Wir werden breitere Flüsse und tiefere Abgründe überbrücken. Wir werden neue, größere und bessere Brücken bauen, und sie werden nicht fremde Zentren mit unterjochten Provinzen, sondern unsere Gebiete untereinander und unseren Staat mit der ganzen übrigen Welt verbinden.« (Andriü 2007, 327) »Premostiüemo veüe rijeke i dublje ponore. Sagradiüemo nove, veüe i bolje mostove, i to ne da vezuju tuÿe centre sa pokorenimi pokrajinama, nego da spajaju naše krajeve meÿu sobom i našu državu sa cijelim ostalim svjetom.« (Andriü 1984-85, 310)
Die neu zu schlagenden Brücken zwischen den slawischen Brüdern sollen den Weg zum versprochenen Land öffnen – zu Jugoslawien als neuem Kontinent. So schwört der Serbe Glasinþanin der geliebten Lehrerin Zorka bei der Verabschiedung, dass sie nach dem Krieg nicht mehr über den Atlantik nach Amerika auswandern müssen: »Und wenn ich lebend wiederkomme und wenn wir frei werden, dann werden wir vielleicht nicht in jenes Amerika über das Meer gehen müssen, denn wir werden hier unser Amerika haben, ein Land, in dem man viel und ehrlich arbeitet und gut und frei lebt.« (Andriü 2007, 377) »Ako iziÿem živ iz ovog i ako se oslobodimo, neüe trebati možda ni iüi u onu Ameriku preko mora, jer üemo imati ovdje svoju Ameriku, zemlju u kojoj se mnogo i pošteno radi a dobro i slobodno živi.« (Andriü 1984-85, 352)
Diese Metapher der Brücke für die panslawistische Verbrüderung unter den Slawen entlieh Andriü vielleicht Ljubomir Miciü, dem Begründer der serbischen Avantgardebewegung des ›Zenitismus‹. Denn im Manifest an die Barbaren des Geistes und Denkens auf allen Kontinenten, das im Zenit Nr. 38 im Februar 1926 erschien, ruft dieser in anti-westlicher Rhetorik auf, sich gegen »den Dreck der eingeschmuggelten Kultur und der Zivilisation« aus Europa zur Wehr zu setzen.21 »Das balkanische Genie hat beschlossen – der Balkan werde zur Brücke, über die die barbarischen Legionen des neuen Geistes übersetzen. Das barbarische
21 Zu Miciüs künstlerischem Balkanisierungskonzept: Subotiü 1990, 15-25; Petzer 2007, 255-275.
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Genie hat angeordnet – der Balkan werde zum sechsten Kontinent, zur Avantgarde neuer barbarischer Befruchtung. […] Es geht um die Balkanisierung Europas!« (Siegel 1992, 132f.) »Barbarogenije, odredilo je da Balkan bude most za prelaz varvarskih legija novoga duha. Barbarogenije, zapovedio je šestom kontinentu Balkanu, da bude avangarda novih varvarskih oplodjenja. [...] To je balkanizacija Evrope!« (Miciü 1926, s.p.)
Wie bei Andriü, so dient auch bei Miciü die Metapher der Brücke ausschließlich dem Dialog unter den slawischen Kulturen, die sich von den westeuropäischen abgrenzen wollen. Der Kontakt mit dem Westen ist für ihn nur noch als Eroberungszug vorstellbar, als Einfall der balkanischen Peripherie in das Zentrum der europäischen Kultur. Mit demselben avantgardistischen Gestus wird 1950 der kroatische Schriftsteller Miroslav Krleža das »neue«, sozialistische Jugoslawien unter der Führung von Josip Broz Tito zur Wiege der europäischen Zivilisation erklären. (Krleža 1950) Als die Brücke von Višegrad von den Österreichern, die sie nach der Einnahme Bosniens stets gepflegt, gereinigt, ausgebessert und sogar mit einer Wasser- und Stromleitung versehen hatten, schließlich tatsächlich gesprengt wird, stirbt in Andriüs Roman auch der mit ihr eng verbundene Wächter Alihodscha. Er blickt dabei mit demselben inneren Auge auf sie wie ihr Stifter lange vor ihrer Errichtung: »Dort unten ist auch die zerstörte Brücke, furchtbar und grausam in der Mitte zerschnitten. Er braucht sich nicht umzuwenden – und er hätte sich auch um nichts in der Welt umgedreht, – um das ganze Bild zu sehen; der Pfeiler, wie ein gewaltiger Baumstumpf, oberhalb der Wasserfläche abgeschnitten und in tausend Trümmern über die Umgebung verstreut, die Bögen links und rechts des Pfeilers jäh unterbrochen. Zwischen ihnen gähnt eine Leere von etwa fünfzehn Metern. Und die gebrochenen Seiten der getrennten Bögen streben schmerzlich zueinander.« (Andriü 2007, 420) »Tamo dole je i razoreni most, grozno, dušmanski preseþen po polovini. Ne treba mu da se okrene (i ne bi se ni za što na svetu okrenuo) pa da vidi ceo prizor: pri samom dnu glatko odceþen stub, kao džinovsko deblo, i raznesen u hiljadu komada po okolini, a likovi levo i desno od toga stuba grubo prekinuti.
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Izmeÿu njih zja praznina od petnaestak metara. A izlomljene strane prekinutih likova volno teže jedna ka drugoj.« (Andriü 1984-85, 387)
So wie der Stifter Sokoloviü bei seiner schmerzhaften Trennung von seinem Zuhause in die Zukunft blickte, so hat auch Alihodscha im Augenblick der Zerstörung der Brücke und seines eigenen Todes eine prophetische Vision des Auf- und Weiterbauens – eine Vorwegnahme Tito-Jugoslawiens: »Aber wenn auch hier zerstört wird, denkt er weiter, irgendwo wird gebaut. Irgendwo muss es doch friedliche Gegenden geben, in denen vernünftige Menschen um gute, gottgefällige Werke wissen« (Andriü 2007, 421; »Ali neka, mislio je on dalje, ako se ovdje ruši, negde se gradi. Ima valjda još negde mirnih krajeva i razumnih ljudi koji znaju za božji hator«, Andriü 1984-85, 388). Auch Andriüs späterer Erfolg – die Verleihung des Nobelpreises im Jahre 1961, sechzehn Jahre nach der Entstehung des Romans – scheint nicht unbeeinflusst von der Thematik und der spezifischen Erzählperspektive zu sein. Robert Hodel sieht schließlich in den novellenhaften Erzählungen, die die Brücke durch die Jahrhunderte begleiten, einen episch distanzierten, unpersönlich auktorialen Erzähler am Werk. Dieser berichtet als Zeuge stets aus dem überindividuellen Standpunkt einer ethnischen, religiösen, sozialen, beruflichen Gruppe oder Sippe. (Hodel 2006, 221-38) Dadurch ermöglicht er die Identifikation der Leser mit dem multikulturellen Kollektiv Tito-Jugoslawiens – und, man kann hinzufügen, darüber hinaus auch der sogenannten »dritten Welt« der Blockfreien in der Zeit des Kalten Krieges. Gerade die Überwindung des Nationalen in Multikulturellem trug zweifellos dazu bei, dass Andriü zu dem jugoslawischen Vorzeigeautor nicht nur im In-, sondern auch im Ausland wurde. Die Preisverleihung fiel mit dem ersten Gipfel der Blockfreien 1961 in Belgrad zusammen, wodurch die kulturelle Synthese Jugoslawiens auch international anerkannt wurde. Wie der Erzähler in Andriüs Roman konstatiert, werden Brücken freilich nie zufällig gebaut: »Es gibt keine zufälligen Bauwerke, losgelöst von der menschlichen Gesellschaft, auf der ihre Bedürfnisse, Wünsche und Auffassungen hervorgesprossen sind, so wie es in der Baukunst keine willkürlichen Linien und unbegründeten Formen gibt.« (Andriü 2007, 19)
