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German Pages 608 [609] Year 2018
Studien zum ausländischen und internationalen Privatrecht 404 Herausgegeben vom
Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht Direktoren: Holger Fleischer und Reinhard Zimmermann
Simon Gerdemann
Transatlantic Whistleblowing Rechtliche Entwicklung, Funktionsweise und Status quo des Whistleblowings in den USA und seine Bedeutung für Deutschland
Mohr Siebeck
Simon Gerdemann, geboren 1986; Studium der Rechtswissenschaft an der Universität Göttingen; LL.M.-Studium an der University of California, Berkeley; Promotionsstudium an der Universität Göttingen; seit 2017 Rechtsreferendar am Oberlandesgericht Celle und wissenschaftlicher Mitarbeiter in einer Rechtsanwaltskanzlei in Hamburg. orcid.org/0000-0002-2868-8404
ISBN 978-3-16-155916-7 / eISBN 978-3-16-155917-4 DOI 10.1628/978-3-16-155917-4 ISSN 0720-1141 / eISSN 2568-7441 (Studien zum ausländischen und internationalen Privatrecht) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden. Printed in Germany.
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde von der Juristischen Fakultät der Georg-AugustUniversität Göttingen im Sommersemester 2017 als Dissertation angenommen. Rechts- und Datenlage nebst einschlägiger Literatur befinden sich auf dem Stand Dezember 2017. Die zugrundeliegenden Forschungsarbeiten wurden durch Stipendien der Studienstiftung des Deutschen Volkes und der Fulbright Kommission gefördert, die Veröffentlichung durch Druckkostenzuschüsse des Arbeitskreises Wirtschaft und Recht, der Johanna und Fritz Buch-GedächtnisStiftung und der Studienstiftung ius vivum unterstützt. Die Dissertation wurde mit dem Fakultätspreis der Juristischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen und dem Deutschen Studienpreis der Körber Stiftung ausgezeichnet. Ein Projekt wie dieses wäre nicht möglich gewesen ohne eine Reihe von Menschen in Göttingen und Berkeley, deren Beitrag im Rahmen eines schlaglichthaften Vorwortes nur unvollkommen angedeutet werden kann. Das gilt zuallererst für meinen Doktorvater, Prof. Dr. Gerald Spindler, dem ich eine fachlich hochspannende und persönlich mehr als nur angenehme Zeit am Göttinger Institut für Wirtschaftsrecht und einen außergewöhnlichen Grad an wissenschaftlicher Freiheit und Vertrauen verdanke. Danken möchte ich auch meinem Zweitgutachter Prof. Dr. Rüdiger Krause, der für mich stets ein arbeitsrechtliches Ohr offen hatte und mehr zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen hat, als es die gern bemühte Formel von der zügigen Erstellung des Zweitgutachtens vermuten ließe. Stellvertretend für viele großartige Kollegen und Freunde danke ich Dr. Riddhi Dasgupta für manch erkenntnisreiche Diskussion zum Verfassungsrecht der USA, Christina König und dem gesamten Team Spindler für eine wunderbare Lehrstuhlzeit sowie Dr. Mohamed Bou Sleiman für eine Reihe bedeutender Anregungen und eine noch bedeutendere Freundschaft. Nicht zuletzt für den Leser von unschätzbarem Wert waren auch die ausdauernden Manuskriptkorrekturen von Ninja Gerdemann und Dr. Maika Klemmer. Ein besonderer Dank gilt meiner Freundin Anja Fiebig und ihrem unerschütterlichen Optimismus, mit dem sie mich von Anfang bis Ende begleitet hat. Abschließend möchte ich meinen Eltern Conrad und Renate Gerdemann und meinen Geschwistern Lukas und Ninja danken. Ihr wisst, dass all dies ohne Euren Rückhalt und Glauben an mich nicht denkbar gewesen wäre. Hamburg, im Januar 2018
Simon Gerdemann
Inhaltsübersicht Inhaltsübersicht
Vorwort ..............................................................................................................V Inhaltsverzeichnis ............................................................................................. IX Abkürzungsverzeichnis ................................................................................... XV
Einleitung, Gang der Untersuchung und Methodik der Forschung ....................................................................................................... 1 Kapitel 1: Grundlagen des Whistleblowings ....................................... 4 A. Etymologie, Terminologie und Typologie des Whistleblowings .................... 4 B. Phänomenologie – Charakteristika von Whistleblowern und Whistleblowing-Situationen ........................................................................ 12 C. Ökonomie – Öffentlicher und privater Nutzen des Whistleblowings ........... 21
Kapitel 2: Entwicklungsgeschichte, Status quo und rechtstatsächliche Funktionsweise des Whistleblowings in den USA ........ 27 A. Historische Marksteine und dogmatische Weichenstellungen in der Entwicklung des Whistleblowing-Rechts ..................................................... 27 B. Das Federal Law als Motor des Whistleblower-Schutzes ab Mitte der 1960er Jahre................................................................................................ 57 C. Die Ausbreitung des Whistleblower-Schutzes durch State Common Law und Public Policy Exceptions .............................................................. 74 D. Exkurs: Whistleblowing im öffentlichen Sektor ........................................... 92 E. Überblick über den Status quo des arbeitsrechtlichen WhistleblowerSchutzes in den USA .................................................................................. 100
VIII
Inhaltsübersicht
F. Die Bedeutung der einzelnen Schutzquellen des US-Rechts in der Praxis: Konkurrenzen, Rechtswahlprobleme und Unübersichtlichkeit ......117 G. Die Renaissance des False Claims Act und die Entstehung des finanziell inzentivierten Whistleblowings ...................................................121 H. Die Entwicklung des internen Whistleblowings als CorporateGovernance- und Compliance-Element in den USA ..................................156 I. Die Jahrtausendwende als Zeitenwende für das Whistleblowing-Recht? – Der Sarbanes-Oxley Act und seine Folgen ...............................................188 J. Der Dodd-Frank Act als Kulminationspunkt der bisherigen USWhistleblowing-Geschichte .........................................................................287 K. Zusammenfassende Analyse .......................................................................358
Kapitel 3: Die transatlantische Bedeutung des USamerikanischen Whistleblowing-Rechts für Deutschland.............366 A. Unmittelbare Bedeutung – Das US-Whistleblowing-Recht als unfreiwilliges „legal transplant“ ...............................................................366 B. Mittelbare Bedeutung – Die Erfahrungen des US-WhistleblowingRechts als Spiegel der deutschen Rechtsentwicklung .................................397
Résumé .........................................................................................................479 A. Abschließende Bemerkungen ......................................................................479 B. Zusammenfassung ausgewählter Ergebnisse und Thesen ..........................480 Appendizes......................................................................................................485 Literaturverzeichnis ........................................................................................535 Sachregister .....................................................................................................587
Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis
Vorwort ..............................................................................................................V Inhaltsübersicht ............................................................................................... VII Abkürzungsverzeichnis ................................................................................... XV
Einleitung, Gang der Untersuchung und Methodik der Forschung ....................................................................................................... 1 Kapitel 1: Grundlagen des Whistleblowings ....................................... 4 A. Etymologie, Terminologie und Typologie des Whistleblowings .................... 4 B. Phänomenologie – Charakteristika von Whistleblowern und Whistleblowing-Situationen ......................................................................... 12 C. Ökonomie – Öffentlicher und privater Nutzen des Whistleblowings ........... 21
Kapitel 2: Entwicklungsgeschichte, Status quo und rechtstatsächliche Funktionsweise des Whistleblowings in den USA ........................................................... 27 A. Historische Marksteine und dogmatische Weichenstellungen in der Entwicklung des Whistleblowing-Rechts ..................................................... 27 I. „Im Namen des Königs“ – Die Wurzeln und Lehren der ersten US-amerikanischen Whistleblowing-Normen ......................................... 27 1. Der False Claims Act 1863 als Produkt des US-amerikanischen Bürgerkrieges ..................................................................................... 27 2. Die False Claims Act Amendments von 1943 und ihre Folgen ......... 35
X
Inhaltsverzeichnis
II. Beginn und Ursachen des zweigliedrigen Whistleblower-Schutzes in den USA ..............................................................................................47 1. Die „employment-at-will“-Doktrin als Paradigma des USamerikanischen Arbeitsrechts .............................................................47 2. Der National Labor Relations Act von 1935 als Blaupause des Whistleblowing-Rechts .......................................................................50 B. Das Federal Law als Motor des Whistleblower-Schutzes ab Mitte der 1960er Jahre.................................................................................................57 I. Die Entstehung der Adjunct Statutes und Anti-Retaliation Provisions .....57 II. Die Bedeutung administrativer Beschwerdestellen und Vorgaben am Beispiel des Department of Labor......................................................69 C. Die Ausbreitung des Whistleblower-Schutzes durch State Common Law und Public Policy Exceptions ...............................................................74 I. Entstehung und Etablierung von Common-Law-Ausnahmen zur „employment-at-will“-Doktrin..................................................................74 II. Die Kodifizierung des Common-Law-Whistleblower-Schutzes durch einzelstaatliche Core Whistleblower Statutes ................................90 D. Exkurs: Whistleblowing im öffentlichen Sektor ............................................92 E. Überblick über den Status quo des arbeitsrechtlichen WhistleblowerSchutzes in den USA ...................................................................................100 I. Anwendungsbereich und Person des Whistleblowers ............................. 101 II. Meldegegenstand ...................................................................................103 III. Subjektive Merkmale des Whistleblowers ...........................................104 IV. Adressat und Eskalationsroutine .......................................................... 107 V. Beweislastverteilung und Rechtsfolgen .................................................112 F. Die Bedeutung der einzelnen Schutzquellen des US-Rechts in der Praxis: Konkurrenzen, Rechtswahlprobleme und Unübersichtlichkeit ......117 G. Die Renaissance des False Claims Act und die Entstehung des finanziell inzentivierten Whistleblowings ...................................................121 I. Der False Claims Amendments Act von 1986 und seine Folgen ............121 1. Hintergrund und Entstehungsgeschichte des FCA von 1986 ............121 2. Zentrale Bestimmungen der Amendments von 1986 ........................ 126 3. Rechtstatsächliche Konsequenzen und Rezeption ............................ 135 II. Die Ausbreitung finanziell inzentivierten Whistleblowings im Windschatten des False Claims Act ....................................................... 143
Inhaltsverzeichnis
XI
1. State False Claims Acts .................................................................... 143 2. Das IRS Whistleblower Program ..................................................... 144 a) Ursprung und Ausgestaltung des IRS Whistleblower Program ................................................................................... 144 b) Die Auswirkungen des IRS Whistleblower Program .............. 149 H. Die Entwicklung des internen Whistleblowings als CorporateGovernance- und Compliance-Element in den USA .................................. 156 I. Vom One-Tier- zum Three-Tier-System – Föderalismus und Corporate Governance in den USA ........................................................ 156 1. Das Gesellschaftsrecht Delawares als Ausgangspunkt USamerikanischer Unternehmensverfassungen .................................... 156 2. Das Erstarken des Federal Government als zentralem Corporate Governance Akteur .......................................................................... 161 II. Pflichten und Anreize zur Einrichtung interner WhistleblowingSysteme in den USA ............................................................................. 165 1. Gesellschaftsrechtliche Compliance-Pflichten in der Rechtsprechung Delawares .............................................................. 165 2. Compliance- und Whistleblowing-Systeme nach Maßgabe der Federal Sentencing Guidelines ......................................................... 172 I. Die Jahrtausendwende als Zeitenwende für das Whistleblowing-Recht? – Der Sarbanes-Oxley Act und seine Folgen .............................................. 188 I. Sherron Watkins, Cynthia Cooper und die Hintergründe des Sarbanes-Oxley Act ............................................................................... 188 II. Anwendungsbereich und Corporate-Governance-bezogenes Regelungsspektrum des Sarbanes-Oxley Acts ...................................... 203 III. Die Whistleblowing-Bestimmungen des Sarbanes-Oxley Act ............ 212 1. § 806 SOX: Arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz .................. 212 a) Anwendungsbereich und Person des Whistleblowers ................ 212 b) Meldegegenstand ........................................................................ 214 c) Subjektive Merkmale des Whistleblowers ................................. 217 d) Adressat ...................................................................................... 222 e) Meldeform und Eskalationsroutine ............................................ 223 f) Beweislastverteilung und Rechtsfolgen ...................................... 225 g) Rechtsdurchsetzung über administrative Beschwerdestellen ..... 231 2. § 301 SOX: Gesellschaftsrechtliche Pflicht zur Einrichtung eines Whistleblowing-Kanals .................................................................... 234 a) Anwendungsbereich und erfasster Personenkreis....................... 236 b) Adressat und Meldegegenstand .................................................. 237 c) Organisatorische Umsetzung und Anforderungen ...................... 238
XII
Inhaltsverzeichnis
3. § 1107 SOX: Strafrechtliches Verbot der Diskriminierung von Whistleblowern .................................................................................243 4. § 307 SOX: Berufsrechtliche Whistleblowing-Pflicht für Rechtsanwälte ...................................................................................245 a) Einführung...................................................................................245 b) Anwendungsbereich und Person des Whistleblowers .................247 c) Meldegegenstand .........................................................................250 d) Subjektive Merkmale des Whistleblowers und Auslöser der Meldepflicht ................................................................................252 e) Adressat und Eskalationsroutine .................................................253 f) Sanktionierung ............................................................................256 g) Externes Whistleblowing und „Noisy Withdrawal“ ....................257 5. § 406 SOX: Ethikkodizes und Whistleblowing-Systeme..................258 IV. Die Auswirkungen des Sarbanes-Oxley Act ........................................262 1. Allgemeine Rezeption in Literatur und Praxis ..................................262 2. Auswirkungen von § 301 SOX ......................................................... 263 3. Auswirkungen von § 806 SOX ......................................................... 267 4. Auswirkungen von § 1107 SOX ....................................................... 275 5. Auswirkungen von § 307 SOX ......................................................... 277 6. Auswirkungen von § 406 SOX ......................................................... 280 7. Konsequenzen für die weitere legislative Entwicklung ....................285 J. Der Dodd-Frank Act als Kulminationspunkt der bisherigen US-Whistleblowing-Geschichte ...................................................................287 I. Einführung .............................................................................................. 287 II. Die Dodd-Frank-Whistleblower-Programme ........................................288 1. Harry Markopolos, Bernie Madoff und die Hintergründe der Dodd-Frank-Whistleblower-Programme ..........................................288 2. Das SEC Whistleblower Program ..................................................... 298 a) Anwendungsbereich und Person des Whistleblowers .................298 b) Meldegegenstand und Art der Information .................................305 c) Subjektive Merkmale ..................................................................308 d) Adressat, administrative Einkleidung und Vertraulichkeitspolitik .......................................................................................... 311 e) Meldeform und Eskalationsroutine .............................................318 f) Erfolgreicher Verfahrensabschluss ..............................................330 g) Belohnungshöhe und -faktoren....................................................333 h) Belohnungsauszahlung und Anspruchsdurchsetzung ..................333 III. Der arbeitsrechtliche Diskriminierungsschutz des Dodd-Frank Act ....337 1. Graduelle Fehlerkorrekturen an § 806 SOX .....................................337 2. Eigenständiger Diskriminierungsschutz gem. § 78u-6(h)(1) ............339
Inhaltsverzeichnis
XIII
IV. Auswirkungen des Dodd-Frank Act .................................................... 344 1. Auswirkungen des SEC Whistleblower Program............................. 345 2. Auswirkungen des arbeitsrechtlichen Diskriminierungsschutzes .... 354 K. Zusammenfassende Analyse ...................................................................... 358 I. Entwicklungsgeschichtliche Betrachtung und Einordnung .................... 358 II. Funktionale Betrachtung und Bewertung ............................................. 361
Kapitel 3: Die transatlantische Bedeutung des USamerikanischen Whistleblowing-Rechts für Deutschland .......................................................................... 366 A. Unmittelbare Bedeutung – Das US-Whistleblowing-Recht als unfreiwilliges „legal transplant“ .............................................................. 366 I. Umsetzung und gesellschaftsrechtlicher Einfluss von § 301 SOX ........ 366 II. Vermiedene und vermeintliche Einflüsse auf den Gebieten des Arbeits- und Berufsrechts ..................................................................... 373 III. Anonymes Whistleblowing als datenschutzrechtlicher Stein des Anstoßes .............................................................................................. 385 B. Mittelbare Bedeutung – Die Erfahrungen des US-WhistleblowingRechts als Spiegel der deutschen Rechtsentwicklung ................................ 397 I. Whistleblowing-Rechte im deutschen Arbeitsrecht ............................... 397 1. Entwicklung, Status quo und Diskussionsstand ............................... 397 2. Rechtsvergleichende Gegenüberstellung und rechtspolitischer Ausblick ........................................................................................... 414 II. Whistleblowing im deutschen Aktiengesellschaftsrecht ....................... 424 1. Die Einrichtung eines Whistleblowing-Systems als CompliancePflicht des Vorstands ....................................................................... 424 2. Der Aufsichtsrat als Adressat unternehmensinternen Whistleblowings ........................................................................................... 442 3. Rechtsvergleichende Gegenüberstellung und rechtspolitischer Ausblick ........................................................................................... 455 III. Administrative Whistleblowing-Stellen und -Programme in Deutschland ......................................................................................... 459 1. Anfänge und Status quo des institutionalisierten BehördenWhistleblowings in Deutschland ...................................................... 459 2. Rechtsvergleichende Gegenüberstellung und rechtspolitischer Ausblick ........................................................................................... 473
XIV
Inhaltsverzeichnis
Résumé .........................................................................................................479 A. Abschließende Bemerkungen ......................................................................479 B. Zusammenfassung ausgewählter Ergebnisse und Thesen ..........................480
Appendizes ..................................................................................................485 Appendix A1 – False Claims Act (FCA) von 1863......................................485 Appendix A2 – National Labor Relations Act (NLRA) von 1935 ...............491 Appendix B1 – TCR-Meldeformblatt der SEC ............................................501 Appendix B2 – BKMS-Meldeformblatt der BaFin ......................................519 Appendix B3 – SEC Whistleblower Award Order .......................................521 Appendix C – Verzeichnis der oberen und obersten Gerichte der USA ......527 Appendix D – Ausgewählte Elemente eines deutschen Whistleblowing-Rechts de lege ferenda................................533 Literaturverzeichnis ........................................................................................535 Sachregister .....................................................................................................587
Abkürzungsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis Das folgende Verzeichnis enthält eine Auswahl der im Rahmen dieser Arbeit besonders häufig verwendeten Abkürzungen. Eine nach Rechtswegen und Instanzen geordnete Liste relevanter US-amerikanischer Gerichte einschließlich ihrer Gerichtskürzel findet sich in Appendix C ab Seite 528. Die Abkürzungen sämtlicher verwendeter Literaturquellen, insbesondere Zeitschriftennamen, sind im Literaturverzeichnis ab Seite 537 jeweils im Zusammenhang mit der konkret zitierten Quelle vollständig aufgeführt.
§ a.A. a.E. ABA AG AGG AktG ALI ALJ Am. J. Comp. L. ARB Art. Art. 29 WP Aufl. BaFin BAG BAGE BB Bd. BDSG Begr. Berkeley J. Emp. & Lab. L. BGB BGH BGHZ BKartA BKMS Bus. Ethics
Paragraph (dt. Quellen); section (engl. Quellen) andere Ansicht am Ende American Bar Association Die Aktiengesellschaft Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz Aktiengesetz American Law Institute Administrative Law Judge American Journal of Comparative Law Administrative Review Board Artikel Article 29 Working Party (EU) Auflage Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht Bundesarbeitsgericht Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts Betriebs-Berater Band Bundesdatenschutzgesetz Begründer Berkeley Journal of Employment & Labor Law Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen Bundeskartellamt Business Keeper Monitoring System Journal of Business Ethics
XVI
Abkürzungsverzeichnis
Bus. Law. BVerfG BVerfGE Cal. Cal. Ct. App. CCZ CEO CFO CFR ch. Cir. CNIL Colum. L. Rev. Cong. Rec. Cornell L. Rev. CSRA d.h. Del. Del. Ch. Del. J. Corp. L. DGCL DSGVO ebd. EGMR Empl. Rts. & Employ. Pol'y J. EMRK ERA et al. et seq. f. F. Supp.
Business Lawyer Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts California Supreme Court California Court of Appeal Corporate Compliance Zeitung Chief Executive Officer Chief Financial Officer Code of Federal Regulations Chapter (engl. Quellen) Circuit (Bundesgerichtsbezirk) Commission Nationale de l’Informatique et des Libertés Columbia Law Review Congressional Record Cornell Law Review Civil Service Reform Act das heißt Delaware Supreme Court Delaware Chancery Court Delaware Journal of Corporate Law Delaware General Corporation Law Datenschutz-Grundverordnung (EU) ebenda Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Employee Rights and Employment Policy Journal Europäische Menschenrechtskonvention Energy Reorganization Act et alii (und andere) und die folgenden Seiten (engl. Quellen) und die folgende Seite (dt. Quellen) Federal Supplement (Entscheidungssammlung Federal District Courts) Fußnote False Claims Act Foreign Corrupt Practices Act und die folgenden Seiten (dt. Quellen) Finanzdienstleistungsaufsichtsgesetz Fordham Journal of Corporate and Financial Law Festschrift Federal Sentencing Guidelines for Organizations Government Accountability Office Grundgesetz gegebenenfalls gegenüber grundsätzlich herrschende Literatur
Fn. FCA FCPA ff. FinDAG Fordham J. Corp. & Fin. L. FS FSGO GAO GG ggf. ggü. grds. h.Lit.
Abkürzungsverzeichnis h.M. H.R. Rep. Harv. L. Rev. Hrsg. Hs. i.d.F. i.d.R. i.E. i.e.S. i.R.v. i.S.d. i.S.v. i.w.S. Ill. insbes. Int'l Law. IRS J. Corp. L. J. Int'l Bus. & L. Kap. krit. LKA m.w.N. MAR Mercer L. Rev. MSPD n.F. N.Y. N.Y.U. L. Rev. Nachw. NLRA NLRB No. Nr. NZA NZG OIG OSC OSHA OWB p. Pa. Rn. Rep. RIW Rspr.
herrschende Meinung U.S. House of Representatives Report Harvard Law Review Herausgeber Halbsatz in der Fassung in der Regel im Einzelnen im engeren Sinne im Rahmen von im Sinne der/des im Sinne von im weiteren Sinne Illinois Supreme Court insbesondere International Lawyer Internal Revenue Service Journal of Corporation Law Journal of International Business and Law Kapitel kritisch Landeskriminalamt mit weiteren Nachweisen Marktmissbrauchsverordnung (EU) Mercer Law Review Merit Systems Protection Board neue Fassung New York Court of Appeals New York University Law Review Nachweise National Labor Relations Act National Labor Relations Board Number (engl. Quellen) Nummer Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht Neue Zeitschrift für Gesellschaftsrecht Office of Inspector General Office of the Special Counsel (der OSHA) Occupational Safety and Health Administration Office of the Whistleblower (der SEC) page (engl. Quellen) Pennsylvania Supreme Court Randnummer Representative Recht der Internationalen Wirtschaft Rechtsprechung
XVII
XVIII
Abkürzungsverzeichnis
S. s. S. Rep. S.D. Tex.
Seite (dt. Quellen) siehe U.S. Senate Report United States District Court for the Southern District of Texas Securities Exchange Commission section (ältere engl. Quellen) Senator Session sogenannt Sarbanes-Oxley Act Stanford Law Review Statutes at Large Strafgesetzbuch Tip, Complaint, or Referral (Formblatt) Texas Law Review unter anderem United States Supreme Court; United States Reports (Entscheidungssammlung) United States Code United States Federal Sentencing Guidelines vor allem vergleiche Whistleblower Protection Act Yale Law Journal zum Beispiel Zeitschrift für das gesamte Handels- und Wirtschaftsrecht Zeitschrift für Wirtschaftsrecht
SEC sec. Sen. Sess. sog. SOX Stan. L. Rev. Stat. StGB TCR Tex. L. Rev. u.a. U.S. U.S.C. USSG v.a. vgl. WPA Yale L. J. z.B. ZHR ZIP
Einleitung, Gang der Untersuchung und Methodik der Forschung Einleitung, Gang der Untersuchung und Methodik der Forschung
In der jüngeren Vergangenheit gibt es wohl kaum einen englischsprachigen Diskussionstopos, der in Rechtswissenschaft, Wirtschaftspraxis und Öffentlichkeit eine derart rasante Sprachkarriere hinter sich gebracht hat, wie der Begriff des „Whistleblowing“. Während in der deutschen Presselandschaft seit einigen Jahren aus nahezu jedem Informanten ein „Whistleblower“ geworden zu sein scheint, hat das Phänomen der freiwilligen Aufdeckung illegaler, gefährlicher oder unethischer Verhaltensweisen auch in der rechtlichen Diskussion eine bis vor kurzem ungekannte Aufmerksamkeit und Detailtiefe erfahren. Je nach Rechtsgebiet und Perspektive treten Whistleblower etwa in der Rolle des gekündigten Arbeitnehmers, in der Funktion eines Informationslieferanten unternehmensinterner Whistleblowing-Systeme oder als aufsichtsrechtlicher Baustein aktueller Gesetzesnovellen und Behördeninitiativen in Erscheinung. Mit kaum zu übersehender Regelmäßigkeit tauchen hierbei immer wieder Ursprungs- und Querbezüge zu den USA als „Mutterland“ und Schrittmacher des modernen Whistleblowing-Rechts auf. Aus welchen Gründen, unter welchen Umständen und mit welchen Folgen das Recht der Whistleblower sich in der US-amerikanischen Rechtsordnung ausgebreitet und in Teilen schließlich seinen Weg über den Atlantik bis nach Deutschland gefunden hat, wurde demgegenüber bisher oft nur ansatz- oder ausschnittsweise einer näheren Betrachtung unterzogen. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es daher, die Hintergründe der über 150jährigen Geschichte des Whistleblowing-Rechts der USA mitsamt seinen aktuellen Entwicklungs- und Funktionstendenzen auf den Gebieten des Arbeits-, Gesellschafts- und Verwaltungsrechts1 zu analysieren und hierbei seinen aktuellen und potentiellen Einfluss auf die noch junge deutsche Whistleblowing-Diskussion auszuleuchten. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, bedient sie sich eines methodischen Dreiklangs aus rechtshistorischgenetischer Ursachenforschung, rechtsvergleichend-funktionaler Dogmendar1
Weitere Whistleblowing-relevante Rechtsnormen, namentlich auf den Gebieten des Straf-, Beamten- und Presserechts sowie hiermit einhergehendes Whistleblowing bspw. an Vertreter der Medien und innerhalb der Verwaltung werden aus thematischen Gründen hingegen nur insoweit diskutiert, wie dies für eine angemessene Darstellung des Gesamtzusammenhangs notwendig erschien.
2
Einleitung, Gang der Untersuchung und Methodik der Forschung
stellung und rechtstatsächlich-empirischer Wirkungsanalyse. 2 Da durch diesen Ansatz auf dem Gebiet des Whistleblowing-Rechts in mancherlei Hinsicht diesseits und jenseits des Atlantiks wissenschaftliches Neuland betreten wird, greift die vorliegende Arbeit auf einen vergleichsweise umfangreichen Fußnotenapparat zurück, um dem Leser einen möglichst unmittelbaren Zugriff auf einschlägige Primärquellen, rechtsgebietsübergreifende Querverweise und rechtssystematische Hintergründe zu ermöglichen. 3 Angesichts der noch immer tiefgreifenden Verwurzelung der US-amerikanischen Rechtsordnung im präzedenzgeformten „Common Law“ und den hiermit einhergehenden Folgen für die Dogmatik und Praxis des Whistleblowing-Rechts wird dabei besonderer Wert auf eine entsprechende Analyse der einschlägigen Rechtsprechung gelegt, wobei die reichhaltige Kasuistik des Whistleblowings in den USA zugleich als eine wesentliche Quelle seiner rechtstatsächlichen Evaluierung dient.4 Auch wenn der Fokus der hiesigen Darstellung auf einer 2 Vgl. zur Notwendigkeit der „Makrovergleichung“ Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, § 1 II und III 3; zur sachgegenstandsabhängigen Methodenauswahl Kischel, Rechtsvergleichung, § 3 Rn. 147 ff.; zu den Methoden der Rechtstatsachenforschung im Allgemeinen und der Bedeutung quantitativer Urteilsanalysen im Besonderen etwa Spindler/Gerdemann, AG 2016, 698 m.w.N. Für ihre Unterstützung bei der praktischen Einordnung aktueller Whistleblowing-Gesetze sei bereits an dieser Stelle den beiden Whistleblowing-Anwältinnen Erika Kelton und Claire Sylvia, beide Phillips & Cohen LLP, ganz besonders gedankt. Gleiches gilt für den bis Juli 2016 amtierenden Leiter des „SEC Whistleblower Office“, Sean McKessy, sowie dem früheren „public interest attorney“ und heutigen US-Botschafter zu Rom, John Phillips. 3 Eine Legende der in den USA verwendeten Gerichts- bzw. Entscheidungsabkürzungen findet sich in Appendix C dieser Arbeit. Um die Auffindbarkeit der verwendeten Sekundärliteratur zu erleichtern, wurde die US-amerikanische Zitierweise zudem weitgehend beibehalten und eine englischsprachige Quellenherkunft u.a. bei der jeweiligen Seitenangabe durch „p.“ (anstelle von „S.“) indiziert. Soweit nicht anders angegeben, ist das letzte Abrufdatum sämtlicher Internetbelege innerhalb dieser Arbeit der 31.12.2017. 4 Auf eine eingehendere Darstellung der Grundlagen und heutigen Erscheinungsformen des US-amerikanischen Rechts als Mischform aus klassisch-richterrechtlichem „Common Law“ und einem zunehmend kodifikatorisch geprägten Gesetzeskorpus wird im Rahmen dieser Arbeit verzichtet. S. hierzu insbes. Abernathy, Law in the U.S., mit der aktuell vielleicht besten Einführung aus kontinentaleuropäischer Civil-Law-Perspektive; zur sukzessiven Annäherung beider Rechtsfamilien auch v. Hein, U.S. Gesellschaftsrecht, S. 803 ff. m.w.N. Erwähnt sei an dieser Stelle allerdings die insofern nicht selten unterschätzte Bedeutung der Unterscheidung zwischen Präzedenzfällen als hierarchischer Instanzenordnung, sog. „(binding) precedents“, dem traditionellen Harmonisierungseffekt durch nicht bindende „persuasive precedents“ anderer Gerichte sowie der darüber hinausgehenden „stare decisis“-Doktrin als (dogmatisch verankerter) Selbstbindung der (Ober)Gerichte. Vor allem letztere führt auch und gerade bei der Auslegung geschriebenen Gesetzesrechts dazu, dass der ursprüngliche Normtext nicht selten in den Hintergrund rückt, indem er durch einschlägige Entscheidungen der Rechtsprechung überformt wird. Vgl. nur Patterson v. McLean Credit Union, 491 U.S. 164, 171 et seq. (1989) („Considerations of stare decisis have special force in the area of statutory interpretation, for here,
Einleitung, Gang der Untersuchung und Methodik der Forschung
3
wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Geschichte, dem Recht und der Rechtswirklichkeit des Whistleblowings innerhalb beider Länden liegt, erhofft sie sich zugleich, gemäß dem klassischen Ideal der Rechtsvergleichung einen rechtspolitischen „Vorrat an Lösungen“ bereitzustellen und auf diese Weise die anhaltenden Diskussionen um eine angemessene Regulierung des Whistleblowings zu ergänzen. Um es mit den berühmten Worten des U.S. Supreme Court Richters Louis Brandeis zu sagen: „[A] single courageous state may, if its citizens choose, serve as a laboratory; and try novel social and economic experiments without risk to the rest of the country.”5 In einer globalisierten Welt mögen die USA und ihre nunmehr 150-jährige Erfolgsund Misserfolgsgeschichte auf dem Gebiet des Whistleblowing-Rechts Deutschland und Europa als eben solches Labor dienen können.
unlike in the context of constitutional interpretation, the legislative power is implicated, and Congress remains free to alter what we have done.“); vgl. zu dieser Dimension der „stare decisis“-Doktrin auch Nelson, 87 Va. L. Rev. 1 (2001) m.w.N; zu deren englischen Ursprüngen konzise Maultsch, in: Rückert/Seinecke, Methodik des Zivilrechts, 470, 476 ff.; zum Beharrungsvermögen der Common-Law-Rechtsprechung beispielhaft Li v. Yellow Cab Co., 13 Cal 3d 804, 813 et seq. (Cal. 1975); sowie als einer der Befürworter der einflussreichen Rechtsschule einer offenen Gesetzesinterpretation unter Berücksichtigung veränderter sozialer Rahmenbedingungen (sog. „dynamic interpretation“) Eskridge, 135 U. Pa. L. Rev. 1479 (1987). Da eine isolierte Darstellung der jeweiligen Gesetzesnormen den Besonderheiten des US-Rechts nach alledem nicht hinreichend Rechnung tragen kann, wurde den jeweiligen Rechtsprechungslinien auch im Bereich des geschriebenen Whistleblowing-Rechts besondere Beachtung geschenkt und ihnen selbst bei der Darstellung des dogmatischen Status quo im Zweifelsfall entsprechender Vorzug gegeben. 5 New State Ice Co. v. Liebmann, 285 U.S. 262, 311 (1932) (Dissent Justice Brandeis). Maßgeblich für die Fortentwicklung der Idee vom Föderalismus als wissenschaftsdienlichem „Labor der Demokratie“ Rose-Ackerman, 9 J. Legal Stud. 593 (1980); Überblick über die Diskussion m.w.N. etwa bei Galle/Leahy, 58 Emory L. J. 1333 (2009); zur hiermit zusammenhängenden These vom Wettbewerb der Gesellschaftsrechtsordnungen unten, Rn. 91.
Kapitel 1:
Grundlagen des Whistleblowings Kapitel 1: Grundlagen des Whistleblowings
A. Etymologie, Terminologie und Typologie des Whistleblowings A. Etymologie, Terminologie und Typologie
Der Begriff des „Whistleblowing“ leitet sich vom englischen Verb „to blow the whistle on somebody/something“ ab,6 dessen wörtlich-pejorative Übersetzung als „jemanden verpfeifen“ den Ursprung und Sinngehalt des Wortes nur unzureichend zu erfassen vermag. Auch wenn die etymologische Herkunft des Begriffs nicht mit letzter Sicherheit geklärt werden kann,7 verweist die in den USA heutzutage gängigste Ursprungsbestimmung auf die im britischen Polizeiwesen des 19. Jahrhunderts verbreiteten Trillerpfeifen („bobby whistles“), mit deren lautem Signalton Polizeibeamte einst die Unterstützung tatortnaher Kollegen anforderten.8 Nachdem sich die Bezeichnung „whistle 6 Das Verb „to whistle“ ist bereits wesentlich länger ein Bestandteil der englischen Sprache als seine graduelle Substantivierung von „whistle blowing“ über „whistleblowing“ zum heute meist gebräuchlichen „Whistleblowing“. Vgl. um das Jahr 1610 William Shakespeare, The Winter’s Tale, 4. Akt, 4. Szene: „Show those things you found about her, those secret things, all but what she has with her: this being done, let the law go whistle: I warrant you.“; „Is there not milking-time, when you are going to bed, or kiln-hole, to whistle off these secrets, but you must be tittle-tattling before all our guests?“ Entsprechender Hinweis bereits bei Düsel, Gespaltene Loyalität, S. 26. 7 Insoweit ebenso Micheli/Near, Blowing the Whistle, p. 15, die wie einige andere zur Erklärung stattdessen auf die Pfeife eines Schiedsrichters verweisen; in der deutschen Literatur die gleiche Parallele ziehend etwa Gach/Rützel, BB 1997, 1959; Müller, NZA 2002, 424, 426. Hierfür spricht jedenfalls, dass auch Schiedsrichter ebenfalls früh schon mit der alternativen Berufsbezeichnung „whistle-blower“ tituliert wurden. Vgl. John Kieran, The New York Times v. 25.01.1936, Sports of the Times („There are two whistleblowers for each basketball game“). Jedenfalls die moderne Bedeutung des Begriffs als neutrale bis positive Beschreibung einer selbstständig meldenden Person ohne rechtliche Sonderbefugnisse dürfte vor allem das Ergebnis bewusster Sprachbildung ab den 1970er Jahren sein. 8 So bereits Peters/Branch, Blowing the Whistle (1972), p. 17–18; diese Erklärung des Begriffsursprungs übernehmend statt vieler Winters v. Houston Chronicle Pub. Co., 795 S.W.2d 723, 727 (Tex 1990); Dahl v. Combined Ins. Co., 621 N.W.2d 163, 167 n.4 (S.D. 2001) (Concurring Opinion von Justice Doggett); Strader, 62 U. Cin. L. Rev. 713 (1993); Cavico, 45 S. Tex. L. Rev. 543, 548 (2004); Hartmann, 62 Mercer L. Rev. 1279, 80 (2010); Fitzmaurice, 80 Fordham L. Rev. 2041, 2046 (2012). Hintergrund dieser Praxis war das durch den damaligen Innenminister Sir Robert Peel eingeführte Patrouillensystem,
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blower“ in den USA offenbar zu einem gebräuchlichen Synonym für den Berufsstand des Polizisten entwickelt hatte,9 griffen Journalisten und Bürgerrechtler ab Ende der 1960er Jahre vermehrt auf den Begriff zurück, um regierungskritische Quellen innerhalb der öffentlichen Verwaltung auch sprachlich zu ihrer politisch gewünschten Legitimität zu verhelfen.10 Die hiermit einhergehende Popularisierung des Wortes führte einige Jahre später dazu, dass sich der Begriff als eigenständiger Terminus Technicus in der juristischen Fachsprache etablieren konnte – allerdings ohne dass der US-Gesetzgeber sich bis dato an einer Legaldefinition des Whistleblower-Begriffs versucht hätte. 11 welches die Zuständigkeitsbereiche der nach ihm benannten „bobbys“ in einzelne Wachdistrikte („beats“) unterteilte, so dass Polizeibeamte u.a. bei der Verfolgung von Verdächtigen auf entsprechende Kommunikations- und Koordinierungsmaßnahmen angewiesen waren. In Anlehnung hieran werden daher heutige (Groß-)Unternehmen bisweilen als Wachbezirke des modernen Whistleblowers bezeichnet. Vgl. Winters v. Houston Chronicle Pub. Co., 795 S.W.2d 723, 727 (Tex 1990). 9 Vgl. The Janesville Gazette, June 1883, zit. nach : „Quiet was restored upon the arrival of the regular police force, and ere the town clock had struck the midnight hour all had returned to their homes. But the crowd of people were all willing to bet that McGinley was the champion whistle blower in America.“ Spätestens ab Anfang der 1960er Jahre finden sich v.a. im Zusammenhang der Bekämpfung organisierter (Mafia-)Kriminalität Nachweise für eine Begriffsausdehnung auf private Informanten; s. auch Johnson, Whistleblowing, p. 4; Deiseroth, Berufsethische Verantwortung, Kap. 8, S. 233 f.; vgl. bspw. John Hamilton, Blowing the Whistle on ‘The Bosses’, The New York Times v. 23.03.1970, p. 40. Zu dieser Zeit war das Ertönen der Trillerpfeife schon lange zum Sinnbild polizeilichen Vollzugs geworden. Vgl. nur Johnny Cash, Folsom Prison Blues (1965): „When I hear that whistle blowin‘ I hang my head and cry.“ 10 Besonders der bekannte Verbraucheranwalt und Menschenrechtsaktivist Ralph Nader machte sich seinerzeit für eine entsprechende Begriffsverwendung stark. Vgl. Nader/ Petkas/Blackwell, Whistle Blowing Conference (1972); Vandekerckhove, Whistleblowing, p. 8, n. 1; Ralph Nader, Editorial, A Code for Professional Integrity, The New York Times v. 15.01.1971, p. 43; Zakashi Oka, Nader’s Consumer Message Draws Crowds in Japan, The New York Times v. 17.01.1971, p. 3; Victor Navask, Blowing The Whistle – A combination of Ralph Nader and Judas Iscariot, The New York Times v. 30.04.1972, p. 4; ferner Peters/Branch, Blowing the Whistle (1972), p. 3 et seq.; Glazer/Glazer, The Whistle-Blowers, p. 3 et seq.; Bishara/Callahan/Dworkin, 10 N.Y.U. J. L. & Bus. 37, 64– 64 (2013). Der Begriff des Whistleblowers hat außerhalb der Wissenschaft seitdem eine tendenziell positive Konnotation erhalten und wird oft für Personen verwendet, deren ethische Gesinnung und Gemeinwohldienlichkeit nicht in Frage steht. Auch deshalb war bspw. die US-Regierung im Fall Edward Snowden sehr darum bemüht, ihn bewusst nicht als Whistleblower zu bezeichnen. Vgl. nur U.S. House of Representatives, Executive Summary of Review of the Unauthorized Disclosures of Former National Security Agency Contractor Edward Snowden, abrufbar unter , p. 2–3. 11 Als Rechtsbegriff i.e.S. setzte Whistleblowing sich seit Ende der 1980er Jahre langsam durch, vgl. den Whistleblower Protection Act of 1989 (WPA), 103 Stat. 16, aktuell in
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Entsprechend vielfältig und perspektivabhängig sind bis heute seine Definitionsansätze und rechtsgebietsgebundenen Tatbestandmerkmale. Während staatliche wie private Informationsadressaten Whistleblower oft über den Nutzen ihrer (Insider-)Informationen bei der Aufdeckung von Straftaten, Gefahrenlagen und anderen Rechtsverstößen definieren, 12 wird der Begriff im (rechts-)politischen Diskurs oft als positiv konnotiertes Plazet für einen altruistisch handelnden, „ethischen Dissidenten“ verwendet.13 Die arbeitsrechtliche Literatur und sozialwissenschaftliche Forschung bedienen sich wiederum eines organisationshierarchischen Begriffsverständnisses und verstehen Whistleblower überwiegend als weisungsgebundene Mitglieder einer Organisation, welche aus ihrer Sicht illegale oder illegitime Praktiken im Verantwortungsbereich ihres Arbeitgebers außerhalb des üblichen Dienstweges an eine abhilfefähige Stelle melden. 14 Nachdem sich Whistleblowing seit Beginn
5 U.S.C. 1201 et seq.; hierzu Rn. 53. Zuvor waren in Gesetzen und Gerichtsurteilen andere Begriffe, wie etwa der des „Informer“, gebräuchlich. Vgl. U.S. ex rel. Marcus v. Hess, 317 U.S. 537 (1943); Marvin v. Trout, 199 U.S. 212 (1905). Letzterer wird jedenfalls in der wissenschaftlichen Literatur nicht mehr verwendet, um die sprachliche Implikation zu vermeiden, der Whistleblower handelte auf Anweisung des Meldeadressaten oder sei möglicherweise selbst an zentraler Stelle Teil kollektiver Rechtsverstöße. Anders bspw. die deutsche Übersetzung der europäischen Marktmissbrauchsverordnung (MAR), ABl. L 173/1, (Fn. 2108), Erwägungsgrund Nr. 74 (mit deutscher Übersetzung von Whistleblowern als „Informanten“). 12 So etwa i.R.d. SEC Whistleblower Program SEC, Implementation of the Whistleblower Provisions of Section 21F of the Securities Exchange Act of 1934, 17 CFR Parts 240 and 249, 68 Fed. Reg. 34,300, in Kraft getreten am 12.8.2011, abrufbar mit Begründung unter , unter II.B., p. 8 et seq., II.O., p. 195–96. Einen ähnlichen Ansatz verfolgen die meisten staatliche WhistleblowerProgramme. 13 Exemplarisch Glazer/Glazer, The Whistleblowers, p. 3 et seq. („ethical resisters“); Kohn, Whistleblower Handbook, p. 17 et seq.; Grant, 39 J. Bus. Ethics 391, 393 (2002); Vega, 45 Conn. L. Rev. 483, 509 et seq. mit Unterscheidung zwischen opportunistischen und „echten“ Whistleblowern; in der deutschen Literatur ähnlich insbes. Deiseroth, Berufsethische Verantwortung, Kap. 8, S. 233 ff.; ders., Betrifft Justiz 78 (2004), 296, 297. 14 Statt vieler Bishara/Callahan/Dworkin, 10 N.Y.U. J. L. & Bus. 37, 43 (2013); Cavico, 45 S. Tex. L. Rev. 543, 548 (2004); jeweils aufbauend auf dem einflussreichen Beitrag von Near/Miceli, 4 J. Bus. Ethics 1, 2 et seq., 4 (1985): „We, therefore, define whistleblowing to be the disclosure by organization members (former or current) of illegal, immoral or illegitimate practices under the control of their employers to persons or organizations that may be able to effect action.“ Während die vorstehende Definition trotz abstrakt geringerer Diskriminierungsgefahr mittlerweile oft auch auf Arbeitsplatzbewerber und direkte Vorgesetztenmeldungen ausgedehnt wird, sind gänzlich organisationsexterne Whistleblower nach h.Lit. aus eben jenem Grund aus dem Definitionsbereich auszunehmen. S. nur Miceli/Dreyfus/Near, in: Brown/Lewis/Moberly/Vandekerckhove, Whistleblower Research, ch.3 (mit dem Vorschlag einer Alternativbezeichnung als „bell-ringer“). Jüngere Arbeitsrechtsnormen und unternehmensinterne Compliance-Programme nehmen demge-
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des 21. Jahrhunderts auch in Deutschland als eigenständiger Rechtsbegriff etablieren konnte,15 wurde letztere Definition von weiten Teilen der deutschen Rechtswissenschaft nahezu einheitlich übernommen.16 Idealiter mag man Whistleblower nach alledem als Personen umschreiben, die qua ihrer Position als Organisationsinsider unmittelbar Informationen aus erster Hand über rechtswidrige, gefährliche oder unethische Verhaltensweisen erhalten, die sie sodann vor allem aus Gewissensgründen an einen geeigneten Durchsetzungsadressaten weiterleiten und hierdurch entscheidend zur Aufdeckung und Ahndung der entsprechenden Missstände beitragen.17 Realiter zeichnet freilich nicht zuletzt die Regulierungs- und Einzelfallgeschichte des Whistleblowings in den USA ein deutlich komplexeres Bild, dem abstrakte Definitions- und Subsumptionsansätze oft nur schwerlich gerecht werden können. So sind etwa die beiden international bekannten Whistleblowerinnen Sherron Watkins und Cynthia Cooper weniger für eine einmalige, erfolgreiche Meldung an eine höhere Adressatenstelle bekannt, sondern vor allem für ihre eigenen Investigativleistungen bei der Aufklärung von Bilanzmanipulationen innerhalb der gescheiterten Großunternehmen Enron und WorldCom.18 Der UBS-Whistleblower Bradley Birkenfeld wiederum war keinesfalls allein von altruistischen Motiven getrieben, als er im Jahr 2006 eine Neuausrichgenüber oft auch Vertragspartner und andere unternehmensexterne Personen in ihren Anwendungsbereich auf. S. Rn. 56, 123, 140. 15 Übersetzungsversuche wie „Verpfeifen“, „Alarm schlagen“, „Auffliegen lassen“; „Anzeige erstatten“, „etwas enthüllen“ oder auch das wörtliche „Pfeifenblasen“ haben sich auch aufgrund ihrer wertenden Konnotationen bzw. ihrer fehlenden Prägnanz nicht durchsetzen können. Koch, ZIS 2008, 500 f.; Müller, NZA 2002, 242, 226; Schulz, Ethikrichtlinien, S. 145 f.; Sänger, Whistleblowing in der AG, S. 24 f.; Düsel, Gespaltene Loyalität, S. 26. Allein der relativ neutrale, personale Begriff des „Hinweisgebers“ findet häufigere Verwendung. Vgl. bspw. Breinlinger/Krader, RDV 2006, 60; Renz/Rohde-Liebenau, BB 2014, 692; Schemmel/Ruhmannseder/Witzigmann, Hinweisgebersysteme. In ihm spiegelt sich sprachlich allerdings das in Deutschland noch immer verbreitete Verständnis vom Whistleblowing als einmaliger Meldehandlung wider, so dass seine synonyme Verwendung jedenfalls für das zumeist kooperativ ausgerichtete Whistleblowing-Recht der USA wenig geeignet ist. 16 Statt vieler mit leichten Anwendungsunterschieden im Detail Graser, Whistleblowing, S. 5, Fn. 10; Berndt/Hoppler, BB 2005, 2623, 2624; Hefendehl, FS Amelung 2009, 617, 618 f., Fn. 7; Schulz; Ethikrichtlinien und Whistleblowing, S. 142; Kölbel/ Herold, MschRKrim 93 (2010), 424, 425; Maume/Haffke, ZIP 2016, 199. Neben bis heute arbeitsrechtlich geprägten Ansätzen der Rechtsvergleichung (vgl. erstmals im Jahr 1997 Dei- seroth, Berufsethische Verantwortung, Kap. 8, S. 233 ff.) wird man als Ursache dieser einheitlichen Rezeption nicht zuletzt die US-amerikanische Prägung der deutschen Compliance-Bewegung ausmachen können (vgl. Rn. 100 ff.; 231 ff.). 17 Zum Realtypus des Whistleblowers, der dieser Beschreibung tatsächlich oft zu entsprechen scheint, sogleich Rn. 7 ff. 18 Zu beiden Fällen und ihrem rechtspolitischen Einfluss auf die Corporate-Governanceund Compliance-Bestimmungen des „Sarbanes-Oxley Act of 2002“ unter Rn. 109 ff.
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tung der bilateralen Steuerbeziehungen zwischen den USA und der Schweiz provozierte.19 Andere Whistleblower, wie etwa der Finanzanalyst Harry Markopolos, dessen Rolle beim Zusammenbruch von Bernie Maedoffs Schneeballsystem sich nachhaltig auf die US-amerikanische Finanzmarktaufsicht auswirken sollte, waren zu keiner Zeit interne Mitglieder der von ihnen gemeldeten Organisation.20 Da die rechtstatsächliche Vielgestaltigkeit des Whistleblowings je nach Rechtsgebiet zudem auf eine Reihe unterschiedlicher Tatbestandsmerkmale trifft, verwendet die folgende Darstellung einen bewusst weiten Whistleblower-Begriff, ohne dass hiermit bestimmte rechtsethische oder dogmatische Wertungen einhergehen sollen. Whistleblower im Sinne dieser Arbeit ist daher jede Person, die den vermuteten Rechts- oder Regelverstoß einer anderen Person aus autonomem Interesse an dessen Aufdeckung an einen organisationsinternen oder externen Adressaten meldet. 21 Mit diesen beiden Adressaten ist zugleich die Unterscheidung zwischen externem und internem Whistleblowing als rechtlich wie rechtstatsächlich entscheidende Typendifferenzierung angesprochen.22 Unter externem Whistleblowing wird gemeinhin die Weitergabe von Informationen über mögliche Verstöße innerhalb der Organisation des Whistleblowers an eine dritte Person oder Institution außerhalb dieser Organisation verstanden. Im hier interessierenden Kontext betrifft dies insbesondere Fälle, in denen Arbeitnehmer sich mit Informationen über Rechtsverstöße an Aufsichts- oder (Straf-) Verfolgungsbehörden wenden, wobei derlei Meldungen vor allem in den USA im Rahmen sog. Whistleblower-Programme nicht selten von entsprechenden Verfahrens- und Schutzbestimmungen flankiert werden. 23 Beim 19 Näheres zum Fall Birkenfeld als bis heute bedeutsamsten Fall unter dem IRS Whistleblower Program unter Rn. 86 f. 20 Zu den Lehren und Folgen von Markopolos‘ (erfolglosen) Whistleblowing-Versuchen für die Whistleblower-Politik der Securities Exchange Commission (SEC) ab Rn. 179 ff. 21 Ausgeschlossen sind damit lediglich heteronome Meldungen auf unmittelbare Veranlassung eines Dritten sowie strategische Selbstanzeigen, wie sie bspw. im Rahmen von Kronzeugenregelungen anzutreffen sind. Jede weitere Eingrenzung und Differenzierung erfolgt im konkreten Kontext der jeweiligen Whistleblowing-Norm. 22 Nachdem in Deutschland vor allem zu Anfang primär externes Whistleblowing als solches wahrgenommen worden ist, hat sich diese Unterscheidung i.R.d. allgemeinen Compliance-Entwicklung auch hierzulande durchgesetzt. Statt vieler Bürkle, DB 2004, 2158; Deiseroth, Betrifft Justiz 78 (2004), 296, 296 f.; Weber-Rey, AG 2006, 406, 407; Hefendehl, FS Amelung 2009, 617, 619; Schulz, Ethikrichtlinien und Whistleblowing, S. 144 f.; Lohre, ZCG 2009, 165, 166; Groneberg, Whistleblowing, S. 36; Schemmel/ Ruhmannseder/Witzigmann, Hinweisgebersysteme, Kap. 1, Rn. 88 ff.; Schmolke, RIW, 2012, 224, 226. Die in den USA prominente Diskussion um den arbeitsrechtlichen Schutz interner Whistleblower befindet sich in Deutschland demgegenüber noch im Anfangsstadium, s. Rn. 256 ff. 23 Ausführlich zu möglichen arbeits-, vertraulichkeits-, und verfahrensrechtlichen Normen am Beispiel des SEC Whistleblower Program ab Rn. 184 ff. Jenseits administrativer
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internen Whistleblowing erfolgt die Meldung wiederum innerhalb der jeweiligen Organisation selbst an einen abhilfefähigen oder speziell hierfür vorgesehenen Meldeadressaten, verlässt also (jedenfalls zunächst) nicht die unmittelbare Kontrollsphäre der betroffenen Organisation bzw. des betroffenen Unternehmens.24 Im Zuge der aus den USA stammenden „Corporate Compliance”25-Bewegung wurden zu diesem Zweck im Laufe der letzten Jahre auch Stellen dienen vor allem die Presse und andere Medien als „klassische“ Adressaten in vielen der öffentlich aufsehenerregendsten Fällen. S. insbes. Glazer/Glazer, The Whistleblowers, p. 9 et seq; sowie die Kurzdarstellungen in Fn. 233. 24 Mögliche Adressaten sind bspw. der Arbeitgeber selbst, der jeweilige Betriebsrat, eine höhere Kontrollebene innerhalb des Unternehmens, das Geschäftsführungs- oder Überwachungsorgan innerhalb einer Gesellschaft, die zuständige Rechtsabteilung, eine speziell eingerichtete Compliance-Abteilung oder auch eine externe Whistleblowing-Stelle, die vom Unternehmen zur Entgegennahme oder Weiterleitung beauftragt wurde, bspw. eine anwaltliche Ombudsperson. Einfache Meldungen an den direkten Vorgesetzten oder gar einen gleichgeordneten Kollegen sind terminologisch hingegen nicht als Whistleblowing einzuordnen. Ebenso Berndt/Hoppler, BB 2005, 2623, 2624; Weber-Rey, AG 2006, 406, 407; Lohre, ZCG 2009, 165, 166; Sänger, Whistleblowing, S. 41 f.; a.A. Schemmel/Ruhmannseder/Witzigmann, Hinweisgebersysteme, Kap. 1, Rn. 90. Ganz in diesem Sinne lassen auch die allermeisten sozialwissenschaftlichen Studien in den USA derartige Meldungen außen vor, da es in diesen Fällen typischerweise an einem vergleichbar eskalativen Loyalitätsbruchelement gerade fehlt. Vgl. bereits Near/Miceli, 4 J. Bus. Ethics 1, 3–4 (1985); sowie die Nachw. unter Rn. 7 ff. Arbeitsrechtlich wiederum unterfällt auch dieses Quasi-Whistleblowing i.d.R. ebenfalls dem Anwendungsbereich entsprechender Whistleblowing-Normen (Rn. 60 f.), wobei neuere Whistleblowing-Normen, wie etwa § 806 SOX z.T. dazu übergegangen sind, einfache Meldungen gegenüber Kollegen und Vorgesetzten aus ihrem Anwendungsbereich auszunehmen, um bloße Beschwerden oder Missfallensbekundungen leichter von Whistleblowing i.e.S. abgrenzen zu können (s. Rn. 130). 25 Der Begriff der „(Corporate) Compliance“ – wörtlich „(gesellschaftsinterne) Befolgung“ – umfasst die Summe sämtlicher unternehmensinterner Maßnahmen zur Einhaltung unternehmensexterner Rechtsnormen, deren Befolgung nicht zur Disposition der Gesellschaft steht. Vor allem im deutschen Sprachgebrauch ist der Begriff allerdings einer gewissen Konturenunschärfe unterworfen, die sich gerade mit Blick auf die Natur der zu befolgenden Rechtsnormen in einer Vielzahl unterschiedlicher Definitionen niederschlägt. Vgl. Hauschka/Moosmayer/Lösler, in: Hauschka/Moosmayer/Lösler, Corporate Compliance, § 1 Rn. 2 (Gesetze und interne Richtlinien); Eisele/Faust, in: Schimansky//Bunte/Lwowski BankR, § 109 Rn. 1 (Gesetze, Verhaltenspflichten, Regeln und Usancen); Koch, ZGR 2006, 769 (786) (auch Delikts- und Vertragsnormen); U.H. Schneider, ZIP 2003, 645, 646 (Gesetzliche Ge- und Verbote); Lösler, NZG 2005, 104 (sämtliche anwendbare Regeln). Im Folgenden wird der Begriff im Sinne seines US-amerikanischen Ursprungs (vgl. Rn. 100 ff.) für sämtliche allgemeingültigen Ge- und Verbotsnormen externen (d.h. gesetzgeberischen) Ursprungs verwendet. Soweit bspw. die Befolgung zivilrechtlicher Normen inter partes oder selbstgesetzter Ethikkodizes in Rede steht („Compliance & Ethics“), wird hierauf gesondert hingewiesen. Dementsprechend unterscheidet sich der hier gewählte, Whistleblowing-spezifische Compliance-Begriff insbesondere dadurch von vielen weitergefassten Definitionsversuchen, dass er grds. keine Regelungen umfasst, deren rein interner Geltungsanspruch externes Whistleblowing ausschließt. Anders insoweit IDW, Prü-
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in deutschen Unternehmen zunehmend institutionalisierte Annahmestellen und Meldekanäle als Element sog. Whistleblowing-Systeme eingerichtet, auf deren Bedeutung für die Entwicklung des Whistleblowing-Rechts an gegebener Stelle noch näher eingegangen wird.26 Neben der organisatorischen Stellung des Adressaten ist ferner die Modalität der jeweiligen Meldung von rechtlicher wie praktischer Relevanz, insbesondere die Unterscheidung zwischen offenem, vertraulichem und anonymem Whistleblowing, mit anderen Worten also, ob der Whistleblower seine eigene Identität von vornherein offenlegt, sie vom jeweiligen Adressaten absprachegemäß nicht mit Dritten geteilt werden soll oder er sie gegenüber sämtlichen Beteiligten geheim hält.27 Aus regulatorischer Perspektive lässt sich wiederum nach Art der gewählten Regelungsinstrumente unterscheiden, namentlich zwischen passivem Whistleblower-Schutz und aktiver Whistleblowing-Förderung. Instrumente der ersten Kategorie dienen zumeist dazu, Vergeltungsmaßnahmen und andere potentiell nachteilige Folgen zulasten des Whistleblowers ex post abzumildern bzw. ex ante zu verhindern – insbesondere durch entsprechende Kündigungs- und Diskriminierungsschutznormen des Arbeitsrechts oder auch durch vergeltungsvorbeugende Vertraulichkeitsgarantien. Instrumente der zweiten Kategorie wiederum zielen meist darauf ab, durch zusätzliche positive oder negative Anreize auf die Meldeentscheidung potentieller Whistleblower einzuwirken – etwa in Gestalt finanzieller Belohnungsversprechen, sanktionsbewährter Whistleblowing-Pflichten oder administrativer Kooperationsanreize.28 Aus welchen Gründen und mit welchen Konsequenzen sich dieses Infungsstandard PS 980, WPg Supplement 2/2011, S. 78, 79, Tz. 5 (gesetzliche Bestimmungen und interne Richtlinien); im Grundsatz auch Ziff. 4.1.3 S. 1 Deutscher Corporate Governance Kodex (DCGK), welcher sich seit Februar 2017 allerdings jedenfalls bzgl. interner Whistleblowing-Systeme der hiesigen Definition anzunähern scheint, s. Ziff. 4.1.3 S. 3: (nur) „Rechtsverstöße“. 26 S. insbes. Rn. 100 ff.; 256 ff. Deutsche Whistleblowing“systeme“ haben freilich oft noch keinen mit den USA vergleichbaren Institutionalisierungsgrad erreicht, sondern beschränken sich z.T. auf die Bereitstellung einer Adressatenstelle. Vgl. Buchert, in: Hauschka/Moosmayer/Lösler, Corporate Compliance, § 42, Rn. 6. Soweit im Rahmen dieser Arbeit nicht das Whistleblowing-System im Ganzen gemeint ist bzw. ein solches im konkreten Fall nicht existiert, wird der Begriff der „Whistleblowing-Stelle“ verwendet. 27 Ebenso bzgl. der praktischen Ausgestaltung interner Whistleblowing-Systeme Schemmel/Ruhmannseder/Witzigmann, Hinweisgebersysteme, Kap. 1, Rn. 14, 95, Kap. 5 Rn. 72 ff. In diesem Zusammenhang kann ferner nach der Art der Informationsübermittlung differenziert werden, d.h. ob die Meldung persönlich, über Vermittlung durch einen anderen, durch schriftliche Zusendung, per telefonischer Hotline oder unter Nutzung eines digitalen Kommunikationskanals erfolgt. Aus Perspektive der deutschen CompliancePraxis ebd., Kap. 5, Rn. 117 ff. m.w.N. 28 Während diese Differenzierung in erster Linie für rechtsförmige Maßnahmen des Gesetzgebers von Bedeutung ist, stellen ähnliche Fragen sich auch i.R.d. Ausgestaltung interner Compliance-Programme. Ihre Einteilung ist freilich nicht ohne erhebliche Überschnei-
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strumentenkastens in den USA bedient wurde, wird im zweiten Teil dieser Arbeit ausführlich behandelt. Nicht letztgültig beantwortet werden kann und soll hingegen die Frage, ob und unter welchen Bedingungen bei alledem (rechts-)ethisch zwischen „gutem“ und „schlechtem“ Whistleblowing unterschieden werden kann bzw. unterschieden werden muss. Während dieses Thema sowohl in der USamerikanischen als auch der deutschen Öffentlichkeit (mit Recht) immer wieder kontrovers diskutiert wird, können weder eine rechtswissenschaftliche, noch eine funktionsgeschichtliche Analyse für sich allein beanspruchen, zu typologisch eindeutigen oder anderen Betrachtungswinkeln gar überlegenen Ergebnissen zu gelangen. Damit soll natürlich nicht gesagt sein, dass moralisch relevante Kriterien wie die Ehrenhaftigkeit der Motive des Whistleblowers, der Anlass seiner Meldung oder die Schwere der aufgedeckten oder verhinderten Taten auf die rechtliche Bewertung eines WhistleblowingAkts keinen Einfluss hätten.29 Ob und wie diese Merkmale moralisch gewichtet werden und einen Whistleblower zum gefeierten Helden oder verachteten Denunzianten machen, bestimmt sich erfahrungsgemäß allerdings oft stärker nach Maßgabe der subjektiven Position des Betrachters nach als dem objektiven Verhalten des Whistleblowers.30 So sind fast alle WhistleblowingSituationen in ihrem Kern vor allem Ausdruck eines elementaren Loyalitätskonflikts, den der Whistleblower für sich in die eine oder andere Richtung auflöst – sei es zugunsten der Loyalität gegenüber seinen Kollegen, seinem Arbeitgeber, dem geltenden Recht des Staates oder anderer, als konkret höherwertig empfundener Interessen Dritter.31 Die Entscheidung zugunsten einer dieser Loyalitätsbeziehungen führt fast zwangsläufig dazu, dass der Whistleblower sich von anderer Seite mit dem Vorwurf des Treuebruchs konfrontiert sieht – mit allen hieraus resultierenden Konsequenzen.32 dungsbereiche, da bspw. auch die Existenz wirksamer Schutzmechanismen Einfluss auf die Entscheidung zum Whistleblowing haben kann und u.a. finanzielle Belohnungen oft nicht zuletzt einer effektiven Nachteilskompensation dienen sollen. 29 Zu entsprechenden dogmatischen Kriterien der jeweiligen Arbeitsrechtsordnungen Rn. 55 ff. bzw. Rn. 243 ff. 30 Vgl. etwa Rn. 36. 31 Hierzu Modesitt/Schulman/Westman, Retaliatory Discharge, ch. 1, p. 2 et seq., ch. 2, p. 2 et seq.; Johnson, Whistleblowing, p. 26–29; Peters/Branch, Blowing the Whistle (1972), p. 4–5, 18–21; Vandekerckhove, Whistleblowing, p. 124 ff.; Düsel, Gespaltene Loyalität, S. 21 ff.; Pittroff, Whistle-Blowing-Systeme, S. 23 f., ferner Graser, Whistleblowing, S. 35, die zwar zutreffend anmerkt, dass Loyalitätspflichten bei einschlägigen Urteilsbegründungen in den USA sprachlich nur eine untergeordnete Rolle zu spielen scheinen, was rechtssystematisch allerdings v.a. daran liegt, dass entsprechende Abwägungen bereits im Gesetzgebungsprozess stattgefunden haben oder aus dogmatischen Gründen nur implizit i.R.d. Feststellung hinreichender öffentlicher Interessen Berücksichtigung finden. Im Einzelnen Rn. 33 ff.; 42 ff. 32 Zu diesen sogleich, Rn. 8.
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B. Phänomenologie – Charakteristika von Whistleblowern und Whistleblowing-Situationen B. Phänomenologie
Abgesehen vom zunehmenden Interesse der Rechtswissenschaft gerät Whistleblowing vermehrt auch in den Fokus rechtstatsächlicher bzw. sozial- und wirtschaftswissenschaftlicher Forschung. 33 Trotz aller methodischen Schwierigkeiten bei der ganzheitlichen empirischen Erfassung des Problemkomplexes kann gerade die Whistleblowing-Forschung in den USA mittlerweile auf eine Reihe relevanter Studien hinsichtlich der persönlichen, situativen und regulatorischen Phänomenologie des Whistleblowings zurückgreifen.34 Als Hauptmotiv im Motivbündel der meisten Whistleblower haben sich in unterschiedlichsten Kontexten regelmäßig altruistische Beweggründe erwiesen, wohingegen egoistische Begleitmotive im Sinne einer ökonomisch-rationalen Kosten-Nutzen-Kalkulation meist in den Hintergrund treten. 35 In Bezug auf die typische Persönlichkeitsstruktur von Whistleblowern stimmen die meisten Studien und die Erfahrungen langjähriger Praktiker 36 darin überein, dass Whistleblowing in aller Regel mit gewissen charakterlichen Prädispositionen des Meldenden korreliert. Naheliegenderweise zählen hierzu zunächst unmittelbar Whistleblowing-bezogene Eigenschaften wie ein oft besonders entwickeltes moralisches Bewusstsein und eine tendenziell extrovertiert ausgerichtete Persönlichkeit.37 Darüber hinaus weisen Whistleblower aber auch in weniger selbstverständlich wirkenden Bereichen häufig Gemeinsamkeiten 33 Hierzu dürfte neben der ungleich längeren Geschichte des Whistleblowing-Rechts auch die größere Bedeutung der Rechtstatsachenforschung in den USA beigetragen haben, vgl. Spindler/Gerdemann, AG 2016, 698. 34 S. jeweils m.w.N. Lewis/Brown/Moberly, in: Brown/Lewis/Moberly/Vandekerckhove, Whistleblower Research, ch. 1, p. 1 et seq.; Mesmer-Magnus/Viswevaran, 62 J. Bus. Ethics 277, 278–79 (2005), Schmolke/Utikal, FAU Paper No. 09/2016, p. 6–10. 35 Statt vieler Liyanarachchi/Newdick, 89 J. Bus. Ethics 37, 45 (2009); Kesselheim/Studdert/Mello, N. Eng. J. Med. 362 (19): 1832, 1834, Table 2 (2010); von Whistleblowern oft mit „simply doing the right thing“ umschrieben. Dass die Entscheidung zum Whistleblowing selten aus einem einzigen, isolierten Grund heraus geschieht, sondern – wie die meisten menschlichen Entscheidungen – aus einem Bündel verschiedener Beweggründe und Eindrücke heraus getroffen wird, gilt mittlerweile als weitgehend gesichert und bestätigt sich auch durch die Fallrecherchen im Rahmen dieser Arbeit. Vgl. Roberts, in: Brown/Lewis/Moberly/Vandekerckhove, Whistleblower Research, ch. 9, p. 216 et seq. Zur i.d.R. negativen Kosten-Nutzen-Relation aufgrund von Vergeltungsmaßnahmen sogleich, Rn. 8 m.w.N. 36 Die zum Teil nur auf Stichproben bzw. Umfragen beruhenden Ergebnisse empirischer Studien wurden nur insoweit aufgenommen, wie sie durch entsprechende Erfahrungsberichte von Whistleblowing-Anwälten und anderen Praktikern in ihrem Ansatz Bestätigung finden konnten (vgl. Fn. 2). 37 Nachweise etwa bei Schmolke/Utikal, FAU Paper No. 09/2016, p. 6–10; Liyanarachchi/Newdick, 89 J. Bus. Ethics 37, 41, (2009).
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auf, namentlich in Form eines überdurchschnittlichen Bildungsgrades, einer besonderen beruflichen Leistungsbereitschaft und einer zumeist höheren Position innerhalb unternehmensinterner Hierarchien. 38 Vor dem Hintergrund der teilweisen Gleichsetzung von Whistleblowing und Denunziantentum39 geradezu kontraintuitiv erscheint schließlich der Befund, dass Whistleblower sich nicht durch ein vergleichsweise geringes, sondern vielmehr durch ein typischerweise besonders ausgeprägtes Loyalitätsempfinden gegenüber ihrem eigenen Unternehmen auszeichnen.40 Sofern nicht ausnahmsweise die Involvierung der Unternehmensleitung oder der Verbreitungsgrad der Rechtsverstöße eine Lösung in Kooperation mit dem Arbeitgeber aussichtslos erscheinen lassen,41 wenden sich je nach Studie ca. 90% der Whistleblower zunächst an unternehmensinterne Stellen, bevor sie in einigen Fällen mangels Abhilfeerfolgs auch externe, in der Regel staatliche Stellen informieren.42 Interessanterweise scheint also gerade die Diskrepanz zwischen einem eigentlich 38 Hierzu insbes. die Meta-Studie von Mesmer-Magnus/Viswevaran, 62 J. Bus. Ethics 277, 278–79 (2005) m.w.N.; ferner Near/Miceli, 22 J. Manag. 507, 511–12, Table 1 (1996); Forschungsüberblick Roberts, in: Brown/Lewis/Moberly/Vandekerckhove, Whistleblower Research, ch. 9, p. 208–10, der mit Recht darauf hinweist, dass die Motivation trotz altruistischer Stoßrichtung freilich selten ohne egoistische Begleitmotive ist, etwa in Gestalt emotionaler Reaktionen auf persönliche Mobbingerfahrungen oder die (jedenfalls parallele) Verfolgung eigener Selbstschutzinteressen (ebd., p. 216 et seq.). 39 Vgl. insbes. Hefendehl, FS Amelung 2009, 616, 631 ff., der aus historischen Untersuchungen zur Motivlage politischer Denunzianten in deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts ableiten möchte, dass unternehmensinterne Whistleblower in allererster Linie aus egoistischen Motiven handelten und Whistleblowing-Systemen daher ihre Funktionsfähigkeit abspricht. Auch letztere Prognose hat indes weder in den USA noch in Deutschland rechtstatsächliche Bestätigung erfahren können. S. Rn. 100 ff.; 256 ff. 40 So auch (zumeist allerdings auf Basis anekdotischer Belege) Culp, 13 Hofstra Lab. & Emp. L. J. 109, 113 (1995); Dworkin/Callahan, 29 Am. Bus. L. J. 267, 300–01 (1991); Moberly, 2006 B.Y.U. L. Rev. 1107, 1141–43 (2006); SEC, Implementation of the Whistleblower Provisions of Section 21F of the Securities Exchange Act of 1934, 17 CFR Parts 240 and 249, 68 Fed. Reg. 34,300, in Kraft getreten am 12.8.2011, abrufbar mit Begründung unter unter IV.7., p. 230; jeweils m.w.N. 41 Vgl. hierzu etwa die Befragungsstudie von Felman/Lobel, 2 Regulation & Governance 165, 171–74, Table 1 (2008), wonach „financial fraud“ durch das Management kaum und wenn dann extern gemeldet wurde. Zum u.a. hierauf reagierenden Dodd-Frank Act ab Rn. 213 ff. 42 S. als eine der größeren Studien mit 6420 Teilnehmern Ethics Resource Center (ERC), National Business Ethics Survey of the U.S. Workforce 2013, abrufbar unter , p. 29: 92% interne (Erst-) Meldungen, 9% (letztendliche) externe Meldung an staatliche Stellen. Da sich diese Werte selbst bei finanzieller Inzentivierung externen Whistleblowings kaum verändern (vgl. Rn. 81, 218), wird man insoweit von einer intrinsischen Loyalität ausgehen können. Die relative Mehrheit der gemeldeten Verstöße betraf insoweit Fehlverhalten auf Ebene des höheren und mittleren Managements. Ebd., p. 20: 24% bzw. 19%.
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positiven Unternehmensbild und der Beobachtung eines hierzu im Widerspruch stehenden Fehlverhaltens die notwendige motivatorische Grundlage für die oft risikoreiche Entscheidung zum Whistleblowing zu bilden. Hierzu passt, dass die Häufigkeit des Whistleblowings situativ nicht nur von der Existenz rechtlicher und organisatorischer Schutz- und Kooperationsvorkehrungen abhängt, sondern gerade auch von der Wertschätzung, die Whistleblowern seitens der Unternehmensleitung entgegengebracht wird („Tone at the Top”).43 Auf der anderen Seite gilt als weitgehend gesichert, dass vor allem die Befürchtung, die eigene Meldung werde wahrscheinlich keine Korrektur bzw. Ahndung der Verstöße zur Folge haben, sowie die Angst vor Vergeltungsmaßnahmen durch Arbeitgeber, Vorgesetzte und/oder Kollegen die größte Abschreckungswirkung auf potentielle Whistleblower entfalten.44 Dass diese Bedenken keineswegs unbegründet sind, zeigen die regelmäßig hohen Diskriminierungsquoten in der Folge interner wie externer Meldungen. 45 Während Whistleblowing-bedingte Beendigungen von Arbeitsverhältnissen auch bei konkret bestehendem Kündigungsschutz keine Seltenheit sind, erweisen Meldungen über fremdes Fehlverhalten sich dabei als besonders geeignet, sowohl (formal) niedrigschwellige Vergeltungsmaßnahmen nach sich zu ziehen als auch persönliche Nachteile zu verursachen, deren Qualität über
43 So bereits Parmerlee/Near/Jensen, 27 Admin. Sci. Q. 17, 28 et seq. (1982); Liyanarachchi/Newdick, 89 J. Bus. Ethics 37, 47 (2009); ferner aus der Vorgängerstudie des ECR, Inside the Mind of a Whistleblower – A Supplement Report of the 2011 National Business Ethics Service, abrufbar unter , p. 13: 1% vs. 5% externe Erstmeldungen in Abhängigkeit zur vermuteten Unternehmenskultur auf Führungsebene. 44 Near/Rehg/Van Scotter/Miceli, 14 Bus. Ethics Q. 219, 238 (2004); Hess, 105 Mich. L. Rev. 1781, 1795–96 m.w.N. Vgl. insoweit auch die Studie von Mayer/Nurmohamed/Neviño/Shapiro/Schminke, 121 Organ. Behav. Hum. Dec., 98–100 (2013) auf Basis einer Befragung von insgesamt 33.756 Arbeitnehmern, in deren Rahmen ein besonders starker Zusammenhang zwischen der Angst vor Vergeltungsmaßnahmen und der Bereitschaft zu internen Meldungen festgestellt werden konnte. Interessanterweise wiesen weder die Wahrscheinlichkeit effektiver Abhilfemaßnahmen durch die Unternehmensleitung bzgl. der gemeldeten Verstöße noch die vermutete ethische Grundhaltung auf den jeweiligen Führungsebenen eine statistische Signifikanz auf. Stattdessen stellte sich das einschlägige Verhalten von Kollegen innerhalb der unmittelbaren Abteilung des Whistleblowers als wesentlicher Entscheidungsfaktor heraus („it takes a village“). 45 Die konkreten Prozentangaben weisen freilich erhebliche Schwankungen auf, vgl. Ethics Resource Center (ERC), National Business Ethics Survey of the U.S. Workforce 2013, abrufbar unter , p. 26–27 (21% Vergeltungsmaßnahmen bei 6420 Befragten); Dyck/Morse/Zingales, 65 J. Fin. 2213, 2216, 240–45, Table VIII (2010) (81% bei schadensträchtigen Fällen und Offenlegung der Identität).
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unmittelbare Kündigungsfolgen hinausreicht.46 Häufige Konsequenzen sind der Verlust der bisherigen Stellung und Chancen innerhalb des Unternehmens, etwa durch Versetzung, Reduzierung des Kompetenzbereichs oder inoffizielles Karriereende („Kaltstellen”),47 sowie verschiedenste Formen psychischen Drucks, sei es durch soziale Ausgrenzung, Mobbing oder andere Maßnahmen zur Erwirkung einer „freiwilligen” Kündigung des Whistleblowers.48 Zu den typischen Spätfolgen insbesondere aufsehenerregender Fälle gehören schließlich nicht selten branchenweite Ächtungen und ein damit einhergehendes faktisches Berufsverbot („blacklisting”), was für einige Whistleblower mangels gleichwertiger Beschäftigungsmöglichkeiten zum Verlust ihrer finanziellen (und/oder persönlichen) Lebensgrundlage führt.49 Der bewusste Bruch mit den Loyalitätserwartungen des beruflichen Umfelds unter Missachtung unausgesprochener Verhaltenskodizes in sich geschlossener Gruppen provoziert insoweit regelmäßig eine Vielzahl von Gegenreaktionen, deren Intensität sich nur bedingt mit ökonomisch-rationalen Motiven erklären lässt und sich nicht selten besser als soziales (Vergel46
Zur Häufigkeit und Art der Benachteiligungen, s. Fn. 48 sowie die Falldarstellungen im Rahmen dieser Arbeit. 47 S. hierzu etwa die Fälle Watkins (Rn. 110 ff.) und Asadi (Rn. 212) sowie die Nachweise i.R.d. Sarbanes-Oxley Acts, Rn. 123 ff. 48 S. hierzu insbes. die auf einer Vielzahl von Befragungen und Datensätzen zusammengestellten Ergebnisse von Rothschild/Miethe, 26 Work Occup. 107, 120–01 (1999), wonach 69% der Whistleblower ihren Arbeitsplatz verloren, 64% negative Leistungsbewertungen erhielten, 68% unter direkte Aufsicht ihres Vorgesetzten gestellt wurden, 68% von ihren Kollegen kritisiert oder gemieden wurden und 64% in ihrer Branche „blacklisting“ erfuhren, wobei die Prozentangaben sich bei externem Whistleblowing sogar um 10– 15% erhöhten; ferner Culp, 13 Hofstra Lab. & Emp. L. J. 109, 113 (1995) m.w.N. (82% soziale Benachteiligung („harassment“), 60% Kündigungen, 17% Verlust des eigenen Hauses, 10% versuchter Selbstmord). Angesichts derlei dramatischer Daten ist allerdings zu berücksichtigen, dass das subjektive Benachteiligungsempfinden der Betroffenen nicht immer den tatsächlichen Gegebenheiten entsprechen muss und der erhöhte Auskunftsdrang von Personen mit besonders gravierenden Erfahrungen Einflüsse auf die statistische Aussagekraft der Datensätze ausübt. Insoweit krit. Near/Miceli, 22 J. Manag. 507, 517–19 (1996). 49 S. z.B. Lipman, Whistleblowers, ch. 4 zum Fall des Xerox-Whistleblowers James Bingham („Jim had a great career, but he’ll never get a job in Corporate America again“); ferner die Studie von Kesselheim/Studdert/Mello, N. Eng. J. Med. 362 (19): 1832, 1836 (2010), in der Rund die Hälfte der Befragten gravierende persönliche und/oder finanzielle Nachteile erlitten („I just wasn’t able to get a job […] I had a rental house that my kids were [using to go] to school. I had to sell the house. Then I had to sell the personal home that I was in. I had my cars repossessed. I just went — financially I went under.“). Dementsprechend ist nicht verwunderlich, dass je nach Umfrage oft über ein Drittel der befragten Whistleblower angibt, dass sie sich angesichts der erfahrenen Nachteile rückblickend nicht erneut für eine Meldung entscheiden würden. S. Rapp, 87 B.U. L. Rev. 91, 118–26 (2007) m.w.N.
