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German Pages 201 [202] Year 2021
Nayef Ballouz Studie über den Islam und seine gegenwärtige Bedeutung
Philosophie in der nahöstlichen Moderne Philosophy in the Modern Middle East
Begründet durch Anke von Kügelgen Herausgegeben von Anke von Kügelgen, Sarhan Dhouib, Jan-Peter Hartung, Christoph Herzog, Kata Moser und Roman Seidel Beirat Ahmed Attia (Kairo), Zeynep Direk (Istanbul), Ali Gheissari (San Diego), Ahmad Madi (Amman), Mohamed Misbahi (Rabat), Anwar Moghith (Kairo), Nassif Nassar (Beirut), Fathi Triki (Tunis)
Band 3
Nayef Ballouz
Studie über den Islam und seine gegenwärtige Bedeutung Übersetzt und herausgegeben von Alexander Flores
ISBN 978-3-11-070152-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-070161-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-070175-3 Library of Congress Control Number: 2021940562 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhalt Einleitung von Alexander Flores: Nayef Ballouz – ein verkannter arabischer Denker
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Studie über den Islam und seine gegenwärtige Bedeutung von Nayef Ballouz Vorwort
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Die Entwicklung des religiösen Bewusstseins im Orient vom Hellenismus bis zum Islam 28
Die Struktur des religiösen Bewusstseins
Die zivilisatorische Entwicklung auf der Arabischen Halbinsel vor dem Islam 46
Der frühe Islam und seine Grundzüge
Die Struktur der Gesellschaft des Kalifats und die Hauptrichtung ihres ideologischen Lebens 71
Die Scharia Gottes und die Scharia der Vernunft
Scharia und Staat
Die Rechte Gottes und die Rechte des Menschen. Anfänge einer Säkularisierung 105
Glaube und Vernunft, Gott und die Welt
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57
80
90
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Die arabisch-islamische Kultur. Ihr Ort in der Geschichte des Denkens und ihre hauptsächlichen Bestrebungen 123 Der Islam und die heutigen Araber
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Inhalt
Anhang Thesen zur Dissertation: Der frühe Islam und seine geisteskulturelle Vorgeschichte 181 Literatur
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Sachregister Namensregister
193 195
Einleitung von Alexander Flores: Nayef Ballouz – ein verkannter arabischer Denker Dem Erscheinen dieses Buchs liegen zwei Überlegungen zugrunde. Die eine ist, dass es immer noch großen Aufklärungsbedarf über Islam und Muslime gibt. Es gibt viele Bücher über diese Themen. Sie ventilieren allzu oft die Sicht, die Probleme von und mit Muslimen rührten von ihrer Religion, also dem Islam selbst, her. Und diese Bücher finden teilweise reißenden Absatz, was von der nach wie vor weiten Verbreitung von Vorurteilen gegenüber Islam und Muslimen zeugt. Die ebenfalls gut vertretene Literatur, die jeden problematischen Charakter islamischer Überzeugungen und muslimischer Verhaltensweisen leugnet oder kleinzureden versucht, hilft zur Gewinnung eines klaren Bildes von Islam und Muslimen wenig. Da ist denn jede kenntnisreiche und nüchterne Darstellung des Islam oder wichtiger seiner Aspekte willkommen. Die zweite Überlegung betrifft den Autor der hier vorgelegten Studie über den Islam und seine gegenwärtige Bedeutung: Nayef Ballouz (Nāyif Ballūz). Er war einer der wichtigsten arabischen Denker im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, ist aber einer breiten Öffentlichkeit nicht bekannt geworden. Das gilt für Syrien, aber mehr noch für andere arabische Länder – vom Westen ganz zu schweigen. Ballouz wirkte auf mehreren Feldern; besonders bedeutsam ist sein Versuch, den Islam historisch zu verorten und ein angemessenes Verhalten fortschrittlicher arabischer Kräfte zu ihm und zu den Muslimen vorzuschlagen. Sowohl dieser Versuch wie Ballouz’ Bedeutung als großer, bisher aber fast unbekannter arabischer Denker rechtfertigen die Herausgabe einer seiner wichtigsten Schriften in deutscher Sprache. Der syrische Philosoph Nayef Ballouz wurde im Februar 1931 in der Altstadt von Damaskus geboren. Seine Eltern, sehr einfache Leute, stammten aus dem Gebiet des Hermon-Bergs und waren erst kurz vor seiner Geburt nach Damaskus gezogen. Trotz der Armut seiner Familie erhielt Ballouz eine gute Schulbildung und legte 1949 an einer kirchlichen Schule sein Abitur ab. Schon während seiner Schulzeit war er in der kommunistischen Partei tätig. Er studierte Philosophie an der Universität Damaskus (Abschluss 1954). Bereits während seines Studiums und in den Jahren danach lehrte er an Schulen in mehreren Dörfern und Städten Syriens. Er arbeitete auch als Übersetzer für das bulgarische Konsulat in Damaskus. 1958 wurde er als Offizier in die Armee eingezogen. Nach der ägyptisch-syrischen Vereinigung (Februar 1958) gab es in Syrien eine Kommunistenverfolgung, besonders scharf in der Armee. Nayef Ballouz wurde degradiert, inhaftiert und brutal gefoltert. Unmittelbar nach seiner Entlassung aus dem Militärgefängnis floh er in den Libanon. Von April 1960 bis Sommer 1962 arbeitete Ballouz als https://doi.org/10.1515/9783110701616-001
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Einleitung von Alexander Flores
Arabischlehrer am Institut zur Ausbildung chinesischer Diplomaten in Peking. Dies war die Zeit, in der sich das chinesisch-sowjetische Zerwürfnis anbahnte, was Ballouz in seinen Tagebuchaufzeichnungen verstört vermerkte. In Peking lernte er auch den bekannten deutschen Posaunisten Alois Bambula kennen, der ihm die westliche klassische Musik näherbrachte und ihm ein Promotionsstipendium in der DDR verschaffte. Nach einem Zwischenaufenthalt in Damaskus reiste Ballouz zum Sprachunterricht nach Leipzig und studierte dann bis 1968 an der Humboldt-Universität in Berlin. Daraus erwuchs seine Dissertation Der frühe Islam und seine geisteskulturelle Vorgeschichte (Juli 1968, Verteidigung am 12. Dezember 1968). Sein Betreuer und Anreger in Berlin war der Philosophiehistoriker Hermann Ley.¹ Im Juni 1969 kehrte Ballouz nach Damaskus zurück, um dort zu unterrichten. Im September 1970 wurde er zum Dozenten für Philosophie an der Universität Damaskus ernannt, durchlief dann eine „normale“ Universitätskarriere bis zum ordentlichen Professor und wirkte bis zu seinem Lebensende als erfolgreicher und geschätzter Hochschullehrer. Im August 1998 ertrank er nach längerer Krankheit im Meer vor Lattakia – wohl als Folge eines Herzinfarkts.² Als junger Mann fand sich Nayef Ballouz in einem erst jüngst unabhängig gewordenen Land. Wie viele seiner Altersgenossen verschrieb er sich enthusiastisch dem Kampf Syriens um völlige Befreiung von den Resten kolonialer Abhängigkeit und um wirtschaftlichen Aufbau. Beides sollte ein glücklicheres Leben der Menschen ermöglichen. Das Streben nach nationaler Befreiung war allgemein. Ballouz teilte diese Haltung, und er tat das als Kommunist. Ihm lag am sozialen Engagement zugunsten der zu kurz Gekommenen, und er fand im Marxismus den Schlüssel zum Verständnis auch der Probleme seines Landes und seiner Weltregion. Eintreten für nationale Befreiung und Kommunismus bildeten nicht grundsätzlich einen Widerspruch. Schließlich hatten Lenin und die Kommunistische Internationale viel für das Verständnis der kolonialen Problematik geleistet, und sie hatten auch eine Formel für die Vereinbarung des Kampfs der unterdrückten Völker mit dem des Weltproletariats gefunden. Tatsächlich gab es aber streckenweise erhebliche Reibungen zwischen den Protagonisten der nationalen Befreiung, von denen die arabischen Nationalisten in Syrien die prominentesten
Vgl. Sarhan Dhouib, Zwei syrische Philosophen an der Humboldt-Universität zu Berlin: Nayef Ballouz und Tayeb Tisini, in: weiter denken. Journal für Philosophie 1 (2021), 25 – 31. Diese Informationen entstammen Gesprächen mit Nayef Ballouz und seiner Familie sowie dem folgenden Aufsatz: Sarhan Dhouib, Nāyif Ballūz (1931– 1998): Al-muʿallim as-suqrātī wa-l-mufakkir al-mārksī, in: Mušīr Bāsil ʿAun/Yūsuf Salāma (Hrsg.): al-Fikr al-falsafī al-muʿāṣir fī Sūriyya, Beirut: Markaz dirāsāt al-waḥda al-ʿarabiyya 2020, 281– 311, hier 285 – 290.
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waren, und der KP Syriens. Der wichtigste Programmpunkt der Nationalisten war die Verwirklichung der arabischen Einheit. Als es 1958 tatsächlich zur Vereinigung Ägyptens und Syriens kam, gegen welche die KP Bedenken angemeldet hatte (Nasser hatte die Auflösung aller syrischen Parteien zur Bedingung für die Vereinigung gemacht), wurden die syrischen Kommunisten scharf unterdrückt. Das war nur eine Episode in dem spannungsreichen Verhältnis zwischen arabischen Kommunisten und Nationalisten, die den Kommunisten öfter – und manchmal berechtigt – Hintanstellung arabischer nationaler Belange vorwarfen. Andere Fälle waren gegensätzliche Positionen in der Palästinafrage 1947/48 und die mangelnde Unterstützung der Kommunisten für den algerischen Unabhängigkeitskrieg seit 1954. Nayef Ballouz zahlte für diese Spannung einen hohen Preis: Inhaftierung, schwere Folter und Exil. Er war um diese Zeit noch loyales KP-Mitglied. Am 24. Oktober 1961, nach dem Putsch, der die syrisch-ägyptische Vereinigung beendete, schrieb er in seinem chinesischen Tagebuch³ von dem „historischen Sieg“, den das syrische Volk errungen habe (und der ihm persönlich auch gestattete, an seine Rückkehr nach Syrien zu denken). Ballouz blieb aber kein loyales KP-Mitglied. Er war ein zu großer und unabhängiger Kopf, um die auch in ideologischen Fragen rigorose Parteidisziplin, die den Mitgliedern aufgezwungen wurde, zu ertragen, und er erkannte zu genau die potentiell desaströse Wirkung mancher Positionen der Partei, ihrer scharfen politischen Wendungen und ihrer sklavischen Unterwerfung unter das Diktat der KPdSU. Trotz der Disziplinierungsversuche der Partei äußerte er während seines Berliner Aufenthalts scharfe Kritik an der Führung und versuchte andere Mitglieder in diesem Sinn zu beeinflussen, „manchmal mit Erfolg, meist – leider! – ohne Erfolg“, wie sich ein damaliger Gesinnungsgenosse erinnert.⁴ Das alles führte dazu, dass Ballouz gegen Ende der 1960er Jahre die Partei verließ, ohne doch, wie manche anderen Exkommunisten, zum Antikommunisten zu werden. Am Marxismus als Instrument der sozialen Analyse und Inspiration sozialen Engagements hielt er fest. Während seines Aufenthalts in der DDR (1963 – 1969) wurde Ballouz’ Interesse am frühen Islam geweckt. Seine in dieser Zeit geschriebenen Werke, die Dissertation sowie zwei in DDR-Zeitschriften erschienene Aufsätze,⁵ richteten sich an
Unveröffentlicht. John Nasṭa, Nāyif Ballūz al-mufakkir wa-l-failasūf wa-s-siyāsī, in: Ṭarīq al-Yasār, Nr. 84, Mai 2016. Nayef Balluz, Der frühe Islam und die Gegenwart, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 17/3 (März 1969), 311– 326; Nayef Balluz, Nichtkapitalistische Entwicklung und Islam, in: Mitteilungen des Instituts für Orientforschung, Band XVI, Heft 4, 1970, 521– 540.
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Einleitung von Alexander Flores
das dortige interessierte Publikum. Mit diesem Interesse war es freilich 1969 vorbei. In diesem Jahr kehrte er trotz eines attraktiven Stellenangebots der Ostberliner Akademie der Wissenschaften nach Damaskus zurück – er wollte unbedingt in seinem Heimatland am Aufbau teilnehmen und etwas bewirken. Nayef Ballouz fand sich also jetzt in seiner Heimat wieder – als Intellektueller, aber als durchaus engagierter Intellektueller. Wie in den 1950er Jahren war er voll von Enthusiasmus im Hinblick auf seine Aufgabe: Aufbau des Landes, Engagement für seine revolutionäre Veränderung. Die Bedingungen waren freilich ungünstig. Mit der KP war ihm der organisatorische Rahmen für politische Tätigkeit verloren gegangen; die Parteiführung legte ihm auch durchaus Steine in den Weg, obwohl er mit manchen Kadern weiter gute persönliche Beziehungen pflegte. Der Rahmen für politische Tätigkeit, geschweige denn für revolutionäre, war im Syrien von Hafis al-Assad (Ḥāfiẓ al-Asad) äußerst eng, und den Preis, den man für politisches Engagement unter Umständen zahlen musste, kannte Nayef Ballouz genau – die Folternarben auf seinem Rücken erinnerten ihn ständig daran. Dennoch verzichtete er nicht auf das Engagement. So, wie die Dinge lagen, geschah es hauptsächlich auf dem intellektuellen Feld – in Texten, in Diskussionen, in der Beratung von politischen Organisationen. Es war dies ja eine Zeit (um 1970), in der die ostarabische Welt in lebhafter revolutionärer Gärung war. So sahen es jedenfalls viele Intellektuelle und politische Organisationen. Die arabische Niederlage im Junikrieg von 1967 ließ diese Kräfte keineswegs resignieren, sondern führte im Gegenteil zu einer Schärfung ihres Enthusiasmus und einer deutlichen Linksbewegung. Streben nach vollständiger nationaler Befreiung, konsequenter Nationalismus mit Öffnung nach links, Bekenntnis zum Marxismus bei vielen vorher nichtmarxistischen Gruppen, Eingliederung in das seinerzeit populäre „Dritte-Welt-Paradigma“ mit Antiimperialismus, Guerillakrieg usw., im arabischen Osten noch einmal zugespitzt im Engagement für Palästina – alles das führte zu intensiven Diskussionen und schlug sich in vielen Publikationen nieder. Da blieben denn auch Illusionen und revolutionäre Phrasen nicht aus. Nayef Ballouz, der dem eben beschriebenen Milieu durchaus angehörte, behielt bei allem Engagement den kühlen analytischen Kopf, und das war wohl auch nötig. Wollte man im Fieber des revolutionären Enthusiasmus den Überblick nicht verlieren, brauchte man Leute, die nüchtern blieben. Und – das war die Tragik dieses Milieus und vielleicht auch von Ballouz persönlich – in der Entwicklung der 1970er Jahre zeigte sich mit grausamer Deutlichkeit, wie illusionär jene Vorstellungen gewesen waren. In mehreren Schüben musste das progressive arabische Lager furchtbare Rückschläge und Niederlagen einstecken – den „Schwarzen September“ in Jordanien, den Bürgerkrieg im Libanon und weiteres. Als so alle kurzfristigen Hoffnungen auf völlige Befreiung und revolutionäre Veränderung zerstoben, war der klare Blick auf die realen Verhältnisse das notwendige Mittel
Nayef Ballouz – ein verkannter arabischer Denker
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gegen völlige Verzweiflung. Und auch hier leistete Nayef Ballouz Beträchtliches. Dass er ein klarer Kopf und scharfer Analytiker war, war in seinem Umkreis, aber auch weit darüber hinaus bekannt. So wurde sein Rat von linken und nationalistischen Kräften aus der ganzen arabischen Welt gesucht.⁶ Da aber seine Analyse oft unerbittlich ausfiel, fand sie keineswegs immer dankbare Aufnahme und machte ihm auch Gegner. Ballouz’ Schriften lassen sich grob vier inhaltlichen Feldern zuordnen. Da sind erstens die Bücher für die universitäre Lehre, alle philosophisch, mit einem Schwerpunkt auf epistemologischen Fragen,⁷ aber es gibt auch ein Buch über Ästhetik.⁸ Dann ist da zweitens der Komplex der Schriften zum Islam, also die Dissertation, zwei mit ihr zusammenhängende in der DDR publizierte Aufsätze⁹ und die hier in Übersetzung vorgelegte Studie. Drittens gibt es einiges über arabisch-islamische Philosophie, vor allem zwei Aufsätze zu Ibn Rušd.¹⁰ Und schließlich existiert viertens eine ganze Reihe von meist nicht publizierten Beiträgen zu Problemen der Gegenwart von einem marxistischen Standpunkt aus. In einigen besonders interessanten und für Ballouz charakteristischen Beiträgen überschneiden sich die Felder zwei und vier; islamische Themen werden unter dem Blickwinkel heutiger Fragestellungen betrachtet. Auch hier ist wieder die vorliegende Studie der interessanteste Text. Eine weitere Gelegenheit, bei der sich diese beiden Felder inhaltlich überschnitten, war Ballouz’ Intervention in der Diskussion um die Frage, wie sich die Linke zum arabisch-islamischen Kulturerbe verhalten sollte. Er war der Auffassung, man müsse dieses Erbe immer ausgehend von den Notwendigkeiten des gegenwärtigen Kampfs bewerten und nutzen. In einer vielbeachteten öffentlichen Kritik an dem libanesischen Theoretiker Ḥusain Muruwwa und dessen Buch Die materialistischen Tendenzen in der arabisch-islamischen Philosophie entwickelte er diesen Gedanken in einem Streitgespräch mit Muruwwa im November 1978 im Arabischen Kulturclub in Beirut.¹¹ Die Kritik beinhaltete vor allem zwei Punkte.
So etwa von Georges Habash (eigene Beobachtung, A.F.). So z. B. Nāyif Ballūz, Manāhiǧ al-baḥṯ fi-l-ʿulūm aṭ-ṭabīʿiyya, Teil 2, Damaskus: Ǧāmiʿat Dimašq 1980/81; ders., Manāhiǧ al-baḥṯ fi-l-ʿulūm al-iǧtimāʿiyya, Damaskus: Ǧāmiʿat Dimašq 1981/82. Nāyif Ballūz, ʿIlm al-ǧamāl, Damaskus: Ǧāmiʿat Dimašq 21982/83. Siehe Fußn. 5. Nāyif Ballūz, Al-aidiyūlūǧiyyā wa ʿalāqat allāh bi-l-insān fī falsafat Ibn Rušd, in: Dirāsāt ʿarabiyya, XV, 2, Dez. 1978, 30 – 57; Nāyif Ballūz, Ibn Rušd baina-l-ʿaqlāniyya wa-l-aidiyūlūǧiyyā, in: ʿĀlam al-fikr, XXVII, 4, 1999, 27– 66. Vgl. Ḥusain Muruwwa, An-nazaʿāt al-māddiyya fi-l-falsafa al-ʿarabiyya al-islāmiyya, Bd. 1, Beirut: Dār al-Fārābī 1979; Nāyif Ballūz, Waqfa maʿa kitāb „An-nazaʿāt al-māddiyya fī l-falsafa alʿarabiyya al-islāmiyya“, in: Taufīq Sallūm u. a., Al-mārksiyya wa-t-turāṯ al-ʿarabī al-islāmī. Munāqaša li-aʿmāl Ḥusain Muruwwa wa-ṭ-Ṭayyib Tīzīnī, Beirut: Dār al-Ḥadāṯa 1980, 167– 209.
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Einleitung von Alexander Flores
Einmal warf Ballouz Muruwwa, wie er Marxist, die falsche Anwendung der marxistischen Methode vor. Man dürfe nicht von allgemeinen Grundsätzen ausgehen, für die dann historische Ereignisse nur als Beispiele angeführt würden, sondern müsse konkrete Situationen und Entwicklungen genau studieren und von daher zu Verallgemeinerungen kommen. Der Marxismus sei kein System von fertig anwendbaren Leitsätzen, sondern eine Anleitung beim Studium der Geschichte. Die Annahme von „Geschichtsnotwendigkeiten“ sei irrig, womit Ballouz nicht nur Muruwwa, sondern mindestens implizit auch eine im sowjetischen Machtbereich verbreitete Auffassung kritisiert. Weiter plädiert Ballouz für die Aneignung des Kulturerbes unter dem Blickwinkel der Anforderungen der Gegenwart, was Muruwwa zwar proklamiere, aber nicht tatsächlich leiste.¹² Diese Auseinandersetzung schlug Wellen; Ballouz’ Kritik war offenbar überzeugend und fand Widerhall, wirkte sich aber nicht nachhaltig aus. Obwohl sie im Libanon (und dann auch in Syrien) weithin zur Kenntnis genommen worden war, war Ballouz bei der großen und vielbeachteten Konferenz in Kairo 1984, bei der es ebenfalls zentral um das Kulturerbe ging und auf der sehr viele namhafte arabische Intellektuelle anwesend waren, nicht vertreten. Nicht einmal sein Name taucht in dem ausführlichen Index des Ergebnisbandes der Konferenz auf.¹³ Er war eben niemand, der viel Aufhebens von sich machte, „er lebte im Schatten und ging still davon.“¹⁴ Darum wurde er nicht so gewürdigt, wie es seinem geistigen Format entsprochen hätte. Dass Nayef Ballouz’ Beiträge verhältnismäßig wenig Beachtung fanden, liegt einmal an dem genannten Umstand, dass er sich nicht gern herausstellte. Weiter liegt es daran, dass er verhältnismäßig wenig schrieb und selbst von dem, was er schrieb, keineswegs alles publizierte. Viele, die Ballouz kannten, haben ihn als einen Meister der mündlichen Kommunikation bezeichnet. Ein Nachruf seines Kollegen Ṣādiq Ǧalāl al-ʿAẓm (1934– 2016) dreht sich ausschließlich um dieses Motiv. Und er hat Recht. Ballouz’ ureigene Wirkungsmethode war die mündliche Kommunikation: Vortrag, Unterhaltung, Streitgespräch. Al-ʿAẓm benennt auch den Grund dafür, dass sich die wichtigsten Debatten unter Freunden und Kollegen in Privathäusern abspielten: die Angst vor dem omnipräsenten Geheimdienst. Er nennt Ballouz den „Herrn“ dieser abendlichen Sitzungen und erzählt, wie dieser bei solchen Gelegenheiten schlagfertig seinen Geist funkeln ließ und die Unterhaltung einen ganzen Abend lang beherrschte, ohne penetrant zu werden.¹⁵ In Ballūz, Waqfa, 173 – 178, 202– 209. Markaz dirāsāt al-waḥda al-ʿarabiyya, At-turāṯ wa-taḥaddiyāt al-ʿaṣr fi-l-waṭan al-ʿarabī (alaṣāla wa-l-muʿāṣara), Beirut: Markaz dirāsāt al-waḥda al-ʿarabiyya 1985. Dhouib, Nāyif Ballūz, 299. Vgl. Ṣādiq Ǧalāl al-ʿAẓm, Nāyif Ballūz: Aš-šafawī al-awwal, in: Ṭarīq al-Yasār, Nr. 84, Mai 2016.
Die Studie
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seinem Aufsatz über Ballouz nennt Sarhan Dhouib ihn einen sokratischen Denker. Diese Vorliebe für die Mündlichkeit mag bewirkt haben, dass Ballouz weniger veröffentlichte als andere arabische Intellektuelle. Es gab aber auch andere Gründe. Einer waren seine hohen Ansprüche an sich selbst. Bevor er die Feder in die Hand nahm, wollte er eine Sache gründlich studieren, in die Tiefe gehen, auch historisch weit ausholen. Es kam aber auch vor, dass die Publikation bereits geschriebener Texte von anderen verhindert wurde. Seine Berliner Dissertation zum frühen Islam war unpubliziert geblieben. Sie war nach seiner Promotion zur Publikation im Berliner Akademie-Verlag vorgesehen,¹⁶ wurde aber dann nicht gedruckt – wohl wegen der entsprechenden Intervention der syrischen KP bei der Führung der DDR. Ballouz hatte zu dieser Zeit (ca. 1971) schon die KP verlassen. Er verzichtete auch darauf, das Buch in Syrien herauszubringen, weil er als Christ Empfindlichkeiten von Muslimen bei der Behandlung eines islamischen Themas befürchtete. Er schrieb vieles, was nur unter der Hand zirkulierte und dessen Publikation aus politischen Gründen unterblieb. Und die etwa zehn Lehrbücher, die er für die akademische Lehre schrieb, wurden für die Studierenden gedruckt und blieben im Normalfall universitätsintern. So ist es zwar richtig, dass Nayef Ballouz für einen Mann seines geistigen Formats verhältnismäßig wenig schrieb, aber das war nur zum Teil sein Verschulden, wenn es denn ein Verschulden war. Es stimmt aber auch, dass dieser Umstand erheblich dazu beitrug, dass er weitgehend unbekannt blieb.
Die Studie Ballouz ging häufig geistesgeschichtliche Themen vom Standpunkt der Gegenwart aus an. Auch die hier vorgelegte Studie verbindet ein aus der heutigen Situation erwachsenes Erkenntnisinteresse mit einem Gegenstand aus dem weiten Feld des Kulturerbes, nämlich dem Islam selbst. Der Islam ist die Religion der weitaus meisten Araber, und bei der verhältnismäßig ungebrochenen Religiosität in der nahöstlichen Region ist es für jede politische Bewegung wichtig, ihn zu verstehen und sich angemessen zu ihm bzw. zu den gläubigen Muslimen zu verhalten. Diese politische Motivation hat wohl für Nayef Ballouz schon bei der Wahl des Themas für seine Dissertation eine Rolle gespielt – abgesehen von zu In einer Fußnote am Beginn des Aufsatzes „Nichtkapitalistische Entwicklung und Islam“ heißt es: „Vorabdruck aus einer größeren Arbeit zu dem Thema ‚Frühislam und Gegenwart‘, die im VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften erscheinen wird.“ Balluz, Nichtkapitalistische Entwicklung, 521.
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Einleitung von Alexander Flores
sätzlichen Faktoren wie dem Interesse seines Betreuers. Und politisch war auch der Anlass, der ihn dazu brachte, in der vorliegenden Studie von 1986 noch einmal ausführlich auf diesen Gegenstand zurückzukommen. Im Frühjahr 1986 bat der syrische Präsident Hafis al-Assad, der offenbar Beratungsbedarf in Sachen Islam hatte, zwei Philosophen der Universität Damaskus zu solcher Beratung nacheinander zu sich: Tayyib Tizini (aṭ-Ṭayyib Tīzīnī, 1934– 2019) und Nayef Ballouz. Mit diesem hatte er dann ein Gespräch von mehreren Stunden Dauer, in dem er bei abstrakten Gedankengängen nicht recht mitkam und an dessen Ende er sinngemäß sagte: „Man müsste das alles einmal aufgeschrieben sehen!“¹⁷ Eben dies war für Ballouz der Anlass, seine Überlegungen zum Islam fortzuführen und zusammenfassend darzustellen. Nun ergab sich die Gelegenheit, den Gegenstand nochmals aufzugreifen, wenn auch vorerst nur für einen Leser: den syrischen Präsidenten. So entstand das Manuskript, dessen deutsche Übersetzung hier vorliegt: Studie über den Islam und seine gegenwärtige Bedeutung. Es wurde an der Universität Damaskus abgetippt, in geringer Stückzahl hektographiert, an al-Assad geschickt und in einem engen Kreis von Freunden und Kollegen verbreitet, aber nicht publiziert. Dem Inhalt und der Schreibweise der Studie ist nicht anzumerken, dass es sich hier um ein Auftragswerk für das syrische Regime handelt. Vielmehr sprach Ballouz aus ehrlicher Überzeugung; gewisse sprachliche Rücksichten auf die vom Regime gesetzte politische Atmosphäre und religiöse Empfindlichkeiten waren und sind in Syrien immer nötig und hier nicht der captatio benevolentiae von alAssad geschuldet. Die neue Studie greift die Dissertation auf. Ihre ersten vier Kapitel geben knapp deren Ergebnisse wieder: Beschreibung der religiösen Entwicklung in der hellenistischen Welt mit der Entstehung des Christentums, der Herausbildung heterodoxer Strömungen in ihm, mit iranischen Religionen und der Gnosis; dann die Charakterisierung der Gesellschaft der Arabischen Halbinsel und ihrer Entwicklungstendenzen vor dem Islam; schließlich die Behandlung von dessen Entstehung und wichtigsten Charakteristika. Hier werden zwei Entstehungsbedingungen des Islam vorgestellt: die ideologische in der religiösen Gedankenwelt der Antike schlechthin, die soziopolitische (und in gewissem Maß ebenfalls ideologische) im engeren Umkreis der Arabischen Halbinsel. Ballouz unternimmt hier die Verortung des Islam als Erbe des antiken Denkens und weist auf seine Herauskristallisierung aus dem ideologischen Spiralnebel der Spätantike hin; seinen enorm weit ausgreifenden und raschen Siegeszug versteht er als Beleg dafür, dass er, mit Engels zu sprechen, „die den Zeitumständen entsprechende
Mitteilung von Nayef Ballouz.
Die Studie
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Religion war.“¹⁸ Diese Gedankengänge erscheinen uns heute, nach weiteren Jahrzehnten islamwissenschaftlicher und historischer Beschäftigung und den Forschungen u. a. von Angelika Neuwirth und Thomas Bauer, als vertraut.¹⁹ In den späten 1960er Jahren war der deutliche Hinweis auf diesen Kontext eine Pioniertat – allerdings eine, die aus den genannten Gründen nicht weithin bekannt wurde. Auch auf diese Leistung wollen wir mit der Herausgabe des vorliegenden Texts aufmerksam machen. Nayef Ballouz knüpfte also 1986 an seine frühere Studie an. Er tat aber noch mehr. Über Hintergrund und Entstehungsgeschichte des Islam hinaus ging es ihm um dessen Grundzüge als dominante Ideologie der nahöstlichen Weltregion. Religion versteht Ballouz als Denk- und Verhaltensweise von Menschen, die ihre Lebensumstände weder praktisch noch kognitiv beherrschen und sich von übernatürlichen Mächten abhängig sehen. Diese Weltsicht propagiert – immer nach Ballouz – die Unterwerfung unter diese Mächte und tendenziell auch die Ergebung in die bestehenden irdischen Zustände und verspricht im Gegenzug jenseitiges Heil. Religiosität ist das Vorherrschen dieser Weltsicht; in ihr dominiert das Sakrale das Säkulare. Absolut hegemonisch kann sie nicht werden; das ginge nur, „wenn menschliches Leben im Zustand des absoluten Unvermögens möglich wäre. Das ist aber nicht der Fall.“²⁰ Ballouz untersucht nun, wie weit der Anspruch auf absolute Hegemonie der religiösen Weltsicht im Islam durchgesetzt wurde bzw. welchen Freiraum sich ihr gegenüber die Ansprüche der irdisch-menschlichen Existenz und die Ratio erobern konnten. Er konzentriert sich dabei auf die wesentliche Instanz der Durchsetzung dieser Hegemonie, die im Fall des Islam das Recht war, das er, wie es heute weithin geschieht, als Scharia²¹ bezeichnet. Dieser Teil seiner Studie folgt
Friedrich Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke Bd. 21, Berlin: Dietz 1962, 259 – 307, hier 304. Engels bezieht diese Formulierung auf das frühe Christentum. Vgl. Angelika Neuwirth, Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang, Berlin: Verlag der Weltreligionen 2010; Angelika Neuwirth/Nicolai Sinai/Michael Marx (Hrsg.), The Qur’ān in Context. Historical and Literary Investigations into the Qur’ānic Milieu, Leiden/Boston: Brill 2011; Thomas Bauer, Warum es kein islamisches Mittelalter gab. Das Erbe der Antike und der Orient, München: C.H. Beck 2018; vgl auch Aziz al-Azmeh: The Emergence of Islam in Late Antiquity, Cambridge: Cambridge University Press 2014. Ballouz, Studie, im vorliegenden Band, 38. Nayef Ballouz spricht von Scharia, wo er das islamische Recht meint. So halten es heute auch viele andere, und zwar sowohl Muslime wie auch Nichtmuslime. Die Übersetzung respektiert selbstverständlich diesen Sprachgebrauch, wie sie sich überhaupt der inhaltlichen Kommentierung des Textes weitgehend enthält. Man sollte aber im Auge behalten, dass dieser Begriff etwas irreführend ist, denn er meint streng genommen die Gesamtheit der göttlichen Beurteilung
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Einleitung von Alexander Flores
nicht einer logisch stringenten Argumentationskette. Noch weniger ist er streng chronologisch aufgebaut. Vielmehr ist er eine Folge von Aufsätzen, die zwar als Kapitel bezeichnet werden, aber eher locker zusammenhängen und die genannte Frage unter verschiedenen Aspekten beleuchten. Da geht es etwa um das Verhältnis von göttlichen Geboten und menschlichem Räsonieren bei der Herausbildung des Rechts (Kap. 6); da geht es um das Verhältnis von Recht und Staat (Kap. 7); da geht es um die Bedeutung menschlicher Interessen als rechtsbegründender Faktor (Kap. 8). Die Bilanz all dieser Erwägungen ist, dass der Islam, so wie er über weite Strecken gelebt wurde, erheblich größeren Raum für die Verfolgung menschlich-irdischer Interessen, für rationales Denken und für menschliche Autonomie insgesamt gelassen hat als das vormoderne Christentum. Das alles sieht Ballouz im Zusammenhang mit dem Charakter des islamischen Dogmas. Dies sind seine Überlegungen dazu: Auf der obersten, abstrakten Ebene ist dieses Dogma ein sehr schmaler Kodex von Glaubensüberzeugungen, an erster Stelle das Bekenntnis zu einem allmächtigen, erhabenen, von menschlichen Attributen weitgehend freien Gott. Er steht „auf einer sehr fernen Höhe über oder hinter dem Menschen, wobei die Blicke des Menschen sich auf die äußere, sinnlich wahrnehmbare Welt und die Gemeinschaft richten.“²² Gott hat den Menschen die Welt übergeben – unter der Bedingung, dass sie in ihr seinen Willen vollziehen, sie sich ohne Missbrauch aneignen. Auf dieser obersten Ebene ist der Glaube abstrakt, inhaltsleer; konkrete Glaubensinhalte werden in der praktisch-irdischen Umsetzung des göttlichen Willens gewonnen. Im islamischen Ideal gibt es keine durch eine religiöse Institution organisierte Vermittlung zwischen Gott und den Gläubigen; die Verbindung zwischen göttlicher und menschlicher Ebene ist hier das Recht; Ballouz spricht von der „juristische(n) Entäußerung des Religiösen.“²³ Die Herausbildung des Rechts ist irdische Tätigkeit, sie vollzieht sich im Prozess der Aneignung der Welt. Daher der große Anteil der irdisch-menschlichen Dimension und der Ratio bei der Ausarbeitung des Rechts.
menschlicher Handlungen, zu der Menschen aber keinen unmittelbaren Zugang haben. Islamische Rechtsgelehrte leiten aus bestimmten Quellen, die nach islamischer Auffassung göttlichen Ursprungs sind, das her, was sie für diese göttliche Beurteilung halten. Diese Herleitungen liegen als fiqh-Bücher, also als Ergebnis islamischer Rechtsgelehrsamkeit, vor. Sie sind Resultat fehlbaren menschlichen Räsonierens. Diese einzige vorliegende Gestalt des islamischen Rechts Scharia zu nennen, führt in die Irre, denn sie gibt menschlichen Hervorbringungen göttlichen Nimbus. Ebd., 117. Ballouz, Thesen zur Dissertation, im vorliegenden Band, 185.