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»Nema sluþajnih graÿevina, izdvojenih iz ljudskog društva u kome su nikle, i njegovih potreba, želja i shvatanja, kao što nema proizvoljnih linija i bezrazložnih oblika u neimarstvu.« (Andriü 1984-85, 56)
Andriüs Brücke bekam ihren Gegenpart in zahlreichen realen Brücken in Tito-Jugoslawien, die oft Namen wie »Brücke der Freundschaft«, »Brücke der Jugend« oder »Tito-Brücke« erhielten. Wie Renate Lachmann beobachtet, konkurriert auch im Roman der Akt des Schreibens/Erzählens regelrecht mit dem des Bauens. (Lachmann 2001, 46) Ähnliches gilt auch für Andriüs Engagement beim Aufbau des neuen Jugoslawien. Denn als Vorsitzender des Verbands der jugoslawischen Schriftsteller ermahnte er im Jahre 1948 seine Kollegen in allen Teilrepubliken, aktiv am Aufbau des »dritten Weges« zu partizipieren: [Wie die Erneuerung und der Aufbau des ganzen Landes, seines wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Lebens als Ganzes vorangetrieben wird, ebenso findet auch in jedem Einzelnen von uns derselbe Prozess der Erneuerung und des Aufbaus statt – gemäß der Herkunft, des Temperaments, der moralischen und intellektuellen Bildung des Menschen. […] Dieser Prozess ist wichtig und sehr delikat, wenn es um unseren Schriftsteller geht, um den Menschen, der die Menschen aufbaut oder mindestens zu ihrem Aufbau beiträgt.] »Kao što se vrši obnova i izgradnja cele zemlje, njenog privrednog, politiþkog i kulturnog života kao celine, tako se isto i u svakom pojedinom od nas vrši isti proces obnove i izgradnje, veü prema poreklu, temperamentu i moralnoj i intelektualnoj formaciji þoveka. […] Taj proces je važan i naroþito delikatan kad se radi o našem književniku, þoveku koji izgraÿuje ljude, ili bar doprinosi njihovom izgraÿivanju.« (Andriü 1948, 217)
Die Sprengung und der Wiederaufbau von Brücken wird außerdem zu dem zentralen Motiv der jugoslawischen Partisanenfilme – ein Genre, das der sowjetische Film von Abram Room mit dem Titel In den Bergen Jugoslawiens (V gorach Jugoslavii, 1946) begründete. Auch in diesem Film, der die Transformation der stereotyp dargestellten Balkanbewohner in neue sozialistische Menschen nach sowjetischem Vorbild vorführt, spielen die Brücken eine bedeutende Rolle. So erschießt zunächst auf der Alten Brücke von Mostar eine als Muslimin verkleidete Serbin, die sich den Partisanen angeschlossen hat, einen deutschen Soldaten. Zu den heldenhaften Taten der jugoslawischen
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Partisanen, die im Film schnell übereinander geblendet gezeigt werden, gehört darüber hinaus auch die Sprengung einer Brücke sowie der Übergang über die improvisierte Brücke über den Fluss Neretva. Diesem Ereignis wurde später ein eigner Partisanenfilm, nämlich Veljko Bulajiüs Die Schlacht an der Neretva (Bitka na Neretvi, 1969) gewidmet. Der für den Oskar nominierte Film mit internationaler Starbesetzung zeigt den Verlauf einer großen deutsch-italienischen Offensive, durch welche die Partisanen in Bosnien 1943 endgültig vernichtet werden sollen. Eingekesselt von fremdem und heimischem Feind − einerseits die überlegen bewaffneten Armeen Nazi-Deutschlands und des faschistischen Italiens, andererseits die kroatischen Ustascha und die serbischen Tschetniks − versuchen die Partisanen, sich samt den Verwundeten, den Typhuskranken, den Frauen und Kindern über die Neretva-Brücke zu retten. Die Schlacht ging unter dem Namen der »Schlacht für Verwundete« (bitka za ranjenike) in die jugoslawische Geschichte ein. Der Film beginnt mit der Einblendung des folgenden Textes: »Auf der Neretva, im okkupierten Europa, haben wir eine der berühmtesten und humansten Schlachten geführt – die Schlacht für Verwundete. Hier wurde das Schicksal der Revolution entschieden. Hier siegte Brüderlichkeit und Einheit unserer Völker.« Tito »Na Neretvi, u okupiranoj Evropi vodili smo jednu od najslavnijih i najhumanijih bitaka – bitku za ranjenike. Tu se rješavala sudbina revolucije, tu je pobijedilo bratstvo i jedinstvo naših naroda.« Tito
Obwohl Tito als Autor des Satzes auftritt, spricht er ihn nicht selbst aus. So erhält er als Schriftstück den Status einer staatlichen Proklamation, in der Tito zum Synonym für die Partisanenbewegung, für den Kommunismus und das neue multinationale Jugoslawien wird. Dem negativen Völkergemisch der Feinde, die sich untereinander im Stich lassen oder sich gar gegenseitig umbringen, steht die positive Gemeinschaft der Partisanen gegenüber. Sie opfern sich füreinander auf und folgen sogar dem Befehl Titos zur Zerstörung der Brücke – ihrer eigentlich letzten Fluchtmöglichkeit. Dieser selbstmörderische Befehl verursacht zuerst Streit zwischen den Partisanen, bringt Frauen zum Weinen und den verrückt gewordenen Boško dazu, sich in die eiskalten Wellen der Neretva zu werfen. Doch die Zerstörung erweist sich
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als ein cleveres Täuschungsmanöver, um den Feind von den wahren Absichten abzulenken und ihn mit seinen Truppen auf die falsche Fährte zu führen. Die Fotos der zerstörten Brücke verleiten die deutschen Befehlshaber dem Fehlschluss, dass sich die Partisanen nach Norden zurückziehen werden. Diese bauen jedoch unter Beschuss von Flugzeugen in einem Tag eine neue provisorische Brücke auf. Trotz zahlreicher Opfer gelingt es ihnen, die Verwundeten und Kranken auf Tragbaren hinüberzutragen (Abb. 1).