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tungs-)Korrektiv verstehen lässt, bedingt durch die Verletzung eines organisationinternen Korpsgeistes.50 Da die Folgen für den Whistleblower im Voraus auch deshalb weder genau absehbar noch vollständig abwendbar sind, konzentriert sich auch ein nicht unerheblicher Teil der Whistleblowingfördernden Regulierungselemente in den USA auf die Verbesserung der Kosten-Nutzen-Kalkulation51 des Whistleblowers im Angesicht wahrscheinlicher Vergeltungsmaßnahmen.52 Jenseits dieser Eckpunkte existieren angesichts der Vielgestaltigkeit von Whistleblowing-Situationen und der Komplexität individueller Entscheidungsparameter53 in den jeweiligen Meldekontexten allerdings bis heute wenig generalisierbare Erkenntnisse hinsichtlich persönlicher, situativer und motivatorischer Konstanten des Whistleblowings.54 So kommen denn auch viele Studien, die eine bestimmte Korrelation zwischen allgemeiner Whistleblowing-Affinität und Merkmalen, wie etwa dem Geschlecht oder der beruflichen Stellung des Meldenden, postulieren, zu divergierenden bzw. widersprüchlichen Ergebnissen. 55 Neben empirischen Stichproben zu den typischen Charakteristika des Whistleblowings wurden daher gerade in jüngerer Zeit vermehrt verhaltensökonomische Studien durchgeführt, welche sich vor allem auf die Identifizierung der für die Entscheidung zum Whistleblowing zentralen Motivationsfaktoren konzentrieren. Neben der Vermeidung von Schwierigkeiten bei der Erhebung unvoreingenommener, statistisch signifikanter Datengrundlagen setzen sich diese Studien insbesondere das Ziel, eine ratio50
Gerade Vergeltungsmaßnahmen von nicht unmittelbar betroffenen Kollegen lassen sich im (klassisch) ökonomischen Sinne kaum erklären. Zur theoretischen Untermauerung dieser rechtstatsächlichen Befunde dürften sozialwissenschaftliche Erklärungsmuster erfolgversprechender sein. Hierzu insbes. Deiseroth/Derleder, ZRP 2008, 248, 249 ff.; (auf Basis der Systemtheorie Niklas Luhmanns); ferner Fanto, 83 Or. L. Rev. 435, 443 et seq. (2004) (Auf Basis von Irving Janis‘ „groupthink“ Theorie). Wiewohl der häufige Vergeltungswunsch des Umfeldes von Whistleblowern gut dokumentiert ist, fehlt es (naheliegenderweise) an aussagekräftigen Studien zur Motivlage der Benachteiligenden. 51 Das gilt für die Verringerung der Verlustrisiken durch arbeitsrechtliche und administrative Schutzvorkehrungen ebenso wie für die Bereitstellung (über-)kompensatorischer Schadensersatz- und Belohnungsansprüche. 52 Soweit im Folgenden bei der Darstellung des US-Whistleblowings der Begriff der Vergeltung („retaliation“) verwendet wird, soll hiermit indes keine Wertung, sondern lediglich eine kausale, absichtsvolle Verbindung zwischen Whistleblowing und Benachteiligung zum Ausdruck gebracht werden. 53 Theoretische Diskussion verschiedener ethischer Entscheidungsparameter insbes. bei Jensen, 6 J. Bus. Ethics 321. 54 Vgl. insbes. Miceli/Near, 24 Res. Personnel & Hum. Resources Mgmt. 95, 125 et seq. (2005) Mesmer-Magnus/Viswevaran, 62 J. Bus. Ethics 277, 278–79, Table I (2005) jeweils mit Darstellung der methodischen Probleme und bisherigen Forschung. 55 Vgl. Miceli/Near, 24 Res. Personnel & Hum. Resources Mgmt. 95, 125 et seq. (2005); Liyanarachchi/Newdick, 89 J. Bus. Ethics 37, 39–42 (2009); Schmolke/Utikal, FAU Paper No. 09/2016, p. 9–10.
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nale Basis für Aussagen über die notwendigen Parameter einer sinnvollen Whistleblowing-Regulierung de lege ferenda zu bieten. 56 Eine der ersten und einflussreichsten Untersuchungen dieser Art ist die von Feldman/Lobel durchgeführte Studie aus dem Jahr 2010, in der einer Gruppe repräsentativ ausgewählter Probanden Fragen zur hypothetischen WhistleblowingBereitschaft unter verschiedenen situativen Bedingungen gestellt wurden.57 Die wesentlichen Variablen des Fragenkatalogs beinhalteten die Person des Whistleblowers,58 die moralische Verwerflichkeit des Verstoßes59 sowie die regulatorischen Rahmenbedingungen zum Zeitpunkt des Whistleblowings, namentlich die Existenz eines Whistleblowing-spezifischen Kündigungsschutzes,60 gesetzliche Meldepflichten, Strafzahlungen bei Nichtmeldungen sowie die Gewährung einer finanziellen Belohnung („Protect – Command – 56
Angestoßen wurde dieses Forschungsinteresse vor allem durch den Erfolg finanziell intensivierender Whistleblowing-Gesetze in den USA, welche im Folgenden noch eingehend behandelt werden. 57 S. Feldman/Lobel, 88 Tex. L. Rev. 1151, 1154, 1187–89 (2010). Befragt wurden 2081 Arbeitnehmer, allerdings ohne Berücksichtigung tatsächlicher WhistleblowingVorerfahrungen. Das Grundszenario bildete der Fall eines Angestellten, der im Rahmen eines öffentlichen Bauauftrags feststellt, dass sein Arbeitgeber den Staat durch mangelhafte Baumaterialien u.Ä. um ca. 10 Mio. US-Dollar betrügt. Fleischer/Schmolke, NZG 2012, 361, 362 ff.; Pfeifle, Anreize für Whistleblower, S. 118 ff. 58 Gefragt wurde nach dem hypothetischen eigenen Verhalten, dem Verhalten beruflich bzw. sozial gleichgestellter Personen („peers“) sowie dem Verhalten eines angenommenen Durchschnittsbürgers. Feldman/Lobel, 88 Tex. L. Rev. 1151, 1154, 1188–91 (2010). 59 Die Basis dieser Variable bot die subjektive, moralische Bewertung des Grundszenarios durch die Probanden, ebd., p. 1188. Schon die Varianz dieses subjektiven Kriteriums verdeutlicht, dass das ethische Gewicht unterschiedlicher Verstoßarten eine sehr individuelle Einschätzung ist und sich daher kaum für generalisierende Überlegungen de lege ferenda eignet. Vgl. nur Ebersole, 6 Ohio St. Entrepren. Bus. L. J. 123, 124 (2011), der sich insoweit zu Unrecht auf Feldman/Lobel und Aussagen des Madoff-Whistleblowers Harry Markopolos (s. Rn. 180) stützt, um zu begründen, warum finanzielle Whistleblowing-Anreize im Kapitalmarktrecht nicht funktionieren könnten. („Are these the words of a man motivated by money?“). Tatsächlich war und ist Markopolos einer der entschiedensten Befürworter finanziell inzentivierender Whistleblower-Programme, vgl. Markopolos, No One Would Listen, p. 126, 248, 279–80. 60 Anders als dies vor dem Hintergrund der von Feldman/Lobel besprochenen „antiretalition protection“ vielleicht zu erwarten wäre, wird den Probanden im Rahmen der „Protect“-Alternative kein umfassender Diskriminierungsschutz, sondern lediglich ein (einjähriger) Kündigungsschutz in Aussicht gestellt, vgl. Feldman/Lobel, 88 Tex. L. Rev. 1151, 1211 (2010). Bereits aus diesem Grund gestatten die Ergebnisse der Studie keine Rückschlüsse auf die Bedeutung arbeitsrechtlicher Whistleblowing-Normen des USRechts für die Entscheidung zum Whistleblowing. Da der ebenfalls häufig zu findende Rekurs auf Untersuchungen zu § 806 SOX keine allgemeinen Schlüsse zur generellen Anreizwirkung von Schutzgesetzten gestattet (vgl. Rn. 165 ff.), existieren insoweit bis heute keine validen Untersuchungsergebnisse. Vgl. Liyanarachchi/Newdick, 89 J. Bus. Ethics 37, 41 (2009); anders Pfeifle, Anreize für Whistleblower, S. 121 ff.
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Fine – Pay”).61 Empfanden die Befragten einen Verstoß als moralisch besonders verwerflich, zeigten sie eine generell sehr hohe Meldebereitschaft, ohne dass das Hinzutreten starker extrinsischer Faktoren wie Belohnungen oder Strafzahlungen einen signifikanten Einfluss gehabt hätte. 62 Für andere Personen prognostizierten die Probanden hingegen ein primär an Belohnungen ausgerichtetes Meldeverhalten, womit sie sich selbst zugleich eine überdurchschnittlich altruistische Motivlage attestierten (sog. „holier-than-thoueffect”)63. Empfanden die Probanden einen Verstoß wiederum als weniger gravierend, zeigten extrinsische Faktoren auch bei ihnen deutliche Auswirkungen, insbesondere im Falle einer Kombination aus gesetzlicher Meldepflicht und hoher Belohnung. 64 Demgegenüber führten niedrigere Belohnungen im Schnitt sogar zu einer Abnahme der Meldebereitschaft, verringerten also offenbar die intrinsische Motivation der Befragten, indem sie sich negativ auf die moralische Bewertung des Meldeakts auswirkten (sog. „crowdingout-effect”).65 Wiewohl Studien wie die von Feldman/Lobel ohne Frage in der Lage sind, die Schwierigkeiten der empirischen Whistleblowing-Forschung durch hypothetische Befragungssituationen zu vermeiden, lässt sich die rechtstatsächliche Aussagekraft der ermittelten Ergebnisse indes kaum validieren. Selbst sofern man den Angaben der Teilnehmer hinreichende Objektivität unterstellt, bieten unter Laborbedingungen abgegebene Absichtserklärungen jedenfalls keinen Ersatz für tatsächliche Beobachtungen menschlichen Verhaltens in komplexen Konflikt- und Gefahrensituationen wie der Entscheidung zum Whistleblowing.66 Nicht ganz ohne Grund wird entsprechenden Studien nicht 61 Feldman/Lobel, 88 Tex. L. Rev. 1151, 1188, 1210–11 (2010). Die vier Komponenten wurden hierbei zu acht Alternativen kombiniert: 1. hohe Belohnung (1 Mio. US-Dollar); 2. niedrige Belohnung (1.000 US-Dollar); 3. gesetzliche Pflicht und hohe Belohnung; 4. gesetzliche Pflicht und niedrige Belohnung; 5. einjähriger Kündigungsschutz; 6. gesetzliche Pflicht und einjähriger Kündigungsschutz; 7. gesetzliche Pflicht und Strafzahlung (10.000 US-Dollar); 8. gesetzliche Pflicht. 62 Ebd., p. 1192–94, Figure 2. 63 Ebd., p. 1189–92, Figure 1. 64 Ebd., p. 1192–95, Figure 2, 3. Gerade die hohe Belohnung führte insoweit zu ähnlich hohen Meldequoten wie bei intrinsisch hoch motivierten Probanden. 65 Ebd., p. 1194–95, 1202, Figure 3. Dies war insbes. bei Personen zu beobachten, die dem Verstoß eine hohe moralische Verwerflichkeit zuschrieben, insofern also eine hohe moralisch-intrinsische Motivation aufwiesen. Wahrscheinlicher Hintergrund dieses bekannten verhaltensökonomischen Phänomens ist die empfundene Abnahme der moralischen Werthaltigkeit einer gänzlich freiwilligen ggü. einer „erkauften“ Meldung. Vgl. Ebd., p. 1178–81 m.w.N. In der rechtspolitischen Diskussion in den USA finden niedrige Belohnungen freilich schon aufgrund ihrer erfahrungsgemäß geringen Kompensationsfähigkeit kaum mehr Berücksichtigung (vgl. etwa Rn. 63, 83, 179). 66 Vgl. die Ergebnisse der Meta-Studie von Mesmer-Magnus/Viswevaran, 62 J. Bus. Ethics 277, 291–92, Table I (2005), wonach die erklärte Absicht zum Whistleblowing
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nur von vielen Praktikern, sondern auch von Teilen der Literatur jegliche Aussagekraft in Bezug auf reale Whistleblowing-Situationen und -Regulierungsmechanismen abgesprochen. 67 Auch als Reaktion auf dieses Problem beschreitet eine aktuelle Studie von Schmolke/Utikal insoweit neue Wege, als sie mittels eines spieltheoretischen Versuchsaufbaus die Regulierungsalternativen des Command, Fine und Pay durch entsprechende Gewinne bzw. Verluste der Probanden simulieren. 68 Abgesehen von einer überraschend deutlichen Motivationswirkung der reinen Command-Variante69 erwies sich unter diesen Bedingungen nicht etwa die Belohnungsgewährung als effektivster Whistleblowing-Förderer, sondern stattdessen das Strafzahlungsszenario. 70 Die jeweilige Höhe der Bestrafung bzw. Belohnung hatte wiederum keinen signifikanten Einfluss auf das Verhalten der Probanden, so dass „crowding out”-Effekte ebenfalls nicht zu beobachten waren. 71 keine signifikante Korrelation mit tatsächlich erfolgtem Whistleblowing aufweist (sog. „psychological distance’’); etwas optimistischer Bjørkelo/Bye, in: Brown/Lewis/Moberly/ Vandekerckhove, Whistleblower Research, ch. 6, p. 134 et seq., die das Problem eher im Bereich des konkreten Versuchsaufbaus ausmachen. 67 Krit. insbes. Miceli/Near, 24 Res. Personnel & Hum. Resources Mgmt. 95, 126–27 (2005), die keinerlei verlässlichen Erkenntniswert in derlei Studien sehen, u.a. da Probanden auf dem Papier erwiesenermaßen gerne sozial erwünschte Antworten gäben und sich die Erfahrung von Vergeltungsmaßnahmen nicht künstlich erzeugen lasse („[L]aboratory and scenario studies, while quite useful for many other topics, are not the solution for studying whistle-blowing.“); in diese Richtung auch Blount/Markel, 17 Fordham J. Corp. & Fin. L. 1023, 1052 (2012): „These studies have their limitations; both studies rely upon survey data of self-reported reactions to hypothetical factual situations, as opposed to analyzing actual examples of Whistleblowers reporting misconduct.”; Rose, 108 Nw. U. L. Rev. 1235, 1276 (2014): „In any event, experimental surveys may not reliably predict how individuals would respond to incentives in real world situations.“ 68 Schmolke/Utikal, FAU Discussion Papers in Economics No. 09/2016, p. 11–13 (Experiment 1). Der Versuchsaufbau erlaubt es einem von fünf Teilnehmern, eine zunächst gleichmäßige Gewinnverteilung (100 Punkte) zu seinen Gunsten (120 Punkte) zu verändern, wobei dreien der Probanden (120, 100, 60 Punkte) die Möglichkeit gegeben wird, den unwissenden fünften zu Kosten von 6 Punkten zu informieren, um ihm die Möglichkeit zur Bestrafung (=Punktabzug) des ersten Teilnehmers zu geben. Je nach Szenario hatte eine Meldung keine weiteren Folgen für die Probanden, erhielten Meldende eine Belohnung von 50 oder 10 Punkten, wurden Nichtmeldende mit einem 50- oder 10-PunkteAbzug bestraft, oder wurde den Probanden mitgeteilt, dass sie zu einer Meldung (lediglich) verpflichtet seien. 69 Ebd., p. 19, Table 7. Statistisch signifikant war der Meldeanstieg bei WhistleblowingPflicht allerdings nur für die durch die Veränderung begünstigten Probanden (120 Punkte). Zusammen mit dem insgesamt hohen Anteil von Whistleblowern auch im Falle eines 6 Punkte-Meldeabzugs und ohne zusätzliche Anreize (33%) wird man die Ergebnisse der Studie jedenfalls als weiteren Beleg für die grundsätzlich hohe Bedeutung intrinsischer bzw. moralischer Motivationsfaktoren einordnen können. 70 Ebd., p. 18, Table 3. 71 Ebd., p. 15, 18–19, 25, Table 3.
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Auch wenn der Versuch einer realitätsnäheren Simulation von Whistleblowing-Situationen sicherlich eine wesentliche methodische Ergänzung der bisherigen Forschung darstellt, stößt der Wirklichkeitstransfer der gesammelten Resultate freilich ebenfalls an die natürlichen Grenzen verhaltensökonomischer Whistleblowing-Forschung. Wie die folgende Darstellung noch zeigen wird, hat der US-amerikanische Gesetzgeber beispielsweise nicht ohne Grund von der Einführung einschlägiger Strafzahlungen für Nichtmeldungen abgesehen und Whistleblowing-Pflichten nach gemischten rechtstatsächlichen Erfahrungen auch im Übrigen eine eher geringe Bedeutung beigemessen.72 In ähnlicher Weise hat sich gerade auch die Höhe von Belohnungen als entscheidender Faktor bei der Motivierung von Whistleblowern erwiesen, dienen sie unter realen Bedingungen doch zu einem Gutteil vor allem der Kompensation der nicht selten erheblichen persönlichen und finanziellen Nachteile von Whistleblowern.73 Schlussendlich können die zwangsläufig vereinfachten Anreizmatrizen verhaltenspsychologischer Versuchsanordnungen keine Aussagen über die Wirkung der materiell-rechtlich und prozessual oft diffizilen Kriterien real existierender Whistleblowing-Gesetze treffen. Zwar kann natürlich auch die im Folgenden durchgeführte Analyse der Entwicklungs- und Funktionsweise des Whistleblowing-Rechts nicht für sich beanspruchen, anstelle analytisch exakter Forschungsmethoden letztgültige Erkenntnisse über die Persönlichkeitsstruktur von Whistleblowern zu generieren oder gar verbindliche Empfehlungen für eine optimale WhistleblowingRegulierung de lege ferenda abzugeben. Nichtsdestotrotz mögen die folgenden Ausführungen auch dazu dienen, die vorläufigen Ergebnisse der empirischen und verhaltensökonomischen Forschung in den Erfahrungen des USWhistleblowing-Rechts zu spiegeln und anhand der Erfolge und Probleme der
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Vgl. hierzu beispielsweise die Ausführungen zu § 307 SOX unter Rn. 147 ff., 172 f.; dies bereits selbst andeutend Schmolke/Utikal, FAU Discussion Papers in Economics No. 09/2016, p. 25. Auch ohne die rechtstatsächlichen Hürden effektiver WhistleblowingStrafen und -Pflichten wird man sich in diesem Zusammenhang zudem fragen müssen, mit welchen sozialen Kosten die Einführung allgemeiner Whistleblowing-Pflichten im Verhältnis Staat/Bürger bzw. im Verhältnis von Kollegen untereinander einhergehen kann. Geht man (mit guten Gründen) aber davon aus, dass Recht seine verhaltenssteuernde Wirkung bereits durch seine reine, normative Existenz erzeugen kann (vgl. ebd., 4,5, 16, 24), bietet sich eine expressive Unterstützung von Whistleblowern durch entsprechende (Schutz-)Bestimmungen jedenfalls mindestens ebenso gut an wie eine negativ ansetzende Whistleblowing-Pflicht. 73 Abgesehen von theoretisch-ökonomischen Modellen (vgl. Givati, 45 J. Legal Stud. 43 (2016)) existieren jenseits der noch darzustellenden Statistiken der einzelnen Belohnungsprogramme (Rn. 77 ff., 86 ff., 214 ff.) indes keine gesicherten Erkenntnisse zur angemessenen Höhe von Belohnungen. S. OIG, OWB Report (Fn. 1451), p. 24 mit ähnlichem Fazit.
C. Ökonomie
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weltweit derzeit ausdifferenziertesten Whistleblowing-Ordnung den Blick auch auf bisher wenig beachtete Aspekte des Whistleblowings zu lenken.74
C. Ökonomie – Öffentlicher und privater Nutzen des Whistleblowings C. Ökonomie
Aus wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive ist Whistleblowing zunächst nichts anderes als eine von vielen Möglichkeiten zur Überwindung bzw. Abmilderung des vielleicht grundlegendsten Problems der Neuen Institutionenökonomik, dem sog. „Prinzipal-Agenten-Konflikt“. Bedient sich ein Auftraggeber (Prinzipal) zur Ausführung einer in seinem Interesse liegenden Leistung eines Auftragnehmers (Agent), 75 besteht für den Prinzipal in aller Regel die Gefahr, dass der Agent seinen strukturellen Wissensvorsprung ausnutzt und seine eigenen Interessen denen des Prinzipals vorzieht („moral hazard“).76 Mit zunehmender Komplexität der zugrundeliegenden Vertragsbzw. Rechtsbeziehungen erhöht sich daher das Bedürfnis des Prinzipals, bestehende Informationsasymmetrien durch den Einsatz kosteneffizienter Überwachungsmaßnahmen oder Anreize zu verringern.77 Whistleblower nehmen innerhalb dieses konzeptionellen Rahmens die Rolle einer (potentiell) kostenneutralen Überwachungsinstanz ein, indem sie dem jeweiligen Prinzipal mit (Insider-)Informationen über etwaiges Fehlverhalten seiner Agenten informieren.78 Im Kontext des internen Whistleblowings betrifft dies in der Regel Normverstöße einzelner Unternehmensangehöriger zulasten des Unternehmens als ihren Prinzipal im Interesse der Anteilseigner, auf dem Gebiet des externen Whistleblowings wiederum typischerweise Gesetzesver74 Letzteres gilt bspw. für die wenig beachtete Bedeutung administrativer Vorbedingungen bei der Erzeugung einer funktionierenden Kooperationspartnerschaft zwischen Staat und Whistleblower. Vgl. etwa Rn. 39 ff., 75 ff.; 165 ff.; 194 ff. 75 Gegenüber den englischen Originalbegriffen wirkt das deutsche Begriffspaar insoweit inhaltlich verkürzend, als es ungewollt die Anwendbarkeit der Prinzipal-Agenten-Theorie allein auf (privatrechtliche) Vertragsverhältnisse suggeriert. Im Bereich des externen Whistleblowing-Rechts findet diese „klassische“ Variante wiederum nur i.R.d. False Claims Act Anwendung. Vgl. Kovacic, 29 Loy. L.A. L. Rev. 1799, 1851 et seq. (1996). 76 Maßgeblich Jensen/Meckling, 3 J. Financ. Econ. 305 (1976); Arrow, The Economics of Agency (1984); instruktiv Jost, in: Jost, Prinzipal-Agenten-Theorie, Kap. 1, S. 11 ff. 77 Auf dem Gebiet der Privatwirtschaft wegbereitend Berle/Means, Modern Corporation (1932); Coase, 4 Economica 386 (1937); zusammenführend Fama/Jensen, 26 J. Law Econ. 301 (1983); zusammenfassend m.w.N. Gravelle/Rees, Microeconomics, ch. 20, p. 553 et seq.; Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, Kap. V, S. 215 ff.; Kap. VIII, 393 ff. 78 S. bzgl. internen Whistleblowings Pittroff, Whistle-Blowing-Systeme, S. 33 ff., mit detaillierterem Modellierungsansatz auf Basis des Prinzipal-Agenten-Verhältnisses von Anteilseignern und Management.
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letzungen von oder in Unternehmen zulasten des Staates als Prinzipal des Rechts im Interesse der Öffentlichkeit. 79 Für den Whistleblower wiederum ist diese Konstellation im klassisch-ökonomischen Sinne oft „irrational“, hat er doch erfahrungsgemäß eine Vielzahl teils erheblicher Nachteilsrisiken in seine Whistleblowing-Entscheidung einzupreisen. 80 Dementsprechend sind viele Whistleblowing-Gesetze, staatliche Whistleblower-Programme und private Whistleblowing-Systeme darauf ausgerichtet, ökonomische und andere Nachteile des Whistleblowers nach Möglichkeit zu kompensieren, 81 die Kooperation zwischen Whistleblower und Prinzipal zu effektuieren und das (rechtsethische) Eigeninteresse des Whistleblowers an der Aufdeckung, Ahndung und zukünftigen Verhinderung der gemeldeten Verstöße durch erfolgreiche Verfahrensabschlüsse zu verwirklichen. Während die ökonomische Modellierung des Whistleblowings nach alledem mit relativ geringem Aufwand zu bewerkstelligen ist, stellt sich die Beantwortung der ökonometrischen Gretchenfrage nach der empirischen Validierung einer positiven Kosten-Nutzen-Relation des Whistleblowings im Allgemeinen und spezifischer Whistleblowing-Regelungen im Besonderen ungleich schwieriger dar. Nach wie vor ist die aktuelle Datenlage in den USA und Deutschland vor allem in Bezug auf die quantitative Bedeutung des externen wie internen Whistleblowings aussagekräftig, wohingegen die qualitative Effizienz einzelner Rechtsgestaltungen oft nur induktiv ermittelt werden kann. So existiert vor allem in den USA mittlerweile ein zahlenmäßig erheblicher Rechtskorpus an Gesetzen, Verordnungen und Gerichtsentscheidungen,82 aus deren Inhalt sich in qualitativem Hinblick in mancherlei Hinsicht ableiten lässt, unter welchen Bedingungen eine konkrete Normstruktur für Whistleblower sinnvoll sein kann bzw. wann sie für die involvierten Parteien sowie die öffentlichen Justizressourcen mit unverhältnismäßigem (Prozess)Aufwand verbunden sind.83 In Deutschland befindet sich die WhistleblowingGesetzgebung hingegen noch in ihren Anfängen, was wiederum mit einer 79 Auch beim internen Whistleblowing nimmt der Staat freilich die Rolle eines (mittelbaren) Prinzipals ein, soweit i.R.d. Corporate Compliance i.e.S. (Fn. 25) Verstöße gegen staatliches Recht aufgedeckt und geahndet werden. 80 Vgl. hierzu bereits soeben, Rn. 8. 81 In besonders auffälligem Maße gilt dies natürlich für finanziell inzentivierende Whistleblower-Programme, die z.T. sogar einen positiven Nutzensaldo für Whistleblower anstreben (s. ab Rn. 67 ff.). Passive, insbes. arbeitsrechtliche Schutzmechanismen sind demgegenüber zwar nur selten geeignet, sämtliche Nachteile des Whistleblowers auszugleichen, bauen allerdings ohnehin auf der altruistischen Motivation der meisten Whistleblower auf und versuchen insoweit v.a. dominanten Vergeltungsängsten zu begegnen (vgl. bereits Rn. 7 ff.). 82 Einzelheiten hierzu in Kapitel 2 dieser Arbeit. 83 Besonders umfangreiche Daten stehen in diesem Zusammenhang vor allem hinsichtlich der Auswirkungen des Sarbanes-Oxley Act von 2002 zur Verfügung, s. Rn. 161 ff.
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rechtsvergleichend erheblich geringeren Zahl einschlägiger Gerichtsentscheidungen korrespondiert.84 Auf externes Whistleblowing ausgerichtete Whistleblowing-Stellen bzw. Whistleblower-Programme der Verwaltung erfreuen sich wiederum nicht nur in den USA, sondern zunehmend auch in Deutschland wachsender Beliebtheit, wobei vor allem der fiskalische Rechtfertigungsdruck bei belohnungsgestützten Programmen einiges Datenmaterial hervorgebracht hat.85 Deutlich schwieriger gestaltet sich die empirische Ausgangslage hingegen mit Blick auf den branchenübergreifenden Umgang mit internen Whistleblowern und die Wirksamkeit interner WhistleblowingSysteme. Eindeutig ist insoweit allein der enorme quantitative Bedeutungszuwachs, den interne Whistleblowing-Systeme zunächst in den USA und später auch in Deutschland im Laufe der letzten 30 bzw. 10 Jahre zu verzeichnen haben.86 Während sie hierzulande noch vor einigen Jahren weitgehend unbekannt waren oder abgelehnt wurden,87 sind entsprechende Systeme bzw. einzelne Meldekanäle jedenfalls in Ansätzen in mittlerweile bis zu drei Viertel aller größeren Unternehmen eingeführt worden88 und werden unter 84
Hierzu ab Rn. 243 ff. Zu den diesbezüglichen Auswirkungen des False Claims Act ab Rn. 77 ff.; zum IRS Whistleblower Program Rn. 86 ff.; zum SEC Whistleblower Program als Teil des DoddFrank Act ab Rn. 212 ff. 86 Zu den Hintergründen der Verbreitung von Whistleblowing-Systemen in den USA, deren Einführung spätestens ab dem Jahr 1991 quasi-obligatorischen Charakter einnahm, s. Rn. 100 ff.; zur Verbreitung von Whistleblowing-Systemen im Zuge der Implementierung von § 301 SOX und des Erstarkens der deutschen Compliance-Bewegung unten, Rn. 231 ff. 87 Vgl. nur Weber-Rey, AG 2006, 406, 409 f.; Hoppler, BB 2005, 2623. Die Verbreitung interner Whistleblowing-Systeme wurde in Deutschland überwiegend erst mit dem internationalen Inkrafttreten der Audit-Committee-Whistleblowing Norm des § 301 SOX ab dem 31.07.2005 forciert, wobei gerade anonymen Meldekanälen lange Zeit mit besonderer Skepsis begegnet wurde und z.T. noch immer begegnet wird. S. im Einzelnen ab Rn. 231 ff. bzw. Rn. 239 ff. 88 S. Lars Haffke, Whistleblowing-Systeme – eine gesellschaftsrechtliche Pflicht und ihre praktische Umsetzung, B.Sc. Thesis TU München 2015, abrufbar unter , S. 31, 53, mit 87% Einführungsquote bei Unternehmen ab € 500 Mio. Jahresumsatz bzw. 10.000 Mitarbeitern sowie 71% bei Unternehmen ab 130 Mio. Jahresumsatz bzw. 5.000 Mitarbeitern, allerdings bei einer Rücklaufquote der durchgeführten Umfrage von lediglich 14,7%; Pittroff, WhistleBlowing-Systeme, S. 132 mit 26 Whistleblowing-Systemen in der Gruppe der Dax-30Unternehmen bereits im Jahr 2011 und entsprechendem Scoring-Modell auf Basis öffentlich zugänglicher Informationen zum jeweiligen System; KPMG, Tatort Deutschland – Wirtschaftskriminalität in Deutschland 2016, abrufbar unter https://assets.kpmg.com/ content/dam/kpmg/pdf/2016/07/wirtschaftskriminalitaet-2016-2-KPMG.pdf, S. 32, 34: 65% Einführungsquote der befragten Unternehmen unterschiedlicher Größe ggü. 51% im Jahr 2014. Im Unterschied hierzu kam eine bereits im Jahr 2010 durchgeführte KPMGStudie bzgl. des entsprechenden Verbreitungsgrades in US-Unternehmen unterschiedlicher 85
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anderem vom Deutschen Corporate Governance Kodex (DCGK) als aktuelle „best practice“ anerkannt. 89 Allein aus der quantitativen Zunahme interner Whistleblowing-Systeme lassen sich freilich noch keine unmittelbaren Rückschlüsse auf ihre qualitative Funktionsfähigkeit und Kosteneffizienz ableiten – zumal die Entscheidung zur Einführung eines konkreten Systems auf einer Vielzahl von Motiven beruhen kann, unter denen die effektive Aufdeckung von Rechtsverstößen keineswegs immer dominant sein muss. 90 Um den qualitativen Nutzen internen Whistleblowings bei der Aufdeckung von Rechtsverstößen einschätzen zu können, wurden in den USA eine Reihe von Befragungsstudien durchgeführt, welche – trotz Unterschieden im Detail – zumeist zu dem Ergebnis kommen, dass interne Whistleblower eine entscheidende, wenn nicht gar die wichtigste Quelle der Informationsversorgung eines funktionierenden Compliance-Systems darstellen.91 Mögen die besonGröße auf einen Wert von 87%. KMPG, Global Anti-Bribery and Corruption Survey 2011, abrufbar unter , p. 23. Wiewohl insoweit keine separate Datenaufschlüsselung für größere Unternehmen vorliegt, darf mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit von einem Wert deutlich über 90% ausgegangen werden. 89 Ziff. 4.1.3 S. 3 DCGK in der Fassung v. 07.02.2017, hierzu Rn. 256, Fn. 1951, 1953. 90 Neben originärem Legalitätsinteresse und wirtschaftlich motiviertem Eigeninteresse an der Vermeidung von (Reputations-)Schäden und Strafzahlungen aufgrund externen Whistleblowings können u.a. gesetzliche Pflichten, mittelbar-regulatorische Vorgaben, individuelle Haftungsvermeidung und faktischer „best practice“-Druck eine mindestens ebenso große Rolle spielen. Vgl. unten, Rn. 100 ff., 256 ff.; sowie ferner aus Perspektive der deutschen Beratungspraxis Schemmel/Ruhmannseder/Witzigmann, Hinweisgebersysteme, Kap. 3, Rn. 1 ff. 91 Association of Certified Fraud Examiners (ACFE), 2016 Report to the Nation on Occupational Fraud & Abuse, abrufbar unter , p. 22: 39,1% der 2410 internationalen Korruptions- und Bilanzbetrugsfälle wurden durch „tips“ in starker Abhängigkeit zu existierenden WhistleblowingKanälen (47,3% bzw. 28,2%) aufgedeckt; die Ergebnisse ähneln denen früherer Studien, s. insbes. den einflussreichen ACFE, 2008 Report to the Nation on Occupational Fraud & Abuse, abrufbar unter , p. 22: 54,1% bei 959 untersuchten Fällen). Während nur 4.1% der Verstöße durch externe Audits identifiziert wurden, waren Hinweisgeber zudem für die Aufdeckung von 46,2% der großvolumigen Fälle bzw. von Fällen auf Managementebene verantwortlich (S. 19, 20), wobei als Meldequelle in der Regel Arbeitnehmer in Erscheinung traten (57,7%, S. 23). Die Ergebnisse der Studie bildeten später eine Rechtfertigungsgrundlage für die Whistleblower-Bestimmungen des Dodd-Frank Act (s. Rn. 179); vergleichsweise ausführlich ferner PriceWaterhouseCoopers (PWC), Economic crime: people, culture and controls – The 4th biennial Global Economic Crime Survey (2007), abrufbar unter , p. 10, wonach sich „tipster“ bei einer Befragung von über 5400 internationalen Unternehmen als wichtigste Quelle der unternehmensinternen Kriminalitätsbekämpfung erwiesen (8% Whistleblowing-Hotline, 21% interne Hinweise („tipp-off“), 14% externe Hinweise), wobei sich der Prozentsatz der durch Hotlines aufgeklärten Straftaten auf 14% erhöhte,
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dere Insiderstellung interner Whistleblower und diverse Berichte aus der Praxis diesen Befund zwar stützen, sehen sich solche Befragungsergebnisse hinsichtlich ihrer Objektivität jedoch nicht nur mit mindestens ebenso großen Bedenken konfrontiert wie in anderen Bereichen, 92 sondern werden darüber hinaus von teilweise deutlich weniger enthusiastischen Resultaten anderer Untersuchungen konterkariert. 93 Wiewohl starke Indizien dafür sprechen, dass bereits die Einführung eines formalen Whistleblowing-Kanals die interne Aufdeckungsquote erhöht, dürfte das eigentliche Problem der Aussagekraft empirischer Studien zur Wirksamkeit interner Whistleblowing-Systeme bereits in ihrem generalisierenden Ansatz liegen. 94 Denn wie auch aus Erfahrungen in anderen Regulierungsbereichen bekannt, bestimmt sich die Effektivität unternehmensinterner Compliance weniger an der formalen Umsetzung sofern das Unternehmen selbst seine Hotline als effektiv einstufte (ebd.). Die Studie lässt allerdings (wohl nicht ganz ohne Zusammenhang mit dem Vertrieb der eigenen Dienstleistungen) offen, welcher Anteil der „tipster“ tatsächlich als Whistleblowing i.e.S. bezeichnet werden kann und welche Informationen lediglich das Ergebnis offener Gespräche waren. Insoweit missverständlich Lewis/Brown/Moberly, in: Brown/Lewis/Moberly/Vandekerckhove, Whistleblower Research, ch. 1, p. 23; Kohn, Whistleblower Handbook, xvii-xviii; zur Situation in deutschen Unternehmen aktuell PWC, Wirtschaftskriminalität in der analogen und digitalen Wirtschaft 2016, abrufbar unter , S. 43: 8% Aufdeckungsquote durch Whistleblowing-Systeme, 39% durch interne Hinweise sowie tendenziell steigende Effizienzeinschätzung der Systeme durch die befragten Unternehmen selbst (ebd., S. 23: 27% bzw. 39% bei allgemeinen bzw. wettbewerbsrechtsspezifischen ComplianceSystemen). Vgl. zur besonderen Bedeutung des internen Whistleblowings aus den USA ferner die zahlreichen Stellungnahmen i.R.d. Dodd-Frank Act (Fn. 1498), allerdings mit ähnlichen Objektivitätsdefiziten (s. ebd.). 92 Zur Aussagekraft von Befragungsstudien hinsichtlich persönlicher Merkmale von Whistleblowern bereits Rn. 9. 93 Vor allem das Verhältnis zwischen internen Hinweisen i.w.S. und der eigenständigen Relevanz durchschnittlicher Whistleblowing-Systeme wurde je nach Studie z.T. etwas ernüchternder bewertet. Vgl. die internationale Befragungsstudie von Bussman/Werle, 46 Brit. J. Criminol. 1128, 1134 f., fig. 2 (2006), wonach zwar 18% der untersuchten Wirtschaftsstraftaten durch internen Hinweis („tip-off“) aufgedeckt wurden, hingegen nur 4% i.R.v. Whistleblowing-Systemen; ähnlich für Deutschland noch PWC, Wirtschaftskriminalität und Unternehmenskultur 2013, abrufbar unter , S. 83 mit ebenfalls 4% Aufdeckungsquote durch WhistleblowingSysteme; insofern krit. zur empirischen Validierung der Effizienz interner WhistleblowingSysteme Pfeifle, Anreize für Whistleblower, S. 65 f. 94 Genau genommen kommt den o.g. Befragungen bereits an sich keine Aussagekraft für die Effektivität und Effizienz von Whistleblowing-Systemen zu, da sie regelmäßig sämtliche, auch nicht institutionalisierte Formen internen Whistleblowings erfassen und ihnen keine gesicherten Daten über das relative Aufkommen qualitativ verwertbarer Meldungen vor und nach Einführung bestimmter Whistleblowing-Maßnahmen zugrunde liegen.
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bestimmter Compliance-Elemente, sondern vor allem am konkreten Umsetzungswillen des Unternehmens. Fehlt es hingegen an entsprechendem Eigeninteresse und Mitteleinsatz, korrespondiert der durch die außenwirksame Umsetzung standardmäßiger Empfehlungen der Compliance-Industrie erzeugte Schein nur selten mit der real existierenden Situation innerhalb des jeweiligen Unternehmens (sog. „window dressing“). 95 Gerade für die effiziente Nutzung von Whistleblower-Wissen ist eine Vielzahl (teilweise schwer messbarer) Faktoren entscheidend, namentlich eine Whistleblowingfreundliche Unternehmenskultur, entsprechende Schutz- und Verfahrensstandards sowie eine hinreichende Ausstattung und Kooperationsfähigkeit der entgegennehmenden Stelle. 96 Auch auf Basis dieser Erfahrungswerte setzt das US-amerikanische Whistleblowing-Recht gerade in der jüngeren Vergangenheit weniger auf direkt-regulatorische Pflichtvorgaben97 und vermehrt auf mittelbare Anreize zur Verbesserung sowohl der Nutzung des internen als auch des externen Whistleblowings.98 Die Ursachen, Folgen und rechtsgebietsübergreifenden Wechselwirkungen dieses Ansatzes werden im Rahmen dieser Arbeit ebenso untersucht wie seine Fernwirkungen und dogmatischen Unterschiede mit Blick auf das deutsche Recht. Abgesehen davon, dass der Fokus der hiesigen Darstellung bei alledem dennoch stets ein rechtswissenschaftlicher ist, sei aber bereits an dieser Stelle angemerkt, dass nicht zuletzt die rechtsethisch komplexe Natur des Whistleblowings kaum Grund zu der Annahme gibt, dass eine (rein) rechtsökonomische Analyse dem Phänomen in all seinen Einzelheiten gerecht werden könnte.99
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Hierzu insbes. Krawiec, 81 Wash. U. L. Q. 487, 510 et seq. (2003) mit einer Auswahl einschlägiger Studien; sowie zur bis heute nicht nachgewiesenen Wirksamkeit der (bloßen) Einführung von Ethikkodizes die Meta-Studie von Kaptein/Schwartz, 77 J. Bus. Ethics 111, 113 (2008) mit durchwachsenen bzw. widersprüchlichen Resultaten. 96 Zu den entsprechenden Hauptmotiven und -sorgen von Whistleblowern oben, Rn. 7 f.; zur Bedeutung personellen Komponente bei der Whistleblowing-Administration allgemein Moberly, 64 S.C. L. Rev. 1, 53–54 (2012) („people matter as much as provisions“) im Zusammenhang mit dem Sarbanes-Oxley Act von 2002 (hierzu Rn. 164 ff.). 97 Der Fokus der rechtlichen und rechtspolitischen Diskussion in Deutschland liegt demgegenüber eher auf bereichsspezifischen Compliance-Vorschriften und gesellschaftsrechtlichen Organpflichten, s. unten ab Rn. 256 ff. 98 S. u.a. unter Rn. 82 ff., 100 ff., und 184 ff. sowie überblicksartig Blount/Markel, 17 Fordham J. Corp. & Fin. L. 1023, 1042 et seq. (2012) im Zusammenhang mit dem DoddFrank Act von 2010. Eine wesentliche Ausnahme von diesem Grundsatz bildet freilich das Audit-Committee-Whistleblowing des § 301 SOX, zu den Gründen i.E. ab Rn. 139 ff. 99 Man denke insoweit nur an die zahlreichen, nur schwerlich quantifizierbaren Folgen des Whistleblowings für Unternehmenskulturen und seine moralischen Implikationen für gesellschaftliche Loyalitätsbeziehungen im Ganzen.
Kapitel 2:
Entwicklungsgeschichte, Status quo und rechtstatsächliche Funktionsweise des Whistleblowings in den USA Kapitel 2: Whistleblowing in den
USA
A. Historische Marksteine und dogmatische Weichenstellungen in der Entwicklung des Whistleblowing-Rechts A. Historische Marksteine und Weichenstellungen
I. „Im Namen des Königs“ – Die Wurzeln und Lehren der ersten US-amerikanischen Whistleblowing-Normen 1. Der False Claims Act 1863 als Produkt des US-amerikanischen Bürgerkrieges Bei der Betrachtung des Status quo des US-amerikanischen WhistleblowingRechts kommt man nicht umhin, die aus deutscher wie europäischer Perspektive staunenswerte Anzahl Whistleblowing-spezifischer Gesetze, Normen und Urteile festzustellen. Allein auf Bundesebene existieren mittlerweile weit über fünfzig arbeitsrechtliche Whistleblowing-Normen und eine Reihe unterschiedlichster Verwaltungsrechtsbestimmungen, 100 übertroffen nur noch von einer sogar weit größeren Zahl einschlägiger Gerichtsentscheidungen und Verfahrensdokumente.101 Die Stärkung der Rechte von Whistleblowern, so scheint es, ist seit Jahrzehnten eine der primären Zielvorgaben von Gesetzgebung und Rechtsprechung, induziert und begleitet durch die Vorliebe der USamerikanischen Öffentlichkeit für die Heldengeschichten einzelner mutiger Frauen und Männer.102 Blickt man allerdings am mittlerweile über 150 Jahre 100
Hierzu ab Rn. 33 ff., Nachw. insbes. in Fn. 229 ff. So gehen bereits die im Rahmen der inhaltlichen Grenzen dieser Arbeit untersuchten höchst- und instanzgerichtlichen Urteile in die Hunderte, hinzu kommt eine ebenso große Zahl verwaltungrechtlicher bzw. verwaltungsgerichtlicher Verfahren und Einzelentscheidungen. Vgl. nur Rn. 43 ff. m.w.N. zum „public policy“-Schutz in Fn. 338. 102 Im Ausland ist vor allem die Ernennung der drei Whistleblowerinnen Sherron Watkins, Cynthia Cooper und Coleen Rowley zur Time Magazine „Person of the Year“ im Jahr 2002 auf besondere Aufmerksamkeit gestoßen. S. Time Magazine, Special Issue “Persons of the Year”, Dec. 30, 2002, Onlineversion abrufbar unter ; hierauf in der deutschsprachigen Literatur verweisend statt vieler Groneberg, Whistleblowing, S. 77 f.; Schulz, Ethikrichtlinien 101
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Kapitel 2: Whistleblowing in den USA
langen Zeitstrahl der Geschichte des Whistleblowing-Rechts entlang, offenbart sich ein in mancherlei Hinsicht komplexeres, in vielerlei Hinsicht pragmatisch motiviertes und in mehrerlei Hinsicht rechtssystematisch prädeterminiertes Regulierungsbild, dessen Anlagen und Optimierungsprozesse bis heute für die USA und darüber hinaus von nachhaltiger Bedeutung sind. Die Hintergründe dieser Entwicklung, ihre Bedeutung für die Entstehung des Whistleblowing-Rechts als integraler Bestandteil der US-amerikanischen Rechtskultur und ihr fortwährender Einfluss auf Erfolge, Fehlschläge und Eigenarten des Rechts der Whistleblower sind Gegenstand der folgenden Ausführungen. Als erster Markstein dieser Entwicklung und rechtspolitischer Ausgangspunkt der Indienststellung externen Whistleblowings als Instrument der Rechtsdurchsetzung lässt sich der „False Claims Act“ von 1863 ausmachen.103 Der Ursprung dieses in seiner heutigen Form noch außerordentlich einflussreichen Gesetzes104 liegt in einer Vielzahl von Betrugsfällen zulasten und Whistleblowing, S. 23, Fn. 18; Simonet, Interne Whistleblowing-Systeme, S. 20 f.; Pfeifle, Anreize für Whistleblower, S. 41 f., Sänger, Whistleblowing in der AG, S. 26; Ledergerber, Whistleblowing, S. 10 f. Vgl. in diesem Zusammenhang ferner die öffentlichkeitswirksamen Einzelfälle aus Film und Fernsehen bei Glazer/Glazer, The Whistleblowers, p. 9 et seq.; sowie die Darstellungen in Fn. 233. 103 Act of March 2, 1863, 27th Cong., 3d Sess., ch. 67, 12 Stat. 696–99; heutzutage 31 U.S.C. §§ 3729–3733. Da die entsprechenden Originalbestimmungen des FCA in Deutschland nur schwer zugänglich sind, wurden sie dieser Arbeit als Appendix A1 angefügt. Anstelle der heute offiziellen Bezeichnung „False Claims Act“ findet sich in älteren Entscheidungen zumeist nur die Beschreibung „Act of March 2, 1863“, vereinzelt auch als „Informer’s Act“, vgl. U.S. ex rel. Rodriguez v. Weekly Publications, 144 F.2d 186, 188 (2d Cir. 1944); U.S. ex rel. Sherr v. Anaconda Wire & Cable Co. Eyeglasses, 57 F. Supp. 106, 109 (S.D.N.Y. 1944). Die in Teilen der US-amerikanischen Literatur populäre Bezeichnung als „Lincoln Law“ dürfte dementgegen hauptsächlich auf einer Fehlinterpretation der Rolle Präsident Lincolns bei der Entstehungsgeschichte des Gesetzes zurückzuführen sein (s. Fn. 111, die Bezeichnung in der deutschen Rezeption übernehmend etwa Kölbel, JZ 2008, 1134, 1136). Für die faktische Indienststellung von Bürgern durch staatliche Belohnungen ließen sich wiederum noch weitere historische Vorläufer ausmachen. Man denke nur an die gerade für die Anfangsjahre der USA geradezu ikonographischen Kopfgeldjäger („bounty hunters“) – ein Begriff, der heute (nicht selten pejorativ) auch in nicht wenigen Beiträgen zum Whistleblowing Verwendung findet. Vgl. statt vieler Fisher/Harshman/Gillespie/Ordower/Ware/Yeager, 19 Dick. J. Int'l L. 117, 136 et seq. (2000). 104 Zur heutigen Bedeutung des FCA und seinem Einfluss auf den Dodd-Frank Act, siehe Rn. 77 ff., 181 ff.; ferner Modesitt/Schulman/Westman, Retaliatory Discharge, ch. 1, p. 3 et seq., die ihren Ausführungen ebenfalls den FCA voranstellen. Es sei allerdings bereits an dieser Stelle erwähnt, dass es sich bei der Entwicklung des Whistleblowings in den USA nicht um eine lineare Dogmengeschichte mit einem eindeutigen legislativen Anfangspunkt handelt, sondern vielmehr um einen fließenden, rechtskulturellen Prozess, der sich auf verschiedenen gesetzlichen Ebenen unterschiedlich ausgewirkt hat. So ist der FCA streng genommen nur der dogmatische Vorläufer des finanziell inzentivierten Whist-
A. Historische Marksteine und Weichenstellungen
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der Nordstaaten in der Mitte des US-amerikanischen Bürgerkrieges der Jahre 1861 bis 1865. Während die Unionisten ihren Bedarf an Kriegsmaterialien zu Anfang des Krieges noch durch geordnete Ausschreibungen decken konnten, zwangen Ausmaß und Dauer der Auseinandersetzung sie schon relativ bald, immer größere Materialchargen durch kurzfristige Notankäufe von privaten Bürgern zu erwerben.105 Als Konsequenz dieser Entwicklung entstand ein idealer Nährboden für Opportunisten aller Art, welche durch den Verkauf minderwertiger Waren an die Regierungstruppen zum Teil astronomische Gewinnspannen erzielen konnten. 106 Ermöglicht wurden die zahlreichen Betrugsfälle offenbar nicht zuletzt durch kollusives Zusammenwirken der Verkäufer mit korrupten Militärbeamten, deren Interesse an einer Verbesserung der Ankaufbedingungen zugunsten der Regierung dementsprechend begrenzt war.107 Durch den hohen Bedarf an Kriegsmaterialien und anderen kriegsnotwendigen Gütern erstreckte sich die auf Fehleinkäufen beruhende mangelhafte Ausstattung der Truppen im Laufe der Zeit auf einen großen Teil aller erdenklichen Materialien unter Ausnutzung der verschiedensten Methoden. 108 Um die Lage mit den Worten eines zeitgenössischen Zeitungsartikels zusammenzufassen: „For sugar [the Government] often received sand; for coffee, rye; for leather, something no better than brown paper; for sound horses and mules, spavine beasts and dying donkeys; and for servicable muskets and pistols, the experimental failures of sanguine inventors, or the refuse of shops and foreign armories.“109 Hierdurch standen die Nordstaaten vor einem erhebleblowings, wie es sich heutzutage etwa im Dodd-Frank Act findet, und bildet auch innerhalb dieses Regulierungsfeldes als eigenständiges Privatklagesystem („private enforcement“) eine Ausnahme. Nichtsdestotrotz sind die rechtskulturelle Pionierleistung wie auch die aktuelle praktische Relevanz des FCA kaum zu unterschätzen, so dass seine analytische Bedeutung für die Ursprünge des Whistleblowings deutlich über einen rein exemplarischen Wert hinausgeht. 105 Ausführlich bei Nagle, A History of Government Contracting, p. 181 et seq. (1992); Kurzfassung u.a. bei Slade/Leneis, 70 False Cl. Act and Qui Tam Q. Rev. xviii (2013). 106 Vgl. den Untersuchungsbericht in H.R. Rep. No. 49, 37th Cong., 3d Sess. 5 (1863); ferner Cong. Globe, 37th Cong., 3d Sess. 952 (1863) (Sen. Howard): „The country, as we know, has been full of complaints respecting the frauds and corruptions practiced in obtaining pay from the Government during the present war […] and I suppose that there can be no doubt that these complaints are, in the main, well founded.“ 107 Vgl. Cong. Globe, 37th Cong., 3d Sess. 952 (1863) sowie Secion 1 des finalen Act of March 2, 1863, 27th Cong., 3d Sess., ch. 67, 12 Stat. 696, der sich hauptsächlich an Militärangehörige und die sie betreffenden Folgen von Verstößen richtet. 108 Hierzu zählten etwa der mehrfache Wiederverkauf von bereits der Regierung gehörenden Nutztieren, der Verkauf von alten, nur äußerlich wiederhergestellten Schiffen als Neuware, die Verwendung minderwertiger Materialien bei der Herstellung von Bekleidungsbedarf für Soldaten oder schlicht das Befüllen vermeintlicher Schwarzpulverfässer mit Sägespänen, s. etwa Helmer, 81 U. Cin. L. Rev. 1261, 1264–65 (2013) m.w.N. 109 Tomes, Fortunes of War, 29 Harper’s Monthly Mag. 228 (1864), zitiert in Shannon, The Organization and Administration of the Union Army, 1861–65, p. 55–56, 58 (1965).
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Kapitel 2: Whistleblowing in den USA
lichen Dilemma: Zum einen war das Ausmaß der tatsächlichen finanziellen und menschlichen Verluste ebenso hoch wie strategisch schmerzhaft. Zum anderen verfügten die jungen und administrativ ohnehin vergleichsweise schwach konstituierten Vereinigten Staaten angesichts des mittel- und personalbindenden Sezessionskrieges nicht über die erforderlichen Exekutivmittel, um der Problematik durch flächendeckende Kontrollen und Strafverfolgung eigenständig Herr zu werden, hatte der Bürgerkrieg doch ohnehin schon zu einer bis dahin nicht gekannten Ausweitung der Aufgaben des Federal Government geführt.110 Der damalige Vorsitzende des Committee of Government Contracts und einer der entschiedensten Korruptionsgegner seiner Zeit, der Kongressabgeordnete Charles H. Van Wyck, fasste die Stimmung vieler Regierungsmitarbeiter und Parlamentarier daher folgendermaßen zusammen: „Worse than traitors in arms are the men who pretend loyalty to the flag, feast and fatten on the misfortunes of the nation while patriotic blood is crimsoning the plains of the south and their countrymen are moldering in the dust.”111 In der Folge bildete sich eine Mehrheit im Kongress, deren späteres Gesetzesvorhaben sich zur Lösung des Problems eines Instruments mit Wurzeln im britischen Common Law bedienen sollte: die sog. „qui tam actions“. Der Begriff „qui tam“ ist eine Kurzform des Ausdrucks „qui tam pro domino rege quam pro se ipso in hac parte sequitur,“ also „jener, der sowohl im Namen des Königs wie auch für sich selbst klagt.“ 112 Die „qui tam actions“ entstanden im England des 13. Jahrhunderts und dienten auch dort schon der mehr oder minder flächendeckenden Kompensation mangelnder polizeilicher
110 Sylvia, Fraud Against the Government, § 2:6 m.w.N.; Boese, False Claims Vol. 1, § 1.01[A] insbes. mit Hinweis auf das Fehlen eines echten Justizministeriums; Haron/Dordeski/Lahmann, 88 Mich. B.J. 22, 23 (2009). 111 H.R. Rep. No. 50, 37th Cong., 3d Sess 1, 47 (1862) (Minority Report Rep. Van Wyck). Das auch heute noch häufig verwendete Zitat stammt daher nicht von Abraham Lincoln höchstpersönlich, auch wenn dies heutzutage oft behauptet wird (statt vieler Haron/Dordeski/Lahmann, 88 Mich. B.J. 22 (2009); Johnson, Whistleblowing, p. 94. Dieses Missverständnis mag zu der in der US-amerikanischen Literatur und Öffentlichkeit gängigen Bezeichnung des FCA als „Lincoln Law“ und damit der retrospektiven Popularität des FCA beigetragen haben, entspricht allerdings nicht historischen Tatsachen. Die Behauptung, Präsident Lincoln hätte den FCA gestiftet und für die Einführung der „qui tam“-Provisionen gesorgt (vgl. etwa Callahan/Dworkin, 37 Vill. L. Rev. 273, 302, note 112 (1992) ist so jedenfalls nicht haltbar. Zum entscheidenden Beitrag Van Wycks bei der Entstehung des False Claims Act eingehend Slade/Leneis, 70 False Cl. Act and Qui Tam Q. Rev. xviii (2013); anders aus der deutschen Literatur Pfeifle, Anreize für Whistleblower, S. 186, Fn. 844, wonach angeblich der Sen. Jacob M. Howard der wichtigste Sponsor des Gesetzes gewesen sei. 112 S. Black’s Law Dictionary, p. 1444, dort übersetzt mit „who as well for the king as for himself sues in the matter“.
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Durchsetzungskraft.113 Der Grundgedanke des „qui tam“-Systems war es, jedem Untertanen, der Zeuge eines Rechtsverstoßes geworden war („common informer“) über eine besondere Form der Prozessstandschaft das Recht zuzubilligen, Rechtsnormen – insbesondere auch Strafgesetze – , die eigentlich allein dem öffentlichen (bzw. königlichen) Interesse dienten, mittels Privatklage vor den Royal Courts zur Anklage zu bringen.114 Um das öffentliche Interesse der Rechtsdurchsetzung mit den privaten Interessen des Staates auch in jenen Fällen in Einklang zu bringen, in denen der Informant nicht persönlich betroffen war, schuf man für den Informanten einen finanziellen Eigenanreiz, die Tat anzuzeigen und als eigene Angelegenheit 115 zu verfolgen: Anstatt den Angeklagten zu verurteilen, die jeweilige Strafzahlung allein an die öffentlichen Kassen zu leisten, wurde ein Teil des Betrags dem Informanten zugesprochen, durch dessen Anstrengungen die Verurteilung ermöglicht worden war.116 Durch diese Bündelung von privaten und öffentlichen 113 Vgl. zu diesen Wurzeln die Ausführungen des U.S. Supreme Court im Rahmen einer historischen Auslegung des FCA im Fall Vermont Agency of Natural Resources v. United States ex rel. Stevens, 529 U.S. 765, 774 et seq. (2000) sowie ausführlich Beck, 78 N.C. L. Rev. 539, 565 (2000) mit den Ursachen des Bedeutungsverlustes der „qui tam actions“ in England sowie die Anmerkung in Note, 1972 Wash. U. L. Q. 81, 83 et seq. (1972) mit Nachweisen zu den einzelnen Statuten und Klageformen. 114 Die wohl authentischste, heute noch verfügbare Darstellung des „qui tam“-Systems findet sich in den einflussreichen Kommentaren von Sir William Blackstone zum englischen Recht aus dem 18. Jahrhundert im III. Buch über „Private Wrongs“, 3 Blackstone, Commentaries (1765–1769), ch. 9, p. 161: „[…] these statutes gave forfeitures to any common informer; or, in other words, to any such person or persons as will sue for the same; and hence such actions are called popular actions, because they are given to the people in general. Sometimes one part is given to the king, to the poor, or to some public use, and the other part to the informer or prosecutor: and then the suit is called a qui tam action, because it is brought by a person “qui tam pro domino rege, & c, quam pro se ipso in hac parte sequitur.” If the king therefore himself commences this suit, he shall have the whole forfeiture. But if any one hath begun a qui tam or popular action, no other person can pursue it: and the verdict passed upon the defendant in the first suit is a bar to all others, and conclusive even to the king himself.“ 115 Die „Privatisierung“ der Strafverfolgung ging hierbei sogar soweit, dass das durch den „qui tam“-Kläger erwirkte Urteil eine weitere Strafverfolgung durch öffentliche Behörden nach dem Grundsatz ne bis in idem verhinderte, vgl. Fn. 114 a.E. Zu den interessanten Randnotizen dieses Systems zählt es, dass die „qui tam actions“ von findigen Untertanen offenbar regelmäßig dazu missbraucht wurden, befreundete Straftäter möglichst noch vor den Behörden des Königs anzuklagen, um dann durch Kollusion mit dem Täter ein mildes Urteil zu erwirken und ihn vor weiterer Strafverfolgung zu schützen, s. 3 Blackstone, Commentaries (1765–1769), ch. 9, p. 161. 116 Blackstone, Commentaries (1765–1769), ch. 9, p. 161; Note, 1972 Wash. U. L. Q. 81, 88 (1972) mit Gesetzes- und Urteilsnachweisen. Dass den Rechtsgelehrten der Zeit der pragmatisch motivierte Spagat zwischen privaten und öffentlichen Rechtsinteressen im Übrigen durchaus bewusst war, zeigt sich etwa an dem Einordnungsversuch Blackstones, Commentaries (1765–1769), ch. 9, p. 160, der in der Verletzung von Strafgesetzen gleich-
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Interessen entwickelte sich (teilweise bis in das 19. Jahrhundert hinein) ein effektiver Nebenarm der Strafverfolgung, der in England endgültig erst im Zuge der Professionalisierung des Polizeiwesens einer zunehmenden Skepsis gegenüber finanziell motivierten Privatklagen der „common informer“ wich.117 Die britischen Kolonien Nordamerikas und späteren Vereinigten Staaten wiederum hatten die Idee der finanziellen Inzentivierung von privaten Informanten über den „qui tam“-Mechanismus allerdings schon zuvor übernommen und spätestens seit Ende des 17. Jahrhunderts zur Überbrückung eigener Vollzugsdefizite genutzt. 118 Historisch nicht eindeutig geklärt werden kann allerdings, ob die in nicht wenigen Gesetzen zu findenden „qui tam“Bestimmungen die Bürger in den USA nur zum Erhalt einer Belohnung oder auch zur eigenständigen Anklage des Täters vor Gericht berechtigten. 119 Zudem spricht einiges dafür, dass die Bedeutung der „qui tam“-Statute auch in den USA im 19. Jahrhundert bereits deutlich abgenommen hatte.120 Nichtsdestotrotz diente die Tradition der „qui tam actions“ als willkommene Blaupause, um dem grassierenden Problem des Regierungsbetrugs bei der Beschaffung von Kriegsmaterialien Herr zu werden. Zu Beginn des Jahres 1863 wurde daher auf eiliges Drängen von Beamten der Verteidigungs- und Finanzministerien der „False Claims Act (FCA)“ eingebracht.121 Die historischen Erfahrungen mit „qui tam“-Mechanismen in
zeitig eine Verletzung des unter allen Bürgern geschlossenen Gesellschaftsvertrags („fundamental contract of society“) erblicken wollte und mit dieser Begründung den „qui tam“Anspruch mit Ansprüchen aus vertraglicher Pflichtverletzung gleichsetzt. Auch wenn dieser Harmonisierungsansatz gewagt wirken mag, setzte sich die Konzeption der „qui tam“-Belohnung als persönlicher Schuldklage gegen den Verurteilten auch im Folgenden durch, vgl. etwa Chief Justice Marshall in Adams v. Woods, 6 U.S. 336, 338 (1805): „An action of debt qui tam, is a civil, and not a criminal process.“ 117 Im Einzelnen Beck, 78 N.C. L. Rev. 539, 565 (2000) mit Belegen für negative Tendenzen in der „qui tam“-Praxis, aus reinem Gewinninteresse u.a. vorschnelle Klagen zu erheben, sowie dem einhergehenden moralischen Ansehensverlust der Informanten in den Augen des Gesetzgebers. 118 Vermont Agency of Natural Resources v. United States ex rel. Stevens, 529 U.S. 765, 776 (2000) mit Verweis auf den Act for the Restraining and Punishing of Privateers and Pirates, 1st Assembly, 4th Sess. (N.Y. 1692), nachgedruckt in 1 Colonial Laws of New York 279, 281 (1894). Die außerstatuarische Anwendung des „qui tam“-Prinzips vor dieser Zeit als Teil des Common Law darf als wahrscheinlich gelten, Belege finden sich hierfür allerdings nicht. 119 Dies annehmend Sylvia, Fraud Against the Government, § 2:5; a.A. Justice Smith in Riley v. St. Luke’s Episcopal Hosp., 252 F.3d 749, 773 (5th Cir. 2001). 120 Vgl. Note, 1972 Wash. U. L. Q. 81, 99–100 (1972); Riley v. St. Luke’s Episcopal Hosp., 252 F.3d 749, 774 (5th Cir. 2001). 121 Zur Debattengeschichte: Cong. Globe, 37th Cong., 3d Sess. 348 (1863), eingebracht von Sen.Wilson, kurze Zeit später auf Antrag des federführenden Sen.Howard diskutiert im Rahmen des Committee of the Whole, Cong. Globe, 37th Cong., 3d Sess. 952 et seq.
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anderen Gesetzen und die Dringlichkeit des Themas für die Kriegsbemühungen der Nordstaaten bewirkten, dass weder der finanziellen Inzentivierung von Informanten noch der Idee der privaten Rechtsdurchsetzung nennenswerter Widerstand im Kongress entgegengebracht wurde.122 Stattdessen herrschte ein im zeitlichen Kontext verständlicher und für die US-amerikanische Debatte typischer Pragmatismus, den einer der Senatoren mit folgenden Worten besonders anschaulich zum Ausdruck brachte: „In short, sir, I have based [the qui tam provisions] on the old-fashioned idea of holding out a temptation, and “setting a rogue to catch a rogue,” which is the safest and most expedious way I have ever discovered of bringing rogues to justice.“ 123 Demgemäß richtete sich das Gesetz auch nicht nur an jene potentiellen Informanten, die sich selbst nichts zu Schulden hatten kommen lassen, sondern explizit gerade auch an Mittäter oder Mitwisser eines Betrugs. 124 Bereits kurze Zeit nach seiner offiziellen Einbringung und dreier parlamentarischer Lesungen trat der False Claims Act am 2. März 1863 in Kraft. 125 Neben der strafrechtlichen Sanktionierung126 jeglicher bewusster Geltendmachung unberechtigter Zahlungsansprüche gegen die Regierung („false claims“) 127 mussten private Vertragspartner nun mit einem zivilrechtlichen Strafschadensersatz in doppelter Höhe des nachweisbar entstandenen Schadens sowie einer zusätzlichen Zah-
(1863); in kurzen Auszügen u.a. dargestellt bei Sylvia, Fraud Against the Government, § 2:6; Helmer, 81 U. Cin. L. Rev. 1261, 1265–66 (2013). 122 Das Committee of the Whole befasste sich ganz im Gegenteil fast ausschließlich mit der von den Senatoren Wilson und Howard geplanten Unterstellung privater Vertragspartner unter das Kriegsrecht, was zum Teil deutliche Kritik sowohl aus rechtspolitischen wie auch verfassungsjuristischen Gründen hervorrief. Ausdrückliches Ziel dieser Idee war es, das verfassungsrechtliche Recht der Angeklagten auf einen „jury trial“ weitestgehend einzuschränken und so die Verurteilungsquote zu erhöhen (vgl. Sen. Howard Cong. Globe, 37th Cong., 3d Sess. 955 (1863). Der entsprechende Absatz wurde schlussendlich gestrichen, nachdem sich die Ansicht durchgesetzt hatte, dass das Problem einer möglichen Anwendung des Kriegsrechts auf Vertragspartner des Militärs bereits in einem früheren Gesetz behandelt worden war (p. 956). 123 Sen. Howard, Cong. Globe, 37th Cong., 3d Sess. 956 (1863). 124 Act of March 2, 1863, 27th Cong., 3d Sess., ch. 67, 12 Stat. 696, sec. 4. 125 Cong. Globe, 37th Cong., 3d Sess. 958 (1863); Act of March 2, 1863, 27th Cong. 3d Sess., ch. 67, 12 Stat. 696. 126 Die Strafe für Privatpersonen außerhalb der Streitkräfte betrug hierbei ein bis fünf Jahre Freiheitsstrafe oder 1.000-5.000 Dollar Geldstrafe, 12 Stat. 698, sec. 3. 127 Der Act definiert einen „false claim“ in diesem Zusammenhang als „any claim upon or against the Government of the United States […] to or by any person or officer in the civil or military service of the United States [while] knowing such claim to be false, fictitious, or fraudulent“, 12 Stat. 697. Der Act versucht in sec. 2 darüber hinaus durch die detail- und wortreiche Erfassung verschiedenster Beihilfe und Durchführungshandlungen möglichst jegliches Betrugsverhalten zu erfassen und Strafbarkeitslücken zu vermeiden.
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lung von 2.000 US-Dollar pro Verletzungshandlung rechnen. 128 Zur Durchsetzung dieser Bestimmung wurde neben der Regierung jedem Bürger mittels „qui tam“-Mechanismus das Recht eingeräumt, Verdächtige im Namen der Vereinigten Staaten anzuklagen und vor Gericht ihre Verurteilung zu erwirken.129 Im Erfolgsfall wurde dem Informanten jeweils der halbe Betrag des Strafschadensersatzes und der Zusatzzahlung garantiert, zuzüglich einer Erstattung der ihm entstandenen Kosten. 130 Durch diese für die damalige Zeit erheblichen Summen wurde zum einen ein entsprechender Abschreckungseffekt für potentielle Betrüger erzielt, zum zweiten ein bemerkenswerter finanzieller Anreiz für potentielle Informanten generiert und zum dritten durch die hälftige Aufteilungsregel sichergestellt, dass dem Staat in jedem Fall ein (einfacher) Schadensersatz sowie eine Zahlung von mindestens 1.000 USDollar zustanden. Auf diese Weise konnten sich die „qui tam“-bedingten Ausgaben nicht im Ergebnis negativ auf den ohnehin angestrengten Haushalt auswirken.131 In der Zeit nach seinem Inkrafttreten entwickelte sich der False Claims Act von 1863 schnell zu einem erfolgreichen Mittel zur Behebung staatlicher Informations- und Verfolgungsdefizite.132 Auch wenn der Act selbst den unmittelbaren Bedürfnissen des Bürgerkrieges geschuldet war, beschränkte 128
12 Stat. 698, sec. 3. Der zivile Strafschadensersatz konnte sich gerade bei mehreren Verletzungshandlungen bemerkenswerterweise also deutlich über der strafrechtlichen Sanktion einfinden. Nichtsdestotrotz war (und ist) die Kompensation bereits erlittener Verluste des Staates und nicht die Bestrafung der Täter die zentrale Basis der privaten Rechtsverfolgung. Tendenziell anders in der deutschen Rezeption etwa Kölbel, JZ 2008, 1134, 1136 f., der in einem angeblich 1986 eingeführten Strafcharakter den Hauptzweck und Effekt der Norm erblickt. Zu den Gründen und Folgen der False Claims Act Amendments von 1986 unten, Rn. 67 ff. 129 12 Stat. 698, sec. 4. Anstelle einer ausdrücklichen Erwähnung des Begriffs „qui tam“ enthält der Act allerdings eine sinngemäße Übersetzung: „Such suit may be brought and carried on by any person, as well for himself as for the United States.“ „Any person“ war hierbei durchaus wörtlich gemeint und erfasste zur Effektuierung der Betrugsbekämpfung sogar explizit die ohnehin schon qua Aufgabenbereich zuständigen district attorneys (12 Stat 698, sec. 5), denen damit ein zusätzliches (Privat-)Klagerecht gewährt wurde. 130 12 Stat. 698, sec. 6: „[T]he person bringing said suit and prosecuting it to final judgment shall be entitled to receive one half the amount of such forfeiture, as well as one half the amount of the damages he shall recover and collect; and such person shall be entitled to receive to his own use all costs the court may award against the defendant […]“ 131 Einen ähnlichen Effekt sollten viele Jahre später auch die bußgeldabhängigen Belohnungsanteile staatlicher Whistleblower-Programme erzielen. Vgl. ab Rn. 82 ff. 132 Ebenso Helmer, 81 U. Cin. L. Rev. 1261, 1267 (2013); a.A. Lovitt, 49 Stan. L. Rev. 853, 856 (1997) mit Verweis auf die vergleichsweise geringe Anzahl gemeldeter Fälle; dagegen mit Recht Sylvia, Fraud Against the Government, § 2:6 unter Einordnung der gemeldeten Fallzahlen in den Rahmen der Zeit; jedenfalls skeptisch wiederum Boese, False Claims Vol. 1, § 1.01[A]; noch optimistischer als hier Johnston, 68 Vand. L. Rev. 1163, 1170 (2015): „extraordinarily effective“, allerdings ohne weitere Belege.
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sich der Anwendungsbereich ausdrücklich nicht allein auf Täuschungen im Zusammenhang mit der Beschaffung kriegsrelevanter Materialien durch die zuständigen Armeestellen und Ministerien. 133 Vielmehr erfasste er nahezu sämtliche Formen finanzieller Übervorteilungen des Federal Government durch „false claims“, was wiederum dazu führte, dass das Gesetz nicht etwa mit Ende des Krieges bereits obsolet geworden wäre. Ganz im Gegenteil handelten spätere Fälle von verschiedensten „falschen Zahlungsansprüchen“ in unterschiedlichen Situationen, am häufigsten aber nach wie vor von der Lieferung minderwertiger Waren durch private Unternehmer im Rahmen öffentlicher Beschaffungsverträge.134 Die direkte Beteiligung privater Informanten an der Rechtsdurchsetzung wurde hierbei von den meisten Gerichten nicht als notwendiges Übel oder gar Eingriff in das staatliche Gewaltmonopol verstanden, sondern bisweilen sogar als äußerst willkommene, weil gewinnorientiert-effiziente und hierdurch der staatlichen Rechtsdurchsetzung sogar überlegene Form der Rechtsdurchsetzung angesehen. 135 2.
Die False Claims Act Amendments von 1943 und ihre Folgen
Ausgerechnet dieser vermeintliche Vorteil des ursprünglichen False Claims Act sollte sich allerdings nach einiger Zeit als seine Achillesverse herausstellen und zu einer folgenschweren Gesetzesänderung im Jahr 1943 führen, die den Einfluss des FCA auf die Entwicklung des Whistleblowing-Rechts in den USA für einige Jahrzehnte erheblich reduzieren sollte. Hauptursache dieses Wandels war, dass der finanzielle Anreiz, den man durch das Gesetz ja gerade zur Bekämpfung findiger Geschäftemacher nutzbar machen wollte, von einigen Personen mit eben jenem gelobten Hang zum finanziellen Opportu133 S. die extensive Bestimmung in 12 Stat. 697, sec. 1 unter Einschluss des „civil service of the United States“. 134 Vgl. U.S. v. Jennison, 26 F. Cas. 608, 608–9, No. 15475 (C.C.D. Kan. 1874) (Falschangaben eines Ladenbesitzers über den Wert von der Armee beschlagnahmter Güter); Carter v. McClaughry, 183 U.S. 365, 369 (1902) (Lieferung qualitativ minderwertige Matratzen); U.S. v. Kapp, 302 U.S. 214 (1937) (falsche Angaben über die Herkunft von an den Staat gelieferten Schweinen); U.S. ex rel. Rodriguez v. Weekly Publications, 68 F. Supp. 767, 767–68 (S.D. N.Y. 1946) (Falschangaben ggü. der Post, um günstigere Liefergebühren zu erwirken); U.S. v. Bowman, 260 U.S. 94, 102 (1922) (Falsche Mengenangeben bzgl. vom Staat zu erstattender Treibstoffkosten eines Schiffs). 135 So insbesondere der District Court in U.S. v. Griswold, 24 F. 361, 365–366 (D. Or. 1885) „[The statute] is intended to protect the treasury against the hungry and unscrupulous host that encompasses it on every side, and should be construed accordingly. It was passed upon the theory, based on experience as old as modern civilization, that one of the least expensive and most effective means of preventing frauds on the treasury is to make the perpetrators of them liable to actions by private persons acting, if you please, under the strong stimulus of personal ill will or the hope of gain. Prosecutions conducted by such means compare with the ordinary methods as the enterprising privateer does to the slowgoing public vessel.“
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nismus in den 1930er und 1940er Jahren für sich entdeckt worden war. Ähnlich wie zu Zeiten des Bürgerkriegs hatten sich die Ausgaben und Privatankäufe der Regierung in dieser Zeit drastisch erhöht, insbesondere durch den von Präsident Roosevelt initiierten „New Deal“ und die Anfang der 1940er Jahre folgenden Kriegsankäufe. 136 Das erhöhte Auftragsvolumen führte in diesem Fall allerdings nicht nur zu einer großen Anzahl von Betrugsfällen mit hohen Schadenssummen, sondern auch zum Aufkommen sog. „parasitärer“ „qui tam“-Klagen, die nicht primär dem öffentlichen Rechtsdurchsetzungsinteresse, sondern vor allem dem Gewinnerzielungsinteresse der Kläger dienten.137 Anstatt durch wertvolle Informationen aus erster Hand die Informationsdefizite der Regierung zu kompensieren und entsprechende Klagen zu initiieren, nahm sich diese neue Art von Klägern schlichtweg bereits bekannter oder sogar schon abgeurteilter Betrugsfälle an und nutzte sie zu ihrem eigenen Vorteil. Nachdem sie – zum Teil aus der Zeitung –138 von der Existenz gewinnträchtiger Fälle erfahren hatten, trugen sie einfach die bereits durch die Regierung in der Anklageschrift gesammelten Informationen zusammen und brachten hierauf basierend – manchmal sogar mit identischem Wortlaut –139 ihre eigenen „qui tam“-Klagen ein, um so einen Teil der Schadenssumme für sich beanspruchen zu können. Möglich wurde dieser Missbrauch durch eine Kombination der sehr weit gefassten Formulierungen des FCA von 1863, die bedingungsfreie Anknüpfung an den „qui tam“Mechanismus und ein noch nicht hinreichend entwickeltes Verständnis von Wesen und Funktionsweise des Whistleblowing. Denn wie bereits dargestellt, berechtigte der Act „any person“ zur Erhebung einer Klage, ohne zu fordern, dass diese Person tatsächlicher Informant, Insider oder, in der späteren Ter-
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Dementsprechend fielen die meisten größeren „qui tam“-Fälle in eben jene beiden, profitträchtigen Bereiche, s. U.S. ex rel. Marcus v. Hess, 317 U.S. 537, 538 (1943) (Angebotsabsprachen bei einem PWA-Projekt unter dem New Deal); U.S. ex rel. Sherr v. Anaconda Wire & Cable Co. Eyeglasses, 57 F. Supp. 106 (S.D.N.Y. 1944) (Verkauf ungetesteten Materials an die Streitkräfte durch einen Kabelhersteller). Vgl. ferner Sen. Rep. No. 345, 99th Cong., 2d Sess. (1986), p. 11 et seq., Nachdruck in 1986 U.S.C.C.A.N. 5266, 5275–76; Helmer/Neff, 18 Ohio N.U. L. Rev. 35, 38 (1991), allerdings jeweils lediglich mit Verweis auf die Kriegsankäufe der 1940er Jahre. 137 Sylvia, Fraud Against the Government, § 2:7; Boese, False Claims Vol. 1, § 1.01[A]; U.S. v. Burmah Oil Co. Ltd., 558 F.2d 43, 46 n.1 (2d Cir. 1977); U.S. ex rel. LaValley v. First National Bank of Boston, 707 F. Supp. 1351, 1354 (D.Mass. 1988). 138 So etwa in U.S. ex rel. Sherr v. Anaconda Wire & Cable Co. Eyeglasses, 57 F. Supp. 106, 109 (S.D.N.Y. 1944), wo der „qui tam“-Kläger offenbar durch einen Artikel in der New York Times von der Anklage erfahren hatte und im späteren Verlauf des Verfahrens sogar unumwunden zugab, selbst über keine eigenen Informationen oder Quellen zu verfügen. 139 So etwa U.S. ex rel. Marcus v. Hess, 317 U.S. 537, 558 (1943) („substantially a copy of the indictment“).
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minologie, Whistleblower sein musste.140 Was in einer Zeit knapper Exekutivressourcen und vor Entstehung eines hinreichend organisierten Strafverfolgungswesens noch ein probates Mittel gewesen sein mag, erwies sich nun als zivile Paralleljustiz ohne nennenswerten Mehrwert. 141 Der dogmatische Anknüpfungspunkt für die Entlohnung des Informanten war wiederum nicht die Information selbst, geschweige denn ihr Ursprung oder ihr Wert für die Aufdeckung und Verfolgung der Tat, sondern allein die erfolgreiche Verurteilung des Täters.142 All dies führte dazu, dass in einigen Fällen nicht etwa die Privatperson als Whistleblower im Interesse der Regierung, sondern die Regierung als unfreiwilliger Whistleblower im Dienste privater Gewinninteressen fungierte, was die Popularität der „qui tam action“ bei Exekutive und Judikative rapide sinken ließ. 143 Als Konsequenz dieser Fehlentwicklung versuchte das Justizministerium im Jahr 1943, in der Sache Marcus v. Hess ein Urteil des Supreme Court zu erwirken, das dieser Art „parasitärer“ Klagen unter dem FCA ein Ende setzen sollte.144 Gegenstand des Falls waren illegale Angebotsabsprachen mehrerer Elektrizitätsversorgungsfirmen bezüglich öffentlicher Infrastrukturprojekte im Rahmen des „New Deal“, deren Volumen und Häufigkeit ein willkommenes Ziel für die Klage eines „Informanten“ darstellten,145 dessen Informationen offenbar ausschließlich aus den Anklageschriften bereits erfolgter strafrechtlicher Verurteilungen stammten. 146 Das Justizministerium versuchte daraufhin mit einer Reihe von Argumenten den Gebrauch der „qui tam ac-
140 Die liberale Informantenpolitik des Gesetzes ging sogar so weit, dass nicht nur die Mittäter eines Betruges, sondern sogar die schon von Amts wegen zuständigen District Attorneys als Informanten dienen und damit auch die entsprechende Belohnung geltend machen konnten, vgl. Cong. Globe, 37th Cong., 3d Sess. 956 (1863). 141 Ähnlich später auch H.R. Rep. No. 263, 78th Cong., 1st Sess. (1943), p. 1–3. 142 Vgl. U.S. ex rel. Rodriguez v. Weekly Publications, 144 F.2d 186, 188 (2d Cir. 1944): „The Informers' Act made the successful prosecution of the suit, rather than the discovery of fraudulent conduct, the test of the right to share in any recovery.“ 143 Vgl. bspw. U.S. ex rel. Brensilber v. Bausch & Lomb Optical Co., 131 F.2d 545, 547 (C.C.A. 2d Cir. 1942), das „qui tam actions“ als „odious and happily nearly obsolete“ bezeichnete. 144 U.S. ex rel. Marcus v. Hess, 317 U.S. 537 (1943). 145 Die insgesamt 56 Fälle nachgewiesener Absprachen führten zu einer Gesamtsumme von $ 315.000 Schadensersatz, wovon die Hälfte entsprechend sec. 6 des FCA dem Kläger Marcus zustand, U S. ex rel. Marcus v. Hess, 317 U.S. 537, 540 (1943). 146 U.S. ex rel. Marcus v. Hess, 317 U.S. 537, 545 (1943). Obgleich Marcus dies bestritt, gelang es ihm nicht, irgendeinen Beleg für die Verwendung eigener Informationen oder die Durchführung eigener Ermittlungen vorzubringen, s. hierzu Justice Jackson‘s Dissent auf S. 558.