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Diesen ganzen Komplex nennt Ballouz den formalen Charakter (ṣuwariyya) des islamischen Dogmas, also den Umstand, dass es an sich inhaltsleer ist und seine Inhalte ihm von außen im praktischen Vollzug der Umsetzung kommen. Er spricht da auch von „impliziter Säkularität“ (ʿalmāniyya ḍimniyya) als „große(r) Errungenschaft der islamischen Kultur.“²⁴ Und im Ergebnis sieht er die günstigen Rahmenbedingungen für zivilisatorische Entfaltung, von denen schon die Rede war: „In diesem relativ langen Zeitraum zeigte der Islam große Lebenskraft im Bereich des religionsrechtlichen und theologischen Denkens sowie im Bereich der intellektuellen und kulturellen Aktivitäten überhaupt.“²⁵ Letzten Endes erstarrte aber der Islam – so Ballouz – „in einförmigen, endgültigen Formulierungen …, die keine Veränderung zuließen.“²⁶ Diese Entwicklung behandelt er aber nicht explizit. Vielmehr endet er mit der hypothetischen Frage, ob der Orient nicht dadurch, dass er die Antike unter Wahrung geistiger Flexibilität fortführte, unfähig gemacht wurde, „mit den Strukturen des mittelalterlichen Feudalismus (zu) brechen,“²⁷ während der Westen gerade durch den schreienden Widerspruch zwischen den verknöcherten, durch eine Irrationalismus predigende Kirche garantierten Zuständen und den Ansprüchen einer sich entwickelnden Welt dazu gezwungen wurde, diese althergebrachten Zustände in Frage zu stellen. Die Argumentation in den ersten zehn Kapiteln der Studie beruht auf zwei die islamische Theologie bzw. das islamische Recht betreffenden Thesen. Die theologische These besagt, dass der islamische Glaube dank seines formalen Charakters flexibel ist. Gott ist transzendent und allmächtig und gibt, dies einmal anerkannt, dem Menschen großen Spielraum für die Regelung seiner irdischen Angelegenheiten. Die rechtsbezogene These betrifft die Rolle des islamischen Rechts als Einfallstor für die irdische Dimension und die Interessen der Menschen in die gelebte Praxis des Islam. Es fällt auf, dass Ballouz sich bei aller Bedeutung dieser Aussagen wenig bei ihrer Begründung etwa in der Beschäftigung mit islamischer Theologie oder Jurisprudenz aufhält. Seine Aussagen folgen offenbar aus der selbstverständlichen Verfügung über Kenntnisse im jeweiligen Bereich. Direkte Zitate aus den Grundlagentexten oder anderen Werken des islamischen Kulturerbes finden sich nur an wenigen, für den Gang der Argumentation wichtigen Stellen. Das betrifft vor allem die theologischen Aussagen. In der Behandlung des Rechts setzt sich Ballouz kaum mit dem fiqh, der islamischen Rechtsgelehrsamkeit, auseinander. Das liegt auch nicht nahe, denn
Ballouz, Studie, 112. Ebd., 130. Ebd. Ebd., 137.
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beim fiqh handelt es sich um die Einzelbestimmungen des islamischen Rechts. Etwas anderes könnte man für die uṣūl al-fiqh, die Rechtsmethodologie, erwarten, denn in diesem Kontext handelt es sich um die Methoden der Herleitung von Rechtsbestimmungen aus den nach muslimischer Auffassung gottgegebenen Grundlagen. Hier wäre also Gelegenheit gewesen, die Umsetzung der nach muslimischer Auffassung göttlichen Gebote in vollziehbares Recht zu behandeln. Aber auch hier findet sich wenig Auseinandersetzung im Einzelnen. Es gibt nur ein direktes Zitat als Belegstelle, nämlich das aus den Muwāfaqāt von aš-Šāṭibī (1320 – 1388), in dem dieser das menschliche Wohl und menschliche Interessen unter der Rubrik maqāṣid aš-šarīʿa („Absichten der Scharia“) als rechtsbegründend einführt. Die Analyse von Nayef Ballouz behandelt in den ersten zehn Kapiteln der Studie vorwiegend ideologische Aspekte der Entstehung und Entwicklung des Islam. Allerdings sieht er die Ideologie nicht im luftleeren Raum als völlig autonome Instanz, sondern betrachtet sie und ihre Entwicklung im Rahmen der gesellschaftlichen Verhältnisse, die er auch immer wieder schildert und heranzieht. Am deutlichsten wird das in seinem Bestehen darauf, dass die islamischen Gelehrten der vormodernen Zeit sich vornehmlich aus der Schicht der Händler und Handwerker rekrutierten und sich auch im Tenor ihrer Urteile oft als Repräsentanten der Stadtwirtschaft erwiesen. Das abschließende elfte Kapitel der Studie verlässt die Religionsgeschichte und behandelt ohne direkten inhaltlichen Anschluss die Frage, wie sich progressive Kräfte in den arabischen Ländern zum Islam, zu islamischen Bewegungen und zu den Massen der muslimischen Gläubigen verhalten sollten. Ballouz geht hier von der misslichen Situation der arabischen Welt aus, die mit der Vergegenwärtigung eines Rückstands gegenüber Europa im frühen 19. Jahrhundert begann, mit dem Versuch des Aufholens und seiner ideologischen Entsprechung, der nahḍa, weiterging und nach der Entkolonisierung in einen enthusiastischen Aufbruch mündete, der aber abgewürgt wurde, wonach in den 1980er Jahren die Abhängigkeit der Region vom Westen in all ihren unerfreulichen Aspekten erneut überdeutlich wurde. Das stellte die arabische Linke, für die Ballouz hier schreibt,²⁸ vor eine große Aufgabe: den Kampf gegen diese Abhängigkeit. Dies ist in groben Zügen seine Argumentation: Die Volksmassen, die ein objektives Interesse an diesem Kampf haben, sind zum großen Teil gläubige Muslime. Ihre Reaktion auf die westliche Hegemonie äußert sich in der Entstehung einer – heterogenen – islamischen Bewegung und der Verschärfung ihres islamischen
Von ihrem Anlass her war die Studie für den syrischen Präsidenten geschrieben; aus ihrem ganzen Duktus erhellt aber, dass sie sich mindestens ebenso sehr an die arabische Linke richtet.
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Bewusstseins als der dieser Weltregion angemessenen Form der Dritte-WeltIdeologie. Die Lösung der genannten Aufgabe fordert die gemeinsame Bemühung von Linken und gläubigen Muslimen. Eine Erneuerung der islamischen Ideologie, die ein solches Bündnis erleichtern würde, können nur progressive Muslime selbst vornehmen, wobei sie den formalen Charakter des Glaubens nutzen können, indem sie ihn mit solchen Inhalten füllen, die aus den Notwendigkeiten des politischen Kampfs erwachsen. Die Religiosität der Massen hindert sie nicht am fortschrittlichen politischen Kampf. Insofern sollte die Linke nicht den Fehler machen, die Religion zum Hauptfeind zu erklären und frontal zu bekämpfen. Allerdings glaubt Ballouz nicht, dass islamische Kräfte, auch progressive,²⁹ über die zur Führung des Befreiungskampfs nötige theoretische Einsicht verfügen. Vor dieser Aufgabe steht für ihn die Linke, die sie aber bisher auch nicht gelöst habe – unter anderem, weil sie das Verhältnis zu den gläubigen Muslimen nicht richtig bestimmt habe. Diese Aufgabe müsse sie dringend angehen. In der Frage der richtigen Haltung zur Religion gibt es unter arabischen Linken, grob gesprochen, zwei Positionen: Eine, die die relative Autonomie der religiösen Organisation und Ideologie betont, sie als dem gesellschaftlichen Fortschritt hinderliche Größen sieht und daher den Kampf gegen sie als solche befürwortet;³⁰ und eine andere, die die Religion als von der sozialen Struktur abhängig sieht und daher keinen antireligiösen Kampf propagiert, um Reibungen mit progressiven religiösen Kräften nach Möglichkeit zu vermeiden. In dieser Frage verortete sich Ballouz eindeutig auf der zweiten Position. Damit stellte er sich einem Problem, das seinerzeit ein Problem der gesamten arabischen Linken war: der Tatsache, dass sie schwach war und wenig Einfluss auf die breite Bevölkerung hatte, eine Folge davon, dass die Notwendigkeit von Veränderungen, vielleicht sogar revolutionären Veränderungen, gegeben war, sich aber günstige Perspektiven dafür nicht abzeichneten: Zu fest erschien die Kontrolle des Westens über die Region, zu effektiv die Unterdrückung durch die bestehenden Regimes, die sich dieser Kontrolle fügten. Ballouz benannte dieses Problem, sah aber auch, dass die Aufgabe äußerst schwierig war: „Das liegt erstens daran, dass die Bewegung und Aktivität in den gläubigen Schichten selbst stattfinden muss, zweitens daran, dass die Führung dieses Prozesses, jedenfalls was die Theorie angeht, in den Händen nichtreligiöser sozialer Kräfte liegen muss, die sich aber drittens
Ballouz wird hier nicht konkret. Es wäre wohl auch schwierig gewesen, organisierte progressive islamische Kräfte zu nennen. Eher gab es einzelne Intellektuelle, die eine entsprechende Position vertraten, so etwa Ḥasan Ḥanafī oder Muḥammad Aḥmad Ḫalafallāh. Vgl. etwa Lafif Lakhdar, Why the reversion to Islamic archaism?, in: Khamsin No. 8, 1981, 62– 82.
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nicht sinnvollerweise als nichtreligiöse Kräfte darstellen können.“³¹ Die Verwirklichung dieses Programms setzte günstige Umstände voraus, wie sie seinerzeit (1986) nicht bestanden und sich auch heute (2021), nach den arabischen Rebellionen und ihrem (vorläufigen?) Scheitern, kaum abzeichnen.³² So ist diese Studie einerseits, in ihren ersten zehn Kapiteln, der Versuch, den vormodernen Islam in seinen wichtigsten Zügen zu charakterisieren und ihn welthistorisch zu verorten, zu zeigen, dass und warum er – oder besser gesagt, die Muslime jener Zeit – eine wichtige Station im Stafettenlauf des menschlichen Fortschritts war. Er war das aufgrund sozialer Entwicklungen, konnte es aber nur deshalb sein, weil er sich durch seinen „formalen Charakter“ den Erfordernissen der Realität anpasste. Ballouz hielt es für möglich – dies seine Argumentation im letzten Kapitel der Studie –, dass der Islam seine diesbezüglichen Potenzen noch nicht ganz erschöpft hat und dass er, wenn die Muslime es richtig anpacken, auch heute noch unter bestimmten Bedingungen einen Beitrag zum sozialen Fortschritt leisten kann. Das ist der wesentliche Inhalt der Studie. Damit ist sie ein ausgesprochen gewichtiges Wort zu dem großen und kontroversen Thema „Islam“. Ob Ballouz hier nun recht hat oder nicht: Die These ist hier in großer Klarheit entwickelt, und es lohnt sich, über sie nachzudenken und zu debattieren. Ballouz verstand seine Argumentation als Ratschlag an das arabische linke und progressive Lager, wobei er zwischen „links“ und „progressiv“ kaum einen Unterschied machte. Die Studie dürfte indes angesichts ihrer weiterhin großen Aktualität auch ein breiteres akademisches Publikum in den arabischen Ländern ansprechen und nicht zuletzt westliche Leser dazu animieren, mit Gewinn über diese Probleme nachzudenken. Überdies bietet sie einen tiefen Einblick in die Gedankenwelt von Nayef Ballouz, einem bedeutenden Vertreter des modernen arabischen Denkens. Die hier vorgelegte Studie ist, wie gesagt, Teil eines Komplexes von Schriften zum selben Thema, zu dem außerdem noch Ballouz’ Dissertation Der frühe Islam und seine geisteskulturelle Vorgeschichte und zwei Aufsätze gehören, die 1969/70 in DDR-Zeitschriften publiziert wurden.³³ Zentrale Einsichten der Studie von 1986 wurden bereits in der Dissertation von 1968 gewonnen. Als Grundlage für die mündliche Doktorprüfung fertigte Nayef Ballouz im Juli 1968 Thesen zur Disser-
Ballouz, Studie, 178. Vgl. Lokale Dynamiken, globale Kontexte. Die arabischen Revolten jenseits einer Rhetorik des Scheiterns. Cilja Harders im Interview, in: Helmut Krieger, Magda Seewald u. ViDC (Hrsg.), Krise, Revolte und Krieg in der arabischen Welt, Münster: Westfälisches Dampfboot 2017, 50 – 65; Alexander Flores, 25 Jahre inamo – Die Araber: Hoffnung, Frustration, Rebellion, in: Inamo Nr. 99…100, Winter 2019, 20 – 23. Vgl. Fußn. 5.
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tation an.³⁴ Weil diese Thesen einen eigenen Wert als frühe Formulierung von Ballouz’ Einsichten zum Islam haben, aber auch im Vergleich mit der Studie dokumentieren, wie konstant er an diesen einmal gewonnenen Einsichten festhielt, sind sie im Anhang der vorliegenden Publikation abgedruckt. Für unschätzbare Hilfe bei der Erstellung dieser Übersetzung danke ich Issam Ballouz, dem Sohn des Autors der Studie. Anke von Kügelgen, Kata Moser und Sarhan Dhouib haben in ungewöhnlich sorgfältiger Lektorierung zahlreiche Vorschläge zur Verbesserung des Textes gemacht. Und nicht zuletzt gilt mein Dank Fawzi Abo Zayd, der die Fundstellen vom Autor nicht nachgewiesener Zitate ausfindig gemacht hat.
Diese Thesen sind bisher nicht veröffentlicht.
Studie über den Islam und seine gegenwärtige Bedeutung von Nayef Ballouz
Vorwort Die Welle der Wiederbelebung des Islam hat heute große Reichweite, Kraft und Dynamik gewonnen. Sie präsentiert der Welt den Islam als Weg zur Errettung der Menschheit, das heißt als weltumspannende Ideologie mit weitreichenden und umfassenden Zielen, die sowohl den Kapitalismus als auch den Sozialismus weit hinter sich lässt. Die Reaktionen auf diese Welle reichen von großer Hoffnung zu starker Furcht und von Verständnis zu Verdammung. Viele Forscher und Denker machen sich heute, aus den verschiedensten Beweggründen und mit unterschiedlichen Graden von Unabhängigkeit, Objektivität und Tiefe daran, dieses Phänomen zu analysieren, seine Triebkräfte, Dimensionen und positiven wie negativen Aspekte aufzudecken und über seine Zukunft nachzudenken. Man begegnet immer mehr Leuten, die sich interessiert, beunruhigt und neugierig fragen, was denn der Islam eigentlich ist, warum er so attraktiv ist und welche Lösungen und Werte er den Muslimen, der Dritten Welt und der Menschheit insgesamt bringt. In der letzten Zeit mehren sich die Studien, die darauf abzielen, die Bedingungen und Umstände des Wachstums der islamischen Bewegungen, ihre Ziele und Horizonte genau zu bestimmen, die Beziehung der heutigen Situation des Islam zu seinem langen historischen Werdegang, der so reich ist an Erfolgen, Fehlschlägen und Auseinandersetzungen, zu erfassen und herauszufinden, wie er sich den Herausforderungen unserer Zeit stellt. Im Rahmen dieses Interesses wendet man sich gegen die Orientalistik und die Orientalisten, die den Islam absichtlich herabgesetzt haben, und unter den Orientalisten melden sich einige, die ihre Errungenschaften verteidigen und die Anschuldigungen zurückweisen. Einige westliche Forscher verfolgen die Auswirkungen der islamischen Wiedererweckung auf das Milieu der progressiven, nationalistischen und säkularistischen arabischen Kräfte, wie auch einige arabische Forscher sich für die Reaktion der westlichen Denker auf dieses islamische Erwachen sowie für das Bild des Westens vom Islamismus und vom zeitgenössischen Islam interessieren. Einige Leute glauben, dass der Islam von Anfang an ein vollständiges und endgültiges Programm für das irdische Leben, die Glückseligkeit und die Rettung des Menschen in sich schloss und dass seine ganze lange Geschichte nichts anderes war als die Enthüllung dessen, was in seinem ersten Kern verborgen, und die Entfaltung dessen, was in ihm angelegt war. Andere glauben, dass der wahre, richtige Islam vollkommen verschieden von den Ereignissen seiner Realgeschichte ist, die in ihren Praktiken, Institutionen, Widersprüchen und Forderungen nichts als eine Abweichung vom reinen Weg des Islam und seinen hohen Zielen gewesen sei. Es ist völlig legitim, zwischen den https://doi.org/10.1515/9783110701616-001
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ersten Zeiten des Islam und seinen späteren wertend abzuwägen, aber es ist auch sehr wichtig zu betonen, dass die Natur und die Gestalt des Islam erst endgültig durch seinen historischen Werdegang und dessen Triebkräfte festgelegt wurden. Jede gegenteilige Auffassung läuft auf Selbsttäuschung hinaus. In diesem Werdegang traten seine wesentlichen Züge, seine Struktur und seine Ideale hervor, und aus ihm erwuchsen ihm Stärke und Schwäche. Manchmal blieb der Islam zurück, zog sich auf sich selbst zurück und suchte Zuflucht in der Wiederholung des Altüberlieferten. Zu anderen Zeiten rüttelten ihn plötzliche Schicksalsschläge auf, und er überwand Enge und Stagnation und begann in seinem kulturellen Gedächtnis nach Triebfedern und Stützpfeilern zu forschen, die ihm halfen, geeignete Formen von Anpassung, Initiative, Erneuerung und Wiederaufnahme der Fortschrittsbewegung zu finden. Und heute erfährt er eine wirkliche Wiedererweckung und deutliche Belebung. Was ist das Geheimnis dahinter, dass er in den 1980er Jahren eine solche besondere Bedeutung bekam? Bringt der Islam der Welt eine umfassende Botschaft? Wie lange wird er noch eine vorwärtstreibende Kraft in der islamischen Welt sein? Welche verschiedenen Richtungen wird er einschlagen können? Die wichtigste Voraussetzung für die Beantwortung dieser Fragen ist die Arbeit an der historischen Rekonstruktion des Islam in seiner Einheit, seinen Widersprüchen, seiner Diskontinuität und Kontinuität sowie in seinen Beziehungen mit den anderen Gesellschaften. Denn die heutige Lebenskraft des Islam beruht unter anderem darauf, dass er von Zeit zu Zeit zu einem Moment seiner historischen Vergangenheit zurückkehrt. Die Natur des religiösen Bewusstseins selbst erzwingt diese Rückkehr, und in jeder Rückkehr liegt eine Bereicherung des Islam, eine Anpassung an sich erneuernde Umstände und ein Zugewinn an Elementen des Widerstands, der Kontinuität und der Lebenskraft. Das vorliegende Werk enthält die gestraffte Zusammenfassung einer langen Studie über die geistige und zivilisatorische Situation, in welcher der Islam entstand, über seinen Ort im Kontext der Weltgeschichte und über seine Bedeutung für das Schicksal der heute lebenden Araber.¹ An den Ergebnissen dieser in der Mitte der 1960er Jahre geschriebenen Studie musste ich aber einiges ändern und hinzufügen, denn seinerzeit bestand das grundlegende Problem (etwa in Ägypten oder in Algerien) darin, die Elemente im Islam zu entdecken, welche die Volkskräfte auf dem Weg des sozialen Fortschritts mobilisieren konnten, während heute die wesentliche Fragestellung ist, wie man einen mörderischen Kampf zwischen den islamischen und den nationalen und progressiven Kräften verhindert sowie
Bei dieser Studie handelt es sich um Nayef Ballouz’ Dissertation Der frühe Islam und seine geisteskulturelle Vorgeschichte (Humboldt-Universität, Juli 1968).
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die Möglichkeiten und Grenzen des islamischen Aufschwungs, ihre positiven und ihre negativen Seiten genau bestimmt. Wenn es auch wegen der gebotenen Kürze unmöglich ist, die methodischen und formalen Eigenheiten der alten Studie beizubehalten, so möchte ich doch diesbezüglich auf einen sehr wichtigen Punkt hinweisen: In der letzten Zeit lässt sich eine starke positive Hinwendung mancher arabischer Denker zur modernen, kritischen und wissenschaftlichen Erforschung des islamischen Kulturerbes feststellen, ebenso wie es auch die europäischen Wissenschaftler in der Erforschung des christlichen Erbes getan haben. Damit konnten diese die Grundlagen für die Säkularisierung legen, indem sie den Angelegenheiten des Staats und der Gesellschaft den göttlichen und heiligen Charakter nahmen und gleichzeitig die Religionsfreiheit als individuelle und private Angelegenheit begründeten. Das ist, allgemein gesprochen, schätzenswert, denn es bringt die kritische wissenschaftliche Forschung einen wichtigen Schritt voran und gibt ihr mehr Freiheit und neue Perspektiven. Es wird dabei allerdings manchmal einiges durcheinandergebracht. Da gibt es zum einen die politisch-ideologische Forderung nach Säkularisierung, die für die Trennung der Religion von Staat und Gesellschaft sowie für die Bewahrung der Religions- und Gewissensfreiheit sorgt. Zum anderen ist da die Forderung nach einer auf Erkenntnis abzielenden kritisch-wissenschaftlichen Forschung, die ihren Gegenstand nicht auf die gesellschaftlichen Bereiche beschränken kann, denen die Säkularisierung ihren geheiligten und religiösen Charakter genommen hat. Soll man nun auf die kritisch-wissenschaftliche Forschung in solchen Bereichen verzichten, die immer noch als tabu angesehen werden, wie etwa die Erscheinung der Intervention des Göttlichen in der Geschichte in ihren verschiedenen Erscheinungsformen, und dies mit dem Argument, dass es sich hier um eine höhere Macht handle, die den Horizont der Geschichte überschreitet und deren Wahrheit so klar und augenscheinlich ist, dass sie der Erforschung nicht bedarf? Das säkularistische Bekenntnis zur Religionsfreiheit beinhaltet kein positives oder negatives epistemologisches Urteil über das Verhältnis des Menschen zu Gott und zur Natur, das auf eine höhere Instanz zurückzuführen wäre. Es kann auch nicht den Glauben oder Nichtglauben an bestimmte Erscheinungsformen des Verhältnisses Gottes zum Menschen vorschreiben. Dieses epistemologisch-philosophische Problem liegt außerhalb der Sphäre der Säkularisierung. Wenn man allerdings der kritischen wissenschaftlichen Forschung verbietet, das religiöse Bewusstsein selbst oder die ontologische Wahrheit des Schöpfers der Natur und seines Verhältnisses zu den Menschen zu behandeln, bedeutet das die Einengung der Freiheit der wissenschaftlichen Forschung. Dies ist der Säkularisierung nicht nur fremd, sondern es zerstört ihre Grundlagen, denn die kritische Wissenschaft wird so abhängig von unkritisch vorausgesetzten Glaubensartikeln; die Verehrung eines Teils des vergangenen
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Kulturerbes und seiner Legenden nimmt die Stelle seiner Kritik und Analyse ein, und die Säkularisierung verwandelt sich in Täuschung und Wahrsagerei. Der Ruf nach der Säkularisierung darf nicht zum Gegenstand von Handel oder Feilschen werden, in dem die Freiheit des Denkens und die Möglichkeiten des wissenschaftlichen Fortschritts verlorengehen. Dies tritt aber ein, wenn der Forscher, ausgehend von einem romantisch-religiösen Standpunkt, dazu getrieben wird, die Realität, die Geschichte und das Erbe jeweils in zwei Bereiche aufzuteilen und ihren ersten und älteren Bereich auf ein absolutes Niveau zu heben. Dieser absolute Bereich ist das, was man den Moment der wunderbaren göttlichen Gründung, die Texte der geheiligten Offenbarung und die Grundlagen der Wahrheit und des Schöpfertums nennt. Der zweite Bereich enthält alle späteren Formationen und Ereignisse, die in den Kontext der historischen Abfolge einzuordnen sind, sowie alle Lesarten, Kommentare, Rechtsbestimmungen, Entscheidungen, Anfügungen und die übrigen kulturellen und ideologischen Erscheinungen, die abgeleitet sind und nicht unmittelbar aus einer göttlichen Quelle oder einer geheiligten Grundlage hervorgehen. Es gehört zum Wesen eines Gründungs- und Ursprungszeitalters, dass es das ideale, vollkommene Modell ist. Es allein verdient die Bezeichnung „Zeitalter des schöpferischen Ursprungs“, und es ist der Maßstab aller Zeitalter, Errungenschaften und Neuerungen. Den zweiten, späteren Bereich erreicht kein unmittelbares, höheres göttliches Feuer; er bleibt befangen in den Grenzen des Autoritätsglaubens, der Nachahmung, der Wiederholung, des Wiederkäuens und der Kommentare von unterschiedlicher Zuverlässigkeit und Bedeutung. Einige dehnen diese religiöse Zweigleisigkeit, die zwischen dem ursprünglichen schöpferischen Beginn einerseits und den abgeleiteten Bestimmungen und den späteren Lesarten der Grundlagen andererseits unterscheidet, auf das ganze Erbe aus. Weil diese religiöse Sicht, die nach der ursprünglichen Wahrheit in der fernen Vergangenheit sucht, vorherrscht, fehlt die kritisch-wissenschaftliche Analyse völlig. Wenn ein Forscher die arabische Dichtung der vorislamischen Zeit zum Maßstab der Ursprünglichkeit und zum Modell künstlerischer Schöpferkraft macht und die Rückkehr zu diesen Wurzeln fordert, wie der Gläubige zu seinem Schöpfer zurückkehrt, verurteilt er alle späteren Lesarten, neuen Werke und die Zukunft zur Nachahmung und Unfruchtbarkeit. Wenn wir uns statt mit den Ursprüngen mit
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Abū Tammām,² al-Maʿarrī,³ at-Tauḥīdī⁴ und anderen beschäftigen, schneiden wir uns in dieser Sicht von den Quellen der Schöpferkraft ab, die dann nichts Neues mehr hervorbringen, und es wird sogar behauptet, dass das eine Art künstlerischer Unglaube ist, denn das Mithalten mit der Geschichte soll eine fortwährende Entfernung von der Wahrheit, von der Authentizität und von der Vollkommenheit sein. Vor diesem Niedergang soll uns nur der unmittelbare Zugriff auf die ersten edlen Ursprünge retten. Diese Sicht trennt rigoros zwischen den absoluten schöpferischen Anfängen und den Bestimmungen oder Lesarten, die auf ihnen vorangehende Ursprünge verweisen. Aber neue Studien zeigen, dass es da keine absoluten Anfänge gibt, sondern nur Höhepunkte älterer Entwicklungen. Die vorislamische Poesie, die mündliche Gedichtsammlung der Araber, ist auf der Grundlage der heidnischen magisch-religiösen Ritualformen entstanden und verdankt ihre relative Arriviertheit dem Umstand, dass sie sich aus dem kollektiven traditionellen kulturellen Schatz speist. In ihrer heroisch-balladenhaften Art ist sie Ausdruck eines kollektiven ästhetischen Bewusstseins ohne wesentlichen Anteil des Individuums und seiner innovativen Schöpferkraft. Es handelt sich hier um tiefverwurzelte, wiederkehrende Formen und modellhafte Strukturen, erworben in langjähriger Erfahrung und formuliert gemäß strengen Grundlagen und Regeln. Ihre sprachliche, phantastische und lokal begrenzte Welt war zu einem kollektiven oralen kulturellen (Stammes‐)Besitz geworden, von dem alle Dichter wussten und der nicht weniger fest verwurzelt war als die Bräuche und Traditionen des Stamms. Die kulturellen Grundlegungen und historischen Vorläufer der vorislamischen Dichtung nahmen ihr ihre absolute und innovative Qualität, die sie zum unübertrefflichen Standard und zum unvergleichlichen, ursprünglichen schöpferischen Kulturerbe gemacht hätte. Und so darf die kritisch-wissenschaftliche Forschung die Gründungskonstellation auch nicht als wunderbaren, erstaunlichen, über die Geschichte erhabenen Beginn ansehen. Vielmehr müssen wir methodologisch festhalten, dass sie ein Kulminationspunkt der kulturellen Entwicklung war, im Verlauf der Geschichte vorbereitet von verschiedenen Faktoren der Reifung, der Verfeinerung und der Vertiefung, die sie dann schließlich tatsächlich unter bestimmten Gesichtspunkten zu einer Gründungsstruktur oder zum schöpferischen Ursprung dessen machten, was sich nach ihr verwirklichen sollte. Hier ist erwähnenswert, dass der Grün Ḥabīb Abū Tammām, ca. 800 – 845, arabischer Dichter (A. d. Ü.). Abū-l-ʿAlāˈ al-Maʿarrī, 973 – 1057, arabischer Dichter, bekannt für seinen Skeptizismus in religiösen Fragen (A. d. Ü.). Abū Ḥayyān at-Tauḥīdī, 923 – 1023, arabischer Philosoph, Vertreter einer humanistischen Position (A. d. Ü.).