Abb. 1. Übergang über die Neretva, Veljko Bulajiü, Die Schlacht an der Neretva, 1969. Die singende Menschenkette, die sich über die Bretter bewegt, korrespondiert nicht nur mit der provisorischen Brücke, sondern sie scheint sie auch mitzukonstruieren. Nach der Überquerung wird die Brücke in Brand gesetzt, um eine Verfolgung durch feindliche Truppen unmöglich zu machen. Der Sprengungsexperte Vlado, gespielt von dem rusisch-mongolisch-schweizerisch-amerikanischen Schauspieler Yul Brynner, wirft noch das letzte Mal den Blick auf das Bauwerk und wendet sich zu seinem slowenischen Mitkämpfer mit den Worten: »Schon drei Jahre zerstöre ich, verbrenne und lasse Ruinen hinter mir. Doch manchmal träume ich von den Brücken, die ich aufbauen werde.« Bereits im Akt der Zerstörung der Brücke entsteht die Vision ihres Wiederaufbaus durch die siegreiche Partisanenarmee. Sie vernäht nicht nur die Partisanen mit Tito an ihrer Spitze mit dem Volk, sondern kündigt den Aufbau des neuen, multinationalen Tito-Jugoslawiens an, in dem der Unterschied zwischen den Nationen und Klassen überwunden werden soll. Durch die Teilnahme von amerikanischen, westeuropäischen und russischen Schauspielern wie Yul Brynner, Or-
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son Welles, Anthony Dawson, Hardy Kruger, Curd Jürgens, Franco Nero, Sylvia Koscina, Sergej Bondarþuk und Oleg Vidov sowie der jugoslawischen Filmstars Milena Draviü, Ljubiša Samardžiü, Boris Dvornik und Bata Živojinoviü vernäht die Brücke über die Neretva darüber hinaus auch Ost und West bzw. eine vertraute jugoslawische mit der internationalen, von Hollywood beherrschten Medienwelt.
Abb. 2. Zerstörung der Alten Brücke in Mostar, Jean-Luc Godard, Notre musique, 2004. Ein symbolisches Ende der jugoslawischen Überbrückungspolitik setzte die Zerstörung der Brücke in Mostar, der Jean-Luc Godard in seinem Film Notre musique (2004) ein visuell-philosophisches Denkmal gesetzt hat. Dabei verbindet er metaphorologisch das filmische Verfahren von Schuss und Gegenschuss mit der Zerstörung und dem Wiederaufbau der Brücke von Mostar. Obwohl Godard sich nicht direkt auf Lacan und Oudart bezieht, sondern den Abgrund zwischen Schuss und Gegenschuss vor allem im Anschluss an Emmanuel Lévinas auslotet, scheint er doch an die Debatte um die filmische suture anzuknüpfen. In dieser wurde ja der Abstand von Schuss und Gegenschuss erstmals in den Vordergrund gestellt. Der Lesart des Verfahrens im Sinne der continuity montage wurde widersprochen: Nicht die Einheit der Erzählung, sondern deren Herstellung durch Überbrückung letztlich unvermittelbarer Gegensätze stand im Vordergrund. Bild, Text und Bauwerk der Brücke markieren bei Godard gleichermaßen den Abgrund zwischen Schuss und Gegenschuss. In einer unscharfen Filmsequenz werden zuerst die gewaltigen Explosionen gezeigt, die schließlich eine Leerstelle offenlassen (Abb. 2).
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R EALE
UND METAPHORISCHE
Z ERSTÖRUNG
Der Zerstörung folgt eine Sequenz über den Unterricht in einer bosnischen Grundschule, in der die Schüler von der Baugeschichte der Alten Brücke erfahren. Diese wird mit einem alten Freund verglichen und in einem Kinderlied besungen. In einer weiteren Sequenz wird der Wiederaufbau der Brücke gezeigt, der 2004 beendet wurde.22 Eine anonyme Männerstimme spricht aus dem Off: »We must at once restore the past and make the future possible. Combine the pain and the guilt. Two faces and one truth – the bridge.« Eine aus Tel Aviv nach Bosnien angereiste Journalistin (Judith Lerner) unternimmt einen Ausflug von Sarajevo nach Mostar. Mitten auf einer kleinen Holzbrücke liest sie Emanuel Lévinas’ Entre nous. Essais sur le penser-à-l’autre (1991) laut vor: »If the face symbolises ‘Thou shalt not kill’… how can we make a face with stones? The relationship between me and the Other isn’t symmetrical. At first, the Other matters little with respect to me« (Abb. 3). Ihre Stimme korrespondiert mit der Stimme des Mannes wie in einem Dialog, wobei Lévinas’ mitten auf der Brücke aufgeschlagenes Buch Zwischen uns eine metaphorische Dimension erhält. Die Restaurationsarbeiten an der Alten Brücke bekommen ihren sprachlichen Gegenpart. Der Bau- und Sprechakt ergänzen einander. Anschließend setzt sich die Journalistin auf einen der Steine aus der zerstörten Brücke, die mit Nummern versehen wurden, um sie nach den alten Plänen wieder aufbauen zu können (Abb. 4). So wie vor der Erfindung des Alphabets ›after/aprés‹ die Vergangenheit und ›before/avant‹ die Zukunft bedeutet habe, so würde mit der Rekonstruktion der Brücke auch die Zeit neu anfangen. In der letzten Sequenz erscheinen am Fluss Indianer. Zuerst sitzen sie in moderner Kleidung in ihrem alten Auto, das nicht anspringen will, dann stehen sie vor der Brücke in ihren traditionellen Ledertrachten. Einer hat sogar ein Pferd gesattelt. Dabei handelt es sich um ein Zitat von zahlreichen ost- und westdeutschen Indianerfilmen, die in den 1960er und 1970er Jahren auf jugoslawischem Boden gedreht wurden. Godard macht wie Andriü die Brücke von Mostar zum Chronotopos,23 in dem nicht nur Zeiten und Kulturen, sondern auch Sprache und Dinge zusammenrücken und
22 Zum Wiederaufbau der Brücke: Koschnick/Schneider 1995. 23 Zur Gestaltung des Chronotopos in Andriüs Werk: Ressel 1993.
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austauschbar werden. Der Wiederaufbau der Brücke ist der Beginn eines erneuten Kulturdialogs, der die Wunde wieder vernähen soll.
Abb. 3. Journalistin Judith Lerner liest auf einer Brücke in Mostar Emanuel Lévinas’ Buch Entre nous, Jean-Luc Godard, Notre musique, 2004.