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tions“ in diesen und anderen Fällen effektiv einzuschränken. 147 Unter anderem wurde vorgebracht, dass derartige Klagen nicht dem ursprünglichen Zweck des Gesetzes entsprächen, dass die exekutive Ausgangslage sich durch die Ausweitung der Justizbehörden verändert habe, dass private Rechtsdurchsetzung außerhalb der Verfahrensgewalt der Behörden öffentlichen Interessen widerspräche, und schließlich, dass die nochmalige Verurteilung im Rahmen eines „qui tam“-Verfahrens gegen das verfassungsrechtliche Verbot der Mehrfachbestrafung verstieße. 148 Während das Gericht verfassungsrechtliche Bedenken entgegenhielt, dass „qui tam“-Zahlungen zivilrechtliche Ersatzleistungen und damit keine zweite strafrechtliche Verurteilung seien, 149 erachtete es sämtliche anderen Argumente der Regierung als rein rechtspolitische Erwägungen, die dementsprechend nicht an die Gerichte, sondern allenfalls an den Gesetzgeber zu richten seien. 150 Das Justizministerium in Gestalt von Attorney General Francis Biddle tat unmittelbar nach der Niederlage vor Gericht wie ihm geheißen und versuchte, den Kongress davon zu überzeugen, die „qui tam“-Provisionen aus dem False Claims Act zu streichen. Tatsächlich erreichte Biddle, dass das House of Representatives einen Entwurf verabschiedete, der entsprechend seinen Vorstellungen eine vollständige Streichung der Informantenklage zur Folge gehabt hätte, so dass die Strafverfolgungsbehörden wieder die alleinige Sach147 Da das Ministerium nicht selbst Prozesspartei war, brachte es seine Argumente in Form eines „amicus curiae brief“ ein. Zur Rechtsnatur dieser Methode und ihres Einflusses auf Entscheidungen des Supreme Court, s. Kearney/Merrill, 148 U. Pa. L. Rev. 743 (2000). 148 U.S. ex rel. Marcus v. Hess, 317 U.S. 537, 547–48 (1943). 149 U.S. ex rel. Marcus v. Hess, 317 U.S. 537, 548–50 (1943). Hierbei kam ein wiederkehrendes Problem der „double jeopardy“ (Amend. V U.S. Const.) zum Vorschein, dass in der zum Teil wenig trennscharfen Unterscheidung des US-amerikanischen Gesetzgebers zwischen zivil- und strafrechtlichen Sanktionen begründet liegt. Denn die 2.000 US-Dollar Zusatzzahlung des FCA wurden vom Act selbst als „forfeiture“ (Einziehung) bezeichnet, womit er sich einer traditionell strafrechtlichen Terminologie bediente. Letztlich behalf sich das Gericht mit der pragmatischen Überlegung, dass in einem System der „double“-, „quadruple“- und „punitive“-damages auch den Schadensbetrag nominell übersteigende Zahlungen noch als kompensatorisch und damit zivilrechtlich verstanden werden könnten (S. 551). Vgl. zu „punitive damages“ auch Rn. 63. 150 U.S. ex rel. Marcus v. Hess, 317 U.S. 537, 546–47 (1943). „The government presses upon us strong arguments of policy against the statutory plan, but the entire force of these considerations is directed solely at what the government thinks Congress should have done rather than at what it did […] [T]he trouble with these arguments is that they are addressed to the wrong forum. Conditions may have changed, but the statute has not.“ Auch wenn der Supreme Court hierbei deutliche Sympathie für die politischen Argumente des Justizministeriums erkennen lässt, ist das Urteil gleichwohl kein reiner Akt judikativer Selbstbeschränkung ohne Berücksichtigung des gewünschten Resultats. Immerhin hebt das Gericht hervor, dass die „qui tam“-Klage zu einer Kompensationszahlung in dreifacher Höhe der Strafzahlung geführt habe (S. 545). In ähnlicher Form findet sich diese Sichtweise auch in der späteren Senatsdebatte wieder.
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herrschaft über jegliche Fälle von Regierungsbetrug erlangt hätten.151 Zur Begründung beriefen sich Biddle und das von ihm instruierte House of Representatives vor allem auf den Fall Marcus v. Hess.152 Im Senat als zweiter Gesetzgebungskammer stieß diese radikale Lösung hingegen auf einigen Widerstand. Abgesehen von fundamentaler Opposition gegen die Abschaffung oder Schwächung des „qui tam“-Mechanismus auf der einen Seite 153 und bedingungsloser Unterstützung des House-Entwurfs auf der anderen 154 war der Senat in seiner Mehrheit ersichtlich darum bemüht, konkrete Lehren sowohl aus den Erfolgen des ursprünglichen Gesetzes wie auch seinem neuerlichen Missbrauch zu ziehen. 155 Die Diskussion fokussierte sich dabei vor allem auf zwei Punkte, die sich auch in späteren Diskussionen um den richtigen Einsatz von Whistleblowing-Gesetzen wiederfinden und das heutige Verständnis vom grundsätzlichen Wesen des „Whistleblowing“ mit prägen sollten. Der erste Punkt betraf das Verhältnis zwischen Justizbehörden und Whistleblowern. Während der FCA durch den Rückgriff auf das dogmatische Konstrukt der „qui tam actions“ de facto eine Art zivilrechtliche Paralleljustiz geschaffen hatte, bestand weitgehend Einigkeit darüber, dass private Informanten in Zeiten einer hinreichend ausgestatteten Exekutive ihre Informationen dem Justizministerium zur Verfügung stellen sollten, anstatt mit ihm in Konkurrenz bei der Durchsetzung geltenden Rechts zu treten. 156 Statt dem 151 Eingebracht von Rep. Summers, 89 Cong. Rec. 194 (1943), beschlossen mit positivem Votum des House Judiciary Committee, 89 Cong. Rec. 2008-01 (1943); vgl. S. Rep. No. 345, 99th Cong., 2d Sess. (1986), p. 11 et seq., nachgedruckt in 1986 U.S.C.C.A.N. 5266, 5275–76; U.S. v. Pittman, 151 F.2d 851, 853 (C.C.A. 5th Cir. 1945), jeweils mit einer Zusammenfassung der Ereignisse. 152 S. Rep. No. 345, 99th Cong., 2d Sess. (1986), p. 10–12, nachgedruckt in 1986 U.S.C.C.A.N. 5266, 5272–76. 153 So insbes. Sen. Langer, 89 Cong. Rec. 7,606 (1943): „[T]he present statute now on the books is a most desirable one. What harm can there be if 10,000 lawyers in America are assisting the Attorney General of the United States in digging up war frauds?“ 154 So Sen. van Nuys mit Blick auf die Fortentwicklung rein hoheitlicher Strafverfolgung und die Missbrauchsgefahr der „qui tam actions“, 89 Cong. Rec. 7,571 (1943): „[T]he old statute served a useful purpose at that time, but conditions have changed, and today that statute has become one of the worst sources of racketeering since the days of Al Capone in the prohibition era.“ 155 Vgl. Senate Comm. on the Judiciary, S. Rep. No. 291, 78th Cong., 1st Sess. (1943) einerseits mit der Feststellung, dass sich die Rahmenbedingungen des Gesetzes zweifelsohne geändert hätten (s. Fn. 156), andererseits aber auch mit Bedenken, dass nützliche Informanten durch eine völlige Streichung der „qui tam“-Provisionen von einer Informationsweitergabe abgehalten werden könnten; vgl. ferner Sen. van Nuys, 89 Cong. Rec. 7,608 (1943): „[T]he main purpose of the Judiciary Committee, in the days and days hard work it put on the pending bill, was to protect the honest informer.“ 156 Vgl. insbes. Senate Comm. on the Judiciary, S. Rep. No. 291, 78th Cong., 1st Sess. (1943). „[The Act was designed] to meet a situation then existing which does not now
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Informanten also noch wie unter dem FCA von 1863 sogar das Recht einzuräumen, die Strafverfolgungsbehörden von seiner Klage auszuschließen,157 sollte er nun verpflichtet werden, dem Attorney General schriftlich seine Informationen mitzuteilen und um Einleitung eines Verfahrens zu bitten. 158 Nur falls der Attorney General dies verweigerte oder sich nicht innerhalb einer vorgegebenen Frist zur Klageerhebung entschloss, konnte der Informant den Prozess in eigenem Namen fortführen. 159 So sollte zum einen die von Attorney General Biddle geforderte Verfahrensherrschaft der Strafverfolgungsbehörden wiederhergestellt und zum anderen den staatlichen Stellen ein Anreiz gesetzt werden, die Informationen des potentiellen „qui tam“-Klägers ernst zu nehmen und ihn mit staatlichen Mitteln zu unterstützen. Der zweite Punkt betraf die Art der weitergegebenen Information bzw. die Frage, wann ein allgemeiner Informant zu einem zweckdienlichen Whistleblower wird. Um Missbrauchsfälle wie Marcus v. Hess zu verhindern, sollten nur solche Klagen zugelassen werden, die nicht auf Informationen und Beweisen beruhten, welche sich zum Zeitpunkt der Klageerhebung bereits im Besitz des Staates befanden (sog. „government knowledge bar“).160 Eine Ausnahme war wiederum für solche Informanten vorgesehen, die als unabhängige Originalquellen („original source“) eingestuft würden – sprich als unmittelbare Zeugen eines Vergehens mit verfahrensdienlichen Informationen und Einsichten aus erster Hand.161 Dem Informanten sollte also nur dann eine Verfahrensbeexist. At that time the office of the Attorney General was not staffed sufficiently to handle the many matters that arose and was not possessed of investigative facilities now at the disposal of that office. Now adequate facilities in respect to handling such matters exist and through the Federal Bureau of Investigation and many other investigative agencies of the Government, adequate investigations of frauds against the United States are being made.“ 157 Vgl. 12 Stat. 696, seinerzeit in Title 31, sec. 232 U.S.C. 158 S. Rep. No. 291, 89 Cong. Rec. 7,570 (1943), p. 2. 159 89 Cong. Rec. 7,570 (1943), p. 2, in der endgültigen Fassung entsprechend übernommen unter Act of December 23, 1943, 78th Cong., 1st Sess., ch. 377, 57 Stat. 608, sec. 3491 (C): „[N]otice of the pendency of such suit shall be given to the United States by serving upon the United States attorney […] a copy of the bill of complaint and by sending, by registered mail, to the Attorney General of the United States at Washington, District of Columbia, copy of such bill together with a disclosure in writing of substantially all evidence and information in his possession material to the effective prosecution of such suit. The United States shall have sixty days […] within which to enter appearance in such suit. If the United States shall fail, or decline in writing to the court, during said period of sixty days to enter any such suit, such person may carry on such suit. If the United States within said period shall enter appearance in such suit the same shall be carried on solely by the United States.“ 160 S. Rep. No. 291, 89 Cong. Rec. 7,570 (1943), p. 1–2, 57 Stat. 608, sec. 3491 (C) a.E. 161 S. Rep. No. 291, 89 Cong. Rec. 7,570 (1943), p. 1: „[N]o district court of the United States shall have jurisdiction to hear, try, or determine any such suit, unless based upon information, evidence, and sources original with such person […].“ Die o.g. Rechtsbegriffe
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teiligung mit einhergehender Belohnung in Aussicht gestellt werden, wenn seine Informationen ihrer Art nach tatsächlich geeignet waren, den Kenntnisstand der Behörden zu erweitern, staatliche Informationsdefizite effektiv zu überbrücken und hierdurch dem Rechtsdurchsetzungsinteresse des Staates unmittelbar dienlich zu sein. In personeller Hinsicht deutete sich hierdurch zugleich eine Abkehr von der monetären Inzentivierung jedes potentiellen Informanten („any person“) an, einhergehend mit einer Fokussierung auf Personen mit konkretem Insiderwissen, wie sie unserem heutigen Bild eines typischen Whistleblowers weit mehr entspricht. Wären die vom Senat beschlossenen Änderungsvorschläge 162 in dieser Form ohne zusätzliche Änderungen tatsächlich Gesetz geworden, ist nicht auszuschließen, dass der False Claims Act trotz signifikanter Einschränkungen seine grundsätzliche Bedeutung beibehalten hätte und so als erstes modernes Whistleblowing-Gesetz mit breitem Anwendungsbereich als Kooperationsmodell für Staat und Whistleblower in die Geschichte eingegangen wäre.163 Dass es letztlich ganz anders kam und der False Claims Act über Jahrzehnte hinweg seinen Einfluss auf das US-amerikanische WhistleblowingRecht einbüßen sollte, liegt an einer Melange verschiedener Gründe: Zuwerden aus Kontinuitätsgründen bereits an dieser Stelle eingeführt, haben sich aber erst im Laufe der späteren Ausdifferenzierung des FCA als Standardtopoi etabliert. 162 89 Cong. Rec. 7,617 (1943). 163 Auch wenn das politische Klima der damaligen Zeit zweifelsohne überwiegend „qui tam“-skeptisch war, ist bis heute nicht eindeutig zu klären, ob der Kongress die Folgen der Amendments von 1943 wirklich richtig abgeschätzt hatte oder in der Sache über sein eigentliches Ziel hinausschoss. Für letzteres sprechen jedenfalls einige Äußerungen von Mitlgliedern des Conference Committees, wie etwa die von Sen. van Nuys („The honest informer, the bona fide informer, is adequately protected under the bill.“) oder Sen. Kefauver („[If the average, good American citizen] has information and he gives it to the Government, and the Government does not proceed in due course, provision is made here where that suit can be brought and where he can get some compensation.“), 89 Cong. Rec. 7,608, 10,849 (1943). Dementsprechend werden die genauen Motive des Gesetzgebers in der US-amerikanischen Literatur bis heute sehr unterschiedlich interpretiert, wobei die Gesetzgebungsgeschichte allerdings selten einer näheren Analyse unterzogen wird. Vgl. Sylvia, Fraud Against the Government, § 2:8; Callahan/Dworkin, 37 Vill. L. Rev. 273, 321 (1992); Alter, 75 Notre Dame L. Rev. 1409, 1426 (2000); Beck, 78 N.C. L. Rev. 539 (2000); United States ex rel. Bayarsky v. Brooks, 154 F.2d 344, 346 (C.C.A. 3d Cir. 1945). Blickt man auf die intensiven Senatsdiskussionen im Vorfeld der Verabschiedungen der Gesetzesänderungen, erscheint insoweit als wiederkehrendes, dominantes Motiv vor allem die Verhinderung weiterer „parasitärer“ Klagen im Stile Marcus v. Hess, ohne dass das Instrument der „qui tam“-Klagen als solches de jure oder de facto aufgegeben oder signifikant geschwächt werden sollte. Vgl. die Nachfrage von Sen. Hatch an Sen. Revercomb, 89 Cong. Rec. 7,574 (1943): „But under the terms of the pending bill he must not have derived his information from an investigation conducted by the Government [?]“ – „That is the sole difference. It is a question whence he derived his information. It is not a question of striking at fraud.“
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nächst gingen der Senatsentwurf und das letztendliche Gesetz mit dem Ausschluss sämtlicher der Regierung bereits bekannter „false claims“ im Sinne der „government knowledge bar“ deutlich über eine reine Verhinderung der anlassgebenden „parasitären“ Klagen hinaus. Auch wenn der reine Wortlaut des Gesetzes vielleicht noch eine andere Interpretation zugelassen hätte, 164 wurde der Ausschlusstatbestand jedenfalls von den Gerichten in der Folge einheitlich so interpretiert, dass in allen Fällen, in denen die Regierung über Informationen verfügte, die in ihrem Ansatz den betreffenden Rechtsverstoß erkennen ließen, eine Einbindung des Informanten unzulässig war – unabhängig davon, ob der „qui tam“-Kläger vom entsprechenden Kenntnisstand der Behörden wusste oder nicht. 165 Das alleine hätte die wirksame Einbeziehung von „qui tam“-Klägern allerdings noch nicht verhindert. Viel folgenschwerer war, dass das House of Representatives mit den Änderungen des Senats nicht in Gänze einverstanden war und den Entwurf im Vermittlungsausschuss erneut diskutieren ließ. 166 Auch wenn das beschlossene Gesetz letztendlich im Wesentlichen den Vorschlägen des Senats entsprach, wurde die „orginial source“-Ausnahme des Senatsentwurfs aus im Nachhinein nicht mehr eindeutig identifizierbaren Gründen167 nicht mit aufgenommen – und 164 S. Act of December 23, 1943, 78th Cong., 1st Sess., ch. 377, 57 Stat. 608, sec. 3491 (C): „The court shall have no jurisdiction to proceed with any such suit […] whenever it shall be made to appear that such suit was based upon evidence or information in the possession of the United States, or any agency, officer or employee thereof, at the time such suit was brought.“ Für die reine Verhinderung von „parasitären“ Klagen hätte es genügt, die Formulierung „based upon“ so zu verstehen, dass hierunter nur Situationen fallen, in denen der Kläger sich bewusst und/oder primär staatlicher Informationen bedient. Im Senat jedenfalls scheint sogar davon ausgegangen worden zu sein, dass ein „qui tam“-Kläger sich neben seinen eigenen Informationen zusätzlich auf Erkenntnisse der Regierung werde stützen können. Vgl. 89 Cong. Rec. 7575 (1943). 165 S. statt vieler bereits U.S. ex rel. Sherr v. Anaconda Wire & Cable Co. Eyeglasses, 57 F. Supp. 106, 109 (S.D.N.Y. 1944); so auch die heutige h.M., Glaser v. Wound Care Consultants, Inc., 570 F.3d 907, 915 (7th Cir. 2009) m.w.N. Hierin spiegelt sich eine häufig zu findende Konstante des US-amerikanischen Whistleblowing-Rechts wieder: Nicht die Zivilcourage des Whistleblowers wird belohnt, sondern der effektive Nutzen seiner Informationen für die öffentlichen Interessen. Vgl. zum heute ähnlich gelagerten Problem der „first-to-file bar“ U.S. ex rel. Lacorte v. SmithKline Beecham Clinical Laboratories, Inc., 149 F.3d 227, 234 (3d Cir. 1998) (Unzulässigkeit der Klage, falls eine ähnliche Klage bereits durch einen anderen Whistleblower erhoben wurde, auch wenn dies dem ersten Whistleblower nicht bekannt war). 166 89 Cong. Rec. 7,792, 7,805 (1943), Conference Report unter 89 Cong. Rec. 10,844, Rep. No. 933 (1943). 167 Der Ausschuss bleibt in seinen Mitteilungen vielmehr vage und konstatiert lediglich: „[The] conferees have agreed that private suits should be permitted and have followed to some extent the pattern of the Senate amendments.“ Cong. Conference Comm., 89 Cong. Rec. 10,844 (1943). Ein Blick in die Diskussionen unmittelbar vor den Verhandlungen des Vermittlungsausschusses legt insoweit allerdings nahe, dass der Senat selbst davon ausge-
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damit bis auf weiteres eben jenes Element, das gerade Whistleblowern mit charakteristischen Insiderinformationen ein Klage- bzw. Mitwirkungsrecht eingeräumt hätte.168 Am folgenschwersten dürfte aber gewesen sein, dass die Amendments von 1943 die finanzielle Inzentivierung und damit das Herzstück des „qui tam“-Informantensystems an entscheidender Stelle ausgehöhlt haben. So wurde zum einen die Beteiligungsquote von ehemals 50% auf maximal 10% bei von der Regierung unterstützten Klagen und 25% bei allen allein vom „qui tam“-Kläger verfolgten Verfahren gesenkt. 169 Vor allem aber wurde den Informanten keine feste Belohnung mehr zugesichert, sondern die Festlegung der konkreten Höhe in das billige Ermessen der Gerichte gestellt.170 Die Tragweite dieser Entscheidung wird aus heutiger Perspektive erst deutlich, wenn man sich die speziellen Rahmenbedingungen des USamerikanischen Rechtssystems zu dieser Zeit vor Augen führt. Mangels effektiven Kündigungsschutzes 171 musste sich jeder potentielle „qui tam“Kläger nun darüber im Klaren sein, dass er nicht nur das Prozessrisiko inklugangen war, dass die „original source“-Ausnahme sich allein als kumulative Hürde zur „government knowledge bar“ erweisen würde, indem sie den Kläger in der Wahl seiner prozessualen Beweismittel einschränke. Vgl. 89 Cong. Rec. 7615 (1943) (Ergänzungsantrag Sen. Wheeler): „Certainly, in court, no person should be confined to the proposition that all the evidence must originate with him and that if he obtains evidence from some other source he cannot use it.“ Tatsächlich wurden die Worte „original with such person“ sodann (zu später Stunde) ohne weitere Gegenrede gestrichen (ebd., S. 7616). Während die ursprüngliche Intention der ersten „original source“-Ausnahme nach alledem nicht mehr eindeutig geklärt werden kann, entschied sich jedenfalls der spätere Gesetzgeber der False Claims Act Amendments von 1986 eindeutig für eine alternative Ausnahmestruktur ohne strikte, beweisprozessuale Wirkung. S. unten, Rn. 72. 168 Vgl. S. Rep. No. 345, 99th Cong., 2d Sess. (1986), p. 11, nachgedruckt in 1986 U.S.C.C.A.N. 5266, 5276; i. Erg. ähnlich wie hier Sylvia, Fraud Against the Government, § 2:8; insoweit unzutreffend Helmer/Neff, 18 Ohio N.U. L. Rev. 35, 38 (1991), die von einer einschränkungslosen Übernahme des Senatsvorschlags auszugehen scheinen. 169 Act of December 23, 1943, 78th Cong., 1st Sess., ch. 377, 57 Stat. 608, 609, sec. 3491 (E) (1): „In any such suit, if carried on by the United States as herein provided, the court may award to the person who brought such suit, out of the proceeds of such suit or any settlement of any claim involved therein, which shall be collected, an amount which in the judgment of the court is fair and reasonable compensation to such person for disclosure of the information or evidence not in the possession of the United States when such suit was brought. Any such award shall in no event exceed one-tenth of the proceeds of such suit or any settlement thereof.“ 170 Auch der Senate Report hatte sich schon gegen eine garantierte Belohnung ausgesprochen, jedoch mit Blick auf Fälle, in denen der Informant lediglich indirektes Wissen hatte, vgl. S. Rep. No. 345, 99th Cong., 2d Sess. (1986), p. 27–29, nachgedruckt in 1986 U.S.C.C.A.N. 5266, 5292–94. Durch die Streichung der „original source“-Ausnahme hatte das Conference Committee dieser Differenzierung aber seinerseits den Boden entzogen. 171 Zum Einfluss der Schutzlosigkeit des „at-will“-Arbeitnehmers auf die Entwicklung des Whistleblowing-Schutzes sogleich unter Rn. 27 ff.
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sive sämtlicher Rechtsverfolgungskosten trug,172 sondern selbst im Falle des Obsiegens noch mit einer Kündigung durch den Arbeitgeber rechnen musste, ohne dass er sich zur Kompensation für den Verlust seines Arbeitsplatzes auf eine „qui tam“-Belohnung hätte verlassen können. Die Ausgestaltung der Klage als „qui tam action“ wiederum machte eine vertrauliche Behandlung der Angelegenheit durch die Behörden unmöglich, so dass sich der Informant sicher sein konnte, dass die verklagte Partei in jedem Fall Kenntnis von seiner Identität erlangen würde. Die Garantie einer festen Belohnung war unter diesen Bedingungen also mehr als das Inaussichtstellen eines einträglichen Zusatzgewinns, stellte sie potentiellen Informanten doch ein einigermaßen kalkulierbares Mittel der Existenzsicherung an der Schwelle einer garantiert folgenschweren Entscheidung zur Seite, welches ihnen nun entzogen worden war. Die Konsequenzen der durch die Amendments von 1943 vorgenommenen Weichenstellungen ließen nicht lange auf sich warten. Bereits kurz nach Inkrafttreten des novellierten False Claims Act wurde die Mehrzahl anhängiger „qui tam“-Verfahren von den Gerichten abgewiesen. 173 Die Anzahl der Fälle, in denen sich Bürger trotz kaum kalkulierbarer Risiken zur Erhebung einer „qui tam“-Klage entschlossen, nahm in der Folgezeit erheblich ab. Hinzu kam, dass die zuständigen Gerichte selbst in den wenigen eingereichten „qui tam“-Fällen eine vergleichsweise harte Linie verfolgten und dem Gesetzeswortlaut weitgehend ohne teleologische Ausnahme Folge leisteten.174 All das 172 Vgl. Act of December 23, 1943, 78th Cong., 1st Sess., ch. 377, 57 Stat. 608, sec. 3491 (B): „[The suit] shall be at the sole cost and charge of such person […].“ Dieses Kostentragungsprinzip stellt allerdings keine Besonderheit des FCA dar, sondern entspricht der noch heute gültigen „American Rule“, dass jede Partei selbst im Falle ihres Obsiegens die eigenen Prozesskosten zu tragen hat, vgl. Hazard/Tait/Flechter/Bundy, Pleading and Procedure, p. 124 et seq. Das hieraus folgende Finanzierungsproblem der „public interest attorneys“ war ein Grund für die Novellierung des FCA im Jahr 1986, s. Rn. 69. 173 Vgl. U.S. ex rel. Sherr v. Anaconda Wire & Cable Co. Eyeglasses, 57 F. Supp. 106, 109 (S.D.N.Y. 1944); U.S. ex rel. Rodriguez v. Weekly Publications, 144 F.2d 186, 188 (2d Cir. 1944). Spätere Entscheidungen beriefen sich z.T. explizit auf diese ersten Entscheidungen, um eine enge Auslegung des FCA zu rechtfertigen, s. U.S. ex rel. State of Wisconsin v. Dean, 729 F.2d 1100, 1105-06 (7th Cir. 1984) (inkl. Zusammenfassung der Entwicklung in der Judikatur). 174 So wurde „qui tam“-Klägern u.a. selbst dann das Klagerecht verweigert, wenn die Informationen dem Staat nur deshalb bereits im Vorfeld der Klage bekannt waren, weil er selbst die zuständigen Behörden informiert hatte, s. U.S. v. Aster, 275 F.2d 281, 283 (3d Cir. 1960); Safir v. Blackwell, 579 F.2d 742, 747 (2d Cir. 1978); United States ex rel. State of Wisconsin v. Dean, 729 F.2d 1100, 1106–07 (7th Cir. 1984). Einige Gerichte gingen sogar dazu über, dem Kongress auf Basis der restriktiven Grundintention des Gesetzes eine Ausschlussabsicht in Bereichen zu unterstellen, mit denen er sich gar nicht beschäftigt hatte, vgl. etwa United States ex rel. McCans v. Armour & Co., 146 F. Supp. 546, 550 (D.D.C. 1956) (Ausschluss von Regierungsmitarbeitern aus dem Anwendungsbereich des
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führte dazu, dass der False Claims Act ab 1943 bis zu seiner grundlegenden Reformierung im Jahr 1986 mit durchschnittlich gerade einmal sechs Fällen pro Jahr de facto bedeutungslos geworden war.175 Hierdurch büßte die auf dem alten „qui tam“-Prinzip fußende Idee einer finanziellen Harmonisierung öffentlicher und privater Interessen über einen Zeitraum von über vierzig Jahren ihren direkten Einfluss auf die Fortentwicklung des USamerikanischen Whistleblowing-Rechts ein. An ihre Stelle traten andere Entwicklungslinien des Whistleblowings, die ihre Wurzeln nicht mehr in der aktiven Inzentivierung privater Rechtsdurchsetzung hatten, sondern in einer zunächst eher passiven Korrektur des liberalen US-amerikanischen Arbeitsrechts durch arbeitsverwaltungsrechtliche Ausnahmen im Interesse der Öffentlichkeit.176 Trotz dieses plötzlichen Bedeutungsverlustes wird man im False Claims Act von 1863 weit mehr als ein episodisches Zwischenspiel des USamerikanischen Whistleblowing-Rechts sehen können. Nur vor seinem Hintergrund lassen sich viele spezifische Merkmale des heutigen US-Whistleblowing-Rechts verstehen und im internationalen Vergleich einordnen. Das gilt zunächst für seine Funktion als Ursprung des einflussreichen False Claims Act von 1986, dessen vielbeachteter wirtschaftlicher Erfolg in den 1990er Jahren und Stellung als heute noch wichtigstes Mittel bei der Bekämpfung von Straftaten gegen den US-amerikanischen Fiskus177 zur Entstehung einer Vielzahl unterschiedlicher Whistleblower-Programme mit teilweise internationaler Relevanz geführt haben.178 Darüber hinaus haben nicht nur die frühen Erfolge, sondern auch das spätere Scheitern des Gesetzes von 1863 bereits viele Elemente spezifischer Richtungsentscheidungen des USamerikanischen Whistleblowing-Rechts vorgezeichnet. Das gilt zunächst für das dezidiert pragmatische Verständnis des Whistleblowings als probates Mittel der Überwindung staatlicher Informationsasymmetrien, bei dessen rechtlicher Ausgestaltung dem öffentlichen Interesse folgerichtig eine mindestens ebenso große Bedeutung beigemessen wird wie den involvierten
FCA, weil der Kläger anlassgebenden Urteils Marcus v. Hess angeblich ehemaliger Regierungsmitarbeiter war). 175 France, 76 A.B.A. J., 46, 48 (1990). 176 Hierzu im Einzelnen sogleich unter Rn. 27 ff. 177 Vgl. bereits Senate Judiciary Committee, False Claims Amendments Act of 1986, S. Rep. No. 345, 99th Cong., 2d Sess. 2 (1986), nachgedruckt in 1986 U.S.C.C.A.N. 5266, das den FCA schon vor seiner Novellierung als „[T]he Government's primary litigative tool for combatting fraud“ bezeichnete. Zitiert (und übernommen) u.a. von U.S. ex rel. Kelly v. Boeing Co., 9 F.3d 743, 745 (9th Cir. 1993); Hesch, 6 Liberty U. L. Rev. 51, 55– 56. 178 Hierzu sowie zu weiteren durch den FCA inspirierten Programmen ausführlich ab Rn. 67.
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Privatinteressen und -rechten der jeweils beteiligten Personen.179 Auch wenn die administrative Struktur der USA schon seit langer Zeit nicht mehr mit den schwach ausgeprägten Vorbedingungen der Sezessionskriege vergleichbar ist, wird Whistleblowing auf Grundlage entsprechender Erfahrungen noch immer als essentielles, zum Teil sogar unabkömmliches Instrument staatlicher Rechtsdurchsetzung verstanden.180 Das Scheitern des ursprünglichen „qui tam“-Systems als dogmatische Grundlage einer privaten Paralleljustiz hat dabei verdeutlicht, dass es für den effektiven Einsatz von Informanten im besonderem Maße darauf ankommt, das Verhalten privater Informationsträger und staatlicher Durchsetzungsbehörden durch ein strukturiertes Kooperationsverhältnis aufeinander abzustimmen.181 Viele der Argumente und Gedanken, die von Gerichten und vom Gesetzgeber erstmals im Rahmen des FCA eingehender formuliert wurden, sind darüber hinaus in späteren Diskussion und Gesetzgebungsvorhaben wieder aufgegriffen worden. Das gilt unter anderem für das 1943 noch gescheiterte „original source“-Kriterium als Abgrenzungsmerkmal zwischen einfachen Informanten und besonders schützenswerten Insider-Whistleblowern. Der False Claims Act von 1863 ist demgemäß nicht nur Vorläufer und Anlassgeber des finanziell inzentivierten Whistleblowings heutiger Prägung, sondern gleichzeitig ein Zeugnis der all179
Diese Herangehensweise unterscheidet sich insbes. vom bisher grundrechtszentrierten Lösungsansatz Deutschlands, vgl. ab Rn. 44 ff. 180 Es sei erwähnt, dass auch außerhalb des Bereichs des Whistleblowings die Berührungsängste der US-amerikanischen Rechtskultur in Bezug auf die Privatisierung der Strafrechtspflege traditionell gering sind. Ein kontrovers diskutiertes, aktuelles Beispiel sind Kautionsjäger („bail bondsmen“), die auch heute noch teilweise im Stil klassischer, amerikanischer Kopfgeldjäger vorgehen, s. Hirsch, 62 U. Miami L. Rev. 59 (2007). Weniger kontrovers, allerdings praktisch häufiger, sind sog. „citizen suit provisions“, welche die Klagebefugnis von Privatpersonen zum Zwecke der Rechtsdurchsetzung partiell erweitern (vgl. zu dieser Art der Popularklage Rn. 67 bzgl. des Clean Air Acts). Auch wenn die Idee des Whistleblowings vor diesem Hintergrund in den USA auf etwas weniger kulturell begründete Skepsis gestoßen sein mag, so liegen die Ursachen seines besonderen Erfolges jedoch allen voran in seiner spezifischen legislativen Geschichte und funktionalen Entwicklung und nicht in einer flächendeckenden kulturellen „Vorliebe“ des USamerikanischen Volkes für die Einbindungen Privater in den Rechtsdurchsetzungsprozess (vgl. Rn. 245 ff.). 181 Diese Erkenntnis hat in den USA zu einer Vielzahl von speziellen, behördeninternen Whistleblowing-Stellen geführt, die sowohl eine Filterfunktion bzgl. der Relevanz der Informationen als auch eine Unterstützungsfunktion für Whistleblower erfüllen. Die bedeutendste dieser Stellen ist heute bei der Occupational Health and Safety Administration (OSHA) angesiedelt, vgl. Modesitt/Schulman/Westman, Retaliatory Discharge, ch. 3, p. 11. Diese administrativen Brückenköpfe stellen einen der wesentlichen Erfolgsfaktoren des US-amerikanischen Whistleblowing-Rechts dar und sind einer der Gründe dafür, dass ein ausschließlich auf die materielle Rechtslage gerichteter Blick dem tatsächlichen Schutzbzw. Durchsetzungsstandard in den USA nicht gerecht werden kann. S. zum Ganzen im Einzelnen unter Rn. 39 ff.
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gemeinen Debattenkultur zur dogmatischen und administrativen Herangehensweise an das Phänomen des Whistleblowings in den USA. II. Beginn und Ursachen des zweigliedrigen Whistleblower-Schutzes in den USA 1. Die „employment-at-will“-Doktrin als Paradigma des US-amerikanischen Arbeitsrechts Im Unterschied zum thematisch bewusst eingehegten Anwendungsbereich des False Claims Act zeichnen sich die Entstehung und das dogmatische Gesamtbild des arbeitsrechtlichen Whistleblower-Schutzes in den USA durch einen wahrhaftigen Flickenteppich unterschiedlicher gesetzlicher Regelungen, Rechtsprechungslinien und Verwaltungspraktiken aus. Ausgangspunkt dieser Entwicklung ist das Zusammenwirkungen zweier spezifischer Vorbedingungen des US-amerikanischen Arbeitsrechts, die noch heute die Rechtslandschaft des Arbeitnehmerschutzes im Allgemeinen und des Whistleblower-Schutzes im Besonderen prägen: die sog. „employment-at-will“Doktrin und die verfassungsrechtliche Zuständigkeit der Einzelstaaten für das allgemeine Arbeitsrecht. Die „employment-at-will“-Doktrin ist eine der ältesten noch heute gültigen Regeln des US-amerikanischen Common Laws und zugleich die vielleicht wichtigste Grundlage des US-Arbeitsrechts überhaupt.182 Sie basiert auf der Idee, dass zeitlich unbefristete Arbeitsverhältnisse auf einem genuin freiwilligen Leistungsaustausch von Arbeitgeber und Arbeitnehmer beruhen und damit von beiden Seiten ohne Angabe eines Kündigungsgrundes jederzeit und mit sofortiger Wirkung wieder aufgelöst werden können (sog. „termination-at-will“).183 Die konzeptionelle Kompromiss182
Auch wenn es im Laufe der letzten Jahrzehnte in immer mehr Bereichen eingeschränkt wurde, ist das „at-will“-Prinzip nach wie vor dogmatischer Ausgangspunkt nahezu aller einzelstaatlichen Arbeitsrechtsordnungen. Zwar erklärt seine ursprüngliche Radikalität, warum Teile der US-amerikanischen Literatur seine schleichende Erosion mit einem faktischen Untergang der Doktrin gleichsetzen. Für die Rechtspraxis bleibt es allerdings nach wie vor der maßgebliche Ausgangspunkt. Wie hier u.a. Strelitz/Aviles/Walter, 14 No. 3 HR Advisor: Legal & Practical Guidance Art. 2 (2008); zum Verbreitungsgrad statt vieler Cavico, 45 S. Tex. L. Rev. 543, 551–52 (2004) m.w.N. Eine Abkehr wie im Fall von Montana, das mittlerweile ein allgemeines „wrongful discharge statute“ inklusive „good cause“ Voraussetzung übernommen hat, MCA 39-2-904§ 39-2-904(b), ist die Ausnahme geblieben. 183 Vgl. Woods, Master and Servant (1877), § 134, p. 272 (in Abgrenzung zum englischen Common Law): „With us the rule is inflexible, that a general or indefinite hiring is prima facie a hiring at will, and if the servant seeks to make it out a yearly hiring, the burden is upon him to establish it by proof. [U]nless [the party’s] understanding was mutual that the service was to extend for a certain fixed and definite period, it is an indefinite hiring and is determinable at the will of either party […].“ Zur Rechtsprechungspraxis hinsichtlich der prozessualen Widerlegung dieser Vermutung, s. Fn. 290.
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losigkeit dieses Prinzips brachte ein noch heute oft zitiertes Urteil des Tennessee Supreme Court wahrscheinlich am prägnantesten auf den Punkt: „[Employers] may dismiss their employees at will, be they many or few, for good cause, for no cause or even for cause morally wrong, without being thereby guilty of legal wrong.“ 184 Während der genaue Ursprung der „atwill“-Doktrin nach wie vor umstritten ist, gilt mittlerweile als gesichert, dass sie entgegen einer vor allem in der Literatur der 1970er Jahre aufgestellten Behauptung185 nicht allein auf einem vermeintlich systemwidrigen Postulat des einflussreichen Autors H.G. Wood aus dem Jahr 1877 zurückzuführen ist.186 Stattdessen scheint sich das US-amerikanische Common Law schon relativ früh vom partiellen Kündigungsschutz des englischen Common Law187 gelöst und einen eigenen, dezidiert liberalen Weg der Arbeitsmarktregulierung gefunden zu haben. 188 Ungeachtet der genauen Ursachen ihrer Entstehung erreichte die „at-will“-Doktrin in jedem Fall gegen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts den Höhepunkt ihrer Popularität und verfügte über einen nahezu uneingeschränkten Geltungsgrad, bot sie doch eine wirt184
L. Payne v. The Western & Atlantic Railroad Company, 81 Tenn. 507 (Tenn. 1884). S. mit Verweis auf das obige Zitat (Fn. 183) insbes. Feinman, 20 Am. J. Legal Hist. 118, 125 et seq. (1976); Summers, 62 Va. L. Rev. 481, 485 (1976); Peck 40 Ohio St. L. J. (1979) 1, 2 (1979; Shapiro/Tune, 26 Stan. L. Rev. 335, 341–43 (1973); auch später noch u.a. Moskowitz, 23 Val. U. L. Rev. 33, 35 (1988); in der deutschen Literatur z.B. Jander/Lorenz, RdA 1990, 97, 98; Graser, Whistleblowing, S. 16, Fn. 36 („Vertrag“ des Anwalts H.G. Wood). 186 Ballam, 13 Hofstra Lab. & Emo. L. J. 75, 86 et seq. (1995) mit Nachweisen aus der New Yorker Rechtsprechung bis zur Kolonialzeit; Morris 59 Mo. L. Rev. 679, 696 et seq. (1994) mit Fall- und Gesetzesverweisen vor 1877; Pepe//Dunham, Wrongful Discharge, § 1:3 mit Verweis auf den kalifornischen Field Code von 1872. Ganz beiseiteschieben wird man den Einfluss von Wood’s Buch allerdings nicht können, gab er den Gerichten doch nun erstmals die Möglichkeit, ein einzelnes Standardwerk mit einer unzweideutigen Aussage zur Untermauerung ihrer Entscheidungen zu zitieren. Nicht umsonst entwickelte sich als Synonym für die „at-will“-Doktin auch der Name „Wood’s Rule“, vgl. Martin v. New York Life Ins. Co., 148 N.Y. 117, 121 (N.Y. 1895); Greer v. Arlington Mills Mfg. Co., 43 A. 609, 610 (Del. Super. Ct. 1899); Shapiro/Tune, 26 Stan L. Rev. 335, 342 (1973). 187 Aus den Bedürfnissen einer landwirtschaftsbasierten Gesellschaft heraus hatte sich in England schon früh die Regel durchgesetzt, dass Arbeitsverträge in Abwesenheit einer konkreten vertraglichen Zeitbestimmung als für ein Jahr geschlossen gelten sollen, s. 1 Blackstone, Commentaries (1765–1769), ch. 14, p. 414: „If the hiring be general without any particular time limited, the law construes it to be a hiring for a year; upon a principle of natural equity, that the servant shall serve, and the master maintain him, throughout all the revolutions of the respective seasons; as well when there is work to be done, as when there is not.“ Diese Vermutungswirkung war schwer zu widerlegen, galt für sämtliche Berufsgruppen und wurde ergänzt durch eine mindestens einmonatige Vorankündigungsobliegenheit für den Fall, dass das Arbeitsverhältnis nicht fortgesetzt werden sollte, Feinman, 20 Am. J. Legal Hist. 118, 119–21 (1976) m.w.N. 188 S. hierzu die Nachweise in Fn. 186. 185
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schaftspolitisch willkommene Grundlage für die Flexibilisierung des Arbeitsmarkts im Zeitalter der US-amerikanischen Industrialisierung.189 Die Patronage der Rechtsprechung für dieses Verständnis von Privatautonomie ging dabei so weit, dass der Supreme Court in einer Reihe von Entscheidungen anklingen ließ, dass er die Vertragsfreiheit im Sinne der „at-will“Doktrin als elementares Verfassungsrecht 190 ansehe und damit beinahe jede gesetzliche Einschränkung als Verfassungsbruch einstufen würde. 191 Für 189 Die Brücke zwischen wirtschaftlich Opportunem und rechtlich Gebotenem wurde dabei über den wirtschaftspolitischen Aktivismus großer Teile der Richterschaft geschlagen, s. grundlegend bereits Allgeyer v. State of Lousianna, 165 U.S. 578, 589 (1897); epochenprägend dann Lochner v. New York, 198 U.S. 45 (1905); ferner Adkins v. Children’s Hospital, 261 U.S. 525 (1923). Sehr kritisch gegenüber dieser Entwicklung bereits Justice Homes Dissent in Lochner v. New York, 198 U.S. 45, 75 (1905): „This case is decided upon an economic theory which a large part of the country does not entertain. If it were a question whether I agreed with that theory, I should desire to study it further and long before making up my mind. But I do not conceive that to be my duty, because I strongly believe that my agreement or disagreement has nothing to do with the right of a majority to embody their opinions in law. […] The 14th Amendment does not enact Mr. Herbert Spencer's Social Statics […].“ Auch heute noch spielen wirtschaftspolitische Erwägungen bei der Verteidigung der „at-will“-Doktrin eine große Rolle, allerdings zumeist nicht im gesamtgesellschaftlichen Kontext, sondern im Rahmen des Standortwettbewerbs der Einzelstaaten, vgl. Whittaker v. Care-More, Inc., 621 S.W.2d 395, 397 (Tenn. Ct. App. 1981): „Tennessee has made enormous strides in recent years in its attraction of new industry […] The impact on the continuation of such influx of new businesses should be carefully considered before any substantial modification is made in the employee-atwill rule.“ 190 Gestützt wurde – und wird – die Vertragsfreiheit auf die „Due Process Clause“ des 5. und 14. Amendments: „[No person shall] be deprived of life, liberty, or property, without due process of law […].“ Während die „Due Process Clause“ auch heute noch alles andere als rein prozessual interpretiert wird, sondern in vielen Bereichen als eine Art materielle Generalgrundrechtsklausel fungiert, unterscheidet sich die inhaltliche Kontrolldichte bei Eingriffen in die Vertragsfreiheit erheblich von der politischen Einflussnahme der Gerichte in Zeiten der „Lochner-Era“. Ausführlich zur historischen „substansive economic due process clause“ und heutigen Äquivalenten Mayer, 60 Mercer L. Rev. 563 (2009); McCaskey, 3 Seton Hall Const. L. J. 409, 424 et seq. (1993). 191 Vgl. Adair v. United States, 208 U.S. 161 (1908) und Coppage v. Kansas, 236 U.S. 1 (1915), in denen das Gericht Gesetze des Bundes bzw. des Staates Kansas für nichtig erklärte, die es Arbeitgebern unter Strafandrohung untersagten, Arbeitnehmer unter Androhung von arbeitsrechtlichen Konsequenzen vertraglich zu verpflichten, während der Dauer des Arbeitsverhältnisses keiner Gewerkschaft beizutreten. In Coppage v. Kansas, 236 U.S. 1, 14 (1915) heißt es dazu wörtlich: „Included in the right of personal liberty and the right of private property – partaking of the nature of each – is the right to make contracts for the acquisition of property. Chief among such contracts is that of personal employment, by which labor and other services are exchanged for money or other forms of property. If this right be struck down or arbitrarily interfered with, there is a substantial impairment of liberty in the long-established constitutional sense. The right is as essential to the laborer as to the capitalist, to the poor as to the rich; for the vast majority of persons
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Whistleblower hatte dies zur Folge, dass sie bei der Meldung von Straftaten oder rechtswidrigen Zuständen in ihrem Arbeitsumfeld einer Kündigung schutzlos gegenüberstanden und somit unmittelbar um ihre wirtschaftliche Existenz fürchten mussten, sofern sie nicht ausnahmsweise in den begrenzten Anwendungsbereich etwa des False Claims Act fielen.192 2. Der National Labor Relations Act von 1935 als Blaupause des Whistleblowing-Rechts Die Absolutheit dieser rechtlichen Betrachtungsweise begann sich erst zu ändern, als auch die wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Grundannahmen, auf denen sie letztlich beruhte, durch die politischen Akteure der Zeit einer Neubewertung unterzogen wurden. Taktgebend für diese graduelle Loslösung war allerdings nicht das Individual-, sondern das Kollektivarbeitsrecht, nachdem sich als Gegengewicht zur fortschreitenden Industrialisierung in den USA (ebenso wie in den meisten anderen Industriestaaten) eine organisierte Gewerkschaftsbewegung herausgebildet hatte. Letztere sah sich zum Teil bis in die 1930er Jahre hinein einer oft äußerst skeptischen Rechtsprechung gegenüber, welche selbst wiederum aber nicht über die geeigneten Mittel verfügte, den kollektiven Arbeitskampf in geordnete Bahnen zu lenken.193 Als Reaktion hierauf erließ der Kongress zur Zeit der „Great Depression“ unter dem Eindruck von wirtschaftlicher Not und zunehmenden Arbeitnehmerunruhen den „National Labor Relations Act“ (NLRA), 194 der als Teil have no other honest way to begin to acquire property, save by working for money.“ Auch wenn diese Rechtsprechung den dogmatischen Anschein hatte, nur gewisse, unverhältnismäßige Eingriffe in die Vertragsfreiheit für verfassungswidrig zu halten („arbitrarily interfered with“) und tatsächlich in wenigen Fällen zugunsten des Gesetzgebers entschied (etwa in Holden v. Hardy, 169 U.S. 366 (1898), so führte die wirtschaftspolitische Haltung der Richter (vgl. Fn. 189) doch dazu, dass der Abwägungsprozess de facto in aller Regel zugunsten der Vertragsfreiheit im Sinne der „at-will“-Doktrin ausgehen musste, vgl. Phillips, Wis. L. Rev. 265, 274–80 (1987); Mayer, 60 Mercer L. Rev. 563, 622–39 (2009), jeweils m.w.N. 192 Neben dem False Claims Act existierten zu dieser Zeit zwar auch vereinzelte andere Bestimmungen für die finanzielle Belohnung von Informanten, etwa im Bereich des Betäubungsmittelrechts. Ihnen war jedoch gemein, dass die Belohnung meist vom Ermessen der Gerichte oder Behörden abhing und zur finanziellen Kompensation einer gestörten Erwerbsbiographie wohl kaum ausreichten, vgl. U.S. ex rel. Marcus v. Hess, 317 U.S. 537, 549, note 9 (1943). 193 Higgins (ed.), Labor Law, ch. 1, p. 4–8 m.w.N. zum sog. „government by injunction“, das mit seinen gerichtlichen Einzelfallentscheidungen für die Entwicklung einer kohärenten Arbeitskampfpolitik ungeeignet war und es Arbeitgebern besonders leicht machte, über einstweilige Anordnungen einen effektiven Abschreckungseffekt zu erzielen. 194 Act of July 5, 1935, 78th Cong., 1st Sess., ch. 372, 49 Stat. 449, heute 29 U.S.C. § 151 et seq, auch bekannt als „Wagner Act“ nach Sen. Robert Wagner, dessen Bemühungen und Erfahrungen maßgeblich dafür verantwortlich sind, dass der NLRA mit seinem
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des „Second New Deal“ von Präsident Roosevelt die landesweite Anerkennung von Gewerkschaften bezweckte. 195 Programmatisches Kernstück dieser „Magna Carta“ des kollektiven Arbeitsrechts war § 7 NLRA,196 der Arbeitnehmern das Recht einräumte, sich in einer Gewerkschaft ihrer Wahl zu organisieren und sich frei von entsprechenden Repressalien zu engagieren. 197 Auf diese Weise sollte das Gesetz nicht nur der Wiederherstellung materieller Verhandlungsparität zwischen den Arbeitskampfparteien dienen, sondern gleichzeitig eine geordnete Beilegung von Lohnstreitigkeiten im Interesse der gesamtwirtschaftlichen Lage des Landes ermöglichen. 198 Geschützt wurde vergleichsweise radikalen Reformansatz und dem dezidiert robusten Administrativmandat des NLRB zustande gekommen ist. Ausführlich und m.w.N. Keyserling, 29 Geo. Wash. L. Rev. 199 (1960); Casebeer, 11 Berkeley J. Emp. & Lab. L. 73 (1989). 195 Bereits zuvor hatte das Federal Government einige gewerkschaftsfreundliche Gesetze erlassen, die thematische und industrielle Teilbereiche der Gewerkschaftsbewegung unter besseren Schutz stellen sollte. Hierzu zählen der Erdman Act von 1898, 30 Stat. 424, der in seinem § 10 das im Adair-Urteil aufgehobene Verbot arbeitsrechtlicher Konsequenzen für gewerkschaftlich aktive Eisenbahner enthielt (Fn. 191); der Clayton Act von 1914, 38 Stat. 730, der Gewerkschaften aus dem Anwendungsbereich des Kartellrechts ausnahm (§ 6 Clayton Act, heute 15 U.S.C. § 17) und die gerichtliche Anordnung einstweiliger Verfügungen gegen Gewerkschaftsaktivitäten einschränkte (§ 20 Clayton Act, heute 29 U.S.C. § 52); sowie hierauf aufbauend der Norris-LaGuardi Act von 1932, 47 Stat. 70, dessen § 4 und 7 die Anordnungsbefugnis der Gerichte noch deutlicher einschränkten (heute 29 U.S.C. § 101). Als am wohl wichtigsten darf aber der Railway Labor Act von 1926 gelten, 44 Stat. 577 (heute 45 U.S.C. § 151 et seq.), der (mit eher unwichtigen Unterschieden im Detail) die angegriffenen Schutzbestimmungen des Erdman Act wiederaufleben ließ, dieses Mal aber vom Supreme Court in Texas & N.O. Railroad v. Railway & Steamship Clerks, 281 U.S. 548, 570–71 (1930) überraschenderweise für verfassungskonform befunden wurde und damit eine gewisse Basis für den späteren NLRA bot. Ausführlich zum Ganzen Higgins (ed.), Labor Law, ch. 1, p. 8–23. 196 Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die gängige Abkürzung der „Section“ mit einem „§“-Symbol zwar v.a. in älteren US-Gesetze und Quellen nicht allgemein gebräuchlich war, in der Sache allerdings damals wie heute Bezug auf das gleiche Gesetzeselement im Sinne eines Oberabschnitts genommen wird (im Unterschied zu einem Unterabsatz im Sinne der englischen Verwendung des Wortes „paragraph“). 197 § 7 des Act of July 5, 1935, 49 Stat. 449, 452: „Employees shall have the right to self-organization, to form, join, or assist labor organizations, to bargain collectively through representatives of their own choosing, and to engage in concerted activities, for the purpose of collective bargaining or other mutual aid or protection.“ 198 Vgl. die Präambel des Act of July 5, 1935, 49 Stat. 449, 449–50, sec. 1: „The denial by employers of the right of employees to organize and the refusal by employers to accept the procedure of collective bargaining lead to strikes and other forms of industrial strife or unrest, which have the intent or the necessary effect of burdening or obstructing commerce […] The inequality of bargaining power between employees who do not possess full freedom of association or actual liberty of contract […] burdens and affects the flow of commerce, and tends to aggravate recurrent business depressions […] Experience has proved [sic] that protection by law of the right of employees to organize and bargain collectively
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dieses Recht über § 8(a)(3) NLRA, der es Arbeitgebern nun zum ersten Mal industrieübergreifend untersagte, gewerkschaftlich aktive Arbeitnehmer unter Druck zu setzen bzw. aufgrund ihrer Gewerkschaftstätigkeit zu entlassen.199 Zur administrativen Durchsetzung der Bestimmungen des NLRA rief das Gesetz das „National Labor Relations Board“ (NLRB) ins Leben, dem die Verantwortung zur Überwachung der Einhaltung bzw. Ahndung von Verstößen gegen § 8(a)(3) NLRA übertragen wurde.200 In direkter Nachbarschaft zu dieser ersten weitreichenden Einschränkung der „at-will“-Doktrin findet sich außerdem ein Vorläufer späterer Whistleblowing-Normen, der sich für die weitere Entwicklung des WhistleblowerSchutzes auf Bundesebene als prägend erweisen sollte. 201 Bereits vor Erlass des NLRA war dem Gesetzgeber bewusst, dass das NLRB unabdingbar auf Informationen aus der Mitte der Belegschaften angewiesen sein würde, wenn es in die Lage versetzt werden sollte, die Überwachung von § 8(a)(3) NLRA landesweit effektiv zu bewerkstelligen. 202 Aus diesem Grund wurde das NLRB bewusst als eine Kombination aus Melde- und Abhilfestelle konstruiert, die auf Anfragen und Hinweise aus dem ganzen Land reagieren und ein förmliches Untersuchungsverfahren mit anschließender Anordnung von etwa-
safeguards commerce […] by restoring equality of bargaining power between employers and employees.“ Im Rückblick wird man allerdings bezweifeln können, ob allein die Gefahren für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung wirklich das allein ausschlaggebende Motiv des Gesetzes gewesen sind, bedenkt man Sen. Wagners ausgewiesen arbeitnehmerfreundliche Grundhaltung (vgl. Fn. 202). Mit den Verweisen auf „commerce clause“ und Vertragsfreiheit („actual“ liberty of contract) wird man die Präambel vor allem als vorweggenommene Antwort auf die vorhersehbaren Einwände des Supreme Court lesen dürfen (vgl. Rn. 30). 199 § 8(a)(3) NLRA, 49 Stat. 449, 452 „[It shall be an unfair labor practice for an employer] By discrimination in regard to hire or tenure of employment or any term or condition of employment to encourage or discourage membership in any labor organization […]” 200 § 10(a) NLRA, 49 Stat. 449, 453. Darüber hinaus wurde das NLRB mit der Überwachung der Wahlen von Arbeitnehmervertretern betraut (§ 9 NLRA) und ihm eine umfassende Verordnungsermächtigung eingeräumt (§ 6(a) NLRA). 201 Da die entsprechenden Originalbestimmungen des NLRA in Deutschland nur schwer zugänglich sind, wurden sie dieser Arbeit als Appendix A2 angefügt. 202 Diese Überzeugung speiste sich unter anderem aus den offenbar frustrierenden Erfahrungen, die Sen. Wagner als Vorsitzender des Vorläufers des NLRB gemacht hatte, des National Labor Board (NLB). Da dieses kaum mit wirkungsmächtigen Kompetenzen ausgestattete Gremium nicht verhindern konnte, dass Arbeitgeber die Verhandlungsaufnahme mit Gewerkschaften verweigerten und unliebsame Gewerkschafter einfach entließen, forderte er sehr bald die Einrichtung einer gerichtsgleichen Agency mit klaren Kompetenzen und rechtsverbindlicher Anordnungsbefugnis. Madden, 29 Geo. Wash. L. Rev. 234, 237 (1960).
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igen Konsequenzen einleiten konnte. 203 Um nun die Mitwirkung der Arbeitnehmer an diesem Prozess – und damit die Informationsversorgung des NLRB – zu gewährleisten, wurde mit § 8(a)(4) NLRA eine Bestimmung eingeführt, die Arbeitgebern jegliche negative arbeitsrechtliche Konsequenzen für die Beteiligung an einem NLRB-Verfahren untersagte: „[It shall be an unfair labor practice for an employer] to discharge or otherwise discriminate against an employee because he has filed charges or given testimony under this act.“ In Kombination mit der Befugnis des NLRB, die Wiedereinstellung des Arbeitnehmers und andere kompensatorische Maßnahmen anzuordnen, 204 wurden informationswillige Arbeitnehmer hierdurch erstmals durch eine umfassende, arbeits(verwaltungs)rechtliche Ausnahme zur „at-will“-Doktrin geschützt.205 Mit diesen Maßnahmen hatte das Federal Government sich in bis dahin nicht gekanntem Ausmaß in die landesweite Regulierung des Arbeitsrechts vorgewagt, ohne hierfür allerdings auf einen unmittelbaren Kompetenztitel innerhalb des traditionell stark limitierenden Staatsorganisationsrechts der USA verweisen zu können.206 Wie von der Regierung Roosevelt erwartet, wurde das Gesetz daher arbeitgeberseitig vor dem Supreme Court in formel203 Das Verfahren nach den § 10 und 11 beginnt in der Regel mit der jeweiligen Beschwerde (§ 10(b): „Whenever it is charged […]“), setzt sich fort über Anhörungen und hoheitliche Investigativmaßnahmen (§ 10(b), (c) und 11) und endet ggf. mit den entsprechenden Unterlassensanordnungen (§ 10(c), nötigenfalls unterstützt durch ein Amtshilfeersuchen an die Gerichte (§ 10(e)), die darüber hinaus als Berufungs- und Revisionsinstanzen fungieren (§ 10(f)). Vgl. zu Bedeutung der Individualbeschwerden für die Funktionsfähigkeit des Boards auch NLRB v. Scrivener, 405 U.S. 117, 122 (1972) („[I]mplimentation is dependent upon initiative of individual persons“). 204 § 10(c) NLRA, 49 Stat. 449, 453: [T]he Board shall state its findings of fact and shall issue…an order requiring such person to cease and desist from such unfair labor practice, and to take such affirmative action, including reinstatement of employees with or without back pay, as will effectuate the policies of this Act […]“ 205 Auch wenn bereits der Railway Labor Act in seinem begrenzten Anwendungsbereich über im Ansatz ähnliche Normstrukturen verfügte (vgl. Fn. 195), stellt der NLRA damit in Reichweite und Einfluss den Beginn des bundesrechtlichen Verwaltungsarbeitsrechts in den USA dar. 206 Die im Wesentlichen in Art. I § 8 U.S. Const. niedergelegten Kompetenzen des Federal Government sind im Vergleich zum ausführlichen Katalog der Art. 70 ff. GG und dem der meisten anderen föderalen Systeme stark beschränkt. Während das Federal Government zwar in Bereichen der Außen- und Sicherheitspolitik über eine relativ robuste Zuständigkeit verfügt, fehlen entsprechende Kompetenzen in den Bereichen des Zivil- und Wirtschaftsrechts. Um dieses historisch bedingte Defizit auszugleichen, waren und sind die Vereinigten Staaten auf eine flexible Interpretation anderer Kompetenztitel angewiesen, von denen der mit Abstand wichtigste die Zuständigkeit zur Regulierung des zwischenstaatlichen Handels aus Art. 1 § 8 cl. 3 U.S. Const. ist – die sog. „commerce clause“. Vgl. statt vieler zu diesem Paradigma des US-Verfassungsrechts Abernathy, Law in the U.S., p. 290–354.
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ler und materieller Hinsicht angegriffen. 207 Anders als viele vermuteten, wurde der NLRA jedoch in der wegweisenden 5:4-Entscheidung des Gerichts in Sachen NLRB v. Jones & Laughlin Steel Corp. 208 für verfassungsgemäß erklärt und begründete damit eine neue Ära der föderalen Arbeits- und Wirtschaftsregulierung. Während der Supreme Court seine vorherigen Andeutungen über den annähernd absoluten, verfassungsmäßigen Schutz der Vertragsfreiheit eher en passant beiseiteschob,209 erweiterte er in bemerkenswerter Weise die Gesetzgebungskompetenzen des Federal Government auf Basis der „commerce clause“.210 Dem Kongress wurde ausdrücklich das Recht zuge207
Zuvor hatte der Supreme Court bereits mehrere Gesetze des „New Deal“ für verfassungswidrig erklärt und geriet so in einen teils offenen Konflikt mit der Regierung Roosevelt, s. Friedman, 148 U. Pa. L. Rev. 971, 988–96 (2000). 208 NLRB v. Jones & Laughlin Steel Corp., 301 U.S. 1 (1937). 209 NLRB v. Jones & Laughlin Steel Corp., 301 U.S. 1, 33–34, 45–46 (1937). Dabei geht das Gericht noch nicht einmal unmittelbar auf die verfassungsrechtliche Dimension der Vertragsfreiheit ein, sondern betont vielmehr die generelle Notwendigkeit kollektiver Interessenvertretung und verweist im Übrigen auf seine frühere Entscheidung in Texas & N.O. Railroad v. Railway & Steamship Clerks (Fn. 195). Hierin hatte es eine direkte Auseinandersetzung mit der „substantive due process“-Rechtsprechung bereits dadurch vermieden, dass es sprachlich einfach zwischen einem „normalen“ Kündigungsrecht des Arbeitgebers und seinem nicht existenten Recht auf Einflussnahme auf die Wahl von Arbeitnehmervertretern unterschied (ebd., S. 571). Eine deutliche Distanzierung von der Theorie der verfassungsrechtlicher Unantastbarkeit der „at-will“-Doktrin folge erst später in Phelps Dodge Corp. v. NLRB, 313 U.S. 177, 187 (1941), in der das Gericht mit Verweis auf die Entwicklung seiner kollektivarbeitsrechtlichen Rechtsprechung die Begründung in Adair v. United States, 208 U.S. 161 (1907) und Coppage v. Kansas, 236 U.S. 1 (1914) explizit für hinfällig erklärte. 210 NLRB v. Jones & Laughlin Steel Corp., 301 U.S. 1, 34–43, (1937). In Abkehr von seiner bisherigen Rechtsprechung entschied der Supreme Court, dass die kompetenzrechtlich notwendige Verbindung zwischen dem regulierten Rechtsgebiet (hier dem Arbeitsrecht) und dessen Auswirkungen auf den zwischenstaatlichen Handel („interstate commerce“, Art. I, § 8, cl. 3 U.S. Const.) nicht über die Dichotomie zwischen „direkten“ und „indirekten“ Effekten zu bestimmen ist, sondern auch vermeintlich innerstaatliche Ereignisse graduell auf den zwischenstaatlichen Handel Einfluss nehmen können („The question [of the scope of Congress‘ power] is necessarily one of degree“, ebd., S. 37). Konkreter Hintergrund dieser Beurteilungen waren die Befürchtungen des Gerichts, dass drohende Arbeitsniederlegungen in der Stahlproduktion trotz ihres scheinbar rein lokalen Charakters im Endeffekt zu einer Ressourcenknappheit und damit zu potentiell katastrophalen gesamtwirtschaftlichen Folgen zu Zeiten der „Great Depression“ führen könnten, ebd., S. 41 f. In der Sache wurde hierdurch die Kompetenz des Federal Government erheblich flexibilisiert und ein Wendepunkt in der verfassungsrechtlichen Beurteilung föderaler (Wirtschafts-)Regulierung eingeläutet. So im Rückblick auch United States v. Lopez, 514 U.S. 549, 555 (1995); ebd., S. 573 (Concurring Opinion von Justice Kenndy); United States v. Morrison, 529 U.S. 598, 607–08 (2000); Homan, 73 Denv. U. L. Rev. 237, 252– 53. (1995). Zur entsprechenden Entwicklung auf dem Gebiet des Gesellschafts- und Kapitalmarktrechts, vgl. Fn. 798.
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standen, im Interesse des zwischenstaatlichen Handels auch auf prima facie rein innerstaatliche Kompetenzfelder wie das Arbeitsrecht einzuwirken, um hierdurch die Durchsetzung seiner national festgelegten Regulierungsabsichten zu ermöglichen. Hierdurch war es dem Federal Government nun möglich, die „at-will“-Doktrin im Interesse der eigenen politischen Ziele und einhergehender Informationsbedürfnisse punktuell außer Kraft zu setzen – und damit nicht zuletzt eine dogmatische Basis für ein bundeseigenes, durch Kündigungs- und Diskriminierungsschutz abgesichertes WhistleblowingRecht zu schaffen. Wiewohl der NLRA im Laufe der Jahrzehnte durch den Niedergang der Gewerkschaftsbewegung in den USA kontinuierlich an Bedeutung verlor und damit auch seiner Proto-Whistleblowing-Norm in § 8(a)(4) NLRA heute keine besondere Praxisrelevanz mehr zukommt211, hat er sich doch gleich in mehrerlei Hinsicht als systemprägend für die weitere Entwicklung des Whistleblowing-Rechts erwiesen. Das gilt zunächst und vor allem für die Öffnung der verfassungsrechtlichen Kompetenzordnung für begrenzte Eingriffe des Federal Government zur Regulierung des Arbeitsrechts. Ohne die Entscheidung des Supreme Court in NLRB v. Jones & Laughlin Steel Corp. und die darauf folgende Liberalisierung der „commerce clause“-Rechtsprechung212 wäre es nicht zu jener Welle an föderalen Regulierungsbestrebungen gekommen, die in den 1970er Jahren die Geburt und Perpetuierung des modernen Whistleblowing-Rechts auslösen sollte.213 Das gilt des Weiteren ganz konkret für die dogmatische Struktur und politische Motivation, die noch heute hinter den meisten landesweiten Whistleblower-Schutzbestimmungen der USA stehen. In den Jahren nach Inkrafttreten des NLRA sorgte die Informantenschutzklausel in § 8(a)(4) NLRA zum ersten Mal dafür, dass Arbeitnehmer sich in großer Zahl ohne Angst vor arbeitsrechtlichen Repressalien und Kündigungen an eine staatliche Stelle wenden konnten. 214 Hierdurch wiederum 211 Vgl. Modesitt/Schulman/Westman, Retaliatory Discharge, ch. 1, p. 8. Der Anteil an Gewerkschaftsmitgliedern an der Gesamtzahl aller Arbeitnehmer sinkt in den USA bis heute kontinuierlich und lag 2014 bei gerade einmal 11,1%. Auf dem Gebiet des unter Whistleblowing-Gesichtspunkten besonders schutzbedürftigen Privatsektors ist die Quote mit 6,6% sogar noch einmal deutlich niedriger. S. Bureau of Labor Statistics, Union Member Summary, abrufbar unter . 212 Vgl. Homan, 73 Denv. U. L. Rev. 237, 254 et seq. (1995); Goodwin, 49 Okla L. Rev. 159, 164–65 (1996); Arthur, 34 Chreighton L. Rev. 675, 714 et seq. (2001); jeweils m.w.N. zur auf NLRB v. Jones & Laughlin Steel Corp. aufbauenden Entwicklung der „commerce clause“. 213 Hierzu sogleich unter Rn. 33 ff. 214 Unterstützt wurden sie hierbei durch eine nicht am Wortlaut des § 8(a)(4) NLRA verhaftete Auslegungspraxis des NLRB und der zuständigen Gerichte. In der Zeit nach Erlass des Gesetzes wurde auf breiter Front nahezu jedwede gutgläubige Informationswiedergabe an das NLRB unter Nichtdiskriminierungsschutz gestellt, insbes. auch wenn diese nicht in der Gestalt formeller „charges“ erfolgte. Higgins (ed.), Labor Law, ch. 7.VI
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erkannte die Regierung den essentiellen Wert, den die Einbindung privater Informationsinsider bei der Umsetzung ihrer politischen Agenda haben konnte.215 Es lag daher nahe, auch in anderen Regulierungsbereichen durch ergänzende Annexnormen den arbeitsrechtlichen Schutz von Whistleblowern zu garantieren und damit ihr Informationspotential leichter heben zu können – ein legislatives Konzept, das sich später in Form der sog. „adjunct statutes“ durchsetzen sollte.216 Im Unterschied zum früheren False Claims Act setzte der NLRA dabei von Anfang an auf die Kooperation der öffentlichen Behörden mit den privaten Informationsträgern. Letzteren wies das Gesetz in Gestalt des NLRB eine konkrete, spezialisierte Anlaufstelle zu und sorgte zudem mit einem geordneten administrativen Verfahren für eine effiziente Selektion und Verfolgung der betreffenden Rechtsverstöße – auch das ein Merkmal des US-amerikanischen Whistleblowing-Rechts, dessen spätere praktische Bedeutsamkeit nicht zu unterschätzen ist. 217 Darüber hinaus setzte der Supreme Court in NLRB v. Jones & Laughlin Steel Corp. auch der Idee einer verfassungsrechtlich absoluten Vertragsfreiheit und damit der Unantastbarkeit der „at-will“-Doktrin ein Ende. An ihrer statt manifestiert sich in der Entscheidung der Gedanke, dass die Rechtsdurchsetzungsinteressen des Staates in Einzelfällen das Kündigungsrecht des Arbeitgebers rechtswirksam beschränken können.218 Dieser Ansatz einer potentiellen Drittwirkung öffentlicher Interessen auf das privatrechtliche Verhältnis zwischen den Vertragsparteien sollte in einigen Jahren die intellektuelle Basis der sog. „public policy exception“ werden, des tragenden Fundaments des Whistleblower-Schutzes auf einzelstaatlicher Ebene. 219 Neben der dogmengeschichtlichen Bedeutung von § 8(a) NLRA für die spätere Entwicklung des Whistleblowing-Rechts in den USA werfen die Entstehung des Gesetzes und das Urteil des Supreme Court aber auch ein Licht auf die neben der „at-will“-Doktrin zweite entscheidende Vorbedingung des US-amerikanischen Rechtssystems, welche die Rechtslandschaft des Whistlep. 429–45 m.w.N. Durch sukzessive teleologische Extension näherte sich § 8(a)(4) NLRA dadurch immer mehr einer Whistleblowing-Norm modernen Zuschnitts an. 215 So im Ergebnis auch Modesitt/Schulman/Westman, Retaliatory Discharge, ch. 1, p. 8 216 Der heute gängige Begriff der „adjunct statutes“ stammt von Callahann/Dworkin, 38 Am. Bus. L. J. 99, 103 (2000) und wird üblicherweise in Abgrenzung zu „echten“ Whistleblower-Gesetzen oder auch „core statutes“ verwendet, die Whistleblowing in einem definierten Anwendungsbereich als solches schützen und nicht der Effektuierung einer anderen „public policy“ dienen. Bishara/Callahan/Dworkin, 10 N.Y.U. J. L. & Bus. 37, 44 (2013). 217 S. Rn. 39; am Beispiel des modernen SEC Whistleblower Program etwa Rn. 194 ff. 218 Eben hierin wird man eine der entscheidenden Ursachen für das in den USA verbreitete Verständnis vom Arbeitsrechts als quasi-öffentlich-rechtlicher Regelungsmaterie sehen müssen, dessen Rechtsnatur sich nicht zuletzt durch seine oft verwaltungsgebundene Ausgestaltung vom klassischen Zivilrecht als passivem Instrument einer reinen Verwirklichung der Privatautonomie des Einzelnen unterscheidet. 219 Hierzu unter Rn. 42 ff.
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blower-Schutzes in den Vereinigten Staaten nach wie vor maßgeblich prägt. Während in vielen anderen, föderal organisierten Staaten einschließlich Deutschlands die Gesetzgebungskompetenz für das Arbeitsrecht in der Hand des Bundes liegt,220 verfügt die US-amerikanische Bundesebene über keinen vergleichbaren Kompetenztitel. Als Konsequenz dieser verfassungsrechtlichen Limitierung muss sich das Federal Government auf eine seiner „enumerated powers“ berufen, allen voran auf den mit Abstand flexibelsten Kompetenztitel in Gestalt der bereits erwähnten „commerce clause“.221 Hierin liegt nicht nur der Hauptgrund für das charakteristische Nebeneinander einer beispiellosen Anzahl verschiedener Whistleblowing-Gesetze im gesamten Bundesgebiet, sondern zugleich die entwicklungsgeschichtliche Ursache für die Entstehung eines zweigliedrigen Systems des Whistleblower-Schutzes auf föderaler und einzelstaatlicher Ebene. Die trotz mancher Interdependenzen unterschiedlichen Charakteristika dieser beiden Entwicklungslinien und ihre Auswirkungen auf den Status quo des modernen Whistleblower-Schutzes in den USA sind Thema der folgenden beiden Abschnitte.