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dungskern bei einigen Religionen in seiner tatsächlichen Herausbildung später kam als ihre historische Gründung, wie manche Forscher gezeigt haben. Man sollte nicht nur anerkennen, dass es ein historisches Vorspiel zum Gründungskern gab, sondern auch feststellen, dass der schöpferische Ursprung oder der Gründungskern kein homogenes statisches Gebilde war, das andere bewegte, aber wie der Gott von Aristoteles selbst nicht bewegt wurde, sondern eine dynamische, bewegliche Erscheinung, die sich durch Vielfalt, Veränderlichkeit und innere Bewegung auszeichnete. Zudem sind die Festigkeit und Ruhe dieser Erscheinung relativ, denn es handelt sich um die gedankliche Kristallisation eines realen dynamischen Kontextes voller Widersprüche. Wie dem auch sei: Dieser Punkt betrifft die Methode und hat keine Konsequenzen, die mit dem Standpunkt des Individuums und seinen Glaubensüberzeugungen zusammenhängen. Aus dem Vorhergehenden wird deutlich, dass es außer der Gründungsstruktur und den von ihr abgeleiteten ideologisch-historischen Interpretationen und Lesarten eine dritte Phase gibt, die ihnen historisch vorausgeht. Sie besteht aus den ersten Grundlegungen, welche die Entstehung einer Gründungsstruktur vorbereiten. Jede analytisch-kritische, historische oder strukturalistische Herangehensweise muss diese Phase berücksichtigen. Es besteht kein Widerspruch zwischen einerseits logischer Darlegung und einer Herangehensweise, die mit der beschreibenden oder funktionellen Untersuchung der Gründungsstruktur und des ihr Folgenden beginnt, und andererseits der Anerkennung der erwähnten historischen Vorbereitungsphase. Dies ist die Bedeutung der eben gemachten methodologischen Vorbemerkung: Um den geistigen und zivilisatorischen Umbruch, der das Aufkommen des Islam nun einmal war, in seiner wahren Bedeutung zu erklären, muss man seine geistigen und sozialen Voraussetzungen sowie den allgemeinen Charakter der geistigen und sozialen Umbrüche, die ihm im Orient und auf der Arabischen Halbinsel vorausgingen, genau analysieren; man muss ihn also in den Rahmen der zivilisatorisch-historischen Gesamtentwicklung stellen, die ihm erst seine Bedeutung gab. In meiner schon genannten früheren Studie⁵ habe ich erklärt, wie es der Islam, entstanden in einem zivilisatorisch und historisch gegenüber den übrigen orientalischen Ländern rückständigen Gebiet, geschafft hat, kein regional isoliertes Ereignis zu bleiben, sondern eine angemessene Antwort auf die sozialen und historischen Bedürfnisse und Entwicklungsbedingungen in der Region zu werden, die dann als „Gebiet des Islam“ (Dār al-islām) oder „Welt des Kalifats“ bekannt wurde. Dazu habe ich auch untersucht, wie weit die religiösen
Ballouz’ Dissertation, vgl. Fußn. 1.
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Ideen des Orients vor dem Islam in der Lage waren, die Bedürfnisse der realen Entwicklung aufzunehmen und auf die Tendenzen der historischen Bewegung zu antworten. Weiter habe ich gezeigt, wie der gerade entstandene Islam die historische Gelegenheit, die sich aus der scharfen Auseinandersetzung zwischen den beiden Großmächten der Zeit, Byzanz und Persien, ergab, ausnutzte, um selbst zu einer Weltmacht zu werden. Es ist sehr wichtig, bei diesen bedeutsamen Umständen der Entstehung des Islam als neue, unabhängige, weltumspannende Ideologie einerseits und neuer Staat großer Ausdehnung mit besonderen politischen und sozialen Institutionen andererseits zu verweilen. Ich kann im vorliegenden Buch die verschiedenen Aspekte des geistigen und zivilisatorischen Lebens im frühen Islam nicht völlig erfassen, sondern werde mich damit begnügen, die wichtigsten Züge der islamischen Ideologie⁶ zu jener Zeit und ihre Auswirkung auf die Richtung der gedanklichen, rechtlichen und politischen Entwicklung sowie die Umformulierung des Kerns des frühen islamischen Bewusstseins zu bestimmen. Dazu muss ich mich auf dessen Weltsicht, auf seine Stellung zum Leben und zum theoretischen Denken sowie auf die soziale und politische Praxis konzentrieren, und damit dann auch auf die Veränderungen der Formen der Beziehung des Menschen zur Gottheit, des irdischen Lebens zum Jenseits, des Wissens zum Glauben, der Praxis zur Theorie, der Religion zum Staat usw. Bei der Behandlung dieser Probleme werde ich die Lösungen untersuchen, die im Islam für das tugendhafte Leben des Menschen, den Wert seiner körperlichen und geistigen Mühen, seine wichtigsten Ziele, seine praktischen und religiösen Aktivitäten, seine Rechte und Pflichten, sein Schicksal usw. vorgeschlagen wurden. Ganz besonders werde ich mich der Frage widmen, wie weit und warum ein historischer, sozialer und intellektueller Fortschritt im Rahmen einer religiösen Ideologie stattfinden konnte. Um den Bedingungen wissenschaftlicher Forschung zu genügen, musste ich die zivilisatorischen und geistigen Vorgänge im frühen Islam als aufeinanderfolgende menschliche Ereignisse im Kontext einer ganz bestimmten sozialen und geistigen Geschichte behandeln, und zwar unabhängig von jeder Glaubensvoraussetzung und jeder anderen Erwägung, die nicht von der Logik wissenschaftlicher Forschung diktiert wird und deren Berücksichtigung sich daher verbietet. Wer keine Forschung betreibt, kann den Glaubensstandpunkt einnehmen, den er will und der mit seiner Sicht auf das Leben und die Existenz im Einklang ist.
Ideologie meint hier, wie überhaupt bei Ballouz, ein System von Überzeugungen einer Gruppe von Menschen, das mit ihrer realen Situation zu tun hat, sie aber nicht unbedingt richtig erfasst (A. d. Ü.).
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Diese Studie beschäftigt sich nicht mit der Vergangenheit, weil sie nach Objektivität strebt oder die heutigen Probleme umgehen will, sondern um unser heutiges Leben, in dem der Islam als Kultur, Religion und politisches Gebilde eine große Rolle spielt, besser zu verstehen. Darum ist es richtig, dass wir sie als Ausdruck einer bestimmten Entwicklungsstufe des theoretischen Bewusstseins und einer bestimmten Richtung in der Entwicklung des historischen Bewusstseins verstehen, das seinerseits einen wesentlichen Aspekt des heutigen sozialen Bewusstseins und seines ideologischen Gehalts darstellt. Wenn heute eine Nation die Bedeutung des historischen Bewusstseins in ihrem geistigen Leben bekräftigt, ist das meist ein Anzeichen dafür, dass die Weichen für die Zukunft im Bewusstsein der Leute noch nicht gestellt sind. Die fortwährende Beschäftigung mit der historischen Vergangenheit offenbart hier das völlige Aufgehen in der Zukunft und den Willen, sie zu kontrollieren. Das Interesse an der Frühzeit des Islam zeigte sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts stark bei den Wahhabiten, als sie die Last des ihnen fremden osmanischen Sultanats spürten. Die Rückkehr zur Frühzeit des Islam war der Beginn eines noch unbestimmten national-arabischen Bewusstseins, das die Herrschaft der Osmanen und ihres Islam ablehnte. Und mit den Umschwüngen, welche die arabische Gesellschaft seit der Mitte des 20. Jahrhunderts zu erfahren begann, hat dieses Interesse eine ganz neue Bedeutung im Hinblick auf seinen sozialen Gehalt gewonnen. Jeder wichtige Umschwung im Leben der Araber wird sie dazu bringen, die Vergangenheit mit neuen Augen zu sehen. Welche Veränderungen sich in unserem Verhältnis zur Vergangenheit auch immer ergeben mögen, es wäre doch leichtsinnig, sie wie ein abgetragenes Kleid beiseite zu legen. Man sagt doch, wer auf die Vergangenheit mit Gewehren schießt, auf den wird die Zukunft mit Kanonen zurückfeuern. Der Sieg des Islam als Religion und Staat war ein positiver Schritt auf dem Weg des historischen Fortschritts. Auf seinem Territorium vollzog sich ein Aufschwung in den Produktivkräften und der Technik, eine Blüte der städtischen Wirtschaft (Handel und Wissen) und eine Ausbreitung der Feudalbeziehungen, begleitet von der Festigung eines ausgedehnten Zentralstaats, der meist eine lebenswichtige ökonomische Funktion erfüllte. Die Welt des Kalifats sah zivilisatorischen Fortschritt, Reichtum und Vielfalt im kulturellen und religiösen Leben sowie den Aufschwung der wissenschaftlichen und philosophischen Forschung und den Beginn der experimentellen Methode. Die arabisch-islamische Zivilisation zeichnete sich allgemein, und ganz besonders in ihrer ersten Phase, durch die Entwicklung einer positiven Haltung zur Außenwelt und ihrer Erkenntnis sowie durch die Rechtfertigung weltlicher, natürlicher und menschlicher Bestrebungen aus. Sie hatte allerdings auch negative und entwicklungshemmende Seiten. Deren Erforschung ist wichtig, aber hier will ich die Aufmerksamkeit auf die positiven Seiten lenken.
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In der Welt des Kalifats gab es weiten Raum der politischen und geistigen Betätigung für verschiedene Gruppen und Richtungen, und das heißt, wie wir sehen werden, dass die Hegemonie des religiösen Bewusstseins seinerzeit, anders als im europäischen Mittelalter, nicht absolut war. Wenn wir methodologisch davon ausgehen, dass die Religion die Koppelung aus umgekehrtem Spiegelbild der Widersprüche des Lebens und seiner sozialen Kämpfe einerseits und ideologischer Rechtfertigung verschiedener Formen der Ausplünderung und der ausbeuterischen Gesellschaftsstruktur andererseits ist, dann müssen wir aus denselben methodologischen Gründen auch bei der genauen Untersuchung des islamischen Gedankengebäudes die simplifizierenden, pseudowissenschaftlichaufklärerischen Verallgemeinerungen zurückweisen, die behaupten, dass die Religion im Allgemeinen, immer, absolut und überall eine bloße Illusion ist, die auf dem Intellekt des Menschen und seiner Aktivität lastet, ihn an jeder praktischen und theoretischen Wirksamkeit hindert, ihn mit den Banden der Selbstverachtung fesselt und immer von der absoluten Schwäche des Menschen lebt. So hat man die Religion für unfähig gehalten, unter irgendwelchen Bedingungen irgendeinen positiven Beitrag zu leisten, was vielen Ereignissen in der Geschichte der Religionen widerspricht. Man muss auch die simplifizierende Vorstellung von einer mechanischen Abhängigkeit ablehnen, welche die geistige Entwicklung unmittelbar unter die Bewegung des materiellen Lebens zwingt. Man muss sich vielmehr bemühen, die zwischen beiden bestehende Beziehung in all ihrer Komplexität, Widersprüchlichkeit und Konkretheit zu studieren. Alles das bekräftigt letzten Endes die Notwendigkeit der Analyse der Struktur des religiösen Bewusstseins und seiner signifikanten Elemente, die Betonung der historischen Dimension dieser Struktur und ihre Betrachtung unter dem Gesichtspunkt der widersprüchlichen Beziehung zwischen Logik und Geschichte sowie zwischen der entwickelten Gestalt des religiösen Bewusstseins und dem historischen Verlauf seiner Herausbildung. Die Frage, die all dieses Interesse an der Vergangenheit und dem Kulturerbe anleitet, ist die nach dem Sinn des Islam und seiner Bedeutung für unser heutiges Leben.
Kapitel 1 Die Entwicklung des religiösen Bewusstseins im Orient vom Hellenismus bis zum Islam 1. Die Woge der Religiosität, welche die alte hellenistisch-römische Welt vor allem gegen Ende ihrer Geschichte überschwemmte, war mit einer sozialen und zivilisatorischen Krise verbunden, ja sie war in gewissem Sinn ihr ideologischer Ausdruck. Ein fortgesetzter und unabweislicher Zerfall begann im Herzen der antiken Welt mit ihren weitgehend sklavenhalterischen Produktionsverhältnissen sein Werk zu tun. Die wichtigste Erscheinungsform des Zerfalls- und Niedergangsprozesses waren wohl die Stagnation und der schwerwiegende Rückgang in den Produktivkräften. Die sklavenhalterischen Produktionsverhältnisse gingen nicht unter, weil neue Produktivkräfte diese alten Verhältnisse zerstört hätten, sondern weil die Sklaven kein reales Interesse mehr an der Arbeit hatten. Die Arbeit der Sklaven wurde ertragsarm und unrentabel, solange noch keine neuen Produktionsverhältnisse aufkamen, die den alten überlegen waren. Die Sklavenarbeit war nicht mehr die vorherrschende Form der sozialen Produktion, aber auch die Arbeit der Freien war noch nicht ihre dominante Form geworden, denn ein großer Teil der Freien übte seinerzeit keine körperlichen Tätigkeiten aus: Ihre soziale Stellung verbot ihnen das immer noch aus moralischen Gründen. Das führte zum Ruin der Mittelschichten, zur Stagnation der Wirtschaft und zur Ausbreitung des Chaos. Das war die primäre Ursache für die Krise der antiken Welt, vertieft durch und in Wechselwirkung mit den Überfällen der Barbaren und anderen Faktoren des Verfalls auf der politischen, ideologischen, moralischen und anderen Ebenen. Tyrannei des Staats, tiefe Zerrüttung, umfassendes Elend und Unfähigkeit, der Katastrophe zu begegnen, waren das gemeinsame Schicksal verschiedener Bevölkerungsgruppen im Reich – von den Sklaven über die abhängigen Bauern (Colons), die von Steuern, Schulden und den Geißeln des Staats niedergedrückt wurden, bis hin zu den freien Bauern und den unterdrückten und geschwächten Völkern, die der Tyrannei der römischen Macht unterworfen waren. Diese schwierige Lage, in der alle Auswege und alle realistischen Entwicklungsperspektiven versperrt waren, verstärkte die Tendenz zur metaphysischen, nach oben gerichteten Sichtweise und zur Intensivierung des religiösen Gefühls bei den Menschen. Diese Neigung zum Übersinnlichen und zur Religiosität wurde verstärkt durch die Tatsache, dass der Zusammenbruch der Sklavenhaltergesellschaften der antiken Welt und der Übergang zu den Feudalgesellschaften des Mittelalters nicht das Ergebnis einer politischen Revolution war, sondern sich automatisch und spontan vollzog. Es trat keine revolutionäre Klasse auf, die mit https://doi.org/10.1515/9783110701616-002
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ihrer politischen Aktion die Lösung der gegebenen historischen Aufgaben oder allgemeiner Veränderungen im Leben der Gesellschaft durchgesetzt hätte. Trotz der Aufstände der Sklaven und Bauern, trotz des Verlusts der westlichen Regionen des Römischen Reichs und des Zusammenbruchs des Staatsapparats waren weder die Sklaven noch die unfreien oder freien Bauern oder irgendjemand sonst in der Lage, sich der stagnierenden und niedergehenden Sklavenhaltergesellschaft mit einer revolutionären Ideologie oder einem revolutionären Programm entgegenzustellen, das ihr den Gnadenstoß gegeben und die Grundlagen für neue, historisch fortgeschrittene Verhältnisse gelegt hätte. Die schwache Entwicklung der Produktivkräfte, das Fehlen einer revolutionären Klasse, das Zusammenwirken der Faktoren des Niedergangs und die Blockierung der Perspektiven waren die objektiven Bedingungen für die anschwellende Welle des religiösen Bewusstseins und seiner ideologischen Hegemonie. Die Beziehung des Denkens zur äußeren Welt und zum Universum wurde allmählich weniger wichtig gegenüber der Verbindung des Menschen zum Übernatürlichen oder der Verbindung des Individuums zu seinem Schöpfer und dem Schöpfer des Universums. Und so dominierte diese Form des Selbstbewusstseins, durch die der Mensch seine Zugehörigkeit zu und seine Abhängigkeit von einer höheren göttlichen Kraft entdeckte. Die reine, objektive Geisteshaltung, die den Gipfel ihrer Wirksamkeit in der philosophischen Formulierung der Beziehung des Geistes zur Existenz erreicht hatte, wurde durch das verstärkte Interesse am menschlichen Schicksal geprägt. Auf der Suche nach Befreiung und Erlösung beschäftigte sich die Philosophie intensiv mit dem intellektuellen Mystizismus. Die ontologische Frage und die der Erlösung erschienen dabei als zwei Seiten desselben Problems. Allerdings war die zunehmende Hegemonie des religiösen Bewusstseins nicht Ergebnis einer Entwicklung auf dem philosophischen Gebiet, sondern in erster Linie Ausdruck eines geistigen Erwachens, das die meisten Bevölkerungskreise des Reichs erfasste, die unter schrecklicher Unterdrückung und Despotie litten und dadurch zur Erkenntnis ihrer menschlichen Situation gedrängt wurden. In dieser ausweglosen Situation war die vermeintliche Lösung mit ihrer ideologischen Verklärung der Realität und dem Gefühl der Verzweiflung das historisch notwendige Ergebnis dieses geistigen Erwachens. Mit der Vertiefung der sozialen und zivilisatorischen Krise begannen diese Kreise einerseits ihre Schwäche und ihr Ausgeliefertsein und andererseits die Bedeutung ihrer körperlichen Arbeit und des ihnen dafür zustehenden Lohns immer mehr zu erkennen. Aber diese Gruppen: Sklaven, bitterarme Freie und unterworfene Völker, waren sich ihrer Lage im Hinblick auf das, was ihnen geraubt worden war, was sie niemals besessen hatten, was sie vergeblich erhofft hatten, nie bewusst geworden. Dies ist besonders deutlich am Beispiel des Sklaven: Der Sklave ist nicht im Besitz seines Körpers, der seine Basis als Sklave
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darstellt, und daher ist es seine Persönlichkeit, die nur er selbst besitzt, die ihn über seine irdisch-körperliche Existenz emporhebt. Dies ist die einzige Form des Selbstbewusstseins des Sklaven, und dieses Bewusstsein ist notwendig religiös. Die Philosophie war von der religiösen Welle beeinflusst und richtete ihren Blick scharf auf den Weg der intellektuellen Mystik. Solange sie jedoch an ihren besonderen Verstandesinstrumenten festhielt, blieb sie unfähig, die Bedürfnisse dieses geistigen Aufbruchs, der sich im Streben der einfachen Leute nach Erlösung offenbarte, zu befriedigen. Die Philosophie repräsentierte auf der theoretischen Ebene die kritische Zuspitzung des Geisteszustandes der Aristokratie und ihre Art, sich in letzter Verzweiflung dem Zusammenbruch der Grundlagen ihres Lebens und ihrer Prinzipien entgegenzustemmen. Es war nur natürlich, dass die Aristokratie, welche die körperliche Arbeit verachtete, weiter am theoretischen Idealbild des Lebens, also an der verstandesgemäßen Kontemplation und der geistig-mystischen Erfahrung, als Weg zur Erlösung festhielt. Über der Kontemplation vergisst man die Welt, die Gegenwart und das individuelle Bewusstsein, und die Seele beschreitet den Weg der Rückkehr zur Einheit mit ihrem Erlöser und geht in die Welt des unpersönlichen Fortdauerns und der Ewigkeit ein. Es ist auch natürlich, dass dieses philosophisch-mystische Denken der einfachen, schwachen Bevölkerung, welche die ganze griechisch-hellenistische Weisheit für eine Form des Hochmuts der Aristokratie und ihres amoralischen Desinteresses am Schicksal der Menschen hielt, fremd blieb. Für diese Kreise, die ihre Existenz und ihre Werte nicht durch Erkenntnis, Kultur und geistige Tätigkeit wahrnahmen, sondern durch ihre körperlichen Mühen und Qualen, war die Erlösung durch Kontemplation unmöglich. Darum erforderte der religiöse Ausdruck ihres spirituellen Erwachens die sinnliche und körperliche Annäherung der Gottheit an die irdische, mühevolle Existenz der Menschheit. Mit dem Heraufkommen der Wesenszüge dieses wichtigen Umschwungs im geistigen Leben erschien auch das einzigartige greifbare historisch-religiöse Phänomen, das unmittelbar das nicht Vernünftige mit dem sinnlich Wahrgenommenen verbindet und eine größere Wirkung hat als die griechisch-hellenistische Weisheit und die theoretische Sichtweise. Die Ergießung der Ewigkeit in der Zeit wird in den körperlichen Schmerzen des Gottes repräsentiert, die in ihrer göttlichen Eigenschaft umfassende Bedeutung erhalten. In ihrer menschlichen Eigenschaft berühren sie die Verletzung jedes Einzelnen und kaufen die sündige Menschheit los. Diese Schmerzen werden von einer Menschheit, die ihre Schwäche als etwas Negatives erleidet, verstanden und herbeigesehnt. Sie knüpfen das persönliche Band zwischen der zeitlichen und individuellen Existenz und der ewigen Welt der Göttlichkeit, die sich in einem Gott manifestiert, der in seinen Schmerzen das Leid der Menschen trägt und aufhebt.
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Dieses religiöse Drama der Errettung entwickelte sich auf der Grundlage des religiösen Erbes, dem die heidnischen agrarischen Riten voraufgegangen waren, in denen Tod und Wiederauferstehung der Götter die Natur, ihre Fruchtbarkeit und Erneuerung symbolisch ausdrückten. Dieses Drama fand seinen stärksten Ausdruck im Christentum. Heute wissen wir, dass die Kluft zwischen Christentum und Heidentum nicht so breit war, wie es die Kirchenväter dargestellt hatten, und dass alle religiösen Richtungen auf unterschiedliche Weise den Weg einschlugen, den das Christentum und die Religionen der himmlischen Erlösung gingen. 2. In dieser geistigen Atmosphäre, in welcher der Mensch im Bewusstsein der Abhängigkeit von einer höheren himmlischen Macht lebte, entstand das Christentum als Ideologie der breitesten Kreise der Erniedrigten und Beladenen der alten Welt, als Ideologie des völligen Zusammenbruchs im Diesseits und der Erlösung im Jenseits. Das Christentum betonte das negative Moment in der menschlichen Existenz – die Unterwerfung und das Warten auf Gnadenerweise –, und es gab der Gleichheit der Menschen in ihrer Schwäche und Erlösungsbedürftigkeit religiösen Ausdruck. Aber obwohl diese christliche Gleichheit mit einer sehr realen tatsächlichen Ungleichheit einherging und nichts gegen sie vermochte, schloss sie doch auch eine positive Beurteilung der körperlichen Arbeit ein. Dies war ein wichtiger neuer Umstand, der sie vom spätantiken Denken unterschied. Und in eben diesem Punkt – also in seiner Betonung des positiven Werts der körperlichen Arbeit und ihrer Belohnung im Jenseits und des passiven Empfangs der Gnade durch die Schmerzen des Gottes, welche die Schmerzen der Menschen aufheben – hat das Christentum seine Überlegenheit bekräftigt und war in der Lage, das Bedürfnis nach Erlösung für die breitesten Kreise der Menschen zu befriedigen. Es nahm somit illusionär-ideologisch (Gleichheit im Jenseits) etwas vorweg, was erst die modernen Zeiten in der Realität errangen (Einforderung realer Gleichheit). Das Bestehen des Christentums auf der Gleichheit im Jenseits, das brennende Verlangen nach Erlösung, die Passivität des Menschen sowie andere Faktoren befähigten es dazu, die offizielle Religion des Römischen Reichs zu werden, also eine religiöse Ideologie, welche die bestehenden Zustände absegnete. Das Christentum war die Krönung des geistigen Umbruchs bei den einfachen Leuten, indem es das Sinnliche, Materielle und Irrationale in die Glaubensinhalte einfügte und diesen eine einzigartige reale und historische Qualität verlieh, und zwar durch die sinnlich-körperliche Annäherung der Gottheit an die menschliche Existenz, und dies durch die Kreuzigung des Messias, des Sohnes Gottes. Der Mensch wurde Individuum, weil sich die Gottheit durch die Schmerzen der Kreuzigung dem Schicksal jedes Einzelnen annäherte, durch ihre Schmerzen seine Schmerzen berührte, sie aufhob und damit das persönliche Wesen des Gottes, die persönliche Beziehung des Einzelnen und die persönliche Unsterblichkeit bekräftigte.
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Die Unterwerfung unter die unvernünftigen Verhältnisse der Welt erforderte auf der Ebene der religiösen Ideologie einen großen Sprung ins Irrationale. Die so erzeugte religiös-ideologische Harmonie ermöglichte die Schaffung der inneren Zuversicht, die das Ertragen der Zustände der zerstörten und bedrängenden Welt als möglich und angemessen erscheinen ließ. Das Verhältnis der göttlichen Gnade zum auf Erlösung begierigen Menschen kann nicht rational begründet werden, sondern setzt den naiven Glauben (pistis) notwendig voraus. Diesen Geisteszustand drückt das berühmte Wort von Tertullian aus: „Ich glaube, weil es absurd und unvernünftig ist“. 3. Der spontane, nichtrevolutionäre Charakter des Übergangs von der antiken Sklavenhaltergesellschaft und den alten orientalisch-asiatischen Gesellschaften zum Feudalismus des Mittelalters, die Fortsetzung der Abhängigkeit und der Völkerunterdrückung im Rahmen einer geringen Entwicklung der Produktivkräfte, das Überwiegen der agrarischen Produktion – alles das spielte eine wichtige Rolle beim Fortbestehen, ja bei der Verstärkung der Hegemonie des religiösen Bewusstseins. Die Beziehung des Feudalherrn zu den von ihm abhängigen leibeigenen Bauern nahm allmählich und spontan die Stelle der Beziehung des Sklavenhalters zu seinen Sklaven ein, und oft wurde der Sklavenhalter selbst zum Feudalherrn. Der Übergang von der Sklavenhaltergesellschaft zum Feudalismus vollzog sich im Rahmen von gemeinsamen Strukturen von Unterwerfung, Abhängigkeit und Ausbeutung. Diese Strukturen erfordern unter allen Bedingungen und in unterschiedlichen Graden eine Zunahme des religiösen Bewusstseins. Der Kampf gegen diese Strukturen und der Protest gegen ihre schärfsten Formen (wie die Sklaverei) konnten ihren allgemeinen Rahmen nicht überwinden, aber doch schwächen. Nun hatte allerdings der unterschiedliche Grad der Unterwerfung und Abhängigkeit große Auswirkung auf die ideologischen Verhältnisse und das religiöse Bewusstsein. Im Westen führten der Zerfall des Staats und der Niedergang der städtischen Wirtschaft in der ersten Phase zur Hegemonie der Kirche. Diese schöpfte Kraft aus der sozialen Auflösung und Zerrüttung, proklamierte sich selbst als ordnende und sozial einende Kraft und konnte als einzige ideologische Institution der ganzen Feudalgesellschaft hervortreten. Die Kirche machte aus der spirituellen Kontemplation und aus der metaphysischen Bindung an den übernatürlichen Gott ein Ideal des Lebens. Allerdings beschränkte sie die gesamte intellektuelle und spirituelle Tätigkeit auf die Priester. Die verschiedenen religiösen und geistigen Strömungen in der Epoche des Niedergangs der antiken Welt und im Mittelalter unterschieden sich durch die Art und Weise, auf die das metaphysische heilige Moment und die Verbindung der Natur zum Übernatürlichen ihre Vervollständigung und Vollendung finden. Im Christentum fand die Verbindung Gottes mit der Welt ihre Vollendung in jener materiellen, sinnlichen, sichtbaren Gegenwart des
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Glaubensinhalts (Inkarnation und historische Bestimmung, Kreuzigung, göttliches Opfer zur Vergebung der Sünden usw.). Im Manichäismus, im Islam und in anderen Religionen gibt es andere Formen. Die Kirchenväter setzten die Kirche mit dem Christentum in eins, beschränkten die Wirklichkeit der Erlösung auf die priesterliche Vermittlung und betrachteten das Wort, das Fleisch und Blut wurde, die Kreuzigung und die priesterliche Vermittlung als komplementäre Elemente der Wirklichkeit der Erlösung, die nicht voneinander zu trennen seien. Die Erlösung ist im Christentum keine menschliche, sondern zuallererst eine göttlichkirchliche Angelegenheit, und die starke sinnliche Gegenwart im Glauben und im Dogma (das sinnliche göttliche Drama) ist der religiöse Ausdruck und das ideologische Korrelat der Passivität des Menschen. In diesem religiösen Horizont ist die wichtigste und nobelste menschliche Tätigkeit die religiöse Praxis (der Gottesdienst), der als beste Vorbereitung auf das Leben nach dem Tod gilt. Im Christentum ist die Beziehung des Denkens zur Außenwelt und die des Menschen zur Natur auch in ihren tiefsten Formen nichts als ein Moment des Übergangs und der Vorbereitung auf das andere Leben. 4. Die Gnosis erlebte die Krise der antiken Welt und begleitete die Entstehung, Blüte und Entwicklung des Christentums. Sie war Ausdruck von Unzufriedenheit und Pessimismus der hellenistischen und vom Hellenismus beeinflussten Kreise, die besonders in den orientalischen Städten lebten und stark mit dem Händlermilieu verbunden waren. Im Streben nach einer illusionären Lösung, die allen einfachen Leuten die Erlösung bringt, und in der kostenlosen Gewährung der Errettung ging die Gnosis nicht so weit wie das Christentum. Sie blieb auf großzügige imaginäre Symbolik und fortgeschrittene geistige Tätigkeit beschränkt. Die Gnosis verstand die Beziehung des Menschen zu Gott als eine Beziehung auf transzendenter spiritueller Grundlage. Statt der sinnlichen Vergegenwärtigung und der zugespitzten Personifizierung des Glaubensinhalts verstärkte sich die Tendenz zur geistigen Verklärung („Vergeistigung“, im Original deutsch) des Inhalts des Dogmas und zu einer relativen Überwindung der sinnlichen Reizbarkeit und der schreienden Irrationalität. Sie interpretierte das Dogma von der Gottessohnschaft und der Kreuzigung so, dass sie es beinahe zunichtemachte, und fast wurde das erkenntnismäßige Wissen allein zum Weg der Erlösung. Dadurch verlor die priesterliche Vermittlung stark an Bedeutung. Auf diese Weise erhielt der Glaube, weil er in der Gnosis des Wissens bedurfte, einen formalen Charakter, der im Bedürfnis der Erfassung seines Inhalts von außen bestand. So machte er Platz für die allmähliche Wiedergewinnung der Beziehung zwischen dem Denken und der äußeren Welt, mittels der Rückkehr zum Wissen und zur kosmologischen Theorie der Antike, sowie für das Erscheinen der Notwendigkeit der rationalen Rechtfertigung. Die Gottheit ist nicht nur reiner Geist, sondern Bild der Erscheinung des ersten, ursprünglichen Wesens, das im Universum oder im vollkom-
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menen Menschen (anthropos adamas) die andere existenzielle Gestalt seiner Erscheinung findet. Die Erlösung ist auch ein Seinsereignis, das sich durch die Erneuerung der ursprünglichen Weltordnung vollzieht – eine Erneuerung, an deren Vollzug der Mensch teilnehmen muss. Die Eliminierung oder Schwächung der Wirksamkeit der göttlichen Gnade, die der gekreuzigte Gottessohn gewährt, war das ideologische Vorspiel für den Kampf gegen die offizielle christliche Kirche und gegen die Glaubensverfassung, die sie abgesegnet hatte: Trinität, Erschaffung aus dem Nichts, Erbsünde usw. Die wichtigste Errungenschaft der Gnosis war die Bekräftigung der geistigen Kraft des Menschen und seiner entscheidenden Rolle bei der Erlösung, die Ersetzung der Idee der göttlichen Gnade durch die des menschlichen Verdienstes sowie die Auffassung der verschiedenen Formen der Religion als Symbole und Erscheinungsformen einer geistigen Wahrheit. Aufgrund dieser Charakteristika war die Gnosis die geistige Atmosphäre, in der oppositionelle religiöse Strömungen und der offiziellen religiösen Institution feindliche Neuerungen entstanden und sich entwickelten. Die Gnosis im Iran konnte durch die Aufnahme der Lichtlegende und ihre Behandlung im rationalen Geist die ideologische Grundlage der Häresie werden, den Geist des sozialen und politischen Widerstands entfachen, zum Interesse an Wissenschaft und Forschung ermutigen und die Hinwendung zur Beobachtung und Erforschung der Natur stärken. Die geistige Fruchtbarkeit im Iran, von welcher der vermehrte Einfluss des Manichäismus,⁷ des Zervanismus,⁸ des Mazdakismus⁹ usw. zeugt, stützt sich gesellschaftlich auf die Existenz von positiven sozialen Elementen, die zum Wachstum und zur Entwicklung fähig sind. Zu den wichtigsten Merkmalen dieser geistigen Fruchtbarkeit im Iran gehört, dass die mystische und religiöse Sicht auf die Welt in vielen Fällen unter dem Einfluss der Gnosis zu einer natürlich-kosmologischen Einstellung, zu einer vernunftbetonten Aufklärung und zum Atheismus führte. 5. Die christlichen Häresien im Osten (Arianer, Nestorianer, Jakobiten) waren ideologischer Ausdruck des Protests gegen die soziale Unterdrückung, oder noch genauer der Opposition des christlichen Orients mit seinen Bauern, Handwerkern, Händlern usw. gegen die ökonomische und politische Macht von Byzanz und gegen seine offizielle orthodoxe Staatskirche. Diese Häresien begegneten den irrationalsten Aspekten der kirchlichen Theologie mit Kritik, Ablehnung, Widerlegung und Opposition. Dies betraf vor allem die kirchliche Interpretation des Dogmas von Trinität und Kreuzigung, welches die Wirklichkeit der Erlösung auf
Spätantike, von der Gnosis beeinflusste Offenbarungsreligion (A. d. Ü.). Eine Richtung des Zoroastrismus (A. d. Ü.). Eine heterodoxe Strömung im Zoroastrismus (A. d. Ü.).