Abb. 4. Journalistin Judith Lerner, sitzend auf den Steinen der zerstörten Brücke von Mostar, Jean-Luc Godard, Notre musique, 2004. Der Exkurs zur Brücke von Mostar korrespondiert mit Godards Vortrag in Sarajevo über das filmische Verfahren von Schuss und Gegenschuss, der von einer Übersetzerin simultan aus dem Französischen ins Bosnische übertragen wird. Schuss und Gegenschuss sind für Godard
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zweimal dasselbe. Zur Unterstreichung der Differenzlosigkeit zeigt er in eindringlicher Folge einander gegenübergestellte Fotografien und Bilder – champ – contre-champ: das Foto eines Mannes und das einer Frau, zwei Gesichter aus einem Film von Howard Hawks, ein Foto von Flüchtlingen aus dem Kosovo und Giottos Wandfresko der Flucht nach Ägypten in der Arena-Kapelle in Padua, ein Foto, das einen ausgehungerten Juden zeigt, aufgenommen beim Einmarsch der amerikanischen Truppen in Deutschland 1945 und eines von einem verhungerten, bereits verstorbenen bosnischen Muslim im Bosnien-Krieg der 1990er Jahre, ein Foto der Ankunft der Israelis in Palästina und eines der Vertreibung der Palästinenser, eine Ansicht des realen Schlosses Elsinor und die Illustration desselben Schlosses in Shakespeares Hamlet. Die Bildpaare stehen, so Godard, jeweils für zwei Gesichter (faces) ein und derselben Wahrheit. Auf diese Art verwischt Godard nicht nur den Unterschied zwischen verschiedenen historischen Ereignissen im Sinne einer fast biblischen Konkordanz, sondern auch den zwischen fiktionalen und dokumentarischen Bildern, schließlich die Differenz zwischen dem Imaginären, Unsichtbaren und dem Realen, Sichtbaren. Die zerstörte und wieder aufgebaute Brücke von Mostar, repräsentiert in diesem Sinne die Begegnung zweier Gesichter wie Schuss und Gegenschuss. Die Vorstellung von der janusgesichtigen Brücke entnimmt Godard Lévinas’ oben erwähntem Buch Zwischen uns, in dem sich der Philosoph fragt, ob auch Dinge ein Gesicht haben können: »Können Dinge ein Antlitz haben? Ist nicht die Kunst ein Tun, das Dingen ein Antlitz verleiht? Ist eine Häuserfassade nicht ein Haus, das uns anschaut? […] Wir fragen uns allerdings, ob in der Kunst sich nicht die unpersönliche Gangart des Rhythmus’ auf faszinierende Art an die Stelle der Sozialität, des Antlitzes, des Wortes setzt.« (Lévinas 1995, 22)
Wenn Dinge zu Kunstwerken werden, kommunizieren sie mit den Menschen, als wären sie Sprecher einer Sprache. Gerade der Sprache räumt Lévinas eine zentrale Bedeutung im Verhältnis zum Anderen ein: Sie evoziere nicht nur den Anderen als persona, sondern teile auch das eigene Gesicht des Sprechenden mit: »Die Sprache als Ausdrucksmittel richtet sich an den Anderen und ruft ihn an. […] Die Beziehung durch Sprache lässt sich nicht auf diejenige reduzieren, die das Denken mit einem ihm gegebenen Objekt verbindet. Sprache kann den an-
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deren nicht enthalten; der Andere, den wir in diesem Moment mit diesem Begriff bezeichnen, wird nicht als Begriff angerufen, sondern als Person. Im Sprechen denken wir nicht bloß an unseren Gesprächspartner, wir sprechen mit ihm, wir teilen ihm auch die Vorstellung mit, die wir vielleicht von ihm als ›Gesprächspartner im allgemeinen‹ haben.« (Lévinas 1995, 48)
So wie Schuss und Gegenschuss metaphorisch für die Auseinandersetzung und den (Bilder-) Krieg stehen (Thiele 2006), so repräsentiert auch die Zerstörung der Brücke den Riss und das Aufklaffen von Kulturen. So wie Godard den Wiederaufbau der Brücke mit der Wiederentdeckung einer gemeinsamen Sprache korreliert, so verlief auch ihre Zerstörung parallel zur Zerstörung der ›Brücken‹ zwischen den südslawischen Sprachen. Diese dokumentierte Susan Sontag in ihrem Essay Übersetzt werden (1995), in dem sie von der Schwierigkeit der Übersetzung bei der Aufführung von Becketts Warten auf Godot in Sarajevo 1993 berichtet. (Sontag 2007, 431-448) Sontags anonymer Gesprächspartner, hinter dem man den Produzenten und Regisseur Haris Pasoviü vermuten darf, besteht darauf, dass eine neue, bosnische Übersetzung die alte serbische aus den 1950er Jahren ersetzen solle. Diese sei zwar an sich »gar nicht so schlecht«: »Es ist nur so, dass das hier nun Bosnien ist. Wir wollten das Stück ins Bosnische übersetzen.« (Ebd., 434) Doch die bosnische Übersetzung ist zu Beginn der Proben leider noch nicht fertig. Auf die Frage Sontags, worin denn der Unterschied zwischen den beiden Übersetzungen liege, antwortet der Gefragte, dass sich dieser jemandem, der nicht zur bosnischen Sprachgemeinschaft gehört, schwerlich erklären lasse: »Sie würden es wohl kaum verstehen. Doch es gibt einen Unterschied.« (Ebd., 434) Er hänge von der Wahl der Wörter ab, worüber in diesem Fall die Übersetzerin entscheide. Als sich Sontag erkundigt, ob man die bosnische Übersetzung in Serbien verstehen würde und die serbische in Bosnien, antwortet der Gesprächspartner mit einem double-bind – »vielleicht« und »vielleicht nicht«. Das spezifisch Bosnische an der Übersetzung sei, »dass sie hier in Sarajewo gemacht wird, während sich die Stadt im Belagerungszustand befindet«. (Ebd., 434) So wie in den Texten über die bosnischen Brücken die Grenze zwischen Ding und Sprache aufgehoben wird, so ersetzt im Falle der Übersetzung ein raumgebundenes Verständnis der Sprache das grammatikalisch-linguistische. Schließlich erfährt man, dass man sich um ein Nichts streitet – die
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Handschrift der Übersetzerin sei unlesbar bzw. das Farbband der von ihr benutzten Schreibmaschine sei zu blass, um die Schrift überhaupt lesen zu können. Da ein neues Farbband während der Belagerung nirgendwo zu bekommen sei, solle das Manuskript von jemandem mit einer gut lesbaren Handschrift kopiert werden. Der Übersetzungsakt legt in zahlreichen arabesken Schleifen seine Absurdität bloß, welche die Regeln des absurden Theaters beinahe überbietet. Die Übersetzung mündet in einem regressiven Akt der medialen Rückübersetzung: die technische Reproduktion wird durch den Kopisten ersetzt, die Materialität der Schrift löst sich im Immateriellen auf. Als schließlich doch ein neues Farbband aufgetrieben werden kann und die Übersetzung beendet und lesbar wird, stellen die Schauspieler fest, dass die neue, bosnische Übersetzung eigentlich doch nicht so gut sei, wie die alte serbische, die »besser klingt«, »natürlicher« und »leichter zu sprechen« sei. Aus diesem Grund entscheiden sich die Schauspieler dazu, auf die alte Übersetzung zurückzugreifen. Sollten sie während der Proben auf ein Wort stoßen, das zu serbisch klingt und es besser »in etwas Bosnischeres« geändert werden sollte, würden sie beschließen, es zu ersetzen. Das Ergebnis des gewaltigen Übersetzungsaufwandes sei es schließlich gewesen, dass die Schauspieler kein einziges Wort der alten Übersetzung ersetzt hätten. Wie Sontag konstatiert, dient die Übersetzung in Bosnien 1993 nicht der Überbrückung der Differenz, sondern im Gegensatz ihrer Markierung: »Beim Übersetzen geht es um Unterschiedlichkeit. Eine Übersetzung ist Mittel und Weg, mit Unterschieden fertig zu werden, sie zu mildern und auch sie zu leugnen – selbst wenn sie, wie meine Geschichte illustriert, auch Mittel und Weg ist, auf Unterschiedlichkeit zu bestehen.« (Sontag 2007, 437)
Das Übersetzen wird in der Regel mit dem Über-setzen und dem Erreichen der anderen Seite gleichgestellt, wie dies auch der Name der Übersetzerverbände und ihrer Zeitschriften im ehemaligen Jugoslawien bezeugt: Brücke (Most).24 Doch der Akt des Übersetzens im Bosnien des Jahres 1993 erfüllt nicht diese Funktion. Vielmehr kreist er selbstreferenziell um sich selbst, ohne einen Dialog anzufangen. Der gescheiterte Übersetzungsversuch ist das bloße Ritual einer bosnischen