B. Das Federal Law als Motor des Whistleblower-Schutzes ab Mitte der 1960er Jahre B. Das Federal Law ab Mitte der 1960er Jahre
I. Die Entstehung der Adjunct Statutes und Anti-Retaliation Provisions Auch wenn das Federal Government als Urheber der ersten WhistleblowingGesetze in den USA nicht über die notwendigen Kompetenzen für eine umfassende Reform der „at-will“-Doktrin für die Verfolgung seiner administrativen Interessen verfügte, erwies sich die im NLRA verwirklichte Idee einer Gesetzesstruktur mit arbeitnehmerschützenden Annexnormen (sog. „adjunct 220
S. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG. Wenngleich die Interpretation der „commerce clause“ seit den Zeiten des „New Deal“ eine im Vergleich zu ihrer ursprünglichen Bedeutung bemerkenswerte Liberalisierung erfahren hat, ist der Preis ihrer Flexibilisierung ein immer wiederkehrender Disput in Rechtsprechung und Politik, der konkrete Vorhersagen über ihren gerichtlich anerkannten Anwendungsbereich schwierig macht. Auch heute noch ist die konkrete Dogmatik den Gezeiten wechselnder Mehrheitsverhältnisse unterworfen und entzieht sich in ihrer Komplexität einer Detaildarstellung im Rahmen dieser Arbeit (vgl. statt vieler die Nachw. in Fn. 212). Noch immer ist daher nicht geklärt, ob und unter welchen Bedingungen auch genuin nicht-wirtschaftliches Verhalten im Grundsatz einer Regulierung im Rahmen der „commerce clause“ untersteht (s. Gonzales v. Raich, 545 U.S. 1, 18–27 (2005) einerseits und United States v. Morrison, 529 U.S. 598, 610–13 (2000) andererseits). Es darf aber trotzdem angenommen werde, dass an der mittlerweile traditionellen Verwendung von Whistleblowing-Bestimmungen keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Zweifel mehr bestehen, solange diese nur in irgendeiner Weise der Durchsetzung eines legitimen „public policy“-Interesses des Federal Government dienen. 221
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statutes“) mit einer gewissen Verzögerung als wesentlich für die weitere Entwicklung.222 Unterstützt wurden der partielle Schutz der Arbeitnehmer hierbei durch eine nicht am Wortlaut des § 8(a)(4) NLRA verhaftete Auslegungspraxis des NLRB und der zuständigen Gerichte. In der Zeit nach Inkrafttreten des NLRA wurden im Sinne einer Effektivierung des kollektiven Arbeitsrechts auf breiter Front gutgläubige Informationsweitergaben an das NLRB unter Nichtdiskriminierungsschutz gestellt, insbesondere auch, wenn diese nicht in der Gestalt formeller „charges“ erfolgten.223 Durch sukzessive teleologische Extension näherte § 8(a)(4) NLRA sich dadurch immer mehr einer Whistleblowing-Norm modernen Zuschnitts an. Wenngleich im Zuge des New Deals vereinzelt weitere Whistleblowing-Normen erlassen wurden, blieb das Modell einer durch gezielte private Informationsversorgung unterstützten Behörde allerdings trotz seiner gut dokumentierten Erfolge zunächst eine Ausnahme.224 Die Situation änderte sich ab Mitte der 1960er Jahre im Zuge weiterer Expansionsbestrebungen des Federal Law, deren Basis wie zuvor in aller Regel eine zunehmend liberalere Interpretation der „commerce clause“ war. Anders als noch in den Jahren vor der New Deal Gesetzgebung hatte sich der Supreme Court weitgehend aus der Kontrolle der föderalen Kompetenzordnung zurückgezogen und gestattete dem Gesetzgeber eine vergleichsweise weite Einschätzungsprärogative, solange dieser jedenfalls gewisse rechtspraktische Auswirkungen einer von ihm regulierten Materie auf den zwischenstaatlichen Handel angenommen hatte bzw. annehmen durfte.225 Dabei kam es dem Su222
Es sei bereits angemerkt, dass die in Deutschland gängigerweise zu findende Darstellung, wonach sich das Whistleblowing-Recht über die „public policy doctrin“ zunächst in den Einzelstaaten und später auch auf Bundesebene ausgebreitet habe (vgl. nur Ogorek, LA Weiss 2005, 539, 541 ff. m.w.N.) demgegenüber keine hinreichende Stütze in der Entwicklungsgeschichte des Whistleblowing-Rechts findet. 223 Ausführlich zu den zu § 8(a)(4) NLRA ergangenen Entscheidungen: Higgins (ed.), Labor Law, ch. 7.IV p. 429–45 m.w.N. 224 Die soweit ersichtlich einzigen weiteren Gesetze von nennenswerter Bedeutung waren der Fair Labor Standards Act of 1938 (FLSA), 52 Stat. 1068, der das Verbot von Kinderarbeit, einen gesetzlichen Mindestlohn und die Begrenzung der Wochenarbeitsstunden enthielt und mit einer heute in 29 U.S.C. § 215(a)(3) zu findenden WhistleblowingBestimmung für dessen Durchsetzung sorgte, sowie der Federal Employer’s Liability Act of 1939 (FELA), 53 Stat. 1404, der eine Bußgeldvorschrift gegen die arbeitgeberseitige Einschüchterung von Whistleblowern enthielt (heute 45 U.S.C. § 60). Vgl. ferner Federal Employer’s Liability Act of 1939 (FELA), 53 Stat. 1404, Norm aktuell 45 U.S.C. 60 (Bußgeldvorschrift) 225 Ausreichend war zumeist eine sog. „rational basis“ der jeweiligen Auswirkungsabschätzung des Bundesgesetzgebers. So etwa bzgl. des Verbots der Diskriminierung von Afroamerikanern in Restaurants durch den Civil Rights Act Katzenbach v. McClung, 379 U.S. 294, 303–04 (1964): „Congress has determined for itself that refusals of service to Negroes have imposed burdens…upon the interstate flow of food…[W]here we find that
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preme Court explizit nicht darauf an, ob der Gesetzeszweck primär auf die Sicherstellung eines reibungslosen Ablaufs des Handels oder auf andere Ziele ausgerichtet war, solange das Gesetz bzw. die regulierte Aktivität jedenfalls einen kollateralen Effekt auf den „interstate commerce“ haben konnte.226 Die Folge dieser judikativen Entwicklung war ein Vordringen des Bundesrechts in Bereiche, die zuvor noch der einzelstaatlichen Domäne zugeordnet worden waren – entsprechend den Problemen der Zeit namentlich dem Schutz von Arbeitnehmer- und Bürgerrechten, der öffentlichen Sicherheit und Gesundheit sowie dem Umweltschutz. 227 Im Zuge dieser politisch-kompetenziellen Einschränkung des Federal Government wurde allerdings eine andere Einschränkung besonders deutlich: der Mangel an ausreichendem Personal und geeigneten Durchsetzungsinstrumenten, um die politische Agenda des Federal Government auch tatsächlich durchzusetzen.228 So ist es dem Federal Government in den USA (im Unterschied etwa zum „Exekutivföderalismus“ der Bundesrepublik Deutschland229) insbesondere grundsätzlich nicht gestattet, zur Ausführung seiner Gesetze auf die Verwaltungsapparate der Länder zuzugreifen, was sich gerade bei der umfassenden Kontrolle von qua Natur der Sache unternehmensinternen Vorgänge in einem Flächenstaat wie den USA als erhebliche Hürde erweist. 230 Als politisch wie finanziell vergleichsthe legislators, in light of the facts and testimony before them, have a rational basis for finding a chosen regulatory scheme necessary to the protection of commerce, our investigation is at an end.“ 226 Ebenfalls zum Civil Rights Act bzgl. der Diskriminierung in Hotels Heart of Atlanta Motel v. United States, 379 U.S. 241, 257 (1964): „That Congress was legislating against moral wrongs […] rendered its enactment no less valid.“ 227 Zur langen Periode des „judicial restraint“ in Kompetenzfragen statt vieler Graglia, 74 Tex. L. Rev. 719, 742 et seq. (1996); Merrit, 94 Mich L. Rev. 674 (1996); Mikhail, 86 J. Crim. L. & Criminology 1493, 1499–1502 (1996), jeweils aus Anlass des Endes dieser dogmengeschichtlichen Epochen in Form von U.S. v. Lopez, 514 U.S. 549 (1995). 228 Auch aufgrund des besonderen politischen Widerstandes, der in den USA mit Verwaltungsvergrößerungen einhergeht („big government“), hat sich die Zahl der Staatsbediensteten des Bundes in den vergangenen Jahrzehnten kaum erhöht. Vgl. U.S. Office of Personnel Management, Historic Federal Workforce Tables, Total Government Employment since 1962, abrufbar unter (ca. 2,5 Mio. Bedienstete im zivilen Sektor im Jahr 1962, ca. 2,7 Mio. im Jahr 2014). 229 Art 83 ff. GG, hierzu etwa Kirchhof, in: Maunz/Düring GG, Art 83 Rn. 1; Deutschland als angebliches Negativbeispiel für ein Plädoyer gegen einen „cooperative federalism“ heranziehend Greve, 70 Miss. L. J. 557, 563 et seq. (2000). 230 Die einzige relevante Ausnahme bildet die „tax and spending power“ des Federal Government, die es ihm gestattet, durch das Inaussichtstellen von Bundesmitteln auf die Politik der Einzelstaaten Einfluss zu nehmen. Auch hier gelten jedoch spätestens seit den Entscheidungen New York v. United States, 505 U.S. 144 (1992) und Printz v. United States, 521 U.S. 898 (1997) enge Grenzen. Insbesondere darf es nicht zu einer faktischen
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weise widerstandsarme Lösung bot sich an, eine weitreichende Kopplung administrativer Aufklärungsstellen mit privaten, unternehmensinternen Informationsträgern nach dem Vorbild von § 8(a)(4) NLRA anzustreben und hierbei die „at-will“-Doktrin in den entsprechenden Bereichen partiell außer Kraft zu setzen. Seit Ende der 1960er Jahre hat dieses Modell in einer international beispiellosen Art und Weise Eingang in die US-amerikanische Gesetzgebungstechnik gefunden und hierbei mittlerweile mehr als fünfzig verschiedene „adjunct statutes“ mit inhaltlich ähnlichen WhistleblowerSchutznormen hervorgebracht: die sog. „anti-retaliation provisions“. 231 Den zuvor beschriebenen Entstehungsursachen ist freilich gemein, dass ihre Wurzel in den (verfassungsrechtlichen) Vorbedingungen der USA bzw. im Bedürfnis des Federal Government nach größtmöglicher Breitenwirkung seiner politischen Zielmaximen und damit in einer innerrechtlichen Evolution des (Whistleblowing-)Rechts liegen, nicht hingegen im Schutz von Whistleblowern um ihrer selbst willen. Demgegenüber suchen einige Soziologen und Bürgerrechtsaktivisten die Gründe für die rasante Expansion des Whistleblowing-Rechts allen voran (bzw. ausschließlich) in der soziokulturellen Grundatmosphäre der 1960er und 1970er Jahre. Hierzu sollen eine wachsende Regierungsskepsis der US-amerikanischen Bevölkerung in Folge von Vietnamkriegs, die Watergate Affäre und polizeigestützte Diskriminierungen von Minderheiten, sowie ferner eine zunehmende Sorge um mögliche Gesundheitsfolgen von Verbraucherprodukten und industriellen Technologien, insbesondere der Atomindustrie, zählen.232 Bedenke man nun, dass nicht wenige inhaltlichen Weisungsgebundenheit der Einzelstaaten kommen, sog. „commandeering“. Ausführlich hierzu Jensen/Entin, 15 Const. Comment. 355 (1998); sowie mit Blick auf die „Obamacare“-Entscheidung des Supreme Court Joondeph, 91 N. C. L. Rev. 811 (2013). 231 S. Fn. 246, 247, 248, 251, 252. Rechnete man noch die einzelnen Bereichsvorgaben für Angestellte der Bundesverwaltung sowie die Verwaltungsvorschriften des Federal Government hinzu, ergäbe sich sogar noch eine größere Anzahl. Vgl. aus der Literatur Modesitt/Schulman/Westman, Retaliatory Discharge, Appendix C mit einer alphabetischen Auflistung der meisten Whistleblower- und einiger anderer Diskriminierungsschutzgesetze; das von Kohn, Kohn and Colapinto, LLC betriebene NWC inklusive einiger Verwaltungsvorschriften und Durchführungsbestimmungen, abrufbar unter ; sowie Kohn, Whistleblower Handbook, p. 218–45 mit einigen Fallangaben; ferner die Zusammenstellung von Shimabukuro/Whitaker/Robert für das Congressional Research Center, abrufbar unter , mit chronologischen Angaben. Die mittlerweile entstandene Bandbreite an „adjunct statutes“ wird auch dadurch verdeutlicht, dass weder von offizieller Seite eine Aufstellung sämtlicher Gesetze verfügbar ist, noch eine der hier genannten Quellen eine lückenlose Auflistung sämtlicher Whistleblowing-Bestimmungen enthält. Die im Rahmen der Recherche dieser Arbeit erstellte Zusammenstellung erhebt daher ebenfalls keinen Anspruch auf Vollständigkeit. 232 So insbes. Glazer/Glazer, The Whistleblowers; ähnlich mit besonderem Fokus auf „public interest groups“ Johnson, Whistleblowing, p. 10–23, tendenziell anders Mode-
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der aufsehenerregendsten Kontroversen dieser und späterer Zeit über journalistische Enthüllungen auf Basis privater Insiderquellen ihren Eingang in den gesellschaftlichen Diskurs gefunden hätten,233 ergäbe sich hierdurch notwendigerweise eine wachsende politische und damit am Ende auch rechtliche Unterstützung des Whistleblowings.234 Hinzu kämen eine zunehmend positive Darstellung des Whistleblowings in Film und Fernsehen sowie weitere „uniquely American […] factors“ wie der gesellschaftliche Individualismus und eine besondere Neigung zur Bildung von „public interest groups“ zur Unterstützung von Whistleblowern.235 Diese Befunde scheinen die in der deutschen Fachliteratur nahezu einhellig aufgestellte Theorie einer besonderen kulturelsitt/Schulman/Westman, Retaliatory Discharge, ch. 1, p. 8, die zunächst auf die ansteigende Regulierung und schließlich die Deregulierung in den 1980er Jahren als mögliche Ursachen verweisen; ferner Dworkin, 35 Vand. J. Transnat'l L. 457, 461 (2002), der insbes. die individuellen Bemühungen des bekannten Verbraucherschutzanwalts Ralph Nader Anfang der 1970er Jahre (Fn. 10) hervorhebt. 233 So wird bspw. der Wandel der öffentlichen Meinung bzgl. des Vietnamkrieges nicht zuletzt auf die Wirkung eines desaströsen internen Lageberichts des Verteidigungsministeriums zurückgeführt (sog. „pentagon papers“), die der Pentagon-Mitarbeiter Daniel Ellsberg der New York Times und der Washington Post zugespielt hatte; vgl. New York Times v. United States, 403 U.S. 713 (1971) (entschieden zugunsten eines Veröffentlichungsrechts der NY Times). Zuvor hatte im Jahre 1965 schon die Spenden- und Korruptionsaffäre um den Senator Thomas J. Dodd, ausgelöst durch Enthüllungen seines engen Mitarbeites James Boyd, jedenfalls für einige Zeit erhebliche Wellen im politischen Betrieb Washingtons geschlagen (Peters/Branch, Blowing the Whistle (1972), p. 22–29). Auch für die Offenlegung der Watergate-Affäre durch die Washington Post war maßgeblich ein interner Informant, der Associate Direktor des FBI Mark Felt alias „Deep Throat“, verantwortlich. Im Bereich der Sicherheit von Atomkraftwerken erlangte des Weiteren der Fall der Atomkraftmitarbeiterin Karen Silkwood einige Aufmerksamkeit, nachdem diese auf dem Weg zu einem Treffen mit der New York Times, bei dem sie angebliche Sicherheitsmängel von Atomkraftwerken offenbaren wollte, unter nicht endgültig geklärten Umständen bei einem Autounfall 1974 ums Leben kam. In den 1980er Jahren löste schließlich das Challenger-Disaster nationales Entsetzen aus, nachdem die Raumfähre entgegen den Warnungen projektleitender Ingenieure zum Start freigegeben wurde und kurz darauf mit sieben Personen an Bord explodierte. Siehe zu den vorstehenden Ereignissen und weiteren Fällen öffentlichkeitswirksamen Whistleblowings ausführlich Glazer/Glazer, The Whistleblowers, p. 9 et seq. Für Whistleblowing-Reformen im öffentlichen Sektor wird darüber hinaus – und insoweit fraglos zurecht – auch der aufsehenerregende und außergewöhnlich lange Fall des leitenden Air-Force Mitarbeiters Ernest Fitzgerald angesehen (hierzu Rn. 52). 234 Glazer/Glazer, The Whistleblowers, p. 37–38, 63–66; Kohn, Whistleblower Handbook, p. 1, der z.B. die Challenger Affäre allein wegen ihrer zeitlichen Nähe mit den False Claims Act Amendments von 1986 in Verbindung bringt. 235 Johnson, Whistleblowing, p. 3 et seq., 20–23, zusätzlich mit einer Beschreibung der interkulturellen Schwierigkeiten bei dem Versuch, das Konzept des Whistleblowings in Länder der ehemaligen Sowjetunion zu exportieren, ohne hierbei Erinnerung an ehemalige staatliche Informantensysteme zu wecken (S. 115 ff.).
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len Prädisposition der Vereinigten Staaten zum rechtlichen WhistleblowerSchutz zu bestätigen,236 dem in Deutschland eine besonders tief verwurzelte, transplantationsfeindliche Whistleblowingskepsis entgegenstünde, welche wiederum den einschneidenden Denunziationserfahrungen unter den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts gegenüberstünde.237 Auch wenn derlei außerrechtlich-kulturalistisch geprägte Erklärungsversuche angesichts der Vielzahl US-amerikanischer Whistleblowing-Gesetze auf den ersten Blick plausibel und bei einer US-amerikanischen Introspektive geradezu als Zwangsläufigkeit erscheinen mögen, ist wie bei allen rückblickenden historischen Rationalisierungsversuchen auch hier Vorsicht geboten.238 Zum einen lassen sich viele der beschriebenen sozialen Phänomene der 236 So insbes. auf Glazer/Glazer, The Whistleblowers, p. 3 et seq.; i.W. hierauf aufbauend Deiseroth, Berufsethische Verantwortung, Kap. 8, S. 233, 239 ff.; mit Darstellungsfokus auf der „public policy exception“; ähnlich Graser, Whistleblowing, S. 9, 14 f., 73, 105, allerdings mit eher rechtssystemischem Erklärungsansatz ab S. 225 ff.; ferner Müller, NZA 2002, 424, 425; Berthold, Whistleblowing BAG, S. 2 ff.; Neumann, Whistleblowing Schutzregel, S. 1, 2; Schemmel/Ruhmannseder/Witzigmann, Whistleblowing-Systeme, Kap. 1 Rn. 62 ff.; Schulz, Ethikrichtlinien und Whistleblowing, S. 24; Groneberg, Whistleblowing, S. 41 f., 75 ff., mit exemplarischer Darstellung einiger Whistleblowing-Gesetze; Junker, FS Otto 2008, 157, 170 f., der mit Verweis auf die Lewinsky-Affäre um Präsident Clinton zu begründen versucht, warum US-Amerikaner grds. kein Problem damit hätten, wenn „Denunzianten“ einfach alles was sie wissen „ausplaudern“ dürfen. Im Ansatz krit. soweit ersichtlich allein Sänger, Whistleblowing, S. 27 mit grundsätzlicher Skepsis gegenüber pauschalisierenden Erklärungsversuchen. Zur Entwicklung der WhistleblowingRechtsprechung in Deutschland seit Beginn des 20. Jahrhunderts im Einzelnen unten, Rn. 243 ff. 237 Vgl. ebd., üblicherweise mit Verweis auf die Praktiken der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) zu Zeiten des Nationalsozialismus, das Spitzelsystem des Staatssicherheitsdienstes (Stasi) in der DDR sowie dem (vermutlich) von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben stammenden Zitat „Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant“ aus dem 19. Jahrhundert. 238 S. z.B. Kohn, Whistleblower Handbook, p. 1, der die Challenger Affäre wegen íhres Stattfindens einen Monat vor Verabschiedung der False Claims Act Amendments von 1986 mit diesen in Verbindung bringt, obwohl zu diesem Zeitpunkt die internen Meldungen der Ingenieure noch gar nicht völlig aufgedeckt waren und die Erneuerung des FCA bereits seit Jahren in der Bearbeitung waren, wodurch ein Einfluss der öffentlichen Meinung auf den Inhalt des Gesetzes ausgeschlossen werden kann. Allgemein zur menschlichen Neigung, historische Ereignisse im Nachhinein in einen scheinbar zwangsläufigen Kausalzusammenhang zu bringen (sog. „hindsight bias“) etwa Zamir/Teichman, Behavioral Economics and Law, p. 354–376. In eine ähnliche Richtung gehen jüngere Legitimationsbemühungen einflussreicher Whistleblowing-Befürworter, die in einer Meldepflichten-Resolution des zweiten Kontinentalkongresses von 1778 in Marineangelegenheiten (Res. v. 30.07.1778, abgedruckt bei Ford, J. Cont. Cong., Vol. X, p. 732–33) das erste WhistleblowingSchutzgesetz erkennen wollen, um der Unterstützung von Whistleblowern in den USA auf diese Weise eine dem Geist der Gründerväter entspringende (Rechts-)Kontinuität zuschreiben zu können. Vgl. Kohn, Whistleblower Handbook, p. 207–12; S. Res. 202, 159 Cong.
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1960er und 1970er Jahre auch in anderen Ländern wie etwa Deutschland beobachten, ohne dass beispielsweise in Fragen der Verwirklichung von Arbeitnehmerrechten oder den Gefahren der Atomindustrie ein geringeres gesellschaftliches Problembewusstsein gegenüber den USA vorgelegen hätte. Auch fügt sich der Narrativ einer besonderen Whistleblower-Freundlichkeit der USA nur schwerlich in das oft beschriebene, gegenteilige Bild einer von Regierungsskepsis geprägten US-Bevölkerung und ihrer ubiquitären Angst vor einem „big government“ ein.239 Zwar wird man aufgrund der hohen Anzahl von Whistleblowing-Fällen in den USA und der Existenz mehrerer „public interest groups“ in der Tat eine vergleichsweise hohe soziale Akzeptanz des Whistleblowings in den USA konstatieren können.240 Auf der anderen Seite lässt sich aber weder ein besonderer Einfluss der „civil rights movement“ in einschlägigen Gesetzesbegründungen nachweisen, noch lässt sich behaupten, dass in der US-amerikanischen (Rechts-)Kultur stets eine positivere Bewertung von Whistleblowern vorgenommen würde als etwa in Deutschland. Insoweit erweisen sich tatsächlich oder vermeintlich betroffene Loyalitätserwartungen und Interessenlagen regelmäßig als deutlich sicherere Wertungsindikatoren – wie in jüngerer Zeit etwa die länderübergreifenden Fälle von Edward Snowden und Chelsea Manning241 oder auch der SpezialbeRec. S6082, 113th Cong., 1st Sess. (2013) (Sen. Grassley zur Einführung des ersten „National Whistleblower Appreciation Day“ am 30.07.2013). 239 Letztere dürfte freilich selbst nicht ganz ohne Zusammenhang zum Aufstieg des verwaltungsunterstützenden Whistleblowing-Rechts stehen, ließen sich hierdurch doch die Vollzugsdefizite einiger Regulierungsbereiche auch ohne einen (steuerfinanzierten) Ausbau des Verwaltungsapperats jedenfalls teilweise ausgleichen. 240 Als führend im Bereich der „public interests groups“ gilt das Goverment Accountability Project (GAP), das seit 1977 – u.a. unterstützt von Daniel Ellsberg – zunächst vor allem auf regierungsinterne Whistleblower ausgerichtet war und heute auch regierungsexterne Whistleblower durch Beratung und Lobbyarbeit unterstützt, vgl. ; Johnson, Whistleblowing, p. 12–14; Glazer/Glazer, Whistleblowers, p.59–63 mit Nachweisen zu weiteren Gruppen. Als mindestens ebenso einflussreich wird man sog. „public interest lawfirms“ ansehen müssen, die vor allem seit dem finanziellen Erfolg des False Claims Act nach 1986 über beachtenswerten Einfluss verfügen. Hierzu zählen etwa die Kanzleien Kohn, Kohn & Colapinto LLP und Phillips & Cohen LLP, die beide mehrfach aktiv auf Gesetzesvorhaben im Bereich des Whistleblowings eingewirkt haben (vgl. etwa Rn. 181). 241 Edward Snowden war als Mitarbeiter des regierungsnahen Technologieberatungsunternehmen Booz Allen Hamilton Inc. für die National Security Agency (NSA) tätig, ehe er im Mai 2013 detaillierte Informationen über weltweite digitale Überwachungsmethoden der NSA an drei Journalisten weitergab und schließlich in Russland (temporäres) Asyl erhielt. Chelsea (ehem. Bradley) Manning hatte als im Irak stationierter US-Soldatin ab Anfang des Jahres 2010 umfangreiches Videomaterial über zivile Kriegsopfer an die Enthüllungsplattform WikiLeaks weitergeleitet, ehe sie kurze Zeit später zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt wurde. Während sowohl Snowden als auch Manning nicht nur von der US-amerikanischen Regierung, sondern auch von großen Teilen der dortigen Öffentlichkeit
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reich des steuerrechtlichen Whistleblowings mit Fällen wie dem des UBSBankers Bradley Birkenfeld242 zu belegen vermögen.243 Schlussendlich erweist sich das US-amerikanische Whistleblowing-Recht mit seinem Fokus auf der Verwirklichung öffentlicher Interessen und (vor allem) seinem fragmentarischen Schutzcharakter für individuelle Whistleblower nicht stets als vorteilhaft – selbst und gerade im Vergleich zur deutschen Rechtslage, welche sich im Übrigen von den totalitären Katastrophen des 20. Jahrhunderts weitgehend unbeeindruckt gezeigt hat.244 Nach alledem liegt es daher nahe, die Ursache für die Entwicklung des Rechts statt in einem vorschnellen Rückschluss vom Normativen auf das Faktische zunächst in der funktionalen Evolution von Recht und Dogmatik selbst zu suchen. 245
als Verräter eingestuft werden, gelten beide vor allem im überwiegend irakkriegskeptischen und datenschutzbewussten Deutschland seither nahezu uneingeschränkt als Helden. Zum Ganzen m.w.N. Rosenbach/Stark, Der NSA-Komplex, S. 7 ff., 25 ff.; Mitchell/ Gosztola, Truth and Consequences, p. 6 et seq., p. 14 et seq.; vgl. insoweit die Ergebnisse der Umfragen des Marktforschungsinstituts KRC Research, abrufbar unter , wonach 64% der US-Amerikaner im Jahr 2015 der Überzeugung waren, Snowden’s Enthüllungen hätten dem öffentlichen Interesse geschadet, wohingegen 84% der Deutschen eine positive oder äußerst positive Meinung von ihm hatten; s. ferner den Datenvergleich der entsprechenden KRC-Umfrage unter 18–34-Jährigen, abrufbar unter , p. 4, mit entsprechender Staffelung in Abhängigkeit der länderspezifischen Selbstbetroffenheit (56% positive Meinung unter US-Amerikanern, 62–73% positive Meinungen unter Mitgliedern des „five eyes“-Überwachungsabkommens, 78–86% positive Meinung in kontinentaleuropäischen Ländern). 242 So wird das IRS Whistleblower Program in Gesetzgebung, Literatur und (steuerpflichtiger) Öffentlichkeit nicht selten skeptisch betrachtet, wohingegen Birkenfelds Informationen über Steuervermeidungssysteme in der Schweiz weithin dankend entgegengenommen wurden, er aber eben dort bis heute als „Judas“ nicht nur unter Bankern auf eher wenig Gegenliebe stößt. S. Rn. 83 ff. 243 Gegen eine schon seit jeher in den kulturellen Anlagen der USA verwurzelte, positive Haltung gegenüber dem Whistleblowing spricht ferner, dass nicht wenige Autoren einen positiven Wandel in der Bevölkerung gegenüber Whistleblowing erst zu Beginn des neuen Jahrtausends ausmachen, s. etwa Hesch, 6 Liberty U. L. Rev. 51 (2011); Cavico, 45 S. Tex. L. Rev. 543, 555 (2004). 244 Zur Entwicklung der Whistleblowing-Rechtsprechung in Deutschland seit Beginn des 20. Jahrhunderts unten, Rn. 243 ff. Zu Ansätzen, die Unterschiede in der rechtlichen Beurteilung von Whistleblowern v.a. an der Erfahrungen des Totalitarismus festzumachen, oben Rn. 35. 245 Damit sei nicht gesagt, dass keinerlei Beziehungen zwischen einer gesellschaftlichen Akzeptanz von Whistleblowern und ihrem rechtlichen Schutz bestünde. Als rechtlich primär maßgebliche Entwicklungskraft tritt sie im US-Whistleblowing-Recht jedoch nicht auf, stattdessen ist sie – wie noch zu zeigen ist – allenfalls ein Faktor innerhalb der rechtssystematischen komplexen Pfadabhängigkeit des US-amerikanischen Rechtssystems.
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Ordnet man die verschiedenen „adjunct statutes“ des Bundesrechts nach Rechtsgebiet und zeitlicher Entstehung ein, lassen sich fünf größere inhaltliche Gruppen und drei konsekutive Entstehungszyklen ausmachen. Seinen Anfang nahm die regelmäßige Verwendung von „adjunct statutes“ Ende der 1960er Jahre in jenen drei Rechtsgebieten, in denen das Federal Government auf Basis der liberalen Interpretation der „commerce clause“ seinen Einfluss besonders auszudehnen beabsichtigte: auf dem Gebiet des Arbeitsschutzes und Schutzes von Arbeitnehmerrechten, 246 dem Recht der öffentlichen Sicherheit247 sowie dem allgemeinen Umweltschutz248. Diesen Regelungsmate246
Hierzu zählen, chronologisch nach Entstehung ihrer Whistleblower-Vorschrift geordnet, die folgenden Gesetze: National Labor Relations Act of 1935 (NLRA), 49 Stat. 452; Norm aktuell § 158(a)(4); Fair Labor Standards Act of 1938 (FLSA), 52 Stat. 1068, Norm aktuell 29 U.S.C. § 215(a)(3); Federal Employer’s Liability Act of 1939 (FELA), 53 Stat. 1404, Norm aktuell 45 U.S.C. 60 (Bußgeldvorschrift); Equal Employment Opportunity Act of 1964 („Title VII“), 86 Stat. 109, Norm aktuell 42 U.S.C. § 2000e-3; Age Discriminiation in Employment Act of 1967 (ADEA), 81 Stat. 603, Norm heute 29 U.S.C. § 623; Occupational Safety & Health Act of 1970 (OSHA), 84 Stat 1602, Norm aktuell 29 U.S.C. § 660(c); Longshoremen’s & Harbor Workers‘ Compensation Amendments Act of 1972 (LHWCA), 86 Stat. 1263, Norm aktuell 33 U.S.C. 948a; Employee Retirement Income Security Act of 1974 (ERISA), 88 Stat. 895, Norm aktuell 29 U.S.C.S § 1140; International Safe Container Act of 1977 (ISCA), 91 Stat. 1475, Norm aktuell 46 U.S.C. § 1506; Federal Mine Safety & Health Amendments Act of 1977 (FMSHA), 91 Stat. 1290, Norm aktuell 30 U.S.C. § 815(c)(2); Migrant and Seasonal Agricultural Worker Protection Act of 1983 (MSAWPA), Norm aktuell 29 U.S.C. 1855; Commercial Fishing Industry Vessel Act of 1984, 98 Stat. 2860, Norm aktuell 46 U.S.C. § 2114; Seamen’s Protection Act of 1984 (SPA), 98 Stat 2860, Norm aktuell 46 U.S.C. § 2114; Vessels and Seamen Act of 1984, (VSA), 98 Stat. 2863, Norm aktuell 46 U.S.C. § 2101; Employee Ploygraph Protection Act of 1988 (EPPA), 102 Stat. 646, 29 U.S.C. § 2002(4); Amercans with Disabilities Act of 1990 (ADA), 104 Stat. 327, Norm aktuell 42 U.S.C. § 12203; Family and Medical Leave Act (FMLA) of 1993, 107 Stat. 14; Norm aktuell 29 U.S.C. § 2615; Federal Railroad Safety Act of 1994 (FRSA), 108 Stat. 867, Norm aktuell 49 U.S.C. § 20109; Uniform Service Employemt and Reemployment Right Act of 1994 (USERRA), 108 Stat. 3153, Norm aktuell 38 U.S.C. 4311; Commercial Motor Vehicle Safety Act of 1994 (CMVSA), 108 Stat. 990, Norm aktuell 49 U.S.C. § 31105. 247 Energy Reorganization Act of 1974 (ERA), 92 Stat. 2951, Norm aktuell; 42 U.S.C. § 5851; Safe Drinking Water Act of 1974 (SDWA), 88 Stat. 1691, Norm aktuell 42 U.S.C. § 300j-9(i); Surfasce Mining Control and Reclamation Act of 1977 (SMCRA), 90 Stat. 2824, Norm aktuell 30 U.S.C. § 1293; Asbestos School Hazard Detection and Control Act of 1980 (ASHDCA), 94 Stat. 496, Norm aktuell 20 U.S.C. § 3608; Surface Transportation Assistance Act of 1994 (STAA), 108 Stat. 990, Norm aktuell 49 U.S.C. § 31105; Department of Defense Authorization Act of 1984, 97 St. 614, 10 U.S.C. § 1587; Asbestos Hazard Emergency Response Act of 1986 (AHAA), 100 Stat. 2970, Norm aktuell 15 U.S.C. § 2651; Department of Defense Authorization Act of 1987 (DDAA), 100 Stat. 3816, Norm aktuell 10 U.S.C. § 2409; Wendell H. Ford Aviation Investment and Reform Act of the 21st Century of 2000 (AIR21), 114 Stat. 145, Norm aktuell 49 U.S.C. § 42121; Pipeline Safety Improvement Act of 2002 (PSIA), 116 Stat. 2989, Norm aktuell 49 U.S.C. § 60129;
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rien ist zum einen gemein, dass einschlägige Rechtsverstöße in der Regel in Zusammenhang mit betriebsinternen Abläufen auftreten und daher ohne Whistleblower nur schwer aufzuklären waren. Zum anderen steht die Einführung der entsprechenden Whistleblower-Schutzvorschriften in direktem Zusammenhang zu der Errichtung neuer Bundesbehörden („federal agencies“), deren informationeller Unterstützung Whistleblower in der schon durch § 8(a)(4) NLRA erprobten Weise dienen sollten. 249 Über die regelmäßige Ergänzung von immer weiteren „anti-retaliation provisions“ wurde der Whistleblower-Schutz in diesen Bereichen bis in die 1980er Jahre sukzessiv erweitert.250 Ab Ende der 1980er Jahre folgte dann eine weitere Gruppe von Gesetzen auf dem Gebiet der öffentlichen Auftragsvergabe und des Regierungsbetrugs.251 Zur gleichen Zeit (verstärkt allerdings erst seit Beginn des National Defense Authorization Act of 2002 (NDAA), 113 Stat. 946, Norm aktuell 50 U.S.C.S § 2702; National Transit System Security Act of 2007, 121 Stat. 414, Norm aktuell 6 U.S.C. 1412; Consumer Products Safety Improvement Act (CPSIA), 122 Stat. 3062, Norm aktuell 15 U.S.C. § 2087; Patient Protection and Affordable Care Act („Obamacare“, PPACA), 124 Stat. 261, Norm aktuell 29 U.S.C. § 218C; Food Safety Modernization Act of 2010 (FSMA), 124 Stat. 3968, Norm aktuell 21 U.S.C. § 399d; Moving Ahead for Progress in the 21st Century Act of 2012 (MAP-21), 126 Stat. 765, Norm aktuell 49 U.S.C. 30171. 248 Federal Water Pollution Control Act Amendments of 1972 („Clean Water Act“, CWA), 86 Stat. 816, Norm aktuell 33 U.S.C. § 1367; Safe Drinking Water Act of 1974 (SDWA), Norm aktuell 42 U.S.C. § 300j-9 (i); Resource Conservation and Recovery Act of 1976 (RCRA), 90 Stat. 2795, Norm aktuell 42 U.S.C. § 6971; Toxic Substances Control Act of 1976, 90 Stat. 2044, Norm aktuell 15 U.S.C. § 2622; Clean Air Act Amendments of 1977 (CAA), 91 Stat. 783, Norm aktuell 42 U.S.C. § 7622; Solid Waste Disposal Act of 1974 (SWDP), 90 Stat. 2824, Norm aktuell 24 U.S.C. § 6971; Comprehensive Environmental Response, Compensation and Liability Act of 1980 (CERCLA), 94 Stat. 2787, Norm aktuell § 42 U.S.C. 9610. 249 Die insoweit wichtigste dieser Agencies war die Occupational Safety and Health Administration (OSHA) des Department of Labor, die mit dem OSH Act von 1970 errichtet wurde und heute die Mehrzahl föderaler Whistleblower-Programme betreibt, vgl. Stine/Waschak/Dorminey, Safety and Health Law, § 1:4; ; sowie Rn. 39 ff. 250 Wie der Blick auf die oben zusammengestellten Nachweise offenbart, wurde spätestens um das Jahr 1974 eine kritische Masse von „adjunct statutes“ erreicht und in der Folge auf diesem legislativen System stetig aufgebaut. 251 False Claims Act Amendments of 1986 (FCA), 100 Stat. 3154, aktuell 31 U.S.C. § 3730(h); Major Frauds Act of 1989 (MFA), 102 Stat. 4631, 18 U.S.C. § 1031(h); National Institutes of Health Revitalization Act of 1993 (NIHRA), 107 Stat. 136, Norm aktuell 42 U.S.C.S § 289b; Amercian Recovery and Reinvestment Act of 2009 (ARRA), 123 Stat. 115, Norm aktuell 5 U.S.C. §2302(b)(8); Public Contracts Amendments (2011), 124 Stat. 3677, Norm aktuell 41 U.S.C.S § 4705. Kurz darauf folgten auch die ersten anti-retaliation provisions, die entsprechend der nun gängigen Terminologie als „Whistleblower Protections“ betitelt wurden, s. 12 U.S.C. § 1790b (FCUA of 1991), 31 U.S.C. 538 (BSA of 1992); 42 U.S.C.S § 289b (NIHRA of 1993).
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neuen Jahrtausends) machte sich das Federal Government den Whistleblower-Schutz auch auf dem Gebiet der Unternehmens- und Finanzmarktregulierung zunutze.252 Beide Entwicklungsschübe sind durch die schon seit dem False Claims Act von 1863 typische Verwendung von WhistleblowingMechanismen als Antwort auf besondere Krisensituationen gekennzeichnet. So ging den „anti-retaliation“-Bestimmungen Ende der 1980er Jahre ein beispielloser Anstieg von Regierungsbetrug speziell im Bereich der öffentlichen Auftragsvergaben und öffentlichen Sozialleistungen voraus, welcher mangels entsprechender Aufklärungsressourcen des Federal Government zu erheblichen finanziellen Verlusten führte. 253 Der deutliche Anstieg von Whistleblower-Programmen seit Beginn des neuen Jahrtausends ist wiederum die direkte Folge aufsehenerregender Wirtschaftsskandale und Unternehmenszusammenbrüche, speziell des Bilanzfälschungsskandals der Kapitalgesellschaften Enron und WorldCom im Jahre 2002 sowie der weltweiten Finanzmarktkrise einige Jahre später.254 Rückblickend lässt sich aus dieser legislativ und dogmatisch bemerkenswert kontinuierlichen Etablierung des föderalen Whistleblowing-Rechts als
252 Financial Institutions Reform, Recovery, and Enforcement Act of 1989 (FIRREA), 103 Stat. 494, Norm aktuell 12 U.S.C. § 1831j; Federal Credit Union Improvement Act of 1991 (FCUA), 105 Stat. 2236, Norm aktuell 12 U.S.C. § 1790b; Bank Secracy Act of 1970 (BSA), Norm hinzugefügt durch den Housing and Community Development Act of 1992, 106 Stat. 3672, Norm aktuell 31 U.S.C. 538; Sarbanes-Oxley Act of 2002 (SOX), 116 Stat. 745, Norm aktuell 18 U.S.C. § 1514A; Dodd-Frank Act of 2010, 124 Stat. 1814, Norm aktuell 15 U.S.C. § 78u-6(h); Consumer Financial Protection Act of 2010 (CFPA), 94 Stat. 2787, Norm aktuell 42 U.S.C.S § 9610. 253 Vgl. General Accounting Office, Fraud in Government Programs: – How Extensive is It? – How Can it Be Controlled, Vol 1 (1981), p. iv, abrufbar unter , das Regierungsbetrug als „widespread problem“ bezeichnet und allein im Untersuchungszeitraum von zweieinhalb Jahren trotz hoher Dunkelziffer bereits einen Verlust von 150–200 Mio. US-Dollar ausmacht; sowie GAO, Fraud in Government Programms, Vol. 2 (1981), p. 7–24, 39–50, abrufbar unter , mit Detailanalyse der unterschiedlichen Betrugsarten und Schadenshöhen; ferner aus der Entstehungsgeschichte der False Claims Act Amendments S. Rep. No. 345, 99th Cong., 2d Sess. (1986), p. 7: „[…] perhaps the most serious problem plaguing effective enforcement is the lack of resources on the part of Federal enforcement agencies […].“ 254 So auch Modesitt/Schulman/Westman, Retaliatory Discharge, ch. 1, p. 27, die das neue Jahrtausend als Zeitenwende des Whistleblowing-Schutzes ansehen; Kohn, Whistleblower Handbook, p. 2, der besonders den Dodd-Frank Act als neue Entwicklungsstufe des Whistleblowings hervorhebt; ferner Johnson, Whistleblowing, ix, x, die eine starke soziale Aufwertung des Whistleblowings zu dieser Zeit konstatiert. Die über den zahlenmäßigen Anstieg von „adjunct statutes“ hinausgehenden Entwicklungen, namentlich in Bezug auf internes und finanziell inzentiviertes Whistleblowing, werden ab Rn. 82 ff. bzw. 177 ff. in entsprechender Detailtiefe behandelt.
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legislativer Standardmaßnahme am besten als eine Art „positive Pfadabhängigkeit“255 beschreiben und verstehen. Die rechtssystematischen Anlagen der USA und die auf ihnen fußende, sukzessive Etablierung von WhistleblowingNormen begünstigte deren spätere Verbreitung und Fortentwicklung, indem sie den Rückgriff auf ein bereits bekanntes und bewährtes Instrumentarium auch bei neuen Problemkonstellationen intuitiv nahelegten und die Entwicklung potentiell gegenläufiger Rechtsinstitute weniger wahrscheinlich machten.256 Die legislative und dogmatische Akzeptanz des Whistleblowings potenziert sich auf diese Weise gewissermaßen selbst und führt zu kontinuierlichen „legal transplants“ in unterschiedliche Regelungsgebiete.257 Gerade die Einführung einer Annex-Whistleblower-Bestimmung im Stile des § 8(a)(4) NLRA erweist sich in diesem Sinne als rechtstechnisch wenig aufwendig, fiskalisch weitgehend neutral und vor allem in jenen Rechtsgebieten attraktiv, in denen das Federal Government trotz begrenzter Kontrollressourcen und -Möglichkeiten auf unternehmensspezifische Informationen angewiesen ist, um seinen politischen Zielen zusätzliche Durchsetzungskraft zu verlei-
255 In der Rechtswissenschaft findet das Konzept der Pfadabhängigkeit üblicherweise als („negatives“) Implementationshemmnis von „legal transplants“ (Fn. 257) und Begründungsmodell international unterschiedlicher Rechtsbildungsprozesse Verwendung. Vgl. am Beispiel der Corporate-Governance-Entwicklung etwa Bebchuk/Roe, 52 Stan. L. Rev. 127 (1999); Schmidt/Spindler, 5:3 Int. Finance 311 (2002). Wesentliche Grundgedanken der Pfadabhängigkeit fußen auf Erkenntnissen der Wirtschaftswissenschaften, allen voran Beobachtungen im Rahmen spieltheoretischer Entscheidungsprozeduren. Vgl. mit Blick auf das hier interessierende Phänomen insbes. die sog. „sequencing path dependence“, nach deren Hauptaussage für eine Entscheidung bei einer Vielzahl von Akteuren und Optionen nicht allein rationale Kriterien ausschlaggebend sind, sondern nicht zuletzt eine u.a. auf Basis sozialer Präferenzen und Gewohnheiten festgelegte Abwägungsreihenfolge der verfügbaren Alternativen. Hathaway, 86 Iowa L. Rev. 601, 617–22 (2001) m.w.N. 256 Vgl. insoweit auch die Bemerkung von Modesitt/Schulman/Westman, Retaliatory Discharge, ch. 1, p. 32: „[P]rotection of Whistleblowers has become a staple of federal legislative and regulatory schemes […].“ 257 Unter dem Begriff des „legal transplants“ wird üblicherweise die Übertragung einer ausländischen Rechtsnorm in eine für sie fremde Rechtsordnung verstanden. Prägend für Begriff und Idee der „legal transplants“ Watson, Legal Transplants, p. 21 et seq, 96, dessen rechtsfunktionale Analyse sich mit Recht gegen vor allem in Kontinentaleuropa klassischerweise vertretene, kulturalistische Modelle wandte, wie sie Montesquieu („esprit général“) und von Savigny („Volksgeistlehre“) vertraten und die noch heute ein gewisses Echo finden (vgl. etwa Legrand, 14 Maastricht J. Eur. & Comp. L. 111, 115 (1997): „legal frenchness“). Zusammenfassend mit Nachweisen aus der immer wiederkehrenden Debatte um rechtsfunktionale und kulturelle Integrationshemmnisse von „legal transplants“ Wise, 38 Am. J. Comp. L. Supp. 1 (1990); Watson, 44 Am J. Comp. L. 335 (1996); unterschiedliche Aspekte innerhalb der Theorie Watsons beleuchtend Ewald, 43 Am. J. Comp. L. 489 (1995); aus der deutschen Literatur Fleischer, NZG 2004, 1129, 1129 ff.; sowie krit. v. Hein, U.S. Gesellschaftsrecht, S. 354 ff.
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hen.258 Einen Expansionsschub erfuhren „adjunct statutes“ und andere Whistleblower-Bestimmungen bei alledem stets dann, wenn die Regierung in Folge aufsehenerregender Skandale unter besonderen Handlungsdruck geraten war, wobei nicht zuletzt auch vergleichsweise regierungsunabhängig organisierte Behörden im Laufe der Zeit angesichts der zunehmenden Zahl existenter Whistleblowing-Normen immer schwerer rechtfertigen konnten, warum sie auf ein potentiell ausschlaggebendes Durchsetzungsinstrument wie das Whistleblowing verzichteten wollten.259 Das gesetzgeberische Leitbild der Aufklärungseffizienz hat sich bei alledem gegenüber einer rein grundrechtszentrierten Individualbetrachtung des Whistleblowings durchsetzen können und spiegelt sich zugleich neben der administrativen Einkleidung des Whistleblower-Schutzes auch in den materiell-rechtlichen Zulässigkeitskriterien des Whistleblowings wider.260 II. Die Bedeutung administrativer Beschwerdestellen und Vorgaben am Beispiel des Department of Labor Wie bereits erwähnt, handelt es sich bei der Koordination und Bindung von Whistleblowing-Informationen an spezielle administrative Stellen um ein historisch bedingt typisches Charakteristikum des US-amerikanischen und speziell des föderalen Whistleblowing-Rechts. Diese besondere Verbindung ist allerdings nicht nur stilprägend für die unmittelbare Informationsübermittlung an einen vorgegebenen Administrativadressaten, sondern ebenso bei der anschließenden individuellen Interessendurchsetzung des Whistleblowers.261 Während je nach Rechtsgebiet eine Reihe von Agencies für die Durchsetzung der Rechte des Whistleblowers eine wichtige Rolle spielen können, 262 wird 258 Anders als die übliche transatlantische Rezeption des US-Whistleblowing-Rechts nahelegt (Fn. 236), entspringt insbes. der föderale Whistleblowing-Schutz keiner bürgerrechtlichen „Revolution von Unten“, sondern primär einer gesetzgeberischen „Evolution von Oben“. 259 Ein beredtes Beispiel dieses Effekts sind die Ereignisse rund um die Entstehung der Whistleblowing-Normen des Dodd-Frank Acts, in deren Folge die Whistleblower-Politik der „independent agency“ SEC nachhaltiger politischer Kritik ausgesetzt war. Ausführlich hierzu ab Rn.179 ff. 260 Zur administrativen Einkleidung sogleich ab Rn. 39, zu den Kriterien des materiellen Rechts unten, ab Rn. 55. 261 Damit folgt das Whistleblowing-Recht nicht nur der in den USA verbreiteten Vorstellung des Arbeitnehmerschutzrechts als quasi-öffentlich-rechtlicher Regelungsmaterie im Sinne eines Arbeitsverwaltungsrechts, sondern stellt zugleich einen Interessengleichlauf von schutzsuchenden Whistleblowern und informationsbedürftigen Verwaltungen her. Auch insoweit erwiesen sich daher bereits bestehende Anlagen der US-amerikanischen Rechtsordnung als (zunächst ungeplant) Whistleblowing-affin. 262 Im Bereich des Anti-Diskriminierungsrechts ist dies beispielsweise die Equal Employment Opportunity Commission (EEOC), die u.a. nach 42 U.S. Code § 2000e–5 für die praktisch häufigen „Title VII Claims“ zuständig ist, vgl. allgemein Tobias, Wrongful
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der Großteil heutiger „adjunct statutes“ direkt durch das Arbeitsministerium (Department of Labor, DOL) administriert, welches seine Zuständigkeit wiederum an die ihm untergeordnete Occupational Safety and Health Administration (OSHA) sowie seine verwaltungsinterne Richterschaft delegiert hat (sog. Administrative Law Judges, ALJ).263 Seit ihrer Gründung im Jahr 1971 wurde der OSHA sukzessiv eine immer größere Zahl von WhistleblowerStatuten unterstellt,264 deren inhaltliche Bandbreite sich seither deutlich von ihrer ursprünglichen Begrenzung auf die öffentliche Sicherheit und den Arbeitsschutz entfernt hat und mittlerweile beispielsweise die AntiDiskriminierungs-Vorschriften von kapitalmarktrechtlich geprägten Gesetzespaketen wie dem Sarbanes-Oxely Act von 2002 oder dem Dodd-Frank Act von 2010 beinhaltet.265 In Verbindung mit dem allgemeinen Entwicklungsschub des Whistleblowings um die Jahrtausendwende hat dies nicht nur zu stetig steigenden Fallzahlen, 266 sondern auch zu einer zunehmenden Diversifizierung der OSHA-Verfahrensgänge geführt, welche die OSHA zu internen Discharge, § 10:17. Die Fallzahlen der durch das EEOC betreuten Anti-Diskriminierungsgesetze übersteigen bei Weitem die jeder anderen Agency. Erfasst sind allerdings alle möglichen Formen (insbesondere ethnischer) Diskriminierung und nicht nur Whistleblowing-Fälle im engeren Sinne, s. (37.955 Fälle im Fiskaljahr 2014). 263 Aktuell administriert die OSHA insgesamt zweiundzwanzig unterschiedliche Whistleblowing-Gesetze, s. . 264 S. im Einzelnen zur Geschichte der OSHA etwa . Zur verfassungsrechtlichen Stellung und Funktion von ALJ und ARB sogleich. 265 Vor allem der Dodd-Frank Act gewährt Whistleblowern freilich auch direkten Zugang zu den ordentlichen Gerichten, nachdem die OSHA bei der Administrierung des Sarbanes-Oxley Act offenkundig überfordert war. S. m Einzelnen Rn. 165 ff.; Rn. 208 ff. 266 S. die Statistik unter , wonach die Fallzahlen in den letzten zehn Jahren um ca. 50% und im Fiskaljahr 2014 insgesamt auf 3060 angestiegen sind. Zu Kritik hat in den letzten Jahren in diesem Zusammenhang oft die hohe Zahl von ablehnenden Entscheidungen durch die OSHA geführt, die im Jahr 2014 für 1652 und damit über die Hälfte aller Beschwerden ergingen. Vgl. im Einzelnen hierzu Oswald, 73 False Cl. Act and Qui Tam Q. Rev. NL 9, X., A. (2014), der auf die zeitweise seines Erachtens zu arbeitgeberfreundliche Entscheidungspraxis hinweist, die sich erst mit einem entsprechenden Führungswechsel innerhalb der OSHA geändert habe; ferner die kritische Studie von Moberly, 49 Wm. & Mary L. Rev. 65, 90 (2007) et seq. zur Entscheidungspraxis in Bezug auf den SOX; sowie hierauf aufbauend Modesitt/Schulman/Westman, Retaliatory Discharge, ch. 3, p. 12 mit Verweis auf die mangelnde Kompetenz der OSHA-Mitarbeiter in ihnen neu zugewiesenen Rechtsgebieten vor Erlass des aktualisierten Whistleblower Manuals 2012; generell sehr kritisch zu OSHA-Verfahren aus Anwaltssicht Kohn, Whistleblower Handbook, p.58–60 („results are abysmal“). Zu teilweise ähnlicher Kritik von Praktikern an der Whistleblower-Kultur des IRS-Systems, s. Rn. 88.
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und externen Informationszwecken durch ein ausführliches „Whistleblower Manual“ zu bewältigen sucht. 267 Trotz der rechtsgegenständlichen Ausweitung der OSHA-Verfahren ist ihre grundlegende Struktur und Bedeutung für das föderale Whistleblowing-Recht aber im Wesentlichen gleich geblieben, so dass im Folgenden eine kursorische Darstellung der Abläufe und Zuständigkeiten erfolgen kann. 268 Bei der Administrierung von „anti-retaliation“-Bestimmungen der „adjunct statutes“ erfüllt die OSHA im Wesentlichen drei unterschiedliche Funktionen in drei aufeinanderfolgenden Verfahrensschritten. Als erstem Element dieser Funktionentrias dient sie zunächst als zwingende erste Anlaufstelle für sämtliche Beschwerden von Whistleblowern über arbeitgeberseitige Vergeltungsmaßnahmen.269 Eine Beschwerde kann bei der OSHA telefonisch, postalisch, per Fax oder auch direkt über eine Online-Eingabemaske erfolgen.270 Sobald die Beschwerde bei einem der zuständigen Sachbearbeiter eingegangen ist, prüft dieser zunächst die Sachnatur des Beschwerdegegenstandes und bestimmt daraufhin das einschlägige „adjunct statute“ unter dem ein Schutz des Whistleblowers in Frage kommt. 271 Hierdurch erfüllt das Verfahren eine Orientierungs- und (im begrenzten Maße) eine Beratungsfunktion für den Whistleblower. Die zweite – und vielleicht wichtigste – Funktion des OSHAVerfahrens ist die einer Investigativ- und Filterstelle: Der zuständige Mitarbeiter („investigator“) gleicht die in der Beschwerde angegebenen Fakten mit den Schutzkriterien des Gesetzes ab und sortiert zunächst alle offensichtlich unzulässigen Beschwerden aus, bei denen etwa die jeweilige Beschwerdefrist bereits abgelaufen ist.272 Im Anschluss wird innerhalb einer relativ kurz be267 Abrufbar unter (Stand 04/2015). Trotz seiner großen Bedeutung für Whistleblower-Verfahren entfaltet das Manual zwar explizit keine Außenwirkung (ebd., S. v). Im Folgenden wird aus Gründen der Übersichtlichkeit allerdings auch dann auf das Manual verwiesen, wenn die dortigen Aussagen eine Wiederholung bzw. Zusammenfassung der verstreuten Rechtslage sind. 268 Eine praxisbezogene Darstellung der OSHA-Verfahren unter Hinzuziehung des (im Wesentlichen noch immer geltenden) Whistleblower Manuals von 2011 findet sich bei Modesitt/Schulman/Westman, Retaliatory Discharge, ch. 3, p. 9 et seq. sowie ch. 4, infra. 269 Hierdurch ist automatisch sichergestellt, dass die Exekutive zugleich über den arbeitgeberseitigen Rechtsverstoß als notwendigem Element einer Vergeltungsschutzklage erfährt. Zu den Grenzen des hierdurch generierten Interessengleichlaufs von Staat und Whistleblower bei gespaltener Schutz- und Verfolgungszuständigkeit unten, Rn. 123 ff., 165 ff. am Beispiel des SOX. 270 OSHA, Whistleblower Investigations Manual, Dir. No. CPL 02-03-007, Stand 28.01.2016, abrufbar unter (OSHA Manual), p. 2-1–2-2 (II.); Online-Eingabemaske unter . 271 OSHA Manual, p. 2-2 (II., D.); Zuständigkeiten von Sachbearbeitern und anderen Mitarbeitern unter p. 1-8–1-12 (IX.). 272 OSHA Manual, p. 2-6 (III., A./B).
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messenen Untersuchungsfrist 273 geprüft, ob die Angaben des Whistleblowers prima facie die Voraussetzungen des Gesetzes erfüllen bzw. ob es dem Arbeitgeber gelingt, einen solchen Anschein überzeugend zu widerlegen. 274 Kommt die OSHA zu dem Ergebnis, dass eine „anti-retaliation“-Bestimmung verletzt worden ist, erlässt sie in ihrer dritten Funktion als Vorabentscheidungsstelle einstweilige Unterlassungs-, Wiedereinstellungs- und Kompensationsanordnungen.275 Legt keine der beteiligten Parteien gegen die Entscheidung der OSHA Einspruch ein oder findet das Verfahren im Rahmen eines Gesetzes statt, bei welchem dem Einspruch keine aufschiebende Wirkung zukommt, entfaltet die Anordnung unmittelbare Rechtswirkung zwischen den Beteiligten.276 Entscheidet sich einer der Beteiligten, gegen die Entscheidung der OSHA Einspruch einzulegen, wird der Fall von verwaltungsinternen Einzelrichtern, den Administrative Law Judges (ALJs), überprüft und in rechtlicher und tatsächlicher Sicht neu verhandelt. 277 Diese sog. „Article I judges“ sind staatsorganisationsrechtlich Teil der Exekutive 278 und verfügen daher auch nicht über eine für die Judikative typische, institutionelle Unabhängigkeit. 279 Nichtsdestotrotz sind sie in ihrer eigenen Entscheidung nicht nur weisungsunabhängig, sondern wenden im Wesentlichen das gleiche Beweiserhebungsund Verfahrensrecht an wie die ordentlichen Gerichte, so dass sie ihnen in
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Diese Frist beträgt je nach Gesetz zwischen dreißig und neunzig Tage, OSHA Manual, p. 2-6 (V.). Dass sie aufgrund steigender Fallzahlen in der jüngeren Vergangenheit nicht selten überschritten wurde, dürfte ein entscheidender Grund für den erleichterten Zugang zu den ordentlichen Gerichten sein, wie er in der Gesetzgebung ab 2004 feststellbar ist, s. Rn. 164 ff., 208 ff. 274 Zu den Ermittlungsinstrumenten gehören neben der Aktenlage und Anhörungen auch Ortstermine im betroffenen Unternehmen und weitere Ausforschungsmaßnahmen, OSHA Manual, p. 3-2–3-22. 275 OSHA Manual, p. 4-6–4-7 (V.). Zu Art und Umfang der hierdurch verwirklichten Rechtsfolgen allgemein unten, Rn. 63; sowie speziell am Beispiel des Sarbanes-Oxley Act Rn. 134 ff. 276 Die aufschiebende Wirkung ist vor allem bei neueren Gesetzten wie dem SarbanesOxley Act (29 CFR 1980.106(b)) und dem Dodd-Frank Act (29 CFR 1983.105(c)) häufig ausgesetzt, um den unmittelbaren Schutz des Whistleblowers zu erhöhen. 277 OSHA Manual, p. 4-7–4-9 (VI.) („de novo review“). 278 Die auf American Ins. Co. v. 356 Bales of Cotton, 26 U.S. 511 (1828) zurückgehende, in den USA übliche Bezeichnung als „legislative courts“ führt demgegenüber nicht selten zu terminologischen Verwirrungen, vgl. Kuretski v. C.I.R., 755 F.3d 929, 942–43 (D.C. 2014). 279 Im Gegensatz zu „Art. III judges“, die ihre Kompetenzen aus dem Judikativartikel der US-amerikanischen Verfassung ableiten, werden „Art. I judges“ vom Kongress im Rahmen seiner Gesetzgebungskompetenz aus Art. 1 U.S. Const. mit ihren Aufgaben betraut. Case, N. Ill. U. L. Rev. 101 (2005).
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ihrer praktischen Funktionalität ähnlich sind.280 Gleiches gilt für das letzte mögliche Glied in der Kette von Entscheidungsträgern innerhalb des Department of Labor, dem Administrative Review Board (ARB), dem die Aufgabe einer Berufungsinstanz für Urteile der ALJs mit allerdings eingeschränkter Beweiserhebungskompetenz zukommt. 281 Da die Entscheidungen des ARB für alle ALJs Bindungswirkung entfalten und für eine Mehrzahl der vom Department of Labor administrierten „adjunct statutes“ eine nochmalige Tatsachenüberprüfung vor den ordentlichen Gerichten ausgeschlossen ist, 282 kommt den Urteilen des ARB sowohl bei der Auslegung des WhistleblowerSchutzes als auch bei der praktischen Durchsetzung von Ansprüchen erhebliche Bedeutung zu.283 Zwar ist der Gesetzgeber in vielen neueren Whistleblowing-Gesetzen dazu übergegangen, jedenfalls bei einer Verzögerung des OSHA-Verfahrens einen direkten Zugang zu den ordentlichen Gerichten zu gewähren, zumal die Aufgabenerfüllung der OSHA in der Praxis nicht immer die an sie gestellten (Kooperations-)Ansprüche erfüllt.284 Dies ändert allerdings nichts an der Rechtstatsache, dass dogmatische Weichenstellungen des ARB in vielen Bereichen eine nicht unerhebliche Ausstrahlungskraft aufweisen, so dass sie trotz ihres nicht-judikativen Charakters im Rahmen dieser Arbeit entsprechend berücksichtigt wurden. 285 Gleiches gilt für das hier skiz280
S. im Einzelnen 29 CFR 18 mit den entsprechenden Bestimmungen; allgemein zu Stellung und Funktion von „Art. I judges“ Butz v. Economou, 438 U.S. 478, 513 (1978) („functionally comparable“); mit Bezug zum Verfahren vor den DOL-ALJs Timmons v. Mattingly Testing Service, Case No. 95-ERA-401996, WL 363348 (ARB 1996) (Recht auf umfassende Beweiserhebung). 281 29 CFR § 1980.110. Auch das ARB fungiert als Tatsachen- und Rechtsinstanz und überprüft die Entscheidungen der ALJs „de novo“. Die Beweiswürdigungen der ALJs bleiben allerdings insoweit unangetastet, wie sie inhaltlich auf einer hinreichenden Beweisgrundlage und vernünftiger Beweiswürdigung beruhen („substantial evidence standard“, Fordham v. Fannie Mae, Case No. 12-061, 2014 WL 5511070, p. 7 (ARB 2014). Die Überprüfungsdichte liegt gleichauf mit dem bereits für das NLRB angewendeten Standard (Universal Camera Corp. v. NLRB, 340 U.S. 474, 477 (1951)) und ähnelt insoweit der seit 2001 eingeschränkten Überprüfbarkeit im deutschen Berufungsverfahren nach § 529 ZPO. 282 Auch soweit dies nicht der Fall ist, garantiert die partielle Überprüfungsimmunität von Verwaltungsentscheidungen vor den ordentlichen Gerichten (sog. „Chevron defrence“, s. unten Fn. 959.) eine entsprechende Praxisbedeutung der Entscheidungen des ARB. 283 Vgl. zuletzt etwa Powers v. Union Pacific Railroad Co., Case No. 13-034, 2015 WL 1881001 (ARB 2015) zur Klärung der Anforderungen an den „contributing factor test“. 284 So z.B. in 18 U.S.C. § 1514A(b)(1)(B) (Sarbanes-Oxley Act); darüber hinausgehend 15 U.S.C. § 78u-6(h)(1)(B)(i) (unmittelbare Zuständigkeit der District Courts i.R.d. DoddFrank Acts). Ob letzteres Beispiel angesichts der bei der OSHA-Administrierung des Sarbanes-Oxley Act zutagegekommenen Defizite Schule machen wird, ist gegenwärtig noch nicht abzusehen. Hierzu unten, Rn. 165 ff. 285 Vgl. statt vieler die Praktikerhinweise von Katz, SU033 ALI-CLE 1351 (2013) u.a. zu Sarbanes-Oxley- und Dodd-Frank-Whistleblower-Bestimmungen mit fast ausschließli-
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zierte Modell einer arbeitsverwaltungsrechtlichen Kombination aus öffentlichkeitsdienlicher Rechtsdurchsetzungsstelle und Whistleblower-dienlicher Rechtsschutzkomponente,286 deren kooperativer Charakter jedenfalls dort, wo dessen Synergieeffekte nicht gestört waren,287 einen wesentlichen Einfluss auf Verbreitung, Erfolg und Eigenarten des US-amerikanischen Whistleblowing-Rechts hatte.288
C. Die Ausbreitung des Whistleblower-Schutzes durch State Common Law und Public Policy Exceptions C. State Common Law und Public Policy Exceptions
I. Entstehung und Etablierung von Common-Law-Ausnahmen zur „employment-at-will“-Doktrin Während das föderale Arbeitsverwaltungsrecht sich schon seit Beginn des „New Deal“ auf Grundlage des wachsenden Bodens der „commerce clause“ immer tiefer in das Territorium der „at-will“-Doktrin vorwagte, hielten einzelstaatliche Gerichte und das von ihnen geformte Common Law in weiten Teilen bis in die 1970er Jahre hinein an ihren hergebrachten Kündigungsgrundsätzen fest.289 Neben dogmatischen Konsistenzbestrebungen zeichnete sich die konkrete Einzelfallanwendung der Doktrin dabei vor allem dadurch aus, dass die überwiegende Rechtsprechung beinahe jeden Arbeitsvertrag als „at-will“-Beziehung einordneten, sofern nicht explizit eine exakte Befristung vereinbart wurde – selbst dann, wenn die Parteien sich nachweislich auf eine
chem Verweis auf ARB Entscheidungen und Nachweisen zu von den ordentlichen Gerichten übernommenen Auslegungsstandards des ARB. Dies hat freilich ebenfalls zur Folge, dass die in der verwaltungsinternen Gerichtsbarkeit verwurzelten Gewaltenteilungsdefizite bei Veränderungen an der Spitze der Exekutive auf Rechtschutzebene vollends durchschlagen können. Vgl. Moberly, 16 Employee Rts. & Emp. Pol'y J. 51, 60–66 (2012) mit zahlreichen Belegen für den deutlichen Wandel in der Rspr. des ARBs nach Ersetzung zahlreicher, noch unter der Bush-Administration ernannter Richter durch die neue Arbeitsministerin Hilda Solis („Obama’s ARB“). 286 Zu den Wurzeln dieses Systems anhand entsprechender Kompetenzen des NLRB unter dem NLRA bereits Fn. 204. 287 Zu eben jenem Szenario unter dem Sarbanes-Oxley Act, bei dem die jeweiligen Zuständigkeiten zwischen der SEC als Whistleblowing-Adressat und der OSHA als Rechtsschutzbehörde aufgespalten wurden, eingehend unter Rn. 137 f., 165 ff. Zu der auch hiermit zusammenhängenden Kritik an Eignung und Effizienz der OSHA bei der Administrierung der ihr zugeordneten „adjunct statutes“, s. Fn. 266 m.w.N. 288 S. zur Kritik an Kompetenz und Kapazität des DOL gerade bei zuständigkeitsfernen Rechtsgebieten die Nachw. in Fn. 266. 289 S. allgemein zum Stand der „at-will“-Doktrin in den 1960er und 1970er Jahren insbes. Blades, 67 Colum. L. Rev. 1404 (1967); Summers, 62 Va. L. Rev. 481 (1976); sowie die weiteren Nachw. in Fn. 185.
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dauerhafte, unbefristete Arbeitsbeziehung geeinigt hatten.290 Hierbei haben die Gerichte offenbar vor allem drei Motive dazu bewogen, das Fehlen eines einzelstaatlichen Kündigungsschutzes trotz gegenteiliger Entwicklungen im Federal Law zu verteidigen. Zum einen bestand eine rechtspraktisch begründete Sorge davor, dass die Anerkennung prinzipieller Ausnahmen zur at-willDoktrin die Zahl der Kündigungsschutzklagen in die Höhe schnellen lassen würde, ohne dass die Rechtsprechung in der Lage wäre, einer solchen Belastung adäquat standzuhalten. 291 Vor dem Hintergrund der zunehmenden Föderalisierung der US-amerikanischen Arbeits- und Wirtschaftsordnung schienen für nicht wenige Gerichte außerdem wirtschaftspolitische Beweggründe dominant gewesen zu sein – immerhin konnte jede Veränderung des Status quo zulasten der Arbeitgeber einen potentiellen Standortnachteil gegenüber anderen Einzelstaaten nach sich ziehen.292 In dogmatischer Hinsicht wiederum konnten sich die Gerichte auf eine mittlerweile hundertjährige Serie von Präzedenzfällen stützen und somit der „employment-at-will“-Doktrin ihre juristische Legitimität verleihen. Seit Beginn der 1970er Jahre allerdings mehrten sich mit bis heute steigender Tendenz jene Entscheidungen, die vor allem in „harten“ Einzelfällen ein zunehmendes Unbehagen mit den kompromisslosen Folgen der „at-will“-Doktrin erkennen ließen und das Fehlen eines allgemeinen Kündigungsschutzes durch eine zunehmende Zahl von Bereichsausnah290 Die jeweiligen Begründungen variierten zwischen den einzelnen Fällen und einzelstaatlichen Rechtsordnungen. Häufige Rechtfertigungsmuster für die Klageabweisung waren Verweise auf die mangelnde Ausdrücklichkeit der Vereinbarung (z.B. Martin v. New York Life Ins. Co., 148 N.Y. 117, 121 (N.Y. 1895); Horzon Corp. v. Winberg, 23 Ariz. App. 215, 218 (1975)), das Fehlen einer notwendigen Gegenleistung („consideration“) für die dauerhafte Einstellungszusage (z.B. Forrer v. Sears, Roebuck & Co., 36 Wis.2d 388, 393 (1967)) oder schlicht die generelle Gleichsetzung von unbefristeten Arbeitsverhältnissen mit „at-will“-Arbeitsverhältnissen (z.B. Justice v. Stanley Aviation Corp., 530 P.2d 984, 986 (Colo. Ct. App 1974)):“ a contract for permanent employment is no more than an indefinite, general hiring terminable at the will of either party.“). Vgl. auch Summers 62 Va. L. Rev. 481, 488–98 (1976) m.w.N. 291 So etwa der Pennsylvania Supreme Court in Geary v. United States Steel Corp., 456 Pa. 171 (1974): „[S]uits like the one at bar could well be expected to place a heavy burden on our judicial system in terms of both an increased case load and the thorny problems of proof which would inevitably be presented.“ Damals wie heute machen viele Autoren diese Sorge als Hauptgrund für das Festhalten an der „at-will“-Doktrin aus, Summers 62 Va. L. Rev. 481, 491 (1976); Ballam, 13 Hofstra Lab. & Emo. L. J. 75, 104 (1995); Morris 59 Mo. L. Rev. 679, 694–96 (1994), letzterer mit der zusätzlichen Vermutung, dass die Gerichte vor alle verhindern wollten, dass die von ihnen in diesen Fällen meist für ungeeignet befundenen Jurys sich mit Kündigungsschutzklagen befassen konnten. 292 In außergewöhnlich expliziter Form verweist hierauf z.B. die Begründung in Whittaker v. Care-More, Inc., 621 S.W.2d 395, 397 (Tenn. Ct. App. 1981): „Tennessee has made enormous strides in recent years in its attraction of new industry […] The impact on the continuation of such influx of new businesses should be carefully considered before any substantial modification is made in the employee-at-will rule.“
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men abzumildern versuchten. Während die meisten dieser Bereichsausnahmen sich auf eine veränderte Interpretationssraxis der Gerichte hinsichtlich konkludenter Vertragsabreden stützten und stützen,293 wurde die dogmatisch weitreichendste und praktisch bedeutsamste 294 Ausnahme zur „at-will“Doktrin auf einem deliktsrechtlichen 295 Fundament entwickelt: die sog. „public policy exception“. Sowohl ihre dogmatische Konstruktion als auch der Zeitraum ihrer Etablierung sollten sich als entscheidend für den einzelstaatlichen Whistleblower-Schutz erweisen. 293 Inbes. die sog. „implied contract exceptions“, durch die entgegen früherer Praxis heute häufiger befristete bzw. auf Dauer angelegte, unbefristete Arbeitsverträge durch konkludente Abreden angenommen werden, sowie die sog. „implied covenant of good faith and fair dealing doctrine“, die i.Erg. einer Beschränkung des Kündigungsrechts wegen Verstoßes gegen ein vertragsinhärentes Gebot von „Treu und Glauben“ gleichkommt. S. Statt vieler Pepe//Dunham, Wrongful Discharge, § 1:4 m.w.N. unter § 1:8 und § 1:9. 294 Vgl. Kohlman, 31 Am. Jur. Trials 317, §§ 3, 4 (1984/2015). Die „public policy exception“ ist jedenfalls im Bereich des Common-Law-Schutzes das einschneidendste Kündigungsschutzinstrument. Auf einem anderen Blatt steht freilich, dass die mittlerweile zahlreichen Ausnahmen auf legislativer Ebene für ihren Sachbereich nicht nur in aller Regel einen effektiveren Schutz bieten, sondern die „public policy exception“ teilweise sogar aktiv zurückdrängen. S. im Einzelnen ebd., § 3, die weiteren Nachw. in Fn. 321 sowie mit Bezug zum Whistleblowing Rn. 50, 64 ff. 295 Angesichts der auf (formal verstandener) Privatautonomie beruhenden Begründung der „at-will“-Doktrin war die Annahme der Verletzung einer unbedingten, deliktsrechtlichen Pflicht, sich gemäß geltender „public policy“ zu verhalten, der dogmatisch aus Sicht vieler Gerichte einzig gangbare Weg zur Einschränkung der „at-will“-Doktrin. Auch der moderne Common-Law-Whistleblower-Schutz wird demgemäß noch heute zumeist als Delikt („tort“) eingestuft, wenngleich seine Rechtsfolgen zunehmend vertragsähnlich ausgestaltet werden. Hierzu Foley v. Interactive Data Corp., 47 Cal. 3d 654, 47 Cal. 3d 654, 667, n. 7 (Cal. 1988): “What is vindicated through the cause of action is not the terms or promise arising out of the particular employment relationship involved, but rather the public interest in not permitting employers to impose as a condition of employment a requirement that an employee act in a manner contrary to fundamental public policy“; Gower v. IKON Office Solutions, Inc., 155 F. Supp. 2d 1268, 1276 (D. Kan. 2001); ferner Cavico, 25 Akron L. Rev. 497, 522 (1992); ders., 45 S. Tex. L. Rev. 543, 605 et seq. (2004); zu den Konsequenzen unten, Rn. 63 ff. Allein die Gerichte in Arkansas, Idaho und South Dakota haben ihre „public policy“-Whistleblower-Ausnahmen auf die Annahme der Verletzung konkludenter Vertragsabreden gestützt, Sterling Drug, Inc. v. Oxford, 294 Ark. 239, 249–50 (Ark. 1988); Crea v. FMC Corp., 135 Idaho 175 (Idaho 2000); Dahl v. Combined Insurance Co., 621 N.W.2d 163, 166–68 (2001). Begründet wurde dies v.a. damit, dass die „public policy exception“ in der Sache vertragsrechtliche Probleme erfasse und sich auf diese Weise zudem ein ausufernder, deliktischer (Straf-)Schadensersatz verhindern lasse. Vgl. Sterling Drug, Inc. v. Oxford, 294 Ark. 239, 249 (Ark. 1988). Während der Ursprung der vertragsrechtlichen Interpretation der „public policy“-Doktrin in Wisconsin liegt, haben die dortigen Gerichte sie bis heute aber nicht allgemein auf Whistleblowing-Fälle angewendet. Brockmeyer v. Dun & Bradstreet, 113 Wis.2d 19 (Wis. 1983); Hausman v. St. Croix Care Center, 214 Wis.2d 655 (Wis. 1997).
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Ihren dogmatischen Ursprung hatte die „public policy exception“ bereits in einer lange Zeit vergleichsweise wenig beachteten Grundsatzentscheidung des California Court of Appeal in Sachen Peterman v. Teamsters aus dem Jahr 1959.296 Das in diesem Fall begründete Konzept der „public policy exception“ verfügt über keine unmittelbare Entsprechung im deutschen Recht, lässt sich konzeptionell aber am besten als eine Form der „mittelbaren Drittwirkung öffentlicher Interessen“ auf private (Arbeits-)rechtsverhältnisse beschreiben. Der ihr zugrundeliegende Begriff der „public policy“ wiederum entzieht sich – ähnlich wie auch der deutsche Begriff des „öffentlichen Interesses“ – einer präzisen Definition und damit einer adäquaten Übersetzung.297 Am ehesten lässt er sich als Summe aller staatlich festgelegten Interessen der Allgemeinheit und (rechts-)politisch manifestierten Zielvorstellungen begreifen, deren essentieller Stellenwert für das Gemeinwohl einen gerichtlichen Schutz auch in jenen Fällen notwendig erscheinen lässt, in denen es an unmittelbar anwendbaren Gesetzesbestimmungen bzw. Prinzipien des Common Law mangelt.298 Entsprechend dieses vagen Konzepts wurde und wird das Argument, ein bestimmtes, rechtstechnisch eigentlich einwandfreies Resultat widerspräche grundlegender „public policy“, von Gerichten in den unterschiedlichsten Konstellationen verwendet.299 Ähnlich dem Prinzip von „Treu und Glauben“ waren und sind die meisten Gerichte allerdings bemüht, den Anwendungsbereich des „public policy“ Arguments im Interesse der Rechts296 Peterman v. International Brotherhood of Teamsters Local 396, 174 Cal. App.2d 184 (Cal. Ct. App. 1959). 297 Dies ist auch der Rechtsprechung bewusst und führte lange Zeit einem entsprechend sparsamen Gebrauch der Doktrin, s. etwa Peterman v. International Brotherhood of Teamsters Local 396, 174 Cal. App.2d 184, 188 (Cal. Ct. App. 1959): „The term 'public policy' is inherently not subject to precise definition“; Noble v. City of Palo Alto, 89 Cal.App. 47, 50 (Cal Ct. App. 1928): „Public policy is a vague expression, and few cases can arise in which its application may not be disputed.“ Vgl. auch Cavico, 45 S. Tex. L. Rev. 543, 506 (2004) der hierin wie viele das Hauptproblem der Doktrin erblickt; ferner „Jander/Lorenz, RdA 1990, 97, 102 ff., die insoweit zu Recht auf die Schwierigkeiten einer direkten Übersetzung des Begriffs der „public policy“ verweisen und sie als Schutz „vom Gemeinwesen anerkannter Ziele […] zwischen Normzwecküberlegung und Sittenwidrigkeit“ charakterisieren. 298 Die Definition der „public policy“ variiert z.T. erheblich zwischen den einzelstaatlichen Rechtsordnungen, thematischen Bereichen und zeitlichen Perioden. Die hier vorgeschlagene Definition erhebt deshalb keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit, sondern stellt eine Synthese aus einer Vielzahl von Einzelentscheidungen dar. Für eine Darstellung heutiger Definitionsversuche für den Bereich des Kündigungsschutzrechts, s. mit umfassenden Nachweisen Kaye, 24 Causes of Action 2d 227, §§ 12 (2002/2015). 299 Vgl. beispielsweise Noble v. City of Palo Alto, 89 Cal.App. 47 (Cal Ct. App. 1928) (public policy gebietet, dass Fundsachen in das Eigentum der Gemeinde und nicht das persönliche Vermögen eines Polizisten übergehen); Eggleston v. Pantages, 103 Wash. 458 (Wash. 1918); Bliss v. Matteson and Litchfield, 52 Barb. 335 (N.Y. 1868) (Unwirksamkeit eines Vertrages, der den Loyalitätspflichten eines Vorstandes widersprach).
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sicherheit auf die Korrektur von als extrem empfundenen Ergebnissen zu beschränken.300 Auch wenn der Gedanke, dass „public policy“-Erwägungen auch die Grundlage für Bereichsausnahmen zur „at-will“-Doktrin darstellen könnten, im Ansatz schon länger existiert,301 bedurfte es daher eines vergleichsweise extremen Falls in einer als progressiv bekannten Einzelrechtsordnung wie der kalifornischen, 302 um eine für die damalige Zeit radikale Grundsatzentscheidung zu provozieren und mit ihr die Gefahr eines Dammbruchs in der übersichtlichen Welt der „at-will“-Doktrin zu riskieren. All dies traf auf den Fall Peterman v. Teamster303 zu. Der Kläger in diesem Kündigungsschuzprozess, Peter E. Peterman, war nicht nur Mitglied einer der größten und ältesten Gewerkschaften der USA, der International Brotherhood of Teamsters, Chauffeurs, Warehousemen and Helpers of America (IBT), sondern von dieser zugleich als geschäftsmäßiger Vertreter einer ihrer lokalen Ableger angestellt. Durch den zuständigen Sekretär für Finanzen wurde ihm vertraglich eine unbegrenzte Beschäftigung zugesagt, solange seine Leistungen für die Gewerkschaft zufriedenstellend waren.304 Als Peterman im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit von einem Gesetzgebungssausschuss des Staates Kalifornien vorgeladen wurde, versuchte ihn der für Personalfragen verantwortliche Finanzsekretär zu einer Reihe von (strafbaren) Falschaussagen zugunsten der Gewerkschaft zu bewegen. Nachdem Peterman entgegen dieser Instruktionen wahrheitsgemäß ausgesagt hatte, wurde er bereits am nächsten Tag mit sofortiger Wirkung aus
300
Vgl. etwa Patton v. United States, 281 U.S. 276, 305 (1930) m.w.N. zur unterschiedlichen Ausfüllung des Begriffs durch die Gerichte: „[U]nless deducible in the given circumstances from constitutional or statutory provisions, [the public policy doctrine] should be accepted as the basis of a judicial determination, if at all, only with the utmost circumspection.“ 301 S. etwa den Dissent von Justice Day in Coppage v. Kansas, 236 U.S. 1, 37 (1915): „It may be that an employer may be of the opinion that membership of his employees in the National Guard, by enlistment in the militia of the State, may be detrimental to his business. Can it be successfully contended that the State may not, in the public interest, prohibit an agreement to forego such enlistment as against public policy? Would it be beyond a legitimate exercise if the police power to provide that an employee should not be required to agree, as a condition of employment, to forego affiliation with a particular political party, or the support of a particular candidate for office? It seems to me that these questions answer themselves.“ 302 Die kalifornische Richterschaft gilt auch heute noch allgemein als besonders progressiv im Vergleich zu anderen Einzelrechtsordnungen und hat auch bei der späteren Entwicklung des Whistleblowing-Rechts eine Vorreiterrolle eingenommen, vgl. zur Letzterem Modesitt/Schulman/Westman, Retaliatory Discharge, ch. 7, p. 5–6. 303 Peterman v. International Brotherhood of Teamsters Local 396, 174 Cal. App.2d 184 (Cal. Ct. App. 1959). 304 Peterman v. Teamsters, 174 Cal. App.2d 184, 187 (Cal. Ct. App. 1959).