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die Kirche beschränkte und die religiöse Apologie der bestehenden Verhältnisse betrieb, in erster Linie der Herrschaft von Byzanz und der Abhängigkeit von ihm. Die christliche Häresie suchte sich in ihrem Bestreben, die Idee der göttlichen Prophetie zu erklären, die auf dem Kreuz beruhende enge Verbindung zwischen dem ewigen göttlichen Element (göttliche Natur) und dem irdischen menschlichen Element (menschliche Natur) aufzubrechen und damit die Grundlage der legitimierenden, läuternden und tröstenden Ideologie zu schwächen, öfter Unterstützung beim Erbe der Gnosis. Dieser häretische Umschwung in der Beziehung zwischen den drei Polen der Trinität, welche die ökumenischen Konzilien festgelegt hatten, führte in unterschiedlichen Graden dazu, dass die Wirklichkeit der Erlösung von der Kreuzigung getrennt wurde, dass der offiziellen Kirche die göttliche Grundlage ihrer Herrschaft und Hegemonie genommen wurde und dass das Trinitätsdogma erschüttert wurde. Das wiederum gab Raum für die Herausbildung eines positiven Standpunkts, durch den der Mensch allmählich sein relatives Vertrauen in seine Fähigkeiten wiedergewann und der seine kämpferische, praktische, politische, produktive, kriegerische usw. Aktivität erlaubte und rechtfertigte. Die iranischen und christlichen Häresien sind nicht erst nach den Eroberungen mit dem siegreichen Islam in Kontakt gekommen, sondern sie fanden auch schon am Vorabend des Islam Widerhall in Hira, bei den Ghassaniden, im Jemen, in Mekka und im Rest der Arabischen Halbinsel.
Kapitel 2 Die Struktur des religiösen Bewusstseins Die vorangegangene sehr knappe Darstellung der Geschichte der religiösen Bewegungen zwischen dem vierten vorchristlichen und dem sechsten nachchristlichen Jahrhundert sollte zwei Dinge tun: erstens eine einigermaßen präzise Idee vom Verlauf des geistigen und religiösen Veränderungsprozesses geben, der im Orient die Entstehung des Islam vorbereitete, und zweitens eine sehr wichtige geistige Entwicklung in der Geschichte des religiösen Bewusstseins erfassen. In dieser Periode, die mit der Ausbreitung der Religionen der Erlösung begann und mit dem Übergang zu einer das gesamte Mittelalter umfassenden Epoche des religiösen Glaubens endete – in dieser Periode wurde eine Reihe von Überzeugungen, Institutionen und religiösen Praktiken festgelegt und vervollständigt, die bis heute ihre Lebenskraft, ihren Wert und ihre entscheidende Rolle bei der Bestimmung der Struktur des religiösen Bewusstseins bewahrt haben. Ich glaube, dass die intensive Beschäftigung mit dieser Periode es erlaubt, einige allgemeine Aussagen von theoretischer und methodologischer Bedeutung zur Erforschung der besonderen Formen des religiösen Bewusstseins und seiner Beziehung zu anderen Formen des sozialen Bewusstseins sowie zur sozio-historischen Realität zu entwickeln. Im Folgenden möchte ich einige theoretische und methodologische Bemerkungen formulieren, die grundlegende Aspekte der Struktur des religiösen Bewusstseins berühren. Das Ausmaß ihrer Stimmigkeit und explikativen Kraft wird deutlich werden, wenn ich sie auf das Phänomen des Islam anwende. 1. Die Religion ist einerseits ein historisch-soziales, andererseits ein ideologisch-geistiges Phänomen; sie ist ein Moment in der Geschichte des Menschen und der Gesellschaft, ein Aspekt des Lebens der Gesellschaft und der menschlichen Existenz. Das Wesen des religiösen Bewusstseins ist das Streben nach Selbstüberwindung der realen irdisch-menschlichen Existenz und seine Entrückung von sich selbst in eine übernatürliche Kraft. Es lässt ohne Nachfrage die Verdoppelung der Realität und die Unterordnung des Menschen, der Geschichte und der Natur unter etwas Höheres als sie selbst gelten. Epistemologisch gesprochen bildeten die Schwäche des Menschen gegenüber den Kräften der Natur am Anbruch des menschlichen Lebens und einige seiner anthropologischen Eigenschaften die Keimzelle dieser Verdoppelung. Ihren geschichtlichen Werdegang kann man aber nur verstehen, wenn man den entscheidenden Einfluss berücksichtigt, den die sozialen Unterschiede hatten, die sich im Verlauf der historisch-sozialen Entwicklung und ihres Auf und Ab vertieften. Das schlug sich in ganz bestimmten Formen der Sozialstruktur, der Arbeitsteilung, der Produktionsweisen, der Institutionen, der Klassen, der Staaten, der Kulturen, der Herrhttps://doi.org/10.1515/9783110701616-003
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schaftsformen, der sozialen Unterdrückung, der Unterschiede im Reichtum, im Status, im Einfluss, in der Stärke, in der Erfahrung, im Wissen, in der Organisation, in der Verwaltung usw. nieder. Die religiösen Veränderungen und Erneuerungen sind unmittelbar und sehr eng mit der Bewegung der Gesellschaft und ihren Besonderheiten verbunden: Beschleunigung oder Verzögerung, innerer Widerspruch oder Übereinstimmung, Unordnung oder Harmonie usw. Und diese enge Verbindung besteht bei allem zivilisatorischen, wissenschaftlichen und technischen Fortschritt bis heute fort. Es ist wohl wissenschaftlich erforderlich, den Begriff der Religion auf dem höchsten Niveau der Allgemeinheit, der Abstraktion und der Distanz sowie unter Absehung von jeder konkreten religiösen Form zu bestimmen. Die Religion im Allgemeinen als historisches Produkt, als gesellschaftliches Bedürfnis und als menschliche Dimension stützt sich auf das Bewusstsein des Menschen von seiner Unzulänglichkeit, seiner Unsicherheit, seiner Schwäche und seiner Angst vor der Macht der gesellschaftlichen Beziehungen, die historisch geworden sind, sich von ihm unabhängig gemacht haben und ihm nun in ihrer Verkörperung als höhere Wesen gegenübertreten, die ihn beherrschen und lenken. Weiter beruht sie auf einer Veränderung dieses Bewusstseins, die dem Bedürfnis des Menschen nach Erfüllung und geistiger Stabilität entgegenkommt. Das religiöse Bewusstsein präsentiert kognitiv ein umgedrehtes Spiegelbild der Realität, das Bild einer Welt, die auf dem Kopf steht und auf Eskapismus, Irrationalität und Unterwerfung erpicht ist. Es will auch die Fähigkeit der menschlichen Phantasie zum Verständnis, zur Vorstellungskraft, zum Ertragen und zur freien zuversichtlichen Initiative zerstören. Das erleichtert es dem Menschen, mit dem Chaos, der Verstörung und der bedrohten und zerrütteten sozialen Existenz fertig zu werden – alles das zur Erreichung der Zuversicht, nach der es ihn so dürstet. Hier übernimmt das religiöse Bewusstsein eine umfassende ideologische Aufgabe, da es das Umgedrehte in der Einbildung noch einmal umkehrt, indem es die höhere Macht, die die Quelle von Bedrohung war, in die Quelle von Beruhigung und Befriedigung verwandelt, also indem es eine gleichzeitig realistische und jenseitsorientierte Lösung präsentiert, die das menschliche Streben nach Befreiung, Harmonie, Sicherheit und Freiheit zunichtemacht. Es verweist hier nicht auf die Realität, sondern fragt nach den verborgenen Orten der dem Menschen so lieben Träume und Hoffnungen. Hier handelt es sich also nicht um eine tatsächliche Veränderung, sondern um geistige Surrogate, die im Bewusstsein stattfinden und ihre Grundlegung in der anthropologisch-historischen Anlage der Menschen haben. Mit einem Wort, wenn das Bewusstsein keine Veränderung der unerträglichen menschlichen Existenzbedingungen bewirken kann (unerträglich, gemessen an der menschlichen Fähigkeit), dann verändert es sich selbst in dem Bestreben nach Anpassung oder neuer Harmonie mit der Realität, d. h. es wird zu einem religiösen
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Bewusstsein, das die Hoffnung auf den Himmel verheißt und den Menschen im Gegenzug zu Gehorsam und Ergebung in das Bestehende aufruft. Im äußersten Fall verlangt es von ihm den Verzicht auf das, was ihm die Erneuerung seines Lebens und dessen tatsächliche fruchtbare Realisierung verbürgt (die Fälle von Einsiedlerleben, Askese usw.). Diese religiöse Erfahrung, Ausdruck des Elends, der Unzufriedenheit und der Schwäche des Menschen, ist auf der Ebene des religiösen Lebens am tiefsten, wichtigsten und umfassendsten. Sie ist der Hauptinhalt der religiösen Ideologie, die auf die Rechtfertigung und Absegnung des Bestehenden hinausläuft und daher den Geist des Konservatismus und der Stagnation atmet. Aber dieses konservative religiöse Bewusstsein, das gänzlich das Bestehende und seinen Stillstand absegnet, ist nichts als eine betonte geistige Abstraktion, der im Leben nur selten etwas entspricht. Es kann als Idealbild betrachtet werden, das die komplizierte Realität zwar nicht genau widerspiegelt, aber zu ihrem Verständnis beiträgt. Ich habe seine Züge so vorgestellt, weil sie mir methodologisch beim Studium der religiösen Entwicklung im Allgemeinen und in der besonderen Form, die es in jeder einzelnen Gesellschaft annimmt, nützen. In Wahrheit war die Religion nicht immer und kontinuierlich die bloße negative ideologische Komplementierung des Elends, sondern schloss zu vielen Zeiten eine wirkliche Tendenz zur realen Veränderung ein. Das vorerwähnte negative Bild des religiösen Bewusstseins wäre richtig und realistisch, wenn menschliches Leben im Zustand des absoluten Unvermögens möglich wäre. Das ist aber nicht der Fall. Das menschliche Unvermögen begleiten immer Bemühungen der Leute, es einzugrenzen und abzuschwächen. Die Menschen haben sich nicht im Zustand des absoluten Unvermögens oder der völligen Anpassung an die Zwänge der Realität in die Religion geflüchtet, denn diese beiden Haltungen verbieten sich im Leben der Menschen, sondern im Zustand eines historischen Unvermögens, begleitet von einem gewissen Selbstbewusstsein, das real zum partiellen Widerstand gegen dieses Unvermögen oder zu seiner partiellen Eingrenzung führte. Der religiöse Ausdruck des Elends fällt nicht mit der Realität des Elends zusammen, nicht nur, weil er ein verdoppeltes umgekehrtes Bild dieses Elends präsentiert, sondern auch, weil er ihm eine positive menschliche Bedeutung hinzufügt, welche die harte Realität seiner Auswirkung abschwächt. Im religiösen Bewusstsein gesellt sich meist zum negativen Zustand ein positives Moment, was mich dazu zwingt, das oben erwähnte Bild zu modifizieren. Allerdings sollte das Gesagte nicht die methodologische Bedeutung des Ausgehens vom oben gezeichneten allgemeinen Bild des religiösen Bewusstseins schmälern. Wenden wir uns nun einem modellhaften Fall des Eindringens des positiven Moments in den negativen religiösen Zustand zu! Das Bewusstsein des Sklaven von seinem Sklaventum und des Abhängigen von seiner Abhängigkeit brachte ein
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geistiges Erwachen hervor, durch das beide den Wert und den Lohn der körperlichen Arbeit erkannten. Das war ein wichtiger Schritt bei der Überwindung der absoluten Schwäche, nur dass die Sklaven und Abhängigen nicht in der Lage waren, ausgehend von ihrer Entdeckung des Werts der körperlichen Arbeit die Welt der tatsächlichen Gleichheit aufzubauen. Die Konfrontation mit diesem relativen Unvermögen war der Grund für den Aufschwung des religiösen Bewusstseins und das Überwiegen der illusionären Lösung, welche die Gleichheit der Menschen im Jenseits proklamierte und den Lohn der körperlichen Arbeit in die andere Welt verlegte. Die Gläubigen mussten den jenseitigen Lohn gewinnen, um in dieser Welt zu entsagen. Aber sobald sie begannen, für den Erhalt des jenseitigen Lohns auf der Erde zu kämpfen, begann die Religion, sich durch eine teilweise Modifizierung in die Kraft einer realen Veränderung zu verwandeln und einen militanten oder politischen Charakter anzunehmen. Es ist kaum vorstellbar, dass die Gläubigen im Streben nach dem himmlischen Glück auf jede reale Bemühung zur Verbesserung ihrer tatsächlichen Lebensbedingungen verzichteten. Auch in vielen anderen Fällen stützten sich die Leute bei der Mobilisierung der menschlichen Kräfte zur Herbeiführung einer gründlichen Veränderung der Realität und im Kampf gegen verschiedene Formen der Unterdrückung, Ausbeutung und Demütigung auf die Religion. Diese selben Formen konnten allerdings auch unter bestimmten Bedingungen das religiöse Bewusstsein verstärken. In vielen Epochen hielten die Kämpfer für Freiheit, Gleichheit, Demokratie, ein besseres Leben und die übrigen Bestrebungen der Unterdrückten und Beladenen die religiöse Fahne hoch (Donatismus, Manichäismus, Mazdakismus, Arianertum, Nestorianer, Jakobiten, Qarmaten usw.). Besonders das Mittelalter zeichnete sich wegen der Hegemonie der religiösen Ideologie dadurch aus, dass die revolutionären Oppositionsbewegungen meist die Form von Ketzereien, Häresien, religiöser Erneuerung und von gegen die offizielle religiöse Institution gerichteter Mystik annahmen. In allen vorerwähnten Situationen strebt das religiöse Bewusstsein in unterschiedlichem Ausmaß nach der Verbindung von Absegnung und Ablehnung des Gegebenen, von Ausdruck des Elends und Widerstand gegen es. Ob das religiöse Bewusstsein nun näher an diesem oder an jenem war, es war auf jeden Fall abgehoben und unterschieden vom Ausdruck absoluter Ohnmacht. Zusätzlich zur Faktizität der bestehenden Verhältnisse, welche die Menschen niederhielten und beraubten, brachte es immer auch das zum Ausdruck, was über diese Faktizität hinausging. Mitten im Herzen des religiösen Bewusstseins, das in seiner allgemeinen idealtypischen Form menschliche Entbehrung und Schwäche bedeutet, strömt auch menschliche Kraft. 2. Die Verbindung von Negativität und Positivität, von Absegnung und Verdammung, von Unterwerfung und Revolution nimmt in der realen religiösen
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Pluralität unterschiedliche und gegensätzliche Formen an. Die Beziehung zwischen dem Realen und dem Überirdischen, zwischen dem irdisch-Menschlichen und dem himmlisch-Göttlichen nimmt in jeder besonderen religiösen Situation einzigartige und charakteristische Züge an. In Wirklichkeit gibt es kein allgemeines, vollständiges und für sich selbst stehendes religiöses Bewusstsein in der Art, wie ich sie eben beschrieben habe, sondern es gibt – je nach den jeweiligen historischen, sozialen, geographischen, ethnischen usw. Umständen – unterschiedliche religiöse Situationen sowie Religionen und religiöse Gruppen. Wenn wir von jenem allgemeinen, abstrakten und negativen Bild zu einer ganz bestimmten religiösen Situation übergehen, bewegen wir uns in Wahrheit von einer wenig realitätsnahen religiösen Situation zu verschiedenen Graden von besonderem religiösem Bewusstsein, die näher an der Realität sind und stärker durch weltliche, menschliche, nichtreligiöse Faktoren beeinflusst werden. Wir können den Vorgang der Spezifizierung als Prozess der allmählichen realen Individualisierung verfolgen – vom abstrakt-allgemeinen (idealtypischen) zum historischen religiösen Bewusstsein und dann zum altorientalischen, zum mittelalterlich-orientalischen, zum Islam, zum Islam im zehnten Jahrhundert beispielsweise, zum Ismailitentum, zu den Qarmaten usw. Ich möchte nicht bei der Aussage stehen bleiben, dass die allen Religionen gemeinsamen feststehenden Elemente diejenigen sind, die am stärksten Konservatismus, Stagnation und Reaktion begünstigen. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass das Studium der Beziehung der Religion zur sozialen Entwicklung viel von seiner Tragweite einbüßt, wenn es sich auf die Untersuchung der Beziehung der abstrakt-allgemeinen Religion zur abstrakt-allgemeinen menschlichen Entwicklung beschränkt. Ein solches Unterfangen führt nicht zu Ergebnissen, die uns die Erkenntnis der Realität dieser Beziehung und ihrer möglichen Formen unter konkreten und realen Umständen erlauben. Das abstrakt-allgemeine religiöse Bewusstsein existiert real nur als Aspekt, auf den keine konkrete Ideologie wie etwa der zeitgenössische Islam, oder noch spezifischer der moderne Islam in Ägypten oder in Algerien, verzichten kann. Daher sollte man bei der Analyse des religiösen Bewusstseins von der Untersuchung einer bestimmten religiösen Ideologie ausgehen, die real vorhanden und greifbar ist, und man sollte sich dabei besonders bemühen, das Allgemeine und das Besondere, das Abstrakte und das Konkrete in ihr zu unterscheiden. So können wir leicht erkennen, dass die allgemeine, umfassende geistige Gestalt, die ich oben skizziert habe, das Allgemeine ist. Sie ist die eigentliche religiöse Struktur, welche die stabilsten, starrsten und religiösesten Elemente der religiösen Ideologie in sich schließt und den wichtigen grundlegenden Aspekt in jeder religiösen Ideologie darstellt. Sie hat sich historisch zur Zeit des Zusammenbruchs der antiken Welt und dem Beginn des Mittelalters herausgebildet und
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beinahe endgültige Züge angenommen. Sie ist, wie erwähnt, kein für sich selbst bestehender realer Zustand, sondern ein Idealtypus, dessen Beziehung zu den Inhalten der religiösen Ideologie sowie zu ihren Denk-, Handlungs- und Bewertungsmethoden, ihren Absichten und Idealen wir theoretisch genau bestimmen müssen. Das Besondere hingegen umfasst das bestimmte Dogma, die verschiedenen äußeren Elemente, die es aufgenommen hat, seine rechtlichen Prinzipien und die übrigen Formen des menschlichen Verkehrs, der rituellen Pflichten usw., mit einem Wort den Inhalt des Dogmas. Jede Religion oder religiöse Ideologie besteht aus zwei Elementen oder Seiten, der allgemeinen und der besonderen: Die erste und allgemeine, die religiöse Struktur im präzisen Sinn des Worts. Sie ist die allgemeine, abstrakte, idealtypische Form des metaphysischen religiösen Bewusstseins, über die ich oben gesprochen habe. Sie werde ich im Folgenden die Methode des metaphysischen religiösen Bewusstseins oder einfach metaphysisches Bewusstsein¹⁰ nennen. Sie hat folgende Charakteristika: 1) Das Geltenlassen der Transzendenz oder die doppelte Realität: eine natürliche Existenz und eine übernatürliche göttliche Existenz, die über der ersten steht und sie im Prinzip beherrscht. 2) Das Streben nach der Verbindung der beiden Ebenen durch den Gottesdienst oder die religiöse Praxis als höheres Ziel des Lebens. Durch den Vollzug dieser Verbindung wird das religiöse Bedürfnis befriedigt und die religiöse Harmonie hergestellt. Diese Verbindung hängt von einer Gruppe ab, die mit ihrem Vollzug betraut ist. Dieses kultisch-praktische Moment (der Gottesdienst und seine Aufseher), welches das konkrete Bewusstsein fordert, ist ein notwendiges Element, auf das keine spirituellen Kontemplationen und Erfahrungen oder andere menschliche Aktionen, die auf die Herstellung der Verbindung zwischen dem Menschen und seinem Herrn abzielen, verzichten können. Es ist im engen Sinn das metaphysische Bewusstsein selbst. Das Streben nach der Verbindung der beiden Ebenen mittels der religiösen Institution ist der Gipfel der Religiosität und der Heiligkeit. Wenn die Verbindung unmittelbar ohne Vermittlung erfolgt, ergibt sich die Gefahr, dass sie ihren religiösen Charakter verliert. 3) Aufgrund der Verdoppelung und der Gottesverehrung (metaphysisches Dogma, metaphysische Praxis) nimmt das Moment des Rückzugs aus der Welt zu, das sich in der Intensität des religiösen Gefühls und des religiösen Eifers
Metaphysisches Bewusstsein nennt Ballouz die Überzeugung, dass das menschliche Leben durch den Bezug auf eine transzendente Größe bestimmt wird oder zumindest bestimmt werden sollte (A. d. Ü.).
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zeigt, die ihrerseits die metaphysische Überzeugung und die Gottesverehrung nähren. 4) Die Beziehungen zwischen der religiösen Vorstellung (Glaube), der religiösen Praxis (Gottesdienst) und dem religiösen Gefühl sind vielfältig und komplex. Normalerweise vollzieht sich ihre Anordnung in jeder religiösen Ideologie in einer besonderen Form des religiösen Bewusstseins, mit einem besonderen Symbolsystem und einer besonderen materiellen Verkörperung (Formen, Orte, Gegenstände und Personal des Gottesdienstes) usw. Diese Züge, die das metaphysische Bewusstsein und die metaphysische Verbindung markieren, sind die umfassendsten, stabilsten und ältesten Elemente des religiösen Bewusstseins. Das metaphysische Bewusstsein richtet sein Augenmerk auf die Herstellung der Verbindung zwischen dem Menschen und seinem übernatürlichen göttlichen Idol. Es ist relativ unabhängig von dem geistigen und historischen Fortschritt eines Zeitalters sowie von seinen sozialen, rechtlichen, ethischen, politischen usw. Inhalten, ebenso wie vom Grad seiner Reife und der bestimmten Form seiner Verwirklichung. Wenn es auch unter den erwähnten historischen, allgemeinen und tiefverwurzelten Bedingungen entstanden war und sich entwickelt hatte, so erwachsen diese Bedingungen doch aus sehr umfassenden, verbreiteten und dauerhaften menschlich-historischen Situationen. Diese Unabhängigkeit des metaphysischen Bewusstseins von Faktoren wie Fortschritt und Veränderung erklärt seinen Mangel an Dynamik und innerer Entwicklung, seine starke Tendenz zur Schwerfälligkeit, zur Passivität und zum Konservatismus sowie sein naives Festhalten an den althergebrachten Grundlagen und der vor Urzeiten offenbarten Wahrheit. Das metaphysische Bewusstsein ist traditionell, vertrauensselig und unerschütterlich par excellence. Es geht von einem niedrigen Niveau voll ursprünglicher, unbewusster, legendengläubiger Vertrauensseligkeit und von einer einfachen inneren Genügsamkeit aus, in der es keinen Raum für Infragestellung, Zweifel, Beweis und Selbstreflexion gibt. Es kennt kein Bedürfnis nach Bekräftigung seiner Vorstellungen und vorbehaltlos angenommenen Wahrheiten, nach ihrer Rechtfertigung oder Erläuterung. Jede Bemühung zum tieferen Verständnis des Inhalts des metaphysischen Bewusstseins, seiner Bedeutung, seiner Rolle und seiner Absichten kommt ihm von außen. Sein mythologischer Charakter selbst garantiert die Abtrennung seiner Aussagen und Texte, in all ihrer Bedeutungsvielfalt und Ungenauigkeit, von den grundlegenden Ereignissen, die mit ihnen verbunden waren, und ermöglicht ihre Anwendung auf sich erneuernde Fälle und Zustände. Aus dem Vorhergehenden wird deutlich, dass das metaphysische Bewusstsein keine schöpferische, konstruktive und bewegende Kraft ist, sondern ein negativer Faktor, der von der Bewegung des Lebens und den Eigenheiten der historischen Fähigkeiten des Menschen und ihrer
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Grenzen abhängt. Dieses Bewusstsein ist nicht zu trennen von der Zerrissenheit und dem Ausgeplündertsein des menschlichen Lebens und der Unfähigkeit des Menschen, es zu beherrschen. Und so wie der Mensch den Vorgang des Verlusts seiner tatsächlichen Fähigkeiten nicht registriert, so erkennt er auch nicht, wie das metaphysische Bewusstsein selbst arbeitet. Vom metaphysischen Bewusstsein, welches das allgemeine Bild darstellt, gehe ich zum anderen Element über, dem Inhalt der religiösen Ideologie oder dem besonderen Dogma, das alle Elemente der religiösen Ideologie umfasst. Der Inhalt des Dogmas ist das, was die Eigenheiten der religiösen Ideologie bestimmt und charakterisiert, wohingegen sich die Religionen, Richtungen und Konfessionen unterscheiden und sich durch ihre Haltungen zur realen Tätigkeit, zu den Berufen, zu den Wissenszweigen, zum Wissen, zum Verstand, zum Lebensgenuss, zum Kulturerbe, zu den politischen Mächten und Systemen, zum Tod, zu den ethischen Prinzipien, zu den Lebensweisen, zur Freizeitgestaltung usw. voneinander absetzen. Ohne Zweifel ist der Inhalt des religiösen Dogmas in seiner Formierung und Struktur teilweise dem metaphysischen Bewusstsein unterworfen, aber er ist nicht immer sein unmittelbares oder ausschließliches Ergebnis. Denn das Dogma, das den Nachdruck auf die reale Arbeit oder sogar die körperliche Arbeit legt, zum Erwerb verschiedener Arten des Wissens aufruft und die Aufmerksamkeit der Leute auf die Erde, das irdische Leben und den Sinnengenuss lenkt, leitet diese Elemente nicht aus dem metaphysischen Bewusstsein her. Vielmehr widerspricht die Tatsache, dass die religiöse Ideologie diese Elemente enthält, dem metaphysischen Bewusstsein, das im Extremfall die ausschließliche Beschäftigung mit der Herstellung des Bandes zwischen dem Menschen und seinem Schöpfer fordert. Die Existenz dieser Elemente ist ein Indiz dafür, dass das metaphysische Bewusstsein die Festlegung des Inhalts des religiösen Dogmas nicht vollständig beherrschen konnte. Aber das metaphysische Bewusstsein erreicht den Gipfel seiner Intensität, seiner Kraft und seiner Hegemonie über die religiöse Ideologie und ihren Inhalt, wenn die übernatürliche Macht des Himmels über das Verhalten des Menschen, seinen Willen, die Richtung seines Denkens und seine Werte entscheidet. Dann wendet sich der Mensch, soweit er das überhaupt kann, von der Beschäftigung mit dem realen irdischen Leben und von der Aufwendung all seiner geistigen und materiellen Energien im Dienst des Lebens und zu seiner Bereicherung ab, und es ergibt sich eine beinahe vollständige Übereinstimmung zwischen den Forderungen des metaphysischen Bewusstseins – was die Verbindung mit dem Überirdischen angeht – und den Forderungen des Inhalts des Dogmas, und die gesamte menschliche Aktivität wird im Licht dieser Verbindung mit dem Überirdischen gesehen.
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Dieser Zustand der Übereinstimmung erschien in verschiedenen Momenten starker Religiosität, großer Gottesfurcht, Abwendung von den Sorgen der Welt, Einsiedelei, Askese und Vorbereitung auf das Leben nach dem Tod. Er erschien spontan im frühen Christentum und wurde dann bewusst im kirchlichen Christentum des vierten und fünften Jahrhunderts eingesetzt. Er erschien ebenfalls am Beginn der islamischen Mission und in einigen Formen der Askese und der islamischen Mystik. Das metaphysische Bewusstsein beherrscht immer mehr den Inhalt und die Formulierung des Dogmas, und zwar einerseits in dem Maß, in dem sich die Verbindung zwischen dem Menschen und dem Übernatürlichen oder seinen Priestern unmittelbar über den Gottesdienst vollzieht – ohne das Dazwischentreten irgendwelcher eigentlich nichtreligiöser praktischen Aktivitäten (wie etwa politische, soziale, ethische oder wissenschaftliche Praktiken) – und andererseits in dem Maß, in dem das Streben nach der Realisierung dieser Verbindung über die Erscheinungen des menschlichen Lebens entscheidet oder sie kontrolliert. Hier muss ich darauf aufmerksam machen, dass die Verbindung des metaphysischen Bewusstseins mit dem Inhalt des Dogmas sich in keiner religiösen Ideologie bewusst und rational vollzieht, sondern im Allgemeinen außerhalb der Kontrolle des Bewusstseins stattfindet und dass die Männer der Religion in bestimmten Momenten eine erhebliche Rolle bei der Veränderung der Beziehung zwischen dem metaphysischen Bewusstsein und dem Inhalt des Dogmas gespielt haben. Diese Veränderung ging manchmal bis zu einer religiösen Reformbewegung oder der Zerstörung der religiösen Ideologie und der Vorbereitung einer anderen, neuen. Aber welch starken Einfluss auch immer das metaphysische Bewusstsein bei der Formulierung des Inhalts des Dogmas erreichte, so war doch die Übereinstimmung der beiden Elemente nie vollständig. Es gab immer äußere Faktoren und weltliche, nichtreligiöse Elemente, die bei der Festsetzung der Inhalte der Dogmen und damit bei der Vielfalt und Unterschiedlichkeit, ja Widersprüchlichkeit der religiösen Schulen und Richtungen eine Rolle spielten. Der Grad der Übereinstimmung zwischen dem metaphysischen Bewusstsein und dem Inhalt des Dogmas widerspiegelt den Anteil, den die Beziehung des Menschen zu Gott sowie seine Beziehung zur Welt und zu sich selbst innerhalb der religiösen Ideologie haben. Der wichtigste Unterschied zwischen den Religionen ist wohl der, der aus dem Unterschied der Beziehung des metaphysischen Bewusstseins zum Inhalt des Dogmas erwächst. Hier tritt die Besonderheit der Lösung hervor, die eine Religion präsentiert, weiter das menschliche Vorbild, nach dem sie strebt, ihre Sicht auf die Welt und ihre Haltung zur Politik, zur Ethik, zu den Fremden, zum Krieg, zum Handel, zur Frau usw. Aber wir dürfen uns nicht von dem Ausdruck „Bestimmung des Inhalts des Dogmas durch das metaphysische Bewusstsein“ täuschen lassen. Diese Bestimmung ist oberflächlich. Ich habe schon ge-
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zeigt, dass das metaphysische Bewusstsein keine schöpferische Kraft, sondern ein vom realen Leben abhängiges abgeleitetes Phänomen ist. In letzter Instanz bestimmt das reale Leben den Grad, bis zu dem das metaphysische Bewusstsein den Inhalt des Dogmas beeinflussen kann. Die Gesamtheit der historischen, zivilisatorischen, sozialen, politischen, kulturellen und ökonomischen Charakteristika, die den Wesenszügen von menschlichem Leben und menschlicher Existenz ihren Stempel aufdrücken, mit einem Wort: das Ausmaß der Kraft des realen Lebens selbst widerspiegelt sich weitgehend in Art und Reichweite des Einflusses des metaphysischen Bewusstseins auf Entstehung, Formung und praktische Vollendung des Dogmas. Die Beziehung des metaphysischen Bewusstseins zum Inhalt des Dogmas kann derart sein, dass sie zur intensiven Religiosität, zum Fanatismus, zur Unterwerfung der ganzen Gesellschaft unter die religiöse Autorität, zur Verwandlung des Dogmas in das Instrument der Absegnung der politischen Macht oder zum formalen Charakter des Dogmas führt, also dazu, dass es mit äußeren, nichtreligiösen Faktoren gerechtfertigt wird. Diese Beziehung kann aber auch derart sein, dass sie den Weg zur Säkularisierung ebnet. Aber jede religiöse Ideologie muss, eben weil sie religiös ist, in der einen oder anderen Form, und sei es in gewissen Grenzen, diesem stabilen und allgemeinen Element, der Methode des metaphysischen Bewusstseins, unterworfen sein. Ohne diese Unterwerfung verliert die religiöse Ideologie ihren religiösen Charakter. Die Schwäche des Einflusses des metaphysischen Bewusstseins auf die Formulierung des Inhalts des Dogmas ist es, was ich als Schwäche der Hegemonie des „religiösen“ Bewusstseins über das Leben allgemein bezeichne. In letzter Instanz ist jede Religion Ergebnis eines provisorischen Gleichgewichts zwischen zwei Gegensätzen: dem beharrenden, stabilen Element, der metaphysischen Verbindung, und dem dynamischen, veränderlichen Element, welches das reale historische Leben in all seinem Reichtum und all seinen bewegenden Kräften präsentiert. Daher finden wir, dass die Analyse des religiösen Phänomens zuallererst das Studium der Dialektik der sozialen Existenz und ihrer Bewegung, das Studium des dynamischen Elements, des realen Lebens erfordert.