24 Marjanoviü 1966; Adroviü 1968; »Mostovi. ýasopis književnih prevodilaca Srbije« 1970.
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Aneignung des Originals, gerade weil die neue bosnische Übersetzung schlussendlich doch nicht verwendet wird. Die Differenz klafft nicht in der Grammatik der Sprache selbst auf, sondern in ihrer topographischen Verortung: Daher werden Brücken dort notwendig, wo vorher keine Schluchten waren. In dem Roman Die Brücke mit den drei Bögen (1993) des albanischen Schriftstellers Ismail Kadare, der im Spätmittelalter spielt, geht eine babylonische Sprachenverwirrung dem Krieg und der osmanischen Invasion auf dem Balkan voraus. So heißt es, dass »der Krieg zwischen den Sprachen nicht weniger unerbittlich geführt wird als der Krieg zwischen den Menschen«. (Kadare 2005, 89) Die Worte werden verdinglicht, die Grenze zwischen Sprache und Realität verwischt. Sowohl die Befürworter als auch die Gegner der Brücke, welche die alte Fähre ersetzen soll, bedienen sich alter Balkanlegenden, um das aktuelle Ereignis des Brückenbaus, als eine Prophezeiung erscheinen zu lassen. Wie bei Andriü, so beanspruchen auch bei Kadare beide Parteien ein und dieselbe Brückenlegende: »Hier auf dieser Halbinsel streiten wir uns nicht allein um Weiden und Schafe, wir streiten uns über alles, deshalb muss kaum extra erwähnt werden, dass es auch Streit um die Urheberschaft an dieser Legende gibt.« (Ebd., 110) Genauso wie bei Andriü gehen Textproduktion und Brückenbau Hand in Hand: »In meinem Kopf blitzte der Gedanke auf, dass der Märchensammler kaum weniger vom Brückenbau verstanden hatte als ein Baumeister.« (Ebd., 129) Auch der Erzähler, der Mönch Gjon, scheint beim Schreiben seiner Chronik mit der Brücke zu verschmelzen: »Sie lastet auf mir mit ihrem grässlichen Gewicht. Ihre steinernen Pfeiler zerquetschten mich. Ein Bogen erhob sich direkt über meinem Bauch, der andere an meinem Hals, ich wollte sie abschütteln, mich vor ihnen retten, doch es war völlig unmöglich. Die einzige Bewegung, die mir gelang, war ein schwaches, ganz, ganz schwaches Zittern. Ach ja… das muss das unentwegte Beben sein, von dem in der Ballade die Rede ist […].« (Ebd., 136f.)
Umgekehrt ähnelt die Brücke, in die ein Opfer eingemauert wurde, dem menschlichen Körper: Ihre Steine glänzen wie die Haut – »wie die Poren eines lebendigen Leibes«. (Ebd., 169) Die Brücke wird also zum Körper-Raum bzw. Raum-Körper, dessen Grenzen wie diejenigen der Kulturen unklar und verschiebbar sind. So wie die Kriegspropaganda der 1990er Jahre den Gegensatz von Christentum und Islam ak-
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tualisierte – dies bezeugen zahlreiche Memoiren25, journalistische Beiträge und Dokumentarfilme26 –, so ist auch Kadares mittelalterliche Erzählung zugleich eine moderne Erzählung und, wie Ulrike Jekutsch feststellt, eine Kontrafaktur derjenigen von Andriü. (Jekutsch 2009) Als Ort des An- oder Ausschlusses von Kulturen werden die bosnischen und die anderen Brücken des Balkans einem andauernden Prozess des Bauens, Abbauens und Wiederaufbauens ausgesetzt. Dieser Prozess wird von den diskursiven Praktiken des aufreißenden und vernähenden Erzählens und Über-setzens begleitet. An den gegenüberliegenden Seiten des Ufers erblicken die nebeneinander und miteinander lebenden Kulturen ihr Spiegelbild, mit dem sie sich zu Zeiten der Panslawismen sowie des transnationalen Sozialismus des »dritten Weges« bzw. der »dritten Welt« lustvoll vereinten. Doch wie bei Lacan und Oudart auf diese Vereinigung der Augenblick der Enttäuschung folgt, so erwachen auch die Kulturen aus der Illusion der Einheit und das gemeinsame Konstrukt bricht desillusioniert in sich zusammen. In diesen Prozessen der Inklusion und Exklusion werden die Brücken zu dem Ort, an dem kulturelle Schnittstellen aufklaffen oder Zwischenräume entstehen.
LITERATUR Adroviü, Braho 1968 (Hg.): Mostovi. Medjurepubliþka zajednica za kulturno prosvjetno dijelatnost. Beograd.
25 Koschnik/Schneider 1995, 8: »Manche Mostarer behaupten, der Krieg zwischen Serben, Kroaten und Muslimen habe eigentlich vor ewigen Zeiten begonnen – vor Jahrhunderten, als die Türken kamen, oder im Zweiten Weltkrieg, als die von den Deutschen und Italienern unterstützten kroatischen Ustaschi-Faschisten, die serbischen Tschetniks und Titos Partisanen hier kämpften.« 26 Pawel Pawlikowskis Dokumentarfilm Serbian Epics (1992) macht deutlich, wie die Parallelen zwischen der Schlacht auf dem Amselfeld im Jahre 1389 und dem Krieg in Bosnien 1992 gezogen wurden. So fiel den muslimischen Bosniern im Propagandaszenario Radovan Karadžiüs die Rolle der Türken zu.
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B OSNISCHE B RÜCKEN | 333
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334 | TANJA Z IMMERMANN
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Personenregister
Achmatova, Anna 234 Anczyc, Stanisław 47, 48, 56 Anderson, Benedict 189, 195, 215, 219, Andriü, Ivo 15, 301, 302, 304, 306, 309-321, 330, 331 Andruchovyþ, Jurij 148, 149, 199, 200, 207, 235 Antonevyþ, Mykola 45 Arndt, Susan 141 Ashcroft, Bill 234, 239 Asnyk, Adam 52 Bachtin, Michail 159, 168, 169 Barabola, Taras 174 Barthes, Roland 211 Beckett, Samuel 166, 328 Blok, Aleksandr 234 Bloom, Harold 14, 233, 234, 235, 237, 245 Bondarþuk, Sergej 324 Braudel, Fernand 187 Brawer, Abraham J. 42, 43 Bringa, Tone 109 Brodskij, Iosif 234 Browning, Robert 234 Brynner, Yul 323, 324 Budzynovs’kyj, Vjaþeslav 43 Bujak, Franciszek 38, 44, 45, 47 Bulajiü, Veljko 304, 322, 323 Burger, Hannelore 120, 121
| KULTURGRENZEN IN POSTIMPERIALEN RÄUMEN
ýapek, Karel 176 ýarnec’kyj, Stepan 237, 243, 244 Cassirer, Ernst 187, 216 Cassius (Kašiü), Bartol 104, 105 Celan, Paul 201, 205, 210 Chotkevyþ, Hnat 176 Chrušþev, Nikita 108 Cohen, Leonard 212 Dawson, Antony 324 Deleuze, Gilles 143, 209 Dickinson, Emily 233 Ĉikiü, Osman 278, 279, 287-296 DołĊga Chodakowski, Zorian 67, 68, 73, 75, 78-80, 87 Dovbuš, Oleksa 166, 174 Draviü, Milena 324 Durych, Jaroslav 176 Dvornik, Boris 324 Eder, Klaus 190 Eliot, Thomas Stearns 235 Emerson, Ralph Waldo 234 Foucault, Michel 14, 226-228 Fassmann, Heinz 212, 213 Fed’kovyþ, Osyp-Jurij 240 Fellerer, Jan 26, 30, 104, 106, 118, 120, 121, 124, 138 Foer, Jonathan Safran 200, 210 Franko, Ivan 41, 49, 53, 54, 88, 145-147, 174, 196, 205, 231, 236, 259 Franzos, Karl Emil 198, 205, 209, 217 Garašanin, Ilja 291 Gellner, Ernst 101 Giotto (di Bondone) 327 Gobard, Henri 143 Godard, Jean-Luc 15, 304, 324-328 Goethe, Johann Wolfgang von 14, 206, 211, 231, 232, 234, 236-242, 247, 248, 250 Gogol’, Nikolaj 234