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seinem Amt als Gewerkschaftsvertreter entlassen.305 Während das erstinstanzliche Gericht seine hiergegen gerichtete Klage in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der „at-will“-Doktrin abwies, zeigte das zuständige Berufungsgericht sich nicht bereit, die Kündigung in diesem Fall schlicht als notwendige Konsequenz einer liberalen Arbeitsrechtsordnung hinzunehmen. Zwar gestand der Court of Appeals Peterman entsprechend gängiger Praxis306 keine Berufung auf vertragsinhärente Kündigungsschutzgründe zu, da die (unstreitige) Zusage, ihn auf unbestimmte Zeit zu beschäftigen und nur bei Schlechtleistung kündigen zu wollen, keine eindeutige, fristmäßige Arbeitsplatzgarantie beinhalte.307 Um das abscheuliche („obnoxious“) Resultat zu verhindern, dass einem Arbeitnehmer, der sich weigerte, eine Straftat zu begehen, von eben jenem selbst wegen Anstiftung zur Falschaussage strafbaren Arbeitgeber gekündigt werden kann, griff das Gericht als letztem Ausweg aber auf die Generalklausel der „public policy“ zurück. Zur Begründung führte es an, dass das Interesse der Allgemeinheit an der effektiven Durchsetzung des Rechts und der Wahrheitsgemäßheit offizieller Aussagen ein Durchschlagen der Wertungen des Strafrechts auf das Zivilrecht unabdingbar mache. Auch wenn schon die einschlägigen Strafandrohungen in vielen Fällen hinreichende Präventionswirkung entfalteten, widerspräche jedes andere Ergebnis dem Geist des Gesetzes, indem es zur Begehung arbeitgeberseitiger Straftaten geradezu ermutigen würde, anstatt sie zu verhindern. 308 Trotz grundsätzlicher Anerkennung der „at-will“-Doktrin und im Bewusstsein der definitorischen Unschärfen des „public policy“-Begriffs war das Gericht daher aufgrund der konkreten Sachlage bereit, zum ersten Mal in der Geschichte des USamerikanischen Arbeitsrechts eine allgemeine, ungeschriebene Ausnahme zum freien Kündigungsrecht des Arbeitgebers anzuerkennen. 309 Ohne sich dessen wahrscheinlich in vollem Umfang bewusst zu sein stieß der kalifornische Court of Appeals damit die Tür zur mittelbaren Drittwirkung öffentlicher Interessen innerhalb privater Arbeitsrechtsverhältnisse auf und erschuf hierdurch letztlich die Keimzelle eines allgemeinen Common-Law-Schutzes für Whistleblower. Auch wenn das dogmatische Gerüst durch die noch heute oft zitierte Teamster-Entscheidung bereits seit Ende der 1950er Jahre existierte, sollte es gleichwohl noch mehrere Jahrzehnte dauern, bis die Doktrin als solche und speziell ihre Anwendung auf Whistleblowing-Fälle eine verbreiterte Akzep305
Peterman v. Teamsters, 174 Cal. App.2d 184, 187 (Cal. Ct. App. 1959). Nachw. zur üblichen Auslegungspraxis unter der „at-will“-Doktrin in Fn. 290. 307 Peterman v. Teamsters, 174 Cal. App.2d 184, 188 (Cal. Ct. App. 1959). 308 Peterman v. Teamsters, 174 Cal. App.2d 184, 188–189 (Cal. Ct. App. 1959). 309 Vgl. Peterman v. Teamsters, 174 Cal. App.2d 184, 188 (Cal. Ct. App. 1959) mit Verweis auf Noble v. City of Palo Alto, 89 Cal.App. 47, 50 (Cal Ct. App. 1928): „Public policy is a vague expression, and few cases can arise in which its application may not be disputed.“ 306
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tanz fanden.310 Als Grundlage ihres letztendlichen Erfolgs ab Beginn der 1970er Jahre lassen sich in der Nachschau eine Reihe kumulativer Faktoren ausfindig machen. Zum einen bot das Urteil gekündigten Arbeitnehmern und ihren Anwälten zusammen mit anderen Einzelfallentscheidungen ähnlicher Stoßrichtung eine willkommene Möglichkeit, ihre Klagen jenseits begrenzter, statuarischer Schutzklauseln auf einer weiteren Rechtsgrundlage aufzubauen, so dass ihr dogmatisches Konzept sukzessive Eingang in die Gerichtssäle und Arbeitsrechtsordnungen anderer Einzelstaaten finden konnte.311 Die Erfolgschancen eines „public policy“-Vorbringens wiederum erhöhten sich merklich im Laufe der 1970er Jahre, nachdem Bürgerrechtsbewegung und gesellschaftspolitische Umbrüche eine Hinwendung zur sozialen Wirklichkeit struktureller Machtgefälle in Arbeitsverhältnissen begünstigten312 und einhergehende Gesetze auf Bundesebene die rechtliche Einschränkbarkeit des „atwill“-Prinzips als weniger systemfremd erscheinen ließen.313 In der Rechtswissenschaft wiederum mehrten sich Versuche, der „at-will“-Doktrin ihre juristische Legitimität zu entziehen, indem H.G. Wood als ihrem bekanntesten Vertreter (erfolgreich) nachgewiesen werden konnte, dass keine der von ihm in seinem einflussreichen Arbeitsrechtskompendium zitierten Präzedenzfälle314 einen belastbaren Beleg für eine entsprechend langjährige, US-amerika310
Vgl. Kohlman, 31 Am. Jur. Trials 317, § 1 (1984/2015), der konstatiert, dass bis zum Jahr 1974 de facto keine wesentlichen Einschränkungen der „at-will“-Doktrin existierten; ferner s. Pepe//Dunham, Wrongful Discharge, § 1:5. mit ausführlichen Nachweisen zur Judikatur der „public policy exception“. 311 S. bspw. Percival v. General Motors Corp., 539 F.2d 1126, 1129–30 (8th Cir. 1976): „[T]he district court took note of a “newly emerging theory” advanced by plaintiff to the effect that the general rule should not be applied to a case in which the discharge violated public policy. The theory is that even if an employer has a general right to discharge an employee without cause or justification, a discharge is wrongful and actionable if it is motivated by the fact that the employee did something that public policy encourages or that he refused to do something that public policy forbids or condemns. That there is some support for this theory in the cases cannot be denied.“ 312 Einflussreich zur Abkehr von den libertären Grundsätzen formaler Verhandlungsparität bereits Blades, 67 Colum. L. Rev. 1404 (1967); hierauf später verweisend Palmateer v. International Harvester Co., 85 Ill.2d 124, 129 (1981); ferner Kohlman, 31 Am. Jur. Trials 317, n. 3 (1984/2015) mit Nachweisen einer zweiten Welle dieser Kritik in der Wissenschaft ab Anfang der 1980er Jahre unter Berufung auf die soziale Vorteilhaftigkeit eines stabilen Arbeitsmarktes. 313 Die wohl bedeutendsten Ausnahmen schufen Anti-Diskriminierungsgesetze im Zuge der Bürgerrechtsbewegung der 1960 Jahre, insbes. der bereits im Jahr 1964 erlassenen Civil Rights Act, 78 Stat. 241, heute 42 U.S. Code § 2000e–2. („Title VII“). 314 Wood zog zur Untermauerung der „at-will“-Doktrin insgesamt vier Fälle heran, s. Wood, Master and Servant (1877), § 134, p. 272. Tatsächlich war bei näherer Betrachtung keiner hiervon geeignet, aus sich heraus die langjährige Existenz der „at-will“-Doktrin zu belegen. Bei De Briar v. Minturn, 1 Cal. 450 (Cal. 1851) handelte es sich im Wesentlichen um eine Räumungsklage, Wilder v. United States, 80 U.S. 254 (1869) betraf Fragen des
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nische Rechtsprechungstradition liefern konnte.315 Nachdem der (vermeintliche)316 Urheber der „at-will“-Doktrin der wissenschaftlichen Fehlerhaftigkeit überführt und seine Doktrin als augenscheinlich ansatzlose, von ökonomischen Partikularinteressen motivierte Scheinkonstante entlarvt worden war, 317 konnten rechtspolitische Zweifel an ihrer sozialen Sinnhaftigkeit und der Verweis auf gesetzgeberische Gegentendenzen 318 sich nun wesentlich leichter durchsetzen. Befreit von der erhöhten Begründungslast, welche die offene Abweichung von einer als fundiert anerkannten Präzedenzkette der „at-will“Doktrin mit sich gebracht hätte, begannen einzelstaatliche Gerichte nun freimütiger, mit den Mitteln des Common Law Bereichsausnahmen zum „hire and fire“-Prinzip zu schaffen – und das auch dann, wenn es an einer expliziten Legislativgrundlage fehlte. Aufbauend auf der Begründung in Peterman v. Teamster entstanden so ab den 1970er Jahren und verstärkt in den 1980er und 1990er Jahren in vielen einzelstaatlichen Rechtsordnungen weitere „public policy“-Fallgruppen, in denen eine „at-will“-Kündigung nach Ansicht der Gerichte im besonderem Maße öffentlichen Interessen zuwiderlief. Zu den von Anfang an relevantesten Kategorien zählten dabei die passive Weigerung, auf Verlangen des Arbeitgebers strafbare oder anderweitig rechtswidrige Handlungen vorzunehmen, sowie die aktive Wahrnehmung staatsbürgerli-
Verjährungsrechts im Bereich des Transportwesens, Tatterson v. Suffolk MfG Co., 106 Mass. 56 (Mass. 1870) befasste sich mit dem Interpretationsspielraum von Jurys bei der Auslegung von Verträgen und in Frankling Mining Co. v. Harris, 24 Mich. 115 (Mich. 1871) wurde sogar zugunsten des Arbeitnehmers eine einjährige Vertragslaufzeit angenommen. 315 So insbes. Shapiro/Tune, 26 Stan. L. Rev. 335, 341, n. 54 (1973); s. ferner Feinman, 20 Am. J. Legal Hist. 118, 125 et seq. (1976); Summers, 62 Va. L. Rev. 481, 485 (1976); Peck, 40 Ohio St. L. J. 1, 2 (1979); zumeist aufbauend auf der vielbeachteten Grundsatzkritik von Blades, 67 Colum. L. Rev. 1404 (1967). Dass diese Beiträge neben wissenschaftlichem Interesse auch durchaus eine politische Stoßrichtung hatten, lässt sich u.a. bei Feinman, 20 Am. J. Legal Hist. 118, 131 (1976) gut erkennen, welcher der bis dahin herrschende Meinung eine Rechtsanalyse auf Basis sozioökonomischer Parameter („Marxian Theorie“) entgegenstellen wollte. 316 Auch die Kritiker der „at-will“-Doktrin operierten freilich auf Basis einer fehlerhaften Quellenanalyse, indem sie H.G. Wood als ihren vermeintlichen Urheber ausmachten (s. bereits Rn. 27). Auch wenn die rechtshistorische Annahme, Woods Werk habe die „atwill“-Doktrin gewissermaßen „erfunden“, nicht nur in Deutschland, sondern bisweilen auch in den USA noch sehr populär ist, hat damit letztlich ein rechtswissenschaftlicher Irrtum zur Korrektur eines rechtspolitisch zweifelhaften Dogmas beigetragen. (Vgl. die Nachw. in Fn 186). 317 Vgl. Summers, 62 Va. L. Rev. 481, 485 (1976). 318 Vgl. aus der Rechtswissenschaft bereits Blades, 67 Colum. L. Rev. 1404, 1417–19 (1967), mit Verweis auf den Erfolg des NLRA in Gestalt des bereits besprochenen Urteils in Sachen NLRB v. Jones & Laughlin Steel Corp., 301 U.S. 1 (1937) (hierzu oben, Rn. 30).
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cher Pflichten319 oder gesetzlicher Rechte, mit deren Ausübung ein besonderes öffentliches Interesse einherzugehen schien.320 Hierauf aufbauend zeichnete sich bald ein zweigliedriges Schutzkonzept der „public policy exception“ ab, das zum einen dann eingriff, wenn das der Kündigung zugrundeliegende und durch ihren Erfolg perpetuierte Arbeitgeberverhalten eine Gefahr für wesentliche, rechtlich manifestierte Interessen der Allgemeinheit darstellte, zum anderen dann einschlägig war, wenn das kündigungsbegründende Arbeitnehmerverhalten dem öffentlichen Wohl in besonderer Weise dienlich erschien und auch in Zukunft nicht verhindert werden sollte.321 Bis zum heutigen Tag haben 46 Staaten und der District of Columbia die „public policy exception“ zur „at-will“-Doktrin anerkannt und (freilich mit teils gravierenden Unterschieden im Detail) wie beschrieben angewendet.322 319
Hierunter fiel und fällt insbesondere die Kündigung wegen Wahrnehmung der JuryPflicht bzw. der hieraus resultierenden Abwesenheit vom Arbeitsplatz, so erstmals Nees v. Hocks, 272 Or. 210, 218 (Or. 1975); kurz darauf etwa Reuther v. Fowler & Williams, Inc., 255 Pa.Super. 28, 31 (Pa. Super. Ct. 1978). 320 Hierzu zählten von Beginn an vor allem die Geltendmachung von Ansprüchen wegen arbeitsbedingter Gesundheitsschäden, die der in den verschiedenen Workmen’s Compensation Act zum Ausdruck gekommenen „public policy“ widersprochen hätte, s. wegweisend Framton v. Central India Gas Co., 297 N.E.2d 425, 428 (Ind. 1973); darauf aufbauend Sventko v. Kroger Co., 69 Mich.App. 644, 651 (Mich. Cat. App. 1976). Dabei erhöhte sich in vielen Rechtsordnungen die Chance eines Eingreifens der „public policy exception“, sobald das Verhalten des Arbeitgebers bzw. der Grund der Kündigung in direktem Zusammenhang mit einer erhöhten Gefahr für öffentliche Rechtsgüter mit besonderem Wert stand, also etwa bei einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Gesundheit. Vgl. Modesitt/Schulman/Westman, Retaliatory Discharge, ch. 7, p. 30 mit Verweis u.a. auf Yaidl v. Ingersoll-Rand Co., 281 Pa.Super. 560 (Pa.); McQuary v. Bel Air Convalescent Home, Inc., 69 Or. App. 107, 111 (Or. 1984); vgl. darüber hinaus Palmer v. Brown, 242 Kan. 893, 900 (Kan. 1988); Miller v. Sevamp, Inc., 234 Va. 462, 468 (Va. 1987). 321 Vgl. mit i.W. der hiesigen Darstellung entsprechenden Klassifizierungen Pennington, 68 Tul. L. Rev. 1583, 1596–1622 (1994) der u.a. zwischen „statutory sanctioned conduct“ und „conduct in furtherance of public policy“ unterscheidet; ähnlich auch Cavico, 25 Akron L. Rev. 497, 506–40 (1991); Pepe//Dunham, Wrongful Discharge, § 1:5, Kohn, Concepts and Procedures, ch. 2, p. 23. 322 Alaska, Knight v. American Guard & Alert, Inc., 714 P.2d 788 (Alaska 1986); Arizona, Wagenseller v. Scottsdale Memorial Hospital, 147 Ariz. 370 (Ariz 1985); Arkansas, M.B.M. Co. Counce, 596 S.W.2d 681 (Ark. 1980); Kalifornien, Peterman v. International Brotherhood of Teamsters Local 396, 174 Cal. App.2d 184 (Cal. Ct. App. 1959); Colorado, Martin Marietta Corp. v. Lorenz, 823 P.2d 100 (Colo. 1992); Connecticut, Sheets. v. Teddy’s Frosted Foods, Inc., 427 A.2d 385 (Conn. 1980); Delaware, Merill v. Crothall-America, Inc, 606 A.2d 96 (Del. 1992); District of Columbia, Adams v. George W. Conchran & Co., 597 A.2d 28 (D.C. App. 1991); Florida, Smith v. Piezo Technology & Professional Administrators, 427 So. 2d 182 (Fla. 1983); Hawaii, Parnar v. Americana Hotels, Inc., 65 Haw. 370 (Haw. 1982); Idaho, Jackson v. Minidoka, 563 P.2d 54 (Idaho 1977); Illinois, Kelsay v. Motorola, Inc., 74 Ill. 2d 172 (Ill. 1978); Indiana, Frampton v. Central Iniana Gas Co., 297 N.E.2d 425 (Ind. 1973); Iowa, Fitz-
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Betrachtet man nun die obigen beiden Kategorien und bedenkt gleichzeitig die gesetzlich anerkannte Bedeutung, die Whistleblowing spätestens mit Beginn der 1970er Jahre durch die Verbreitung von „adjunct statutes“ zukam, vermag nicht zu überraschen, warum der Whistleblower-Schutz (anders als in vielen anderen Rechtsordnungen) schon früh seinen Charakter als bloße Randerscheinung der allgemeinen Kündigungsschutz-Dogmatik verlieren sollte. Ganz im Gegenteil spielten Whistleblowing-Fälle von Beginn an eine tragende Rolle bei der Fortentwicklung der „public policy exception“, da sich gerald v. Salabury Chemical Inc., 613 N.W.2d 275 (Iowa 2000); Kansas, Murphy v. City of Topeka-Shawnee County, 6 Kan. App. 2d 488 (Kan. 1981); Kentucky, Firestone v. Meadow, 666 S.W.2d 730 (Ky. 1983); Louisiana, Moore v. Dermott, Inc., 494 So. 2d 1159 (La. 1986); Maryland, Adler v. American Standard Corp., 538 F. Supp 572 (Md. 1981); Massachusetts, Fortune v. National Cash Register, 364 N.E.2d 1251 (Mass. 1977); Michigan, Sventko v. Kroger Co., 245 N.W.2d 151 (1976); Minnesota, Philipps v. Clark Oil & Refining Corp., 396 N.W.2d 588 (1986); Mississippi, McArn v. Allied BruceTerminix Co., 626 So.2d 603 (Miss. 1993); Missouri, Smith v. Arthur Baue Funeral Home, 370 S.W.2d 249 (Mo. 1963); Montana, Keneally v. Orgain, 606 P.2d 127 (Mont. 1980); Schriner v. Meginnis, Ford Co., 228 Neb. 85 (Neb. 1988); Nevada, Hansen v. Harrah’s, 100 Nev. 60 (Nev. 1984); New Hampshire, Monge v. Beebe Rubber Co. 316 A.2d 1273 (N.H.1980); New Jersey, Pierce v. Ortho Pharmaceutical, Corp., 84 N.J. 58 (N.J. 1980); New Mexico, Virgil v. Arzola, 102 N.M. 682 (N.M. 1983); North Carolina, Sides v. Duke University, 74 N.C. App. 331 (N.C. Ct. App. 1985); North Dakota, Ressler v. Humane Society of Grand Forks, 480 N.W.2d 429 (N.D. 1992); Ohio, Greeley v. Miami Valley Maintenance Contrs., Inc., 551 N.E.2d 981, (Ohio 1990); Oklahoma, Burk v. K-Mart Corp., 770 P2d 24 (Okla 1989); Oregon, Nees v. Hocks, 272 Or. 210 (Or. 1975); Pennsylvania, Geary v. U.S. Steel Corp., 319 A.2d 174 (Pa. 1974); Rhode Island, Volino v. General Dynamics, 539 A.2d 531 (R.I. 1988); South Carolina, Ludwick v. This Minute of Carolina, Inc., 287 S.E.2d 213 (S.C. 1984); South Dakota, Johnson v. Kreiser’s Inc., 433 N.W.2d 225 (S.D. 1988); Tennessee, Clanton v. Clain-Sloan., 677 S.W.2d 411 (Tenn. 1984); Texas, Sabine Pilot Service, Inc. v. Hauck, 687 S.W.2d 744 (Tex. 1985); Utah, Hodges v. Gibson Products Co., 811 P.2d 151 (Utah 1991); Vermont, Payne v. Rozendaal, 147 Vt. 74 (Vt. 1986); Virginia, Bowman v. State Bank of Keysille, 229 Va. 534 (Va. 1985); Washington, Thompson v. St. Regis Paper Co., 685 P.2d 1081 (Wash. 1984); West Virginia, Harless v. First National Bank in Fairmont, 162 W. Va. 116 (W. Va. 1978); Wisconsin, Brockmeyer v. Dun & Bradstreet, 113 Wis.2d 19 (Wis. 1983); Wyoming, Hermreck v. U.P.S., 938 P.2d 631 (Wyo. 1997). Allein Alabama, Georgia und New York haben sich einer derartigen Einschränkung der „at-will“-Doktrin generell entzogen. Alabama, Wright v. Dothan Chrysler Plymouth Dodge, Inc., 658 So.2d 428, 431 (Ala. 1995); Georgia, Eckhardt v. Yerkes Regional Primate Center, 561 S.E.2d 164 (Ga. Ct. App. 2002); New York, Murphy v. American Home Products Corp., 58 N.Y.2d 293, 301 (1983). Die Rechtsprechung des Staates Maine wiederum stellt eine bundesweite Ausnahme dar, da sich soweit ersichtlich bis zum heutigen Tag noch kein Obergericht zur Anwendbarkeit der „public policy exception“ eindeutig geäußert hat. Jedenfalls die Aussage, dass sich die „public policy“-Ausnahme in (allen) anderen Bundesstaaten durchgesetzt habe, ist demgemäß aber nicht zutreffend. Anders statt mehrerer etwa Peifle, Anreize für Whistleblower, S. 46.
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bei ihnen gleich beide relevanten „public policy“-Fallgruppen gleichzeitig vorfinden ließen.323 So dienen Meldungen illegaler Praktiken von Arbeitgebern und anderen Unternehmensangehörigen nicht nur ihrer unmittelbaren Aufdeckung, Ahndung und Prävantion einer Perpetuierung, sondern entsprechend sich etablierender Tradition zugleich einer allgemeinen Effektuierung der Rechtsdurchsetzung, vermittelt durch die Wahrnehmung eigener Rechte des Arbeitnehmers im Interesse der Öffentlichkeit.324 Auf Basis der dogmatischen Anlagen der „public policy exception“ musste es gekündigten Arbeitnehmern daher von Beginn an besonders erfolgversprechend erscheinen, durch eine Berufung auf gleich beide Elemente der einschneidendsten Bereichsausnahme zur „at-will“-Doktrin einen ansonsten oft aussichtslosen Kündigungsschutzprozess zu führen. Folgerichtig nahm und nimmt der „public policy“-Whistleblower-Schutz in den USA eine zentrale Position innerhalb der Common-Law-Ausnahmen zur „at-will“-Doktrin ein.325 Einer der ersten und bis heute meistbeachteten Fälle aus der Anfangszeit der „public policy exception“ ist dementsprechend auch der Fall des Whistleblowers George Geary in Geary v. United States Steel Corp. aus dem Jahr 1974.326 Der langjährige Vertriebsmitarbeiter Geary hatte sich gegen die Auslieferung einer neuen Produktreihe von Mantelrohren für die Öl- und Gasindustrie eingesetzt, welche seiner Meinung nach nicht ausreichend getestet wurden und bei bestimmungsgemäßem Gebrauch für Hochdruckarbeiten eine erhebliche Gefahr für die hiermit befassten Arbeiter dargestellt hätten. Nach323
Für eine prägnante Übersicht früher Fälle der „public policy exception“, s. Nees v. Hocks, 272 Or. 210, 216–18 (Or. 1975) mit Verweis u.a. auf den Whistleblowing-Fall Geary v. United States Steel Corp., 456 Pa. 171 (1974) als einem der bis dahin wenigen Fälle zur „public policy exception“. 324 So aus späterer Zeit in besonders deutlicher und ausführlicher Weise etwa die Concurring Opinion von Justice Docket in Winters v. Houston Chronicle Pub. Co., 795 S.W.2d 723, 725 et seq. (Tex. 1990) mit zahlreichen Nachweisen aus Rechtsprechung und Whistleblowing-Literatur sowie dem Fazit, dass die Geschichte gezeigt habe, dass ein demokratisches Gemeinwesen ohne die Hilfe von Whistleblowern kaum zu einer effektiven Rechtsdurchsetzung im Sinne des Allgemeinwohls in der Lage wäre. Die Hypothese einer solchen Unabkömmlichkeit des Whistleblowings hat spätestens seit den 1990er Jahren auch viele Anhänger in der Literatur. Statt vieler aus anwaltlicher Sicht Kohn, Concepts and Procedures, ch. 2 p. 22; aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht Atkins, 70 Denv. U. L. Rev. 537, 544 (1993). 325 Vgl. statt vieler Pepe//Dunham, Wrongful Discharge, § 1:7 m.w.N. in Fn. 7, die das Whistleblowing als eine von drei wesentlichen Fallgruppen einordnen (§1:5) und ihm spätestens seit Anfang der 1990er Jahre eine herausragende praktische Bedeutung attestieren (§1:7); Kaye, 24 Causes of Action 2d 227, §§ 28-35 (2002/2015); Kohn, Concepts and Procedures, ch. 2, p.21–25; Modesitt/Schulman/Westman, Retaliatory Discharge, ch. 7, p. 3; insoweit auch Jander/Lorenz, RdA 1990, 97, 102 ff., allerdings mit Verweis auf Geary v. U.S. Steel, 319 A.2d 174 (Penn. 1974) als vermeintlichem Ursprung der „public policy“-Doktrin. 326 Geary v. United States Steel Corp., 456 Pa. 171 (1974).
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dem seine Vorgesetzten seine Bedenken ignoriert hatten, wandte er sich erfolgreich an ein ihm persönlich bekanntes Mitglied der Unternehmensleitung und erreichte, dass das Produkt aus dem Verkehr gezogen wurde. Geary selbst allerdings kostete dieses interne Whistleblowing in unmittelbarer Konsequenz seinen Arbeitsplatz. 327 Die Mehrheit der Richter des zuständigen Supreme Court of Pennsylvania hielt die Kündigung Gearys in der Sache zwar aufrecht, 328 erkannte das Eingreifen der „public policy exception“ im Rahmen ihrer Begründung allerdings auch für sämtliche internen wie externen Whistleblowing-Fälle grundsätzlich an.329 Noch einflussreicher als das Urteil selbst dürfte indes der einhergehende Dissent von Justice Roberts gewesen sein, dessen Begründung vor allem den zahlenmäßig zunehmenden Kritikern der „at-will“-Doktrin aufgefallen war. 330 In seinem mehrseitigen Votum zur Anerkennung von Whistleblower-Fällen als Fallgruppe der neuen „public policy exception“ unterstrich er die Bedeutung der öffentlichen (Produkt-)Sicherheit für das Gemeinwohl und stellte darüber hinaus fest, dass die Meldung (potentiell) rechtswidriger Zustände durch pflichtbewusste Arbeitnehmer schon allein aus Perspektive der Haftungsvermeidung im wohlverstandenen Interesse auch des Arbeitgebers läge.331 Mit diesem Dreiklang aus der Betonung der Nützlichkeit von Whistleblowern bei der Aufdeckung von Rechtsbrüchen, der einhergehenden Beschränkung auf Gesetzesverletzungen mit emminenter Konsequenz für die Öffentlichkeit sowie gleichzeitiger, inzidenter Interessenabwägungen unter Einbeziehung arbeitgeberseitigen Belan327
Geary v. United States Steel Corp., 456 Pa. 173–74 (1974). Die Begründung hierfür bezog sich vor allem auf die Überzeugung der Richter, dass Geary als Vertriebsmitarbeiter keine hinreichende Sachkenntnis für eine Gefahrenprognose gehabt habe und durch die direkte Meldung an die Unternehmensleitung die interne Hierarchie gestört worden wäre. Da dem berechtigten Interesse des Arbeitgebers auf Wiederherstellung des Betriebsfriedens im Wesentlichen nur Gearys „gute Absichten“ entgegenstünden, würde die Anerkennung dieses konkreten (Präzedenz-)Falls die Türe der „public policy exception“ zu weit aufstoßen. Geary v. United States Steel Corp., 456 Pa. 171, 181– 85 (1974) mit insoweit irreführendem Verweis auf Blades, 67 Colum. L. Rev. 1404, 1408, n. 22 (1967). 329 Geary v. United States Steel Corp., 456 Pa. 171, 184 (1974). Bereits hier zeichnet sich der später allgemein anerkannte Erfahrungssatz ab, dass nicht nur externe, sondern ebenso interne Whistleblower dem öffentlichen Interesse dienen und in vielen Fällen nicht minder schutzbedürftig und -würdig sind. Zum Adressatenkriterium im USWhistleblowing-Schutz im Einzelnen unter Rn. 60 f. 330 Geary v. United States Steel Corp., 456 Pa. 171, 185 et seq. (1974), zur Resonanz in der Rechtswissenschaft, s. etwa Summers, 62 Va. L. Rev. 481, 481–82 (1976), der den Fall Geary v. U.S. Steel als Aufhänger seiner Kritik an der „at-will“-Doktrin verwendet und den Dissent von Justice Roberts dabei besonders hervorhebt. 331 Geary v. United States Steel Corp., 456 Pa. 171, 187 (1974) unter Berufung auf Rechtsprechung zur Produktsicherheit sowie im Folgenden (S. 190–91) mit Verweisen auf Blades, 67 Colum. L. Rev. 1404 (1967) und die Fälle Peterman (vgl. Rn. 44 und Frampton (vgl. Fn. 320). 328
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gens nahm das Minderheitsvotum die wesentlichen Leitlinien späterer Entscheidungen vorweg und grenzte die zugrundeliegende Zweckbestimmung der „public policy exception“ zugleich in Teilen von ihren föderalen Artverwandten ab.332 Auf dieser Grundlage mehrten sich mit Beginn der 1980er Jahre einschlägige Urteile, die den Schutz von Whistleblowern unter Verwendung der „public policy exception“ anerkannten und die dogmatischen Kriterien schützenswerten Whistleblowings nach und nach ausdifferenzierten. Eine der ersten und einflussreichsten dieser Entscheidungen war das Urteil des Illinois Supreme Court in Palmateer v. Harvester aus dem Jahr 1981.333 Der Fall drehte sich um einen damaligen Manager der International Harvester Company, Ray Palmateer, dem nach sechzehnjähriger Tätigkeit gekündigt worden war, nachdem er lokalen Strafverfolgungsbehörden Informationen über mögliche Straftaten eines anderen Beschäftigten zugespielt und sich im Zuge der Ermittlungen zur Herausgabe von belastendem Beweismaterial bereiterklärt hatte.334 Während auch hier die Vorinstanzen die Kündigung aufrechterhielten, wendete der Illinois Supreme Court die „public policy exception“ unter anderem mit Verweis auf Geary v. United States Steel Corp. auch für den vorliegenden Fall an und unterstrich zugleich die Bedeutung von Whistleblowern als freiwillige „citizen crime-fighters“.335 Nach Überzeugung des Gerichts sei dem öffentlichen Wohl stets damit gedient, dass ein Arbeitnehmer sich in gutem Glauben an das Vorliegen einer Straftat ohne verwerfliche Motive mit seinen Informationen an Behörden wenden könne, so dass es folglich guter „public policy“ entspräche, Bürger durch deliktsrechtliche Kündigungsverbote hierzu zu ermutigen.336 Wenngleich Entscheidungen wie
332 Vgl. zur Bedeutung des Falls für die weitere Entwicklung Weiss, 44 U. Pitt. L. Rev. 1115, 1119 et seq. (1983); Summers, 62 Va. L. Rev. 481, 481–82 (1976). 333 Palmateer v. International Harvester Co., 85 Ill.2d 124 (1981). 334 Palmateer v. International Harvester Co., 85 Ill.2d 124, 127 (1981). Es sei angemerkt, dass die Faktenlage eine gewisse Ähnlichkeit zu jenem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 02.07.2001 – 1 BvR 2049/00, NJW 2001, 3474 aufweist, der im Jahr 2001 in Deutschland zur Anerkennung eines Whistleblower-Grundrechts geführt hat. Das überrascht insoweit nicht, als die Mitwirkung an Strafverfahren besonders geeignet ist, die Nützlichkeit privater Informationen für öffentliche Belange deutlich vor Augen zu führen. Im Einzelnen hierzu unter Rn. 246. 335 Palmateer v. International Harvester Co., 85 Ill.2d 124, 132 (1981). Zuvor hatte das Gericht die „public policy exception“ in Kelsay v. Motorola, Inc. 74 Ill.2d 172 (1978) dem Grundsatz nach anerkannt. 336 Palmateer v. International Harvester Co., 85 Ill.2d 124, 132–33 (1981). Die Entscheidung enthielt damit – jedenfalls in Grundsätzen – bereits alle Kriterien, die auch heute noch für die rechtliche Beurteilung von Whistleblower-Fällen herangezogen werden. S. Rn. 56 ff.
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Palmateer v. Harvester alles andere als widerspruchlos blieben,337 so führte der immer umfangreichere und ausdifferenzierte Korpus an höchstrichterlicher Rechtsprechung doch zu einem bemerkenswerten Verbreitungsgrad der „whistleblower exception“ als einer primären Fallgruppen der „public policy exception“. Mittlerweile hat eine Mehrheit von 31 Bundesstaaten Whistleblower-Ausnahme zur „at-will“-Doktrin ausdrücklich anerkannt. 338 Zehn weitere – meist kleinere – Staaten haben sich bisher noch nicht mit der Thematik befasst oder jedenfalls nicht auf eindeutige Aussagen eingelassen und 337
Vgl. statt vieler den ausführlichen Dissent in Palmateer v. International Harvester Co., 85 Ill.2d 124, 136 et seq. (1981), der die Grundsätze der richterlichen Selbstbeschränkung überschritten sieht und im Übrigen negative Konsequenzen für den Wirtschaftsstandort Illinois befürchtet sowie die krit. Besprechung des Falls von Peck, 59 Chi.-Kent L. Rev. 247 (1982). 338 Hierzu zählen Arizona, Murcott v. Best Western Intern., Inc., 198 Ariz. 349 (Ariz. Ct. App. 2000); Alaska, Knight v. American Guard & Alert, Inc., 714 P.2d 788 (Alaska 1986); Arkansas, Sterling Drug, Inc. v. Oxford, 294 Ark. 239 (Ark. 1988); Kalifornien, Green v. Ralee Engineering Co., 19 Cal. 4th 66 (Cal. 1998); Colorado, Kearl v. Portage Envirinmnetal Inc., 205 P.3d 496 (Col. App. 2008); Connecticut, Sheets. v. Teddy’s Frosted Foods, Inc., 427 A.2d 385 (Conn. 1980); Delaware, DuPont v. Pressman, 679 A.2d 436 (Del. 1996); District of Columbia, Carl. v. Children’s Hospital, 702 A.2d 159 (D.C. 1997); Hawaii, Morishige v. Spencecliff Corp., 720 F. Supp 829 (D. Haw. 1989); Idaho, Crea v. FMC Corp., 135 Idaho 175 (Idaho 2000); Illinois, Palmateer v. International Harvestor Co., 85 Ill. 2d 124 (Ill. 1981); Iowa, George v. Zinser Company, 762 N.W.2d 865 (Iowa 2009); Kansas, Palmer v. Brown, 242 Kan. 893 (Kan. 1988); Maryland, Wholey v. Roebuck, 379 Md. 38 (2002); Massachusetts, Upton v. JWP Businessland, 682 N.E.2d 1357 (Mass. 1997); Missouri, Porter v. Reardon Mchine Co., 962 S.W.2d 932 (Mo. Ct. App. 1998); Mississippi, McArn v. Allied Bruce-Terminix Co., Inc., 626 So. 2d 603 (Miss. 1993); Montana, Keneally v. Orgain, 606 P.2d 127 (Mont. 1980) (obiter dictum); Nebraska, Wendeln v. Beatrice Manor, Inc. 712 N.W.2d 226 (Neb. 2006); Nevada, Witsie v. Baby Grand Corp., 105 Nev. 291 (Nev.1989); New Hampshire, Bliss v. Stow Mills, Inc., 146 N.H. 550 (N.H. 2001); New Jersey, Potter v. Village Bank of New Jersey, 225 N.J. Super. 547 (N.J. Super. Ct. App. Div. 1988); tendenziell auch North Dakota, Ressler v. Humane Society of Grand Forks, 480 N.W.2d 429 (N.D. 1992); Ohio, Kulch v. Structural Fibers, Inc., 677 N.E.2d 308 (Ohio 1997); Oklahoma, Tyler v. Original Chili Bowl, Inc., 934 P.2d 1106 (Okla Ct. App. 1997); Oregon, McQuary v. Bel Air Convalescent Home, Inc., 69 Or. App. 107 (Or Ct. App. 1984); South Dakota, Dahl v. Combined Insurance Co., 621 N.W.2d 163 (2001); Tennessee, Watson v. Cleveland Chair Co., 789 S.W.2d 538, 544 (Tenn.1989); Utah, Fox v. MCI Communications Corp., 931 P.2d 857 (Utah 1997) (obiter dictum); Washington, Dicomes v. State, 113 Wash. 2d 612 (Wash. 1989); West Virginia, Kanagy v. Fiesta Salons, Inc., 208 W. Va. 526 (W. Va. 2000). Auch wenn die hiesige Auswertung eine relative deutliche Mehrheit von Whistleblowingfreundlichen Rechtsprechungen ergeben hat, kann bis jetzt (Stand 12/2017) keine Rede davon sein, dass insoweit weitgehende Einigkeit bestünde. Wohl anders Deiseroth, Betrifft Justiz 78 (2004), 296 (298). Indes liegen Schwerpunkt und Fokus des WhistleblowerSchutzes mittlerweile ohnehin auf gesetzlichen Regelungen, so dass einzelstaatlichen Unterschieden weder rechtlich noch rechtspolitisch eine übermäßige Bedeutung beigemessen werden sollte.
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bieten Arbeitnehmern daher eine jedenfalls potentielle Klagemöglichkeit.339 Neben jenen drei Gerichten, welche die „public policy exception“ schon grundsätzlich als unzulässige, gesetzgebergleiche Anmaßung der Judikative ansehen,340 haben aber auch sieben weitere Staaten trotz grundsätzlicher Anerkennung der „public policy“-Doktrin das Whistleblowing ausdrücklich nicht unter Common-Law-Schutz gestellt.341 Ungeachtet des historischen Erfolgs der „public policy exception“ nimmt die Bedeutung des hierauf fußenden Whistleblower-Schutzes allerdings auch in jenen Staaten tendenziell ab, die dieses Schutzinstrument als solches befürworten, so dass es mittlerweile vielerorts vor allem als zusätzliche, nicht hingegen aber als primäre Klageoption für Whistleblower dient. Ein wesentlicher Grund hierfür ist die steigende Aktivität der Legislative in diesem Bereich.342 Aus Sicht potentieller Whistleblower kommt dabei neben der seit jeher kritisierten Unbestimmtheit des Begriffs der „public policy“ und den einhergehenden Rechtssicherheitsdefiziten 343 noch hinzu, dass die Rechtsprechung auch innerhalb der einzelnen Staaten zum Teil erheblichen Schwan-
339 Dies sind Florida; Kentucky; Maine; Michigan; Minnesota; New Mexico; North Carolina; Rhode Island; South Carolina; Vermont. Während viele dieser Staaten eine relativ geringe Einwohnerzahl haben, welche die mangelnde Behandlung des Themas erklären kann, haben andere (wie etwa Michigan) schon bereits früh WhistleblowerGesetze erlassen und so die prozessuale Bedeutung bzw. Attraktivität des Common-LawAnspruchs vermutlich reduziert. Noch offen, jedoch tendenziell nicht Whistleblowerschützend ist die Rechtsprechung von North Carolina, Haburjak v. Prudtential Bache Securities, Ins., 759 F. Supp. 293 (1991), wo die „public policy exception“ in Übereinstimmung mit späteren Entscheidungen auf die Weigerung zur Begehung von Straftaten reduziert wird. 340 S. Fn. 322. Für New York wurde die Ablehnung der „public policy“-Doktrin sogar speziell für das Whistleblowing bestätigt, Leibowitz v. Bank Leumi Trust Co., 152 A.D.2d 169, 181 et seq. (N.Y. App.Div. 1989). 341 Begründung hierfür ist zumeist der strenge Ausnahmecharakter der „public policy“Doktrin, ohne dass spezielle Argumente gegen das Whistleblowing als solches im Vordergrund stünden. S. Indiana, Hamann v. Gates Chevrolet, Inc., 723 F. Supp. 63 (N.D. Ind. 1989); Louisiana, Wusthoff v. Bally’s Casino Lakeshore Resort, Inc., 709 So.2d 913 (La. 1998); Pennsylvania, Clark v. Modern Group Ltd., 9 F.3d 321 (3d Cir. 1993); Texas, Thompson v. El Centro Del Barrio, 905 S.W.2d 356 (Tex App. 1995); Virginia, Dray v. New Market Poulty Products, Omc., 258 Va. 187 (Va. 1999); im Wesentlichen auch Wisconsin, Hausman v. St. Croix Care Center, 214 Wis.2d 655 (Wis. 1997) (Meldung nur bei expliziter gesetzlicher Pflicht, nicht hingegen bei generellem Whistleblowing geschützt); Wyoming, Nelson v. Crimson Enterprises, Inc., 777 PP2d 73 (Wyo. 1989). 342 Zu den Entwicklungen im Bereich des einzelstaatlichen Rechts im Einzelnen Rn. 50, 64 ff. Für eine Abschaffung der „public policy exception“ de lege ferenda zugunsten legislativer Schutzinstrumente Swift, 61 Mercer L. Rev. 551, 565 et seq. (2010). 343 Statt vieler Swift, 61 Mercer L. Rev. 551, 569–72 (2010); Cavico, 25 Akron L. Rev. 497, 506 (1991).
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kungen unterliegt,344 so dass selbst ausgewiesene Experten zum Teil den Überblick über die geltende Rechtslage verlieren.345 Davon abgesehen hatte der Common-Law-Schutz von Whistleblowern schon immer damit zu kämpfen, dass er im Unterschied zum vor allem auf Bundesebene deutlich effektiveren Schutz systembedingt nicht in der Lage ist, administrative Anlaufstellen für seine materiell-rechtlichen Schutzinstrumente bereitzustellen, was sich auch in den rechtsvergleichend zwar außergewöhnlich hohen, im direkten Vergleich mit anderen Schutzinstrumenten allerdings eher niedrigeren Fallzahlen niederschlägt.346 Trotz alledem wäre es verfehlt, in der „public policy exception“ lediglich ein rechtshistorisches Relikt zu sehen. Dafür ist nicht zuletzt die lückenfüllende Funktion des Common Law vor dem Hintergrund des hochgradig diversifizierten und oft lückenhaften Whistleblower-Schutzes viel zu bedeutend.347 Der dogmatische Einfluss der „public policy exception“ auf die Entstehung des US-amerikanischen Whistleblowing-Rechts im Allgemeinen und ihre nachwirkenden Effekt auf die konzeptionelle Ausgestaltung verschiedener Elemente neuerer Whistleblowing-Gesetze im Besonderen – speziell auf sog. „core Whistleblower statutes“ – ist zudem nach wie vor lebendig und für die Rechtswissenschaft ebenso wie für die Rechtspraxis von bleibendem Interesse.348 344
Plakativ etwa Atkins, 70 Denv. U. L. Rev. 537, 546 (1993): „[T]he only consistency in wrongful discharge [Whistleblower] actions is their inconsistency.“ 345 Ein Beispiel hierfür ist die Rückkehr der kalifornischen Rechtsprechung zu einer liberalen Definition des Begriffs der „public policy“ im Jahr 1998. Durch die Entscheidung Green v. Ralee Engineering Co., 19 Cal. 4th 66, 80, 88–90 (Cal. 1998) wurden frühere, teilweise restriktivere Entscheidungen obsolet, die noch eine direkte Verankerung in legislativen Bestimmungen gefordert hatten. Unzutreffend daher z.B. Kohn, Concepts and Procedures, p. 28, basierend auf einem älteren Werk; ebenso Graser, Whistleblowing, S. 46; wie hier wiederum Modesitt/Schulman/Westman, Retaliatory Discharge, ch. 7, p. 5– 6 mit ausführlichen Nachw. zur aktuellen Rspr. in Fn. 13. 346 Vgl. die Ausführungen zu Fallzahlen der von der OSHA administrierten Verfahren im Jahr 2014 in Fn. 266 sowie (für den Bereich des finanziell inzentivierten Whistleblowings) die jüngsten Erfahrungen unter dem Dodd-Frank Act, Rn. 214 ff. 347 Vgl. hierzu die zahlreichen, auch neueren Entscheidungen in Fn. 338 sowie die darüber hinausgehende Funktion der deliktsrechtlichen Rechtsfolgen unter Rn. 64 ff. 348 Aus Gründen der Übersichtlichkeit wurde bzgl. der einzelstaatlichen Verbreitung der im Folgenden aufgeführten Kriterien auf eine detaillierte Auflistung verzichtet und die Ergebnisse der Rechtsprechungsrecherche stattdessen anhand exemplarischer Urteile illustriert. Weitere Auflistungen finden sich u.a. bei Kaye, 24 Causes of Action 2d 227, §§ 3-36 (2002/2015); Howard, Retaliatory Discharge, 105 A.L.R.5th 351, §§ 3[a]-13[b] (2003/2015); Kohn, Concepts and Procedures, ch. 2, p. 25–77 (mit historischem Fokus); Modesitt/Schulman/Westman, Retaliatory Discharge, App. D; Kohn, Whistleblower Handbook, Checklist 3, p. 246–260. Ein Grund für die Unterschiede der hiesigen Darstellung insbes. im Vergleich zu den Ergebnissen der drei letztgenannten Werke besteht darin, dass diese Autoren explizit oder implizit auch das sog. „passive“ Whistleblowing in ihrer Rechtsprechungsauswertung berücksichtigen. Gemeint ist hiermit das schlichte Verweigern
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II. Die Kodifizierung des Common-Law-Whistleblower-Schutzes durch einzelstaatliche Core Whistleblower Statutes Nachdem sich in nicht wenigen Einzelstaaten ein allgemeiner Common-LawSchutz von Whistleblowern durchgesetzt hatte und im Bereich des Federal Law eine stetig wachsende Zahl von gesetzlichen Spezialregeln durch „adjunct statutes“ geschaffen worden war, beschäftigten sich im Verlauf der 1980er und 1990er Jahre auch einzelstaatliche Gesetzgeber zunehmend mit der Thematik des arbeitsrechtlichen Whistleblower-Schutzes. Die ab dieser Zeit erlassenen und sukzessive ausgebauten Whistleblowing-Gesetze lassen sich entsprechend ihrer Vorbildnormen primär in „adjunct statutes“ und sogenannte „core statutes“ einteilen.349 Während „state adjunct statutes“ zumeist einzelstaatliche Nachbildungen bundesrechtlichen Vorbilder sind,350 handelt es sich bei „core statutes“ überwiegend um gesetzliche Nachbildungen der „public policy exception“ des jeweiligen Einzelstaates mit entsprechend schwankendem Norminhalt. Auslöser dieser Verschriftlichungsbewegung waren oft öffentlichkeitswirksame Urteile und Verfahren, deren volatiler Ausgang und Verlauf die inhärenten Rechtssicherheitsdefizite eines richterrechtlichen Whistleblower-Schutzes offenbar werden ließen.351 Abgesehen rechtswidriger oder strafbarer Handlungen im Sinne der Peterman-Rechtsprechung, ohne dass der betreffende Arbeitnehmer sich hierbei außerhalb des Prozesses aktiv an behördliche Stellen gewendet haben muss. Folglich wird in der US-amerikanischen Literatur oft ein höherer Verbreitungsgrad angenommen, als dies bei entsprechend strengerer Definition des Whistleblowings tatsächlich der Fall ist. 349 Der Begriff der „core statutes“ wird insbesondere von Bishara/Callahan/Dworkin, 10 N.Y.U. J. L. & Bus. 37 (2013) verwendet. Üblich sind in der Literatur ferner Bezeichnungen wie „statutes of general application“ oder „general Whistleblower protection statutes“. Gegenüber diesen Umschreibungen bietet der Begriff der „core statutes“ den Vorzug, dass er durch die unmittelbare Anlehnung an den Gesetzeszweck- und inhalt („Whistleblowing at its core“) das zentrale Abgrenzungskriterium zu den „adjunct statutes“ besonders hervorhebt. In der einzelstaatlichen Regulierungspraxis haben sich insoweit oft beide Entwicklungslinien nach und nach durchsetzen können. Sinzdak, 96 Cal. L. Rev. 1633, 1641 (2008); Vaughn, 51 Admin. L. Rev. 581, 582–84 (1999) m.w.N. zu „state adjunct statutes“ in Fn. 3. Anders als die vor allem im staatlichen (Eigen-)Interesse der Überwindung von Informationsasymmetrien erlassenen „adjunct statutes“ sind „core statutes“ allerdings keiner ähnlich kontinuierlichen Optimierungsfrequenz unterworfen. 350 Thematisch betreffen diese Gesetze dabei freilich oft auch in originär einzelstaatliche Kompetenzmaterien, in denen der Einsatz von Whistleblowern als besonders erfolgversprechend galt. Hierzu zählen etwa die Bereiche der Gesundheitsvorsorge und der Schutz von hilfsbedürftigen Personen in Alten- und Kinderheimen, s. Modesitt/Schulman/Westman, Retaliatory Discharge, ch. 6, p. 21–22; Vaughn, 51 Admin. L. Rev. 581, 582 n.3 (1999). Das Schutzniveau der „state adjunct statutes“ reicht dabei zumeist an das ihrer dogmatischen Vorbilder heran. Vgl. statt vieler etwa M.S.A. § 182.66929 (Minnesota) mit seinem Vorbild in 29 U.S.C. § 660(c) (OSHA). 351 Dieser Mechanismus lässt sich u.a. an der Geschichte des Falls Phipps v. Clark Oil & Refining Corp., 396 N.W.2d 588 (Minn. Ct. App. 1986) beobachten. Bevor dieser Fall
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von Rechtssicherheitserwägungen verdanken nicht wenige „core statutes“ ihre Existenz damit einem öffentlichen Reiz-Reaktions-Mechanismus, wobei die wachsende einzelstaatliche Verbreitung von Whistleblowing-Gesetzen offenbar den politischen Druck auf Staaten ohne entsprechende Gesetzeswerke erhöht hat.352 Mittlerweile haben daher rund zwanzig Einzelstaaten entsprechende Gesetze verabschiedet 353 und im Zuge dessen häufig die ehemals dominante „public policy exception“ der jeweiligen Rechtsprechung verdrängt, ohne dass hiermit stets relevante Änderungen der materiellen Rechtslage einhergegangen wären.354 Je nachdem, wie präzise das jeweilige „core statute“ formuliert ist, liegt sein rechtspraktischer Nutzen daher primär in der besseren Abschätzbarkeit von Rechtmäßigkeitskriterien und Rechtsfolgen im Vorfeld einer potentiell weitreichenden Meldeentscheidung.355 den Court of Appeals erreichte, wurde dem Whistleblower ein Kündigungsschutz vom erstinstanzlichen Gericht mit der Begründung verwehrt, dass die „public policy exception“ im Staat Minnesota noch nicht hinreichend etabliert war. Nachdem der Minnesota Court of Appeals den Fall mit Verweis auf die mehrheitliche Rechtsprechung anderer Staaten aber zurückverwiesen hatte, erließ der Gesetzgeber noch während des laufenden Verfahrens ein entsprechendes „core statute“ unter M.S.A. § 181.932. Ähnlich wie hier Swift, 61 Mercer L. Rev. 551, 562–63 (2010), ebenfalls mit Verweis auf das obige Beispiel. 352 Insofern lässt sich auch auf dem Gebiet der „core statutes“ eine gewisse Form „positiver Pfadabhängigkeit“ beobachten. 353 Dies betrifft Arizona, Ariz. Rev. Stat.§ 23-1501(c)(ii); Kalifornien, Cal. Lab. Code § 1102.5; Colorado, Colo. Rev. Stat. § 24-114-102; Connecticut, Conn. Gen. Stat. § 3151m(b); Delaware, 19 Del. Code § 1703-04; Florida, Fla. Stat. § 448.102; Hawaii, Haw. Rev. Stat. § 378-61-70; Illinois,740 Ill. Comp. Stat. § 174/15; Louisiana, La. Rev. Stat. § 23:967; Maine, Me. Rev. tit. 26 § 831(1)(A); Massachusetts, Mass. Gen. Laws. Ch. 149, § 185; Michigan, Mich. Comp. Laws § 15.362; Minnesota, Minn. Stat. § 181.931; Montana, Mont. Code § 39-2-904; Nebraska, Neb. Rev. Stat. § 48-1114; New Hampshire, N.H. Rev. Stat. § 275-E:4; New Jersey, N.J. Stat. § 34:19-17; New York, N.Y. Lab. Law § 740; North Dakota, N.D. Cent. Code § 34-01-20; Rhode Island, R.I. Gen. Laws § 28-50-3; Tennessee, Tenn. Code § 50-1-304. 354 Ob man jeden auch nur rudimentär verfassten „Whistleblower Protection Act“ indes tatsächlich als (i.d.R. abschließendes) „core statute“ oder lediglich als (politisch attraktives) Symbolgesetz einordnet, lässt sich freilich kaum objektiv bestimmen. Vgl. Callahan/Dworkin, 38 Am. Bus. L. J. 99, 111, Table 1 (2000) mit damals 23 solcher Gesetze, Kohn, Whistleblower Handbook, p. 246–60 (Stand 2011) mit 13 Gesetzen dieser Kategorie; Modesitt/Schulman/Westman, Retaliatory Discharge, ch. 6, p. 2 et seq., Appendix B, mit 22 aufgeführten Bestimmungen. Die hiesige Aufzählung in Fn. 353 beschränkt sich auf aktuelle Gesetze (Stand 12/2017) ohne signifikante Einschränkung des Anwendungsbereichs für private Arbeitnehmer und Rechtsverstöße. Zur konkurrenzrechtlichen Einordnung unten, Rn. 64 ff. 355 Insofern existieren freilich auch erwähnenswerte Ausnahmen, wie etwa das als besonders progressiv geltende „core statute“ Kaliforniens unter Cal. Lab. Code § 1102.5 (zuletzt aktualisiert durch AB 263, SB 496, SB 666, Januar 2014). Diese zeichnen sich meist nicht durch eine inhaltliche Orientierung an den eher vagen „public policy exception“-Grundsätzen aus, sondern orientieren sich i.d.R. an bundesrechtlichen Vorbildern.
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D. Exkurs: Whistleblowing im öffentlichen Sektor D. Exkurs: Whistleblowing im öffentlichen Sektor
Wenngleich das private Whistleblowing sowohl hinsichtlich seiner praktischen Bedeutung als auch seiner legislativen Berücksichtigung gerade in den letzten Jahren fraglos ins Zentrum des US-amerikanischen WhistleblowingRechts gerückt ist, kommt auch der Regulierung von staatsinternem Whistleblowing öffentlicher Angestellter bzw. Beamter in den USA traditionell eine große Bedeutung zu.356 Auch wenn der Fokus der hiesigen Analyse, wie eingangs erwähnt, nicht im Bereich des „öffentlichen“ Whistleblowing-Rechts liegt,357 sollen seine Grundlagen und Bedeutung für den WhistleblowerSchutz im Allgemeinen an dieser Stelle kurz dargestellt werden. Den jedenfalls verfassungsrechtlich bedeutsamsten Ausgangspunkt des öffentlichen Whistleblowing-Rechts bildet die Entscheidung des U.S. Supreme Court in der Sache Pickering v. Board of Education aus dem Jahr 1968.358 Der Fall betraf einen angestellten Lehrer, der sich in einem Leserbrief an eine lokale Zeitung über die seiner Ansicht nach verfehlte Ausgabenpolitik der lokalen Schulaufsicht wandte und daraufhin entlassen worden war. 359 Im Unterschied zu seiner früheren Rechtsprechung stellte der Supreme Court die Äußerungen von Staatsbediensteten grundsätzlich unter den Schutz der Meinungsfreiheit des „First Amendments“ und gab ihr im konkreten Fall den Vorzug gegenüber verwaltungsinternen Loyalitätsinteressen.360 Anders als im Rahmen der 356
Unmittelbar betroffen sind von diesen Regelungen die ca. 2,7 Millionen Bundesbediensteten (Stand 2014), wobei hierzu noch diverse Bereichsregelungen bspw. für Beliehene treten, vgl. U.S. Office of Personnel Management, Historic Federal Workforce Tables, Total Government Employment Since 1962, abrufbar unter . Gemessen an der Gesamtbevölkerung und mit Blick auf europäische Staatsvolumina handelt es sich freilich um eine vergleichsweise kleine Personengruppe. Die meisten Whistleblowing-Normen finden allerdings auch auf Bedienstete der Einzelstaaten und Kommunen Anwendung, was wiederum ca. 19, 3 Millionen Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigte betrifft, vgl. U.S. Census Bureau, Government Employment and Payroll, (Stand 2014). 357 Oben Rn. 2. 358 Pickering v. Board of Education of Township High School District 205, Will County, 391 U.S. 563 (1968). 359 Pickering v. Board of Education, 391 U.S. 563, 564–68 (1968). Schwerpunkt der Kritik war die nach Meinung Marvin Pickerings verfehlte Abgabenpolitik des lokalen Board of Education, insbesondere die Verteilung von Geldern zwischen Sportunterricht und anderen Fächern. Insofern handelte es sich bei Pickering in erster Linie um politische Opposition und weniger um (Insider-)Whistleblowing i.e.S. 360 Pickering v. Board of Education, 391 U.S. 563, 569–70 (1968). Eines der Hauptargumente des Gerichts war, dass Pickering bei seiner üblichen Lehrtätigkeit nicht in unmittelbaren Kontakt mit der lokalen Schulaufsicht trat und es daher nicht zu einem direkten
D. Exkurs: Whistleblowing im öffentlichen Sektor
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grundrechtszentrierten Whistleblowing-Diskussion in Deutschland361 führte diese Entscheidung jedoch nicht dazu, dass einem verfassungsrechtlich grundierten Whistleblower-Schutz in den USA eine besondere Bedeutung zukommen würde.362 Das liegt zum einen daran, dass der Supreme Court seine jedenfalls in Ansätzen Whistleblower-freundliche Rechtsprechung sukzessive aufgegeben hat,363 ehe er in der Entscheidung Garcetti v. Ceballos festlegte, dass Äußerungen von Staatsbediensteten im konkreten Kontext ihrer öffentlichen Aufgabe generell nicht in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit fielen.364 Zum anderen erlangte die verfassungsrechtliche Einzelfallabwägung Loyalitätskonflikt mit seinem unmittelbaren Dienstvorgesetzten kommen könne. Weder in diesem Fall, noch in seinen Folgeentscheidungen stellte der Supreme Court sich allerdings auf die Position, dass die Weitergabe kritischer Insiderinformationen entgegen dem Willen unmittelbarer Behördenleiter per se schützenswert bzw. abwägungsdominant sei. 361 Hierzu ab Rn. 243. 362 Ausführlich zum Ganzen Modesitt/Schulman/Westman, Retaliatory Discharge, ch. 8 m.w.N. und i.W. der hiesigen Bewertung entsprechender Analyse; anders aus der deutschen Rezeption Graser, Whistleblowing, S. 21 ff., 240 ff., 264, wonach die First Amendment Rechtsprechung und die „public policy exception“ die wichtigsten Schutzinstrumente in den USA seien; wiederum anders Groneberg, Whistleblowing, S. 74, 82, 280 mit der Annahme, dass die Pickering-Entscheidung zwar einer der wichtigsten Einflussfaktoren für das US-Whistleblowing-Recht gewesen sei, in der Praxis aber von gesetzlichen Regelungen verdrängt wurde. 363 Givhan v. Western Line Consolidated School District, 439 U.S. 410 (1979); Connick v. Meyers, 461 U.S. 138 (1983); Rankin v. McPherson, 483 U.S. 378 (1987); Waters v. Churchil, 511 U.S. 661 (1994); zusammenfassende Einordnung bei Garcetti v. Ceballos, 547 U.S. 410, 417 et seq. (2006). 364 Garcetti v. Ceballos, 547 U.S. 410 (2006). Der Fall betraf einen stellvertretenden Bezirksstaatsanwalt, der sich intern und vor Gericht über offenbar durch Täuschung erlangte Durchsuchungsbefehle beschwert hatte. Ebd., p. 413–15. Der Supreme Court lehnte es v.a. aus Gewaltenteilungsgesichtspunkten ab, verwaltungsinterne Angelegenheiten dieser Art zu überprüfen. Ebd., p. 421–23: „Restricting speech that owes its existence to a public employee's professional responsibilities does not infringe any liberties the employee might have enjoyed as a private citizen. […] To hold otherwise would be to demand permanent judicial intervention in the conduct of governmental operations to a degree inconsistent with sound principles of federalism and the separation of powers.“ Diese Argumentation birgt freilich einerseits die Gefahr, dass Behörden durch offene Aufgabeneschreibungen den verbleibenden First Amendment Schutz aushöhlen, lässt aber andererseits noch Raum für öffentliche Kritik an behördeninternen Vorgängen, sofern diese im Einzelfall als zulässig angesehen wird. Vgl. Roosevelt, 14 U. Pa. J. Const. L. 631 (2012). Letzteres gilt insbesondere bzgl. politischer Betätigung von Staatsbediensteten, s. Heffernan v. City of Paterson, 136 S. Ct. 1412 (2016). Inwieweit Whistleblowing-Handlungen bzw. politische Äußerungen in solchen Berufen geschützt sind, deren Aufgabenbereich dezidiert meinungsbezogen ist, wird aktuell vor Gerichten kontrovers diskutiert. Vgl. Demers v. Austin, 746 F.3d 402, 412 (9th Cir. 2014) (gesonderter First Amendment Schutz für Professoren und akademische Lehrer); Brown v. Chicago Board. of Education, 824 F.3d 713, 716 (7th Cir. 2016) (kein entsprechender Schutz für „einfache“ Lehrer).
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des Supreme Court mangels klarer Schutzstandards und funktionsfähiger bzw. kooperationsbereiter Whistleblowing-Adressaten zu keinem Zeitpunkt eine ähnliche Bedeutung wie etwa bundesrechtliche „adjunct statutes“ und wurde nach einigen öffentlichkeitswirksamen Einzelfällen Ende der 1970er Jahre in vielen Bereichen durch gesetzliche Regelungswerke abgelöst.365 Das in seinem Einfluss auf den Gesetzgeber bedeutendste Einzelschicksal war das des ehemaligen Ministerialbeamten und Whistleblowers A. Ernest Fitzgerald, der sich in medienwirksamer Weise über eine Dauer von insgesamt dreizehn Jahren gegen seine Entlassung aus der Beschaffungsabteilung der Air Force gewehrt hatte.366 Fitzgerald hatte sich zunächst intern und schließlich auch extern im Rahmen einer öffentlichen Kongressanhörung im Jahr 1968 über Interessenskonflikte und Kostenexzesse bei der Beschaffung von Rüstungsgütern beschwert, woraufhin ihm kurze Zeit später wegen angeblicher Restrukturierungsmaßnahmen gekündigt worden war. 367 Trotz der Proteste namenhafter Kongressabgeordneter sollte es bis in das Jahr 1982 dauern, ehe die Air Force Verwaltung Fitzgerald (bedingt freiwillig) wieder in ihre Reihe aufnahm. 368 Die Umstände dieses Falls trugen dazu bei, dass eine Allianz aus der Regierungs- und Rüstungsskepsis politisch eher linksgerichteter Kreise und der vor allem im rechten politischen Lager beheimateten Sorge vor der Verschwendung von Steuergeldern durch einen als tendenziell unfähig eingestuften Staatsapparat zur Verabschiedung der Whistleblowing365 Zu dem in der Gesamtbetrachtung ansonsten eher überschätzten Einfluss der Bürgerrechtsbewegung auf die Gesetzgebung und entsprechend kulturalistischer ex-postDeutungen bereits oben, Rn. 35 f. m.w.N.; s. ferner die Falldarstellungen bei Peters/Branch, Blowing the Whistle (1972), p. 22 et seq.; sowie Glazer, The Whistleblowers, p. 9 et seq. Anders als im Fitzgerald-Fall ist der Einfluss der dort dargestellten Fälle aus den Medien allerdings nicht eindeutig belegbar. Einige der angeführten Fälle, wie bspw. die erst 1986 bekanntgewordene Challenger-Affäre, eignen sich jedenfalls nicht als potentielle Katalysatoren des öffentlichen Whistleblowing-Schutzes. 366 Ausführlich Fitzgerald, The High Priests of Waste, p. 210 et seq.; Zusammenfassungen u.a. bei Vaughn, Successes and Failures, p. 60 et seq.; Modesitt/Schulman/Westman, Retaliatory Discharge, ch. 1, p. 18 et seq. mit Nachweisen zu rechtlichen Aspekten des Falls; sowie Peters/Branch, Blowing the Whistle (1972), p. 195–221; Glazer/Glazer, The Whistleblowers, p. 21 et seq. zur öffentlichen Rezeption. 367 Konkret ging es vor allem um die Beschaffung des damals größten Transportflugzeugs „C-5A“, dessen zweifelhafte Inauftraggabe die Lockheed Aircraft Corporation mit hoher Wahrscheinlichkeit vor dem finanziellen Ruin rettete und in seinen tatsächlichen Herstellungskosten ca. 2 Milliarden US-Dollar über dem veranschlagten Budget lag. Einzelheiten des Falls bei Fitzgerald, The High Priests of Waste, p. 210 et seq. 368 Es darf vermutet werden, dass dieser Sinneswandel nicht ganz ohne Zusammenhang zum inzwischen am U.S. Supreme Court anhängigen Fall Nixon v. Fitzgerald, 457 U.S. 731 (1982) stattfand. Das Wiedereinstellungsangebot erfolgte neun Tage vor der endgültigen Entscheidung des Gerichts – welche (jedenfalls was Präsident Nixon als zulässigem Klagegegner angeht) jedoch zulasten von Fitzgerald ausging. Ebd., p. 738, n. 17, p. 758 et seq.
D. Exkurs: Whistleblowing im öffentlichen Sektor
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Bestimmungen des Civil Service Reform Act von 1978 (CSRA) führen konnte.369 Ganz im Sinne dieses rechtspolitischen Hintergrundes sehen die Whistleblower-Bestimmungen des CSRA nicht nur einen den „adjunct statutes“ nachgebildeten Vergeltungsschutz bei Meldungen über verwaltungsinterne Rechtsverstöße vor,370 sondern erstrecken den zulässigen Meldegegenstand zugleich auf sämtliche Fälle öffentlicher Misswirtschaft und Steuergeldverschwendung.371 Rein materiell-rechtlich betrachtet stand der öffentliche Whistleblower-Schutz damit spätestens nach der Adaption entsprechender Gesetze durch die Einzelstaaten dem privaten Whistleblowing-Recht in keiner Weise nach.372 Ganz im Gegenteil übernahm und prägte er sogar nicht nur viele etablierte Schutzstandards des Whistleblowing-Rechts,373 sondern
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Civil Service Reform Act of 1978 (CSRA), 92 Stat. 1111 (1978), aktuell unter 5 U.S.C. ch. 11. Hauptintention des von der Carter-Administration u.a. in Folge des Watergate-Skandals eingeführten Gesetzes war die Stärkung der Unabhängigkeit und Effizienz der öffentlichen Verwaltung. Namentlich dem neu eingeführten Merit Systems Protection Board (MSPB) sollte die Aufgabe zukommen, Beförderungen und Entlassungen innerhalb des öffentlichen Dienstes stärker an den Fähigkeiten der Bediensteten und weniger von deren politischer Affiliation abhängig zu machen. Insofern bedienten sich die Befürworter des Whistleblowings bei dessen Inklusion in den CSRA eines allgemein staatsskeptischen Zeitgeists, um Whistleblowing als Methode innerinstitutioneller Kontrolle zu etablieren. Vgl. Vaughn, Successes and Failures, p. 88 et seq.; sowie als vielleicht einflussreichster Verfechter öffentlichen Whistleblowings seiner Zeit Ralph Nader in Nader/Petkas/ Blackwell, Whistle Blowing Conference (1972), ch. 17. Hierdurch lässt sich auch teils erklären, warum Whistleblowing (jedenfalls im öffentlichen Sektor) in den USA als Element der Kontrolle des Staates wahrgenommen wird, wohingegen es in anderen Ländern wie Deutschland historisch bedingt eher die Assoziation einer Kontrolle durch den Staat weckt. 370 5 U.S.C § 2301(9): „Employees should be protected against reprisal for the lawful disclosure of information which the employees reasonably believe evidences […] a violation of any law, rule, or regulation […]“ 371 5 U.S.C § 2301(9)(B): „[M]ismanagement, a gross waste of funds, an abuse of authority, or a substantial and specific danger to public health or safety“). Die letzte Fallgruppe der Gefahren für die öffentliche Gesundheit und Sicherheit weist nicht nur Parallelen zu den Hauptregulierungsfeldern der „adjunct statutes“auf , sondern lehnt sich in ihrer Formulierung zugleich an die zeitgleich dominanter werdende „public policy exception“ an. Vgl. Rn. 42 ff. 372 Mittlerweile haben alle 50 Einzelstaaten ein Schutzgesetz für öffentliche Whistleblower eingeführt, wobei einige sich unmittelbar am CSRA (bzw. dem WPA als seinem Nachfolger) orientieren und andere den Schutz ihrer „core statutes“ sowohl auf private als auch öffentliche Whistleblower erstrecken. S. im Einzelnen hierzu die Auflistung bei Modesitt/Schulman/Westman, Retaliatory Discharge, Appendix A. 373 Der wohl wichtigste Beitrag des öffentlichen Whistleblowing-Schutzes für das Whistleblowing-Recht im Allgemeinen folgte etwas später durch die Amendments des Whistleblower Protection Act (hierzu sogleich), welcher erstmals den „contributing factor test“ als Standard für den Kausalitätsnachweis einführte und damit bis heute für moderne
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vermied durch seine breitflächige Anwendbarkeit auf sämtliche Staatsbedienstete sogar die rechtssicherheitsfeindliche Sektoralzersplitterung privatrechtlicher Whistleblower-Schutzvorschriften.374 Zur Unterstützung der Whistleblower wurden als Kooperations- bzw. Abhilfestellen das Office of Special Counsel (OSC) sowie das Merit Systems Protection Board (MSPB) eingerichtet, die für öffentliche Bedienstete die Funktionen der OSHA respektive des ARB wahrnehmen sollten. 375 Trotz alledem erwiesen sich die Whistleblower-Bestimmungen des CSRA für verwaltungsinterne Whistleblower bereits nach kurzer Zeit aber nicht etwa als signifikante Verbesserung, sondern als rechtspolitischer Fehlschlag, welcher mit einer minimalen Erfolgsquote schutzsuchender Whistleblower von unter 1% und entsprechend signifikant erhöhter Vergeltungsangst und Abschreckungswirkung für potentielle Whistleblower einherging.376 Auch wenn die Ursachen dieses – im Ergebnis von niemandem bestrittenen – Misserfolgs des CSRA bis heute nicht mit letzter Sicherheit geklärt werden konnten, lassen sich die wesentlichen neuralgischen Defizite des CSRA und die hieraus gezogenen Lehren relativ sicher identifizieren.377 Hierzu zählen auf Whistleblowing-Gesetze prägend ist. Vgl. Devine, 51 Admin. L. Rev. 531, 555, n. 131 (1999); 5 U.S.C. § 1214(b)(4)(B); zum „contributing factor test“ Rn. 62, 132. 374 Die Betrachtung allein des materiellen Gesetzesrechts und seiner quantitativen Verbreitung bergen insoweit die Gefahr entwicklungsgeschichtlicher und rechtstatsächlichqualitativer Fehlschlüsse in sich. Vgl. statt mehrerer Groneberg, Whistleblowing, S. 80, wonach der Whistleblowing-Schutz in den USA dem öffentlichen Sektor entstamme und dem Schutz von Whistleblowern in der Privatwirtschaft allgemein klar überlegen sei. 375 Ausführlich zur Funktion und Funktionsweise von OSHA, ALJs und ARB oben, Rn. 39 ff. 376 S. Devine, 51 Admin. L. Rev. 531, 533–34 (1999) mit Verweis auf lediglich vier erfolgreiche Fälle in über 2.000 Berufungsverfahren vor dem MSPB und einer Verdoppelung der Vergeltungserwartung im Rahmen einer MSPB-Umfrage aus dem Jahr 1984. Das MSPB sah hierin zwar einen Grund zur Sorge, zweifelte (mangels inhaltlicher Argumente) indes die Eignung des Umfrage-Formats als qualitativem Gradmesser an. S. Merit Systems Protection Board, Office of Merit Systems Review and Studies, Blowing the Whistle in the Federal Government: A Comparative Analysis of the 1980 and 1983 Survey Findings, 10/1984, abrufbar unter , p. 7; vgl. ferner Hesch, 6 Liberty U. L. Rev. 51 (2011), mit dem Fazit, das Gesetz sei „virtuelly ineffective“ gewesen. 377 Anders als im Falle des (in mancherlei Hinsicht vergleichbaren Misserfolgs) des § 806 des Sarbanes-Oxley Act von 2002 (hierzu ausführlich ab Rn. 165 ff.) fehlt es insoweit an hinreichenden Datengrundlagen, so dass auch die hiesige Darstellung nicht den Anspruch vollends gesicherter Objektivität beanspruchen kann. Vgl. insbes. Fong, 40 Am. U. L. Rev. 1015 (1991) der dem OSC mit nicht unbeachtlichen Gründen eine positive Leistungsbilanz zuschreibt. Im Folgenden wird hingegen dem v.a. von Devine und Vaughn mit zahlreichen Belegen untermauerten Erklräungsmodell der Vorzug gegeben, welches sich nicht nur mit den Erfahrungen von Praktikern, sondern auch den Schlussfolgerungen des Gesetzgebers deckt. Vgl. im Einzelnen Devine/Aplin, 4 Antioch L. J. 5, 23 et seq.
D. Exkurs: Whistleblowing im öffentlichen Sektor
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materiell-rechtlicher Ebene zunächst der mangelnde Schutz Whistleblowingtypischer, niedrigschwelliger Diskriminierungen unterhalb von Kündigungen und Degradierungen,378 vor allem aber eine mangelnde Kooperationsbereitschaft bzw. -fähigkeit der allgemeinen Verwaltung und des OSC als verwaltungsinternem Adressaten.379 Letztere äußerte sich nicht nur in überlangen Verfahrensdauern und einer wenig effektiven Investigativpartnerschaft mit den jeweiligen Whistleblowern, sondern auch dadurch, dass das OSC anstatt einer verlässlichen Vertraulichkeitspolitik offenbar regelmäßig sensible, personenbezogene Daten mit anderen Behörden teilte und hierdurch in vielen Fällen die Diskriminierung von Whistleblowern überhaupt erst ermöglichte.380 Der Gesetzgeber versuchte dieser Problematik im Jahr 1989 in Form der weitreichenden Amendments des sog. „Whistleblower Protection Act“ (WPA)381 dadurch Herr zu werden, dass er das OSC explizit auf die Interessen der meldenden Person verpflichtete, konkrete Bearbeitungsfristen und Rückmeldepflichten zur Verbesserung der laufenden Kooperation mit dem Whistleblower einführte, dem OSC zur Verwaltungsdisziplinierung jährliche Berichtspflichten an den Kongress auferlegte und ihm untersagte, die Identität der Whistleblower an andere Behörden weiterzugeben, sofern dem nicht ein erhebliches öffentliches Interesse oder unmittelbar bevorstehende Straftaten entgegenstünden.382 Dem WPA folgten weitere legislative Ergänzungen (1986); Vaughn, 1982 U. Ill. L. Rev. 615, 661 et seq. (1982); ders., Successes and Failures, p. 115 et seq. 378 Vom Kongress beabsichtigt war ein durchaus weiter Diskriminierungsbegriff (vgl. Vaughn, 1982 U. Ill. L. Rev. 615, 642–47 (1982)), welcher allerdings gerade in der MSPBBerufung kaum eine Rolle mehr spielte. Allgemein zu niedrigschwelligen Diskriminierungen und diskriminierungsbedingten Kündigungen Rn. 8 sowie am Beispiel von SOX-Fällen Rn. 132 ff. 379 S. Vaughn, Successes and Failures, p. 115 et seq. mit Hypothesen zu den verwaltungsinternen Misserfolgsursachen. 380 S. hierzu die Zusammenfassung bei Devine, 51 Admin. L. Rev. 531, 533–34 (1999) m.w.N. 381 Whistleblower Protection Act of 1989 (WPA), 103 Stat. 16, aktuell in 5 U.S.C. 1201 et seq. 382 Kurzer Überblick über die umfassenden Neuerungen des WPA bei Modesitt/Schulman/Westman, Retaliatory Discharge, ch. 8, p. 4; ausführlichere Diskussion bei Devine, 51 Admin. L. Rev. 531, 539 et seq. (1999) m.w.N. Angesichts des politisch konsensfähigen Themas einer Verhinderung der Verschwendung von Steuergeldern fand das Gesetz ohne größere Schwierigkeiten parteiübergreifende Unterstützung, vgl. 135 Cong. Rec. S2779 (1989) (Sen. Levin): „Government employees who "blow the whistle' on waste, fraud and abuse are front line soldiers in the battle to save the taxpayers' money. Giving real protection to these Whistleblowers is a simple and effective way to cut cost overruns, wasteful spending, and the bottom line save taxpayers' dollars.“ Wie spätere Evaluationen des WPA und die folgenden Gesetzänderungen belegen, blieb freilich auch der WPA deutlich hinter seinen Erwartungen zurück. S. insbes. die deutliche Stellungnahme des Committee on Post Office and Civil Service in H.R. Rep. No. 103-769, 103rd Cong., 2nd
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zur Erfassung typischer Diskriminierungsmethoden und einer Verbesserung der administrativen Einkleidung des Gesetzes in den Jahren 1994383 und 2012,384 begleitet von tendenziell Whistleblower-freundlicheren Verwaltungsrichtlinien385 und Gerichtsurteilen.386 Wiewohl viele dieser Maßnahmen konkrete Schutzlücken im Bereich des öffentlichen Whistleblower-Schutzes schließen konnten und im Laufe der Zeit viele verwaltungsinterne Rechtsverstöße und Ineffizienzen aufgedeckt wurden, bleiben Aufdeckungsquote und Schutzbilanz der öffentlichen Whistleblowing-Regulierung aber nach wie vor durchwachsen.387 Sess. (1994), p. 14 m.w.N.: „The necessity for significant change to structurally reform current Whistleblower protection law is beyond credible debate. The Act's legislative mandate is unsurpassed. Congress seldom passes any significant statute unanimously once, let alone twice in five months. Unfortunately, while the Whistleblower Protection Act is the strongest free speech law that exists on paper, it has been a counterproductive disaster in practice. The WPA has created new reprisal victims at a far greater pace than it is protecting them.“ 383 Whistleblower Protection Act Amendments of 1994, 108 Stat. 4361, akuell in title 5 U.S.C. 384 Whistleblower Protection Enhancement Act of 2012 (WPEA), 126 Stat. 1465, aktuell v.a. in title 5 U.S.C. 385 S. Merit Systems Protection Board (MSPB), Final Rules on Practices and Procedures, 5 CFR Parts 1201 and 1208, April 19th 2013, 78 Fed. Reg. 39543 (2013); ferner die Exekutivanordnung von Präsident Obama, Presidential Policy Directive 19 (PPD-19), Oct. 10th, 2012, zur (relativen) Verbesserung des Whistleblowing-Schutzes u.a. innerhalb der CIA und der NSA. Entsprechend des nicht erst seit Edward Snowden zurückhaltenden Umgangs mit Geheimdienst-Whistleblowern wurde der von Sen. Grassley (vgl. Fn. 610) eingebrachte „Federal Bureau of Investigation Whistleblower Protection Enhancement Act of 2016“ (S. 2390, 114th Cong. (2015), S. Rep. 114-261) bisher noch nicht verabschiedet. Zur für viele überraschend strikten Haltung der Obama-Administration in (öffentlichen) Whistleblower-Fragen Moberly, 16 Empl. Rts. & Employ. Pol'y J. 51, 80 et seq. (2012). 386 Vgl. Dep't of Homeland Sec. v. MacLean, 135 S. Ct. 913, 918 et seq. (2015), worin der U.S. Supreme Court Meldeverboten in behördeninternen Verwaltungsvorschriften jegliche rechtliche Wirkung abspricht. Die Urteile des zuständigen Federal Circuit zeichnen sich jedenfalls vor 2012 hingegen oft durch eine allgemein engere Lesart des Gesetzes aus. Vgl. White v. Dep't of the Air Force, 391 F.3d 1377, 1383 (Fed. Cir. 2004), wonach der Meldegegenstand behördlicher Misswirtschaft nur in schlechthin unbestreitbaren Fällen erfüllt sei („not debatable among reasonable people“). 387 Die bestehende Diskrepanz zwischen materiell-rechtlichen Vorgaben und rechtstatsächlichen Effekten wird auch vom MSPB bis heute nicht in direkten Zweifel gezogen. Vgl. bspw. MSPB, Blowing the Whistle: Barriers to Federal Employees Making Disclosures, Report to Congress, Nov. 2011, abrufbar unter , p. i: „[P]erceptions of retaliation against those who blow the whistle remain a serious concern. In both 1992 and 2010, approximately one-third of the individuals who felt they had been identified as a source of a report of wrongdoing also perceived either threats or acts of reprisal, or both.“ Gleiches gilt für die Ende der 1980er Jahr vermehrt eingeführten Whistleblowing-Hotlines des
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Einen Gutteil der Erfolge und Misserfolge des öffentlichen Whistleblowing-Rechts wird man damit erklären können, dass die verwaltungsinterne Whistleblowing-Regulierung konzeptionell zwar als externes WhistleblowerSchutzrecht ausgestaltet ist, de facto aber eine Hybridform aus internem und externem Whistleblowing darstellt. Auf der einen Seite hat die politisch besonders konsensfähige Einführung behördenexterner Whistleblowing-Stellen mit entsprechend robustem, materiell-rechtlichem Schutz mittlerweile zur Aufdeckung einer Vielzahl verwaltungsinterner Missstände geführt, welche unter Aufrechterhaltung des üblichen Dienstweges fraglos nicht möglich gewesen wären.388 Auf der anderen Seite verlässt die Meldung des Whistleblowers trotz dieser Vorkehrungen nie die Einflusssphäre des Staates als Ursprung der Rechtsverstöße, wobei vieles dafür spricht, dass selbst staatliche Whistleblowing-Stellen wie OSC bzw. MSPD und sogar die zuständigen (Judikativ-)Gerichte sich nicht selten in einem gewissen Loyalitätskonflikt zwischen Whistleblower und Dienstherrn wiederfinden. 389 In seinen Ausgangsbedingungen ähnelt das öffentliche Whistleblowing-Recht damit den ungefähr zur gleichen Zeit stärker in den Blick genommenen privaten Whistleblowing-Kanälen als Teil unternehmensinterner Compliance-Systeme, ohne dass der US-amerikanische Staat in seinem eigenen Einflussbereich zu ähnlichen Regulierungsmethoden gegriffen hätte.390 Anders als bei der Regulierung der Privatwirtschaft verfügt er freilich auch nicht über einen vergleichbaren Instrumentenkasten, unter dessen Zuhilfenahme verwaltungsintern öffentlichen Sektors, deren Erfolgsquote u.a. aufgrund mangelhafter Vertraulichkeitspolitik überwiegend kritisch betrachtet wird. Johnson, Whistleblowing, p. 106–11 m.w.N. 388 So dürfte trotz des Fehlens entsprechender Datensätze auch nicht zu bestreiten sein, dass das Whistleblowing-Aufkommen in Länder ohne entsprechende Schutzmechanismen bei Weitem nicht an das Niveau der USA heranreicht. 389 In diese Richtung auch Devine, 51 Admin. L. Rev. 531, 532 (1999), der in Politik und Verwaltung eine andauernde Diskrepanz zwischen Whistleblowing-freundlicher Rhetorik und Whistleblowing-skeptischer Praxis ausmacht („Whistleblower protection is a policy that all government leaders support in public, but few in power will tolerate in private.“). Ein international bekanntes Beispiel dieser Diskrepanz ist das Verhalten von Präsident Obama im Fall Edward Snowden (s. Fn. 241). Im Rahmen des öffentlichen Whistleblowing-Schutzes lassen sich ähnliche Tendenzen im Unterschied zum sonstigen Whistleblowing-Recht auch oft an der einschlägigen Judikatur ablesen. So gehen sowohl der Federal Circuit als auch das MSPB nach wie vor von der staatsfreundlichen Prämisse aus, dass Vergeltungshandlungen im öffentlichen Dienst angesichts ansonsten gesetzestreuen Verhaltens der Verwaltung eines besonderen Nachweises bedürfen. Vgl. deutlich Lachance v. White, 174 F.3d 1378, 1881 (Fed. Cir. 1999) („ public officers perform their duties correctly, fairly, in good faith, and in accordance with the law and governing regulations […] And this presumption stands unless there is 'irrefragable proof to the contrary“); hierauf aufbauend aktuell Winant v. Department of the Air Force, Docket No. SF-1221-150234-W-1, MSPB Lexis 3823 (MSPB 2015), p. 32 et seq. 390 Hierzu ausführlich ab Rn. 96.