Kapitel 3 Die zivilisatorische Entwicklung auf der Arabischen Halbinsel vor dem Islam 1. Die zivilisatorische und soziale Entwicklung auf der Arabischen Halbinsel vor dem Islam war einerseits gekennzeichnet von Zusammenleben und Nachbarschaft von Beduinen und Sesshaften und andererseits von der zunehmenden Auswirkung des internationalen Handels auf den historischen Werdegang der Halbinsel. Die Beduinen schwankten zwischen der Weidewirtschaft und der landwirtschaftlichen Oasenwirtschaft, wobei die Weidewirtschaft, deren ökonomische Einheit die Sippe war, immer noch überwog. Unter diesen Bedingungen hielt man am Stamm als der sozial-ethnischen Einheit fest, während die wirtschaftliche Einheit meist die Sippe war. Die Stammesbindungen, die auf der Gleichheit der Mitglieder des Stamms beruhten, zeigten für lange Jahrhunderte große Kraft und Stabilität. Der entscheidende Faktor dieser Kraft und Stabilität waren die langsame historische Entwicklung, die Abwesenheit scharfer sozialer Unterschiede sowie die gegenseitigen Überfälle und Stammeskriege. Dennoch trat die Stammesaristokratie nach und nach hervor, begann seit dem sechsten Jahrhundert allein die Herrschaft oder die Regelung der öffentlichen Angelegenheiten auszuüben, bemächtigte sich des Weidelands und verlangte von den Stammesangehörigen, ihr Loyalität zu bezeigen, ihre Privilegien anzuerkennen und ihr Dienste zu leisten. Weiter begann sie, den Landwirten in den Oasen Schenkungen und Zuwendungen im Austausch für ihren Schutz abzuverlangen, quasi-politische Aktivitäten zu entfalten, die auf halbfeudale Beziehungen hinausliefen, und mit Bündnissen zwischen den Stämmen zu liebäugeln, die meist ein Element von Zwang enthielten. Der Stamm bildete zunächst eine kollektive Einheit, der jeder Angehörige unbedingte Loyalität erwies. Der Einzelne außerhalb der Stammesorganisation war nichts. Diese Gesellschaft, in der die beduinische Lebensweise vorherrschte, war einerseits nicht in der Lage, die demokratische Stammesorganisation fortzuführen, und zwar wegen der zunehmenden Kamelzucht, des Handels mit Kamelen und des Karawanenhandels sowie der daraus resultierenden Privilegien der Aristokratie, aber sie konnte andererseits diese demokratische Stammesorganisation auch nicht zerstören, und zwar wegen der prekären beduinischen Lebensgrundlagen (Seuchen, Kriege, Widrigkeit der Natur usw.), wegen der wenig entwickelten politisch-militärischen Unterdrückungsinstrumente und wegen der Unwägbarkeiten des Karawanenhandels selbst. Daher rührt die widersprüchliche Tendenz zur sozialen Differenzierung und zur Bekräftigung des Geistes der Gleichheit, zu Forderungen der Sklaven zu gehttps://doi.org/10.1515/9783110701616-004
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wissen Zeiten und zur Begrenzung dieser Forderungen zu anderen Zeiten, zum Bündnis der Stämme und zu ihrem Zerwürfnis. Diese Gesellschaft hätte trotz des Aufstiegs der Aristokratie und der Besitzunterschiede in ihren Widersprüchen ganz untergehen können, wenn da nicht vor dem Islam die zunehmende Rolle des Handels gewesen wäre. Wegen dieses Faktors setzte sich schließlich die Tendenz zur Auflösung der ursprünglichen Stammesbeziehungen durch, und die Aristokratie beeilte sich, ihr Privateigentum am Vieh, am Boden, an den Sklaven und an den Handelsgewinnen zu festigen, und dies im Rahmen einer Entwicklung, die Züge des Feudalismus wie der Sklaverei trug. Und als der Mensch, der Stammesangehörige, stärker von den sozialen Kräften und ihren Widersprüchen innerhalb des Stamms als von natürlichen Faktoren abhing, begann das kollektive Stammesbewusstsein sich aufzulösen und traten neue Bewusstseinsformen in Erscheinung. 2. Im geistigen Leben der Dschahiliyya (ǧāhiliyya)¹¹ können wir zwei Momente unterscheiden: 1) Das Stammesbewusstsein und seine Ausdrucksformen. 2) Die Überwindung des Stammesbewusstseins und deren Ausdrucksformen. In der beduinischen Lebensweise trat der scharfe Unterschied zwischen Arbeit und Nichtarbeit nicht hervor, und ebenso wenig eine scharfe Trennung zwischen Praxis und Theorie. Das hatte großen Einfluss auf die Gestaltung des geistigen Lebens vor dem Islam. Der Kampf der Beduinen mit ihrer natürlichen Umwelt nahm nur wenig von ihrer körperlichen und geistigen Energie in Anspruch. Ihre Lebensführung beruhte weniger auf der ständigen Veränderung der natürlichen Umgebung als vielmehr auf dem, was die Natur selbst oder außergewöhnliche Faktoren zur Verfügung stellten. Diese pastorale soziale Existenz, determiniert wie sie war durch die Härte der unbeständigen Natur, die Unnachgiebigkeit der Stammesbindungen und die Monotonie des täglichen Lebens, drängte sie nicht stark zur Erlangung eines Wissens, das über ihre natürliche und soziale Umgebung und sie selbst hinausging.Viel eher verstärkte sie bei ihnen Empfindsamkeit und Phantasie, und die Vorstellung des Schicksals war der perfekte gedankliche Ausdruck der Sicht der Araber auf die Welt und ihrer angsterfüllten, verstörten Beziehung zu allem, was sie umgab. Das Schicksal – im vorislamischen Bewusstsein die vorherrschende Idee – ist eine undeutliche Vorstellung, in der die Strenge der Natur, der Wille des Stamms, die natürlichen Neigungen, die Wechselfälle der Zeit und das Unbekannte zusammentreffen und die Notwendigkeit
Wörtlich „Zustand der Unwissenheit“. Dies ist der im Arabischen übliche Begriff für die vorislamische Zeit auf der Arabischen Halbinsel (A. d. Ü.).
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durch den Zufall bestimmt wird. Die Erklärung irgendeines Ereignisses ist nichts anderes als sein willkürliches Eintreten selbst. Die Vorstellung des Schicksals erfordert implizit die Ergebung in es. Solange die Vorstellung des Schicksals in ihrer primitiven Form herrscht, kann der Mensch die Kontinuität und die Ordnung in der Bewegung des Universums und des Lebens kaum verstehen oder großes Interesse an ihnen zeigen. Der geistige Fortschritt der Araber in der Dschahiliyya vollzog sich durch die Einhegung und vernunftmäßige Überwindung der vorislamischen Schicksalsvorstellung. 3. Das kollektive Stammesbewusstsein war nicht weniger stark, fest und solide als die Stammesbindungen selbst, und es war auch nicht von diesen getrennt, denn das Stammesbewusstsein war das innere geistige Modell des Lebens und der Beziehungen des Stamms. Es war die Gesamtheit der Kenntnisse, Erfahrungen und Traditionen, die mit der Zeit zu festen Grundlagen des Denkens, zu Verhaltensnormen und zu Idealen des Lebens geworden waren. Weil das Leben sich so langsam weiterentwickelte und das Stammesbewusstsein sich so wenig veränderte, konnten Einzelne den Prozess des Erkenntnisfortschritts nicht bemerken, und darum blieb das Wissen in der Stammesgewohnheit befangen. Obwohl es im Stammesbewusstsein viele illusionäre Vorstellungen gab, blieb dieses Bewusstsein doch nahe an der sinnlich-praktischen Tätigkeit und im Rahmen des praktischen Bewusstseins. Es gibt im Stammesbewusstsein eine feste Einheit von Denken und Realität (die Existenz der Bäume gleicht derjenigen der Träume und der Werte, und die Verletzung durch Worte gleicht der realen); der Wille des Stamms geht sofort in Erfüllung, und es gibt keinen klaren Unterschied zwischen dem Motiv und der Tat, zwischen dem natürlichen Ungestüm und dem Ideal. Das sind Beispiele für die enge Verbindung von Bewusstsein und Realität des Stamms. Einen besonderen gedanklichen Gehalt außerhalb dieses kollektiven Stammesbewusstseins gibt es da nicht. Der Stamm ist die gedankliche Einheit der Gesellschaft. Er allein hat bleibende und kontinuierliche Bedeutung. Durch ihn lernt der Mensch die Welt und die Ordnung der Dinge kennen, die außerhalb des Rahmens der Beziehungen und Begriffe des Stamms dem Verständnis unzugänglich bleibt. Die beinahe legendenhafte Welt der Stammesvorfahren symbolisiert die Gemeinschaft, welche höher ist als die Individuen, und repräsentiert ein grundlegendes Moment des Stammesbewusstseins. Die Überzeugung der Abstammung von einem einzigen Ursprung garantiert das Gleichgewicht zwischen der alltäglichen verstreuten Existenz des Individuums und seiner bleibenden Natur: dem Stamm. Deswegen waren der Wille des Stamms und die Freiheit des Einzelnen eins, aber weil die Triebkräfte des Verhaltens des Individuums nicht vom kollektiven Willen getrennt waren, gab es nichts, was dem Individuum wirklich gehörte.
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4. Das Stammesbewusstsein spiegelte sich im Adab¹² (moralische Festlegung), der ideologischen Potenz der Gesellschaft, wider, welche in der vorislamischen Poesie bewahrt ist. In mancher Hinsicht ist das poetische Wort fast das wirkliche Denken, denn die Gedanken bestehen weder unabhängig von ihrem sinnlich-verbalen Träger noch von den realen Dingen, und der poetische Ausdruck ist der höchste, der tatsächlich wichtigste und der existentiell am festesten verwurzelte Gedanke. Man kann sagen, dass das Stammesbewusstsein sich im Rahmen des mündlich-poetisch-sinnlichen Denkens bewegte. Die Poesie drückt den Grad der seinerzeitigen geistigen Offenheit der Araber aus, ihre Methode, die Welt zu verstehen. Der Stammesdichter besingt das Emporschießen des Lebens, das Heldentum, die Männlichkeit, den Hochmut, die Liebe, die Schönheit der Frau, die Natur, die Tiere, den Stolz und die absolute Aufopferung für den Ruhm und die Werte des Stamms. Die Stammespoesie spiegelte die Harmonie des Einzelnen mit der Gemeinschaft, die Vorlieben, die Traditionen, die Übereinstimmung des natürlichen Triebs mit den Zielen und Gewohnheiten, das Festhalten des vorislamischen Arabers an der Freiheit und die Auflehnung gegen Unrecht und Erniedrigung wider. Die Dichter bedienten sich aus dem kollektiven Kulturschatz des Stamms. Die Dichtung erwuchs nicht aus individueller Kreativität, sondern nahm die immer wiederkehrenden modellhaften Formulierungen auf, welche die Erfahrung der traditionellen Gesellschaft umreißen. Die vorislamische Dichtung weist auch auf ein Moment starker Beeinflussbarkeit in der Stellung der vorislamischen Araber zur Welt und in ihrem Denken hin.Wenn wir die dem Islam unmittelbar voraufgehende Zeit ausnehmen, können wir sagen, dass den Arabern der Dschahiliyya weniger an andauernder geistiger Bemühung lag als an einer schnellen improvisierten Reaktion als ihrer ureigenen Methode der Bewältigung des Lebens (Intuition, Zungenfertigkeit, Ungestüm des Charakters). Dass man nicht schreiben konnte, spielte eine grundlegende Rolle für das Fehlen des folgerichtigen, detaillierten, zusammenhängenden Denkens. Das sinnlich-poetische Denken ging nicht über das praktisch-nützliche Bewusstsein hinaus. Im Rahmen dieses Bewusstseins machte der Beduine für die Naturerscheinungen und seine harten Lebensbedingungen, die zu Verhaltensmaßstäben wurden, verborgene übersinnliche Kräfte und Antriebe verantwortlich und versuchte sie durch den Einsatz einer Zaubertechnik zu besänftigen, die ebenfalls als Teil des Stammeserbes und seines Bewusstseins galten. Aber dieses primitive religiöse Bewusstsein erhob sich nicht auf die Ebene einer einheitlichen Adab, im modernen Arabisch das gebräuchliche Wort für „Literatur“, bezeichnete in der Sprache der vorislamischen Araber die Vorstellungen über richtiges Verhalten; in dieser Bedeutung wurde es bis in die Neuzeit verwendet. In diesem Sinn benutzt es hier auch Nayef Ballouz, wie aus seiner in Klammern gesetzten Erläuterung hervorgeht (A. d. Ü.).
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und konsistenten mythischen Erklärung der Welt und des Lebens mit einem fortgeschrittenen gedanklichen Inhalt. Die verborgenen übersinnlichen Wesen blieben lange Zeit über der Erde schweben, schlossen sich an die irdischen Dinge an und nahmen erst eine übernatürliche Qualität an, als oder nachdem der innere Zerreißungsprozess in der sozialen Einheit „Stamm“ sich verschärfte. Da wurden die Geister zu Herren und die Herren zu Göttern. Wenn der Dichter vor dem Islam auf der sozialen Stufenleiter und im ideologischen Leben größere Bedeutung hatte als der Priester, der Wahrsager und der Magier, so kam das daher, dass die Behandlung der realen Angelegenheiten des Stamms wichtiger war als die religiöse Aktivität. Die soziale Differenzierung, welche die Keime für den Niedergang des Stammesbewusstseins und die Loslösung des Bewusstseins von der nackten Realität in sich trug, mag sich vollzogen haben, aber sie erreichte vor dem Islam kein solches Ausmaß, dass sie das völlige Ende des Stammesbewusstseins bewirkt hätte. Die Beharrlichkeit des Stammesbewusstseins, die für lange Zeit die Entstehung eines individuellen Bewusstseins, das die Welt des Stamms transzendiert hätte, verhindert hatte, verhinderte auch das verbreitete Auftreten von Fällen individueller Religiosität. 5. Die Loslösung des individuellen Bewusstseins vom Stammesbewusstsein war Ergebnis einer tiefgreifenden sozialen Entwicklung innerhalb des Stamms. Diese Loslösung geschah, als der Mensch die Fähigkeit gewann, sich negativ zu den Stammestraditionen zu verhalten und den Missbrauch des Kollektivgeistes durch die Stammesaristokratie und deren Unterdrückung der Stammesangehörigen selbst zu kritisieren. Die Emanzipation des individuellen Bewusstseins war ein wichtiger Wendepunkt in der Entwicklung des geistigen Lebens in der Dschahiliyya. Das Stammesbewusstsein verwandelte sich immer mehr in eine drückende Notwendigkeit, die nicht mehr die kollektiven gemeinsamen Wünsche ausdrückte, in ein Instrument, das die Angehörigen des Stamms gewaltsam dem Interesse der privilegierten Aristokratie unterwarf (von Verwandten erfahrenes Unrecht).¹³ Hier begann der Wille des Stamms als tyrannisches unvernünftiges Schicksal zu erscheinen, das von den Individuen Nachgiebigkeit forderte. Daher die Aufspaltung im späten Stammesbewusstsein: Der Wille des Stamms war gleichzeitig der Feind des Individuums und sein eigener letztendlicher Wille, er war verhasst und schicksalhaft. Als der Stamm begann, seine Funktion als reale und geistige Stütze zu verlieren, war er kein selbstverständlich gegebenes oder erklärbares Phänomen mehr. So entstand der innere scharfe Widerspruch im Bewusstsein der Beduinen zwischen der Anhänglichkeit an den Geist des
Hier spielt Ballouz auf eine Stelle der altarabischen Dichtung an, die besagt, dass ein von Verwandten erfahrenes Unrecht schlimmer ist als jedes andere (A. d. Ü.).
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Stamms, der wegen der Beharrlichkeit des Stammesbewusstseins immer noch die tiefe Persönlichkeit des Einzelnen und sein Schicksal repräsentierte, und dem Sich-Einlassen auf das neue Ideal, das zur Ablehnung des aristokratischen Stammeswillens und der Verweigerung ihm gegenüber aufrief. Dies war der erste Keim des individuellen Bewusstseins, das aus der Zerrissenheit des inneren Lebens des Stamms Kraft, Deutlichkeit und Unabhängigkeit gewann. Das individuelle Bewusstsein brach als Antwort auf das Schicksal des Stamms und als leidenschaftliches individuelles Streben nach einer neuen Harmonie mit der Welt hervor. In dem Unterschied zwischen dem individuellen Bewusstsein und dem des Stamms wurde dem Stammesangehörigen die Existenz von Gedanken bewusst, die höher waren als die tradierten Kenntnisse, die Werte und das Kulturerbe des Stamms, und er entdeckte Triebkräfte des Handelns, die mit dessen Willen nicht übereinstimmten. Dies gab Raum für ein neues Wissen mit weiterem Horizont als dem des Stammesbewusstseins. Das Bewusstsein begann sich allmählich von der Stammesrealität zu lösen, sich auf sich selbst zurückzuziehen und einen weiteren und umfassenderen Horizont als die Stammesrealität zu überblicken. Aber dieses individuelle Bewusstsein war in seiner Entstehung und Entwicklung nicht so sehr vom Fortschritt der produktiven Arbeit und dem aktiven Kampf mit der Natur beeinflusst, sondern eher vom sozialen Kampf und vom Auseinanderfallen der Sozialstruktur des Stamms. Von daher war dieses neue individuelle Bewusstsein durch moralischen Charakter und moralischen Fortschritt gekennzeichnet, ohne dass dem ein Wissensfortschritt auf dem Gebiet der Natur entsprochen hätte. Das Auftreten des Unterschieds zwischen dem Wissen, das auf der alltäglichen sozialen Erfahrung beruht, und der Gewohnheit (zwischen „dem Erlernten und Erprobten“ und „dem bloß Gemutmaßten“) war eine Erscheinungsform dieses individuellen Bewusstseins, durch das der Mensch von den Gewohnheiten des Stamms unabhängige moralische Werte und neue Triebkräfte des Verhaltens entdeckte, die nicht im Willen des Stamms aufgingen. Aber das Hinaufstreben des Menschen über das Stammesbewusstsein hinaus befähigte ihn auch zur Unterscheidung zwischen seiner inneren und der äußeren Welt und drängte ihn stärker, nach Wissen und nach der Erweiterung seines Denkhorizonts zu streben. Darum kann man auch das Zunehmen dieses moralisch-individuellen Bewusstseins als allgemeinen Wissensfortschritt betrachten, d. h. als Anhebung des Denkniveaus und Neigung zu einem tieferen Weltverständnis. In dieser Phase, in der die Anzeichen der Auflösung des Stammesbewusstseins auftraten, verstärkte sich die Bedeutung einiger von Produktion und Handarbeit unabhängiger Aktivitäten wie der verwaltenden und der richtenden
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Tätigkeit (Herrschaft und Rechtsprechung), der literarischen und der rein denkerischen Tätigkeit. Diese Aktivitäten halfen bei der Entdeckung einiger vom Stammesbewusstsein unabhängiger Gedanken und Werte (Wert der Schönheit, der Vernunft, der Brüderlichkeit, der Wissenschaft, der Weisheit, des Individuums, der Bedachtsamkeit, der Wahrheit usw.). Die Dschahiliyya kannte drei soziale Vorbilder von ideologischer Bedeutung: den Dichter, der in der Vergangenheit den Stamm repräsentiert hatte, den Schiedsrichter (den Schiedsrichter als Richter usw.), dessen Bedeutung stark zunahm, und den Wahrsager, den die nachfolgende religiöse Entwicklung ablehnen sollte. Es gab auch viele Fälle, bei denen zwei Rollen in einer Person vereinigt waren. Man kann sagen, dass die geistige Entwicklung in der Dschahiliyya sich im Übergang von der Stammespoesie zur Poesie der Weisheit und von ihr dann zu den halb prosaischen Maximen moralischen Inhalts vollzog. Diese Entwicklung spiegelte eine allmähliche Erweiterung des Denkhorizonts und eine Reifung im individuellen Bewusstsein wider. Als deutlich wurde, dass die Bemühung um eine praktisch-konkrete Veränderung der Stammesverhältnisse keine Frucht tragen würde, wurde das Streben nach einer moralischen Lösung dringlicher, was einen innerlich-spirituellen Umschwung erforderte. 6. Die städtische Stammesaristokratie Mekkas konnte ihre Autorität über den Hedschas und die Stämme der zentralen Halbinsel sowie ihre Oberaufsicht über den Karawanenhandel erzwingen. Allerdings war sie genötigt, ihre kommerzielle Aktivität zu verringern, nachdem der internationale Karawanenhandel, der die Halbinsel durchquerte, in Stagnation geraten war, weil der Iran seine Hegemonie auf den Jemen ausgedehnt und der Handelsweg sich vom Roten Meer zum Persischen Golf verlagert hatte. Im Ergebnis weitete sich das Feld der wucherischen Finanztransaktionen aus. Unter diesen neuen Bedingungen gerieten die arabischen Stämme stärker unter die ökonomische Autorität Mekkas, als das jemals der Fall gewesen war. Und die Gesellschaft Mekkas selbst spaltete sich auf. Jeder Mekkaner wurde entweder Unterdrücker oder Unterdrückter. Die verarmten freien Mittelschichten konnten einen langdauernden Kampf gegen den Ältestenrat aufnehmen. Besonders in Mekka vertieften sich die soziale Spaltung und die Trennung von Hand- und Kopfarbeit, und der Klassenkampf verschärfte sich. Zur gleichen Zeit öffnete sich der Horizont eines zivilisatorischen und geistigen Fortschritts, der die Araber als ein Volk mit der Welt konfrontierte, das Anzeichen einer umfassenden Krise und einen tiefen, die Einheit eines jeden Stammes zerreißenden Widerspruch fühlte. Sie entdeckten in sich geistige Neugier, allgegenwärtige starke Kräfte und nationales Erwachen, das sich verstärkte, als die Araber mit dem Kampf zwischen den Persern und den Byzantinern auf der Halbinsel konfrontiert wurden.
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Seit die Araber die Realität ihres Lebens von einem höheren Blickpunkt als dem des Stamms betrachteten, begannen sie die Enge und Starrheit ihres früheren geistigen Lebens zu erkennen. Dies war der Beginn eines neuen Selbstbewusstseins. Das Bewusstsein löste sich von der Stammesrealität, der Mensch entwuchs den sinnlichen, äußerlichen Gewohnheiten des Stamms und ihrer imaginären heidnischen Ergänzung; Zweifel und unbeantwortete Fragen kamen auf. Genau zu dieser Zeit kamen die Araber zuerst mit der rationalen Sicht in Berührung, die partiell über die rein sinnliche Wahrnehmung hinausging. Wenn die Araber sich auch immer noch über das Leben nach dem Tod lustig machten, begannen sie doch mit der Auflösung der Stammesbindungen mit Bitterkeit auf das Leben als lächerliches Spielzeug zu schauen und auf ein ernsthafteres, sichereres und ruhigeres Leben zu hoffen. Und so begannen sie sich nach dem Sinn des Lebens zu fragen und sich der Reflexion darüber zuzuwenden, was es an ferneren Zielen in sich schließt. Dieser Zeitabschnitt im geistigen Leben der Araber war von Fruchtbarkeit und Vielfalt gekennzeichnet: Es gab die Propagandisten offen pessimistischer und nihilistischer Ansichten, die Befürworter von Sinnenlust, die ganz bewusst den sinnlichen Lebensgenuss als illusionären Ersatz für ihre geringen Lebenskräfte und fehlenden Ideale akzeptierten, die Außenseiter, welche die wirkliche Bedeutung des Individuums und die Brüderlichkeit der Individuen gegenüber der ganzen Stammesexistenz bekräftigten, die Skeptiker, die alles auf den Prüfstand stellten, und schließlich die Leute mit Autorität, die Prediger der Weisheit und diejenigen, die bessere menschliche Verhältnisse als die Stammesbindungen erträumten und voraussagten. Dieser geistige Reichtum und diese Vielfalt im geistigen Leben waren nicht von der moralischen Lösung und den moralischen Forderungen getrennt. Aber als sie unfähig waren, das reale Leben zu ändern, geschah ein Umschwung in der Sicht des vorislamischen Arabers auf die Welt, und sein Bewusstsein erhielt eine innerliche Dimension. Die neue geistige Freiheit, die zwischen Denken und Realität trennte, war nicht nur Ablehnung der Stammesrealität, sondern positive Bekräftigung der Höherwertigkeit des Denkens gegenüber der Realität und des Werts des moralischen Lebens und der innerlichen Meditation. Die meditative Sichtweise ergab sich aus der moralischen Lösung der sozialen Gegensätze im Stamm. Sie war also die Frucht der geistigen Entwicklung, welche von den Widersprüchen des vorislamischen Lebens selbst hervorgebracht wurde und die Araber vor Horizonte stellte, die sie in Richtung des Himmels hinaufhoben und sie auf die Akzeptierung des geistigen Erbes des Orients und auf die höhere Verbindung mit der übernatürlichen Gottheit vorbereiteten. Der spirituelle und gedankliche Horizont der (kommerziellen) städtischen Gruppen vor allem in Mekka am Vorabend des Islam ging über die Grenzen der Arabischen Halbinsel und ihres geistigen Erbes hinaus.
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Die Araber entdeckten die Bedeutung dieser Gedanken, Wahrheiten und Verheißungen, die schon seit Hunderten von Jahren als orientalisches Kulturerbe galten. Die Kluft, die sich zwischen dem niedrigen Niveau ihrer Kenntnisse und ihres Denkens und ihren tiefen geistigen Bedürfnissen sowie ihrem Durst nach der Wahrheit auftat, war so breit, dass dadurch ihre große Aufgeschlossenheit gegenüber der orientalischen Welt und ihre Übernahme von Wissen aus anderen Ländern zur ersten Quelle von Wissen und Gewissheit wurde. Nachdem sie sich über jede fremde Idee, wie sie auch immer genannt wurde, lustig gemacht hatten, begannen sie die Wahrheit, das Wissen und das Geheimnis des Lebens für Dinge zu halten, die außerhalb der Halbinsel tatsächlich existierten. Und die Erkenntnis vollzog sich nicht wie bei den alten Griechen über die Sicht und die optische Beobachtung, sondern „über das Ohr“, durch die hörende Übermittlung, durch das Erschnüffeln der Neuigkeiten, die aus anderen Ländern überbracht wurden. Aber das auf diese Weise schnell Übermittelte, in dem die religiösen Heilserzählungen überwogen, war kein Hinderungsgrund für das originäre geistige Erwachen der Araber, sondern versorgte sie mit einem kulturellen und geistigen Material, dessen mündlicher Aufnahme sie sich lebhaft und aktiv zuwandten. Die Araber standen zu dieser Zeit auf der Schwelle eines neuen Selbstbewusstseins, welches das mündliche Erbe der Dschahiliyya transzendierte und sie auf den Eintritt in die Epoche der Schrift- und Lesekultur ähnlich derjenigen der alten orientalischen Völker, welche die Wahrheit in heiligen Büchern bewahrt hatten, vorbereitete. In Mekka herrschte am Vorabend des Islam der Geist eines religiösen Konservatismus ohne geistigen Eifer. Die Mekkaner waren auf die Verbesserung des heiligen, religiösen Status ihrer Stadt bedacht, wobei die Religion der Dschahiliyya ihren ökonomischen Interessen förderlich war. Hier können wir das Aufkeimen der gnostischen Doppelheit greifen, die dem Volk, den Beduinen und den „echten Arabern“ den traditionellen, heidnischen, naiven Glauben und der Aristokratie die Betätigung des freien Denkens und der vernunftbetonten Meditation ermöglichte. Die Aristokratie, die niemandem erlaubte, die Verehrung der heidnischen Götzen und den religiösen Status Mekkas anzutasten, stellte sich der Ausbreitung der naturphilosophischen und atheistischen Strömungen in ihren Reihen nicht entgegen. Die wichtigste dieser Strömungen war die Dahriyya¹⁴. Hier muss ich betonen, dass ein allgemeiner rationaler kritischer Standpunkt dem geistigen Leben in Mekka am Vorabend des Islam eine starke Kontrolle auferlegte. Doch gleichzeitig begann die religiöse Empfindung bei den Unterdrückten, Be-
Die Dahriyya war eine materialistische, atheistische Lehre (A. d. Ü.).
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leidigten und Beladenen aufzuflammen und ihren Wunsch nach Erlösung zu verstärken. Die radikale religiöse Wendung, die das Heidentum zerstörte und den Monotheismus begründete, war Ausdruck des tiefen sozialen Gegensatzes, der starken Abhängigkeit des Menschen von den ökonomischen Verhältnissen und des Protests gegen die Aristokratie der Quraisch,¹⁵ die sich in ihrem Streben nach Bereicherung in keiner Weise zurückhielten. Sie war auch vereinbar mit jener rationalen Kontrolle und mit der rationalistischen Kritik am heidnisch-dschahilitischen Kulturerbe. Das religiöse Bewusstsein erhob sich von der niedrigen Stufe der Vielgötterei und der Verehrung von Götzen, die sich durch die primitive, rohe Verdinglichung verborgener guter oder böser übernatürlicher Kräfte und durch die magische Praxis auszeichneten, zum strengen Eingottglauben, der die ganze illusionäre, zwischen Gott und dem Menschen vermittelnde Welt ebenso auslöschte wie diejenigen, die sich hinter dieser metaphysischen Welt versteckten, den Ältestenrat und die Unterdrücker. Gott war der Schöpfer des Menschen und des Universums, unsichtbar, er war der Herr der Elenden, die ihre Hoffnungen auf eine Gottheit setzten, die in der heidnischen Vergangenheit noch keine große Achtung genossen hatte. Mit einem Schlag explodierten das neue religiöse Bewusstsein und der Glaube an eine andere Welt, und Gott erschien im Bewusstsein der vorislamischen Araber als eine himmlische, ihrer selbst bewusste Kraft, die das Heil verbürgte, allein absolute Souveränität beanspruchte, jede andere Souveränität wie die des Geldes, der Götzen, der Despotie, des Lasters, der Tyrannei usw. zunichte machte und die Araber zur Errichtung der Herrschaft der islamischen Gemeinschaft aufrief. Obwohl alle früheren Götzen und heiligen, verehrten Dinge ihre Macht verloren hatten, betonte die neue Religion doch ihren arabisch-mekkanischen Charakter und ihre Unabhängigkeit von den anderen himmlischen Religionen und machte Mekka und die Kaaba zum Zentrum des religiösen Lebens und der arabischen kulturellen Kontinuität. Die Verbindung mit der übernatürlichen Kraft war eine mit einem Gott, einzigartig, allmächtig, unvergleichlich. Du fragst ihn nicht nach dem, was er tut, ihm ist nichts unmöglich, auch nicht sinnliche Verkörperungen, wenn auch die Tendenz zur abstrakten Transzendenz überwiegt. Die transzendente Ganzheit in der Vorstellung der Gottheit war die Grundlage für die arabische Prophetie, die einerseits auf der gleichen religiösen Entwicklungsstufe stand wie der Orient, sich aber andererseits auch dem Heraufziehen des nationalen Moments im Leben der Araber, der Auflösung ihrer patriarchalischen Stammesbeziehungen, ihrem geistigen Erwachen, ihrem Bedürfnis nach Samm-
Die Quraisch (al-Quraiš) waren der Stamm der Bewohner von Mekka (A. d. Ü.).
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lung ihrer bis dahin vergeblich in inneren Kämpfen verschwendeten Kräfte und ihrer Orientierung auf ein gemeinsames höheres Ziel anpasste. Mit dem Sieg des Islam nahm der Wille des Himmels im Bewusstsein der Araber die Stelle des dschahilitischen Schicksals und des Stammeswillens ein. Damit zogen die Araber die Quintessenz aus ihrem Dialog mit der Welt und aus ihren spirituellen und kulturellen Erfahrungen. Ein Volk erfuhr unter der Einwirkung äußerer und innerer Faktoren eine dynamische soziale Entwicklung und tiefe Umbrüche. Es gewann immer mehr Lebenskraft und Vertrauen in seine Kräfte und seine Vernunft und machte sich unter dem Banner des Islam an den Aufbau eines einheitlichen Staats und die Errichtung der Welt des Kalifats und seiner blühenden Zivilisation – unter den Auspizien der weiten Verbreitung der religiösen Ideologie des Islam und der Verwandlung der arabischen Sprache in die Sprache der Kultur und des täglichen Lebens in den meisten Gebieten des Kalifats.