P ERSONENREGISTER | 337
Graus, František 195, 196, 217 Griffiths, Gareth 234, 239, 245 Gross, Adolf 38, 39 Guattari, Felix 143, 209 Hadžiü, Osman Nuri 278-286, 290, 291, 294, 296 Hann, Christopher 33, 204 Hawks, Howard 327 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 308 Heine, Heinrich 14, 146, 231, 232, 234, 237, 242-244, 252, 253 Himka, John-Paul 64, 73-75, 84, 88 Hobsbawm, Eric 101 Hodel, Robert 320 Hoernes, Moriz 277 Holubec’, Mykola 243 Horoschowski, Wilhelm 46 Hrycak, Jaroslav 33, 34, 53, 142 Hüchtker, Dietlind 210, 211 Hundorova, Tamara 234, 235, 237, 245 Huntington, Samuel 102 Jan von Dukla 267 Jánošík, Juraj 174 Jekutsch, Ulrike 331 Józefowicz, Jan Tomasz 269 Jürgens, Curd 324 Kaþala, Stepan 51 Kadare, Ismail 304, 330, 331 Kafka, Franz 209 Kalinka, Waleryan 35-37, 43 Kállay, Benjamin von 102, 111, 277, 295 Kappeler, Andreas 20, 33, 108 Kaps, Klemens 11, 23, 33-60, 343 Karadžiü, Vuk 105, 291-293 Karadžiü, Radovan 331 Karmans’kyj, Petro 233, 236-243, 245, 249 Kasprowicz, Jan 146 Kirkegaard, Sören 213
| KULTURGRENZEN IN POSTIMPERIALEN RÄUMEN
Klein, Abraham Moses 213 Kobyljans’ka, Ol’ha 144, 146, 147 Kollár, Ján 69 Kołłątaj, Hugo 66, 80, 82, 83 Konopnicka, Maria 146 Korn, Rachel 212 Koscina, Sylvia 324 Koval’s’kyj, Vasyl’ 45 Kratochvil, Alexander 12, 165-183, 341, 343 Kremnitz, Georg 123, 142-144 Krleža, Miroslav 241, 319 Kruger, Hardy 324 Krušelnyckyj, Antin 147 Kryvonis, Maksym 259-260, 274 Kubala, Ludwik 266-268, 272 KuĞniewicz, Andrzej 148, 149 Kymlicka, Will 203 Lacan, Jacques 303, 304, 324, 331 Lachmann, Renate 312, 313, 321, 332, 333 Lam, Jan 268, 272 Leichner, Ignaz 39 Lepkyj, Bohdan 146, 147, 222, 233, 237, 239-243, 245, 252 Lerner, Judith 325, 326 Lešiü, Josip 287, 288 Levakoviü, Rafail 105 Lévinas, Emanuel 324-328 Levyc’kyj, Dmytro 224 Levyc’kyj, Josyp 90 Lindemann, Kristin 15, 277-299, 343 LipiĔski, Karol 63 LityĔski, Leopold 37, 43 Lozyns’kyj, Josyp 90, 92 Magris, Claudio 191, 211 Maj, Jan 66, 82 Makarska, Renata 12, 141-163, 165, 168, 344 Makovej, Osip 147 Marusjak, Dmytro 174
P ERSONENREGISTER | 339
Mazepa, Ivan 229, 239 Michalewicz, Mikołaj 85 Michel, Robert 304-310, 312, 313 Miciü, Ljubomir 318, 319 Mickiewicz, Adam 68, 146, 225 Miliþeviü, Ivan Aziz 278, 279, 281, 282, 284-286, 290, 291, 294, 296 Milton, John 234 Naguschewski, Dirk 141 Nedil’skyj, Sofron 124 Nell, Werner 14, 187-219, 207, 212, 344 Nero, Franco 324 Neta, Nathan 262, 263, 271 Nicolosi, Riccardo 20, 22 Olbracht, Ivan 166, 167, 171-173, 175, 177-182 z Oleska, Wacław 63, 71, 72, 76, 77, 79, 81, 82, 87, 90, 91 Ondraszek 174 Orkan, Władysław 146 Oudart, Jean-Pierre 303, 304, 324, 331 Paþovs’kyj, Vasyl’ 233, 235-237, 242-245, 255 Pasoviü, Haris 328 Pauli, ĩegota 65, 89 Pawlikowski, Pawel 15, 331 Przybyszewski, Stanisław 146 Ptashnyk, Stefaniya 12, 26, 62, 117-140, 142, 166, 168, 344 Puškin, Aleksandr 232, 234 Reinhard, Wolfgang 189 Reisner, Moische Jankl 174 Rezzori, Gregor von 154, 155 Rittner, Tadeusz 145, 146 Robin Hood 167 Roth, Joseph 201, 208, 211 Rutowski, Tadeusz 37, 38, 40, 41, 43-45, 48, 51 Šafárik, Pavol Jozef 69 Samardžiü, Ljubina 323
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Samuely, Nathan 272 Šaškevyþ, Markijan 65, 70, 89, 92-94 Schmid, Ulrich 14, 165, 203, 221-229, 345 Schmidt, Arno 232 Schmitz-Emans, Monika 150, 152, 168 Schwitin, Katharina 11, 28, 61-97, 345 Sienkiewicz, Henryk 266-268 Simonek, Stefan 14, 145, 165, 168, 231-255, 345 Sjuhaj, Mykola (s. Šuhaj, Nikola) Skarga, Piotr 105 Smotryþ, Meletij 106 Sokoloviü, Mehmed Pascha 306, 312, 313, 320 Solecki, Eduard 53 Sontag, Susan 328, 329 Sosnowska, Danuta 64, 74, 78, 84, 85, 91 Starþeviü, Ante 282, 285 Stefanovyþ, V. 269, 270 Stefanyk, Vasyl’ 146 Stefczyk, Franciszek 41, 42 Steiner, Georg 193, 194 Stevens, Wallace 234 Stockhammer, Robert 141 Šuhaj, Nikola (auch Sjuhaj, Mykola) 12, 165-167, 170, 174, 176, 177182 Szczepanowski, Stanisław 24, 37, 38, 40, 41, 43, 46, 49, 51, 53 Szondi, Peter 211 Szyrma, Krystyn Lach 66, 67, 75, 76, 80, 96 Taylor, Charles 203 Tiffin, Helen 234, 239, 245 Tito, Jozip Broz 110-112, 319-323, 331 Trakl, Georg 241 Tuhaj Bej 258, 267 Vanþura, Vladislav 176 Vidov, Oleg 324 Vincenz, Stanisław 147-149, 152-160 Vogel, Deborah 145 Voß, Christian 12, 101-115, 117, 165, 168, 346
P ERSONENREGISTER | 341
Welles, Orson 324 Wendland, Anna Veronika 19-32, 119, 136, 181, 209, 210, 262, 346 Werberger, Annette 7-16, 145, 346 Wischenbart, Rüdiger 196 WiĞniewski, Michał 35 Wittlin, Józef 146, 147, 151-153, 191, 192, 201, 202, 208, 214 Woldan, Alois 14, 149, 152, 153, 165, 168, 257-276, 347 WyspiaĔski, Stanisław 146 Wytrzens, Günther 142, 151, 153 Žadan, Serhij 235 Zaleski, Wacław 63-67, 69-72, 76-83, 85, 87-95 Želechovs’kyj, Jevhen 124 Zimmermann, Tanja 15, 301-334, 347 Zimorowic, Józef Bartłomiej 258-262, 265, 266 Živojinoviü, Bata 324 Zubrzycki, Denis 258, 266
Autorinnen und Autoren
Kaps, Klemens Dr., Studium der Geschichte, Philosophie und Politologie an der Universität Wien und der Universidad de Barcelona, von 2007 bis 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Doktoratskolleg »Das österreichische Galizien und sein multikulturelles Erbe« an der Universität Wien. Promotion an der Universität Wien (2011): Von der Zivilisierung der Peripherie. Wirtschaftliche Entwicklung, überregionale Verflechtung und Modernisierungsdiskurse im habsburgischen Galizien (1772-1914). Forschungsschwerpunkte: Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Habsburgermonarchie zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert. Seit November 2011 post-doc-Forscher an der Universidad Pablo de Olavide in Sevilla, finanziert durch ein Erwin-Schrödinger-Auslandsstipendium des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF). [email protected] Kratochvil, Alexander Dr., Studium der Slavistik, Ethnologie und Germanistik in München, Freiburg, Brno und L’viv, Promotion zur ukrainischen Literatur der 1920er Jahre (Mykola Chvyl’ovyj), 2009-2011 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Exzellenzcluster 16 »Kulturelle Grundlagen von Integration« an der Universität Konstanz. Lehre an der Humboldt Universität zu Berlin. Seit 2012 Forschung an der Tschechischen Akademie der Wissenschaften: PurkynČ-Fellow, Forschungsschwerpunkte und -themen liegen in den ostmitteleuropäischen Literaturen des 20. und 21. Jahrhunderts. [email protected] Lindemann, Kristin, Mitarbeiterin im Projekt Slavia Islamica im Exzellenzcluster 16 und Doktorandin am Lehrstuhl für Slavistik (Literaturwissenschaft) der Universität Konstanz. Studium der Interkulturellen Europa- und Amerikastudien in Halle (Saale) und der slavischen