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verantwortlichen Personen durch wirtschaftliche Anreize und Androhungen ein ähnliches Eigeninteresse an der Förderung einer Whistleblowingförderlichen Organisationskultur vermittelt werden könnte.391
E. Überblick über den Status quo des arbeitsrechtlichen Whistleblower-Schutzes in den USA E. Status quo des arbeitsrechtlichen Whistleblower-Schutzes
Möchte man angesichts der regulatorischen Vielgestaltigkeit des arbeitsrechtlichen Whistleblower-Schutzes aus „adjunct statutes“, „public policy exception“ und „core statutes“ die dogmatischen Leitlinien des US-WhistleblowingRechts abbilden, verbietet sich bereits aufgrund der bloßen Anzahl unterschiedlicher Detailregelungen ein Anspruch auf absolute Vollständigkeit. 392 Die folgende Zusammenfassung bedient sich daher einer quantitativ wie qualitativ gewichteten Auswertung der vorstehend dargestellten Gesetze und Rechtsprechungslinien unter Berücksichtigung einschlägiger Sekundärliteratur und gibt damit die generelle, aktuelle Kriterientendenz des jeweiligen Regelungsgebietes wieder, ohne hierbei einen Anspruch von Allgemeingültigkeit erheben zu wollen oder zu können.393 Eine genauere Einzelanalyse 391
So lassen sich weder das Modell der „Federal Sentencing Guidelines“ noch die wirkungsvolle Drohkulisse externen Whistleblowings (s. Rn. 107) problemlos auf den öffentlichen Sektor übertragen. Insoweit ist der Staat ausgerechnet in seiner eigenen Sphäre auf ein gewisses Maß an freiwilliger Whistleblowing-Förderung durch die jeweiligen Behördenleitungen angewiesen, um verwaltungsinterne Informationsasymmetrien erfolgversprechend zu minimieren. Vgl. auch Vaughn, Successes and Failures, p. 115–17, der die mangelnde Kompetenz des OSC, Behörden zur Einrichtung wirksamer WhistleblowingVerfahren zu verpflichten, als eine der Ursachen der negativen Wirkungsbilanz des CSRA ausmacht. 392 Einen solchen Anspruch mit Recht ebenfalls als illusorisch verwerfend Cavico, 45 S. Tex. L. Rev. 543, 547 (2004). Auch eine exemplarische Darstellung relevanter Einzelnormen ist wegen ihrer zahlreichen, gebietsabhängigen Spezifika wenig zielführend. 393 S. insbes. die Nachw. in Fn. 246, 247, 248, 322, 338, 353. Zur Einordnung der praktischen Bedeutung und Aktualität der jeweiligen Schutzkriterien baut die Darstellung neben Datenbankrecherchen und Gesprächen mit Praktikern vor allem auf die diesbezüglich detailliertesten Sekundärüberblicke bei Callahan/Dworkin, 38 Am. Bus. L. J. 99 (2000); Cavico, 45 S. Tex. L. Rev. 543 (2004); Sinzdak, 96 Cal. L. Rev., 1633 (2008); Katz, SU033 ALI-CLE 1351 (2013); Bishara/Callahan/Dworkin, 10 N.Y.U. J.L. & Bus. 37 (2013); Kaye, 24 Causes of Action 2d 227, §§ 3-36 (2002/2015); Howard, Retaliatory Discharge, 105 A.L.R.5th 351, §§ 3[a]-13[b] (2003/2015) und Modsitt/Schulman/Westman, Retaliatory Discharge, ch. 3–8, Appendix B–D (Stand Mai 2015) auf. Sofern keine Wertungen der jeweiligen Autoren übernommen wurden, wird auf eine zusätzliche Zitierung der betreffenden Sekundärquelle aus Übersichtlichkeitsgründen verzichtet. Die im Folgenden angeführten Urteile dienen in erster Linie exemplarischen Zwecken und beinhalten i.d.R. keine rechtsgebietsübergreifenden Präzedenzfälle. Insoweit ähnliche Darstellungen unter Verwendung der jeweils aktuellen Auflage des letztgenannten Werkes finden sich
E. Status quo des arbeitsrechtlichen Whistleblower-Schutzes
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sowohl der rechtlichen Kriterien als auch der rechtstatsächlichen Auswirkungen einer modernen arbeitsrechtlichen Whistleblower-Schutznorm findet sich in einem späteren Abschnitt am Beispiel von § 806 des Sarbanes-Oxley Act von 2002.394 I. Anwendungsbereich und Person des Whistleblowers Anders als der Ursprung der „adjunct statutes“ als bereichsspezifische Whistleblowing-Vorschriften vielleicht vermuten lassen würde, ist den meisten der föderalen Whistleblowing-Gesetzen eine dezidierte Einschränkung des persönlichen Anwendungsbereiches weitgehend fremd. Sofern das jeweilige Gesetz nicht etwa nur auf den öffentlichen Sektor zugeschnitten ist, weisen nur wenige Gesetze Spezifizierungen bezüglich der erfassten Arbeitgeber oder Arbeitnehmer bzw. deren Senioritäts- oder Einstellungsstatus auf.395 Nachdem frühere Gesetze aufgrund der Verwendung des Begriffs des „employee“ teilweise dahingehend interpretiert wurden, dass nur gegenwärtige Unternehmensangehörige, nicht aber (abgelehnte) Bewerber und ehemalige Arbeitnehmer vom Anwendungsbereich der „adjunct statutes“ erfasst seien, hat nicht zuletzt die rechtstatsächliche Erkenntnis der typischen Fernwirkung Whistleblowing-spezifischer Diskriminierungen durch „blacklisting“ und andere Formen der Vergeltung 396 dazu geführt, dass (Schadensersatz-)Ansprüche in der Regel unabhängig vom Bestand des Beschäftigungsverhältnisses gewährt werden. 397 Die verfassungsrechtlich gebotene Einschränkung der inhaltlichen Reichweite bundesrechtlicher WhistleblowingNormen398 wird meist nicht über die Person des Whistleblowers, sondern über die Definition des jeweiligen Meldegegenstandes erreicht. 399 Bedeutende auch bei Graser, Whistleblowing, S. 14 ff. (Stand 2000) mit Fokus auf der „public policy exception“; Groneberg, Whistleblowing, S. 92 ff. (Stand 2010) mit Besprechung ausgewählter Gesetze. 394 Rn. 123 ff.; 165 ff. 395 Das Argumentationsmuster von Geary v. United States Steel Corp., 456 Pa. 171, 181–85 (1974), wonach ein „einfacher“ Vertriebsmitarbeiter geringere Chancen hat als Whistleblower anerkannt zu werden, wird in neueren Entscheidungen daher nicht mehr aufgegriffen. Vgl. zur ähnlichen Entwicklung in Deutschland unten, Fn. 1870. 396 Zu entsprechenden empirischen Erkenntnissen oben, Rn. 8. 397 So die mittlerweile einheitliche Handhabung des „employee“-Begriffs durch die OSHA, vgl. OSHA, Procedures for the Handling of Discrimination Complaints under Section 806 of the Corporate and Criminal Fraud Accountability Act of 2002, Title VIII of the Sarbanes-Oxley Act of 2002, 29 CFR § 1980.101(g): „Employee means an individual presently or formerly working for a covered person, an individual applying to work for a covered person, or an individual whose employment could be affected by a covered person.“ 398 Vgl. Rn. 30 ff. 399 Hierzu sogleich, Rn. 56.
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Ausnahmen stellen allerdings der Sarbanes-Oxley Act von 2002 sowie der Dodd-Frank Act von 2010 dar, welche sich aufgrund ihres kapitalmarktrechtlichen Regelungszusammenhangs primär an börsennotierte Gesellschaften und ihre Mitarbeiter richten. 400 Die „public policy exception“ wiederum weist unter dem Eindruck des Bundesrechts zwar ähnliche Liberalisierungstendenzen auf, konnte sich landesweit gesehen jedoch bis heute noch nicht zu einer umfassenden Öffnung des personellen Anwendungsbereichs durchringen. 401 Gleiches gilt auch für die allermeisten „core statutes“, 402 welche in der Regel zwar über einen rechtssichereren Anwendungsbereich verfügen, 403 sich im Gegenzug hierfür aber auch in einigen (seltenen) Fällen auf Unternehmen mit einer bestimmten Mindestanzahl von Arbeitnehmern beschränken.404
400
Ausführlich unter Rn. 123 bzw. Rn. 209 f. Während frühere Entscheidungen wie Balla v. Gambro, Inc., 145 Ill. 2d 492, 500 et seq. (Ill. 1991) noch gewisse Arbeitnehmergruppen (wie in diesem Fall Rechtsanwälte) aus dem Schutzbereich der „public policy exception“ ausgenommen hatten, zeichnete sich bereits seit Anfang der 1990er Jahre eine liberalere Tendenz ab, s. General Dynamics Corp. v. Superior Court of San Bernardino County, 876 P.2d 487, S. 500 et seq. (Cal. 1994), welche mittlerweile zudem durch entsprechende Federal Statutes zunehmend überlagert wird, vgl. Van Asdale v. International Game Technology, 577 F.3d 989, 994 et seq. (9th Cir. 2009). Insgesamt gesehen weist der eng verstandene „employee“-Begriff jedoch ein deutlich stärkeres Beharrungsvermögen auf, s. Bishara/Callahan/Dworkin, 10 N.Y.U. J.L. & Bus. 37, 66–67 (2013) m.w.N. 402 Z.T. explizite Beschränkungen auf (aktuelle) Arbeitnehmer finden sich bspw. in North Dakota, NDCC, 34-01-20, bestätigt durch Birchem v. Knights of Columbus, 116 F.3d 310, 315 (8th Cir. 1997); Minnesota, M.S.A. § 181.932(1), bestätigt durch McClure v. Am. Family Mut. Ins. Co., 29 F. Supp. 2d 1046, 1061 (D. Minn. 1998); N.Y. Lab. Law § 740, bestätigt durch Stephens v. Prudential Ins. Co. of America, 717 N.Y.S.2d 144, 145 (N.Y. App. Div. 2000). 403 Während die meisten „core statutes“ den Begriff des „employee“ verwenden und hierdurch an sich keine Bewerber, ehemalige Arbeitnehmer oder selbstständige Mitarbeiter erfassen, gehen die Gerichte zunehmend dazu über, unter Zuhilfenahme rechtstatsächlich orientierter Arbeitnehmerbegriffe die Schutzbereichsflexibilität der hergebrachten „public policy exception“ wiederherzustellen. S. insbes. D'Annunzio v. Prudential Ins. Co. of Am., 192 N.J. 110, (N.J. 2007) („economic realities test“), im Einzelnen Modesitt/Schulman/Westman, Retaliatory Discharge, ch. 6, p. 5–9 sowie hierauf aufbauend in deutscher Sprache Groneberg, Whistleblowing, S. 111 f. 404 Dies betrifft Florida, F.S.A. § 448.101(3) (mindestens zehn Arbeitnehmer), Louisianna, LSA-R.S. 23:302(2) (durchschnittlich mindestens zwanzig innerstaatliche Arbeitnehmer) und Connecticut, C.G.S.A. § 46a-51(10 (mindestens drei Arbeitnehmer). Die Erwägungsgründe dürften ähnlich wie bei der deutschen Kleinbetriebsklausel aus § 23 KSchG in der höheren Belastung für das Gesamtbetriebsklima gelegen haben. Zu Letzterem BVerfG, Beschl. v. 27.01.1998 – 1 BvL 15/87, NZA 1998, 470, 472; eine ähnliche Vermutung bzgl. des legislativen Zwecks aufstellend Thibodeau v. Design Group One Architects, LLC, 802 A.2d 731, 740–41 (Conn. 2002). 401
E. Status quo des arbeitsrechtlichen Whistleblower-Schutzes
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II. Meldegegenstand Die zulässigen Meldegegenstände des bundesrechtlichen WhistleblowerSchutzes bestimmen sich entsprechend ihres verfassungsrechtlich vorgegebenen Annexcharakters anhand des jeweils regulierten Sachgebiets, betreffen also insbesondere die Gebiete der öffentlichen Sicherheit sowie des Arbeitsund Umweltschutzes.405 Voraussetzung des Diskriminierungsschutzes ist demgemäß eine inhaltlich einschlägige Meldung über (potentielle) Verstöße gegen das Hauptgesetz und/oder das in der Whistleblowing-Norm erwähnte Regulierungsfeld.406 Der Meldegegenstand der „public policy exception“ ist demgegenüber in den meisten Staaten nach wie vor durch das Erfordernis einer dezidierten Verbindung zwischen dem gemeldeten Rechtsverstoß und einem besonderen Interesse der Allgemeinheit an der jeweiligen Meldung gekennzeichnet.407 Letzteres wiederum wird insbesondere bei Gefahren für die öffentliche Sicherheit, Gesundheit oder andere öffentliche Rechtsgüter von rechtlich besonders manifestiertem Wert bejaht.408 Abgesehen davon, dass durch diesen Fokus auf Allgemeininteressen in (seltenen) Ausnahmefällen auch die Berufung auf rein ethische Missstände und verstoßunabhängige Gefahrensituationen als Meldegegenstand in Betracht kommen kann, 409 sind nicht wenige Gerichte mittlerweile dazu übergegangen, ihre Rechtsprechung von den dogmatischen Wurzeln der „public policy exception“ zu entkoppeln und jegliche Verstöße gegen Gesetzes- und Verordnungsrecht als Meldegegenstand zu akzeptieren.410 Forciert wird diese Entwicklung durch den Wortlaut einer Mehrheit neuerer „core statutes“, welcher zumeist sämtliche bundes- und landesrechtliche Rechtsnormen erfasst.411 Trotz dieser neuen dogma405
Ausführlich hierzu Rn. 37 ff. m.w.N. Oft sehen die Gesetze hierbei eine Kombination aus Meldegegenständen des konkreten Gesetzes und des allgemeinen Regulierungsfelds vor. Vgl. bspw. 49 U.S.C. 30171 des MAP-21 von 2012 („information relating to any motor vehicle defect, noncompliance, or any violation or alleged violation of any notification or reporting requirement of this chapter“). 407 Vgl. ausführlich oben, Rn. 43 ff. 408 S. exemplarisch bereits Palmer v. Brown, 242 Kan. 893, 900 (Kan. 1988): „Public policy requires that citizens in a democracy be protected from reprisals for performing their civil duty of reporting infractions of rules, regulations, or the law pertaining to public health, safety, and the general welfare.“ 409 Jacobson v. Knepper & Moga, P.C., 706 N.E.2d 491, 493 (Ill. 1998); allgemein Cavico, 45 S. Tex. L. Rev. 543, 561–63 (2004). 410 Eine Whistleblower-freundliche Vorreiterrolle übernimmt insoweit wiederum Kalifornien, s. Green v. Ralee Engineering Co., 19 Cal. 4th 66, 80, 88–90 (Cal. 1998) (Bundesverordnungen als Teil der gerichtlich definierten „public policy“ zulässig). Im Einzelnen zur insoweit sehr uneinheitlichen Rechtsprechung und ihren Hintergründen Modesitt/ Schulman/Westman, Retaliatory Discharge, ch. 7, p. 4 et seq. 411 Sämtliche bundes- und landesrechtlichen Normen erfassen hierbei unstreitig Ariz. Rev. Stat. § 23-1501(3)(c)(ii); Fla. Stat. § 448.101(4), 448.102(1); Haw. Rev. Stat. Ann. 406
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tischen Basis des einzelstaatlichen Whistleblower-Schutzes weist die hergebrachte Rechtsprechung zur „public policy exception“ allerdings in vielen Staaten ein erhebliches Beharrungsvermögen auf, so dass der WhistleblowerSchutz auch insoweit ein fragmentarischer geblieben ist und hierdurch wiederkehrenden Prozessaufwand produziert. 412 III. Subjektive Merkmale des Whistleblowers Das subjektive Kernerfordernis sämtlicher föderaler Whistleblowing-Gesetze ist die Voraussetzung eines objektiv vernünftigen Glaubens des Whistleblowers an das tatsächliche Vorliegen einer Rechtsverletzung, der sog. „reasonable belief“ bzw. „resonable person standard“. 413 Wiewohl diese For§ 378-62(1); Me. Rev. Stat. tit. 26, § 833(1)(A); Mich. Comp. Laws Ann. § 15.362 § 2; Minn. Stat. § 181.932(1)(a); N.H. Rev. Stat. § 275-E:2(I)(a) (2003); Ohio Rev. Code § 4113.52(A); R.I. Gen. Laws § 28-50-3(1); Tenn. Code § 50-1-304 (c) (2003); AgencyVerordnungen werden ausdrücklich einbezogen von Cal. Lab. Code § 1102.5(b); Conn. Gen. Stat. Ann. § 31-51m(b); Fla. Stat. Ann. § 448.101(4), 448.102(1); Haw. Rev. Stat. Ann. § 378-62(1); Me. Rev. Stat. Ann. tit. 26, § 833(1)(A); Mich. Comp. Laws Ann. § 15.362 § 2; Minn. Stat. Ann. § 181.932(1)(a); N.H. Rev. Stat. Ann. § 275-E:2(I)(a); Ohio Rev. Code Ann. § 4113.52(A); R.I. Gen. Laws § 28-50-3(1); Tenn. Code § 50-1-304. 412 So halten viele Gerichte auch dann noch an ihrer früheren Rechtsprechung fest, wenn ein nachher erlassenes „core statute“ keine ausdrücklichen Beschränkungen mehr vorsieht. Dezidiert gegen diese Tendenz Anderson-Johanningmeier v. Mid-Minnesota Women's Ctr., Inc., 637 N.W.2d 270, 276–77 (Minn. 2002) m.w.M. Ausdrückliche „public policy“-Einschränkungen finden sich hingegen etwa in Ohio R.C. § 4113.52(A)(1)(a), das nur „criminal offenses likely to cause an imminent risk of physical harm“ erfasst, weswegen etwa nach Ansicht des Ohio Court of Appeals selbst eine erhöhte Strahlungsexposition von Kernkraftmitarbeitern nicht ausreiche, da hieraus nur eine potentiell-zukünftige, nicht aber eine unmittelbare Gefahr resultiere, Doody v. Centerior Energy Corp., 739 N.E.2d 851, 854–55 (Ohio Ct. App. 2000); ferner N.Y. Lab. Law § 740.2(a) und hierzu Schultz v. N. Am. Ins. Group, 34 F. Supp. 2d 866, 868–69 (W.D.N.Y. 1999). S. zu beginnt der „public policy“-Kodifizierung bereits Kern v. De Paul Mental Health Servs., 152 A.D.2d 957 (N.Y.App.Div. 1989) zu N.Y. Lab. Law § 740, wonach Meldungen über Gesundheitsschäden einzelner Patienten noch keine hinreichende Relevanz für die öffentliche Gesundheitsvorsorge im Allgemeinen aufweisen. Ein weiteres limitierendes Kennzeichen fast aller „core statutes“ ist die Beschränkung auf Verstöße durch den unmittelbaren Arbeitgeber, so dass Meldungen über Verstöße von Geschäftspartnern in aller Regel nicht geschützt sind. Die – soweit ersichtlich – einzige Ausnahme bildet der (generell liberale) CEPA in New Jersey, N.J.S.A. 34:19-3a: „[A]n activity, policy or practice of the employer, or another employer, with whom there is a business relationship […].“ 413 Während ältere Gesetze insoweit noch weniger klare Formulierungen enthielten, wurden sie von der Rechtsprechung in aller Regel in diesem Sinne interpretiert. S. die Nachw. bei Modesitt/Schulman/Westman, Retaliatory Discharge, ch. 3, p. 21, n. 116. In späteren Gesetzen (wie dem Sarbanes-Oxley Act von 2002) wurde dieser Standard sodann ausdrücklich in den Wortlaut mit aufgenommen. S. Senate Committee on the Judiciary, S. Rep. No. 146, 107th Cong., 2d Sess. (2002), p. 19 mit Verweis auf Passaic Valley Sewerage Comm'rs v. Dep't of Labor, 992 F.2d 474, 478 (3d Cir. 1993), zu diesem Fall so-
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mulierung sprachlich eine umfassende ex-post-Betrachtung der Vernünftigkeit einer Meldung nahelegen mag, besteht in ihrer praktischen Anwendung Einigkeit darüber, dass lediglich vorsätzlich falschen oder grob fahrlässig unwahren Meldungen der Schutz versagt wird, um Whistleblower nicht durch die Unwägbarkeit der späteren Beweisbarkeit einer Tat von einer Meldung abzuhalten.414 In der Sache entspricht dies im Wesentlichen dem deutschen Rechtsbegriff des guten Glaubens. 415 Gemäß des bereichsspezifischen Charakters der „adjunct statutes“ muss sich der gute Glaube dabei in aller Regel auf eine konkrete (wenn auch nicht notwendigerweise explizit benannte) Norm des jeweiligen Rechtsgebiets und deren mögliche Verletzung beziehen, sog. „definitively and specifically requirement“. 416 Nachdem sich dieser Standard in komplexeren Rechtsgebieten, namentlich i.R.d. Sarbanes-Oxley Act, als eine Achillesferse des bereichsspezifischen Whistleblower-Schutzes herausgestellt hat und sich dort seit dem Jahr 2011 auf dem Rückzug befindet,417 ist allerdings noch offen, inwieweit sich dieses Element im Bereich der „adjunct statutes“ in Zukunft generell perpetuieren wird. Anders als das Bundesrecht orientiert sich das einzelstaatliche Richter- und Gesetzesrecht zwar überwiegend an einem – wie auch immer konkret formulierten – Gutglaubensmaßstab im Sinne der „adjunct statutes“, 418 kann hiervon in einigen Ausnahmefällen jedoch auch abweichen. 419 Der deutlich wichgleich unter Rn. 60, vgl. ferner Harp v. Charter Commc'ns, 558 F.3d 722, 723 (7th Cir. 2009). 414 Dies entspricht gängigen Standards aus dem allgemeinen Diskriminierungsrecht, s. Armstrong v. K & B La. Corp., 788 F. App'x 779, 782 (5th Cir. 2012) m.w.N. 415 Vgl. etwa § 932 Abs. 2 BGB. Trotz der sprachlichen Nähe zum (hiervon zu unterscheidenden, motivbezogenen) „good faith“-Kriterium wird daher im Folgenden der Begriff des guten Glaubens verwendet. Auch in der US-amerikanischen Rspr. werden beide Begriffe freilich bisweilen vermischt, vgl. Passaic Valley Sewerage Commissioners v. U.S. Dept. Of Labor, 992 F.2d 474, 478 (3rd Cir. 1993). Für die hiesige Darstellung interessant ist hingegen vor allem der Gleichlauf von US-amerikanischem und deutschem Whistleblowing-Recht, vgl. Rn. 245 ff. 416 S. Am. Nuclear Res. v. U.S. Dept. of Labor, 134 F.3d 1292, 1295 (6th Cir. 1998) zum ERA; deutlich auch noch Platone v. FLYi, Inc., Case No. 04-154, 2006 WL 3246910, p. 8 (ARB 2006) m.w.N.: „[U]nder the SOX, the employee's communications must “definitively and specifically” relate to any of the listed categories of fraud or securities violations under 18 U.S.C.A. § 1514A(a)(1).“ 417 Im Einzelnen hierzu unter Rn. 165 ff., 208 ff. 418 S. statt vieler für die „public policy exception“ bereits Palmateer v. International Harvester Co., 421 N.E.2d 876, 880 (Ill. 1981) (hierzu oben, Rn. 48); ferner etwa Callahan v. Edgewater Care & Rehab. Ctr., Inc., 872 N.E.2d 551 (Ill. App. Ct. 2007); im Bereich der „core statutes“ bspw. Levitt v. Sonardyne, Inc., 918 F. Supp. 2d 74, 84 et seq. (D. Me. 2013) zum Whistleblower-Gesetz des Staates Maine, Me. Rev. tit. 26 § 831(1). 419 So fordern insbes. einige wenige Gerichte wie auch „core statutes“ das tatsächliche Vorliegen eines Gesetzesverstoßes. S. McGonagle v. Union Fidelity Corp., 383 Pa. Super. 223, 556 A.2d 878 (1989); Wheeler v. BL Dev. Corp., 415 F.3d 399 (5th Cir. 2005); Bor-
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tigere Unterschied zu föderalen Whistleblowing-Gesetzen liegt allerdings in der Berücksichtigung der Motive des Whistleblowers im Rahmen des sog. „good faith“-Kriteriums. So schränken sowohl die Mehrheit der „public policy exceptions“ als auch der hierauf aufbauenden „core statutes“ die Schutzwürdigkeit einer Meldung für den Fall ein, dass diese allein aus eigennützigem (Gewinn-)Streben, Rachsucht gegenüber dem Arbeitgeber bzw. seinen Vertretern oder zur bloßen Abwendung einer absehbaren Kündigung erfolgt ist.420 Die Ursache dieser Diskrepanz liegt in den unterschiedlichen historischen Ursprüngen des föderalen bzw. staatlichen Whistleblower-Schutzes. So dient Whistleblowing dem Federal Government in aller erster Linie als Instrument zur Überbrückung von Informationsasymmetrien im öffentlichen Interesse,421 während der einzelstaatliche Whistleblower-Schutz sich zwar (dogmatisch notwendigerweise) auf die Förderung der „public policy“ beruft,422 in der Sache aber eine Interessentriangulation zwischen den Interessen der Öffentlichkeit, des Arbeitnehmers und des Arbeitgebers vornimmt. 423 Sofern die Motive des Whistleblowers eine besondere Illoyalität gegenüber dem Arbeitgeber erkennen lassen und das Arbeitsverhältnis als gestört angesehen werden muss, bleiben die Rechte des Arbeitgebers zur „at-will“dell v. General Electric Co., 88 N.Y.2d 869, 871 (N.Y. 1996) zu N.Y. Lab. Law § 740; sowie unter deutlichem Missfallen Accardo v. Louisiana Health Serv. & Indem. Co., 943 So. 2d 381, 386–87 (La. Ct. App. 2006) zu La. R.S. 23:967 („Although we have grave concerns regarding the chilling effect that this requirement will have on the reporting by an employee of illegal acts, we are compelled to conclude that the Louisiana Whistleblower Statute […] requires an employee to prove an actual violation of state […].“ Auf das gesamte Bundesgebiet bezogen handelt es sich hierbei jedoch um Ausnahmen ohne rechtspolitische Ausstrahlungswirkung. Vgl. Westman/Schulman/Modesitt, Retaliatory Discharge, m.w.N.; insoweit auch Groneberg, Whistleblowing, S. 161 f. 420 Dahl v. Combined Ins. Co., 621 N.W.2d 163, 167 (S.D. 2001); Dahlberg v. Lutheran Soc. Servs. of N.D., 625 N.W.2d 241 (N.D. 2001); Wagner v. City of Globe, 722 P.2d 250, 257 (Ariz. 1986); Wolcott v. Champion Int'l Corp., 691 F. Supp. 1052, 1065 (W.D. Mich. 1987); Obst v. Microtron, Inc., 614 N.W.2d 196, 202–04 (Minn. 2000) zu M.S.A. § 181.932; Appeal of Osram Sylvania, Inc., 706 A.2d 172, 175 (N.H. 1998) zu N.H. Rev. Stat. § 275-E:2I(a). Im Bereich öffentlicher Angestellter wird teilw. ein etwas detaillierter Standard angelegt, s. Texas Dept. of Criminal Justice, 925 S.W.2d 44, 60 (1998) zu Tex. Gov't Code §§ 554.001-09 („malice, spite, jealousy, or personal gain“). 421 Ausschlaggebendes Kriterium ist daher der Wert der Information, vgl. auch Rn. 71 f., 190 f. 422 Hierzu bereits ab Rn. 42 ff. 423 Statt vieler Wagner v. City of Globe, 722 P.2d 250, 257 (Ariz. 1986) „We recognize that there is a tension between the obvious societal benefits [of Whistleblowing] and accepted concepts of employee loyalty“; sowie aus der Literatur Modesitt/Schulman/ Westman, Retaliatory Discharge, ch. 2 p. 2–4. Anders als in Deutschland, wo der dogmatische Anknüpfungspunkt der Diskussion die Pflichtverletzung des Arbeitnehmers ist, findet die „duty of loyalty“ in US-amerikanischen Entscheidungen aus diesem systematischen Grund weniger häufig ausdrückliche Erwähnung.
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Kündigung des Arbeitsvertrages folglich unberührt. Im Unterschied zu Deutschland befindet sich das „good faith“-Kriterium jedoch nicht nur tendenziell auf dem Rückzug,424 sondern wird vor allem zur Korrektur einiger weniger, als unbillig empfundener Ergebnisse verwendet 425 und üblicherweise bereits dann verneint, wenn die Aufdeckung illegaler Vorgänge jedenfalls ein (Neben-)Motiv im typischerweise vielschichtigen Motivbündel des Whistleblowers gewesen ist.426 Es ähnelt in seiner Anwendung insoweit eher dem deutschen Konzept von „Treu und Glauben“ und führt in aller Regel nicht zu einer umfassenden, moralisch aufgeladenen Motivexegesen. IV. Adressat und Eskalationsroutine In der Tradition des Whistleblowing-Rechts als Instrument zur Überbrückung administrativer Durchsetzungshemmnisse stellen bundesrechtliche Normen Whistleblowern in aller Regel einen konkreten Kooperationspartner zur Seite und schützen daher in erster Linie die Kommunikation des Whistleblowers mit eben diesem externen Adressaten.427 Wiewohl einige liberalere „adjunct
424 Ursache ist die sukzessive Verdrängung der „public policy exception“ durch entsprechende „core statutes“, vgl. Mize-Kurzman v. Marin Community College Dist., 202 Cal. App. 4th 832, 850–51 (Cal. Ct. App 2012); sowie Whitman v. City of Burton, 831 N.W.2d 223, 230 (Mich. 2013), aufgehoben durch 873 N.W.2d 593, 594 (Mich. 2016), worin der Supreme Court of Michigan entgegen seiner früheren Rspr. (Fn. 420) auf ein gesondertes „good faith“ Kriterium verzichtete, da sich dieses im Wortlaut des neuen „core statute“ nicht mehr verankern ließ. Die Vorinstanz hatte die Meldung eines Polizisten über rechtswidrige Gehaltszahlungsweigerungen der Stadt noch als nicht hinreichend altruistisch eingestuft. In Deutschland hat die Prüfung der Motive des Whistleblowers durch die Rspr. des BAG hingegen die Position eines Kernkriteriums eingenommen, s. unten, Rn. 245 ff. 425 Vgl. Cavico, 45 S. Tex. L. Rev. 543, 565–66 (2004); Westman/Schulman/Modesitt, Retaliatory Discharge, ch. 6, p. 12 mit entsprechend wenigen Fällen; anders wohl Groneberg, Whistleblowing, S. 162. 426 S. Heng v. Rotech Med. Corp., 2004 ND 204, p. 19 et seq. (N.D. 2004), wo der North Dakota Supreme Court, welcher spätestens seit seiner Dahlberg-Entscheidung (Fn. 420) als vergleichsweise motivlastiges Gericht gilt, ausdrücklich klarstellt, dass Meldungen nur dann nicht geschützt sind, wenn der eigentliche Beweggrund allein eigennütziges Interesse war („solely“) und nur zufällig nebenbei potentielle Rechtsverstöße angesprochen wurden („incidentally“). Hierdurch wird auch der Erfahrung Rechnung getragen, dass die Entscheidung zum Whistleblowing meist aus einem Motivbündel heraus getroffen wird und gerade auch das Resultat frustrierter interner Abhilfeversuche sein kann. Vgl. oben, Rn. 7, zu entsprechenden empirischen Erkenntnissen. In der rechtswissenschaftlichen Literatur werden gesonderte Motivprüfungen auch deswegen überwiegend kritisch gesehen, vgl. statt vieler Bishara/Callahan/Dworkin, 10 N.Y.U. J. L. & Bus. 37, 95–97 (2013) m.w.N.; sowie zur deutschen Diskussion Rn. 250. 427 Zur besonderen Bedeutung der OSHA als administrativem Brückenkopf bereits oben, Rn. 39 ff.
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statutes“ sämtliche externen Meldungen unter Schutz stellen,428 setzt die deutliche Mehrheit demgemäß eine Meldung an (Bundes-)Behörden,429 eine bestimmte Gruppe von behördlichen Adressaten 430 oder sogar nur eine einzige Annahmestelle voraus,431 um auf diese Weise den Informationsfluss möglichst effizient zu kanalisieren und unbillige Nachteile für den Arbeitgeber, insbesondere durch Informationsweitergabe an die Medien, zu verhindern. 432 Diesem Vorbild folgen in aller Regel auch modernere Gesetze wie der Sarbanes-Oxley Act von 2002433 oder der Dodd-Frank Act von 2010.434 Im Gegensatz zum ausdrücklichen Schutz externen Behörden-Whistleblowings war der heute allgemein anerkannte Schutz internen Whistleblowings lange Zeit hingegen nicht ausdrücklich in den „adjunct statutes“ normiert, sondern ist eine unmittelbare Konsequenz rechtstatsächlicher Erfahrungen hinsichtlich der internen Meldepräferenz von Whistleblowern und ihrer besonderen Diskriminierungsanfälligkeit in eben diesen Situationen. 435 Nachdem der mangelnde 428 So der Asbestos Hazard Emergency Response Act (AHERA), 15 U.S.C. §2651(a): „any other person“. 429 So mit der überwiegenden Zahl der Gesetze der Comprehensive Environmental Response, Compensation and Liability Act (CERCLA), 42 U.S.C. § 9610(a): „to a State or to the Federal Government“. 430 So der Vessels and Seamen Act (VSA), 46 U.S.C. § 2114(a)(1)(A): „Coast Guard or other appropriate Federal agency“. 431 So der Moving Ahead for Progress in the 21st Century Act (MAP-21), 49 U.S.C. § 30171(a)(1): „Secretary of Transportation“. Diese Methode birgt freilich das Risiko mit sich, dass Meldungen an (sachlich an sich zuständige) Behörden nicht geschützt werden, allein weil diese nicht konkret im Gesetz aufgeführt worden sind, vgl. Walleri v. Federal Home Loan Bank of Seattle, 83 F.3d 1575, 1582 (9th Cir. 1996) („it is not for us to cure the deficiency by adding an agency which Congress chose not to – or, in any event, failed to include.”). 432 Hierzu krit. de lege ferenda Callahan/Dworkin, 32 Am. Bus. L. J. 151, 152–53 (1992) welche die potentiell hohe Abschreckungswirkung medialen Whistleblowings als Argument für seinen Schutz ins Feld führt. Hierbei werden freilich die berechtigten Interessen des Arbeitgebers an der Vermeidung verlustträchtiger Skandalberichterstattung weitgehend unberücksichtigt gelassen, welche jedenfalls einem analogen Schutz unmittelbar-externer Meldungen ohne gesicherter Tatsachenbasis entgegenstehen dürften. MedienWhistleblowing wird auf föderaler Ebene folgerichtiger Weise nur kollateral geschützt, etwa wenn wie unter dem AHERA (Fn. 428) kein spezifischer Adressat bestimmt ist. 433 § 806(a)(1)(A), (B) SOX mit Bundesbehörden sowie dem Kongress als zulässigen Adressaten. 434 § 922(h) Dodd-Frank mit Beschränkung auf Meldungen an die Security and Exchange Commission (SEC). Zur besonderen Bedeutung der OSHA als administrativem Brückenkopf bereits oben, Rn. 39 ff.; zur Fehlkonstruktion des Sarbanes-Oxley Act und den i.R.d. des Dodd-Frank Act hieraus gezogenen Lehren ausführlich unten, Rn. 130, 165 ff. 435 Zu entsprechenden empirischen Befunden oben, Rn. 7 f. Als mittelbare Richtschnur der gerichtlichen Anerkennung internen Whistleblowings dienten frühe, extensive Entscheidungen zum NLRA. S. etwa zu 42 U.S.C. § 5851(a) (ERA): Kansas Gas & Electric v. Brook, 780 F.2d 1505, 1511 (3rd Cir 1993) mit Verweis u.a. auf NLRB v. Schrivener,
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Schutz interner Meldungen bereits in einschlägigen Fällen kurz nach dem ersten Entwicklungsschub neuerer „adjunct statutes“ als evidente Schutzlücke empfunden worden war, begannen die zuständigen Bundesgerichte mittels teleologischer Argumente auch über den Wortlaut der jeweiligen Normen hinaus sukzessive einen internen Whistleblower-Schutz zu gewähren.436 Besonders deutlich werden die dahinterstehenden Absichten in der Urteilsbegründung der einflussreichen Entscheidung Passaic Valley v. DOL aus dem Jahr 1993.437 Da der Wortlaut des streitgegenständlichen „Clean Water Acts“ ebenso wie der systematische Zusammenhang der Whistleblowing-Norm sich in relativ eindeutiger Weise nur auf die Mitwirkung an behördlichen Verfahren bezogen,438 blickte das Gericht stattdessen auf den allgemeinen Zweck des Whistleblowing-Rechts und unterstrich seine herausgehobene Bedeutung für eine wirkungsvolle Rechtsdurchsetzung.439 Weil im Schutz von Whistleblowern entsprechend der Tradition der „adjunct statutes“ eine wesentliche Voraussetzung für den rechtstatsächlichen Regulierungserfolg der jeweiligen Normen läge und dieser Erfolg ohne den Schutz interner (Erst-)Beschwerden ausgehöhlt zu werden drohe, folge hieraus notwendigerweise, dass auch unternehmensinterne Stellen als zulässige Adressaten im Sinne des Gesetzes zu
405 U.S. 117 (1972). Wenngleich dieses Supreme-Court-Urteil nicht das erste war, das den Schutz unter § 8(a)(4) NLRA ausdehnte, fasste es die Entwicklung der Vergangenheit und die Notwendigkeit einer an der bestmöglichen Information es NLRB orientierten Interpretation der Norm besonders deutlich zusammen (vgl. S. 122), so dass der Fall auch heute noch oft als „persuasive precedent“ von Gerichten zitiert wird. 436 Die soweit ersichtlich erste Entscheidung dieser Art war Phillips v. Interior Board, 500 F.2d 772 (D.C. Cir. 1974) zum Mine Safety Act (MSA), es folgten Urteile anderer Circuit Courts u.a. in Sachen Mackowiak v. University of? Nuclear Systems, 735 F.2d 1159 (9th Cir. 1984) Brown & Root v. Donovan, 747, F.2d 1029 (5th Cir. 1984) und Kansas Gas & Electric Co. v. Brock, 780 F.2d 1505 (10th Cir. 1985). 437 Passaic Valley Sewerage Comm'rs v. Dep't of Labor, 992 F.2d 474 (3d Cir. 1993). Der Clean Water Act (33 U.S.C. § 1251 et seq.) stellt als wesentlicher Teil des Bundesumweltrechts das Hauptinstrument zur Verhinderung von Wasserverschmutzungen dar. 438 33 U.S.C. § 1367(a) spricht von „Discrimination against persons filing, instituting, or testifying in proceedings“. Um dem Department of Labor, das für den Schutz des Whistleblowers eingetreten war, einen entsprechenden administrativen Beurteilungsspielraum zu gewähren (sog. „Chevron deference“, vgl. Fn. 959), nahm das Gericht an, der Begriff „proceedings“ sei mehrdeutig und dementsprechend teleologischer Interpretation zugänglich. 439 „Such "whistle-blower" provisions are intended to promote a working environment in which employees are relatively free from the debilitating threat of employment reprisals for publicly asserting company violations of statutes protecting the environment, such as the Clean Water Act and nuclear safety statutes. They are intended to encourage employees to aid in the enforcement of these statutes by raising substantiated claims through protected procedural channels.“ Passaic Valley Sewerage Comm'rs v. Dep't of Labor, 992 F.2d 474, 478 (3d Cir. 1993).
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verstehen seien.440 Im Laufe der Jahre und mit zunehmenden Erfahrungswerten setzte sich dieser Ansatz immer mehr durch, so dass sich spätestens seit Beginn des neuen Jahrtausends in allen modernen Bundesgesetzen explizite Hinweise auf den Schutz internen Whistleblowings finden lassen.441 Im Unterschied hierzu hat das einzelstaatliche Richter- und Gesetzesrecht – mit einiger Verzögerung – zwar einen ähnlichen Entwicklungsweg wie das Bundesrecht durchlaufen, gibt hinsichtlich des Schutzes internen Whistleblowings aber bis heute ein deutlich facettenreicheres Bild ab. Bis in die 1990er Jahre hinein waren Gerichte noch kaum dazu bereit, die „public policy exception“ stets auf internes Whistleblowing auszudehnen. Immerhin – so ein verbreitetes Argument – handele es sich bei internen Meldungen um (rein) interne Angelegenheiten in der Sphäre des jeweiligen Arbeitsverhältnisses, so dass eine auf der mittelbaren Drittwirkung öffentlicher Interessen aufbauende Doktrin nicht geeignet sei, die traditionsreiche „at-will“-Doktrin in diesen Fällen zu durchbrechen. 442 Dem widerspricht vor allem seit Beginn des neuen Jahrtausends eine entsprechende Gegenströmung in der Rechtsprechung, welche aufbauend auf rechtstatsächlichen Erfahrungswerten argumentiert, dass dem öffentlichen Interesse mindestens ebenso gut gedient sei, wenn Arbeitnehmer Rechtsverstöße intern melden, zumal in diesem Fall regelmäßig mit einer zügigeren Ahndung der Verstöße und einer geringeren Beeinträchtigung arbeitgeberseitiger Interessen zu rechnen sei. 443 Die einzelstaatlichen „core statutes“ spiegeln diese Diskrepanz im Bereich des internen 440 „If the regulatory scheme is to effectuate its substantive goals, employees must be free from threats to their job security in retaliation for their good faith assertions of corporate violations of the statute. Section 507(a)'s protection would be largely hollow if it were restricted to the point of filing a formal complaint with the appropriate external law enforcement agency.“ Passaic Valley Sewerage Comm'rs v. Dep't of Labor, 992 F.2d 474, 478 (3d Cir. 1993). 441 Vgl. bspw. § 806(a)(1)(C) SOX. Zu den erheblichen Problemen, die das Fehlen einer solchen Bestimmung i.R.d. Dodd-Frank Act verursacht hat unten, Rn. 220. 442 S. bereits United States Steel Corp., 456 Pa. 173 (1974), wo die Kündigung vor allem wegen Missachtung der internen Hierarchie aufrechterhalten wurde; später etwa Wiltsie v. Baby Grand Corp., 774 P.2d 432, 433 (Nev. 1989); Vonch v. Carlson Cos., 439 N.W.2d 406, 408 (Minn.App.1989) („The public does not have an interest in a business's internal management problems“); aktueller z.B. Wholey v. Sears, Roebuck & Co., 803 A.2d 482, (Md. 2002); Vgl. ferner Dworkin/Callahan, 29 Am. Bus. L. J. 267, 268 (1991), die Anfang der 1990er Jahre noch kaum einen Einzelstaat mit internem WhistleblowingSchutz ausmachen. Neuere Entscheidungen begründen derlei Einschränkungen zudem häufig damit, dass die Erfassung interner Vorgänge eine so deutliche Abweichung vom klassischen Common Law darstelle, dass nur der Gesetzgeber sie beschließen könne. S. Wholey v. Sears, Roebuck & Co., 803 A.2d 482, 489 et seq. (Md. 2002) m.w.N. 443 Dorshkind v. Oak Park Place of Dubuque II, L.L.C., 835 N.W.2d 293, 306–08 (Iowa 2013); DeBay v. Wild Oats Mkt., Inc., 244 Or. App. 443, 449–51 (Or. Ct. App. 2011); Barker v. State Ins. Fund, 40 P.3d 463, 468–70 (Okla. 2001) m.w.N.
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Whistleblower-Schutzes ebenfalls wider, wobei auch hier der losgelöste Schutz rein externen Whistleblowings auf dem Rückzug ist und zunehmend interne Whistleblower erfasst werden.444 Nicht wenige „core statutes“ haben sich darüber hinaus für eine Kompromisslösung entschieden, indem sie einerseits einen (teils schriftlichen) internen Abhilfeversuch als grundsätzliche Bedingung externen Whistleblowings verlangen, andererseits aber nicht nur unter bestimmten Umständen unmittelbar-externe Meldung zulassen, sondern sämtliche Formen internen und externen Whistleblowings unter gleichwertigen Diskriminierungsschutz stellen.445 Rein materiell-rechtlich ähneln diese Gesetze damit den Kriterien des deutschen Bundesarbeitsgerichts (BAG).446 Während die ex-post-Bewertung der richtigen Adressatenwahl aufgrund der damit verbundenen Rechtsunsicherheit zunehmender Kritik begegnet, dürfte mit Veränderungen in diesem Bereich bis auf Weiteres nicht zu rechnen sein.447 Gleiches gilt für die abweisende Haltung des einzelstaatlichen Rechts gegenüber Medien-Whistleblowing, welche sich insoweit aber im Einklang mit der ständigen Gesetzgebung auf Bundesebene befindet.448 444
Rein externer Schutz besteht nach wie vor u.a. unter Conn. Gen. Stat. Ann. §3151m(2); Mich. Comp. Laws §15.362; expliziter Schutz internen Whistleblowings findet sich u.a. in Cal. Lab. Code §1102.5(b); Del. Code tit 19, §1703; Me. Rev. Stat. Ann. tit. 26, § 833(1)(A). Zulässige Adressaten sind in diesem Fall i.d.R. der Arbeitgeber, direkte Vorgesetze des Arbeitnehmers oder eine anderweitig zuständige Stelle, insbes. die jeweilige Compliance-Abteilung. Die temporär versetze, aber zunehmend rapide Flexibilisierung des gesetzlich zulässigen Adressaten lässt sich durch eine Gegenüberstellung zeitlich auseinanderliegender Gesetzesdarstellungen besonders gut sichtbar machen. Vgl. bspw. Modesitt/Schulman/Westman, Retaliatory Discharge, ch. 6, p. 13 (Stand 2015) mit Sinzdak, 96 Cal. L. Rev., 1633, 1642–43 (2008). 445 Zu den elf „core statutes“ dieser Art zählen z.B. Colo. Rev. Stat. § 24-114-102(2); Fla. Stat. §448.102(1) und N.Y. Lab. Law § 740(3): „The protection […] shall not apply […] unless the employee has brought the activity, policy or practice [...] to the attentions of a supervisor of the employer and has afforded such employer a reasonable opportunity to correct such activity, policy or practice.“ 446 Hierzu unten, Rn. 247 f. Das gilt insoweit auch für die konkreten Ausnahmen zum internen Meldeerfordernis, namentlich die Aussichtslosigkeit eines Abhilfeverlangens sowie die unmittelbare Involvierung des Arbeitgebers, wobei i.d.R. zusätzlich die Sorge vor (physischen) Nachteilen erfasst ist. N.J. Stat. § 34:19-4; Mass. Gen. Law ch. 149, § 185(c)(2); strenger Ohio Rev. Code §4113.52(A)(1)(a) mit 24-Stunden-Abhilfeobliegenheit des Arbeitgebers. Der entscheidende prozessuale Unterschied zur deutschen Rechtslage liegt freilich darin, dass interne Whistleblowern hierzulande keinerlei beweisrechtliche Privilegierungen zur Verfügung stehen. S. Rn. 243, 253. 447 Vgl. u.a. die Kritik von Sinzdak, 96 Cal. L. Rev., 1633, 1650 (2008) mit Verweis auf rechtstatsächliche Erfahrungswerte; a.A. noch Cavico, 45 S. Tex. L. Rev. 543, 563–64 (2004) unter der Annahme, dass die Mehrzahl rechtstreuer Arbeitgeber durch das interne Abhilfeerfordernis angemessen angesprochen werde. 448 So i.Erg. auch die Auswertungen von Sinzdak, 96 Cal. L. Rev., 1633, 1634 (2008); Callahan/Dworkin Lewis, 44 Va. J. Int'l L. 879, 893 (2004); Callahan/Dworkin, 32 Am.
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Kapitel 2: Whistleblowing in den USA
V. Beweislastverteilung und Rechtsfolgen Der Verteilung der Beweislast – insbesondere in Bezug auf einen kausalen Zusammenhang zwischen Whistleblowing und Vergeltungsmaßnahme – kommt sowohl im Bereich des bundesrechtlichen wie auch des einzelstaatlichen Whistleblower-Schutzes eine herausragende Bedeutung zu. 449 Wesentlicher Hintergrund ist der in empirischen Untersuchungen und rechtstatsächlichen Erkenntnissen bestätigte Erfahrungswert, dass Arbeitgeber sich zur Begründung von Kündigungen und anderen Benachteiligungen nur in den seltensten Fällen aktiv auf arbeitnehmerseitiges Whistleblowing berufen und stattdessen in vielen Diskriminierungsfällen mit vorgeschobenen Gründen und niedrigschwelligeren Benachteiligungen operieren.450 Ursprünglich orientierten sich die meisten bundesrechtlichen „anti-retaliation statutes“ daher an den arbeitnehmergünstigen Beweislastgrundsätzen des allgemeinen AntiDiskriminierungsrechts („Title VII“), so dass Arbeitnehmer bei einer typischen Whistleblower-Klage451 per Anscheinsbeweises darlegen mussten, dass ihr Whistleblowing ein motivierender Faktor452 für eine nicht unerhebliche
Bus. L. J. 1511, 1154–58 (1994) m.w.N., wonach Whistleblowing an die Medien und andere Nicht-Regierungsorganisationen (nicht zuletzt um den Arbeitgeber vor einhergehender Skandalberichterstattung zu schützen) fast ausschließlich nicht geschützt oder sogar ausdrücklich vom Schutzbereich ausgenommen ist. Als praktische Quelle des Whistleblower-Schutzes dient daher (wie in Deutschland) der allgemeine, presserechtliche Informantenschutz und nicht das Whistleblowing-Recht. 449 Aus deutscher Perspektive wird die Bedeutung der Beweislastreformen zumeist unterschätzt, indem eine Kontinuität zur (bewusst aufgegeben) First-AmendmentRechtsprechung suggeriert bzw. nur der bei Verfahrenseröffnung relevante „prima facie case“-Standard herangezogen wird. Vgl. Graser, Whistleblowing, S. 33 f., 85; Groneberg, Whistleblowing, S. 184, 187 f. Hierin dürfte der Grund dafür liegen, dass Erfahrungen zu Whistleblowing-spezifischen Beweisproblemen de lege ferenda geringere Bedeutung zugemessen wird und die entsprechende Entwicklung im US-amerikanischen Recht v.a. als allgemeine Folge der „at-will“-Doktrin interpretiert wird. 450 Zu sozialwissenschaftlichen Fallstudien oben, Rn. 8; ausführliche Falldarstellungen und rechtstatsächliche Evaluierung am Beispiel von § 806 SOX unter Rn. 132 ff. 451 Üblicherweise werden die darzulegenden Elemente einer Whistleblower-Klage in „protected activity“ (Whistleblowing-Handlung), „adverse employment action“ (Benachteiligung) und „causal connection“ (Kausalität) unterteilt. Das von der OSHA entwickelte und oft zitierte Zusatzkriterium der Kenntnis des Arbeitgebers von der WhistleblowingHandlung (29 CFR §1980.104(e)(2)(ii)) hat demgegenüber keine eigenständige Bedeutung, sondern dient lediglich als Indiz für die Kausalverknüpfung. So auch Modesitt/Schulman/Westman, Retaliatory Discharge, ch. 3, p. 20 et seq. m.w.N. 452 Zumeist „motivating factor“ oder auch „substantial factor“ genannt, vgl. McDonell Douglas Corp. v. Green, 411 U.S. 792 (1973); Price Waterhouse v. Hopkins, 490 U.S. 228 (1989) m.w.N.; sowie mit Bezug zum Whistleblowing-Recht Mt. Healthy City School Distrief Board of Education v. Doyle, 429 U.S. 274 (1977). Mittlerweile ist diese Rechtsprechung allerdings sowohl im Anti-Diskriminierungsrecht wie auch im Whistleblowing-
E. Status quo des arbeitsrechtlichen Whistleblower-Schutzes
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Benachteiligung453 durch den Arbeitgeber darstellte, woraufhin diesem wiederum auferlegt wurde, mit überwiegender Wahrscheinlichkeit454 das Gegenteil zu beweisen.455 Nachdem sich jedoch selbst diese Beweislastumkehr für viele interne wie externe Whistleblowing-Fälle gerade hinsichtlich des Kausalitätsbeweises noch als zu streng herausgestellt hatte,456 greifen die meisten föderalen Whistleblowing-Gesetze seit Ende der 1990er Jahre auf ein anderes System der Wahrheitsfindung zurück. 457 Hiernach wird Whistleblowern zu Verfahrensbeginn lediglich auferlegt, in Form eines rudimentären Anscheinsbeweises458 darzulegen, dass die Whistleblowing-Handlung jedenfalls eine Recht überholt, s. Rivera v. United States, 924 F.2d 948, 954, n. 7 (9th Cir. 1990); University of Texas Southwestern Medical Center. v. Nassar, 133 S. Ct. 2517 (2013). 453 „Materially adverse employment action“, vgl. hierzu Burlington Northern & Santa Fe Railway Co. v, 133 S. Ct. 2517 (3, 68 (2006) („materially adverse [employment action, which would have] dissuaded a reasonable worker from making or supporting a charge of discrimination“). 454 Sog. „preponderance of evidence“-Standard. Dieser im US-amerikanischen Zivilprozessrecht übliche Standard ist bereits dann erfüllt, wenn die behaupteten Tatsachen zu mehr als 50% glaubhaft gemacht worden sind. Anschaulich Brown v. Bown, 847 F.2d 342, 345 (7th Cir. 1988): „The preponderance standard is a more-likely-than-not rule, under which the trier of fact rules for the plaintiff if it thinks the chance greater than 0.5 that the plaintiff is in the right.“ 455 Eine ausführliche Darstellung des US-Anti-Diskriminierungsrechts, seiner Voraussetzungen und Auswirkungen auf die Whistleblowing-Judikatur würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Gleiches gilt für den Begriff der „adverse employment action“, welcher sich zudem im Whistleblowing-Recht zunehmend verselbstständigt hat, wie unter Rn. 132 ff. am Beispiel des § 806 SOX noch zu illustrieren sein wird. Hinzu kommt, dass der U.S. Supreme Court in Sachen University of Texas Southwestern Medical Center. v. Nassar, 133 S. Ct. 2517 (2013) die Grundlagen des Anti-Diskriminierungsrechts in Kausalitätsfragen jüngst auf neue Beine gestellt hat, ohne dass an der gegenwärtigen Rspr. abzulesen wäre, ob dies zukünftig auch auf das Whistleblowing-Recht zu übertragen ist. Vgl. Modesitt/Schulman/Westman, Retaliatory Discharge, ch. 3, p. 20 et seq.; ch. 5-8 m.w.N. 456 Vgl. 135 Cong. Rec. 5033 (1989) i.R.d. WPA von 1989: „By reducing the excessively heavy burden imposed on the employee under current case law, the legislation will send a strong, clear signal to Whistleblowers that Congress intends that they be protected from any retaliation related to their Whistleblowing and an equally clear message to those who would discourage Whistleblowers from coming forward that reprisals of any kind will not be tolerated.“ 457 Der „contributing factor test“ wurde ursprünglich im Rahmen des „Whistleblower Protection Act (WPA)“ von 1989 zur Ergänzung des CSRA für Staatsbedienstete eingeführt und sodann für andere OSHA-Verfahren übernommen. Im Einzelnen Marano v. Department of Justice, 2 F.3d 1137, 1140 (Fed. Cir. 1993); Kohn/Kohn/Colapinto, Whistleblower Law, p. 1–8 m.w.N. 458 Sog. „prima facie case“, welcher auch i.R.v. „Title VII“-Klagen zu Anfang des Prozesses ausreicht, im Vorfeld der Ermittlungen allerdings an noch geringere Hürden gekoppelt ist. Vgl. allgemein Zimmermann v. Assocs. First Capital Corp., 251 F.3d 376, 381
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Kapitel 2: Whistleblowing in den USA
von mehreren Ursachen für die benachteiligende Maßnahme gewesen ist, „sog. contributing factor test“. 459 Gelingt es dem Arbeitgeber nicht, diese Behauptung annähernd zweifelsfrei zu widerlegen, 460 setzt dies das Investigativverfahren der OSHA in Gang. 461 Gelangt das zuständige (Administrativ-)Gericht am Ende des Prozesses zu der Überzeugung, dass die Whistleblowing-Handlung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit die benachteiligende Entscheidung des Arbeitgebers jedenfalls (mit-)beeinflusst hat, gilt der Nachweis der Kausalität auch ohne Erforschung der genauen Motive des Arbeitgebers als erbracht. 462 Um dem praktischen Bedürfnis nach einer Whistleblower-günstigen Beweislastverteilung auch unter der überwiegend deliktsrechtlichen463 „public policy exception“ gerecht zu werden, bedienten (2nd Cir. 2001) m.w.N.: „We have characterized the evidence necessary to satisfy this initial burden as "minimal" and "de minimis"“. 459 Araujo v. New Jersey Transit Rail Operations, Inc., 708 F.3d 152, 158 (3d Cir. 2013) m.w.N: „The plaintiff-employee need only show that his protected activity was a "contributing factor" in the retaliatory discharge or discrimination, not the sole or even predominant cause.“; ferner 135 Cong. Rec. 5033 (1989): „The words „contributing factor“ […] mean any factor, which alone or in combination with other factors, tends to affect in any way the outcome of the decision." 460 Sog. „clear and convincing evidence“-Standard. Verlangt wird eine Beweiskraft, die nur unwesentlich unter dem strafrechtlichen Standard des „beyond reasonable doubt“ liegt, vgl. Araujo v. N.J. Transit Rail Operations, Inc., 708 F.3d 152, 159 (3d Cir. 2013) m.w.N. Dies ist (auch) für US-amerikanische Verhältnisse ein ungewöhnlich hoher Standard und Folge vorheriger Erfahrungen mit Vergeltungsmaßnahmen gegen Whistleblower, vgl. Stone & Webster Eng'g Corp. v. Herman, 115 F.3d 1568, 1572 (11th Cir. 1997) mit Verweis auf die Gesetzesmaterialien zur Ergänzung des Energy Reorganization Act (ERA) von 1992: „For employers, this is a tough standard, and not by accident. Congress appears to have intended that companies in the nuclear industry face a difficult time defending themselves.“ „Recent accounts of Whistleblower harassment at both NRC licensee […] and [Department of Energy] nuclear facilities […] suggest that Whistleblower harassment and retaliation remain all too common in parts of the nuclear industry.“ 461 Hierzu oben, Rn. 39 ff. 462 Anwendung finden wiederum der „preponderance of evidence“-Standard und die Möglichkeit des Gegenbeweises mittels „clear and convincing evidence“. Im Einzelnen Stone & Webster Eng'g Corp. v. Herman, 115 F.3d 1568, 1572 (11th Cir. 1997); zum ERA; Allen v. ARB, 514 F.3d 468, 476–77 (5th Cir. 2008); Collins v. Beazer Homes USA, Inc., 334 F. Supp.2d 1365, 1374–76 (N.D. Ga. 2004) zum SOX; jeweils m.w.N. In der rechtswissenschaftlichen Literatur finden sich im Gegensatz zur Rechtsprechung oft missverständliche Darstellungen, indem entweder nur auf den letztendlichen „preponderance of evidence“-Standard abgestellt wird (Watnick, 12 Fordham J. Corp. & Fin. L. 831, 849 et seq. (2007); Christian, 31 Okla. City U. L. Rev. 331, 349 et seq. (2007)) oder der Anschein erweckt wird, dass der (als „gatekeeper“ konzipierte) „prima facie“-Standard für den letztendlichen Nachweis ausreiche (Modesitt/Schulman/Westman, Retaliatory Discharge, ch. 3, p. 16 et seq.). 463 Zu den Gründen der deliktsrechtlichen Natur der „public policy exception“ oben, Fn. 295.
E. Status quo des arbeitsrechtlichen Whistleblower-Schutzes
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sich die Gerichte in der Vergangenheit zumeist einer Whistleblowergünstigen Bewertung der Tatsachen auf Ebene der Beweiswürdigung, wobei sich allerdings zunehmend eine dem allgemeinen Anti-Diskriminierungsrecht entsprechende Beweislastumkehr etabliert hat. 464 Gleiches gilt – mit im Einzelfall freilich erheblichen Unterschieden im Detail – auch für einzelstaatliche „core statutes“.465 Nachdem die Notwendigkeit einer Beweislastumkehr heutzutage weitgehend flächendeckend anerkannt worden ist, liegen die praktisch wichtigsten Unterschiede zwischen Bundes- und Landesrecht in der Bereitstellung eines administrativen Kooperationspartners sowie dem erleichterten Kausalnachweis nach Maßgabe des „contributing factor test“. Es bleibt abzuwarten, ob das im einzelstaatlichen Recht bis heute vorherrschende Erfordernis einer kausalen Vergeltungsabsicht auch in Zukunft aufrechterhalten wird.466 Ähnlich der graduellen Verbesserung der beweisrechtlichen Situation ist auch die Rechtsfolgenseite der Whistleblower-Schutzvorschriften einer stetigen Anpassung an rechtstatsächliche Erfahrungen unterworfen. Auch hier ist wiederum die Tendenz erkennbar, Whistleblowern einen relativ zu anderen (Schadensersatz-)Ansprüchen überdurchschnittlich effektiven Schutz zu gewähren, um den spezifischen finanziellen, persönlichen und karrierebezoge464
Modesitt/Schulman/Westman, Retaliatory Discharge, ch. 7, p. 73–74 m.w.N.; s. z.B. Glover v. NMC Homecare, Inc., 106 F. Supp. 2d 1151, 1169–70 (D. Kan. 2000) unter ausdrücklicher Übernahme des „Title VII“-Systems. 465 Hierbei wurde die Beweislastumkehr zumeist entweder vom Gesetzgeber ausdrücklich angeordnet oder von den Gerichten mit Blick auf das allgemeine AntiDiskriminierungsrecht entsprechend interpretiert, s. etwa Hajizadeh v. Vanderbilt Univ., 879 F. Supp. 2d 910, 922 et seq. (M.D. Tenn. 2012); Griffin v. JTSI, Inc., 654 F. Supp. 2d 1122, 1130–32 (D. Haw. 2008); Roulston v. Tendercare, Inc., 608 N.W.2d 525, 530–31 (Mich. Ct. App. 2000), Kolb v. Burns, 320 N.J.Super. 467, 477 (N.J. App. Div. 1999); Rosen v. Transx, Ltd., 816 F. Supp. 1364, 1369–70 (D. Min. 1991); tendenziell zu strenge Darstellung bei Cavico, 45 S. Tex. L. Rev. 543, 611–14 (2004). Insoweit missverständlich ist wiederum der „motivating factor test“ aus McDonell Douglas Corp. v. Green, 411 U.S. 792 (1973); wobei in der Formulierung der notwendigen Dominanz des Vergeltungsmotivs je nach Einzelstaat, Rechtsprechung und Gesetz eine erhebliche Varianz besteht und ältere „core statutes“ z.T. sogar fordern, dass das Whistleblowing das einzige Benachteiligungsmotiv sein muss. Griggs v. Coca-Cola Employees' Credit Union, 909 F. Supp. 1059, 1065–66 (E.D. Tenn. 1995) („solely“); allgemein hierzu Modesitt/Schulman/Westman, Retaliatory Discharge, ch. 6, p. 19; Cavico, 45 S. Tex. L. Rev. 543, 611–14 (2004) m.w.N. 466 Hiergegen spricht, dass der Supreme Court zwar mittlerweile im allgemeinen AntiDiskriminierungsrecht einen „but for causation“-Standard anwendet, welcher in der Sache einer „conditio sine qua non“ nahekommt (s. University of Texas Southwestern Medical Center. v. Nassar, 133 S. Ct. 2517, 2528 et seq. (2013)), die an der Struktur der „Title VII“-Normen orientierte Standardsetzung des Gerichts für Whistleblowing-Fälle aber systematisch wie inhaltlich nicht passend erscheint. Dies ebenfalls andeutend Modesitt/Schulman/Westman, Retaliatory Discharge, ch. 3, p. 25.
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Kapitel 2: Whistleblowing in den USA
nen Nachteilen von Whistleblowing-Situationen gerecht zu werden.467 So verfolgen neuere „adjunct statutes“, wie bspw. § 806 des Sarbanes-Oxley Act, das Konzept einer umfassenden Naturalrestitution im Sinne eines „make whole reliefs“, zu dem in der Regel neben einem Wiedereinstellungsanspruch ein Anspruch auf vergangene und ggf. zukünftige Gehaltszahlungen, ein entsprechendes Schmerzensgeld sowie eine (für die USA unübliche) Erstattung von Rechtsanwaltskosten zählen. 468 Andere aktuelle Gesetze versuchen, die schadensrechtlich nicht immer leicht zu erfassenden Nachteile von Whistleblowern in pauschalisierter Form zu ersetzen, beispielsweise durch Gewährung eines doppelten Schadensersatzes für entgangene Gehaltszahlungen („double back pay“).469 Auf einzelstaatlicher Ebene zeichnet sich ein deutlich uneinheitlicheres Bild ab, wobei der Anspruchsumfang in den meisten Fällen hinter dem (neueren) Stand des Federal Law zurückbleibt. 470 Unter der üblicherweise als deliktsrechtlichen Schadensersatz ausgestalteten „public policy exception“ steht dem Arbeitnehmer grundsätzlich nur ein monetärer Kompensationsanspruch im Sinne einer deliktsrechtlichen Differenzhypothese zu, nicht hingegen die Wiedereinstellung oder Erstattung von Rechtsverfolgungskosten.471 Auf der anderen Seite besteht für den Kläger teilweise die Möglichkeit, entsprechend allgemeiner „tort law“-Grundsätze einen teils signifikanten Strafschadensersatz zu verlangen (sog. „punitive damages“). 472 Demgegenüber ermittelt sich der Anspruchsumfang einiger „core statutes“ aufgrund ihres Ursprungs als „public policy“-Kodifikation zwar analog zum
467
Allgemein hierzu oben, Rn. 8. Im Einzelnen hierzu unter Rn. 132 ff. mit entsprechenden Nachweisen. 469 So insbes. 15 U.S.C. § 78u-6(h)(1)(C)(i), (iii) als Teil des arbeitsrechtlichen Whistleblower-Schutzes des Dodd-Frank Act von 2010. Hierzu im Einzelnen unter Rn. 208 ff. 470 Auch hierzu im Detail Modesitt/Schulman/Westman, Retaliatory Discharge, ch. 6, p. 18, ch. 7, p. 70–72, mit einigen Beispielen und detaillierter Auflistung in Appendix B; Groneberg, Whistleblowing, S. 196 ff. 471 Etwas anderes kann sich allenfalls ausnahmsweise in jenen Staaten ergeben, in denen die „public policy exception“ auf einem vertragsrechtlichen Fundament aufgebaut wurde, vgl. Sterling Drug, Inc. v. Oxford, 743 S.W.2d 380, 381 (Ark. 1988); Brockmeyer v. Dun & Bradstreet, 335 N.W.2d 834, 841 (Wis. 1983). 472 Gomez v. Finishing Co., Inc., 369 Ill. App. 3d 711, 721–23 (Ill. Ct. App. 2006); Porter v. City of Manchester, 849 A.2d 103, 120–21 (N.H. 2004); allgemein und im speziellen „public policy“-Kontext wird der Strafschadensersatz freilich nicht nur in Exzessfällen in der Revisionsinstanz reduziert, sondern i.d.R. auch an zusätzliche Bedingungen geknüpft, etwa die besondere Verwerflichkeit des Motivs oder die Gefahr zusätzlicher Schäden. Vgl. Safeshred, Inc. v. Martinez, 365 S.W.3d 655, 660 et seq. (Tex. 2012); Mureoft v. Best Western International, Inc., 9 P.3d 1088, 1100 (Ariz. Ct. App. 2000); allgemein zum USamerikanischen Strafschadensersatz und seiner aus internationaler Perspektive of überschätzten Bedeutung Wenglorz/Ryan, RiW 2003, 598 (598 ff.); Mörsdorf-Schulte, NJW 2006, 1184. 468
F. Bedeutung der einzelnen Schutzquellen in der Praxis
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anwendbaren Deliktsrecht,473 wurde mittlerweile aber häufig um ähnliche Wiedereinstellungs- und Erstattungsansprüche ergänzt, wie sie aus den bundesrechtlichen „adjunct statutes“ bekannt sind.474 In diesen in Mittel und Tendenz deutlich über gewöhnlichen Schadensersatzansprüchen liegenden Rechtsfolgen spiegelt sich nicht nur das oft erhöhte Kompensationsbedürfnis von Whistleblowern wider, sondern zugleich das besondere öffentliche Interesse, das der US-amerikanische Gesetzgeber mittlerweile mit dem Whistleblowing verbindet. Ihre deutlichste Ausprägung haben diese beiden Gedanken allerdings in der Renaissance des finanziell inzentivierten Whistleblowings ab Mitte der 1980er Jahre erfahren, welche in Abschnitt G. näher beleuchtet werden soll.
F. Die Bedeutung der einzelnen Schutzquellen des US-Rechts in der Praxis: Konkurrenzen, Rechtswahlprobleme und Unübersichtlichkeit F. Bedeutung der einzelnen Schutzquellen in der Praxis
Blickt man auf die Vielzahl unterschiedlicher Schutzquellen für Whistleblower, den materiell-rechtlich (jedenfalls im Vergleich zum sonstigen USArbeitsrecht) erheblichen Schutzstandard und die im internationalen Vergleich konkurrenzlose Zahl einschlägiger Fälle und Urteile, kann man auf den ersten Blick den Eindruck gewinnen, dass die arbeitsrechtliche Regulierung des Whistleblowings in den USA aus Whistleblower-Sicht kaum zu wünschen übrig lässt. Tatsächlich mag das Whistleblowing-Recht in seinem Mutterland zwar in quantitativer Hinsicht und zur Beseitigung spezifischer Informationsasymmetrien weltweit führend sein, weist aber sowohl in qualitativer Hinsicht als auch bei der allgemeinen Lösung des Loyalitätskonflikts „Whistleblowing“ zum Teil nicht übersehbare Defizite auf. Das wohl größte und am häufigsten kritisierte Praxisproblem ist die Zersplitterung des arbeitsrechtlichen Whistleblower-Schutzes, die hiermit einhergehende Inkonsistenz 473
Sofern das Gesetz dies nicht ausdrücklich anordnet, wird ein „tort law“-Schadensersatz von Gerichten auch dann i.d.R. angenommen, wenn konkrete Vorgaben zur Art des Schadensersatzes fehlen. Vgl. Ginn v. Kelley Pontiac Mazda, Inc., 841 A.2d 785, 788 (Me. 2004) zu Me. Rev. Stat. tit. 26, § 831; Tenn. Code Ann. §50-1-304 (c), § 4-21-313. 474 So etwa 19 Del. Code §1704(d); Fla. Stat. §448.103-04; Haw. Rev. Stat. §378-64; Minn. Stat. §181.935(c); N.Y. Lab. Law §740(5). Zumeist als Abschreckungsausgleich für fehlende „punitive damages“ sehen einige (wenige) Staaten zusätzliche Strafen für den Arbeitgeber vor, s. Cal. Lab. Code §1103, § 1102.5(f) (Freiheitsstrafe bis zu 1 Jahr und/oder Geldstrafe von bis zu 1.000 US-Dollar, für juristische Personen bis zu 10.000 US-Dollar); Mich. Comp. Laws §15.365 (5.000 US-Dollar); Haw. Rev. Stat. Ann. §378-65 (500 bis 5.000 US-Dollar). Einen Sonderfall bildet New Jersey, wo neben entgangenem Gehalt, Wiedereinstellung, Anwaltskosten und „punitive damages“ eine Strafzahlung von bis zu 20.000 US-Dollar pro Diskriminierung verhängt werden kann. N.J. Stat. §34:19-5.
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Kapitel 2: Whistleblowing in den USA
des Schutzstandards und die hieraus folgende Rechtsunsicherheit für alle Beteiligten.475 Als beratungspraktische Grundregel ist insofern weitgehend anerkannt, dass sich bei gleichzeitiger potentieller Verfügbarkeit eines bundes- und einzelstaatlichen Whistleblower-Schutzes eine Berufung auf die in der Regel Whistleblower-freundlicheren „adjunct statutes“ empfiehlt und im Rahmen des Möglichen angestrebt werden sollte.476 Den allgemeinen, einzelstaatlichen Whistleblower-Schutzgesetzen bzw. der „public policy exception“ verbleibt insoweit die Funktion von Auffangtatbeständen mit weitem Anwendungsbereich, aber meist geringerer Schutzeffizienz und Vorhersehbarkeit.477 Die Bedeutung des für die Entwicklung des arbeitsrechtlichen WhistleblowerSchutzes ehemals zentralen „public policy“-Einwands nimmt dabei vor allem in jüngster Zeit stetig ab, da die Mehrzahl der Gerichte bei Existenz eines entsprechenden „core statutes“ von einer konkurrenzrechtlichen Verdrängung des Richterrechts ausgeht. 478 Auch wenn nicht zuletzt dieser Umstand mittlerweile den Ruf nach einer judikativen Abschaffung der „public policy exception“ hat laut werden lassen,479 nimmt sie angesichts der Lückenhaf475
Statt vieler Bishara/Callahan/Dworkin, 10 N.Y.U. J.L. & Bus. 37, 56 et seq. (2011); Cherry, 79 Wash. L. Rev. 1029, 1042 et seq., 1070 (2004); Rossler, 41 Tulsa L. Rev. 573, 852 et seq. (2006); plakativ Kohn, Whistleblower Handbook, xii: „The laws have not been passed in any logical manner. For the most part the laws have been scandal-driven.“; vgl. auch Senate Committee on the Judiciary, S. Rep. No. 146, 107th Cong., 2d Sess. (2002), p. 19 (2002) („ [Whistleblowers] are subject to the patchwork and vagaries of current state laws”). 476 So aus der Literatur auch Kohn, Whistleblower Handbook, p. 29, mit einschränkendem Hinweis auf das Recht Kaliforniens und New Jerseys, welches ausnahmsweise einen ähnlich hohen oder höheren Schutzstandard gewähren kann. 477 Angesichts der erheblichen tatbestandlichen Lücken der bereichsspezifischen „adjunct statutes“ haben diese Auffangtatbestände freilich einen erheblich breiten Anwendungsbereich. Soweit das einzelstaatliche Recht in seiner Rechtsfolge nach „tort law“Prinzipien ausgestaltet ist, kann es im Einzelfall zudem durch die Verfügbarkeit von „punitive damages“ und die Möglichkeit von „jury trials“ praktisch vorteilhaft sein. Vgl. Kohn, Whistleblower Handbook, S. 66; Modesitt/Schulman/Westman, Retaliatory Discharge, ch. 7, p. 4. 478 So ausdrücklich etwa die Gerichte in Connecticut, Burnham v. Karl and Gelb, 745 A.2d 178, 181 (Conn. 2000); Delaware, Crawford v. George & Lynch, Inc., 2012 W.L. 2674546 (D. Del 2012); Hawaii, Lesane v. Hawaiian Airlines, 75 F. Supp.2d 1113, 1125 (D.C. Haw. 1999); Idaho, Van v. Portneuf Medical Center, 147 Idaho 552, 561 (Idaho 2009); Maine, Bard v. Bath Iron Works Corp., 590 A.2d 152, 156 (Me. 1991) Michigan, Dudewicz v. Norris-Schmid, Inc. 443 Mich. 68, 80 (Mich. 1993); Minnesota, Piekarski v. Home Owners Savings Bank, 956 F.2d 1484 (8th Cir. 1992); Montana, Solle v. Western States Insurance Agency, Inc., 299 Mont. 237, 242 (Mont. 2000); North Dakota, Vandall v. Trinity Hospitals, 676 N.W.2d 88, 93 (N.D. 2004); Oklahoma, Hall v. Davis H. Elliot Co., 2012 W.L. 3583017 (N.D. Ok. 2012). 479 So mit besonderem Verweis auf Whistleblower-Gesetze etwa Swift, 61 Mercer L. Rev. 551 (2010).
F. Bedeutung der einzelnen Schutzquellen in der Praxis
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tigkeit des U.S-Whistleblowing-Rechts und ihrer in Einzelfällen günstigeren Strafschadensersatzsummen noch immer eine nicht zu unterschätzende, gleichwohl oft prozessaufwändige Rolle ein. 480 Jenseits materiell-rechtlicher Konkurrenzen im innerstaatlichen Recht bietet sich Whistleblowern zudem häufig die Möglichkeit, ihre Rechte sowohl bei einem einzelstaatlichen wie auch bei einem Bundesgericht geltend zu machen.481 Auch wenn gerade für Whistleblower ein Anreiz besteht, sich entsprechend gängiger Prozesstaktik um einen Prozess vor einem Federal Court zu bemühen, um so von den Vorteilen einer typischerweise klägerfreundlichen Jury zu profitieren, ist Whistleblowern das Recht auf einen „jury trial“ aus verfassungsrechtlichen Gründen jedoch nicht selten verwehrt.482 Jenseits prozesstaktischer Überlegungen hat das zweigliedrige Whistleblowing-System der USA aber in aller erster Linie auf materieller Konkurrenzebene einen erheblichen Einfluss auf den Schutz des Whistleblowers. Hintergrund der unfriedlichen Koexistenz von Federal und State Law ist der verfassungsrechtliche Umstand, dass das aus der „supremacy clause“ 483 abgeleitete Prinzip der Verdrängung einzelstaatlichen Rechts („federal preemption“) wegen des fragmentarischen Charakters der verfassungsrechtlichen Kompetenzordnung zu langjährigen Abgrenzungsdiskussionen mit bis heute
480 So gehen denn auch einige jüngere Urteile von einer grundsätzlichen Koexistenz von „core statutes“ und „public policy exception“ aus. S. Illinois, Callahan v. Edgewater Care & Rehabilitation Center, 872 N.E.2d 551, 554 (Ill. App. Ct. 2007); North Dakota, Vandall v. Trinity Hosps., 2004 ND 47, p. 9 et seq. (N.D. 2004); Ohio, Kulch v. Structural Fibers, Inc., 677 N.E.2d 308, 328–29 (Ohio 1997). 481 Für „state courts“ ergibt sich dies bereits aus ihrer Eigenschaft als „courts of general jurisdiction“. Auch wenn „federal courts“ als „courts of limited jurisdiction“ stets einer sachlichen Rechtfertigung für ihre Zuständigkeit bedürfen, lässt sich dies für Whistleblower-Ansprüche auf Basis von state law häufig über das Institut der sog. „supplemental jurisdiction herstellen“, 28 U.S.C. § 1367. S. im Einzelnen Hazard/Tait/Flechter/Bundy, Pleading and Procedure, p. 409–436. 482 So etwa für Dodd-Frank Whistleblower entschieden in Pruett v. BlueLinx Holdings, Inc., 2013 WL 6335887 (N.D. Ga. 2013). Hintergrund ist, dass das 7th Amendment der U.S. Const. lediglich traditionellen „suits in common law“ das Recht auf einen „jury trial“ in Bundesgerichten zuschreibt, „suits in equity“, die typischerweise neue Klageformen wie die der „anti-retaliation claims“ umfassen, hingegen aus historischen Gründen außen vor bleiben. S. im Einzelnen (ohne Bezug zum Whistleblowing) Chauffeurs v. Terry, 494 U.S. 558 (1990); Hazard/Tait/Flechter/Bundy, Pleading and Procedure, p. 1062–1112; für ein Recht auf „jury trial“ trotz Fehlen einer ausdrücklichen, statuarischen Anordnung beim SOX Gonzalez, 9 U. Pa. J. Lab. & Emp. L. 25 (2006). 483 Art. VI, cl. 2 U.S. Const.: „This Constitution, and the laws of the United States…shall be the supreme law of the land.“ Die deutsche Entsprechung dieser Norm in Form des Art. 31 GG („Bundesrecht bricht Landesrecht“) hat demgegenüber angesichts einer relativ klaren Kompetenzordnung kaum praktische Bedeutung erlangt. Hierzu statt vieler Pieroth in: Jarass/Pieroth GG, Art. 31 Rdnr. 1 m.w.N.