Kapitel 4 Der frühe Islam und seine Grundzüge 1. Die erste Hälfte des siebten christlichen Jahrhunderts gilt in der Entwicklung der Arabischen Halbinsel und des Orients als Periode entscheidender historischer Ereignisse und Umschwünge. In dieser Zeitspanne vollzogen sich wichtige Wendungen – einerseits eine religiöse Revolution, andererseits ein soziopolitischer Umschwung. Die Verkündung des Islam, der sich zu einer weltumspannenden himmlischen Religion entwickelte, geschah in enger Verbindung mit der Errichtung der Herrschaft des Islam, der Setzung seines Rechts und der Verwandlung der islamischen Gemeinde, die am Anfang nur aus den Auswanderern, den Helfern und der Aristokratie Mekkas bestand, in eine gesellschaftliche und politische Macht, welche die Welt des Kalifats beherrschte. Wie auch immer wir heute über das Verhältnis des religiösen zum politischen Bereich denken, besteht doch Einigkeit darüber, dass sie im Islam zwei Aspekte eines Phänomens waren. Heute sind wir auf einem höheren theoretischen Niveau und gehen von einem ideologischen Standpunkt aus, bei dem das Vergangene in die Ansprüche der Zukunft verwandelt wird. Daher wissen wir, dass es einen grundsätzlichen Widerspruch zwischen den Forderungen der Religion und denen der Welt gibt, zwischen den Forderungen des Himmels und denen der Erde, zwischen den Forderungen des Glaubens und denen der Vernunft. Im Licht dieses Wissens sollten wir jetzt die historische Unzertrennlichkeit im Islam zwischen dem Bereich der weltlich-politischen Tätigkeit, die auf der Vertiefung der Verbindung des Menschen zur Welt, und dem Bereich der Religiosität, deren Kraft auf der vertieften Verbindung des Menschen zu Gott, dem Schöpfer der Natur beruht, wissenschaftlich erklären. Die relative Einheit im Islam ist nicht Resultat eines historischen Prozesses der Vereinigung zweier grundsätzlich unterschiedlicher Haltungen zum Leben, zur Welt, zum Schicksal und zum Ideal usw., sondern der gemeinsame, nicht unterscheidende Anfang von etwas, was sich dann, tatsächlich und theoretisch, in zwei grundsätzlich gegensätzliche Positionen aufspalten sollte, wenn auch die eine mit der anderen im Verlauf der Geschichte auf verschiedene Weise in Beziehung treten sollte. Wenn wir annehmen, dass die beiden Positionen in totalem Gegensatz zueinander standen, was uns für die Zeit vor dem achtzehnten Jahrhundert nicht ganz leicht fallen wird, können wir sagen, dass sie in der islamischen Frühzeit nur der Form nach verschmolzen waren, dass aber ihre tatsächliche Trennung immer den Unwillen der Muslime erregt hat. Auch im frühen Christentum war das Bewusstsein von diesem Gegensatz im Kernbereich des Glaubens ziemlich schwach, und es trat nur hervor, wenn man den christlichen Glauben beispielsweise mit der heidnischen Philosophie verglich. Aber das schwache https://doi.org/10.1515/9783110701616-005
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Bewusstsein von diesem Widerspruch im Christentum war nicht das Ergebnis des Zusammenfallens der beiden Bereiche, sondern das der starken Geringschätzung der Forderungen der Welt, der Politik und der Vernunft – Forderungen, deren fast völliges Fehlen dem metaphysischen Bewusstsein die Kontrolle über den Inhalt der religiösen Ideologie gibt und die Krise des christlichen Gewissens und die Intensität seiner inneren Leiden vertieft. Aber die Methode des metaphysischen Denkens, die ständig die unmittelbare Verbindung des Menschen mit dem Übernatürlichen fordert, besteht nicht unabhängig von den übrigen Bewusstseinsinhalten, real und in allen Religionen identisch. Sie ist ein Idealmodell, das sich in der religiösen Realität in unterschiedlichen Graden realisiert. In der christlichen Denkweise ist sie stärker verwirklicht als in der islamischen, wo die Zulassung der menschlichen Bedürfnisse und der weltlichen Forderungen im Inhalt des Dogmas zur Einschränkung ihrer praktischen Wirkung führte. Die dem Islam voraufgehenden religiösen Neuerungen, christliche oder andere, haben ebenfalls weiten Raum für menschliche Forderungen geschaffen, und zwar durch den Widerstand gegen die Unterdrückung und die geistige Unterwürfigkeit sowie den neuen Respekt für die Rechte der Natur, des Denkens und der realen Tätigkeit. Dieses vermehrte Interesse an der Festigung der Beziehung des Menschen zur Welt fand allerdings den stärksten Ausdruck im Islam, der als unabhängige, weltweite religiöse Ideologie in die Geschichte eintrat. Allerdings schränkt die intensive Präsenz vieler irdischer, menschlicher Elemente im Islam die Macht des metaphysischen Bewusstseins ein und macht aus dem Rückzug in den Kult und der Abkehr von der Welt kein Ideal. Sie hat nicht zur Hervorkehrung des Widerspruchs zwischen den Forderungen der Erde und denen des Himmels geführt, zwischen den beiden in unserer heutigen Sicht prinzipiell gegensätzlichen Positionen, sondern diese blieben in einem ideologischen System vereint nebeneinander bestehen. Aber diese Verschmelzung, die vom islamischen Standpunkt aus im Allgemeinen akzeptiert war, erschien einigen christlichen Kirchenvätern im Mittelalter als ein scharfer Widerspruch, ja als das Zusammenbringen gegensätzlicher, unvereinbarer Elemente, was sie dazu brachte, den Islam für eine Abweichung vom Wesen der Religion zu halten. Aber die „Abweichung vom Wesen der Religion“ heißt hier nur, dass der Islam eine menschliche Ebene mit einschließt, welche die völlige Unterwürfigkeit ablehnt, sich zur Anstrengung, zur realen Arbeit, zur politischen und militärischen Aktivität bereit zeigt und in der Befriedigung der natürlichen Bedürfnisse keine Sünde sieht. Der Mensch kann die Mauer der Schwäche und des vom Drama des göttlichen Leidens geweihten menschlichen Elends nur so weit durchbrechen, wie er sich von der Religion löst. Der Islam akzeptiert wie alle Religionen die Doppelung von Realität und die sonstigen Begleiterscheinungen des metaphysischen
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Bewusstseins, und er will auch nicht mit den historischen und sozialen Wurzeln der Religion Schluss machen (Schwäche des Menschen gegenüber den höheren Dimensionen des Lebens, Versperrung der Horizonte der realen Überwindung der Gegensätze usw.). Darin stimmt der Islam, wie gesagt, mit den übrigen Religionen überein. Dies zeichnet den Islam nicht besonders aus. Es gab ihm aber aus dem Innersten des religiösen Bewusstseins heraus Raum für die tatsächliche Aktivierung des Menschen und beschränkte einige Formen der Ausbeutung. Unter dem Gesichtspunkt des religiösen Entwicklungsprozesses strebt der Islam nicht danach, dem Menschen seine Kräfte zu nehmen, sondern lässt ihn einiges von den ihm genommenen Kräften wiedergewinnen und ruft ihn dazu auf, sich für die Verbesserung seiner realen Existenz zu interessieren und am politischen Leben der Gemeinschaft teilzunehmen, und dies im Rahmen der erwähnten religiösen Doppelung, die sich als historische Notwendigkeit aufdrängt. Wenn es im Allgemeinen nicht Sache der Religion war, soziale Spaltung und Ausbeutung zu beseitigen, und sie sie manchmal gerechtfertigt hat, so lässt sich allein daraus dennoch nicht die Position einer bestimmten Religion – wie des Islam – zu den unterschiedlichen menschlichen Verhältnissen erkennen. Man muss vielmehr die offenen geschichtlichen Horizonte studieren und erkennen, ob historisch aufstrebende Kräfte in der Lage sind, den sozialen, menschlichen und geistigen Fortschritt zu bewerkstelligen. Der religiöse Charakter der geistigen Entwicklung im frühen Islam und im Zeitalter des Kalifats rührt daher, dass es dem geistigen Erwachen, das die großen Massen der Erniedrigten und ihre Bewegung erfasste, historisch gesehen nicht möglich war, eine reale Lösung ihrer Probleme zu erreichen oder die wirklichen bewegenden Kräfte der historischen Entwicklung aufzudecken. In diesem Punkt finden wir auch keinen Unterschied zwischen der Entwicklung des Christentums und derjenigen des Islam im Mittelalter. Allerdings hatte die islamische religiöse Entwicklung selbst besondere Züge, durch die sie vermeiden konnte, die Position vollkommener Unterwürfigkeit oder die negative Position einzunehmen, die aus der Hegemonie des metaphysischen Bewusstseins über den Inhalt des Dogmas erwächst. Das war nicht nur möglich, weil die historische Bewegung langsam aufwärts strebte – vom Tiefstand im Niedergang der Antike bis zum Mittelalter – sondern auch, weil die Ausbreitung der Feudalbeziehungen in der Welt des Kalifats nicht zur Beendigung des politischen Zentralismus führte und die Blüte der städtischen Wirtschaft sowie die Expansion des städtischen Lebens und seine große Rolle im ökonomischen, ideologischen, administrativen und kulturellen Leben weitergingen. Zu dieser Situation passte der Aufruf zum Kampf gegen die Tendenzen des sozialen Chaos und ihrer Folgen: Auflösungserscheinungen, chronische Stammeskämpfe, sozialer Zerfall und
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manche Formen der Ausbeutung und harschen Unterdrückung sowie Erscheinungen der Stagnation und der zivilisatorischen Rückständigkeit. Auch der Kampf um entwickeltere und menschlichere soziale Beziehungen und um soziale und politische Bedingungen, die dem historischen und kulturellen Fortschritt einigermaßen entsprachen, fügte sich harmonisch in sie sein. Der beste Ausdruck des islamischen Standpunkts erscheint in dem überlieferten Spruch: „Verhalte dich zu deiner Welt, als ob du ewig lebtest, und zum Jenseits, als ob du morgen stürbest!“ Ein Orientalist hat diesen Standpunkt einmal so ausgedrückt: „Der Islam, der keine spirituelle oder persönliche Vermittlung zwischen dem Menschen und Gott vorsieht, besteht auf dem Widerspruch zwischen beiden und der Gleichheit aller Menschen vor Gott.“ Darum stimmt es nicht, dass die beiden gegensätzlichen Prinzipien harmonieren und übereinstimmen oder dass die beiden Orientierungen (Vernunft/ Glaube, Welt/Jenseits usw.) gemeinsame Wurzeln haben. Sie tun dies nur im Rahmen der ideologischen Gegenüberstellung in einem bestimmten historischen Moment, nach Art etwa der Opposition zwischen den Aussprüchen „Gott macht, was er will“ und „Was Gott macht, ist schön!“ Natürlich muss man die Problematik und Schwierigkeit dieser Konstellation, die vielfältige, widersprüchliche Möglichkeiten eröffnet und in der Konfrontation mit neuen Umständen sehr flexibel ist, zur Kenntnis nehmen. Indessen betont sie in ihrem Hauptinhalt – im Rahmen des religiösen Bewusstseins – die optimistische weltliche Ausrichtung und das Mitgehen mit der natürlichen positiven Bewertung der menschlichen Potenzen. Diese Vereinigung der beiden prinzipiell entgegengesetzten Positionen nahm in der frühen islamischen Epoche die Form der gesetzlichen Umfassendheit im Islam an, aber im Grunde war sie das Ergebnis des Zusammentreffens zweier Kräfte: der historisch gewordenen Kraft des religiösen Bewusstseins und der Kraft der politischen und weltlichen Orientierung im Leben, die der Hegemonie des religiösen Bewusstseins, also der Trägheit der eingefahrenen Bewegungsrichtung, auch unter vorkapitalistischen Bedingungen Grenzen setzte. Dass der Islam die „Glückseligkeit in beiden Sphären“ an die Stelle des Prinzips „Leiden in der Welt, Glückseligkeit im Jenseits“ setzte, wie es im Christentum vorherrschte, zeigt den Unterschied zwischen den strukturellen Grundbeständen des Christentums und denen des Islam. Zum Schluss muss ich ein mögliches sprachliches Missverständnis ausräumen. Wenn ich sage, dass das metaphysische Bewusstsein das Christentum stärker beherrscht als den Islam, will ich nicht den dynamischen Charakter des metaphysischen Bewusstseins nahelegen, sondern das genaue Gegenteil tun. Ich habe gezeigt, dass es der dynamische Charakter, die Kraft und die Ansprüche des Lebens waren, die in das Innerste der religiösen Ideologie eindrangen und die Hegemonie des metaphysischen Bewusstseins und seine Neigung zur Stagnation und Negativität abschwächten. Das metaphysische Be-
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wusstsein war das Moment des Stillstands, während der Inhalt, der in die islamische Ideologie von außen eindrang, durch Dynamik gekennzeichnet war. 2. Der Islam war eine Kampfansage an die bestehenden sozialen Verhältnisse und die traditionellen Werte. Wodurch war die Entwicklung der allgemeinen Lage damals gekennzeichnet? Die Frage der Gesellschaftsformation am Vorabend des Islam ist unter den Forschern umstritten. Eine Auffassung besagt, dass seit dem sechsten christlichen Jahrhundert in den Gegenden von Mekka und Yathrib¹⁶ eine Sklavenhaltergesellschaft entstand, während sich in den übrigen Gebieten der Halbinsel (außer im Jemen, wo schon seit früherer Zeit Sklavenhalterbeziehungen herrschten) die Stammesaristokratie herausbildete und die Anfänge der Sklavenhaltergesellschaft erschienen; und dass nach den Eroberungen die Araber in das Stadium des Übergangs zum Feudalismus eintraten, das in den eroberten Ländern schon vorher begonnen hatte. Die zweite Auffassung besagt, dass Frühformen von Feudalbeziehungen in der mittleren und nördlichen Region der Halbinsel schon vor den Eroberungen herrschten und dass sich nach der Eroberung der Prozess der Ausbreitung der Feudalbeziehungen beschleunigte. Noch eine andere Auffassung besagt, dass die arabische Gesellschaft am Vorabend des Islam eine Klassengesellschaft war (ohne dass die Gesellschaftsformation genau bestimmt wurde) und dass die durch die Verlagerung der Handelswege verursachte ökonomische Krise zur Beschleunigung der Herausbildung der Stammes- und Handelsaristokratie und zu ihrer späteren Verwandlung in einen Feudaladel führte. Jedenfalls war der Islam nach dieser Auffassung Ausdruck der Klage der unteren Schichten über die zunehmende soziale Ungleichheit. Mit den Omaijaden verwandelte sich die demokratische, militärische und theokratische Republik in ein despotisches orientalisches Erbkönigtum. Diese Auffassungen, von denen es viele ähnliche gibt, sind nur Beispiele für die Versuche, die Art der Struktur der arabischen Gesellschaft am Vorabend des Islam zu begreifen. Sie zeigen an, dass die Frage heikel ist und dass wir noch nicht über genügend gesicherte Erkenntnisse verfügen, um uns ein vollständiges wissenschaftliches Bild darüber zu verschaffen. Darum sollten wir einige Erscheinungsformen der sozialen Entwicklung näher betrachten, ohne uns willkürlich auf eine bestimmte Produktionsweise festzulegen, solange wir dafür keine ausreichende Informationsbasis haben. Zu den wichtigsten Zügen der sozialen Entwicklung am Vorabend des Islam gehörten die verstärkte soziale Differenzierung in Klassen, die Auflösung der ursprünglichen auf Gleichheit beruhenden Stammesbeziehungen, die Festigung der Autorität der Stammesaristokratie, die Vermehrung ihrer Reichtümer, ihr unabhängiges soziales Hervortreten und die Stärkung ihrer leitenden, orientie-
Yaṯrib, vorislamischer Name der Stadt, die später Medina hieß (A. d. Ü.).
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renden patriarchalischen Rolle sowie ihrer politischen Führung. Das geschah durch die kontinuierliche Umwandlung des kollektiven Stammeseigentums in aristokratisches Eigentum, d. h. in das individuelle Eigentum des Führers oder Scheichs des Stamms; weiter durch die Ausbeutung eines Teils der Stammesangehörigen durch die Erzwingung von Diensten (beim Hüten des Viehs, der Lederherstellung, dem Scheren, dem Spinnen usw.), die Monopolisierung der Verwaltung des Stamms und die Kontrolle über seine Beziehungen im Inneren sowie mit den anderen Stämmen und den Bewohnern der Städte und Dörfer. Von besonderer Bedeutung für die wachsende Autorität der Aristokratie waren der Karawanenhandel und der Handel der Stämme untereinander und mit den Städten und Dörfern der Halbinsel. Die Aristokratie bemächtigte sich nicht nur der Weidegründe, Wasserquellen und Brunnen, sondern machte auch aus den Stammeskriegen und den ungleichen Bündnissen ein Instrument zur Neuverteilung der Weidegründe und zum vollständigen oder partiellen Ausschluss anderer Stämme oder sogar von Sippen des eigenen Stamms von ihrer Nutzung bzw. deren Einschränkung. Sie zwang den schwächeren Stämmen und den Bauern Tribute ab, band die armen Beduinen mit Abhängigkeitsbeziehungen an sich und beteiligte sich nach Möglichkeit am Gewinn aus Patronage und Schutz der Handelskarawanen. Die Quellen ihres Reichtums vermehrten sich und wurden ergiebiger. Diese Aktivität der Aristokratie führte zur Ausbreitung und Verfestigung der Abhängigkeitsbeziehungen und der Sklaverei. Die Bereicherung der Stammesführer durch die Ausweitung des Handels mit und des Besitzes von Vieh (Kamelen) ermutigte sie, mehr Angehörige ihres Stamms in ihren Dienst zu bringen und sie auszubeuten und von den Sklaven Dienste wie das Hüten des Viehs und die übrigen Arbeiten einzufordern, die mit der Verarbeitung seines Leders, seiner Haare, seiner Wolle, seines Fleischs und seiner Milch zu tun hatten. Das führte zur Vergrößerung des Mehrprodukts und seiner Verwandlung in Waren und in der Folge zur Ausweitung des Handels mit Vieh und der Realisierung größerer Gewinne sowie der Reproduktion der Abhängigkeit und der Sklaverei. Auf diese Weise entstanden auf dem Gebiet der Viehzucht halbfeudale Beziehungen, begleitet von Formen der Schuldsklaverei, patriarchalischen Sklaverei, Haussklaverei und anderen Formen der Sklaverei. Die Herausbildung von Klassen vollzog sich in den Städten, die aufgrund der Ausweitung des inneren und internationalen Handels und der starken Vermehrung der Sklavenhalterbeziehungen eine merkliche Blüte erfuhren. Diese Blüte beruhte allerdings nicht auf einer breiten landwirtschaftlichen Basis oder einer merklichen Entwicklung des Gewerbes und der Produktivkräfte. Tatsache ist, dass das Gewerbe begrenzt und die Landwirtschaft meist Oasenwirtschaft war. Dieses einseitige Wachstum, das sich besonders stark in Mekka zeigte, vergrößerte schnell die Bedeutung dieser Stadt und ließ den fortgeschrittenen politischen
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Charakter der Autorität ihrer kommerziellen Aristokratie (Ältestenrat) hervortreten. In Mekka sammelten sich große Geldsummen und Vermögen, deren Ursprung die Handels- und Wuchertätigkeit war, in den Händen der Aristokratie an. Mit der partiellen Stagnation des Handels gingen die reichen Aristokraten immer mehr zu Spekulation und Wuchergeschäften über, was die Klassengegensätze und die soziale und moralische Krise verschärfte. Mekka war ein wichtiger Handelsmarkt, Knotenpunkt der großen Verbindungswege des Karawanenhandels und das religiöse Zentrum, das den Respekt aller Araber der Dschahiliyya auf sich zog. Es übte dank seiner religiösen Stellung, seiner Lage an der internationalen Handelsroute und seiner finanziellen Stärke großen Einfluss auf die meisten Beduinenstämme aus. Viele Stammesangehörige fanden sich mit Mekka durch Bande der Religion, des Kredits oder Ähnliches verbunden. So wurde Mekka das Lebenszentrum eines wichtigen Teils der dschahilitischen Gesellschaft und verwandelte sich in einen Stadtstaat, in dem Unterdrückungsbeziehungen und solche patriarchalischer Ausbeutung sowie Sklavenhalterbeziehungen herrschten. Und weil seine wesentlichen Tätigkeiten kommerziell, finanziell und wucherisch waren, erschien es als Gesellschaft von Konsumenten, in der die Produzenten keine nennenswerte Rolle spielten. Diese Situation hatte starke Auswirkung auf den Austausch mit anderen, und als sich die soziale Krise Mekkas verschärfte, traf sie alle, die mit ihm finanzielle Beziehungen unterhielten. Hier beklagte sich niemand mehr in erster Linie über die Härte der Natur, sondern über den Tag der Bedrängnis und Abrechnung, d. h. den Tag, an dem die Schulden bezahlt werden mussten, über die Kriege und über die Unterdrückung durch die Familie. So erschien der Einzelne schwach und unfähig gegenüber den natürlichen Lebensbedingungen wie gegenüber seinen ökonomischen und sozialen Beziehungen. Mit der Auflösung der kollektiven Stammesbindungen und der Verschärfung der sozialen Gegensätze wurde jeder Einzelne in seiner alltäglichen Existenz bedroht. Mit der krisenhaften Situation Mekkas ging eine krisenhafte Situation auf der ganzen Halbinsel einher. Am Beginn des siebten Jahrhunderts dehnte sich die fremde Herrschaft auf alle wichtigen Gebiete der Halbinsel aus – mit Ausnahme ihres Zentrums um Mekka und ihres Nordens. Der soziale Kampf innerhalb des Stamms erreichte seinen Höhepunkt; Chaos, Ungerechtigkeit und verschiedene Zerfallserscheinungen breiteten sich aus; und zu jener Zeit verbreiteten sich auch Hungersnot und Dürre, die Hunger und Tod in viele Orte brachten. Diese Zustände führten zu großer Unruhe, allgemeiner Orientierungslosigkeit und einer sozialen Krise, die sich in Mekka konzentrierte und dort ihren stärksten Ausdruck fand. Eine Zeitlang schien es so, als ob keine reale Hoffnung auf ihre Überwindung bestünde, und das Streben der Leute nach Erlösung und Religiosität verstärkte sich. Die Unzufriedenheit der unterdrückten Freien und der verarmten Mittelschichten in Mekka spiegelte sich in der
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Erscheinung eines neuen religiösen Bewusstseins wider, das sich schnell in politisch-soziale Opposition verwandelte, welche die große soziale Ungleichheit und die schreienden Formen des Klassengegensatzes anprangerte. Dieses neue Bewusstsein, der Islam, verstärkte sich mit der Zunahme dieser Opposition gegen die mekkanische Aristokratie, und seine Fähigkeit zu Sieg und Standhaftigkeit wuchs. Im Rahmen dieses neuen politischen Umschwungs entstand die Tendenz zum Bündnis der Stämme, zur politisch-religiösen Vereinigung und zur schnellen Eroberung der umliegenden Gebiete. Diese Tendenz traf sich mit den Absichten der Kaufleute Mekkas. Der Sieg des Islam besiegelte die Errichtung eines zentralen theokratischen Staats, der sich sozial auf das Bündnis der Stämme in der Gemeinschaft der Muslime stützte. Diese Gemeinschaft trat ins Leben nach einem historischen Kompromiss zwischen den aristokratischen Kräften, zusammengesetzt aus den Händlern und den Stammesführern, und den demokratischen Kräften: Bauern, beduinischen Hirten, Viehzüchtern und Sklaven. Und obwohl die Eroberungen das Feld für die Ausweitung der Sklavenhalterbeziehungen weit öffneten, setzten sich doch die orientalisch-feudalen Beziehungen durch. Aber das wichtigste Kennzeichen der Welt des Kalifats waren die Ausweitung des Staatseigentums am Boden und ihre Folgen für das Zusammenfallen des feudalen Ertrags und der Regierungssteuer (was ja als wichtigstes Kennzeichen der asiatischen Produktionsweise gilt), der politische Zentralismus, der die sozialen Beziehungen prägte, die zunehmende Bedeutung der Warenproduktion und der städtischen Wirtschaft sowie die Ausweitung des Handels und die Sicherung seiner Wege. Die Eroberungen führten zunächst zur Benachteiligung der nichtarabischen sozialen Kräfte, die der arabisch-islamischen Zentralherrschaft feindlich gesinnt waren. Die stark vorherrschende Tendenz zur Verbindung des politischen Zentralismus mit dem Feudalismus war einerseits mit Aufständen der Bauern, andererseits mit dem feudalistischen Chaos konfrontiert, das von den lokalen feudalen Gruppen, welche die Unabhängigkeit vom Zentrum anstrebten, gefördert wurde. Unter diesen Bedingungen wurde die Gefahr äußerer Angriffe sehr real. 3. Das religiöse Bewusstsein gewinnt sein Leben und seine Wirksamkeit aus der Autorität derjenigen historischen Kräfte, die an der Spitze stehen und menschlicher Kontrolle nicht unterworfen sind. Doch unter bestimmten Bedingungen kann das religiöse Bewusstsein auch ein Faktor der Konfrontation mit diesen Kräften sein, ein Faktor ihrer Ablehnung, des Widerstands gegen sie und der Abschwächung des Drucks, den sie auf den Freiraum für menschliche Existenz ausüben. Das trifft auf den frühen Islam zu, der das Moment sozialen Protests enthielt, obwohl er im Grunde ein religiöses Bewusstsein oder Empfinden von menschlicher Schwäche war, das sich zur Hoffnung auf Rettung durch eine Befreiung entwickelte, die den Tod besiegte. Dieses neue religiöse Bewusstsein erschien in einem tiefen Gefühl von einer erhabenen, allmächtigen Kraft und vom
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Herannahen einer kosmischen Katastrophe oder einer göttlichen Strafe, welche die Welt erschüttern oder vernichten würde. Die Ewigkeit baut eine Brücke in die Zeit, wendet sich dem Menschen zu und steht ihm bei in seinem Streben nach Heil. Die Annäherung der Gottheit an die Natur und den Menschen fand ihren Ausdruck in der Prophetie und im Koran. Der vertrauenswürdige junge Mann aus Mekka, Muḥammad bin ʿAbdalmuṭallib (sic, recte: bin ʿAbdallāh), gewann nach einer tiefen spirituellen Unruhe die vollkommene Überzeugung, dass er der wahre Gesandte Gottes sei, der Warner seines Volks und sein Führer auf den Weg der Errettung. Schnell scharte sich um den Gesandten eine Schar von Gläubigen, die in kurzer Zeit zu einer politischen Kraft wurden und die Errichtung einer islamischen Macht anstrebten. Diese Verwandlung war von entscheidender Bedeutung im Schicksal des Islam und des Orients. Das erste, was den entstehenden Islam auszeichnete, war, dass das Hervorbrechen des religiösen Bewusstseins (das Band der Natur zum Übernatürlichen) seine Ergänzung und Vervollkommnung in einer realen politischen Lösung fand. Gott ruft die Gläubigen nicht zum Rückzug auf sich selbst, zur Selbstvervollkommnung, zur Vernachlässigung der Dinge dieser Welt und zur Vorbereitung auf das auf, was sie nach dem Tod in der anderen Welt erwartet, sondern drängt sie zur Arbeit, zur realen Aktivität und zur Bemühung in dieser Welt. Der Islam legte den ideologischen Grund für die Vereinigung der Stämme und die Errichtung eines Zentralstaats, der gleichzeitig der Unabhängigkeit der Stammesorganisation und den Schändlichkeiten des Handels, des Wuchers und den ungeheuren Unterschieden im Reichtum ein Ende setzte. Damit traten neben die Hoffnungen der Unterdrückten auf eine schnelle jenseitige Lösung die Politik der „Gefügigmachung der Herzen“,¹⁷ des sozialen Einklangs und der Wesenszüge des nationalen Bewusstseins. Dies ist die Politik, welcher der Frieden von Ḥudaibiya¹⁸ Ausdruck gab. Die Tendenz zur Eroberung und zum Dschihad begann als Ergebnis dieser Verschmelzung der Forderung der Welt und der Politik mit der des Himmels. Der Islam wurde eine Weltreligion, die feste Prinzipien verkündete, von denen die wichtigsten der strenge Eingottglaube, die Brüderlichkeit unter allen Muslimen und die Aufhebung des Wuchers, der Spaltungserscheinungen und des sozialen Zerreißungsprozesses waren. Die Araber hatten eine weltweite Mission und waren Pioniere einer göttlichen Wahrheit, für die sie mit dem Dschihad kämpften und die sie durch die Etablierung der islamischen Herrschaft auf der Erde verbreiteten. Die „Gefügigmachung der Herzen“ war im frühen Islam die Praxis, solche Stammesautoritäten, die bei den Auseinandersetzungen auf der Arabischen Halbinsel schwankten, durch Geldzahlungen auf die Seite der Muslime zu ziehen (A. d. Ü.). Ort in der Nähe von Mekka, an dem Muḥammad mit seinen mekkanischen Gegnern einen vorübergehenden Frieden schloss (A. d. Ü.).
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Was die Quraisch betrifft, so stellten sie die Kalifen und kam ihnen die Führung zu. Die Religion und der Staat bildeten im Islam historisch eine unzertrennliche Einheit. Der Islam ist seinem Wesen nach politisch, und die letztliche Festlegung des Inhalts des Dogmas und der Glaubenspflichten erfolgte, nachdem die politische Aktivität und die Organisation der Herrschaft bereits zur zentralen Angelegenheit des entstehenden Islam geworden waren. Im Islam erscheint Gott den Menschen als deutlicher Koran. Der Koran verkündet strengen Eingottglauben und göttliches Gesetz. Dieses Gesetz erfordert die Schaffung der Gemeinschaft der Muslime – der Umma – und des Staats des Islam. Dieser Staat wird von Gott beherrscht und lässt sich vor allem anderen von seinem koranischen Gesetz leiten, was bedeutet, dass die Verbindung des Menschen mit Gott und der Natur zum Übernatürlichen, die in der Prophetie und dem Handeln des Gesandten fast direkt gewesen war, nun indirekt und vermittelt wurde. Sie wird auf dem Feld der Politik und der Anwendung des Gesetzes in der Welt festgelegt. Einer realen Einrichtung in der Welt, einer bestimmten Ordnung des menschlichen Zusammenlebens und Verkehrs muss göttliche Qualität beigelegt werden, sie muss also als Befolgung des göttlichen Gesetzes beschrieben werden. Nicht die unmittelbare Beziehung zwischen dem Menschen und Gott ist das grundlegende Moment im islamischen Bewusstsein, sondern die Aufrichtung der natürlichen irdisch-göttlichen Ordnung. Die Welt bestimmt über das Schicksal des Himmels, und die reale menschliche Aktivität, die auf die Errichtung der göttlichen Ordnung auf der Erde und die Anerkennung der Rolle des Menschen dabei zielt, erhält eine religiöse Bedeutung und dringt ins Innerste des islamischen religiösen Bewusstseins ein. Im Erbe des frühen Islam finden wir zwar Hinweise darauf, dass Gott unser jenseitiges Schicksal bestimmt, doch der wahrhaftige, detaillierte, bedeutsame Inhalt der gesamten Tätigkeit des frühen Islam und seine eigentliche Mission bekräftigen, dass bei der Entscheidung über das Schicksal und das Heil der Gläubigen ihre reale politische Aktivität der entscheidende Faktor ist. In diesem Punkt unterscheidet sich der Islam völlig vom Christentum. Nietzsche zeigt, dass das Christentum nur als sehr spezielle, mit der Politik unvereinbare Existenzweise möglich ist und dass es zwingend eine nicht politische Gesellschaft erfordert. Der christliche Staat ist eine Lüge und ein Skandal, im Gegensatz zum Islam, der „ja“ zum Leben sagt und dessen Grundlegung starker Männer bedurfte, die seinen großartigen Staat und seine großartige Kultur aufbauten. Zweifellos spielte das Verhältnis der Religion zur Politik auch für die Festlegung der Beziehung des Islam zum geistigen Erbe und für seinen besonderen Beitrag zum religiösen Leben der gesamten Menschheit eine große Rolle. Viele Forscher neigen zu der Auffassung, dass der Islam eine Fortsetzung der orientalisch-christlichen Häresien war und dass er sich wie diese Häresien in seiner Ablehnung der Trinität und der Kreuzigung sowie seiner These vom himmlischen
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Buch (Mutter des Buchs)¹⁹ usw. beim gnostisch-hellenistischen Denken bediente. Und das ist bis zu einem gewissen Grad richtig. Allerdings müssen wir angesichts des Geistes des Islam und seines tatsächlichen Schicksals auch den Gegensatz zwischen diesen Häresien, ihrem Zerfall, ihrer gegenseitigen Exkommunikation und ihrem Misserfolg einerseits und dem Islam, seinem Zusammenhalt und seinem historischen-politischen Siegeszug andererseits betonen. Mit diesem politischen Sieg erwarb der Islam eine enorme Kraft bei der Ablehnung des geistigen Erbes. Das zeigt sich nicht nur in dem völligen Bruch mit dem arabischen vitalistisch-primitiven, materialistischen Heidentum, sondern auch in der Ablehnung der verschiedenen Formen des orientalischen religiösen Bewusstseins und der Vermittlungen, die es zwischen Gott und dem Menschen etabliert hatte. Die Erlösung vollzieht sich im Islam nicht durch die Absehung vom Zeitlichen und die Betonung der unpersönlichen Ewigkeit, wie es die spätere Philosophie getan hatte, und auch nicht durch den naiven Glauben, den passiven Empfang der göttlichen Gnade und das Stellen der Zeit unter den Vorbehalt der Ewigkeit, wie es das Christentum tat, oder durch die Betonung der lauteren spirituellen Bemühung des Menschen wie bei manchen gnostischen Strömungen. Der Islam besteht auf der menschlichen Anstrengung und dem menschlichen Anspruch, aber er lehnt es ab, der rein geistigen Anstrengung einen besonderen Wert zuzusprechen. Er betrachtet und behandelt den Menschen als eine Einheit, gibt ihm einen wichtigen menschlichen Wesenszug zurück und macht die reale menschliche Anstrengung, die sich auf die Welt und die Herbeiführung und den Schutz der irdisch-göttlichen Ordnung richtet, zum Ideal. In diesem Punkt überwindet der Islam den Niedergang der antiken Welt und das Elend des Christentums und bringt eine altverwurzelte menschliche orientalische Haltung zurück, die der Krise der Heilsreligionen voraufging. Das Individuum, das eingeschlossen ist in seinen Sünden, seinen geheimen Gedanken und seiner drückenden Einsamkeit, nach Errettung dürstend, mit Unruhe, Verzweiflung und einem Rest von Hoffnung, schwankend zwischen seiner endlichen, irdischen, menschlichen Existenz und dem absoluten, himmlischen, göttlichen Willen – dieses Individuum hat im frühen Islam keinen Platz. Was den Islam auszeichnet, ist nicht die tragische religiöse Situation, die den Menschen in beängstigende Erfahrungen und Optionen und innere Zerrissenheit zwingt, sondern die Zuversicht des Menschen, dass er einen Anspruch auf Glück und auf Rettung in dieser und in jener Welt hat, sowie das Vertrauen, dass er sie auch erlangen kann. Mit der Ablehnung des Dualismus, der zwischen der inneren und der äußeren Welt
Die „Mutter des Buchs“ ist nach islamischer Auffassung die im Himmel verwahrte Urschrift mehrerer Offenbarungsschriften, darunter des Koran (A. d. Ü.).