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Literaturen in Konstanz. Abschlussarbeit zur Kulturellen Konstruktion Bosnien-Herzegovinas Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts. Promotionsvorhaben zu den Sprach- und Religionskonzepten der bosnisch-muslimischen Intellektuellen zwischen 1878 und 1908. [email protected] Makarska, Renata, Dr., wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für slavische Literatur- und Kulturwissenschaft der Universität Tübingen. Studium der Polonistik, Slavistik und der Neueren deutschen Literatur in Wrocław und München. Promotion Konzeptualisierungen der Hucul’šþyna in der mitteleuropäischen Literatur des 20. Jahrhunderts 2007 an der Universität Jena, publiziert 2010 als Der Raum und seine Texte. In den Jahren 2008-2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Exzellenzcluster 16 »Kulturelle Grundlagen von Integration« an der Universität Konstanz. Forschungsschwerpunkte und -themen liegen in den westslavischen Literaturen des 20. und 21. Jahrhunderts. Habilitationsprojekt zu Literaturen Ostmitteleuropas in Zeiten kultureller Migration. [email protected] Nell, Werner, Prof. Dr., seit 2002 Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Vorstand des Instituts für sozialpädagogische Forschung Mainz (ism); Adjunct Associate Professor an der Queen's University in Kingston/Ontario (Kanada). Studium der Komparatistik, Sozialwissenschaften, Geschichte und Philosophie in Mainz, Frankfurt a.M. und Dijon. Arbeitsgebiete: Literatur- und Gesellschaftsbeziehungen, regionale und interkulturelle Literaturen, Migrationsforschung, 18. Jahrhundert, Kulturtheorie. Publikationen: http://nell.germanistik. uni-halle.de/keinname59324/. [email protected] Ptashnyk, Stefaniya, Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin im Deutschen Rechtswörterbuch, Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Studium der Germanistik und Slavistik an den Universitäten L’viv und Heidelberg. Promotion 2003 im Bereich Deutsche Philologie zum Thema Strukturelle und semantische Besonderheiten phraseologischer Modifikationen und ihre Funktionen in deutschen Zeitungstexten, veröffentlicht 2009 in der bearbeiteten Fassung unter dem Titel Phraseologische Modifikationen und ihre Funktionen im Text: Eine Studie am Beispiel der deutschsprachigen Presse. 2004-2005 wissenschaftliche
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Mitarbeiterin am Institut für Deutsche Sprache in Mannheim; 20062007 Gastdozentin an der Universität Wrocław; 2007-2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt Goethe-Wörterbuch in Tübingen. Forschungsschwerpunkte: historische Lexikografie, Phraseologie, Korpuslinguistik und historische Soziolinguistik. Habilitationsprojekt zu Sprachenpolitik und Sprachkonflikten in Galizien 1848 bis 1918. [email protected] Schmid, Ulrich, Prof. Dr., Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen. Studium der Germanistik, Slavistik und Politikwissenschaft an den Universitäten Zürich, Heidelberg und Leningrad. 1992-2000 Assistent, 2000-2003 Assistenzprofessor am Slavischen Seminar der Universität Basel, 2004 Assistenzprofessor am Institut für slavische Sprachen und Literaturen der Universität Bern, 2005 Professor für Slavische Literaturwissenschaft an der RuhrUniversität Bochum. Wichtigste Publikationen: Lew Tolstoi (2010), Literaturtheorien des 20. Jahrhunderts (2010), Russische Medientheorien (2005), Russische Religionsphilosophen (2003), Ichentwürfe. Russische Autobiographien zwischen Avvakum und Herzen (2000). [email protected] Schwitin, Katharina, Doktorandin am Lehrstuhl für slavische Literatur- und Kulturwissenschaft der Universität Tübingen. Studium der Slavistik und Komparatistik in Berlin und Tübingen. Abschlussarbeit zur Kategorisierung literarischer Text am Beispiel von Saša Sokolovs »Škola dlja durakov«. Promotionsprojekt zu alternativen kulturellen Zentren in der polnischen, ukrainischen und russischen Literatur der Moderne. 2009-2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Exzellenzcluster 16 Kulturelle Grundlagen von Integration an der Universität Konstanz. [email protected] Simonek, Stefan, ao. Prof. Dr., Professor am Institut für Slawistik der Universität Wien. Studium der Slawistik und der Komparatistik in Wien. Promotion Osip Mandel’štam und die ukrainischen Neoklassiker 1991 an der Universität Wien, publiziert 1992, Habilitation Ivan Franko und die Ɇoloda Muza1996 ebenfalls an der Universität Wien, publiziert 1997. Autor der Monographie Distanzierte Nähe. Die slawische Moderne der Donaumonarchie und die Wiener Moderne (2002) sowie von 95 wissenschaftlichen Aufsätzen zur russischen, ukraini-
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schen, tschechischen und polnischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts im europäischen Kontext mit Schwerpunkt auf Moderne, Avantgarde und Postmoderne. [email protected] Voß, Christian, Prof. Dr., Professor für Südslavische Sprach- und Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Studium der Slavistik, Romanistik und Osteuropäischen Geschichte in Köln, Sofia und Freiburg. Der Forschungsschwerpunkt liegt in der Soziound Kontaktlinguistik und fokussiert das Verhältnis von Sprache und Ethnizität, insbesondere bei Grenzminderheiten und Muslimen auf dem Balkan. Herausgegebene Sammelbände u.a.: Ottoman and Habsburg Legacies in the Balkans. Language and Religion to the North and to the South of the Danube River (2010); Islam und Muslime in (Südost)Europa im Kontext von Transformation und EU-Erweiterung (2010, mit J. Telbizova-Sack); Co-Ethnic Migrations Compared. Central and Eastern European Contexts (2010, mit J. ýapo Žmegaþ und K. Roth). [email protected] Wendland, Anna Veronika, Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung, Lehrbeauftragte für Osteuropäische Geschichte an der Justus-Liebig-Universität Gießen. 2011/12 Fellow am Imre Kertész Kolleg, Universität Jena. Studium der Osteuropäischen Geschichte, Politikwissenschaft und Slavistik in Köln und Kyïv. Promotion Die Russophilen in Galizien. Ukrainische Konservative zwischen Österreich und Russland, 18481915 (Wien 2001). 1997-2008 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) in Leipzig und der Ludwig-Maximilians-Universität München. Forschungsschwerpunkte: Stadt- und Regionalgeschichte Ost- und Ostmittel-europas, transnationale und vergleichende Geschichte Europas, Umweltgeschichte. Monografieprojekte: Urbanität im Zeitalter der Extreme: Lemberg und Wilna 1890-1970 (bis 2013, Habilitation); Atomogrady. Kernkraftwerksstädte zwischen Utopie und Katastrophe in Russland, der Ukraine und Litauen 1965-2011 (seit 2012). [email protected] Werberger, Annette, Prof. Dr., ist Professorin für Literaturwissenschaft (Osteuropäische Literaturen) an der Stiftung Europa Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. 2004-2011 Wissenschaftliche Assistentin