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Kapitel 2: Whistleblowing in den USA
geringer Konturschärfe geführt hat.484 Es kann daher nicht verwundern, dass es bei der Frage der Verdrängung staatlichen Whistleblower-Schutzes durch „adjunct statutes“ zu einer kaum überschaubaren, teils widersprüchlichen Kasuistik gekommen ist.485 Solange der Gesetzgeber, wie z.T. bei einigen neueren Gesetzen, nicht dazu übergegangen ist, eine „federal preemption“ explizit auszuschließen,486 um eine effektive Verringerung des Schutzniveaus zu vermeiden, herrscht für den individuellen Whistleblower (und ebenso für dessen Arbeitgeber) bis heute ein hohes Maß an Rechtsunsicherheit. 487 Waren die spezifischen Vorbedingungen des US-amerikanischen Föderalismus einst Geburtshelfer und bis heute stetiger Motor der Verbesserung des Whistleblower-Schutzes, so erwiesen sie sich mit der Zeit daher zugleich als sein vielleicht folgenschwerster Geburtsfehler. Zwar mag ein gewisser Teil des erheblichen Prozessaufwands auch damit zusammenhängen, dass Arbeitnehmern vor dem Hintergrund der noch immer dominanten „at-will“-Doktrin kein allgemeiner Kündigungsschutz zur Verfügung steht und die Berufung auf vorangegangene Beschwerden bei arbeitgeberseitigen Kündigungen als ggf. einziges Klagevehikel in Betracht kommt. Das eigentliche Grundproblem des Whistleblowing-Arbeitsrechts liegt allerdings darin, dass die USA sich vor allem auf Bundesebene zwar einerseits besonders (lern-)fähig bei der administrativ unterstützten Whistleblowing-Förderung gezeigt haben, der USamerikanische Föderalismus sich aber andererseits als besonders unfähig erwiesen hat, trotz unbestrittenen Reformbedarfs eine gesetzliche Vereinheit-
484
Hierzu Gardbaum, 79 Cornell L. Rev. 767, 768 (1994), der in der „federal preemption“ sogar das praxisbedeutsamste Problem der US-amerikanischen Verfassung sieht. Wesentlich verantwortlich für die Unschärfe der Doktrin ist dabei, dass mit „conflict preemption“ und „field preemption“ zwei dogmatische Kategorie-Unterfälle existieren, deren Reichweite sich flexibel an (vermuteten) Zweckvorstellungen des Gesetzgebers orientiert (edb., S. 808–12). 485 Als einer der wenigen Fingerzeige kann festgestellt werden, dass die Wahrscheinlichkeit einer „federal preemption“ sich erhöht, je umfänglicher das jeweilige Rechtsgebiet durch das Federal Government reguliert worden ist. Vgl. insoweit Bishara/ Callahan/Dworkin, 10 N.Y.U. J. L. & Bus. 37, 78 (2013); Modesitt/Schulman/Westman, Retaliatory Discharge, ch. 9 p. 3–7 m.w.N. von sich in Ergebnis und Begründung widersprechenden Gerichtsurteilen. Unzutreffend daher Oswald, 73 False Cl. Act and Qui Tam Q. Rev. NL 9, X., C. (2014), der mit Verweis auf nur einen Fall, in dem sich noch nicht einmal zwei Whistleblower-Gesetze entgegenstanden (English v. General Electric Co., 496 U.S. 72 (1990)) von der Unbeachtlichkeit der „federal preemption“ ausgeht. 486 18 U.S.C. § 1514A(d) (SOX): „Nothing in this section shall be deemed to diminish the rights, privileges, or remedies of any employee under any Federal or State law, or under any collective bargaining agreement.“ 487 Hierdurch verstärkt sich wiederum die Bedeutung der bundesrechtlichen „adjunct statutes“ gegenüber dem einzelstaatlichen Recht. Insoweit ähnlich Kohn, Whistleblower Handbook, wenn auch unter fälschlicher Bezeichnung („federal preclusion“).
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lichung des Whistleblower-Schutzes in die Wege zu leiten. 488 Aus deutscher bzw. europäischer Binnenperspektive wird man diese Erkenntnis als einigermaßen beunruhigend empfinden müssen, zeichnen sich hierzulande doch ähnliche Entwicklungsansätze ab.489 Sofern rechtsvergleichende Blicke aus Deutschland und Europa sich in der jüngeren Vergangenheit auf Whistleblowing-Sachverhalte in den USA richteten, galten sie freilich in erster Linie nicht dem eher nüchternen Problemkreis des Konkurrenzrechts, sondern zumeist einem deutlich effektgeladeneren Aspekt des US-amerikanischen Whistleblowing-Rechts: der staatlichen Auslobung finanzieller Whistleblower-Belohnungen.
G. Die Renaissance des False Claims Act und die Entstehung des finanziell inzentivierten Whistleblowings G. Die Renaissance des False Claims Act
I. Der False Claims Amendments Act von 1986 und seine Folgen 1.
Hintergrund und Entstehungsgeschichte des FCA von 1986
Während die Verbreitung des Whistleblower-Schutzes durch „adjunct statutes“, „public policy exception“ und „core statutes“ in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer weiter zunahm, stand es um die praktische Relevanz des ersten erfolgreichen Whistleblower-Gesetzes der USA nach dessen Reform aus dem Jahr 1943 für lange Zeit durchgängig schlecht. 490 Zwar fallen in die Zeit der Aufbruchsstimmung der frühen 1970er Jahre auch die ersten zaghaften Versuche, den False Claims Act wiederzubeleben und bei der administrativen Durchsetzung von Umweltschutzbestimmungen fruchtbar zu machen.491 Die entsprechenden Klagen von Umweltschutzorganisationen und
488 Auch Versuche, die Rechtslage wenigstens über einen unverbindlichen „Model Whistleblower Protection Act“ zu vereinheitlichen blieben bis jetzt erfolglos. Vgl. hierzu Vaughn/Devine/Henderson, 35 Geo. Wash. Int'l L. Rev. 857 (2003). 489 Hierzu ab Rn. 243 ff. 490 Vgl. France, 76 A.B.A. J., 46, 48 (1990) mit Verweis auf lediglich sechs Fälle pro Jahr. 491 Auslöser hierfür war ein Mitarbeitermemorandum des für Umweltschutz zuständigen Kongresskomitees, das durch die fehlerhafte Zitierung nicht einschlägiger Supreme Court Entscheidungen und die Nichtbeachtung wesentlicher Restriktionen sowohl des FCA als auch des wasserschutzrechtlichen Federal Refuse Act (33 U.S.C. §§ 407-13 (1970)) den fälschlichen Eindruck erweckt hatte, der FCA sei in seiner gegenwärtigen Form hierzu geeignet. S. Staff of Conservation & Natural Resources Subcomm. of the House Comm. on Gov’t Operations, 91st Cong., 2d Sess. (1970), Qui Tam Actions and the 1899 Refuse Act: Citizen Lawsuits Against Pollution of the Nation’s Waterways (Comm. Print 1970).
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Kapitel 2: Whistleblowing in den USA
anderen privaten Klägern wurden allerdings sämtlich abgewiesen.492 Paradoxer Weise war das einstige Flaggschiff des US-amerikanischen Whistleblowing-Rechts während eben jener Zeit, in der sich die administrative Einbindung von Whistleblowern immer mehr zum Standardrepertoire des Gesetzgebers entwickelte, fast vollständig in Vergessenheit geraten. 493 Gleiches galt weitestgehend auch für das Konzept der finanziellen Inzentivierung von Whistleblowern im Ganzen.494 Die Lage sollte sich allerdings mit Beginn der 1980er Jahre in entscheidender Weise ändern, nachdem die allgemeine Ausweitung der Befugnisse und Regulierungsfelder des Federal Government zu einer Gemengelage verschiedener einschneidender Entwicklungen geführt hatte, die den Ausgangsbedingungen des False Claims Act von 1863 in bemerkenswerterweise ähnelte.495 Bereits vor dem deutlichen Anstieg von Militärausgaben während der Endphase des Kalten Krieges unter der Reagan-Administration sah sich das Federal Government einem anscheinend ubiquitären Problem grassierenden Regierungsbetrugs gegenüber, ohne dass mit den zunehmenden Ausgaben der Regierung und der wachsenden Zahl von unabhängigen Agencies eine quantitative oder qualitative Steigerung administrativer Kontrollmechanismen einhergegangen wäre. 496 Anders als zu Zeiten des Bürgerkriegs beschränkten 492
Exemplarisch Connecticut Action Now, Inc. v. Roberts Plating Co., 457 F.2d 81, 84 (2d Cir. 1971) mit dem Hauptargument, dass private Rechtsdurchsetzung einer ausdrücklichen Anordnung bedürfe und sich diese im betroffenen Refuse Act gerade nicht finden lasse. S. ausführlich hierzu und zu anderen Gründen aus denen die Wiederbelebung des FCA Anfang der 1970er Jahre scheiterte Note, 1972 Wash. U. L. Q. 81, 81–82, 104–09 (1972). 493 Zu den Gründen bereits ausführlich oben, Rn. 20 ff. Nur vereinzelt finden sich in den Jahrzehnten nach den Amendments von 1943 jedenfalls in der wissenschaftlichen Diskussion entsprechende Beiträge, die auf das Potential des FCA zur Betrugsbekämpfung eingehen, s. etwa Note, 69 Harv. L. Rev. 1106 (1956); Note, 67 Nw. U. L. Rev. 446 (1972); Note, 52 S. Cal. L. Rev. 159 (1978). 494 S. Callahan/Dworkin, 37 Vill L. Rev. 271, 278–81 (1992) mit Nachweisen einiger weniger Gesetze bis Ende der 1980er Jahre, die allerdings schon allein wegen der geringen Höhe der Belohnung kaum Relevanz hatten. 495 I. Erg. ähnlich Boese, False Claims Vol. 1, § 1.04[A]; ebenfalls in diese Richtung Kochmann/Meguerian, 31 Am. Crim. L. Rev. 525, 533–34 (1994); Olson, 44 DePaul L. Rev. 1363, 1368 (1995); ferner Sylvia, Fraud Against the Government, § 2:9 mit Nachweisen v.a. aus der Kongressdebatte während des ersten Versuchs, den False Claims Act Anfang der 1980er Jahre in gewissem Rahmen wiederzubeleben (126 Cong. Rec. 4580 (1980), S. Rep. No 615, 96th Cong., 2d Sess. (1981)). Das Gesetzgebungsvorhaben fiel seinerzeit dem Ende der Legislaturperiode des 96. Kongresses zum Opfer. 496 Vgl. General Accounting Office, Fraud in Government Programs: – How Extensive is It? – How Can it Be Controlled, Vol 1 (1981), p. iv, abrufbar unter („widespread problem“ mit trotz hoher Dunkelziffer Verlusten von 150–200 Mio. US-Dollar in einem Untersuchungszeitraum von zweieinhalb Jahren); GAO, Fraud in Government Programms, Vol. 2 (1981), p. 7–24, 39–
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sich die Betrugsfälle hierbei nicht vornehmlich auf die Beschaffung von Militärmaterialien, sondern tauchten in den verschiedensten Kontexten auf. So traten an die Stelle minderwertiger Musketen und kranker Esel, die noch zu Mitte des 19. Jahrhunderts für entsprechende Empörung von Gesetzgeber und Öffentlichkeit verantwortlich waren, 497 nun beispielsweise Kaffeetassen für 7.000 US-Dollar pro Stück oder auch einfache Werkhammer zum Anschaffungspreis von 400 US-Dollar.498 Zunehmend dramatisch wurde die Lage dann aber spätestens Mitte der 1980er Jahre auf dem Feld militärischer Beschaffungsmaßnahmen. Nach Angaben des damaligen Generalinspekteurs waren im Jahr 1985 neun von zehn der größten militärischen Versorgungsunternehmen in eine Vielzahl von Betrugsfällen und laufende Verfahren verwickelt, was zusammen mit anderen illegalen Praktiken der Rüstungsindustrie zu Schätzungen von bis zu 10 Milliarden Dollar an jährlichen Budgetverlusten führte.499 Dem gegenüber stand eine traditionell unzureichend ausgestattete Bürokratie des Federal Government, welche mangels Zugriffs auf die administrativen Ressourcen der Einzelstaaten 500 dazu übergegangen war, nur noch stichprobenartig gegen Betrugsfälle und einschlägige Rechtsverstöße der einflussreichen Rüstungsindustrie vorzugehen. 501 Selbst soweit eingehende, offizielle Audits durchgeführt wurden, erschien es den Kontrolleuren regelmäßig unmöglich, einen hinreichend detailgenauen, authentischen Einblick in die tatsächlichen Herstellungs- und Vertriebspraktiken während des ordentlichen Geschäftsbetriebs zu erlangen.502 Etwa zur gleichen Zeit waren wiederum einige der sog. „public interest attorneys“ dazu übergegangen, in manchen Fällen mithilfe des seinerzeit fast
50, abrufbar unter , mit Analyse der verschiedenen Betrugsfelder- und Arten und deren jeweiligen Schadenshöhen; ferner aus der Entstehungsgeschichte der False Claims Act Amendments S. Rep. No. 345, 99th Cong., 2d Sess. (1986): Schäden i.H.v. 1% bis 10% des gesamten Bundeshaushalts. 497 Oben, Rn. 16. 498 131 Cong. Rec. H5135 (Jun. 27th, 1985); Helmer/Neff, 18 Ohio N.U. L. Rev. 35, 40 (1991). 499 S. Rep. No. 345, 99th. Cong., 2d Sess. (1986), p. 2–3 mit Verweisen auf die GAO Berichte (Fn. 496) und frühere Kongressanhörungen (Rn.495 a.E.). 500 Zu den verfassungsrechtlichen Hintergründen Rn. 34. 501 Vgl. S. Rep. No. 345, 99th Cong., 2d Sess. (1986), p. 7: „[…] perhaps the most serious problem plaguing effective enforcement is a lack of resources on the part of Federal enforcement agencies. Unlike most other types of crimes or abuses, fraud against the Federal Government can be policed by only one body--the Federal Government. State and local law enforcement are normally without jurisdiction where Federal funds are involved […] Federal auditors, investigators, and attorneys are forced to make 'screening' decisions based on resource factors.” 502 S. Rep. No. 345, 99th Cong., 2d Sess. (1986), p. 5, 6 m.w.N. aus den Anhörungen von Whistleblowern.
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vergessenen False Claims Act gegen den wachsenden Regierungsbetrug vorzugehen.503 Zwar bot das Gesetz in seiner damaligen Form nur in sehr seltenen Fällen Aussicht auf Erfolg. 504 Aus Sicht der Anwaltschaft barg er allerdings nichtsdestotrotz erhebliches Potential, ließ sich doch durch den „qui tam“-Mechanismus in einigen Ausnahmefällen ein für die Branche der „gemeinnützigen“ Privatanwälte ungewöhnlich hoher Profit erwirtschaften und hierdurch den Eigenarten des US-amerikanischen Prozesskostenrechts bei der typischerweise langwierigen Vertretung nicht selten finanzschwacher Whistleblower relativ wirksam begegnen.505 Der False Claims Act hatte hierdurch nach mehreren Jahren im rechtstatsächlichen Abseits seine eigene Lobby gefunden und traf durch die sich stetig zuspitzenden Probleme des Rüstungsbetrugs im Kongress zugleich auf den idealen Nährboden einer umfassenden Reform.506 Nachdem der erste Gesetzgebungsentwurf im August 1985 eingebracht worden war,507 nutzten die Befürworter des Gesetzes im Verbund mit den geladenen „public interest attorneys“ ihre Gelegenheit, um beide Gesetzgebungskammern von den Unzulänglichkeiten einer allein auf hoheitlichen Maßnahmen fußenden Kontrolle und den Vorteilen eines Rückgriffs auf Whistleblower bei der Aufdeckung und Verfolgung von Betrugsfällen zu überzeugen.508 Um dem zu erwartenden Widerstand aus den Reihen der In503
Der wohl aufsehenerregendste und jedenfalls teilweise erfolgreiche Fall war der des Rüstungs-Whistleblowers John Gravitt (s. Fn. 508). 504 France, 76 A.B.A. J., 46, 48 (1990), oben Rn. 25 f. 505 S. zur „American Rule“ des Kostentragungsrechts bereits oben, Fn. 172; zu Länge und Kostenaufwand vieler „qui tam“-Whistleblower-Verfahren, s. False Claims Act Amendments: Hearings Before the Subcomm. on Administrative Law and Governmental Relations, 99th Cong., 2d Sess. 405 (1986), p. 392, 395 (Anhörung John Phillips) mit entsprechender Problemschilderung. 506 Als eine der treibenden Kräfte und neben Sen. Grassley Hauptautoren der False Claims Act Amendments gilt der heutige US-amerikanische Botschafter zu Rom und frühere „public interest attorney“ John Phillips, vgl. False Claims Act Amendments: Hearings Before the Subcomm. on Administrative Law and Governmental Relations, 99th Cong., 2d Sess. 405 (1986), p. 392 et seq. (Anhörung John Phillips); Thompson, 8 Cal. Law 33 (1988); France, 76 A.B.A. J. 46 (1990). Soweit nicht durch schriftliche Quellen explizit belegt, gehen die hiesigen Ausführungen zu den Hintergründen der Amendments auf Gespräche des Autors mit Botschafter Phillips und verschiedenen WhistleblowingAnwälten aus den USA zurück. 507 Senate Bill 1562, 131 Cong. Rec. 22322 (Aug. 1, 1985). Parallel hierzu wurde ein entsprechendes Vorhaben auch im House of Representatives sowie durch die ReaganAdministration selbst eingebracht. Die Vorschläge unterschieden sich zwar in einigen Punkten, zeichneten sich in wesentlichen Bereichen allerdings alle durch die Verbesserung des Status quo aus und wurden später zu einem zusammengeführt. Im Einzelnen Sylvia, Fraud Against the Government, § 2:9; Salcido, 24 Pub. Cont. L. J. 237, 250–57 (1995). 508 Eine besondere Rolle spielte hierbei etwa der Fall des Mechanikers John Gravitt, der als Arbeitnehmer von General Electric einen großangelegten Abrechnungsbetrug u.a. im Zusammenhang mit der Herstellung von B1-Bombern offenlegte. Wenngleich die Methode
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dustrie sowie einer rechtsethisch begründeten Skepsis gegenüber finanziellen Zuwendungen für Whistleblower präventiv begegnen zu können, wurde dabei ganz bewusst auf die lange Rechtstradition des (False Claims) Whistleblowing in den USA abgestellt.509 Mehrere Elemente des Gesetzesvorschlags, welche ohne diese Kontextualisierung (mit Recht) als einschneidende Neuerung empfunden worden wären, stießen hierdurch ganz im Sinne des Prinzips positiver Pfadabhängigkeit auf kaum nennenswerten Widerstand. 510 Wiewohl die wahre Tragweite der Amendments den meisten Beteiligten nicht bewusst gewesen sein dürfte, trat der False Claims Amendments Act von 1986 daher etwas mehr als ein Jahr nach Ausarbeitung der ersten Entwürfe unter breiter Zustimmung des Kongresses in Kraft. 511 Während die in der Gesetzgebungsgeschichte verwendete Bezeichnung des FCA als „the Government's primary litigative tool for combatting fraud“ 512 zum damaligen Zeitpunkt noch eine bestenfalls beschönigende Titulierung ohne rechtstatsächlichen Gegenwert war, sollte sie sich schon bald als eine der einflussreichsten selbsterfüllenden Prophezeiungen der US-amerikanischen Rechtsgeschichte und des modernen Whistleblowing-Rechts erweisen.
des Betrugs wenig raffiniert war, hatten die Verantwortlichen bei GE wenig Mühe, sie vor den Kontrollen der Regierung zu verbergen. S. False Claims Act Amendments: Hearings Before the Subcomm. on Administrative Law and Governmental Relations, 99th Cong., 2d Sess. 405 (1986), p. 339–342 (Anhörung John Gravitt), p. 343–392 (Anhörung seines Anwalts James Helmer); Fall zusammengefasst bei Helmer/Neff, 18 Ohio N.U. L. Rev. 35, 40–44, 59 (1991). 509 Anders als heute wurde die Idee, Whistleblower mit Geld zum „Verrat“ zu motivieren, zu dieser Zeit selbst von Befürwortern des Whistleblowings keinesfalls nur positiv betrachtet und von nicht wenigen abgelehnt. Vgl. die Nachw. aus der sozialwissenschaftlichen Literatur bei Dworkin/Callahan, 29 Am. Bus. L. J. 267, 299–304 (1991) mit entsprechenden Unterscheidungen zwischen „echten“ und finanziell motivierten Whistleblowern; sowie Callahan/Dworkin, 37 Vill. L. Rev. 273, 318–36 (1992). 510 Vgl. S. Rep. No. 345, 99th Cong., 2d Sess. (1986), p. 4: wonach der Zweck der Amendments lediglich in einer Korrektur restriktiver Gerichtsentscheidungen nach 1943 bestünde; sowie die ausführlichen Darstellungen zur Geschichte des FCA unter Rn. 15–26; ferner Sen. Grassley, False Claims Act Amendments: Hearings Before the Subcomm. on Administrative Practice and Procedure of the Committee on the Judiciary, 99th Cong., 1st Sess. (1985), S. Hrg. 99-452, mit Verweis auf Abraham Lincoln als vermeintlicher „chief source of inspiration“ des „Abe Lincoln law“; zur Widerlegung dieser Behauptung bereits oben, Fn. 103, 111. 511 Act of October 27, 1986 – False Claims Act Amendments Act of 1986, 99th Cong., 1st Sess., 100 Stat. 3153, heute 31 U.S.C. §§ 3729-33. Da die im Folgenden dargestellten Kernelemente der Amendments von 1986 im Wesentlichen bis heute gleich geblieben sind, wird auf Nachweise aus dem Originalgesetz in 100 Stat. 3153 weitgehend verzichtet und stattdessen auf ihren aktuellen Standort im United States Code Bezug genommen. 512 S. Rep. No. 345, 99th Cong., 2d Sess. (1986), p. 2.
126 2.
Kapitel 2: Whistleblowing in den USA
Zentrale Bestimmungen der Amendments von 1986
Um die Effizienz des False Claims Act bei der Bekämpfung des Regierungsbetrugs möglichst weitreichend zu verbessern, nahm die finale Version des False Claims Amendments Act von 1986 in nahezu allen relevanten Bereichen des FCA einschneidende Veränderungen vor. Als Blaupause dienten hierbei nicht nur die Ursprungsversion des Gesetzes von 1863, sondern nicht zuletzt die Erfahrungen von Whistleblowern, ihren Anwälten und zuständigen Behörden bezüglich der spezifischen Unzulänglichkeiten des bisherigen Gesetzes sowie den allgemeinen Voraussetzungen einer erfolgreichen Einbindung privater Informationsträger bei der Rechtsdurchsetzung.513 Die noch heute gültigen und vielfach reproduzierten Weichenstellungen lassen sich grob in vier unterschiedliche Bereiche unterteilen: Ein Teil der Reformen galt der Absenkung materiell- und prozessrechtlicher Hürden im Rahmen des Nachweises eines „false claims“, welche sich in der Praxis als besonders problematisch erwiesen hatten. Das betrifft insbesondere die Absenkung des Vorsatzgrades im subjektiven Tatbestand der Norm, für den viele Gerichte gemäß des (strafrechtlichen) Betrugsbegriffs eine Betrugsabsicht gefordert hatten,514 auf eine bloße Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis der Unrichtigkeit des geltend gemachten Anspruchs.515 Hierdurch sollte primär erfahrungsgemäßen Problemen der Wissenszurechnung und praktischen Beweisführung begegnet werden, denen sich Nachweise eines absichtsvollen Handelns von Management-Akteuren in arbeitsteiligen Organisationen naturgemäß gegenübersehen.516 Ganz in diesem Sinne wurde auf prozessualer Ebene die gesetzesweite Anwendbarkeit des zivilrechtlichen Beweisstandards der überwiegenden Wahrscheinlichkeit angeordnet. 517 513 Vgl. S. Rep. No. 345, 99th Cong., 2d Sess. (1986) m.w.N. zu entsprechenden Erfahrungssätzen und relevanten Akteuren. 514 United States v. Priola, 272 F.2d 589, 594 (5th Cir. 1959); United States v. Mead, 426 F.2d 118, 123 (9th Cir. 1970); United States v. Aerodex, Inc., 469 F.2d 1003, 1006–07 (5th Cir. 1972) m.w.N. auch zur Gegenansicht. 515 31 U.S.C. § 3729(a)(1)(B): „For the purpose of this section, the terms “knowing” and “knowingly” mean that a person […] has actual knowledge of the information; acts in deliberate ignorance […] or acts in reckless disregard of the truth or falsity or the information; and require no proof of specific intent to defraud.“ Gerechtfertigt wurde diese Modifikation mit dem kompensatorischen und damit zivilrechtlichen Charakter des FCA, S. Rep. No. 345, 99th Cong., 2d Sess. (1986), p. 6–7. Der repressive Charakter der Bußgeldvorschriften blieb hierbei freilich unerwähnt. 516 S. Rep. No. 345, 99th Cong., 2d Sess. (1986), p. 7. 517 31 U.S.C. § 3731(d)(„preponderance of the evidence“); hierzu Boese, False Claims Vol. 1, § 1.04[B][C]; Callahan/Dworkin, 37 Vill L. Rev. 271, 278–81, 308 (1992). Zuvor waren Gerichte wegen des öffentlich-rechtlichen Hybridcharakters des FCA häufig von einem „clear and convincing evidence standard“ ausgegangen und haben damit die Erfolgsaussichten von Klagen deutlich reduziert, s. etwa United States v. Foster Wheeler Corp., 447 F.2d 100, 101 (2d Cir. 1971); anders allerdings bereits Federal Crop Ins.
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Ein weiterer Teil der Reformen beschäftigte sich mit den gesetzlichen Ausschlusskriterien der Amendments von 1943, wobei die damals eingeführte „government knowledge bar“ gänzlich abgeschafft wurde, nachdem sie in der Vergangenheit eine Vielzahl restriktiver Gerichtsentscheidungen provoziert hatte. Diese nahmen in letzter Konsequenz nahezu jedes vorherige Wissen der Exekutive zum Anlass, dem Whistleblower den Zugang zu den Gerichten zu versperren518 – selbst dann, wenn die Qualität der bereits bekannten Informationen gering war, diese innerhalb der verzweigten Exekutive unbeachtet blieben oder sie allein vom Whistleblower selbst stammten.519 An ihre Stelle trat eine zweistufige Prüfung, in deren Ausgestaltung die Erfahrungen mit den bisherigen False Claims Acts, die Gesetzgebungsgeschichte der Amendments von 1943 und die gesammelten Erfahrungen bei der Differenzierung zwischen informationsdienlichen Insider-Whistleblowern und „parasitären“ Glücksrittern einfließen sollte. Auf erster Stufe war unter den Amendments von 1986 nun mittels einer sog. „public disclosure bar“ zu prüfen, ob die „qui tam“-Klage auf Informationen beruht, welche bereits öffentlich bekannt und damit den Behörden frei zugänglich waren, namentlich in Form von Gerichts- und Ermittlungsverfahren, offiziellen Anhörungen, staatlichen Gutachten oder einschlägigen Medienberichten.520 Ein vorheriges Wissen des Staates konnte damit nur noch dann zur Ablehnung der „qui tam“Klage führen, wenn die relevanten Informationen bereits konkreten Niederschlag in einer dem Justizministerium zugänglichen Quelle gefunden hatten.521 Ganz im Sinne dieser Ratio hat der Gesetzgeber im Jahr 2010 nach einer Reihe eher restriktiver Entscheidungen522 klargestellt, dass zu den staatlichen Quellen nur solche auf Bundesebene zählen, also nicht etwa Akten lokaler Behörden oder zivilrechtlicher Privatverfahren ohne Beteiligung des Corp. v. Hester, 765 F.2d 723, 727 (8th Cir. 1985) m.w.N. Diese Praxis änderte sich relativ bald nach Inkrafttreten der FCA Amendments durch die deutliche Anordnung im heutigen 31 U.S.C. § 3731(d). 518 Die „government knowledge bar“ war mit einer sog. „jurisdictional bar“ ausgestattet, d.h. entsprechende Klagen wurden bereits im Stadium der Zulässigkeit aussortiert. An diesem einmal beschrittenen Pfad hat der Gesetzgeber – ohne gesonderte Begründung – bis heute festgehalten, 31 U.S.C. § 3730(e)(4). Zum FCA von 1943 im Einzelnen oben, Rn. 20 ff. 519 Oben, Rn. 24, v.a. Fn. 165 und 174. Insbesondere die kurz vor den Amendments ergangene Entscheidung United States ex rel. State of Wisconsin v. Dean, 729 F.2d 1100 (7th Cir. 1984) hatte insofern offenbar einen wesentlichen Einfluss auf die Liberalisierungsabsichten des Gesetzgebers, S. Rep. No. 345, 99th Cong., 2d Sess. (1986), p. 12, 13. 520 100 Stat. 3153, 3157 (1986). Die (abschließende) Aufzählung der ursprünglichen Fassung entspricht bis auf die klarstellende Einfügung des Wortes „federal“ und dem Einspruchsrecht des Federal Government der heutigen Version in Fn. 523. 521 Friedman/Hurlock/Sylvia, 43 False Cl. Act and Qui Tam Q. Rev. 15 (2006). 522 S. bereits United States ex rel. Doe v. John Doe Corp., 960 F.2d 318, 321–23 (2d Cir. 1992); ausführlich m.w.N. Stengle, 33 Del. J. Corp. L. 471, 482 et seq. (2008).
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Bundes, von welchen das Justizministerium und seine Behörden nur schwerlich Kenntnis erlangt hätten. 523 Selbst für den Fall, dass die Informationen des Whistleblowers nach der „public disclosure bar“ für klageuntauglich eingestuft werden würden, sahen die Amendments von 1986 zudem eine zweite Stufe der Eingangskontrolle zugunsten von Whistleblowern mit „originären“ Verstoßinformationen vor, die sog. „original source exception“. War die Idee einer Ausnahme für all jene Personen, die über substantielle Informationen aus erster Hand verfügten, im Jahr 1943 noch aus ungeklärten Gründen nicht ins Gesetz übernommen worden,524 stand nun jedem Meldenden mit „direct and independent knowledge“ der Weg zu den Gerichten offen. 525 Damit richtete sich die Anreizwirkung des FCA zum ersten Mal explizit an jene Whistleblowingtypischen Gruppen von Arbeitnehmer-Insidern, welche durch ihre unternehmensinterne Position über eben jene Art und Qualität von prozessual belastbaren Informationen verfügten, wie sie eine Behörde mit klassischen öffentlich-rechtlichen Instrumentarien typischerweise kaum erlangen konnte. Wie demgemäß zu erwarten war, entwickelte sich die „original source exception“ zu einer regelmäßig in Anspruch genommenen Ausnahmebestimmung und erwies sich hierdurch als ein wesentlicher Entwicklungsschritt des finanziell inzentivierten Whistleblowings.526 Eine zusätzliche Liberalisierung erfuhr die Norm im Jahr 2010, nachdem einige Rechtsprechungslinien das Kriterium der „direkten“ Informationen im wörtlichen Sinne einer direkten Verstoßerfahrung des Whistleblowers ausgelegt hatten,527 weswegen mittlerweile ausdrücklich alle (Insider-)Informationen als Grundlage einer „qui tam“-Klage dienen können, die ihrer Natur nach wesentlich zur Verstoßverfolgung beitra-
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31 U.S.C. § 3730(e)(4): „The court shall dismiss an action or claim under this section, unless opposed by the Government, if substantially the same allegations or transactions as alleged in the action or claim were publicly disclosed (i) in a Federal criminal, civil, or administrative hearing in which the Government or its agent is a party; (ii) in a congressional, Government Accountability Office, or other Federal report, hearing, audit, or investigation; or (iii) from the news media, unless the action is brought by the Attorney General or the person bringing the action is an original source of the information.“ 524 Oben, Rn. 24, S. Rep. No. 345, 99th Cong., 2d Sess. (1986), p. 12. 525 100 Stat. 3153, 3157 (1986). 526 Vgl. zu den zahlreichen Fällen rund um die „original source exception“ Hinshaw, 117 A.L.R. Fed. 263, § 5.5-7 (1994/2016). 527 Einige Gerichte waren dazu übergegangen, nur solche Informationen als „direct“ anzusehen, die der Whistleblower durch unmittelbare Erlebnisse „mit eigenen Augen“, also nicht etwas über andere Mitarbeiter oder Schlussfolgerungen aus Dokumenten, erworben hatte, s. etwa United States ex rel. Barth v. Ridgedale Electric, Inc., 44 F.3d 699, 703; in diese Richtung auch der U.S. Supreme Court in Rockwell Intern. Corp. v. United States, 549 U.S. 457, 475–76 (2007); zur Kritik an dieser Rechtsprechung Cohen, 60 Mercer L. Rev. 701, 718–26 (2009) m.w.N.
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gen können (sog. „materially adds requirement“).528 An der grundsätzlichen Konzeption einer gezielten Inzentivierung von Informationen aus erster Hand und der Erkenntnis des US-amerikanischen Gesetzgebers, dass Whistleblower und ihr Insiderwissen auch nach der initialen Entdeckung von Rechtsverstößen von entscheidendem Wert für die Behörden sein können, hat dies freilich nichts geändert.529 Der letzte und wohl bedeutendste Teil der Reform galt allerdings nicht den jeweiligen Klagevoraussetzungen des „qui tam“-Mechanismus, sondern betraf die Zusicherung einer garantierten Whistleblower-Belohnung, welche im Rahmen der Amendments des Jahres 1943 noch herabgesetzt und in das freie Ermessen der Gerichte gestellt worden war. 530 Insbesondere die letztgenannte Modifikation stand dabei in begründetem Verdacht, in den Jahren zuvor einen entscheidenden Anteil am Rückgang von „qui tam“-Klagen gehabt zu haben, sahen Whistleblower sich neben einem ungewissen Verfahrensausgang und tendenziell hohen Anwaltskosten doch stets mit dem Risiko konfrontiert, selbst im Erfolgsfall keine oder nur eine kompensatorisch unzureichende Absicherung zu erhalten. Eingedenk der Tatsache, dass „qui tam“-Klagen notwendigerweise einen Unterfall des vollständig identitätsoffenen Whistleblowings bilden, erscheint keineswegs fernliegend, dass die Eintrittswahr528
Die aktuelle Version von 31 U.S.C. § 3730(e)(4)(B) lautet: „For purposes of this paragraph, “original source” means an individual who either (i) prior to a public disclosure […] has voluntarily disclosed to the Government the information on which allegations or transactions in a claim are based, or (2) who has knowledge that is independent of and materially adds to the publicly disclosed allegations or transactions, and who has voluntarily provided the information to the Government before filing an action under this section.“ 529 In der Literatur wurde und wird die Streichung des „direct knowlege“ als vermeintliche Abkehr von der Idee des reinen Insider-Wissens zum Teil heftig kritisiert und mit Verweis auf die angeblich gestiegene Zahl unbegründeter Klagen eine katastrophale Wiederkehr „parasitärer“ „qui tam“-Kläger prophezeit, s. Cohen, 116 Penn St. L. Rev. 77, 96– 103 (2011); Matthew, 69 Wash. & Lee L. Rev. 409 (2012); Alexion, 69 Wash. & Lee L. Rev. 365, 403–07 (2012). Betrachtet man allerdings das statistische Verhältnis über die Jahre zwischen „qui tam“-Klagen mit und ohne Behördenunterstützung (Fn. 77 ff.) und wertet die entsprechende Rechtsprechung aus, die über das „materially adds“-Kriterium eher noch etwas restriktivere Ergebnisse erzielt hat, wird man diesen Annahmen so nicht folgen können. Vgl. United States ex rel. Osheroff v. Humana, Inc., No. 10-24486, 2012 WL 4479072, 11–12 (S.D. Fla. 2012); U.S. ex rel. Beauchamp v. Academi Training Ctr. Inc., 933 F. Supp.2d 825, 843 (E.D.Va.2013); United States ex rel. Paulos v. Stryker Corporation, 762 F.3d 688, 694–96 (8th Cir. 2014); United States ex rel. Osheroff v. Humana, Inc., 776 F.3d 805, 815 (11th Cir. 2015); teilweise lassen die Gerichte dabei erkennen, dass ihrer Auffassung nach die zentralen Wertungen und damit der materielle Standard im Wesentlichen gleich geblieben seien, Lockey v. City of Dallas, Tex., No. 11-354, 2013 WL 268371, 16 (N.D. Tex. 2013). Aus der Literatur, die schon vor 2010 in regelmäßigen Abständen Bedenken wegen zu vieler unbegründeter Klagen vorgebracht hat, Broderick, 107 Colum. L. Rev. 949 (2007). 530 Oben, Rn. 24.
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scheinlichkeit typischer Whistleblowing-Risiken, wie etwa (oft schwer justiziables) Mobbing, letztendlicher Arbeitsplatzverlust oder nachwirkendes „blacklisting“, in der Tat nicht unwesentlich erhöht war und viele potentielle Whistleblower von einer Klageerhebung abgehalten hatte.531 Das neue Gesetz sah dementsprechend nun vor, dass der Whistleblower bzw. „relator“532 bei allen erfolgreichen Klagen, denen das Justizministerium533 (bzw. die lokale Staatsanwaltschaft) zuvor beitritt, einen Anteil von mindestens 15% und höchstens 25% an allen aus der Klage resultierenden Erlösen erhalten sollte.534 Trat die Behörde nicht bei, konnte der Whistleblower sogar mit einem Anteil zwischen 25% und 30% rechnen. 535 Als Bezugsgröße der prozentualen Beteiligung dienen seit 1986 statt des ursprünglichen, doppelten Schadensersatzes ein Dreifachschadenersatz („treble damages“) sowie ein Bußgeld i.H.v. 5.000–10.000 Dollar536 für jede einzelne Verletzung des Gesetzes.537 Hierdurch konnten sich „qui tam“-Kläger zum ersten Mal seit 1943 relativ sicher sein, dass ihre wirtschaftliche Existenz durch einen Erfolg vor Gericht zumeist abgesichert war und für die Aufdeckung außergewöhnlich großer Betrugsskandale sogar ein mitunter erheblicher finanzieller Gewinn in Aussicht stand.538 531 So auch die entsprechenden Erfahrungswerte des „public interest attorneys“ John Phillips, s. False Claims Act Amendments: Hearings Before the Subcomm. on Administrative Law and Governmental Relations, 99th Cong., 2d Sess. 405 (1986), p. 392, 410, 412 (Anhörung John Phillips); S. Rep. No. 345, 99th Cong., 2d Sess. (1986), p. 28 (Prämie als Anerkennung für die Risiken und Opfer, die der Whistleblower auf sich genommen hat und Reduzierung der Risiken für potentielle Whistleblower). Zu empirisch typischen Vergeltungsfolgen des Whistleblowings bereits oben, Rn. 8. 532 Der Begriff leitet sich aus der prozessualen Einkleidung von „qui tam“-Fällen als Klagen „ex relatio“ ab, m.a.W. Klagen aus Beziehung zu bzw. im Namen von jemand anderem (hier des Staates), und hat sich im Laufe der Jahre zu einer gängigen Bezeichnung für „qui tam“-Whistleblower entwickelt. Hierin liegt zugleich der Grund für den gängigen „ex rel.“-Zusatz vieler im Folgenden zitierter Urteile. 533 Die Zuständigkeit des Justizministeriums bzw. des Attorney General ergibt sich aus 31 U.S.C. § 3730(a). 534 31 U.S.C. § 3730(d)(1). 535 31 U.S.C. § 3730(d)(2). 536 Die Bußgelder sind allerdings Gegenstand des Federal Civil Penalties Adjustment Act of 1990 und werden daher in gewissen Abständen inflationsbereinigt, so dass mit der 10%igen Anhebung im Jahr 1999 Bußgelder i.H.v. 5.500 US-Dollar bzw. 11.000 USDollar erhoben werden. 28 U.S.C § 2461, 28 CFR § 85.3(a)(9). 537 Sowohl die Bemessungsgrundlage und Höhe der Zahlungen durch die verklagte Partei als auch die Einzelheiten der Beteiligung des Whistleblowers haben im Laufe der Jahre verständlicherweise zu einer Vielzahl von einzelnen Streitpunkten und Urteilen geführt, die hier nicht näher behandelt werden sollen. S. Sylvia, Fraud Against the Government, § 6-8 m.w.N. 538 Allein in Fällen, in denen die wesentlichen Informationen primär aus Regierungsmaterialien oder den Medien stammen, ist keine Mindestbeteiligung sowie eine Beschränkung
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Der konkrete Prozentsatz, nach dem der Whistleblower innerhalb der vorgegebenen Spanne beteiligt werden sollte, bemisst sich dabei gemäß überwiegender Rechtsprechung primär an den sog. „senate factors“,539 nach welchen die Relevanz und Qualität der jeweiligen Insider-Informationen,540 der Erfolgsbeitrag des Whistleblowers während der gesamten Dauer des Verfahrens541 und der Kenntnisstand der Behörden vor deren Inkenntnissetzung durch den Whistleblower entscheidend sind.542 Daneben werden von der Rechtsprechung teilweise auch personenspezifische Faktoren (explizit oder implizit) in die Berechnung der Endsumme mit einbezogen, namentlich wenn die nach üblicher Berechnungsmethode vorgesehene Belohnung für eine auf lediglich 10% vorgesehen, 31 U.S.C. § 3730(d)(1), S. 2. Schon wegen der Zulässigkeitsbeschränkungen in 31 U.S.C. § 3730(e) (hierzu sogleich) kommt dieser Bestimmung in der Praxis allerdings keine wirkliche Bedeutung zu. 539 Diese Faktoren beruhen auf einer historischen Interpretation des FCA gemäß den Erwägungen des Senats im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens, S. Rep. No. 345, 99th Cong., 2d Sess. (1986), p. 28. Daneben existiert eine wesentlich ausdifferenzierte Auflistung des Justizministeriums, die sog. „DOJ Relator’s Share Guidelines”, 11 False Cl. Act and Qui Tam Q. Rev., 17–19 (Oct.1997). Als nicht bindende Empfehlungen der Exekutive wird ihnen von den Gerichten allerdings sehr unterschiedliche Bedeutung beigemessen, vgl. U.S. ex rel. Alderson v. Quorum Health Group, Inc., 171 F. Supp. 2d 1323, 1334 (M.D. Fla. 2001) „[The DOJ guidelines] suffer […] theoretical problems and are noticeably unhelpful“); U.S. ex rel. Shea v. Verizon Communications, Inc., 844 F. Supp. 2d 78, 84 (D.D.C. 2012) (explizite Berücksichtigung von jedem der 25 Faktoren); differenzierend U.S. ex rel. Johnson Pochard v. Rapid City Regional Hosp., 252 F. Supp. 2d 892, 901 (D.S.D. 2003) („Several criteria are […] useful considerations when determining the relator's share“). 540 Für eine höhere Beteiligung wird regelmäßig erwartet, dass den Informationen zentrale Bedeutung für eine erfolgreiche Verurteilung zukommt, U.S. ex rel. Alderson v. Quorum Health Group, Inc., 171 F. Supp. 2d 1323, 1332 (M.D. Fla. 2001) m.w.N. („[Information which] formed the enduring foundation upon which […] recovery stands”). 541 31 U.S.C. 3730(d)(1), S. 1: „[The share depends] upon the extent to which the person substantially contributed to the prosecution of the action.“ Dieser Faktor ist nicht nur der einzige, der es in den unmittelbaren Wortlaut des Gesetzes geschafft hat, sondern (ganz in der kooperativen Tradition des US-amerikanischen Whistleblowings) auch derjenige, dem Gerichte oft besondere Bedeutung beimessen. Vgl. U.S. ex rel. Virgin Islands Housing Authority v. Coastal General Const. Services Corp., 299 F. Supp. 2d 483 (D.V.I. 2004): U.S. ex rel. Alderson v. Quorum Health Group, Inc., 171 F. Supp. 2d 1323, 1336 (M.D. Fla. 2001); U.S. ex rel. Johnson Pochard v. Rapid City Regional Hosp., 252 F. Supp. 2d 892, 898 (D.S.D. 2003), jeweils mit Prozentsätzen im Maximalbereich wegen der erheblichen Anstrengungen und Ressourcen, die der „qui tam“-Kläger während des Prozesses aufgebracht habe. 542 United States ex rel. Fox v. Northwest Nephrology Assoc., 87 F. Supp.2d 1103, 1112 (E.D.Wash.2000); Pochard v. Rapid City, 252 F. Supp. 2d at 892, 899 (D.S.D. 2003). Hierbei finden sowohl tatsächliche als auch hypothetische Erwägungen Berücksichtigung, als bspw. ob die Behörden die Betrugsmethode an sich kannten, generell in diesem Bereich ermittelten und die Vorgänge evtl. selbst aufgedeckt hätten.
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Einzelperson unbillig hoch erscheint, der Whistleblower durch die Meldung besondere persönliche Nachteile erlitten oder er den Zeitpunkt der Meldung unnötig verzögert hat, um hierdurch z.B. die Qualität seiner Informationen – und damit seine Belohnung – zu verbessern.543 Diese personalen Faktoren haben in der Praxis allerdings deutlich weniger Bedeutung erfahren als die drei oben genannten Kriterien, was bezüglich des letztgenannten Faktors vor allem daran liegt, dass der FCA mit der sog. „first-to-file bar“ eine (vielleicht zu)544 einschneidende Bestimmung zur Inzentivierung möglichst frühzeitiger Meldungen enthält. Stützt nämlich ein Whistleblower seine „qui tam“-Klage auf die gleichen wesentlichen Informationen („material elements“) wie eine bereits anhängige Klage, hat dies die Unzulässigkeit der Klage und damit die völlige Versagung einer entsprechenden Belohnung zur Folge. 545 In Kombination mit der Kooperationsbereitschaft des Whistleblowers als wesentlichem Bemessungskriterium sollte dies zur Folge haben, dass Whistleblowern bzw. den sie beratenden Anwälten ein intensiver Anreiz gesetzt wurde, alle Informationen möglichst früh mit den Behörden zu teilen und weitere Untersuchungen zur Verbesserung der Informationsbreite und –qualität erst im Anschluss zu unternehmen. 546 Es sollte sich bald zeigen, dass die Gesetzesänderungen nicht nur den Whistleblowern selbst, sondern im Laufe der Zeit auch eine zunehmend spezialisierte und qualitativ hochwertige Anwaltschaft motivierte, aktiv am Verfahren mitzuwirken. Die z.T. erheblichen Honorarerwartungen, zusammengesetzt aus den nun gesetzlich zu erstattenden Anwaltskos-
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Die Grundlage dieser Zusatzfaktoren sind zumeist die sog. „DOJ Relator’s Share Guidelines“, deren mangelnde Verankerung in Gesetzeswortlaut und Entstehungsgeschichte dazu führt, dass sie teilweise erheblicher Kritik ausgesetzt sind und von vielen Gerichten nicht anerkannt werden (s. Nachw. in Fn. 539). 544 Das durch die „first-to-file bar“ statuierte „Alles oder Nichts“-Prinzip hat bis heute zur Folge, dass Praktiker selbst bei inhaltlich noch vagen Informationen zu einer sofortigen Meldung raten, was wiederum zu relativ umfangreichen Gerichtsentscheidungen bzgl. der notwendigen Qualität der Erstinformation und teilweise zur Desinzentivierung klassischer Insider-Whistleblower geführt hat. Vgl. hierzu statt vieler Deuth, 62 Cath. U. L. Rev. 795 (2013); Howe, 113 Mich. L. Rev. 559 (2015) m.w.N. Vor diesem Hintergrund hat das SEC-Whistleblower Program des Dodd-Frank Act später von einer rigiden „first-to-file bar“ abgesehen. S. Rn. 191. 545 31 U.S.C. 3730(b)(5): „When a person brings an action under this subsection, no other person other than the Government may intervene or bring a related action based on the facts underlying the pending action.“ 546 Vgl. aus der mittlerweile zahlreichen Rechtsprechung zum sog. „material elements test“ und dem Abschreckungseffekt, den dieser für Verzögerungen der Informationsweitergabe gehabt hat United States ex rel. Lujan v. Hughes Aircraft, 243 F.3d 1181, 1187–90 (9th Cir. 2001); United States ex rel. Batiste v. SLM Corp., 659 F.3d 1204, 1208–11 (D.D.C. 2010); Walburn v. Lockheed Martin Corp., 431 F.3d 966, 971–74 (6th Cir. 2005); ferner Boese, False Claims Vol. 1, § 4.03[C].
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ten547 und diversen Formen von Gewinnbeteiligungsabsprachen mit Mandanten, sorgten dafür, dass das Gesetz für eine Reihe von Anwälten unterschiedlichsten Typs attraktiv wurde und sich die Spitze der sog. „qui tam bar“ später nicht nur aus dem Kreis der „public interest attorneys“ rekrutieren konnte.548 Gemeinsam mit bereits bestehenden Whistleblowing-Initiativen trug die Anwaltschaft schon in den Anfangsjahren der Amendments zum Erfolg des FCA bei, indem sie für eine Steigerung des öffentlichen Bekanntheitsgrads des FCA sorgte und seitdem als spezialisierte und einflusssreiche Anlaufstelle für Whistleblower fungiert.549 Über die materiellen Verbesserungen der Klagevoraussetzungen und Inzentivierungsmechanismen hinaus nahm der Gesetzgeber ferner als letztem Reformteil zahlreiche Änderungen auf dem Gebiet der Binnenkooperation zwischen Justizbehörden und Whistleblowern vor. Dabei entschied er sich – trotz gewisser Bedenken des Justizministeriums – an der grundsätzlichen Struktur der „qui tam“-Klage und damit der eigenständigen Verfahrensrolle von Whistleblowern bei der Verfolgung von Betrugsvorfällen festzuhalten. Hintergrund hierfür war zum einen die bisher offenkundig mangelhafte Erfolgsquote der Justizbehörden bei der Verfolgung von Regierungsbetrug,550 zum anderen die Hoffnung, dass durch die aktive Beteiligung von Whistleblowern und deren typischerweise langanhaltendem Interesse an der abschließenden Ahndung der von ihnen aufgedeckten „false claims“ die Effektivität und Effizienz der Betrugsbekämpfung steigern könnte. 551 Um die Ab547
31 U.S.C. 3730(d)(1), S. 4, 5. Indem der Gesetzgeber ausnahmsweise dem Beklagten die Anwalts- und sonstigen Kosten des Klägers auferlegte, begegnete er den oben geschilderten Bedenken der „public interest attorneys“, S. Rep. No. 345, 99th Cong., 2d Sess. (1986), p. 29. 548 France, 76 A.B.A. J., 46, 49 (1990). Auch klassischen „public interest attorneys“ mangelte es nicht an Kreativität, um die durch „qui tam“-Klagen zur Verfügung stehenden Ressourcen in ihrem Sinne zu nutzen. Der Haupteinflussgeber des Acts, John Phillips, vereinbarte mit seinen Mandanten bspw. regelmäßig, dass diese ihre Informationen mit „public interest groups“ teilten, so dass jene dann als weitere Kläger im Verfahren auftauchen und ihre eigene Belohnung einstreichen konnten (s. ebd.). 549 Insoweit ähnlich Callahan/Dworkin, 37 Vill L. Rev. 271, 317 (1992). Der Einfluss der sog. „qui tam bar“ sollte mit dem Erfolg des FCA noch steigen und schließlich u.a. bei der Entwicklung des Dodd-Frank Act von großer Bedeutung sein, s. hierzu Rn. 181. Zur wichtigsten Whistleblower-Initiative in den USA, dem GAP, bereits oben, Fn. 240. 550 S. Rep. No. 345, 99th Cong., 2d Sess. (1986), p. 3, wo den Behörden mit Verweis auf die Ergebnisse des GAO Reports (Fn. 496) weitreichendes Versagen attestiert wird. 551 S. False Claims Act Amendments: Hearings Before the Subcomm. on Administrative Law and Governmental Relations, 99th Cong., 2d Sess. 405 (1986), p. 392, 395 (Anhörung John Phillips in Reaktion auf einen vorherigen Entwurf, der das Justizministerium zur alleinigen Herrin des Verfahrens gemacht hätte); S. Rep. No. 345, 99th Cong., 2d Sess. (1986), p. 16. Aus politischer Sicht bot die Rekrutierung privater Ressourcen bei der Betrugsbekämpfung natürlich auch den nicht zu unterschätzenden Vorteil, dass hierdurch keine steuergedeckte Anhebung des Justizetats notwendig wurde. Die „Rechnung“ für
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stimmung zwischen Regierung und Whistleblower weiter zu verbessern,552 sieht das Gesetz seit 1986 nicht nur vor, dass die Klageschrift einschließlich aller relevanten Beweise an die Behörden zu übermitteln ist, sondern zugleich, dass die Klage selbst für die Dauer von 60 Tagen unter Verschluss gehalten werden muss.553 Hierdurch wird der Behörde ein konkretes Zeitfenster gewährt, um den zugrundeliegenden Sachverhalt zu eruieren, sich mit dem Whistleblower bzw. anderen öffentlichen Stellen abzustimmen und ggf. zu verhindern, dass das angestrebte „qui tam“-Verfahren negative Konsequenzen auf laufende strafrechtliche Ermittlungen nach sich ziehen könnte.554 Entschließt sich die Behörde innerhalb dieser Frist, der Klage des Whistleblowers beizutreten, bleibt der private Kläger zwar befugt, Beweisanträge und andere Prozesshandlungen vorzunehmen, kann hieran aber durch die Behörde aus konkreten Gründen gehindert werden. 555 Auf der anderen Seite dient die Reaktionsfrist von 60 Tagen dazu, die öffentliche Verwaltung über die privaten Interessen des Whistleblower zu disziplinieren, indem sie durch ihn zu zügigem und effektivem Vorgehen angehalten wird.556 In der Tradition des US-amerikanischen Whistleblowing-Rechts verfolgte das Gesetz damit den übergeordneten Ansatz einer möglichst effizienten Überwindung staatlicher Informations- und Durchsetzungsdefizite durch eine koordinierte Nutzung unternehmensinterner Informationsvorsprünge und administrativer Durchsetzungsbefugnisse. Zu guter Letzt brachten die Amendments von 1986 den False Claims Act auch an anderer Stelle auf den neusten Stand der Regulierungstechnik, indem sie in 31 U.S.C. § 3070(h) eine entsprechende „anti-retaliation provision“ im
diese Methode der Verbrechensbekämpfung erhält der Steuerzahler stattdessen erst später in Form der Whistleblower-Belohnung, die dann wiederum aus den durch die Klage akquirierten Mitteln direkt beglichen werden kann. 552 Vgl. den Erwägungsgründen S. Rep. No. 345, 99th Cong., 2d Sess. (1986), p. 23–26. 553 31 U.S.C. § 3730(a)(2). In Ausnahmefällen kann vor Gericht eine Fristverlängerung beantragt werden, 31 U.S.C. § 3730(b)(3). 554 Um Letzteres sicherzustellen, kann die Behörde auch nach Beginn des Verfahrens entsprechende Beweiserhebungsstopps erwirken, auch hier wiederum mit einer Regelfrist von 60 Tagen, 31 U.S.C. § 3730(c)(4). 555 31 U.S.C. § 3730(c)(2)(B)-(D). Erforderlich ist der Nachweis einer Behinderung oder Gefährdung staatlicher Ermittlungsverfahren bzw. einer effizienten Prozessgestaltung, wobei die Beschränkung der Prozessführungs- und Antragsbefugnisse des „qui tam“Klägers per eigenständigem Gerichtsbeschluss erfolgt. 556 S. Rep. No. 345, 99th Cong., 2d Sess. (1986), p. 24–25. Wollen die Justizbehörden der Klage zu einem späteren Zeitpunkt beitreten, müssen sie die Gründe hierfür vor Gericht darlegen („showing of good cause“), 31 U.S. Code § 3730(c)(3). Auch insoweit ist der FCA nicht ohne Vorbilder in der US-amerikanischen Whistleblowing-Geschichte, als bereits die „adjunct statutes“ Fristen vorsahen, in denen die Behörde zu reagieren hatte, vgl. statt vieler 42 U.S.C. § 7622(b(2)(A) (Clean Air Act).
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Stile bundesrechtlicher „adjunct statutes“ einfügten. 557 Zwar handelte es sich bei dieser Bestimmung weder um ein zentrales Anliegen der Gesetzgebungsnovelle, noch kommt ihr im Vergleich zur finanziellen Inzentivierung durch das „qui tam“-Verfahren eine ähnliche praktische Bedeutung zu. 558 In der Tradition des föderalen Whistleblower-Schutzes sind ihre Voraussetzungen allerdings vergleichsweise liberal und setzen demgemäß weder den Erfolg der „qui tam“-Klage, noch deren ursprüngliche Erhebung voraus. 559 Hierdurch kann sie Whistleblowern im Zusammenhang mit „false claims“ nicht nur komplementären, sondern darüber hinaus (beispielsweise bei rein internem Whistleblowing) einen originären Zusatzschutz bieten.560 3.
Rechtstatsächliche Konsequenzen und Rezeption
Trotz einiger Anfangserfolge des False Claims Act von 1986 bei der Bekämpfung von Regierungsbetrug durch die Rüstungsindustrie war die Rezeption der Amendments in der Zeit unmittelbar nach Inkrafttreten des Gesetzes keineswegs nur positiv.561 Stattdessen sah sich das Konzept des finanziell 557
31 U.S.C. § 3070(h)(1): „Any employee, contractor, or agent shall be entitled to all relief necessary [if he is] discharged, demoted, suspended, threatened, harassed, or in any other manner discriminated against in the terms and conditions of employment because of lawful acts done […] under this section or other efforts to stop 1 or more violations of this subchapter.“ Die heutige Version der „anti-retaliation provision“ wurde in den Jahren 2009 und 2010 in Teilen ergänzt und erweitert. 558 Vgl. S. Rep. No. 345, 99th Cong., 2d Sess. (1986), p. 34–35; allgemein Callahan/Dworkin, 37 Vill. L. Rev. 273, 305 et seq. (1992); Sylvia, Fraud Against the Government, § 2:9; Tobias, Wrongful Discharge, § 10:17; sowie speziell zu den praktischen Auswirkungen des „qui tam“-Systems die folgenden Darstellungen unter Rn. 77 ff.; anders Graser, Whistleblowing, S. 90 f., offenbar mit der Vermutung, dass die Bestimmung das zentrale Reformelement gewesen sei und Inzentivierungselemente auch später (etwa auf Landesebene) nicht relevant wären; ähnlich Schürrle/Fleck, CCZ 2011, 218, 218, wohl unter der Annahme, dass das Kündigungsschutzelement zuvor bereits existierte. 559 Statt vieler U.S. ex rel. McKenzie v. Bellsouth Telecommunications, Inc., 123 F.3d 935, 938–45 (1997) (Schutz trotz Unzulässigkeit der „qui tam“-Klage); Robertson v. Bell Helicopter Textron, Inc., 32 F.3d 948, 951 (1994) (nach rein internem Whistleblowing). 560 Da die Belohnung im Falle der Erhebung einer „qui tam“-Klage gegen den Arbeitgeber in aller Regel eine weit bessere Kompensation bietet und nach Erhebung der Klage auch arbeitnehmerseitig selten ein Interesse an der Fortführung des Arbeitsverhältnisses besteht, verwundert es nicht, dass die „anti-retaliation“-Bestimmung meist in Fällen ohne (erfolgreiche) „qui tam“-Klage eigenständige Bedeutung erlangt. Vgl. etwa die Fallberichte in 73 False Cl. Act and Qui Tam Q. Rev. NL 4 (2014). Anders Groneberg, Whistleblowing, S. 139, wonach 31 U.S.C. § 3070(h) internes Whistleblowing nicht schütze; tendenziell auch Boyne, in: Thüsing/Forst, Whistleblowing – A Comparative Study, ch. 15, p. 297 (interner Whistleblowing-Schutz erst nach den – tatsächlich klarstellenden – Ergänzungen von 2009). 561 Zu den Anfangserfolgen, s. Statistiken des U.S. Department of Justice, Civil Division, FY 2015 Fraud Statistics, Oct. 1, 1987 – Sep. 30, 2015, abrufbar unter , aus denen sich entnehmen lässt, dass bereits Ende der 1980er und Anfang der 1990er durch „qui tam“-Klagen Rückzahlungen in zweistelliger Millionenhöhe erwirkt werden konnten, wobei die jeweils höchsten Beträge aus der Rüstungsindustrie stammten. 562 Vgl. Callahan/Dworkin, 37 Vill. L. Rev. 273, 318–20, 325–28, 333–336 (1992) m.w.N., allerdings auch mit dem zutreffenden Hinweis, dass die damals bereits h.M. in Rechts- und Sozialwissenschaften die Bestimmung des öffentlichen Nutzes des Whistleblowings einer detaillierten Motivprüfung des Whistleblowers grundsätzlich vorzog. 563 31 U.S.C. § 3730(d)(3), eingeführt durch den Major Fraud Act of 1988, 102 Stat. 4631, 4639. Damit vollzog der Kongress eine gewisse Abkehr von der ursprünglichen Idee des „setting a rogue to catch a rogue“-Prinzips aus dem Jahr 1863 (oben, Rn. 18). Der Anwendungsbereich der Norm ist allerdings relativ eng und fordert für eine vollständige Klageabweisung nicht nur, dass die betreffende Person die treibende Kraft hinter dem Betrug gewesen ist, sondern dass gegen sie zudem noch eine strafrechtliche Verurteilung in eben dieser Sache erwirkt wurde. Vgl. 134 Cong. Rec. 31,530 (1988) (Sen. Grassley). 564 False Claims Act Amendments Act of 1993: Hearing Before the Subcomm. on Courts and Admin. Of the Senate Comm. on the Judiciary, 103d Cong. 1st Sess. 3 (1993), p. 3 (Opening Statement Sen. Grassley).
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rein-hoheitlichen Mitteln wohl kaum erreichbar gewesen wären.565 Tatsächlich ließ sich ein zunehmend hohes Maß an Kooperation zwischen Whistleblowern und Justizbehörden verzeichnen, das sämtlichen Vorgängerversionen des Gesetzes noch fremd gewesen war. Während Whistleblower aufgrund der garantierten Mindestbelohnung wesentlich häufiger bereit waren, die Risiken einer offenen Opposition gegen Praktiken ihres eigenen Arbeitgebers auf sich zu nehmen und sich auch für langwierige Prozesse dauerhaft zur Verfügung zu stellen, traten die Justizbehörden schon bald fast allen größeren Whistleblower-Klagen bei und führten mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln weitergehende Untersuchungen durch. 566 Zur gleichen Zeit lässt sich aus den Betrugsstatistiken des Justizministeriums auch der Beginn einer weiteren Entwicklung ablesen, welche die Prozesslandschaft der False Claims Whistleblower-Klagen bis heute nachhaltig prägt. Während sich der gesetzgeberische Fokus bei der Gestaltung der FCA Amendments ebenso wie die Mehrzahl der ersten Fälle noch auf betrügerische Praktiken der Rüstungsindustrie konzentriert hatten, breitete sich der rechtstatsächliche Anwendungsbereich des Gesetzes nach Ende des Kalten Krieges auf immer weitere Bereiche aus, wobei sich allen voran das Gesundheitswesen als zentrale „qui tam“-Domäne herauskristallisieren sollte. 567 Nachdem schon der mit 110 Mio. US-Dollar ersatzleistungsstärkste Fall der Anfangsjahre das Inrechnungstellen unnötiger medizinischer Tests zulasten öffentlicher Krankenversicherungen zum Gegenstand hatte (sog. „Medicare“/“Medicaid“-Programme), ist seit Mitte der 1990er Jahre vor allem die Aufdeckung verschiedenster Skandale im Gesundheitswesen regelmäßiger 565 S. den Brief des Assistant Attorney General Frank Hunger zur Unterstützung der „qui tam“-Befürworter im Senat: „Since amended in 1986, the False Claims Act has been a success which has substantially benefitted the United States. No one can look at the everincreasing recoveries in qui tam cases and come to any other conclusion. The act has allowed the Government to obtain information about fraud that it did not independently have and to recover sums it might not have otherwise been able to identify. As recoveries have increased, the contracting community is more aware of the watch-dog effect of qui tam, which undoubtedly has led to the deterrence of fraudulent conduct.“ Abgedruckt in False Claims Act Amendments Act of 1993: Hearing Before the Subcomm. on Courts and Admin. Of the Senate Comm. on the Judiciary, 103d Cong. 1st Sess. 3 (1993), p. 3. 566 Vgl. den Praxisbericht von John Phillips in False Claims Act Amendments Act of 1993: Hearing Before the Subcomm. on Courts and Admin. Of the Senate Comm. on the Judiciary, 103d Cong. 1st Sess. 3 (1993), p. 14–18; dies in der deutschen Rezeption unterschätzend Kölbel, JZ 2008, 1134, 1138 ff., dem allerdings zuzugeben ist, dass (kriminalpolitische) Abschreckungs- und Präventionseffekte (wie allerdings auch auf den meisten anderen Forschungsfeldern der Kriminologie) nicht nachgewiesen sind und ein hieran ausgerichtetes Vorgehen keine persönlich Präferenz der „qui tam“-Kläger bildet. 567 Ryan, 4 Annals Health L. 127, 143–50 (1995); Bucy, 51 Ala. L. Rev. 57 (1999); U.S. Department of Justice, Civil Division, FY 2015 Fraud Statistics, Oct. 1, 1987 – Sep. 30, 2015, abrufbar unter .
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Kapitel 2: Whistleblowing in den USA
Hauptposten der aus „qui tam“-Klagen resultierenden Urteils- und Vergleichssummen.568 Neben gefälschten oder bewusst fehlerhaften Abrechnungen über unnötige oder tatsächlich niemals vorgenommene Gesundheitsleistungen wurden insbesondere durch Mitarbeiter von Pharmaunternehmen eine Vielzahl von landesweiten Betrugssystemen innerhalb der Branche aufgedeckt, welche entsprechend ihres Ausmaßes (Rück-)Zahlungen im mehrstelligen Millionen- oder gar Milliardenbereich zur Folge hatten.569 Hierzu zählten und zählen namentlich verschiedene Gestaltungsformen verdeckter Provisionssysteme („kick-backs“) sowie die zulassungswidrige bzw. zulassungsüberschreitende Anwendung von Arzneimitteln („off-label use“).570 Konsequenterweise zeigen sich Arbeitnehmer im Gesundheitssektor mittlerweile deutlich häufiger für die Aufdeckung und Ahndung von Rechtsverstößen verantwortlich als in anderen Regulierungsbereichen ohne entsprechende Whistleblower-Inzentivierung.571 Zugliech zeichnet sich der FCA gerade in jüngeren Jahren durch eine kontinuierliche Erweiterung und damit Diversifizierung seines praktischen Anwendungsbereiches aus, zu dem heutzutage über Rüstungsindustrie und Gesundheitssektor hinaus beispielsweise das Umweltrecht oder die Regulierung der Finanzbranche zählen. 572 568 Vgl. hierzu schon die (überraschte) Feststellung von Congressman Berman in False Claims Act Amendments Act of 1993: Hearing Before the Subcomm. on Courts and Admin. Of the Senate Comm. on the Judiciary, 103d Cong. 1st Sess. 3 (1993), p. 8. Auch für den europäischen Beobachter mag diese Entwicklung angesichts des im internationalen Vergleich zu anderen Industriestaaten schwach ausgestatteten öffentlichen Gesundheitssystems der USA zunächst überraschend erscheinen. Bedenkt man allerdings, dass allein die Flaggschiffe Medicare und Medicaid mit mittlerweile über einer Billionen Dollar jährlicher Ausgaben die weltweit größten Einzelabnehmer von Gesundheitsleistungen sind, erschließt sich schnell, warum das US-amerikanische Gesundheitssystem trotz oder gerade wegen seiner inhärenten Ineffizienzen ein überaus lukratives Betrugsziel darstellt. Ausführlich zum Ganzen Harrison/Brogan/Egbert/Glasser/Godin, 52 Am. Crim. L. Rev. 1223 (2015) m.w.N. 569 Der soweit ersichtlich finanzstärkste Fall unter dem FCA betraf ein landesweites „off-label use“-System des Pharmaherstellers GlaxoSmithKline, das nach den Enthüllungen von zwei Management-Angehörigen im Jahr 2012 zu einem Vergleich i.H.v. insgesamt 3 Mrd. US-Dollar geführt hat. S. . 570 Ob ein Verstoß gegen das Verbot von Kick-Back-Zahlungen auch den (hieran nicht unmittelbar anschließenden) Zahlungsanspruch gegen den Staat zu einem „false claim“ macht, wurde von Gerichten und Literatur lange Zeit nicht vollkommen einheitlich beantwortet, vgl. Rabecs, 2001 L. Rev. Mich. St. U. Det. C.L. 1, 37 et seq. (2001). Im Jahr 2010 wurde mit dem Patient Protection and Affordable Care Act („Obamacare“, 124 Stat. 119, 759) daher eine entsprechende Klarstellung in 42 U.S.C. § 1320a-7b(g) eingefügt, die bei Kick-Back-Verstößen nun ausdrücklich den FCA für anwendbar erklärt. 571 S. Dyck/Morse/Zingalis, 65 J. Fin. 2213, 2046–48, Table IX (2010) (41% im Gegensatz zu 14% in anderen Wirtschaftssektoren). 572 Überblick m.w.N. z.B. bei Sylvia, Fraud Against the Government, § 2:13-20 m.w.N.
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Pro Jahr verzeichnen „qui tam“-Klagen unter dem False Claims Act mittlerweile relativ kontinuierliche Gesamtzahlungen von ca. 4 Milliarden USDollar, woraus sich abzüglich der den Whistleblowern zugesprochenen Anteile regelmäßige Netto-Kompensationsleistungen an den föderalen Fiskus von jährlich fast 3,5 Milliarden US-Dollar ergeben.573 Allein im Jahr 2012 flossen auf Basis des False Claims Act fast 5 Milliarden US-Dollar in die Kassen des Federal Government, wobei hiervon 3,3 Milliarden auf „qui tam“Klagen mit Whistleblower-Belohnungen i.H.v. 439 Mio. US-Dollar entfielen.574 Durch die prozentuale Beteiligung der Whistleblower, die hieran gekoppelten Interessen der „qui tam bar“ und die enge Kooperation mit den Justizbehörden scheint es dabei gelungen zu sein, die zur Verfügung stehenden Staatsressourcen nicht auf eine Vielzahl kleinerer Fälle zu zerstreuen, sondern zugunsten der Aufdeckung und Verfolgung landesweiter Betrugssysteme und finanzstarker Skandale zu bündeln. So führten beispielsweise allein sieben der zwischen Mitte Dezember 2012 und Anfang Januar 2013 vom Department of Justice veröffentlichten Fälle zu Kompensationszahlungen an das Federal Government in Höhe von über 956 Mio. US-Dollar.575 Neben der „qui tam bar“ als vorgelagerte Filterstelle dürfte vor allem der erhebliche zeitliche Aufwand einer erfolgversprechenden Klage als wirksamer Präventionsmechanismus gegen missbräuchliche bzw. unbegründete Anschuldigungen aus reinem Gewinninteresse gewirkt haben, so dass eine übermäßige Beanspruchung bzw. zweckwidrige Belastung judikativer und administrativer 573
Vollständige Aufstellung bei U.S. Department of Justice, Civil Division, Fraud Statistics – Overview, Oct. 1, 1987 – Sept 30, 2017, abrufbar unter mit Aufschlüsselung der primär betroffenen Industriebereiche unter a.E. Die hier gewählten Angaben beruhen auf dem gerundeten arithmetischen Mittelwert der Jahre 2010–2017, wobei das Federal Government innerhalb dieser acht Jahre durchschnittlich 4.003.826.318 US-Dollar auf Basis von „qui tam“-Fällen einnehmen konnte, während Whistleblower im Schnitt 510.340.491 US-Dollar (Brutto-)Belohnung erhalten haben. Wiewohl auch die allein durch das Justizministerium seit den 1990er Jahren erwirkten Kompensationszahlungen trotz stärkerer Fluktuationen einen Zuwachs zu verzeichnen haben, wird außerhalb des „qui tam“-Bereichs weniger als die Hälfte an Geldern eingenommen, wobei die Milliardenmarke nur viermal in den Jahren 2006, 2012, 2014 und 2016 durchbrochen wurde. 574 Department of Justice, Press Release on Tuesday, December 4, 2012, abrufbar unter . 575 Kohn, Whistleblower Handbook, p. vi. Die weit überwiegende Zahl erfolgreicher „qui tam“-Klagen beruht demgemäß auf einer Kooperation von Whistleblower und Justizbehörde, vgl. U.S. Department of Justice, Civil Division, Fraud Statistics – Overview, Oct. 1, 1987 – Sept 30, 2017, abrufbar unter (38.493.281.288 US-Dollar Gesamtzahlungen unter Mitwirkung der Behörden gegenüber 2.056.363.980 US-Dollar bei alleiniger Verstoßverfolgung durch den Whistleblower).
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Ressourcen bisher ausgeblieben ist.576 Alles in allem ermöglichte der False Claims Act in den Jahren von 1986 bis 2017 Rück- bzw. Strafzahlungen an den Bundeshaushalt von über 56 Milliarden US-Dollar, davon über 40 Milliarden Dollar durch „qui tam“-Klagen von Whistleblowern mit einem entsprechenden Belohnungsvolumen von beinahe 6,6 Milliarden US-Dollar.577 Vor dem Hintergrund des überwältigenden finanziellen Erfolgs des FCA verwundert nicht, dass die Kritiker des finanziell inzentivierten Whistleblowings in den USA mit den Jahren immer weniger wurden und das anfänglich nicht unumstrittene Konzept der finanziellen Entlohnung von Whistleblowern heutzutage auf weitgehende Akzeptanz in Politik, Öffentlichkeit und Rechtswissenschaft stößt.578 Dementsprechend blieben denn auch alle Bestrebungen der betroffenen Industrie, im Laufe der 1990er Jahre wenigstens einige inhaltliche Einschränkungen des False Claims Act zu erwirken, ausnahmslos erfolglos.579 Gleiches gilt für die zahlreichen Versuche, den „qui tam“Mechanismus des Gesetzes verfassungsrechtlich auf Basis verschiedener Ausprägungen des allgemeinen Gewaltenteilungsgrundsatzes anzugreifen,580 576
Wiewohl es an großangelegten statistischen Studien zum Verhältnis von begründeten, unbegründeten und missbräuchlichen Klagen fehlt, besteht jedenfalls kein Zweifel am positiven Verhältnis zwischen staatlichem Aufwand und fiskalischem Nutzen. Vgl. Rapp, 87 B.U. L. Rev. 91, 133 (2007); Callahan/Dworkin, 37 Vill. L. Rev. 273, 326 (1992); Hickey, NK 2015, 388, 395 f.; jeweils m.w.N. 577 U.S. Department of Justice, Civil Division, Fraud Statistics – Overview, Oct. 1, 1987 – Sept 30, 2017, abrufbar unter , p. 2: 56.163.742.012 US-Dollar Gesamtzahlungen, 40.549.645.268 US-Dollar „qui tam“-Zahlungen, 6.584.992.211 US-Dollar Belohnungen. 578 Vgl. statt mehrerer Broderick, 107 Colum. L. Rev. 949 (2007) der trotz vergleichsweise deutlicher Kritik an der Zahl offenbar unbegründeter Klagen zu dem Ergebnis kommt, dass „qui tam“-Klagen schon allein durch die Häufigkeit und Erlöshöhe sowie den damit einhergehenden Abschreckungseffekten in jedem Fall dem öffentlichen Interesse dienten und beibehalten werden sollten (S. 1000). 579 S. für einen Überblick der legislativen Entwicklung in den 1990er Jahren Sylvia, Fraud Against the Government, § 2:11 m.w.N. 580 Das betraf zunächst und vor allem das Vorbringen, das „qui tam“-System verletze das verfassungsrechtliche Gebot hinreichender Klagebefugnis (Art. III, § 2, cl. 1 U.S. Const., „standing requirement“). S. hierzu insbesondere Vermont Agency of Natural Resources v. United States ex rel. Stevens, 529 U.S. 765, 771 et seq. (2000); sowie hierauf später aufbauend United States. ex rel. Bunk v. Gosselin Group World Wide Moving, N.V., 741 F.3d 390, 402 (2013). Hintergrund des „standing requirements“ ist die im Gewaltenteilungsgrundsatz wurzelnde Beschränkung der Gerichte auf die Entscheidung von „cases“ und „controversies“. Weitere verfassungsrechtliche Zweifel stützten sich auf die Annahme einer (exklusiven) Exekutiv-Befugnis bei der Ausführung von Gesetzen (Art. II, § 3, „take care clause“) und die verfassungsrechtlichen Vorgaben förmlicher Beamtenernennungen (Art. II, § 2, cl. 2, „appointment clause“). S. zu beidem United States ex rel. Kelly v. Boing Co., 9 F.3d 743, 754, 758–59 (9th Cir. 1993); aus der Literatur Blanch, 16 Harv. J.L. & Pub. Pol'y 701, 708 et seq. (1993); Helmer/Neff, 18 Ohio N.U. L. Rev. 35, 51–68 (1991);
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wobei insoweit wiederum die weit zurückreichende Geschichte des USamerikanischen Whistleblowing- bzw. „qui tam“-Rechts eine nicht unerhebliche Rolle spielte.581 Statt das finanziell inzentivierte Whistleblowing nach Maßgabe des FCA einzuschränken, nutzte der Gesetzgeber daher mehrere Gelegenheiten, den Anwendungsbereich des Gesetzes zu erweitern und seine Kriterien weiter zu liberalisieren, um hierdurch gewissen Fehlentwicklungen entgegenzuwirken oder einer erwarteten Zunahme von Regierungsbetrug präventiv vorzubeugen. So flankierten Aktualisierungen des FCA beispielsweise die staatlich aufgelegten Konjunkturprogramme in Reaktion auf die Finanzkrise von 2007582 und die Ausweitung der öffentlichen Gesundheitsvorsorge durch den Affordable Care Act aus dem Jahr 2010 („Obamacare“).583 Entgegen einem vor allem bei späteren finanziell inzentivierenden Whistleblower-Programmen vorgebrachten Kritikpunkt 584 haben die FCA Amendments bei alledem offenbar keine signifikant negativen Auswirkungen auf die interne Meldebereitschaft von Whistleblowern gehabt, welche entsprechend der typischerweise hohen Unternehmensloyalität von Whistleblowern auch
Sylvia, Fraud Against the Government, § 3:2-3:6; Sturycz, 28 St. Louis U. Pub. L. Rev. 459, 466–75 (2009). 581 Vgl. Vermont Agency of Natural Resources v. United States ex rel. Stevens, 529 U.S. 765, 776–777 (2000): „Qui tam actions appear to have been as prevalent in America as in England, at least in the period immediately before and after the framing of the Constitution. […] Moreover, immediately after the framing, the First Congress enacted a considerable number of informer statutes. […] We think this history well nigh conclusive with respect to the question before us here: whether qui tam actions were “cases and controversies of the sort traditionally amenable to, and resolved by, the judicial process.“ 582 So geschehen durch den Fraud Enforcement Act and Recovery Act of 2009 („FERA“; 123 Stat. 1617; Erläuterung der Hintergründe in S. Rep. No. 111-10, p. 2–4) und (in geringerem Maße) im Rahmen des Dodd-Frank Wall Street Reform and Consumer Protection Act of 2010 (124 Stat. 1376, 2079; „Dodd-Frank Act“). Ziel dieser Änderungen waren vor allem die Erweiterung der Definition und der notwendigen Voraussetzungen eines “false claims” sowie außerdem die Erweiterung der „anti-retaliation“-Bestimmung auf Vertragsunternehmen und Vertreter (Fn.557). Zu beidem Makalusky, 94 Mass. L. Rev. 41, 47–53 (2012). 583 Patient Protection and Affordable Care Act of 2010 (124 Stat. 119, 759, „Obamacare“). Die wichtigsten Änderungen bzw. Klarstellungen durch dieses Gesetz betrafen die Erweiterung der „original source exception“ (Rn. 73) und die Anwendbarkeit des FCA auf „kick-backs“ (Fn. 570). Auch hierzu im Detail Makalusky, 94 Mass. L. Rev. 41, 43–57 (2012). 584 Da die Erfolge des FCA von 1986 zu Anfang noch nicht absehbar waren, erreichte diese Kritik ihren Höhepunkt erst später im Vorfeld des SEC Whistleblower Program nach Maßgabe des Dodd-Frank Act von 2010, s. Rn. 200. Auch hier ließ sie sich freilich nach Inkrafttreten des Gesetzes nicht empirisch belegen, s. Rn. 218.