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trennt, erwirbt der gläubige Muslim ein Maß an Harmonie mit der Welt, das ihm eine realistische Möglichkeit gibt, sein irdisches Leben rational und zielgerichtet zu gestalten. Wenn der Gläubige im Rahmen der auf Brüderlichkeit beruhenden Gemeinschaft praktisch die Angelegenheiten der Welt betreibt und dabei nicht dem göttlichen Gesetz zuwiderhandelt, entscheidet er damit gleichzeitig über sein jenseitiges Schicksal. Dieser weite Raum, den der Islam für die praktisch-irdische Betätigung lässt, weiter sein politischer Charakter und seine verhältnismäßige Rationalität, haben ihn von der Idee der Erlösung in ihrer christlichen Formulierung entfernt, die zur negativen Haltung des Menschen, seinem Gehorsam und zu seiner persönlichen, besonderen Beziehung zu Gott aufruft. Die enge Verbindung von Bewusstsein und weltlich-politischer Lebenskraft fand ihre Rechtfertigung in der Unterscheidung, die man seit dem frühen Islam zwischen den festen, unveränderlichen Prinzipien und den sich mit der Erneuerung des Lebens ändernden Regeln machte. Der Gesandte, der die Offenbarung empfing, wurde einerseits damit beauftragt, koranische Vorschriften und Lehren durchzusetzen, und andererseits sollte er sich realen, genau bestimmten Aufgaben und Forderungen stellen. Er war gleichzeitig der Gesandte Gottes und der Führer der Gemeinschaft. So kommt es, dass die offenbarte Wahrheit mit den zufälligen, veränderlichen Ereignissen des Lebens zusammenhängt und in engem Kontakt mit ihnen ist. Dieser Umstand droht aber wegen der fortgesetzten Veränderung der Umstände das feste religiöse Prinzip zu zerstören. Daher die besondere Bedeutung des Problems der Beziehung zwischen dem Festen und dem Veränderlichen seit dem frühen Islam. Die zentrale Bedeutung des politischen Moments, das Erwachen der suchenden, genau forschenden Vernunft, die Erweiterung des islamischen Territoriums und die Notwendigkeit der Anpassung an die Verhältnisse des Lebens – alles das verstärkte die Tendenz zur Unterscheidung zwischen den allgemeinen Prinzipien und den besonderen, präzisen Regelungen und zur genauen Definition des Verhältnisses zwischen ihnen. Im frühen Islam gab es Lösungen für dieses Problem: Der ehrwürdige Koran ist Teil des himmlischen Buchs (der Mutter des Buchs), der Quelle aller himmlischen Bücher. Genauer gesagt setzt er sich aus eindeutigen Versen, die die Mutter des Buchs bilden, und unklaren Versen zusammen.²⁰ Die Betrachtung der Beziehung des ehrwürdigen Koran zur Mutter des Buchs, des Eindeutigen zum Unklaren, des Abrogierenden zum Abrogierten stellte die Muslime von Anfang an vor die Notwendigkeit, nach der tieferen Bedeutung der Glaubensinhalte zu su-
Hier folgt Ballouz der Praxis vieler muslimischer Koranexegeten, die den Text des Koran in eindeutige (āyāt muḥkama) und mehrdeutige oder unklare Verse (āyāt mutašābiha) aufteilen und die letzteren als interpretationsbedürftig behandeln (A. d. Ü.).
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chen, und führte zur Rechtfertigung der rationalen Interpretation. Dies trug zur Entstehung einer Denkmethode bei, die auf einer besonderen Festlegung der Beziehung des Wissens zum Glauben beruht. Später unterschieden sich die Muslime in der genauen Bezeichnung der eindeutigen und der unklaren Verse voneinander, und das war der Ursprung großer Vielfalt und Widersprüchlichkeit im Verständnis und der Kommentierung des Glaubens sowie die Grundlage für die späteren Erneuerungsversuche. Das Eindeutige war bei manchen das, „dessen Hinweise klar und augenscheinlich sind“, und bei anderen die vier Verse der Iḫlāṣ-Sure²¹ („Sag: Er ist Gott, ein Einziger, Gott, der Ewige. Er hat weder gezeugt, noch ist er gezeugt worden. Und keiner ist ihm ebenbürtig“).²² Es ist klar, dass diese Richtung das Eindeutige auf wenige einfache, allgemeine Bestimmungen beschränkt, die mit den Ereignissen und Angelegenheiten einer bestimmten Zeit nichts zu tun haben. Diese Verse legen den strengen Eingottglauben fest und sonst nichts. Die Muʿtazila²³ hält das, was auf das Fernhalten Gottes von menschlichen Attributen und seine Gerechtigkeit hinweist, für eindeutig, und die Dschabariten²⁴ tun das Gegenteil. Obwohl viele der früheren Imame sich nicht mit der Bedeutung der unklaren Verse beschäftigt und das Wissen über sie Gott überlassen haben, sind sie doch niemals in ihrer wörtlichen Bedeutung akzeptiert worden. Schnell gewannen diejenigen die Oberhand, die sich auf die Interpretation des Glaubensinhalts orientierten und bei rationalen Belegen und dem Licht des klaren Beweises Hilfe suchten. Die Interpretation des Unklaren gleicht dem Übergang von der irdischen, veränderlichen Situation zur feststehenden, ewigen Wahrheit, vom Besonderen zum Allgemeinen, von der Unklarheit zur Mutter des Buchs, vom Glauben zur Vernunft. In diesem Licht können wir verstehen, dass manche so weit gegangen sind zu behaupten, dass das Eindeutige das ist, was sich selbst bei Änderung der Gesetze nicht ändert, und dass wir nach der Herstellung einer Verbindung zwischen der Mutter des Buchs und der Vernunft streben und diese als Zeugen gegen das Dogma akzeptieren. Seit dem Beginn des Islam gab es die Anfänge einer deutlichen Unterscheidung zwischen den festen, allgemeinen Grundlagen des Islam und den ephemeren Vorschriften, die sich mit der Änderung der Zeit und des Orts wandeln. Die politische und geistige Atmosphäre, die seinerzeit herrschte, begünstigte in den
Die 112. Sure des Koran (A. d. Ü.). Koran 112, 1– 4. Für den deutschen Wortlaut von Koranstellen stütze ich mich hier wie an anderen Stellen auf die Übersetzung von Paret: Der Koran. Übersetzung von Rudi Paret, Stuttgart: Kohlhammer 1979, ändere aber gelegentlich leicht (A. d. Ü.). Theologische Schule, begründete die spekulative Dogmatik im Islam (A. d. Ü.). Ar. Muǧbira oder Ǧabariyya, theologische Richtung, welche die menschliche Willensfreiheit leugnet (A. d. Ü.).
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meisten Fällen die rationale Betrachtung der Glaubensdinge. Doch zugleich förderte sie die Etablierung einer endgültigen Trennung zwischen der koranischen Offenbarung und den menschlichen Vorschriften und Regelungen sowie zwischen dem Heiligen und dem nicht Heiligen nicht, und das Prophetenwort „Die Meinungsverschiedenheit ist eine Gnade für meine Gemeinde“ führt in letzter Instanz zur Pluralität der Quellen des Rechts und der Wahrheit und zur Akzeptierung nichtreligiöser Grundlagen der Scharia und deren Veränderbarkeit. Die vernünftige Unterscheidung zwischen der allgemeinen, festen Grundlage und der besonderen, veränderlichen Regelung fällt hier letzten Endes zusammen mit der Unterscheidung zwischen der Vernunft und der historisch festgeschriebenen Offenbarung. Darum war das Problem der Beziehung des Allgemeinen zum Besonderen von Anfang an mit dem der Beziehung des Wissens zum Glauben verknüpft. Und wenn sich die allgemeinen, festen Prinzipien im Dogma auf wenige einfache Vorschriften beschränken, heißt das, dass die anderen Bestandteile des Dogmas ihrem Wesen nach keinen klaren, deutlichen und endgültigen Inhalt in sich tragen. Dies heißt aber auch, dass die allgemeinen, festen Prinzipien bereichert werden, weil sie bestimmt und spezifiziert werden durch Gedanken, welche die Kommentatoren, Leser und anderen Männer der Wissenschaft, der Mission und der Neuerung usw. in sie hineintragen. Es wird also klar, dass das Dogma seinen Sinn aus dem bezieht, was ihm jeweils hinzugefügt wird, aus einer angemessenen rationalen Verdeutlichung. Das nennt man den formalen Charakter des Dogmas, also seinen Mangel an Inhalten, die ihm äußerlich sind und es verdeutlichen, auszeichnen und rechtfertigen (so wie das bloße Wort einer Bedeutung ermangelt, die ihm von außen kommen muss). Es ist seinem Wesen nach eine Form ohne Inhalt. Diese Form ist nicht inhaltlich ausgefüllt. Sie ist vielmehr gleichbedeutend mit den festen islamischen Prinzipien in ihrer Allgemeinheit und Einfachheit. Das heißt auch, dass man nicht seine Meinung zu den Dingen zurückhalten sollte, zu denen es keinen Offenbarungstext gibt, und daraus folgt, dass diese Prinzipien vernünftig und an Absichten, Grundlagen und Werte gebunden sind, die in der Reichweite der menschlichen Vernunft liegen. Der formale Charakter des Dogmas spiegelt eine Beziehung zwischen dem metaphysischen Bewusstsein und dem Inhalt der religiösen Ideologie wider. Diese Beziehung lässt zwar die Kontrolle der metaphysischen Verbindung über den Inhalt der religiösen Ideologie nicht erkennen, weist aber auf die Möglichkeit hin, die sakrale Bindung an das Übernatürliche in die Sprache der menschlichen Verhältnisse zu übersetzen.
Kapitel 5 Die Struktur der Gesellschaft des Kalifats und die Hauptrichtung ihres ideologischen Lebens Die Grundposition, die das frühislamische religiöse Bewusstsein in seiner ersten Gestalt dominierte, wurde angenommen, nachdem der Islam in der weiten Welt des Kalifats eine voll ausgearbeitete, siegreiche religiöse Ideologie geworden war und eine wohldefinierte, reife Form angenommen hatte, auf deren wichtigste Inhalte und grundlegende Entwicklungsrichtung ich im letzten Kapitel kurz hingewiesen habe. Die beste Methode, die distinktiven Merkmale der Gesellschaft des Kalifats und die Besonderheiten der islamischen Ideologie in ihrer vollendeten Gestalt zu erfassen, ist ein Vergleich zwischen der Welt der mittelalterlichen Kirche und der weiten Welt des Kalifats, zwischen Christentum und Islam im Mittelalter, unter Absehung von den Veränderungen, die das Christentum in der Moderne erfahren hat. Die dominante Produktionsweise im Orient und im Okzident beruhte in erster Linie auf der Ausbeutung des wichtigsten unmittelbaren Produzenten, der auf Boden arbeitete, der ihm nicht gehörte – und der Boden war seinerzeit das wichtigste Produktionsmittel. Der Besitzer des Bodens teilte sich mit den Bauern, die auf ihm arbeiteten, das Mehrprodukt auf, sei es in Form von Arbeitsleistung, Sachwerten oder Geld. Diese Teilhaberschaft nennen wir das feudalistische Ausbeutungsverhältnis. Im Mittelalter drehte sich der hauptsächliche soziale Kampf um die Art und Weise der Aufteilung dieses Mehrprodukts und um die Befreiung von der sozialen Abhängigkeit. Unter jenen Bedingungen war die Religion im Allgemeinen die herrschende Ideologie, die sich für die Rechtfertigung der genannten Verhältnisse eignete. Zweifellos gibt es große Unterschiede zwischen der Sozialordnung im Westen und der in der Welt des Kalifats, die einen sehr großen wirtschaftlich-geographischen Raum umfasste und die im Mittelalter einen hohen Grad städtischer Wirtschaftsblüte verzeichnete. Dennoch sehe ich bisher keinen Grund, der Sozialordnung in der Welt des Kalifats die feudalistische Eigenschaft abzusprechen – trotz des Lärms, den man um die asiatische Produktionsweise macht. Das feudalistische Ausbeutungsverhältnis, das darauf beruht, dass der Besitzer den Bauern den Großteil des Mehrprodukts in einer Form der Abgabenpflicht wegnimmt, herrschte im Osten wie im Westen, wenn auch die Ausbeutungsbeziehung – ein wesentlicher Punkt – zwischen Klassen bestand und der Feudalismus in der Welt des Kalifats besondere orientalisch-asiatische Züge hatte wie die Macht des politischen Zentralismus, die Lebenskraft der
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städtischen Ökonomie und anderes, was wir im Folgenden noch behandeln werden. Die Behauptung, die Besonderheiten der orientalischen Gesellschaft hätten während der ganzen Geschichte die Macht der Religion gestärkt, bedarf der genauen Untersuchung. Es wäre wohl angemessener, das Geheimnis der Macht der religiösen Institution im europäischen Mittelalter zu erkunden. Das möchte ich jetzt kurz tun, um den Islam besser kennenzulernen. Einige der wichtigsten Ursachen für die starke Hegemonie von Religion und Kirche im Europa des Mittelalters waren der Zerfall der Beziehungen zwischen den lokalen Produktionseinheiten, die Konfusion des sozialen Bewusstseins bei den Feudalherren und das Bedürfnis nach Informations- und Kommunikationsmedien und Instrumenten der ideologischen Kontrolle in einer Welt, die das gedruckte Buch und die Presse nicht kannte. Auch das Fehlen des politischen Zentralismus, der Rückgang des Warenaustauschs und der Niedergang des städtischen Lebens spielten eine Rolle. Unter diesen Umständen konnte die Religion ein unverzichtbares Mittel zur Sicherung der kulturellen und geistigen Einheit der Gesellschaft, zur Schaffung der Voraussetzungen für die Kommunikation unter den Einzelnen, zur Orientierung ihres Verhaltens und zur Absegnung der Grundlagen der bestehenden sozialen Verhältnisse werden. Die Männer der Religion, die Priester, stellten auf der Basis der einfachen, stabilen religiösen Vorstellungen und des daraus sich ergebenden einheitlichen geistigen Bandes eine vollständige religiöse Ideologie für den Feudalismus bereit und verbargen gleichzeitig deren Träger, Beschützer und Verbreiter. Das starre, feste System der Glaubensüberzeugungen mit dem Segen der Kirche war sehr nützlich, denn es erleichterte die Verbreitung der Ideologie der herrschenden Klasse und machte sie widerstandsfähig und stabil gegenüber plötzlich eintretenden Wechselfällen und Umschwüngen. Zweifellos gibt der sakrosankte, himmlische Charakter der Religion ihr eine große Wirkungskraft auf die unterdrückten und elenden Klassen der Gesellschaft, was die Priester in die Lage versetzte, ihre Normen und Werte abzusegnen und das Bild der sozialen Harmonie zu bewahren. Allerdings braucht eine Ideologie irrationale religiöse Glaubensprinzipien, um Akzeptanz, Verbreitung, Kontinuität und Umfassendheit zu finden. Bei der kleinsten durch die neuen Bewegungskräfte bewirkten Erschütterung der feudalen Sozialordnung regten sich in dieser Ideologie die Keime des Zweifels und des inneren Zerfalls. Daher die Bemühung der Kirche, dem offiziellen religiösen Wissen im Mittelalter, also der Scholastik, die auf der religiöstheologisch-kirchlichen Weltsicht beruhte, Stabilität, Alleinstellung und vollständige Hegemonie zu verleihen. Jeder, der die Richtigkeit und Heiligkeit der offiziellen religiösen Ideologie oder des offiziellen religiösen Dogmas bezweifelte, wurde als Ketzer angesehen und setzte sich der Verfolgung bis hin zum Tod aus. Die Inquisitionsgerichte sind Symbol für den schreckenerregenden Apparat, der
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die feudalistische Ideologie vor den Naturwissenschaftlern, Häretikern und Aufrührern schützte, die inoffizielle oder nicht kirchliche Glaubensprinzipien propagierten, sowie vor all denen, die von der herrschenden Ideologie abwichen und von dem entstehenden bürgerlichen Bewusstsein beeinflusst waren, das am Ende des Mittelalters hervorzutreten begann. Hauptaspekte der feudalistischen religiösen Ideologie waren die Bevorzugung des Glaubens gegenüber dem Wissen und dem wissenschaftlichen Verständnis des Sozialen, ja die Unterwerfung der ganzen Wissenswelt unter den Glauben unter dem Motto der Einheit von Wissen und Glauben. Dennoch herrschte die offizielle religiöse Ideologie nicht unumschränkt. Denn die Opposition, welche die unterdrückten Klassen im Mittelalter äußerten, war, anders als die der Sklaven in der Antike, in der Lage, Veränderungen in den Strukturen der herrschenden Ideologie zu bewirken und eine besondere oppositionelle und unabhängige Ideologie zu schaffen, auf die sie sich bei ihrem revolutionären Kampf stützten. Wenn die revolutionäre oppositionelle Ideologie wie die offizielle feudalistisch-kirchliche einen religiösen Charakter annahm, deutet das darauf hin, dass die Religion im Allgemeinen mit der offiziellen christlichen Ideologie, in der das metaphysische Bewusstsein die dominante Rolle spielte, nicht eins war. Der wichtigste Gedanke, an dem die Kirche und die offizielle religiös-feudalistische Ideologie festhielten, war der der Unterordnung des Wissens unter den Glauben. Am deutlichsten wurde der Zusammenhang dieses Gedankens mit der feudalen Struktur in der religiösen Sicht auf die Geschichte. Seit dem fünften Jahrhundert stellte man diesen Gedanken in den Dienst der unmittelbaren Verteidigung des christlichen Dogmas, das sich während des Mittelalters zur offiziellen Ideologie entwickelte. Der heilige Augustinus (354– 430) gilt mit seinem Buch „Der Gottesstaat“ als Begründer der religiösen Geschichtsphilosophie. Die augustinische Sicht der Geschichte blieb das unverrückbare Vorbild des Geschichtsverständnisses im Mittelalter – trotz aller Veränderungen, die ihr widerfuhren. In dieser Sicht erscheint die Weltgeschichte als Prozess der allmählichen, kontinuierlichen Annäherung der irdischen, weltlichen Staaten an die Gesetze und Strukturen des Gottesstaats, nach dem der Mensch als Ideal und tugendhaftere Gesellschaft streben soll. Augustinus meint, dass das Reich Gottes und das Reich der Welt, die am Beginn der Geschichte voneinander entfernt waren, sich einander annähern, bis am Ende der Geschichte die Einheit der Religion und der weltlichen Autorität erreicht ist, womit das Ziel des Lebens und der Sinn der Geschichte verwirklicht sind. Die Sozialordnung erhielt so im Mittelalter nicht nur religiöse Würde und Weihe, sondern auch historische Würdigung und Rechtfertigung. Denn so wurden die Welt und das irdische Leben zu einem sozialen, religiösen Weg, der auf ein von der göttlichen Vorsehung vorgesehenes Ziel hinführte, nämlich die Erlangung des Heils und die Annäherung an Gott. Mit einem
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Wort, die menschliche Geschichte, wie sehr sie auch Unheil und Qualen mit sich bringt, ist die Geschichte des Heils und der himmlischen Glückseligkeit. Um nun die islamische Gesellschaft zu verstehen, müssen wir bei dem verweilen, worin sie sich von der europäischen Gesellschaft im Mittelalter unterscheidet. Wir haben viel von den Elementen geredet, die dem islamischen Osten und dem christlichen Westen gemeinsam waren, aber der forschende Blick entdeckt doch auch grundlegende Unterschiede zwischen ihnen. In beiden Fällen handelt es sich um die Hegemonie der religiösen Ideologie in einer Welt, in der agrarische Produktionsverhältnisse und Feudalstruktur herrschen, und dennoch haben die Feudalstruktur und die religiöse Ideologie im Orient besondere Züge, die sie stark von der Situation im christlichen Westen unterscheiden. Die arabisch-islamische Zivilisation war das Ergebnis der Verschmelzung des religiösen Gedankens mit dem Willen zur Gründung eines politischen, zentralistischen, einheitlichen Staats. Hier bildeten die gemeinsame, sich immer weiter verbreitende arabische Sprache, der religiöse Glaube, der nach den Eroberungen zur Expansion trieb, und das gemeinsame orientalische Kulturerbe, gepaart mit dem politischen Zentralismus, starke Bande, welche die Einheit der Gesellschaft des Kalifats und ihre zivilisatorische Entwicklung garantierten und ihren Zerfall verhinderten – anders als im Europa des Mittelalters. Die Araber betrieben die Übernahme der Wissenschaften und der Kultur der Antike und der anderen Völker auf eine Weise, die geistige Offenheit und große religiöse Toleranz offenbarte, sie machten sich an die Entwicklung und Bereicherung dessen, was sie entlehnt hatten, und erzielten auch wissenschaftliche und zivilisatorische Innovationen. Die arabisch-islamische Zivilisation kannte eine fruchtbare geistige, kulturelle und religiöse Pluralität, die es im Mittelalter in Europa nicht gab. Die islamische Gemeinschaft, die zu Beginn ein Bündnis unter den arabischen Stämmen war, verwandelte sich in eine soziale Basis für die Gründung einer theokratischen Herrschaft, welche die Befolgung des göttlichen islamischen Gesetzes und den Aufruf zum Dschihad, zur Frömmigkeit, zur sozialen Solidarität und zum Arbeitseifer verkündete. Allerdings waren die in der Epoche der Herrschaft von Medina auf der Arabischen Halbinsel dominanten Elemente nicht dieselben wie die, die dann später die ausgedehnte Welt des Kalifats beherrschten. Der Islam enthielt zu Beginn eine soziale Kritik an der starken Bereicherung der Vermögenden, am Betrug, an der Schandtat und am verbotenen Gewinn. Er verbot den Wucher und das Monopol, ermutigte aber den Handel unter der Bedingung, dass Erwerb mit Arbeit oder Initiative verbunden war. Aber er akzeptierte die Aufteilung der Menschen in Ränge, Schichten und verschiedene soziale Klassen und dekretierte das Erbrecht für Männer und Frauen. Es ist auch wichtig, dass er das Prinzip des Privateigentums bestätigte und absegnete, im Gegenzug
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Pflichten des Reichen gegenüber dem Armen (die zakāt)²⁵ etablierte und zu Wohltätigkeit und Güte gegenüber dem Elenden und Bedürftigen sowie zur Sorge für die Armen aufrief, um die Auswirkungen der sozialen und ökonomischen Ungleichheit abzuschwächen. Er schaffte die Sklaverei nicht ab, forderte aber zur Güte bei der Behandlung von Sklaven auf und rief zu ihrer Freilassung auf, wenn man sich Gott annähern wollte. Trotz dieser besonderen Züge war nach der Gründung des omaijadischen Staats die Akzeptierung der Fronarbeit, der Feudalabgaben, des Pflichtanteils (beim Erbe) und der Übergabe des Löwenanteils an der Beute aus den Eroberungen einschließlich des Erwerbs von Sklaven an den arabischen Adel ein wichtiger Faktor bei der Durchsetzung der orientalischen Feudalstruktur, die immer noch einige Züge davon bewahrte, was man asiatische Produktionsweise nennt. Mit der Festigung der Zentralautorität des Kalifats erlebte die Ökonomie der Stadt eine bemerkenswerte Blüte und die Steigerung der Rolle der Stadt im religiösen, kulturellen, ideologischen, administrativen und technischen Leben. Die wichtigsten Besonderheiten der ökonomisch-politischen Entwicklung können folgendermaßen gefasst werden: Das wichtigste Merkmal der ökonomischen Verhältnisse zu Beginn waren die Ausweitung des Bodeneigentums des Staats (des Kalifen) und die schwache Entwicklung des Privateigentums. Allerdings verlor der Staat allmählich seine faktische Kontrolle, die Rolle der zivilen und militärischen Funktionsträger, der lokalen Feudalherren und großen Finanzleute wurde gestärkt und alle diese Gruppen bildeten eine große herrschende Schicht, in der die feudalistischen Züge überwogen, denn die stärkste soziale Gruppe waren die Großgrundbesitzer. Für lange Zeit fielen die Feudalabgaben und die Steuern, die alle in die Staatskasse wanderten, zusammen, also war der Kalif so etwas wie der größte Feudalherr. Aber allmählich trat zwischen den Feudalabgaben und der Steuer ein Unterschied hervor, und zwar nachdem der faktische Besitz des Bodens auf die dominante feudale Schicht übergegangen war und sie immer mehr allein die Feudalabgaben einstrich oder deren Löwenanteil einheimste. Neben der dominanten Feudalschicht, die meist in der Stadt lebte, gab es mittlere städtische Schichten – reiche Händler und Handwerker, kleine Grundeigentümer, Religionsgelehrte und Militärs. Sie spielten manchmal eine entscheidende Rolle im allgemeinen politischen, kulturellen, religiösen und ideologischen Leben. Die Mehrheit der Bevölkerung waren aber die Bauern, die weit draußen unter der Last der Steuern und der verschiedenen Formen der feudalen
Die zakāt ist die vom islamischen Recht festgelegte Abgabe auf das Vermögen bzw. die Einkünfte von Muslimen; das Wort wird oft als „Almosensteuer“ übersetzt (A. d. Ü.).
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Abgaben und Gewinne lebten. Neben den Bauern gab es die Lohnarbeiter in den Bergwerken, im Handel, im Handwerk und in den Dienstleistungsberufen. Die Dhimmis,²⁶ die offiziell auf der untersten sozialen Stufe der freien Bevölkerung hätten stehen sollen, konnten sich über ihr Vermögen, über die Konversion zum Islam und ihre Transformation zu mawālī ²⁷ in die verschiedenen Schichten der Gesellschaft eingliedern. Die Aneignung des Mehrprodukts geschah auf verschiedene Weise, z. B. folgendermaßen: a) Der Zehnte, den im Prinzip der Muslim dem Staat als zakāt auf das Vermögen oder die verschiedenen Einkünfte zahlte, ob das nun Feudalgewinne oder andere Einkünfte waren. b) Der Kharadsch²⁸, den die Bauern zahlten, denen der Staat Boden als Besitz übereignet hatte und die sich ihm gegenüber als Teilhaber an seinem Eigentum verhielten. Der Kharadsch, der rechtlich als Steuer angesehen wurde, wurde meist in Form einer Naturalabgabe (vom Produkt) gezahlt. Der Prozentsatz des Kharadsch am Einkommen steigerte sich enorm mit dem Ansteigen der Ausgaben des Staats und der Feudalherren, so dass er auf bis zu zwei Drittel anstieg oder in bestimmten Fällen sogar sechs Siebtel des Ertrags erreichte, was die Bauern unter das Joch drückender Schulden zwang, worauf sie wie Sklaven an den Boden gebunden waren. Diese hohen Raten des Kharadsch erklären die Umwandlung der Kharadsch-Ländereien in faktisches Besitztum der Feudalherren und den Umstand, dass der Feudalherr den nicht landbesitzenden Bauern neben dem Boden auch noch Saatgut, Vieh und Arbeitsinstrumente zur Verfügung stellte. Jedes Mal, wenn KharadschLändereien in faktisches Besitztum der Feudalherren umgewandelt wurden, erhöhte sich die Rate des Kharadsch kontinuierlich. Die feudalen Grundeigentümer, die nun in der einen oder anderen Weise über den Boden verfügten, strichen den Kharadsch von den Bauern ein, zahlten den Zehnten an den Staat und behielten die Differenz zwischen Kharadsch und Zehntem für sich. Diese Art der orientalischen Teilhaberschaft oder der „Teil-
Ar. ḏimmiyyūn, nichtmuslimische „Buchbesitzer“, d. h. Christen, Juden oder Zoroastrier. Sie hatten in vormodernen islamischen Staaten einen minderen, aber geschützten Status (A. d. Ü.). In der frühislamischen Zeit die nichtarabischen Muslime (A. d. Ü.). Ar. ḫarāǧ, die Grundsteuer auf landwirtschaftlichen Boden, die nach der islamischen Eroberung im Grundsatz nur mehr von Nichtmuslimen erhoben wurde (die Muslime unterlagen dem Zehnten, der niedriger war als der ḫarāǧ).Von diesem Grundsatz kam man aber sehr bald ab, weil er die Einkünfte des Staats stark schmälerte (A. d. Ü.).
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pachtvertrag“²⁹ war einer der Gründe für die Stagnation der Landwirtschaft und der festen Einpflanzung der feudalen Sozialstruktur in der Welt des Kalifats. a) Die Dschizya³⁰ war die Personensteuer, welche die Dhimmis zahlten. b) Die Fronarbeit, welche die Leibeigenen und die in Abhängigkeit Lebenden dem Staat und den Feudalherren bei öffentlichen Bauprojekten leisteten (Kanäle, Brücken, Straßen usw.). Was auch immer die konkreten Formen der Einstreichung des Mehrprodukts waren, abgesehen von den allgemeinen Formen, die oben definiert wurden: Dieses ökonomische System stand hinter der politischen Krise und dem Auseinanderfallen des Zentralstaats. In der ersten Phase erlebte das Kalifat eine allgemeine Blüte und eine umfassende zivilisatorische Entwicklung. Die Einnahmen des Staats (oder des Kalifen) nahmen enorm zu, und so auch die Ausgaben des Staats oder des Kalifen. Aber mit der Ausweitung des faktischen individuellen Bodenbesitzes in der einen oder anderen Form gingen die Einkünfte des Staats oder des Kalifen zurück (in nur einem halben Jahrhundert halbierten sich die Einkünfte des Staats) während die Ausgaben weiterhin anstiegen, was zur Schwäche des zentralistischen Kalifats führte und es zur Last für die islamischen Regionen machte. Mit der Vergrößerung der Kluft zwischen den sinkenden Einnahmen des Zentrums und seinen steigenden Ausgaben verstärkten sich die Autorität der Feudalherren und die Entwicklung der Feudalbeziehungen. Alle diese Dinge führten zum Zerfall des Kalifats und zur realen Unabhängigkeit der Provinzen, wobei der symbolische religiöse Status des Kalifen in Bagdad (und später in Kairo) bewahrt wurde. Wir haben von der Entwicklung der Feudalbeziehungen auf dem Gebiet der Landwirtschaft gesprochen. Weiter unten werden wir auf die Stadtwirtschaft und auf die Produktionsweise des einfachen Warenaustauschs eingehen, die im Kalifat ein hohes Niveau erreichte. Allerdings wollen wir hier zunächst bei der Rolle der Städte und der bäuerlichen Kämpfe im ideologischen, kulturellen und politischen Leben verweilen. Die Blüte der islamischen Städte vor und nach der faktischen Unabhängigkeit vom Zentrum des Kalifats in Bagdad, die Entwicklung der handwerklichen, kommerziellen, administrativen und religiösen Aktivität, die Kämpfe der Bauern und der mit der Stadtwirtschaft verbundenen Schichten gegen den feudalistischen Zerfall und die Härte der Unterdrückung und Ausbeutung – alles das spielte Ar. muzāraʿa, eine im Nahen Osten verbreitete Form der Teilpacht, bei welcher der Grundherr Land, Saatgut, Vieh und Geräte und der Pächter seine Arbeitskraft beisteuerte (A. d. Ü.). Ar. ǧizya, im islamischen Recht vorgesehene Kopfsteuer auf nichtmuslimische „Schriftbesitzer“ im islamischen Staat (A. d. Ü.).