A UTORINNEN UND A UTOREN | 347
am Slavischen Seminar der Universität Tübingen. 2003 Promotion zur Poetik Osip Mandel’štams, 2011 Habilitation zu Kulturalisierungsprozessen in den jiddischen Literaturen Ostmitteleuropas (Dibbuks und Dämonen – Geister der Moderne. Kulturalisierungsprozesse in den jiddischen Literaturen Ostmitteleuropas, Tübingen 2011). Weitere Forschungsschwerpunkte: Jiddistik, Verflechtung von Ethnologe und Literatur sowie Narratologie und Topographie. [email protected] Woldan, Alois, Prof. Dr., Studium der Theologie, Slavistik und Vergleichenden Literaturwissenschaft in Innsbruck, Stipendiat an der Universität Woronesch (Rußland), österreichischer Lektor an den Universitäten in Moskau und Wrocław, Dissertation über M. A. Bulgakov (Innsbruck 1984), Assistent am Institut für Slavistik der Universität Salzburg, Habilitation über den Österreich-Mythos in der polnischen Literatur (1996), Professor für Ost-Mitteleuropa-Studien an der Universität Passau (1998-2005), seit 2005 Professor für Slavische Literaturen am Institut für Slavistik der Universität Wien. Arbeitsgebiete: polnische Literatur, vergleichende Darstellung der polnischen, deutschen und ukrainischen Literatur in Galizien, ukrainische Literatur. [email protected] Zimmermann, Tanja, Jn. Prof. Dr. Dr., Juniorprofessorin für Slavische Literaturen und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Studium der Kunstgeschichte, der Germanistik, der Slavistik und der Osteuropäischen Geschichte in Ljubljana, Wien, Augsburg und München. Promotion über die mittelalterliche Wandmalerei in Slowenien in Ljubljana (1997) sowie über die russische Avantgarde in München (2004; Abstraktion und Realismus im Literatur- und Kunstdiskurs der russischen Avantgarde, München-Wien 2007). 20012004 wissenschaftliche Mitarbeiterin am DFG-Projekt »Intermedialität in der russischen Moderne« an der LMU in München, 2004-2009 wissenschaftlich Assistentin an der Universität Erfurt. Habilitationsschrift Crossing projections – Russland und der Westen im Spiegel des Balkans (2011). Forschungsschwerpunkte und -themen: Russische und südslavische Literatur, Kunst und Medien im 19. und 20./21. Jahrhundert, Ost-West-Transfer in Literatur und Kunst, Erinnerungskulturen. [email protected]
Edition Kulturwissenschaft Gabriele Brandstetter, Bettina Brandl-Risi, Kai van Eikels Szenen des Virtuosen April 2013, ca. 328 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1703-0
Erika Fischer-Lichte Performativität Eine Einführung September 2012, 240 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1178-6
Bernd Hüppauf Vom Frosch Eine Kulturgeschichte zwischen Tierphilosophie und Ökologie 2011, 400 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1642-2
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Edition Kulturwissenschaft Claus Leggewie, Darius Zifonun, Anne Lang, Marcel Siepmann, Johanna Hoppen (Hg.) Schlüsselwerke der Kulturwissenschaften November 2012, 344 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1327-8
Stephan Moebius (Hg.) Kultur. Von den Cultural Studies bis zu den Visual Studies Eine Einführung September 2012, 312 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-2194-5
Adam Paulsen, Anna Sandberg (Hg.) Natur und Moderne um 1900 Räume – Repräsentationen – Medien Juni 2013, ca. 320 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2262-1
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Edition Kulturwissenschaft Barbara Birkhan Foucaults ethnologischer Blick Kulturwissenschaft als Kritik der Moderne Januar 2012, 446 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1955-3
Stephan Conermann (Hg.) Was ist Kulturwissenschaft? Zehn Antworten aus den »Kleinen Fächern« Januar 2012, 316 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1863-1
Uta Fenske, Walburga Hülk, Gregor Schuhen (Hg.) Die Krise als Erzählung Transdisziplinäre Perspektiven auf ein Narrativ der Moderne März 2013, ca. 250 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1835-8
Barbara Gronau (Hg.) Szenarien der Energie Zur Ästhetik und Wissenschaft des Immateriellen Dezember 2012, 246 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1689-7
Klaus W. Hempfer, Jörg Volbers (Hg.) Theorien des Performativen Sprache – Wissen – Praxis. Eine kritische Bestandsaufnahme 2011, 164 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1691-0
Nikolas Immer, Mareen van Marwyck (Hg.) Ästhetischer Heroismus Konzeptionelle und figurative Paradigmen des Helden
Roland Innerhofer, Katja Rothe, Karin Harrasser (Hg.) Das Mögliche regieren Gouvernementalität in der Literatur- und Kulturanalyse 2011, 338 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1474-9
Thomas Kirchhoff, Vera Vicenzotti, Annette Voigt (Hg.) Sehnsucht nach Natur Über den Drang nach draußen in der heutigen Freizeitkultur Mai 2012, 288 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1866-2
Eva Kreissl (Hg.) Kulturtechnik Aberglaube Zwischen Aufklärung und Spiritualität. Strategien zur Rationalisierung des Zufalls April 2013, ca. 400 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2110-5
Gerald Lamprecht, Ursula Mindler, Heidrun Zettelbauer (Hg.) Zonen der Begrenzung Aspekte kultureller und räumlicher Grenzen in der Moderne März 2012, 302 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2044-3
Regine Strätling (Hg.) Spielformen des Selbst Das Spiel zwischen Subjektivität, Kunst und Alltagspraxis Juli 2012, 310 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1416-9
März 2013, ca. 400 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2253-9
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