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im Anwendungsbereich des FCA bis heute bei ca. 90% liegt.585 Stattdessen wurden durch den False Claims Act unternehmensinterne ComplianceProgramme und interne Whistleblowing-Stellen mittelbar erheblich gestärkt, um so externem Whistleblowing und damit der Gefahr erheblicher Schadensersatz- und Bußgeldzahlungen zuvorkommen zu können bzw. entsprechenden Vergleichsbedingungen der Behörden gerecht zu werden. 586 Neben den Federal Sentencing Guidelines und dem Sarbanes-Oxley Act ist der False Claims Act damit zu einem wichtigen, wenn auch häufig vernachlässigten Wegbereiter des internen Whistleblowings geworden.587 Angesichts dieser Bilanz ist es kaum überraschend, dass die Idee des finanziell inzentivierten Whistleblowings auch in andere Bereiche des U.S-amerikanischen Rechts ausgestrahlt hat und das von den Amendments von 1986 vorgegebene Erfolgsrezept mutatis mutandis zum Vorbild einer Reihe weiterer Gesetze auf Bundes- und Landesebene geworden ist, von denen einige ihre Wirkung bis nach Europa entfalteten.588 Wiewohl derlei Programme auch in den USA rechtsethisch nicht ohne ihre Kritiker sind, ist jedenfalls die legislative Diskussion mittlerweile weitgehend von dem pragmatischen Fazit geprägt, dass
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S. hierzu die Studie des National Whistleblower Center, Impact of Qui Tam Laws on Internal Compliance: A Report to the Securities Exchange Commission, 17.12.2010, abrufbar unter , p. 4 (89,7% interne Meldequote auf Basis von „qui tam“-Klagen zwischen 2007 und 2010); ferner Kesselheim/Studdert/Mello, N. Eng. J. Med. 362 (19): 1832, 1834 (2010) (interne Meldung und Abhilfeversuche in 18 von 22 Fällen); entsprechende Kritik ebenfalls als von den Fakten überholt ansehend Hickey, NK 2015, 388, 396. 586 Vgl. Snyder, 1 DePaul J. Health Care L. 1, 22 et seq. (1999); Brown/Gruner/Kandel, Legal Audit, § 7:35.40; aus der Praxis statt vieler Taxpayers Against Fraud (TAF), Comments on Securities Whistleblower Incentive Program, abrufbar unter , p. 3: „Importantly, FCA Whistleblower enforcement has also yielded serious efforts to improve internal compliance within the business community and is estimated to have saved tens of billions of dollars through deterrent effects.”; Hogan Lovells, False Claims Act Focus: Enforcement developments in the financial services industry 2013, p. 4, abrufbar unter , mit entsprechend dringlicher Empfehlung zur Compliance-Verbesserung; etwas skeptischer Coffey/Mollet, AHLA-PAPERS P04250703, III., mit besonderer Hervorhebung interner Meldesysteme für die Haftungsvermeidung. 587 Zu den Entstehungsursachen und rechtlichen Rahmenbedingungen der Förderung internen Whistleblowings, s. ab Rn. 96 ff. Anders in der deutschen Rezeption Kölbel, JZ 2008, 1134, 1139 der zu vermuten scheint, dass eine Konsequenz der (von ihm geringer veranschlagten) Ermittlungs- und Ahndungserfolge zulasten der Verbesserung interner Compliance-Systeme ginge. Vgl. Zu dieser These auch Rn. 200 f. mit Blick auf das SEC Whistleblower Program. 588 S. insbes. zum SEC Whistleblower Program unten, Rn. 282.
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die Erfolge der nach den Erfahrungssätzen des FCA ausgerichteten Programme ihnen im Ergebnis schlichtweg Recht geben.589 II. Die Ausbreitung finanziell inzentivierten Whistleblowings im Windschatten des False Claims Act 1.
State False Claims Acts
Im Zuge des immer deutlicher werdenden Erfolges des Bundes-FCA wurden entsprechende Gesetze zur finanziellen Inzentivierung von Whistleblowern auch auf einzelstaatlicher Ebene erlassen.590 Wie schon bei der Einschränkung der „at-will“-Doktrin nahm unter anderem Kalifornien eine Whistleblowing-freundliche Vorreiterrolle ein,591 indem es bereits kurz nach den Amendments von 1986 sein eigenes Gesetz verabschiedete.592 Die große Mehrheit der aktuellen False Claims Acts wurde allerdings erst ab dem Jahr 2006 mit Inkrafttreten des Deficit Reduction Act (DRA) eingeführt. 593 Die Ursache dieses Entwicklungsschubs für das finanziell inzentivierte Whistleblowing in den Einzelstaaten liegt dabei wie so oft in den Eigenarten des USamerikanischen Föderalismus. Um angesichts des Erfolgs des FCA die Verabschiedung gleichgelagerter Whistleblowing-Gesetze auf Landesebene zu erwirken, bediente sich der Bundesgesetzgeber im DRA des (neben der „commerce clause“) vielleicht wichtigsten Instruments zur Überbrückung verfassungsimmanenter Föderalismusschranken: des finanziell inzentivierenden „cooperative federalism“. 594 So sieht das „Medicaid“-Programm wie viele andere Gesetze aus dem Bereich der Leistungsverwaltung eine Kostenaufteilung in der öffentlichen Gesundheitsversorgung zwischen Bund und Einzelstaaten vor, was im Falle erfolgreicher Gesundheitsbetrugsklagen auch eine Aufteilung der entsprechenden Ersatzleistungen zur Folge hat. 595 Der 589 Prägnant Ferzinger/Currel, 1999 U. Ill. L. Rev. 1141, 1143 (1999): „Bounty schemes survive in spite of their moral hazards for one reason: they work. The government recovers millions of dollars annually that it could not have recovered without the information provided by informants, and government agencies pay out hundreds of bounties in return.“ 590 S. Sylvia, Fraud Against the Government, § 12 mit einigen Nachweisen aus der einzelstaatlichen Rechtsprechung; Bucy/Diesenhaus/Raspanti/Chestnut/Merrell/Vacarella, 31 Cardozo L. Rev. 1523 (2010) mit einer empirischen Analyse der individuellen Gründe der Staaten für den Erlass eigener False Claims Acts. 591 Hierzu bereits oben, Rn. 43 f. 592 Cal.Gov.Code § 12650 et seq.; eingeführt durch Stats.1987, c. 1420, § 1 (1987). 593 Deficit Reduction Act of 2005 (DRA), 120 Stat 4, unter § 6031: Encouraging the Enactment of State False Claims Acts. 594 Vgl. hierzu mit speziellem Bezug zu Medicaid Joondeph, 91 N. C. L. Rev. 811 (2013); sowie die Nachweise in Fn. 229, 230. 595 S. 42 U.S.C. § 1396b mit den entsprechenden Berechnungsvorgaben der jeweiligen Kosten- und Ertragsverteilung.
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durch den DRA eingefügte 42 U.S.C. § 1396h sieht nun vor, dass sich der Anteil des Federal Government für Ersatzleistungen auf Basis etwaiger einzelstaatlicher False Claims Act um 10% reduziert, sofern das Gesetz des jeweiligen Staates einen substantiell gleichen Effizienzstandard erreicht wie der Bundes-FCA.596 Um aber in den Genuss eines höheren Prozentanteils der zum Teil erheblichen Zahlungen zu kommen, müssen die Einzelstaaten ihre Gesetze beim Gesundheitsministeriums einreichen und eine Konformitätsbestätigung beantragen.597 Die hierfür entwickelten Kriterien sehen neben einer entsprechend ähnlichen Definition von „false claims“ vor allem vor, dass die Belohnungsstruktur des Gesetzes nicht hinter dem Bundes-FCA zurückbleibt, die Geheimhaltungs- und Koordinierungsfrist von 60 Tagen eingehalten wird und die Höhe der (Straf-)Zahlungen mindestens Bundesniveau entspricht.598 Bisher wurden auf Basis entsprechender Anfragen die False Claims Acts von insgesamt 29 Einzelstaaten überprüft und dabei 18 Staaten die erhoffte Konformitätsbestätigung erteilt. 599 Schon ein Blick auf die Entstehungszeitpunkte der einzelnen Gesetze und die Daten der Antragsstellungen lässt aber darauf schließen, dass die Zahl der einzelstaatlichen False Claims Acts und deren Whistleblower-freundliche Ausgestaltung in Zukunft noch weiter zunehmen wird, sofern diese nicht schon jetzt über das erforderliche Maß hinausgehen.600 2.
Das IRS Whistleblower Program
a) Ursprung und Ausgestaltung des IRS Whistleblower Program Eines der in der Praxis wichtigsten und zugleich kontroversesten Whistleblower-Programme nach dem Vorbild des False Claims Act ist das im Jahr 596
42 U.S.C.A § 1396h(a). 42 U.S.C.A § 1396h(b); zuständig ist das Office of Inspector General OIG) des Ministeriums. S. . 598 42 U.S.C.A § 1396h(b)(1)-(4); konkretisiert durch OIG, Guidelines for Evaluating State False Claims Acts, aktueller Stand gültig seit 15.3.2013, abrufbar unter . 599 S. mit Verweisen auf die einzelnen Anerkennungs- bzw. Ablehnungsbescheide. Das OIG bestätigte bis heute die Konformität der False Claims Acts von Kalifornien, Colorado, Connecticut, Delaware; Georgia, Hawaii, Illinois, Indiana, Iowa, Massachusetts, Minnesota, Montana, Rhode Island, Tennessee, Texas, Virginia, Vermont, Washington; abgelehnt wurden die Gesetze von Florida, Louisiana, Michigan (nach FERA/Dodd-Frank/PPACA), Nevada, New Hamshire, New Jersey, New Mexico, New York, North Carolina, Oklahoma, Wisconsin (nach FERA/Dodd-Frank/PPACA). 600 Beispiele für Letzteres finden sich etwa in N.Y. State Fin. Law § 189(1)(g), (4): Einbeziehung von Folgeschäden („consequential damages“) und Steuerbetrug in den Anwendungsbereich des Gesetzes; Cal. Gov. Code § 12652(g)(3): Belohnung von bis zu 50% für „qui tam“-Kläger. 597
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2006 eingeführte Belohnungsprogramm des Internal Revenue Service (IRS) für Meldungen über Steuerrechtsverstöße.601 Schon vor 2006 verfügte der IRS über ein Whistleblower „law on the books“, dessen Wurzeln bis in das Jahr 1867 zurückreichen – allerdings ohne dass dieses jemals besondere rechtspraktische oder auch nur akademische Beachtung erfahren hätte.602 Soweit diese Vorläufer der Amendments von 2006 bereits in begrenztem Maße finanzielle Vorteile für Whistleblower vorsahen, entfalteten sie jedenfalls keine inzentivierende Wirkung. Weder verfügte der IRS über eine koordinierende Stelle zur Entgegennahme und Bearbeitung von Whistleblower-Informationen, noch ließ er überhaupt ein Interesse an diesen Informationen erkennen, sondern wies Mitarbeiter sogar ausdrücklich an, über die Existenz von derlei Möglichkeiten Stillschweigen zu bewahren. 603 Sofern Whistleblowing trotz geringer Erfolgsaussichten gleichwohl einmal zur Aufdeckung von Steuerstraftaten bzw. der Eintreibung von Steuerschulden führte, gewährten die Behörden den jeweiligen Whistleblowern nur in den seltensten Fällen eine entsprechende Belohnung. 604 Wenngleich dem Whistleblower-Programm keine wirkliche Praxisrelevanz zukam, provozierte das politisch sensible Thema gelegentlich sogar Forderungen aus den Reihen des Kongresses nach einer vollständigen Streichung von finanziellen Anreizen – stachele ein solches „Belohnungsprogramm für Ratten“ doch in geschmackloser Weise Menschen dazu an, ihre Nachbarn, Verwandten oder Exfrauen bei den Steuerbehörden aus Rache oder Gier zu denunzieren. 605 Spätestens um die Jahrtau601 § 406 Tax Relief and Health Care Act of 2006, 120 Stat. 2922, aktuell 26 U.S.C. § 7623. 602 Ventry, 61 Tax Law. 357, 360–61 (2008). 603 Kwon, 29 Va. Tax Rev. 447, 452–55 (2010). Darüber hinaus waren die entsprechenden Meldeformulare nicht unmittelbar auf der Internetseite des IRS zugänglich, sondern konnten lediglich durch Eingabe der jeweiligen Dokumentnummer in der Suchmaske der Seite ausfindig gemacht werden. So Treasure Inspector General for Tax Administration, The Informants’ Rewards Program Needs More Centralized Management Oversight, June 2006, p. 2, abrufbar unter . 604 Auch von den Gerichten wurden die hierfür verantwortlichen Ermessensentscheidungen des IRS in aller Regel nicht beanstandet. Ryan/Hall, 14 Mertens Law of Fed. Income Tax'n § 49D:24 m.w.N. 605 So die Ansicht von Sen. Reid, 144 Cong. Rec. S4379-05 (1998): „What I want to talk about today in my amendment is one of the things that leads to the bad press, the bad feelings that the American public has about the IRS. What I want to prohibit the IRS from doing in the future is continuing with a program that I refer to as the ”Reward for Rats Program.” […] They say, ”If you have somebody who will snitch on a neighbor, an exwife, or business partner, and this will lead to our collecting money, then we will give you part of that money.” [T]he IRS pays snitches to act against associates, employers, relatives, and others-whether motivated by greed or revenge-in order to collect taxes. I find this activity unseemly, distasteful, and just wrong.“
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sendwende begann sich die Stimmung im Kongress gegenüber Whistleblowing-Instrumenten im Allgemeinen und finanziellen WhistleblowingAnreizen im Besonderen angesichts steigender Steuerdefizite, zunehmend komplexer, unternehmensinterner Steuerumgehungsstrategien und der Erfolge des False Claims Act allerdings zu ändern.606 Als Katalysator für die Novellierung der steuerrechtlichen Whistleblowing-Bestimmungen fungierte ein Abschlussbericht der offiziellen internen Revisionsstelle des IRS, welche die Unzulänglichkeiten des bisherigen Whistleblower-Programms eingehend untersucht hatte.607 Zentraler Kritikpunkt des Berichts war die gegenwärtige Verwaltungsstruktur innerhalb des IRS, die sich durch kaum organisierte, hochgradig dezentrale Adressaten- und Verfolgungsstellen auszeichnete, welche Whistleblowern angesichts zumeist mehrjähriger Verfahrensdauern und oft nicht begründeter Ermessensentscheidungen keinerlei hinreichende Rechtssicherheit bot.608 Indem der Bericht Whistleblowing aber gleichzeitig einen wichtigen Beitrag und erhebliches Potential bei der Bekämpfung von Rechtsverstößen attestierte,609 bot er dessen Befürwortern im Kongress eine willkommene Argumentationsgrundlage, um eine Reform des geltenden Rechts anzustreben.610 Das Produkt dieser Entwicklung ist das aus dem Tax Relief and Health Care Act von 2006 hervorgegangene „IRS Whistleblower Program“, das in vielerlei Hinsicht die Lehren der FCA Amendments von 1986 übernommen hat und sein legislatives Vorbild an vielen Stellen in mehr oder weniger inhaltsgleicher Form wiedergibt. 611 Als zentrale Entgegennahme-, Koordinations- und Filterstelle fungiert seither das sog. „IRS Whistleblower Office“, welches potentielle Whistleblower nun aktiv über die Modalitäten und rechtlichen Voraussetzungen des Programms informiert und über ein entsprechendes Onlineportal landesweit erreichbar ist.612 Zur nachhaltigen Behebung der durch den Revisionsbericht 606 Hierzu Ventry, 61 Tax Law. 357, 362–68 (2008) mit weiteren Nachweisen und einigen Erklärungsansätzen. 607 Treasure Inspector General for Tax Administration, The Informants’ Rewards Program Needs More Centralized Management Oversight, June 2006, abrufbar unter . 608 Ebd., S. 2, 5–9. 609 Ebd., S. 1. 610 Als federführend bei der Gestaltung des Programms gilt der damalige Vorsitzende des Finanzausschusses, Sen. Grassley, der 1986 schon als einer der Architekten des FCA hervorgetreten war. Vgl. Kwon, 29 Va. Tax Rev. 447, 457, n. 58 (2010), Ventry, 61 Tax Law. 357, 357 (2008); oben, Fn. 506. Die materiell-rechtlichen Ähnlichkeiten zwischen FCA und IRS-Programm sind auch deswegen keineswegs zufällig. 611 § 406 of the Tax Relief and Health Care Act of 2006, 120 Stat. 2922, aktuell 26 U.S.C. § 7623; in prozeduraler Hinsicht konkretisiert durch 26 CFR § 301.7623–1 (Stand Aug. 2014). 612 120 Stat. 2922, 2959–60; 2006 CATA 1411; Portal erreichbar unter .
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aufgedeckten Organisationsmängel wurde das Finanzministerium verpflichtet, dem Kongress in einem jährlichen Rechenschaftsbericht Auskunft über den internen Umgang mit Whistleblower-Informationen und der auf ihrer Basis erzielten Erfolge zu geben. 613 Um wiederum dem Szenario einer gegenseitigen Überwachung aller steuerzahlenden Bürger vorzubeugen und die Ressourcen des IRS auf komplexe Vorgänge mit besonderer Relevanz für die öffentliche Hand zu konzentrieren, 614 findet das Whistleblower-Programm nur auf solche Fälle Anwendung, in denen das Nachzahlungsvolumen und die erwarteten Bußgelder wegen Steuerhinterziehung einen Mindestbetrag von 2 Mio. US-Dollar überschreitet.615 Handelt es sich bei dem betreffenden Steuerzahler um eine natürliche (Privat-)Person, muss diese zudem über ein jährliches Bruttoeinkommen von über 200.000 US-Dollar verfügen.616 Im Unterschied zum False Claims Act sieht das IRS Programm keinen „qui tam“Mechanismus vor, so dass die Verfolgung und Eintreibung nicht beglichener Steuerschulden allein im Ermessen des IRS liegen, ohne dass Whistleblower über ein individuelles Klagerecht disziplinierenden Druck auf die Behörde ausüben könnten.617 Darüber hinaus stehen einer Detailkoordination während des Verfahrens einschlägigen Bestimmungen zur Wahrung des Steuergeheimnisses entgegen, so dass Whistleblower nicht ohne weiteres über den Stand der Ermittlungen informiert werden können.618 Im Gegenzug hierfür
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26 U.S.C. § 7623(5), 120 Stat. 2922, 2960. Vgl. bzgl. der vorher erfolglosen Versuche von Whistleblowern, den IRS bei der Aufdeckung von illegalen Steuervermeidungsstrategien durch Enron und andere Großunternehmen zu unterstützen, die Schilderung eines (anonymen) Whistleblowers vor dem Finanzausschuss des Senats unter . 615 I.R.C. § 7623(b)(5)(2). 616 I.R.C. § 7623(b)(5)(1). Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, besteht lediglich die Chance auf eine Belohnung im freien Ermessen des IRS ohne Mindestbeträge oder gerichtlicher Überprüfbarkeit, I.R.C. § 7623(a), 26 CFR 301.7623-1. 617 Vgl. auch das Interview von Sullivan mit dem Direktor des Whistleblower Office, Stephen Whitlock in Sullivan, 52 False Claims Act & Qui Tam Q. Rev. 79, 81, 92–93 (2009), in dem er das Verfahren als geschlossenen Prozess ohne Mitspracherechte des Whistleblowers beschreibt. Anders offenbar Groneberg, Whistleblowing, S. 156, wonach der IRS ein „qui tam“-System eingeführt habe. 618 S. 26 U.S.C. § 6103, der die Wahrung des Steuergeheimnisses vorbehaltlich expliziter Ausnahmen vorgibt. Eine Ausnahme für Whistleblower in dem durch sie eingeleiteten Verfahren findet sich nicht. Hierzu ausführlich Kwon, 29 Va. Tax Rev. 447, 470–488 (2010) mit Kritik de lege ferenda (S. 488 ff.). In Reaktion auf die kontinuierliche Kritik an diesem Kernproblem des Whistleblower-Verfahrens wurde allerdings mit Inkrafttreten der neuen Verwaltungsbestimmungen im August 2014 dafür gesorgt, dass nun durch den Erlass eines vorläufigen Belohnungsbescheides und entsprechender Geheimhaltungsvereinbarungen jedenfalls ein gewisses Maß an Koordination möglich ist. S. Awards for Information Relating to Detecting Underpayments of Tax or Violations of the Internal 614
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wird Whistleblowern gegenüber ein eigenständiges Vertraulichkeitsversprechen abgegeben, so dass sie – anders als in der exponierten Situation einer „qui tam“-Klage – nicht in jedem Fall auf die Verfolgung der Anschuldigungen und den Erhalt einer Belohnung als Ausgleich für negative persönliche Konsequenzen angewiesen sind.619 Hinsichtlich der materiell-rechtlichen Voraussetzungen für die Entgegennahme von Whistleblower-Informationen und die darauf aufbauenden Anspruchsvoraussetzungen für eine Belohnung lehnt sich das legislative Muster wiederum sehr eng an die Vorgaben und Erfahrungen unter dem FCA an. Gemäß 26 U.S.C. § 7623(b) erhalten Whistleblower eine Beteiligung an den durch sie ermöglichten Steuernachzahlungen und Bußgelder von 15% bis 30%, festgelegt anhand des jeweiligen Beitrags des Whistleblowers zum Erfolg des Verfahrens. 620 Wie schon unter dem False Claims Act wurden zur Bestimmung des angemessenen Prozentsatzes ermessenleitende Kriterien entwickelt, wobei als zentrale Elemente ebenfalls die Qualität der übermittelten Informationen, die Kooperation des Whistleblowers während des Verfahrens und der vorherige Kenntnisstand der Behörden ausschlaggebend sind. 621 Darüber hinaus legen die internen Richtlinien des IRS besonderen Wert auf die verzögerungsfreie Übermittlung der Informationen,622 schließen im Gegenzug allerdings die Gewährung multipler Belohnungen an unterschiedliche Whistleblower in der gleichen Sache nicht aus, sofern hierbei ein kumulativer Anteil von 30% nicht überschritten wird.623 Da dem Whistleblower anders als Revenue Laws, Final Rule, 26 CFR Part 301, abrufbar unter , inkl. Darstellung des Diskussionsverlaufs. 619 26 CFR § 301.7623–1(f): „[B]est efforts to protect the identity of Whistleblower“, s. ferner Whistleblower 14106–10W v. Commisioner of Internal Revenue, 137 T.C. 183 (2011), wo das Gericht einem Whistleblower entgegen den Plänen des IRS ein Recht auf Vertraulichkeit einräumt. 620 26 U.S.C. § 7623(b)(1). Anders als der False Claims Act sieht das Gesetz allerdings keine zusätzliche Erstattung von Anwaltskosten vor. 621 Internal Revenue Manual (IRM), 25.2.2.7.4.1 (Stand 7.8.2015), abrufbar unter . Insoweit sind wiederum sehr deutliche Parallelen zu den „Senate Factors“ des FCA erkennbar. Zusätzlich scheinen auch die ausformulierten DOJ Guidelines einen gewissen Einfluss gehabt zu haben, was sich etwa in der Betonung des hypothetischen Kenntnisstands der Behörde, den diese wahrscheinlich ohne die Information des Whistleblowers gehabt hätte, ablesen lässt. Zu den zum FCA entwickelten Faktoren oben, Rn. 74 m.w.N. 622 IRM, 25.2.2.7.4.1 (Stand 7.8.2015). Diese neuerliche Hervorhebung dürfte vor allem dadurch zu erklären sein, dass dem IRS Whistleblower Program eine „first-to-file bar“ fremd ist, die materiellen Anspruchsvoraussetzungen insoweit also keine unmittelbare Inzentivierung zu schnellem Handeln beinhalten. Vgl. zum FCA oben, Rn. 74. 623 IRM, 25.2.2.7.4.5 (Stand 7.8.2015). Hierbei wird der Erfolgsbeitrag jedes einzelnen Whistleblowers gegeneinander abgewogen und insbes. berücksichtigt, ob ein Whistleblower seine Informationen lediglich auf bereits erfolgten Meldungen aufgebaut hat.
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unter dem FCA kein individuelles Klagerecht zusteht, ordnet das Gesetz explizit die gerichtliche Überprüfbarkeit der Belohnungsentscheidungen an, um Whistleblower vor arbiträren Belohnungsfestsetzungen zu schützen. 624 Sofern die Informationen des Whistleblowers auf bereits öffentlich bekannten und damit den Behörden grundsätzlich zugänglichen Quellen beruht („public disclosure“), darf die Belohnung insgesamt 10% nicht überschreiten. Zudem liegt sie für diesen Fall im freien Ermessen des IRS Whistleblower Office.625 Auch insoweit gilt allerdings ebenfalls eine Ausnahme für Whistleblower, die als „original source“ zu qualifizieren sind. 626 Vom Whistleblower-Programm potentiell ausgeschlossen sind wiederum all jene Personen, die für die Nichtbegleichung bestehender Steuerschulden unmittelbar verantwortlich sind, diese also geplant und initiiert haben. 627 b) Die Auswirkungen des IRS Whistleblower Program Wie erwartet vervielfachten sich die durch das aktualisierte IRS Whistleblower Program erwirkten Steuernachzahlungen und Bußgeldbeträge im Vergleich zum Vorreformniveau bereits kurz nach Inkrafttreten des Gesetzes,628 wobei auch der bis heute mit Abstand aufsehenerregendste Erfolg unter dem neuen Programm nicht lange auf sich warten ließ. Im Jahr 2007 lieferte Bradley Birkenfeld, ein US-amerikanischer Staatsangehöriger und ehemaliger Mitarbeiter der Schweizer Großbank UBS, detaillierte Daten über US-amerikanische „Steuerflüchtlinge“ in der Schweiz und löste mit seinen Insider-Informationen zugleich eine Reihe weitreichender diplomatischer Konsequenzen aus. Anders als in Deutschland, wo im Ansatz ähnliche Ermittlungserfolge nur durch den hoch umstrittenen Ankauf sog. „Steuer-CDs“ von anonymen Informanten erzielt werden konnten, 629 gelangten die USA über das IRS Whistleblower Program nicht nur in den Besitz von Namenslisten und Kontodaten, sondern konnten durch einen persönlich hervortretenden Whistleblower das hinter der Steuerhinterziehung stehende System der UBS umfassend offenlegen, indem Birkenfeld die US-Behörden mit zahlreichen 624
26 U.S.C. § 7623(b)(4). 26 U.S.C. § 7623(b)(2)(A). 626 26 U.S.C. § 7623(b)(2)(B). 627 26 U.S.C. § 7623(b)(3). 628 S. mit einer Liste der Rechenschaftsberichte an den Kongress seit 2007. Während die (Rück-)Zahlungen und Whistleblower-Belohnungen vor 2006 deutlich unter 100 bzw. 10 Mio. US-Dollar lagen, ist in den Jahren nach der Reform ein Anstieg auf i.d.R. über 300 bzw. 50 Mio. US-Dollar zu verzeichnen. 629 Ausführliche Nachw. zu den einzelnen Fällen und ihren Folgen u.a. in der Themenrubrik der Süddeutschen Zeitung, ; zur sog. „Lichtensteiner Steueraffäre“ Kölbel, NStZ 2008, 241, 242; aus der rechtswissenschaftlichen Diskussion etwa Trüg, StV 2011, 111, 116 ff. m.w.N. 625
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Details über die genaue Funktionsweise, interne Verfahrensabläufe, konkrete Transaktionen und persönliche Verantwortlichkeiten innerhalb UBS versorgte. Als Folge der koordinierten Zusammenarbeit mit dem IRS und dem Justizministerium entstand ein ungleich größerer Druck auf die verantwortlichen Bankmanager und Entscheidungsträger in der Politik, ohne dass hierbei Drohungen mit dem Einsatz irgendeiner „Kavallerie“ notwendig gewesen wären.630 Dieser Druck wiederum resultierte schlussendlich in einer Strafzahlung der UBS in Höhe von 780 Mio. US-Dollar, über 5 Milliarden US-Dollar individuellen Steuernachzahlungen und Bußgeldern durch die Aufdeckung mehrerer tausend Täter und Offshore-Konten, über 100 strafrechtlichen Verurteilungen und einer diplomatischen Neujustierung der Beziehungen beider Länder in Gestalt bilateraler Abkommen zur Außerkraftsetzung des Schweizer Bankgeheimnisses gegenüber den USA.631 Für Birkenfeld selbst schienen sich seine Enthüllungen allerdings zunächst gegen ihn zu wenden. Denn nachdem das Justizministerium sein Immunitätsersuchen aufgrund seiner persönlichen Verstrickungen in das Steuerhinterziehungssystem abgelehnt hatte, musste er als Folge seines eigenen Whistleblowings eine Haftstrafe von insgesamt über zweieinhalb Jahren verbüßen. Wohl auch deswegen veranlasste das IRS aber bereits kurz nach Birkenfelds Freilassung im Jahr 2012 die Auszahlungen der bis zum heutigen Tag gewaltigsten Belohnung der US-amerikanischen Whistleblowing-Geschichte in Höhe von 104 Mio. US-Dollar.632 Gerechtfertigt wurde dieser außergewöhn630
Zur Diskussion um das Erstellen einer „schwarzen Liste“ von Steueroasen als Druckmittel für Verhandlungen mit der Schweiz und die medial dankbar skandalisierte „Kavallerie“-Äußerung des damaligen Finanzministers Peer Steinbrück statt vieler Mathieu von Rohr, Spiegel Online v. 24.3.2009, abrufbar unter . 631 Ventry, 59 Vill L. Rev. 425, 425–27 (2014); Pacella, 17 U. Pa. J. Bus. L. 345, 359– 63 (2015); Linnley Browning, New York Times v. 18.6.2010, B3, abrufbar unter ; Steward, 124 Tax Notes 744 (2009). Wenig überraschend fiel das Medienecho in der Schweiz weniger positive aus, s. Schubarth, Die Weltwoche, Ausgabe 38/2012, abrufbar unter , der dafür eintritt, den „Judaslohn“ Birkenfelds einzuziehen und grundsätzlich moniert, dass „Staaten wie Deutschland und die USA […] Verbrechern gutes Geld als Belohnung für ihre gegen die Schweiz gerichteten Straftaten [bezahlen].“ 632 David Kocieniewski, Whistle-Blower Awarded $104 Million by I.R.S., New York Times v. 12.9.2012, A1, abrufbar unter ; Ventry, 59 Vill L. Rev. 425, 425–27 (2014); Pacella, 17 U. Pa. J. Bus. L. 345, 362–63 (2015); Coder, 2012 TNT 177-1 (2012); Kohn, Whistleblower Handbook, p. vi.; Zusammenfassung in deutscher Sprache in Süddeutsche Zeitung v. 12.9.2012 (Onlineausgabe), abrufbar unter ; s. ferner die Chronologie der Ereignisse unter SRF, Er stand am Anfang vom Ende des Bankgeheimnisses, abrufbar unter . Anders als z.T. berichtet wurde (vgl. etwa Thüsing/Forst, in: Thüsing/Forst, Whistleblowing – A Comparative Study, ch. 1, p. 27) stand die Belohnungsgewährung in keinem direkten Zusammenhang zum Dodd-Frank Act. 633 IRS, IRS Summary Award Report Recommends $104 Million Payment to Whistleblower, abrufbar unter . Demgegenüber war der IRS sichtlich bemüht, den nicht unerheblichen Beitrag Birkenfelds in verschiedenen Fällen der Steuerhinterziehung während seiner Tätigkeit bei der UBS möglichst gering zu bewerten, um ihn nicht als Initiator bzw. Organisator der jeweiligen Straftaten vom Whistleblower-Programm ausschließen zu müssen. Krit. Pacella, 17 U. Pa. J. Bus. L. 345, 364–86 (2015); Coder, 2012 TNT 177-1 (2012). 634 Vgl. Ventry, 59 Vill L. Rev. 425, 464–66 (2014); sowie die Bekanntgabe des IRS in Fn. 633. 635 Die hiesige Darstellung geht im Wesentlichen auf entsprechende Gespräche des Autors mit verschiedenen US-amerikanischen Whistleblowing-Anwälten zurück. Vgl. ferner aus der Literatur Skarlatos/Septimus, 14 J. Tax Prac. & Proc. 21, 24 (2012-2013) mit kurzer Kritik an der mangelnden personellen Ausstattung des Programms; mit Verweis auf die geringe Anzahl ausgezahlter Belohnungen; aus der Politik Sen. Ron Wyden/Sen. Chuck Grassley, Politico Magazine v. 28.10.2014, abrufbar unter mit Kritik an langen Verfahrensdauern, teilweisem Ignorieren von Whistleblowern und dem nicht voll ausgeschöpften Potential des Programms ggü. dem FCA; insoweit zu Recht kritisch auch Ebersole, 6 Ohio St. Entrepren. Bus. L. J. 123 (2011).
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schnitt lediglich ca. 100 Whistleblower in den Genuss einer (finanziellen) Unterstützung durch den IRS kommen. 636 Der alleinige Blick auf die materiell-rechtlichen Unterschiede der jeweiligen Whistleblower-Bestimmungen kann diese Diskrepanz kaum erklären. Zwar mögen die Koordinierungshürden aufgrund der Implikationen des Steuergeheimnisses ebenso wie das Fehlen eines „qui tam“-Mechanismus sich negativ auf Effektivität und Effizienz des IRS-Programms auswirken.637 Betrachtet man allerdings die relativ größeren Erfolge der Dodd-Frank-Whistleblower-Programme638 und die frappierende Ähnlichkeit zu rechtlichen Voraussetzungen und Inzentivierungsparametern des FCA,639 liegt eine andere Erklärung wesentlich näher. Wie sich an der bisherigen Darstellung sowohl des finanziell inzentivierten Whistleblowings wie auch des passiven Whistleblower-Schutzes ablesen lässt, liegt ein wesentlicher – wenn nicht gar der entscheidende – Erfolgsfaktor des USamerikanischen Whistleblowing-Rechts in der effizienten Koordination von administrativen Ressourcen und privaten Informationsvorsprüngen. 640 Glaubt man Berichten aus der Praxis, bleibt das IRS Programm sowohl hinsichtlich der personellen Ausstattung des Whistleblower Office, dessen internen Verfahrensabläufen als auch hinsichtlich der allgemeinen „WhistleblowingKultur“ des IRS nach wie vor deutlich hinter seinen Möglichkeiten zurück. Ganz in diesem Sinne kam denn auch ein internes Audit aus dem Jahr 2016 zu dem Ergebnis, dass die bisherige Programmadministration insbesondere an zu langen Bearbeitungsprozessen, einer mangelhaften Kommunikation mit kooperationswilligen Whistleblowern und diversen internen Koordinations-
636 Vgl. IRS, Whistleblower Program, Report to Congress, FY 2014, abrufbar unter , p. 21, mit einem leichten Abfall der (Rück-)Zahlungen und Belohnungen über die letzten drei Jahre auf 302 bzw. 52 Mio. US-Dollar und im Mittel eher stagnierenden Beträgen. Diese Summen speisen sich dabei offenbar zu einem Großteil aus i.d.R. weniger als 10 finanzstarken Fällen und ca. 90 weiteren Verfahren. Beim FCA betragen Kompensationszahlungen und Belohnungen demgegenüber im Schnitt 3 Milliarden bzw. 49 Millionen US-Dollar (Fn. 573). Während sich für das Jahr 2015 ein Anstieg auf 500 bzw. 103 Mio. US-Dollar verzeichnen ließ, fielen die Kompensationszahlungen und Belohnungen im Jahr 2016 auf 369 bzw. 61 Mio. US-Dollar und im Jahr 2017 weiter auf 191 bzw. 34 Mio. US-Dollar. Vgl. IRS, Whistleblower Program, Report to Congress, Vgl. FY 2017, p. 9, abrufbar unter . 637 Für die Einführung eines „qui tam“-Mechanismus de lege ferenda Ventry, 61 Tax Law. 357, 370 et seq. (2008); ders. 59 Vill L. Rev. 425 (2014). Einen gewissen Ausgleich für das Fehlen eines privaten Disziplinierungsmechanismus bietet allerdings der oben erwähnte Rechenschaftsbericht an den Kongress. 638 Hierzu ab Rn. 183 ff. 639 Hierzu bereits ab Rn. 70 ff. 640 Vgl. mit Blick auf die „adjunct statutes“ etwa Rn 33 ff.
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problemen leide.641 Die praktischen Folgen dieser administrativen Schwächen sind neben einer optimierungsbedürftigen Funktionalität als Anlauf- und Filterstelle eine übliche Verfahrensdauer von z.T. mehreren Jahren und eine damit verbundene, erhöhte (finanzielle) Rechtsunsicherheit der Whistleblower im Nachgang eines eventuellen Arbeitsplatzverlustes bzw. karrierebelastender Diskriminierungen.642 Während sich US-amerikanische Whistleblowing-Stellen im Allgemeinen und der False Claims Act im Besonderen durch eine laufende, effiziente Koordinierung von Whistleblower und Behörde auszeichnen, verstellt zudem nicht zuletzt der Schutz des Steuergeheimnisses in IRS-Verfahren den Weg zu einem kontinuierlichen Informationsaustausch.643 Als wohl noch einschneidendere, rechtstatsächliche Schwachstelle des Systems hat sich zudem die gesetzlich nicht zwingend garantierte und in der Praxis nicht durchgängig umgesetzte Vertraulichkeitspolitik des IRS erwiesen, so dass Whistleblower mangels präventiv wirkendem Benachteiligungsschutz durch anonyme Meldekanäle 644 zwangsläufig entsprechenden Unwägbarkeiten ausgesetzt sind.645 Sowohl während der Implementierung des Programms als auch bei dessen späterer Administrierung deutet zudem einiges darauf hin, dass einige Mitglieder des Führungspersonals des IRS nicht die Absicht hatten, die internen Prozesse des IRS zugunsten einer effektiveren und zeitnahen Whistleblowing-Koordination umzugestalten oder sich für die 641 S. den Evaluationsbericht des (IRS-unabhängigen) Treasury Inspector General for Tax Administration (TIGTA), August 30, 2016 – Reference Number: 2016-30-059, p. 12, 16–34, abrufbar unter . Das IRS Whistleblower Office hat die meisten der Empfehlungen des Berichts im Laufe des Jahres 2017 umgesetzt bzw. ihre Umsetzung eingeleitet. Vgl. IRS, Whistleblower Program, Report to Congress, Vgl. FY 2017, p. 3, 5, abrufbar unter . Es bleibt abzuwarten, ob diese internen Organisationsreformen auch das verringerte Vertrauen von Whistleblowern in eine effiziente Kooperations- und Koordinationsfähigkeit des Programms wiederherstellen können. 642 In diese Richtung geht auch die Kritik des ehemaligen und die des heutigen Vorsitzenden des Finanzausschusses des Senats, die beide von häufigen Beschwerden von IRS Whistleblowern berichten. Hauptkritikpunkte scheinen dabei der mangelnde Wille und fehlende Kapazitäten des IRS zu sein, die bereitgestellten Informationen zügig und unter Einbindung des Whistleblowers zu nutzen. Sen. Ron Wyden/Sen. Chuck Grassley, Politico Magazine v. 28.10.2014, abrufbar unter . 643 S. Fn. 618; hierin den maßgeblichen Konstruktionsfehler des Gesetzes erkennend Kwon, 29 Va. Tax Rev. 447, 473 et seq. (2009). 644 Vgl. insoweit die Aussagen von Whitlock in Sullivan, 52 False Claims Act & Qui Tam Q. Rev. 79, 81, 90–91 (2009), welche bereits eine gewisse Indifferenz gegenüber dem Thema erkennen lassen. Zum Konzept des erweiterten Vertraulichkeitsschutzes unter dem SEC Whistleblower Program dort, Rn. 196 ff.; zu Identitätsschutzmechanismen beim internen Whistleblowings ab Rn. 104. 645 Vgl. hierzu die Nachweise in Fn. 619.
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Kapitel 2: Whistleblowing in den USA
Schutzinteressen der Whistleblower besonders einzusetzen.646 Kombiniert man schließlich die für ein landesweites Programm geringe Fallzahl von durchschnittlich nur 100 abgeschlossenen Verfahren 647 und das typischerweise große persönliche Interesse von Whistleblowern an einer erfolgreichen Ahndung der gemeldeten Rechtsverstöße,648 lässt sich erahnen, dass potentielle Whistleblower, die sich von Vertretern der auch auf diesem Gebiet aktiven „qui tam bar“ beraten lassen, nicht selten von einer Meldung Abstand nehmen. So kam dann auch eine Studie des Government Accountability Office (GAO) zu dem Schluss, dass vor allem fehlende personelle Ressourcen und Filtermechanismen, nicht hinreichend professionalisierte sowie zeitnahe Verfahrensabläufe und ein Mangel an kontinuierlicher Koordination mit den beteiligten Whistleblowern die Hauptgründe für das vergleichsweise schlechte Abscheiden des IRS Whistleblower Program darstellen.649 Selbst unter den normativen Bedingungen einer ansonsten potenten Rechtsgrundlage und sogar bei Inaussichtstellen erheblicher Belohnungschancen kommt der administrativen Einkleidung eines Whistleblower-Programms damit eine wesentliche Bedeutung sowohl für das öffentliche Interesse an der Rechtsdurchsetzung als auch für das private (Schutz)Interesse des Whistleblowers zu.650 Dass das IRS Whistleblower Program gleichwohl nicht ohne erheblichen Effekt auf die Rechtswirklichkeit geblieben ist, lässt sich bei alledem freilich an der für US-Verhältnisse ungewöhnlich starken Kritik in Literatur und Wirtschaft ablesen, welche dem Programm mit genau entgegengesetzten Vorzeichen bzw. Annahmen entgegengeschlagen ist. Kritisiert werden unter anderem die potentiell negativen Folgen von Belohnungssystemen auf interne 646 In diesem Sinne besonders frappierend ist die Aussage des bis 2008 amtierenden Chefjustiziars des IRS, Donald Korb, der sich nach seinem Wechsel zu Sullivan & Cromwell LLP mit den Worten zitieren ließ, dass das Whistleblower-Programm eine „tickende Zeitbombe“ sei, die dem IRS entgegen seinem Willen vom Kongress „aufgezwungen“ worden sei. S. Coder, 2010 TNT 11-7 (2010); krit. hierzu Erica Kelton, IRS Whistleblowers See Little Reward, abrufbar unter („The IRS has created a black hole for Whistleblower claims“). Insoweit bestätigt sich das „people matter as much as provisions“-Diktum von Richard Moberly. Vgl. Moberly, 64 S.C. L. Rev. 1, 50–51 (2012) m.w.N. zur Kritik in Fn. 349. 647 Nachw. oben, Fn. 636. 648 Nachw. oben, Rn. 8. 649 GAO, Incomplete Data Hinders IRS’s Ability to Manage Claim Processing Time and Enhance External Communication, p. 9 et seq., abrufbar unter . Vgl. ferner Moberly, 64 S.C. L. Rev. 1, 50–51 (2012) m.w.N. zur Kritik in Fn. 349. 650 Insoweit wird sich an den suboptimalen Erfolgszahlen des IRS Whistleblower Program auch in Zukunft aller Wahrscheinlichkeit nach nichts ändern. A.A. Pfeifle, Anreize für Whistleblower, S. 91 auf Basis des Birkenfeld-Falls.
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Compliance-Systeme, eine mögliche Überbeanspruchung administrativer Ressourcen, die moralische Fragwürdigkeit (exzessiver) Belohnungen und (vor allem) eine vermeintlich zweifelhafte Effektivität extrinsischer Motivationsmechanismen im Kontext der Whistleblowing-Regulierung.651 Hierbei ist allerdings auffällig, dass sich die oft allgemein gehaltene Kritik zumeist auf Aspekte bezieht, die in anderem Zusammenhang entweder keine nennenswert negative Resonanz erfahren haben oder sogar als empirisch widerlegt gelten dürfen.652 Insoweit spiegeln diese Beiträge weniger den allgemeinen USamerikanischen Debattenstand im Bereich des inzentivierten Whistleblowings wider, sondern dürften nicht zuletzt dem (nicht nur, aber besonders) in den USA hoch sensiblen Thema der Steuereintreibung geschuldet sein. 653 Trotz der in mehrerlei Hinsicht defizitären Umsetzung des WhistleblowerProgramms durch den IRS sah sich der Gesetzgeber daher auch einige Zeit später nicht daran gehindert, in einem neuen, aufwändigeren Versuch die Erfolgskriterien des False Claims Act auf ein anderes administratives Belohnungsprogramm zu übertragen. 654 Auf das finanziell mit einigem Abstand erfolgreichste und rechtlich prägendste dieser Programme, das „SEC Whistleblower Program“, wird an gegebener Stelle noch näher einzugehen sein.655 Im 651 Vgl. statt mehrerer Aldinger, 51 Hous. L. Rev. 913, 931–45 (2014) m.w.N.; sowie Feldman/Lobel, 88 Tex. L. Rev. 1151, 1184, n. 207 (2010). Zu deren Studie und der sich hierauf beziehenden Literatur oben, Rn. 9. Entsprechende Kritik findet sich zwar auch in Zusammenhang mit anderen Belohnungsprogrammen, hier aber zumeist nicht nur zahlenmäßig geringer, sondern in Stil und Inhalt deutlich weniger scharf und mit Inbetriebnahme des Programms zumeist deutlich abgeschwächt. Vgl. etwa Ebersole, 6 Ohio St. Entrepren. Bus. L. J. 123 (2011); zur anfänglichen Kritik am SEC Whistleblower Program ab Rn. 200. 652 Unter anderem die Behauptungen, dass finanzielle Anreize und Kompensationen im Whistleblowing-Recht keine Wirkung entfalten könnten oder (umgekehrt) zu Bedeutungsverlusten interner Compliance-Systeme führten widerspricht sowohl den Erfahrungen unter dem FCA als auch denen unter dem Dodd-Frank Act. Überlastungstendenzen sind beim dortigen „SEC Office of the Whistleblower“ ebenfalls nicht festzustellen. 653 Vgl. Feldman/Lobel, 88 Tex. L. Rev. 1151, 1184, n. 207 (2010) mit Verweisen auf die geringere soziale Ablehnung von Steuervergehen im Vergleich zu anderen Rechtsbrüchen. Auch wenn die (rechts-)politische Debatte in den USA in punkto Steuern einige Besonderheiten aufweist, dürften die potentielle Selbstbetroffenheit und das relative Unrechtsbewusstsein auf dem Gebiet des Steuerrechts ähnliche Tendenzen auch in Deutschland erwarten lassen. Gegen die explizite Kritik, dass das Steuerrecht als typischerweise komplexe und undurchsichtige Materie für Whistleblower-Programme ungeeignet sei, Ventry, 59 Vill L. Rev. 425, 447–48 (2014). 654 Zum allgemeinen Einfluss der FCA-Erfolge auch Bishara/Callahan/Dworkin, 10 N.Y.U. J. L. & Bus. 37, 41, 64 (2013). 655 Unten, Rn. 184 ff. Neben den Dodd-Frank Whistleblower-Programmen hat der Bundesgesetzgeber im Dezember 2015 den „Motor Vehicle Safety Whistleblower Act (MVSWP)“ erlassen, in Kraft getreten als Teil des „Fixing America's Surface Transportation Act of 2015 (FAST Act)“, aktuell 49 U.S.C. § 30172, motiviert durch verschiedene Sicherheitsskandale in der Automobilindustrie, s. S. Rep. No. 114-13, 114th Cong., 1st
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Kapitel 2: Whistleblowing in den USA
Folgenden wendet sich die Darstellung hingegen einem anderen Themenkomplex zu, dessen Entwicklung nicht nur wegen seiner Wechselwirkungen mit finanziell inzentivierten Whistleblower-Programmen von erheblicher Bedeutung für das US-Whistleblowing-Recht ist und sich auch für Deutschland als besonders bedeutsam erweisen sollte: das institutionalisierte, unternehmensinterne Whistleblowing.
H. Die Entwicklung des internen Whistleblowings als Corporate-Governance- und Compliance-Element in den USA H. Internes Whistleblowing als Corporate-Governance- und Compliance-Element
I. Vom One-Tier- zum Three-Tier-System – Föderalismus und Corporate Governance in den USA 1. Das Gesellschaftsrecht Delawares als Ausgangspunkt USamerikanischer Unternehmensverfassungen Möchte man die rechtlichen Vorbedingungen des internen Whistleblowings in den USA verstehen, so ist man wie stets im Bereich des USamerikanischen Gesellschaftsrechts mit dem Problem konfrontiert, dass es „das“ US-Gesellschaftsrecht als solches nicht gibt. Zwar werden die Unterschiede in der gesellschaftsrechtlichen Corporate-Governance-Kulturen656 zwischen den USA und Deutschland zumeist unter den Topoi des monistischen One-Tier-Systems bzw. des dualistischen Two-Tier-Systems zusammengefasst, wobei für ersteres ein „Board of Directors“ als Zentralorgan und für letzteres die Aufgabentrennung zwischen Vorstand und Aufsichtsrat cha-
Sess. (2015). Das Gesetz ist materiell-rechtlich i.W. eine vereinfachte Kopie des DoddFrank Acts, wurde von der zuständigen Bundesbehörde bis jetzt aber weder umgesetzt, noch in vergleichbarer Weise durch ein eigenständiges Whistleblower Office oder Whistleblowing-spezifische Gesetzgebungsanalysen begleitet. Vgl. allgemein Ari Yampolsky, Celebrating Motor Vehicle Safety Whistleblower Act’s first anniversary, The Hill v. 06.12.2016, abrufbar unter . 656 Für die Zwecke der folgenden Darstellung wird der Begriff der „Corporate Governance“ synonym mit dem deutschen Begriff der „Unternehmensverfassung“ im Sinne der internen Organisationsordnung einer Gesellschaft verwendet. Für weitere Bedeutungen und Unterschiede in der US-amerikanischen und deutschen Diskussion vgl. Gerum, Corporate Governance, S. 5 ff. m.w.N.; zur Abgrenzung vom Begriff der „Corporate Compliance“ Hauschka/Moosmayer/Lösler, in: Hauschka/Moosmayer/Lösler, Corporate Compliance, § 1, Rn. 1 ff.; wonach Corporate Governance die Sicht der „Regulierer“, Corporate Compliance hingegen die Perspektive der „Regulierten“ beschreibt, was durch den Ausschluss der in den USA mit einbezogenen Aspekte der „corporate self-governace“ und „stakeholder governance“ dem gängigen deutschen Begriffsverständnis entspricht.
H. Internes Whistleblowing als Corporate-Governance- und Compliance-Element 157
rakteristisch sei.657 Mangels konkreter Kompetenztitel des Bundes und einhergehender „internal affairs doctrine“658 verfügt allerdings jeder Einzelstaat über sein eigenes Gesellschaftsrecht und damit im Grundsatz auch über sein eigenes Corporate-Governance-System. In der Theorie konkurrieren damit fünfzig unterschiedliche Rechtsordnungen auf einem nationalen Marktplatz der Systeme, geschaffen und geformt durch die unsichtbare Hand des Föderalismus.659 Die hieran anschließende Diskussion um die qualitativen Implikationen eines legislativen Wettbewerbs zwischen den Einzelstaaten, namentlich ob er im Ergebnis zu einem „race to the top“ oder vielmehr einem „race to the bottom“ geführt hat, gehört zu den klassischen Grundsatzdebatten des USamerikanischen (Gesellschafts-)Rechts.660 Im Rahmen dieses Systems hat sich indes der Wettbewerbsvorteil eines Staates, des gesellschaftsrechtlichen „Markführers“ Delaware, schon seit vielen Jahrzehnten als derart nachhaltig und substanziell erwiesen, dass mittlerweile einige Stimmen in der Literatur die Idee eines funktionierenden Wettbewerbs der Rechtsordnungen als einer der Grundhypothesen des US-amerikanischen Gesellschaftsrechts gänzlich in Frage stellen.661 Aus empirischer Sicht mag zwar schwer zu ermitteln sein, ob
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S. statt vieler Böckli, in: Hommelhoff/Hopt/v. Werder, HdB Corporate Governance, S. 255 ff. sowie die Nachw. in Fn. 673. 658 Nach Maßgabe der „internal affairs doctrine“ ist das Binnenverhältnis zwischen Gesellschaft, Directors, Officers und Anteilseignern grundsätzlich dem jeweiligen Gründungsstaat zugewiesen. S. hierzu Note, 115 Harv. L. Rev. 1480 (2002); ALI, Restatement (Second) of Conflict of Laws § 302 (1971/2015). Als Ratio der „internal affairs doctrine” wird zumeist die Vermeidung unterschiedlicher, potentiell widersprüchlicher Verhaltensanforderungen angeführt. Vgl. Edgar v. Mite Corp., 457 U.S. 624, 645 (1982). Im Ergebnis hat sie einen ähnlichen Effekt wie die vom EuGH u.a. in seiner CentrosEntscheidung unter anderen Vorzeichen postulierte „Gründungstheorie“. Vgl. EuGH, Urt. v. 9.3.1999 – Rs. C-212/97, Centros Ltd./Erhvervs- og Selskabsstyrelsen, Slg. 1999, I1459. 659 S. grundlegend und befürwortend Romano, The Genius of Corporate Law, p. 1 et seq. 660 S. bereits Louis K. Ligget Co. v. Lee, 288 U.S. 517, 548–65 (1933) (Teildissent Justice Brandeis); Cary, 83 Yale L. J. 663 (1974) (race to the bottom); Winter, 6 J. Leg. Stud. 251 (1977) (race to the top); Romano, The Genius of Corporate Law, p. 14–24; Roe, 34 Del. J. Corp. L. 1 (2009) m.w.N. 661 So insbes. Kahan/Kamar, 55 Stan. L. Rev. 679 (2002)) und Bebchuk/Hamdani, 112 Yale L. J. 553, 564 et seq. (2002) aus empirischer und Kamar, 98 Colum. L. rev. 1908, 1923–27 (1998) aus theoretischer Perspektive. Diese Ansicht ist freilich auch heute nicht unumstritten, s. z.B. Brown, 38 U. Rich. L. Rev. 317, 327 et seq. (2004), der einwendet, dass selbst wenn die übrigen Staaten sich nicht mehr aktiv um den Zuzug neuer Gesellschaften bemühen würden, diese jedenfalls insoweit auf den Druck des Marktes reagierten, als sie lokale Gesellschaften durch Anpassung ihres Rechts an einem Wegzug zu hindern versuchten.
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Kapitel 2: Whistleblowing in den USA
und wie die oft beschriebenen Vorteile Delawares662 sich tatsächlich auf die jeweilige Entscheidungsfindung bei der Suche nach einem Gesellschaftssitz ausgewirkt haben. An der praktischen Dominanz Delawares als häufigstem Unternehmenssitz vor allem größerer, landesweiter Gesellschaften und der damit einhergehenden Relevanz seiner Gesellschaftsrechtsordnung lässt sich hingegen kaum zweifeln.663 Nicht zuletzt die Vorbildfunktion des Delaware General Corporation Law (DGCL) und seine oft bewiesene Adaptionsfähigkeit664 machen aus dem Recht Delawares daher nach wie vor einen geeigneten Referenzpunkt für US-amerikanische Unternehmensverfassungen. 665 Die grundlegendste Corporate-Governance-Norm des Gesellschaftsrechts Delawares ist § 141(a) DGCL, welche die Allzuständigkeit und Leitungsverantwortung des Board of Directors festlegt. 666 Der auf den ersten Blick eindeutige Wortlaut der Norm mag zu dem Schluss verleiten, dass das Board sich durch eine doppelfunktionale Vereinigung der unter dem dualistischen System getrennten Aufgaben von Geschäftsführung und Überwachung auszeichne und damit (auch) die Aufgaben des Vorstands einer deutschen Aktiengesellschaft wahrnehme. 667 Der zweite Halbsatz aber, wonach die Leitung 662 Hierzu gehören eine relativ hohe Rechtssicherheit auf Grundlage eines ausdifferenzierten Korpus einschlägiger Gerichtsentscheidungen, die Spezialisierung einer professionellen Anwaltschaft sowie – nicht zuletzt – der liberale bzw. managementfreundliche Rechtsrahmen des Rechts selbst. 663 Vgl. die Nachw. aus Fn. 661 sowie Delaware Division of Corporations, Annual Report 2014 – 06/23/15, abrufbar unter , wonach sich der Vorsprung Delawares in jüngerer Zeit sogar weiter vergrößert hat (65,6% aller Fortune 500 Gesellschaften im Gegensatz zu 58% im Jahr 2000; knapp 89% aller IPOs im Jahr 2014). 664 Hierauf abstellend Romano, 1 J. L. Econ. & Org. 225, 280–81 (1985). 665 Plakativ etwa Strine, 30 Del. J. Corp. L. 673, 683 (2005): („virtual national company law“). Blickt man auf die prominente Rolle, welche die Einnahmen aus der gesellschaftsbezogenen „franchise tax“ im Landeshaushalt Delawares spielen, wird sich am diesbezüglichen Engagement von Delawares Gesetzgeber und Gerichten wohl auch in naher Zukunft kaum etwas ändern. Vgl. die Financial Summary for the Fiscal Year 2016, abrufbar unter 57 Mio. US-Dollar. Eine exemplarische „Award Order“ der SEC wurde dieser Arbeit in Kopie als Appendix B3 beigefügt.
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Kapitel 2: Whistleblowing in den USA
Mrd. US-Dollar Reineinnahmen ausgeht.1645 Angesichts der bisherigen Steigerungsrate der Belohnungen, einer zunehmenden Zahl von Meldungen und laufenden Verfahren sowie der typischerweise längeren Ermittlungsdauer bei größeren bzw. komplexeren Verstößen wird allgemein mit einem weiteren Anstieg der Strafzahlungs- und Belohnungssummen gerechnet. 1646 Während die üblichen Einzelbelohnungen zunächst Beträge von einigen Hunderttausend US-Dollar erreichten, mittlerweile aber zumeist im einstelligen Millionenbereich liegen,1647 betrug die bisher höchste Belohnungsauszahlung über 30 Mio. US-Dollar, ausgezahlt an einen ausländischen Staatsbürger auf Basis eines anderenfalls nicht aufzudeckenden, erheblichen Investorenbetrugs.1648 Den zweithöchsten Betrag erhielt ein ehemaliger Monsanto-Manager, dessen 1645 S. (Stand 12/2017). Konkrete, nachprüfbare Zahlen sind für das SEC Whistleblower Program allerdings nicht offiziell verfügbar, da das OWB den prozentualen Anteil des Whistleblowers entsprechend seiner Vertraulichkeitspolitik i.d.R. nicht bekannt gibt, um Rückschlüsse auf die Identität des Whistleblowers zu verhindern. Vgl. Appendix B3 im Anhang dieser Arbeit. Eine Aufschlüsselung der jeweiligen Daten in die Erfolgsbeiträge belohnungsfähiger und nichtbelohnungsfähiger Meldungen kann dementsprechend nicht vorgenommen werden. 1646 Vgl. etwa die Festlegung des Leiters der SEC Enforcement Division, Andrew Ceresney, The SEC’s Whistleblower Program: The Successful Early Years, Sixteenth Annual Taxpayers Against Fraud Conference Washington, D.C, 14.9.2016, abrufbar unter (im Folgenden „TAF Conference“), a.E.: „I am proud of the program’s accomplishments during its brief existence and anticipate that the Whistleblower program will continue to be a game changer in future years. In fact, my prediction is that it will take us significantly less time to announce that we have passed the $200 million milestone than it did to pass the $100 million mark. All signs are that the Whistleblower program is performing exceedingly well and I am grateful for all you have done to help make that happen.“ Tatsächlich befindet sich die bisherige Steigerungsrate in etwa auf dem Niveau des FCA von 1986 und deutlich über der des IRS Whistleblower Program von 2006. In absoluten Zahlen liegt das SEC Whistleblower Program aktuell indes hinter beiden Vergleichsprogrammen (s. Fn. 573, 636). 1647 S. hierzu mit entsprechenden Belohnungsbekanntgaben seit dem Jahr 2012. Im Jahr 2017 lag der Median der elf offiziell quantifizierten (von zwölf insgesamt gewährten) Belohnungen bei knapp 4 Mio. USDollar, s. SEC, Whistleblower Report 2017 (Fn. 1643), p. 10–12. 1648 Vgl. hierzu die entsprechende „Award Order“ in Appendix B3 im Anhang dieser Arbeit. Zu den (spärlichen) Informationen über den Inhalt des Falls, s. insbes. Erika Kelton, Stellungnahme v. 22.9.2014, abrufbar unter ; SEC, SEC Announces Largest-Ever Whistleblower Award, Pressemitteilung vom 22.9.2014, abrufbar unter ; sowie die Anmerkungen von Andrew Ceresney, TAF Conference (Fn. 1646) unter der (fehlleitenden) Überschrift „Foreign Corrupt Practices Act“. Die konkrete Auszahlung des Betrages fand im Folgejahr statt und wurde demgemäß erst für den Jahresbericht 2015 berücksichtigt.
J. Der Dodd-Frank Act
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detailliertes Wissen und Kooperationsbereitschaft bei der Ahndung von Bilanzfälschungsvorgängen im Zusammenhang mit dem Vertrieb des Pflanzenschutzmittels Glyphosat im Jahr 2016 zu einer Belohnung von fast 22,5 Mio. US-Dollar geführt hat.1649 Unter anderem diesen monetären Erfolgen ist es geschuldet, dass der Gesetzgeber mittlerweile versucht, das Modell des SEC Whistleblower Program auch auf andere Bereich zu übertragen. 1650 Entgegen theoretischer Vermutungen in Teilen der Literatur konnte eine moralische Abschreckungswirkung finanzieller Belohnungen auf die Bereitschaft zum Whistleblowing („sog. crowding out effect“) bis heute nicht beobachtet werden.1651 Lehnt ein Whistleblower tatsächlich jegliche persönliche Bereicherung ab, steht es ihm darüber hinaus frei, auf seine Belohnung zu verzichten – wie dies der Deutsche Bank Mitarbeiter Eric Ben-Artzi vor einiger Zeit trotz einer Belohnungssumme von 8,25 Mio. Dollar auch getan hat.1652 Insgesamt 1649 SEC, $22 Million Whistleblower Award for Company Insider Who Helped Uncover Fraud, Pressemitteilung v. 30.8.2016, abrufbar unter ; Florian Diekmann, Spiegel Online v. 31.8.2016, abrufbar unter . 1650 So im Dezember 2015 durch den „Motor Vehicle Safety Whistleblower Act (MVSWP)“, in Kraft getreten als Teil des „Fixing America's Surface Transportation Act of 2015 (FAST Act)“, aktuell 49 U.S.C. § 30172, erlassen aufgrund verschiedener Sicherheitsskandale in der Automobilindustrie, s. S. Rep. No. 114-13, 114th Cong., 1st Sess. (2015). Das Gesetz ist materiell-rechtlich i.W. eine vereinfachte Kopie des Dodd-Frank Act, wurde von der zuständigen Bundesbehörde bis jetzt aber weder umgesetzt, noch in vergleichbarer Weise durch aktive Begleitung eines Whistleblower Office gefördert. Vgl. Ari Yampolsky, Celebrating Motor Vehicle Safety Whistleblower Act’s first anniversary, The Hill v. 06.12.2016, abrufbar unter . 1651 So hingegen Ebersole, 6 Ohio St. Entrepren. Bus. L. J. 123, 130–31 (2011) mit Verweis auf Feldman/Lobel, 88 Tex. L. Rev. 1151, 1179–81 (2010), ihrerseits auf Basis einer Befragungsstudie unter Probanden ohne eigene Whistleblowing-Erfahrung. Dagegen etwa Blount/Markel, 17 Fordham J. Corp. & Fin. L. 1023, 1052 (2012): „These studies have their limitations; both studies rely upon survey data of self-reported reactions to hypothetical factual situations, as opposed to analyzing actual examples of Whistleblowers reporting misconduct.”; deutlich auch Rose, 108 Nw. U. L. Rev. 1235, 1276 (2014): „While theoretically possible, there is no evidence that [the SEC Program] has created such a crowding-out effect or that it will in the future.“ Zum Ganzen im Einzelnen unter Rn. 214 ff. 1652 Ben-Artzi wollte mit seinem Verzicht in erster Linie ein Zeichen gegen das von ihm als zu nachsichtig empfundene Vorgehen der SEC gegen das Management der Deutschen Bank setzen. S. Eric Ben-Artzi, We must protect shareholders from executive wrongdoing, Financial Times v. 18.8.2016, abrufbar unter ; Markus Zydra, Deutsche-Bank Mitarbeiter verzichtet auf 8 Millionen, Süddeutsche Zeitung v. 19.8.2016, abrufbar unter .
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erhielt das OWB im Jahr 2017 über 4.400 Hinweise, wobei sich die jährliche Anzahl an Meldungen parallel zum wachsenden Bekanntheitsgrad des Programms um insgesamt mehr als 40% gesteigert hat.1653 Zu den häufigsten Meldegegenständen gehören regelmäßig Bilanzierungs- und Publizitätsverstöße, Fälle von Wertpapier- und Kapitalanlagebetrug oder anderen Marktmanipulation sowie (nach anfänglich nur geringer Bedeutung) zunehmend auch Verstöße gegen den FCPA.1654 Die Basis des stetigen Anstiegs sanktionsträchtiger Verfahrensabschlüsse stellt in erster Linie nicht die (ebenfalls gestiegene) Anzahl von Whistleblower-Meldungen an das OWB dar, sondern vor allem eine spürbare qualitative Verbesserung des Meldeinhalts verglichen mit der Zeit vor Inkrafttreten des Dodd-Frank Act. Denn anders als z.T. angenommen wird,1655 führte die Einführung einer vorhersehbaren, signifikanten Whistleblower-Belohnung nicht etwa zu einer Zunahme unsubstantiierter oder missbräuchlicher Meldungen durch Schein-Whistleblower, sondern in erster Linie zu einem Anstieg qualitativ hochwertiger Whistleblower-Informationen von Brancheninsidern, für welche die persönlichen Risiken einer Meldung bzw. die Belastungen eines langanhaltenden Verfahrens nun kalkulierbarer und kompensierbarer erscheinen.1656 In diesem Sinne inzentiviert das SEC Whistleblower 1653
SEC, Whistleblower Report 2017 (Fn. 1643), p. 23; SEC, Whistleblower Reports 2011–2017 (Fn. 1644) (3001 im Jahr 2012, 3238 im Jahr 2013, 3620 im Jahr 2014, 3.923 im Jahr 2015, 4.218 im Jahr 2016 und 4.484 im Jahr 2017). 1654 S. SEC, Whistleblower Reports 2011–2017 (Fn. 1644), auf S. 24 des Reports von 2017, S. 24 des Reports von 2016, S. 22 des Reports von 2015, S. 21 des Reports von 2014, S. 8 des Reports von 2013. Während FCPA-Verstößen entgegen vieler Erwartungen jedenfalls bei der Belohnungsvergabe eine anfänglich geringe Rolle zugekommen ist, steigen ihr Anteil an den Gesamtmeldungen und das Verfolgungsinteresse der SEC seit einiger Zeit kontinuierlich an, s. Rn. 282. 1655 Entsprechende Annahmen in der deutschen Literatur etwa bei Pfeifle, Anreize für Whistleblower, S. 197 f. mit Verweis auf Bueren, ZWeR 2012, 310, 340 mit Verweis auf das spieltheoretische Modell von Aubert/Rey/Kovacic, 24 Int. J. Ind. Org. 1241, 1253 (2006), wo ein derartiger Effekt indes nicht untersucht wurde. 1656 Vgl. White, Speech at Garrett Institute (Fn. 1641): „As the program has grown, not only have we received more tips, but we also continue to receive higher quality tips that are of tremendous help to the Commission in stopping ongoing and imminent fraud, and lead to significant enforcement actions on a much faster timetable than we would be able to achieve without the information and assistance from the Whistleblower.“; so bereits kurz nach Einrichtung des Programms die damalige SEC-Vorsitzende Mary Schapiro, Opening Statement at SEC Open Meeting: Item 2 — Whistleblower Program, Washington D.C., May 25, 2011, abrufbar unter : „For an agency with limited resources like the SEC, it is critical to be able to leverage the resources of people who may have first-hand information about violations of the securities laws. […] While he SEC has a history of receiving a high volume of tips and complaints, the quality of the tips we have received has been better since Dodd-Frank became law. We expect this trend to continue […].“ Auch wenn die
J. Der Dodd-Frank Act
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Program insbesondere höherrangige Mitarbeiter mit entsprechend detaillierten Insider-Kenntnissen, welche etwa die Hälfte der SEC-Whistleblower ausmachen1657 und unter dem SOX-Regime angesichts erheblicher Karrierenachteile noch vor Meldungen zurückgeschreckt waren. 1658 Während die personelle Ausstattung des OWB mit mittlerweile 19 Vollzeitmitarbeitern gerade für eine traditionell eher personalressourcenschwache Bundesbehörde wie die SEC relativ aufwandsträchtig ist,1659 führte die Kooperation mit Whistleblowern offenbar zu einer Beschleunigung der durchschnittlichen Verfahrensdauer und damit zu einer Aufwandsreduktion anderer Abteilungen.1660 Neben dem TCR-System, dem in der Praxis eine wesentliche Rolle bei der effizienten Filterung und Weiterverfolgung von Meldungen zukommt,1661 wird ein nicht unerheblicher Teil der Filter-, Beratungs-, und Scharnierfunktion des OWB in der Praxis freilich auch auf die „qui tam bar“ ausgelagert, welche zudem ein starkes (monetäres) Eigeninteresse an einem erfolgreichen Verfahrensabschluss hat. 1662 Mindestens ebenso wichtig wie die gestiegene Qualität der Informationen in der Praxis nicht bezweifelt wird, dürften vereinzelte offizielle Behauptungen, wonach wöchentlich stets eine Vielzahl untersuchungsdienlicher Hinweise von der SEC verarbeitete werden, mit angemessener Vorsicht zu betrachten sein. Vgl. Ben Protess/ Nathaniel Popper, Hazy Future for Thriving S.E.C. WhistleBlower Effort, New York Times v. 23.4.2013, abrufbar unter , unter Berufung auf interne Quellen. 1657 SEC, Whistleblower Report 2015 (Fn. 1643), p. 16. 1658 Vgl. oben, Rn. 166. Zu den Vorteilen hoher Belohnungen im Vergleich zu geringeren Melde-Boni auch Attorney General Holder, Remarks on Financial Fraud Prosecutions at NYU School of Law, Rede vom 17.9.2014, abrufbar unter . 1659 SEC, Whistleblower Report 2017 (Fn. 1643), p. 6, bestehend aus der amtierenden Chief of the Office of the Whistleblower Jane Norberg, ihrer Stellvertreterin, elf Rechtsanwälten, vier Rechtsanwaltsgehilfen („paralegals“) und einem Verwaltungsassistenten. 1660 Vgl. etwa die Einschätzung des SEC Division of Enforcemt, Andrew Ceresney, TAF Conference (Fn. 1646): „I often speak of the transformative impact that the program has had on the Agency, both in terms of the detection of illegal conduct and in moving our investigations forward quicker and through the use of fewer resources.“ 1661 S. oben, Rn. 199 mit entsprechender Evaluation durch das OIG; Rose, 108 Nw. U. L. Rev. 1235, 1280 (2014). 1662 Vgl. Andrew Ceresney, Speech at TAF Conference (Fn. 1646) a.E.: „[A counsel] experienced in Whistleblower representations can help with up-front triage of tips to identify those that have a nexus with the federal securities laws and that may have merit […] can work with Whistleblowers going forward to identify information that will be important to us and that will allow us to advance our investigations […] can help by emphasizing to clients that the passage of time without contact does not mean we are not taking the allegations seriously […].“ Insoweit nimmt die „qui tam bar“ wie schon unter dem FCA die für die Whistleblowing-Regulierung typische (Rn. 79), (begrenzte) Verwaltungskontrollfunktion wahr.
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Kapitel 2: Whistleblowing in den USA
administrative ex-post-Filterung dürfte die präventive Qualitätssicherung durch die materiell-rechtlichen Komponenten des Programms sein, allen voran die überwiegend bereits durch den FCA erprobten Selektionselemente des „original information“-Kriteriums.1663 Gleiches gilt für die Strafbarkeitsandrohung zur Abwehr missbräuchlicher Anzeigen, 1664 wobei vage Anschuldigungen „ins Blaue hinein“ entgegen mancher Vorhersagen offenbar schon durch das lange, kooperationsaufwendige Verfahren und die eher illusorische Chance auf Belohnungen für gegenstandslose Meldungen vermieden werden.1665 Nachdem sich Vertraulichkeits- bzw. Anonymitätsschutz als wichtige Bausteine zur Motivation und zum Schutz interner wie externer Whistleblower erwiesen hatten, legt das OWB zudem ersichtlichen Wert auf die Einhaltung und Bekanntmachung der erweiterten Vertraulichkeitsgarantie des SEC Whistleblower Program.1666 Bis heute ist dementsprechend kein einziger Fall bekannt, in dem die Identität eines Whistleblowers entgegen dessen Willen offengelegt worden wäre.1667 Um zu gewährleisten, dass Whistleblower trotz zunehmender Entdeckungsgefahr bis zum Ende des jeweiligen Verfahrens mit der SEC kooperieren, wird in der Praxis eine dreistufige Vertraulichkeitspolitik verfolgt. So wird im Rahmen der (Erst-)Meldung vor allem darauf Wert gelegt, dass der Whistleblower keine Informationen bzw. Dokumente einschränkungslos an die SEC weiterleitet, aus denen Dritte möglicherweise Rückschlüsse auf dessen Identität ziehen könnten. Während der Dauer eigener bzw. assoziierter Ermittlungsverfahren wird der Kreis der Eingeweihten wiederum mittels der bereits dargestellten Verschwiegenheitsbestimmungen möglichst gering gehalten. 1668 Bei Abschluss des Verfahrens bzw. der straf1663
S. Rn. 190. S. Rn. 197; insoweit wie hier Rose, 108 Nw. U. L. Rev. 1235, 1281–82 (2014). 1665 Vgl. SEC, Whistleblower Report 2014 (Fn. 1643), p. 14–15, wonach bis zum Ende des Jahres 2014 zwar 215 Belohnungsablehnungen mittels „final order“ ergangen sind, 196 der entsprechenden Anträge allerdings von einer einzigen Person gestellt wurden, welche danach von der Programmteilnahme ausgeschlossen wurde. 1666 Zur Anonymität als „best practice“ interner Whistleblowing-Kanäle, s. Rn.105; zu Problemen mit Vertraulichkeitsstandards i.R.d. IRS-Programms, s. Rn. 89. Zu diesen Erfahrungen passt, dass die Mittel und Grenzen der Vertraulichkeitspolitik zu den am häufigsten nachgefragten Themengebieten der SEC Whistleblower Hotline gehörten. S. SEC Whistleblower Report 2015 (Fn. 1643), p. 8. 1667 Diese Aussage stützt sich neben eigenen Recherchen auf Gespräche des Autors mit dem ehemaligen Leiter des OWB, Sean McKessy, und diversen Whistleblowing-Anwälten (Fn. 1338). Jenseits der bekannten, größeren Verstoß- bzw. Belohnungsfälle lässt sich freilich nicht ausschließen, dass Arbeitgeber in einigen Fällen Rückschlüsse auf die Identität von SEC-Whistleblowern treffen konnten. 1668 S. Rn.196. Zu einer extensiven Ermessenausübung bei der Weiterleitung von Whistleblower-Informationen an andere Behörden ist es – soweit dies beurteilt werden kann – bis jetzt nicht gekommen. 1664
J. Der Dodd-Frank Act
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rechtlichen Verurteilung von Beteiligten wird schließlich zum einen darauf geachtet, dass belastende Anschuldigungen wenn möglich auf alternative Beweise gestützt werden, so dass der Whistleblower sich keiner Gegenüberstellung als Belastungszeuge aussetzen muss. 1669 Zum anderen werden im Rahmen öffentlicher Bekanntmachungen und selbst bei der letztendlichen Belohnungsvergabe nicht nur sämtliche personenbezogenen Daten geschwärzt, sondern auch alle anderen Angaben mit direktem Bezug zum jeweiligen Gegenstand des Whistleblowings unkenntlich gemacht.1670 Aufgrund dieser Praxis entscheiden sich trotz der Möglichkeit anonymer Meldungen ca. 80% der belohnungsfähigen Whistleblower von Anfang an für die Offenlegung ihrer Identität gegenüber dem OWB. 1671 Hinsichtlich der im Rahmen des Konsultationsprozesses heftig umstrittenen Folgen des SEC Whistleblower Program für unternehmenseigene Compliance- und Whistleblowing-Systeme deuten die verfügbaren Daten ebenfalls auf eine Whistleblowing-förderliche Entwicklung hin.1672 So wenden sich nach wie vor über 80% der von der SEC registrierten Whistleblower erst nach erfolglosen internen Meldungen und Abhilfeversuchen an das OWB, wobei die erfahrungsgemäß weit höhere Dunkelziffer rein interner Meldungen noch nicht mit eingerechnet ist.1673 Während bisher keine Nachweise für einen signifikanten Rückgang internen Whistleblowings beigebracht werden
1669 1670
Vgl. Rn. 197. Zur Veranschaulichung des Reduktionsgrades, s. Appendix B3 im Anhang dieser
Arbeit. 1671
SEC, Whistleblower Report 2015 (Fn. 1643), p. 17, mit dem Hinweis, dass eine (nicht konkret benannte) Zahl der anonymen Whistleblower sich im Laufe des Verfahrens für eine Offenlegung entscheiden. 1672 Es sei allerdings angemerkt, dass zur genauen Wirkungsweise des SEC Whistleblower Program zwar Angaben der SEC und Erfahrungsberichte aus der CompliancePraxis vorliegen, jedoch – wie üblich – keine (veröffentlichten) Studien der betroffenen Unternehmen bzw. ihrer verantwortlichen Compliance-Abteilungen. Da dies der auch sonst üblichen Informationspolitik entspricht, weder Erfolge noch Misserfolge der Corporate Compliance an die Öffentlichkeit dringen zu lassen, wird man aus dem Schweigen der Wirtschaftsverbände zu diesem Thema auch nicht zwingend eine zusätzliche Bestätigung der Unrichtigkeit ihrer früheren Prognosen ablesen können (zu Letzteren Rn. 200). 1673 SEC, Whistleblower Report 2017 (Fn. 1643), p. 17 (83%); ebenso Ben Protess/ Nathaniel Popper, Hazy Future for Thriving S.E.C. Whistle-Blower Effort, New York Times v. 23.4.2013, abrufbar unter , unter Berufung auf interne Quellen; diesen Einschätzungen folgend Pacella, 86 Temp. L. Rev. 721, 759 (2014); Modesitt/ Schulman/Westman, Retaliatory Discharge, ch. 4, p. 74. Das SEC Whistleblower Program liegt damit etwas unterhalb der ca. 90%igen Erstmeldequote des FCA (Fn. 585), wobei anzunehmen ist, dass die interne Meldequote bei Hinzuziehung der Dunkelziffer rein internen Whistleblowings wiederum wie auch sonst deutlich über 90% liegen dürfte (vgl. Rn. 7).
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Kapitel 2: Whistleblowing in den USA
konnten,1674 sprechen einige Anzeichen für eine Zunahme auch rein interner Meldungen.1675 Nachdem sich die Beratungspraxis bereits vor der Implementierung des SEC Whistleblower Program auf ein spürbar steigendes Interesse von Unternehmen an der Intensivierung ihrer Compliance-Bemühungen einstellt hatte,1676 erwies sich das Programm spätestens nach seinem erfolgreichen Anlaufen als maßgeblicher Taktgeber für die Verbesserung interner Whistleblowing-Stellen und die Effektivierung interner Untersuchungs- und Abhilfemaßnahmen.1677 Zu den in der Folge des Dodd-Frank Act standardmäßig empfohlenen Maßnahmen zählen neben der üblichen Bereitstellung (anonymer)1678 Meldewege unter anderem die Bekanntgabe (und tatsächliche Umsetzung) interner Standards zur Nicht-Diskriminierung von Whistleblowern, deutliche Bekenntnisse des Managements zur Einhaltung gesetzlicher Normen und der Wertschätzung internen Whistleblowings sowie eine möglichst effektive Kommunikation und Kooperation mit Whistleblowern zur zügigen und gründlichen Durchführung interner Untersuchungen. 1679 Anders als die Federal Sentencing Guidelines, deren Compliance-Anreize auch rein formale Maßnahmen wie etwa die bloße Verabschiedung von Verhaltenskodizes inzentivieren,1680 befinden sich betroffene Unternehmen offensichtlich 1674
Zu entsprechenden Prognosen i.R.d. Konsultationsprozesses oben, Rn. 200. S. Rose, 108 Nw. U. L. Rev. 1235, 1278–79 (2014) mit Verweis auf Daten des Quaterly Fraud Index vom 2. Quartal 2012, abrufbar unter . 1676 Vgl. etwa Ladd, 22 No. 11 Va. Emp. L. Letter 5 (2010) mit Empfehlung für anonyme Meldewege unmittelbar an die Directors und eine Nicht-Diskriminierungspolitik als ersten Schritten; Epps/Ahmed, Deloitte Forensic Center: Whistleblowing and the new race to report – The impact of the Dodd-Frank Act and proposed changes to U.S. Federal Sentencing Guidelines, abrufbar unter