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eine große Rolle bei der Verhinderung des Wachstums einer hierarchisch strukturierten, offiziellen, völlig dominanten religiösen Organisation, die allein sich selbst die Herstellung der Verbindung zwischen dem Menschen und seinem Schöpfer vorbehalten und ein offizielles, starres Dogma formuliert hätte, das ihr alle Felder der geistigen Tätigkeit (Rechtsgelehrsamkeit, Theologie, Literatur, Geschichte, Philosophie, Wissenschaft usw.) unterworfen und das Wissen zum Diener des Glaubens in ihrer offiziellen Interpretation gemacht hätte, wie es die Kirche in Europa getan hatte. Alles das legte den Grund für eine Entwicklung des geistigen Lebens, die nicht den religiösen, glaubensmäßigen, einmal beschlossenen Festlegungen unterworfen war und sich nicht in den Dienst der bestehenden Institutionen (Staat, Feudalismus usw.) stellte. Das führte dazu, dass auf der Ebene des kulturellen, ideologischen und wissenschaftlichen Lebens günstigere Bedingungen für aufgeklärte geistige Unabhängigkeit herrschten als in Europa, obwohl auch in der Welt des Kalifats eine nicht zu vernachlässigende Dominanz der religiösen Ideologie bestand. Ohne Zweifel nahm die Opposition der unterdrückten und feudaler Zerstreuung und Stagnation gegenüber feindlich gesinnten Schichten, besonders der Händler und Handwerker, auf der ideologischen Ebene einen religiösen, islamischen Charakter an, ja die religiöse und gelehrte Tätigkeit blieb für Jahrhunderte ein Ergebnis des Stadtlebens und seiner Blüte. Sie konnte für sehr lange Zeit die Absegnung jeder Formulierung des Rechts und des Dogmas, die ihren Interessen widersprach, aufhalten, was dazu beitrug, das Feld für den rationalen, freien Blick weit zu öffnen – bei der Interpretation des Dogmas, bei der Ermutigung des wissenschaftlichen Denkens auf den Gebieten der Natur, der Gesellschaft und der Geschichte, und ebenso bei der Neuerwägung der weltlich-naturphilosophischen Schule. Weiter konnte sie den religiösen und religionsrechtlichen Aussagen mit einer Flexibilität gegenübertreten, die mit den Erfordernissen sich erneuernder Zustände übereinstimmte. Es wäre zu einfach anzunehmen, dass die islamische Ideologie nichts als die Absegnung der feudalen Zustände war, und zu vernachlässigen, dass sie die Werte der Arbeit, der Kultur, der Gerechtigkeit und der geistigen und menschlichen Öffnung hochhielt, welche die Bestrebungen anderer Gesellschaftsschichten widerspiegelten, besonders die der städtischen Schichten: Händler, Handwerker, Gelehrte usw. Die Tendenz zur Unterwerfung der Praxis unter die Theorie, der Welt unter das Jenseits, des Wissens unter den Glauben siegte hier nicht völlig, wie es in Europa geschah, und das führte zu günstigen Bedingungen für geistige und ideologische Pluralität und zur Akzeptierung der Übernahme des Wissens der Antike, zur Vertiefung der wissenschaftlichen Erkenntnisse der natürlichen und sozialen Phänomene, zum Hervortreten der Kennzeichen eines sozialen Denkens wissenschaftlichen Charakters und zu einer positiven Haltung zur Welt, zur Existenz und zum Leben.
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Diese Pluralität der philosophischen, juristischen, theologischen, politischen, literarischen und künstlerischen Richtungen ist mit der Idee von der Homogenität der islamischen Kultur durchaus vereinbar, erlaubt es uns aber nicht, die Dominanz der offiziellen religiösen Ideologie feudalistischen Inhalts für ähnlich stark zu halten wie im Europa des Mittelalters, wo die Kirche das Monopol der vollkommenen Dominanz anstrebte und damit weitgehend erfolgreich war. In der Welt des Islam konnten widerstreitende soziale Kräfte ideologischen Ausdruck für ihre Interessen und Ziele finden, und das hinderte die feudalistischen Kräfte daran, den Islam zu monopolisieren und ihren Interessen zu unterwerfen. Die Widersprüchlichkeit und Pluralität der islamischen Richtungen war ein grundlegender Aspekt der islamischen Kultur und ein Kennzeichen ihrer Lebendigkeit und Flexibilität. In gewissem Sinn kann das als Resultat der Unfähigkeit der metaphysischen Verbindung gelten, den Inhalt der religiösen Ideologie zu kontrollieren – ein Resultat dessen, was wir im vorigen Kapitel den formalen Charakter genannt haben und was dieser an Offenheit für das reale äußere Leben erfordert. Im Folgenden werden wir die Erscheinungsformen dieser Widersprüche und Errungenschaften auf den Gebieten des Rechts, des Dogmas und der Kultur im Allgemeinen ins Auge fassen.
Kapitel 6 Die Scharia Gottes und die Scharia der Vernunft Die erste Erscheinung der Einzigkeit der Gottheit im Islam war die göttliche Allmacht, welche die vollständige Abhängigkeit des Menschen von historischen, sozialen und natürlichen Verhältnissen und Kräften, die höher waren als er, religiös reflektierte. Diese Allmacht nahm kraft der politischen und weltlichen Tendenz des Islam einen umfassenden religionsrechtlichen Charakter an. Die Gottheit stellt den Menschen vor allem anderen in eine umfassende rechtlichgesetzliche Situation. Diese Situation findet ihren Grund in der allgemeinen islamischen Vorstellung der Einheit von Religion und Welt, des Sakralen und des Profanen. Die göttliche Wahrheit ist ihrem Wesen nach Recht (Offenbarung, Gesetz), und daher nimmt das Verhältnis des Menschen zu Gott die Form eines religionsrechtlichen Vertrags an: Gott übergab dem Menschen, beginnend mit Adam, die Welt als Erbe, machte ihn zum Stellvertreter auf ihr und gewährte ihm die materiellen und seelischen Lebensnotwendigkeiten (Notwendigkeiten, Pflichten, Rechte) im Austausch für die Unterwerfung unter ihn (den Islam). Durch diesen Vertrag erwarb der Mensch eine legitime rechtliche Stellung. Viele Forscher weisen darauf hin, dass die Einheit von Religion und Welt in der islamischen Scharia gleichzeitig die Quelle von Stärke und Schwäche ist. Die rechtliche Erscheinungsform des religiösen Inhalts ist ein grundlegender, charakteristischer Aspekt des islamischen Bewusstseins. Mehr noch: Dieser rechtliche Ausdruck der göttlichen Allmacht veränderte sich unter den historischen Bedingungen des Islam, wie etwa der Abhängigkeit des Menschen, dem Ausmaß dieser Abhängigkeit und ihrer Auswirkung auf seine tatsächliche Aktivität. Wenn dieser Veränderungsprozess auch die Trennung des Rechts von den religiösen Forderungen verhinderte, so förderte er doch die Fähigkeit des Menschen, sich seinen realen Problemen und seinem Verhältnis zur Welt positiv zu stellen. Wenn die Gottheit des Christentums in den Schmerzen der Kreuzigung erscheint, welche die Blicke der Gläubigen auf den Horizont der Erlösung im Jenseits richten, so erscheint die Gottheit des Islam im Ereignis des deutlichen Koran und seiner religionsrechtlichen Umfassendheit, die auf das irdische Leben der Gemeinschaft und ihre Glückseligkeit in dieser Welt ebenso verweisen wie, später, auf die andere Welt, deren Tor nicht eng ist und die nicht, wie im Christentum, zum Gegensatz der irdischen Welt gemacht wurde. Der Islam ist das Gesetz des Lebens; er umgibt den ganzen Menschen, denn alle Angelegenheiten der Menschen unterliegen den religionsrechtlichen Kategorien und der Systematik des
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Fiqh,²⁶ nach Maßgabe der Begriffe des Verpflichtenden, des Empfohlenen, des Erlaubten, des Verwerflichen und des Verbotenen.²⁷ Die Hegemonie der religionsrechtlichen Umfassendheit im islamischen Bewusstsein durchbrach die vom Niedergang der antiken Welt verursachte Unterscheidung zwischen dem innerlichen Glauben und dem äußerlichen Gottesdienst und zwischen Scharia und Staat und beendete die Unabhängigkeit des innerlichen Glaubens gegenüber der äußerlichen weltlichen Tätigkeit. So begannen alle Lebensbereiche gleichermaßen auf einer Ebene des Gehorsams gegenüber der Scharia und den Bestimmungen des Fiqh zu stehen, ohne dass ein Unterschied zwischen den religiösen Pflichten und Rechten gemacht worden wäre. Die Forderung der religionsrechtlichen Umfassendheit²⁸ tritt dem Menschen in seinen unterschiedlichen Lebenslagen als Verpflichtung zum Gehorsam gegen Gott und zur Unterordnung unter ihn gegenüber. Dabei besteht kein Unterschied zwischen der Verpflichtung zum Gebet, dem Handelsrecht und den Bestimmungen über die Heirat, zwischen dem religiösen und dem rechtlich-gesetzlichen Bereich. Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen der ursprünglichen religionsrechtlichen Umfassendheit, wie sie historisch vor der Trennung zwischen der inneren und der äußeren Welt des Menschen bestand, und der islamischen rechtlichen Umfassendheit, die nach dieser Trennung kam und ihre Überwindung anstrebte. Hier tritt der formale Charakter des Gehorsamkeitsakts hervor, dessen bestimmter Inhalt äußerlich und dem rationalen Nachvollzug zugänglich bleibt. Der Gehorsamkeitsakt ist einerseits mit realer Tätigkeit verbunden, die gleichbedeutend ist mit religionsrechtlich akzeptiertem äußerlichem Fürwahrhalten und Bestätigen, und andererseits repräsentiert sie die Grundlage des innerlichen Glaubens. Daher ist die islamische Frömmigkeit nicht von der Befolgung des Rechts und der Anwendung seiner Normen getrennt, d. h. sie erscheint in einer realen Tätigkeit, die erstens im Rahmen des Kollektivs bestimmt wird, wo sie auf die Herstellung der Harmonie und Brüderlichkeit seiner Angehörigen bedacht ist, und sie verrät zweitens menschlichen Charakter durch die rationale Klärung ihres Inhalts. Die Frömmigkeit an sich als Zustand persönlicher, individueller Religiosität bleibt in der Sicht des Islam unvollkommen, solange sie nicht einen äußerlichen praktischen Inhalt gewinnt, den die religionsrechtliche Sicht begründet. In dieser Hinsicht unterscheidet sich der Gottesdienst nicht von dem zwischenmenschlichen Verkehr und der religionsrechtlich akzeptierten weltlichen Tätigkeit, wie man auch der Unterscheidung zwischen persönlichen Handlungsmoti Fiqh ist die islamische Rechtsgelehrsamkeit (A. d. Ü.). In diese fünf Kategorien teilt der Fiqh die menschlichen Handlungen ein (A. d. Ü.). Ar. al-kulliyya aš-šarʿiyya. Damit ist der Umstand gemeint, dass das islamische Recht seinem Anspruch nach alle Handlungen der Menschen rechtlich bewertet (A. d. Ü.).
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ven und der Handlung aus Notwendigkeit keine besondere Aufmerksamkeit widmet, wohl aber den gegenseitigen Beziehungen der Angehörigen der Gemeinschaft, d. h. dem objektiven, allgemeinen Sinn des menschlichen Verhaltens. Die Frömmigkeit hat keinen geheimen, besonderen Inhalt, der über die Unterwerfung unter die Größe des Schöpfers, die Gleichheit seiner Geschöpfe, die Arbeit für die Herstellung von Gerechtigkeit und Gleichgewicht unter ihnen und ihre Befreiung von Tyrannei hinausgeht. Im Islam nahm der Gottesdienst keinen besonderen, unabhängigen Platz ein, sondern war der religionsrechtlichen Umfassendheit unterworfen. Die Verrichtung der gottesdienstlichen Handlungen (das persönliche Gebet zur Gottheit) war nicht schon als solcher ausreichender Gradmesser der Frömmigkeit, wie auch der Glaube allein nicht den Gottesdienst in seinen verschiedenen Formen rechtfertigt. Zwischen Gottesdienst und Glauben gibt es ein weltlich-rationales vermittelndes Moment. Und sogar die metaphysische Versenkung, die der Gottesdienst mit sich bringt, findet ihren letzten Sinn im rechten menschlichen Handeln. Die Transzendenz Gottes und die Ablehnung der Vermittlung zwischen Gott und dem Menschen behindern bis zu einem gewissen Grad die Schaffung der religiösen Symbolik, die eine notwendige Bedingung für jeden Gottesdienst ist. Die Betonung der allgemeinen, unpersönlichen Erscheinung der Gottheit (als Wahrheit und Rechtsetzung) hat die unmittelbare Beziehung des Individuums zur Gottheit nicht beendet, wohl aber geschwächt. Natürlich war ohne persönliche Züge der Gottheit die Etablierung des islamischen Gottesdienstes unmöglich. Der Koran ist voll von diesen Zügen, aber der islamische Gottesdienst ist mit verschiedenen Aspekten des Islam und des Lebens verbunden. Gottesdienst im weiten Sinn ist jede Handlung, die Gott zufriedenstellt. Die verschiedenen Formen des Gottesdienstes (Pilgerfahrt, Gebet, Fasten usw.) sind Gehorsamkeitsakte und deuten alle auf die Unterwerfung unter die Größe und Allmacht Gottes hin, ohne dass eine bestimmte Form des Gottesdienstes einen religiösen, metaphysischen, besonderen, gut definierten Inhalt hätte. Es gibt also einen Unterschied zwischen den verschiedenen Formen des Gottesdienstes und seinem einzigen religiösen Sinn. Daher erhält jede Form des Gottesdienstes eine reale, nicht religiöse Bedeutung (Rechtsgültigkeit und Heilsamkeit beim Fasten beispielsweise). Anfang Ramadan (Mai 1986) richtete ein muslimischer Gelehrter einen Aufruf an die Muslime, in dem er sagte: „Wann war das Fasten bloß die Enthaltung von Essen und Trinken ohne die Erkenntnis der Absicht dieses Fastens, ohne die Erscheinung des Nutzens dieses Fastens im Verhalten und im Leben?“ Das Fasten ist nicht mehr jene großartige gottesdienstliche Handlung, aus der qualitative Veränderungen im Leben und der Existenz der Menschen folgen. Die direkte Nutzanwendung in heilsamen Handlungen in der Welt bedarf keiner weiteren Erläuterung.
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Ich möchte keine Spezialstudie zur Untersuchung der inneren Struktur und der besonderen gesetzlichen Aspekte der islamischen Scharia unternehmen, sondern ihre allgemeinen Charakterzüge, ihre Beziehung zur islamischen Ideologie und zu den islamischen Institutionen im Allgemeinen untersuchen sowie den umfassenden rechtlichen Charakter dieser Ideologie bekräftigen. Tatsächlich hat die umfassende rechtliche Verkörperung der Gottheit negative Folgen für die Entwicklung der Rechtsinstitutionen und des unabhängigen juristischen Bewusstseins gehabt, nicht aber auf der allgemeinen ideologischen Ebene. Die ideologische und politische Rolle der religionsrechtlichen Institution war wichtiger als ihre juristische. Die religionsrechtliche Umfassendheit harmoniert völlig mit der Tatsache, dass das Kollektiv Gott näher steht als das Individuum. Es stimmt, dass der Islam die Einzelnen anredete. Aber das geschah nicht, um ihre Individualität zu stärken, sondern, um sie zu ihrer Befreiung aus der Stammesbindung und zum Eintritt in die Gemeinde der Muslime zu ermutigen. Aber die Konversion zum Islam vollzog sich dennoch meist nicht über die Loslösung der Einzelnen aus ihren Stammesbindungen. Als die Stämme begannen, in Scharen die neue Religion anzunehmen, tat der Islam so, als merke er vom starken Zugehörigkeitsgefühl zum Stamm nichts, und stellte es in den Dienst seiner umfassenden Ziele. Tatsächlich setzte sich die islamische Umma aus einem Bündnis der arabischen Stämme zusammen, das an Festigkeit zunahm und manchmal in gewissem Maß von der islamischen Regierung in Medina mit Gewalt aufgezwungen wurde. Der Islam ist an den Einzelnen als Angehörigen der islamischen Gemeinschaft interessiert, aber die Tätigkeit der Rechtsgelehrten unter den Bedingungen des Fortschritts der Wirtschaft der Stadt lief darauf hinaus, den besitzenden Individuen eine Reihe von Privilegien (Garantien) zu geben. Das war ein großer Schritt auf dem religionsrechtlichen wie auf dem ideologisch-historischmenschlichen Gebiet. Die Individuen waren in der Frühzeit des Islam so etwas wie ein zeitweiliges Verbindungsglied im Übergang vom vorislamischen Stammesbewusstsein zur Gemeinde der Muslime. Aber zweifellos ist die Absegnung der Quraisch-Abstammung als unverzichtbare Voraussetzung für das Amt des Kalifen ein Hinweis darauf, dass es schwierig war, das Stammesbewusstsein zu überwinden und den Islam als Rahmen einer umfassenderen Einheit zu akzeptieren. Im Islam gelten alle Menschen oder Angehörigen der Gemeinschaft als gleich und gleichwertig vor dem Recht und dem göttlichen Gesetz. Zwischen Gott und der Gemeinschaft gibt es keine priesterliche Vermittlung. Dieser Umstand hatte sehr großen Einfluss auf die Natur des Islam und seine zukünftige Entwicklung. In diesem Kontext hatte der rechtliche Vertrag zwischen Gott und dem Menschen Bedeutung einerseits für die Absegnung der theokratischen Herrschaft durch den Islam, und andererseits für das, was Menschenrechte genannt wird und was man als partiellen Säkula-
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rismus verstehen könnte. Wenn wir die ideologische Funktion der Scharia beiseitelassen, finden wir, dass der Sinn vieler Einzelheiten in diesem göttlichen Gesetz mit der Sicherung der Rechte der Individuen bei Tauschgeschäften und bei Vertragsschlüssen sowie mit der Sorge um das Wohl der Individuen besonders in den Städten zusammenhing. Bei der Abwesenheit der priesterlichen Vermittlung zwischen Gott und dem Menschen und der Schwierigkeit der anderen Vermittlungen wird die Scharia als ideologische Institution, in der auch der Vertragsbund zwischen Gott und dem Menschen enthalten ist, ein wesentliches, grundlegendes Element im Islam. Ihre Entfernung oder Vernachlässigung führt zur Erschütterung der religiösen Struktur des Islam. Daher der außergewöhnliche Status der Rechtsgelehrsamkeit im islamischen Bewusstsein und die enormen, jahrhundertelangen Anstrengungen der muslimischen Gelehrten, die Scharia zu formulieren und ihre Elemente zu vervollständigen. Aber dieser religionsrechtliche Charakter des islamischen Bewusstseins war der Grund dafür, dass sich das unabhängige gesetzliche Bewusstsein nicht entwickelte. Dieser Punkt gewinnt an Bedeutung, wenn wir uns vor Augen führen, dass der Mensch im Islam seine Hoffnung nicht auf ein innerliches Erblicken der Gottheit oder eine direkte persönliche Verbundenheit mit ihr und auch nicht auf ein göttliches Reich oder eine andere, von unserer völlig verschiedene Welt setzt, sondern in erster Linie auf die Verrichtung von irdischen Taten im Bereich dessen, was die Scharia, die göttlichen Ursprung hat, erlaubt und vorschreibt. Darum hatte der frühe Islam die Unterwerfung unter die göttliche Wahrheit gefordert und sie nicht unmittelbar intuitiv erschlossen. Das erklärt sich aus der Schwäche des mystisch-metaphysischen Elements im frühen Islam, wo sich die Annäherung an Gott über die religionsrechtliche Festsetzung der Stellung des Menschen in der Gemeinschaft oder durch die Vermittlung der Gemeinschaft oder des Staats zwischen ihnen vollzieht. Solange die verschiedenen menschlichen Aktivitäten sich auf einer Ebene und in gleicher Distanz vom allgemeinen Rechtsbildungsprozess befinden und gleichermaßen in einer Kategorie von religionsrechtlichen Texten und Normen sind, verliert die besondere Bedeutung der sogenannten Heiligkeit, Sündlosigkeit, individuellen Frömmigkeit und persönlichen geheimen Bindung (an Gott) viel von ihrer Kraft und Unabhängigkeit, denn der Angelpunkt der diesseitigen und jenseitigen Glückseligkeit ist die Kenntnis dieser religionsrechtlichen Normen und ihre praktische Anwendung – natürlich ohne sie von ihrer religiösen Grundlage zu trennen. So wird die Transzendenz der Gottheit durch die religionsrechtliche Formulierung zum bloßen Prinzip des formalen Gehorsamkeitsakts, dessen Inhalt ebenso auferlegt ist wie seine Geltung. Der formale Charakter dieses Gehorsamkeitsakts wird uns auch auf einer anderen Ebene klar, nämlich wenn wir bedenken, dass Gott weder des Gehorsams noch der Widersetzlichkeit der Leute bedarf, denn tatsächlich nützt ihm weder
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Gehorsam noch schadet ihm Widersetzlichkeit, und zwar weil die göttliche Vollkommenheit, eine der wichtigsten Erscheinungsformen der absoluten Allmacht Gottes, es verbietet, Gott als von den Handlungen der Menschen beeinflusst zu beschreiben. Die Befolgung der göttlichen Befehle hat nicht die Absicht, eine unmittelbare Beziehung zwischen Gott und dem Menschen oder eine bestimmte Situation gegenüber Gott selbst herbeizuführen, sondern den Vertrag mit ihm zu erfüllen und so das Interesse des Menschen selbst zu realisieren. „Das Ziel der Scharia ist die Wahrung von fünf grundlegenden Interessen: der Religion, der Person, des Intellekts, der Nachkommenschaft und des Vermögens. Die Wahrung dieser Interessen gilt letzten Endes als Realisierung des Gleichgewichts der Gesellschaft, der Richtigkeit ihres Rhythmus, also der Gerechtigkeit und Billigkeit selbst“ (aš-Šāṭibī al-Ġarnāṭī²⁹ in den „Muwāfaqāt“).³⁰ Die Absicht bei der Anwendung der Scharia und beim Handeln zu Gottes Zufriedenheit ist hier nicht einer jenseitsbezogenen, metaphysischen Sicht unterworfen und das primäre Interesse gilt nicht dem wahren Glauben der dazu Aufgerufenen oder dem göttlichen Charakter der Scharia, sondern dem Wohl der Menschen und ihren „natürlichen“ Rechten sowie der sozialen Gerechtigkeit, auch wenn diese im Grund das Resultat des Vertrags zwischen Gott und dem Menschen waren. Die Aussage eines zeitgenössischen Forschers, dass der Ausgangspunkt bei und vor der Anwendung der Scharia der Mensch selbst sein muss, stimmt völlig mit dem Geist des Islam überein. Zweifellos ist dieser Standpunkt extrem. Aber die Logik des islamischen rechtlichen Denkens drängt stark in diese Richtung. Es gibt ein gemeinsames Minimum in der Struktur des islamischen Bewusstseins, weshalb diese Schlussfolgerung weithin akzeptiert und keineswegs missbilligt ist. Ibn Taimiyya³¹ sagte in der Ḥisba: „Gott steht dem gerechten Staat bei, auch wenn er ungläubig ist, steht aber nicht dem ungerechten Staat bei, auch wenn er gläubig ist.“³² Hier finden wir, dass selbst der salafistische und extrem fundamentalisti-
Abū Isḥāq aš-Šāṭibī al-Ġarnāṭī, gest. 1388, andalusischer Gelehrter, bekannt vor allem für sein hier zitiertes Werk zu den uṣūl al-fiqh (Rechtsmethodologie), in dem er das Prinzip der maqāṣid aššarīʿa (Absichten der Scharia) einführt, das die Orientierung an den Interessen der Menschen als Prinzip der Rechtsfindung betont (A. d. Ü.). Abū Ishāq Ibrāhīm bin Mūsā aš-Šāṭibī, al-Muwāfaqāt fī uṣūl aš-šarīʿa, Kairo: Dār Ibn ʿAffān 1997, Bd. 1, 31. Ballouz kennzeichnet diese Stelle zwar als wörtliches Zitat, das trifft aber mit ganz leichten Änderungen nur auf den ersten Satz zu, der zweite Satz ist eine Interpretation seinerseits (A. d. Ü.). Taqiyyaddīn Aḥmad bin Taimiyya, 1263 – 1328, hanbalitischer Theologe und Rechtsgelehrter, machte durch harsche Äußerungen gegen alle möglichen „Abweichungen“ von sich reden (A. d. Ü.). Taqiyyaddīn Aḥmad bin Taimiyya, Maǧmūʿ al-fatāwā, Medina: Maǧmaʿ al-Malik Fahd 2004, Bd. 28, 63.
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sche Ibn Taimiyya sich das Recht herausnimmt, die göttliche Absicht der Scharia zu kommentieren, und er kommt zu dem Schluss, dass die Absicht von Gottes Scharia nicht die Vergöttlichung der Scharia ist, sondern die irdische Übersetzung dieser göttlichen Scharia oder die Gerechtigkeit unter den Menschen, aber andererseits sieht er auch, dass sich die Gerechtigkeit nur durch die Herrschaft vollzieht und dass der Treueeid zwischen dem Herrscher und seinen Untertanen und ebenso der Gehorsam gegenüber dem ungerechten oder unwissenden Herrscher zu den religiös und rechtlich notwendigen Dingen gehört. Dieses tragische Dilemma: Verdammung der Tyrannei des Herrschers oder Gehorsam ihm gegenüber, bedarf besonderer Betrachtung. Im Verhältnis zur Gemeinschaft ist Gott ein transzendentes Wesen, aber ohne detaillierte Bestimmungen verweist er auf das Gemeinwohl, dessen Sicherung das Ziel der göttlichen islamischen Ordnung des irdischen Lebens ist. So wird im islamischen Denken bekräftigt, dass man es ablehnt, der Unabhängigkeit des spirituellen Lebens (Mönchtum, Askese, Einsiedlerleben usw.) irgendeinen besonderen Wert beizulegen, und dass der Mensch seine natürlichen Neigungen und Bedürfnisse sowie seine verstandesgemäßen und politischen Forderungen akzeptiert und Mäßigung und Mitte in den Dingen bevorzugt. Allerdings hat der formale Charakter, den man dem Dogma und der Gehorsamsleistung zuschreibt (also ihr Zusammenhang mit einem äußeren praktischen Inhalt), nicht nur – qua religionsrechtlicher Umfassendheit – die weltliche Tendenz und die Akzeptierung der Welt erlaubt, sondern auch die Neigung zum theoretischen Idschtihad³³ und zur Betätigung des Verstandes in den Dingen der Offenbarung, des Glaubens und des Lebens verstärkt. Er hat das Feld für die Herausbildung einer umfassenden islamischen Sicht auf die Welt mit starken natürlichen und rationalen Wesenszügen geöffnet. Diese Sicht prägte das islamische Denken und die islamische Kultur. Die Ausweitung der Rechtsgelehrsamkeit und der religionsrechtlichen Sicht führte dazu, dass man neben dem göttlichen nach einem nicht göttlichen Prinzip bei der Ausrichtung und gesetzlichen Regelung der menschlichen Tätigkeit suchen musste, weil die Lebensbereiche vielfältiger und komplizierter wurden und neue Fälle auftauchten, die es vorher nicht gegeben hatte, und weil man zunehmend erkannte, dass der Koran nur begrenzte, nicht spezifizierte und sehr allgemeine Formulierungen enthält. Das Vertrauen auf die eigene Rechtsmeinung und den Idschtihad war im frühen Islam der Beginn des Prozesses einer Orien-
Iǧtihād, in der islamischen Rechtsgelehrsamkeit die Gewinnung einer Rechtsauffassung durch eigenständige Interpretation der sakralen Quellen, im Gegensatz zum taqlīd, der bloßen Nachahmung von Vorgängern (A. d. Ü.).
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tierung auf die Welt, die Erde, die Natur und die Gesellschaft bei der Erklärung der Angelegenheiten des Lebens und ihrer rechtlichen Beurteilung und bei der Gewinnung der Fähigkeit zur Wahl der besten Lösung für sie, und dies im Licht der Anforderungen der Gegenwart und der Zukunft. Dieses Prinzip fand andere Ausdrucksformen im Kontext neuer Konstruktionen der Rechtsgelehrsamkeit, wie wir noch sehen werden. Aber all das verrät dasselbe moralische und religiöse Interesse und kann sich nicht von der religiösen Absegnung der historisch gewordenen Tatbestände befreien. Im Ergebnis trafen sich die Zuflucht zur göttlichen Unfehlbarkeit und das Vertrauen in die rationale Analyse auf einer Ebene und in einer Sicht. Das tiefe Nachdenken über dieses Problem gestattete der Gemeinschaft der Muslime, die im Prinzip einerseits das göttliche Gesetz beherrschte, die aber andererseits auch die Notwendigkeit von und das Bedürfnis nach klaren, festen und richtigen Bestimmungen für die Wechselfälle des Lebens spürte – es gestattete also dieser Gemeinschaft die Konzipierung einer Art von Gleichgewicht oder gemeinsamer Grundlage von Religionsgesetz und Vernunft, von Offenbarung und Natur und die Vereinbarung zwischen einer religiösen Grundlegung, die zur idealen Vergangenheit neigte, und der menschlichen Öffnung für die Überraschungen des Lebens im Horizont der Zukunft. Eine solche Konzeption bringt in der religiösen Ideologie theoretische Schwierigkeiten mit sich, deren Lösung die genaue Untersuchung der Grundlagen jedes traditionellen oder religiösen Bewusstseins erfordert. Das Vertrauen in den Analogieschluss (nicht die rationale Analyse) hat die logische, konsistente Systematisierung der religionsgesetzlichen Rechtsmaterie verhindert. Darum finden wir es äußerst schwierig, von einem allgemeinen wissenschaftlichen System der Prinzipien der Scharia zu sprechen. Denn für die Erkenntnis der gemeinsamen Grundsätze ihrer tatsächlichen Anwendung ist das Studium der gesamten Tätigkeit der Rechtsgelehrten und Richter erforderlich. Der islamische Gedanke, der sagt, dass Gott für euch das Leichte will, nicht das Schwere,³⁴ war mittelbarer Ausdruck der erwähnten Übereinstimmung der beiden Bereiche, und es ist kein Geheimnis, dass das Leichte in der religionsrechtlichen Interpretation nichts anderes ist als das Vorziehen des Rechts der Natur gegenüber den Forderungen des Übernatürlichen. Diese Übereinstimmung ging so weit, dass man sagte, dass das Erlauben der erste Grundsatz bei der religionsrechtlichen Beurteilung der menschlichen Tätigkeit ist und dass das Verbot und andere Kategorien der rechtlichen Beurteilung erst danach kommen. Es gibt auch keinen nennenswerten Einspruch dagegen, dass man die Aussage „Not und sich erneu-
Koran 2, 185.
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ernde menschliche Interessen machen Verbotenes erlaubt“ für ein allgemeines Prinzip hält. Die Grundlage dieser Gedanken ist die Versicherung, dass die Scharia vernünftig ist und, in gewissem Maß, die Bewegung in Richtung auf das, was man heute Säkularismus nennt. Diese Richtung nahm ihren großartigen Anfang mit der Etablierung des Prinzips des Istihsan,³⁵ das für einige Zeit eine Quelle des Rechts blieb und aus der Kenntnis des Inhalts und der Eigenschaften der realen Tätigkeit sowie ihrem besonderen eigenen Nutzen eine Grundlage für rechtliche Begründung und Beurteilung machte. Die Anwendung dieses Prinzips führte auch eine Umwälzung im islamischen Rechtsdenken herbei, wenn auch die Entwicklung des menschlichen religiösen Rechts, welches die Frucht enormer Bemühungen der muslimischen Rechtsgelehrten unter ganz bestimmten sozialen und politischen Bedingungen war, den geschichtlichen Horizont der mittelalterlichen Gesellschaften und ihr Entwicklungsniveau sowie die religiöse Grundlage ihrer sozialen und politischen Eigenheiten nicht überschreiten konnte. Die Schlussfolgerung aus all dem ist, dass in der Epoche des frühen Islam, die sich vom achten bis zum zehnten Jahrhundert n.Chr. erstreckte, eine starke Tendenz hervortrat, die manchmal die Rede vom göttlichen Ursprung des Rechts von der Forderung nach rationaler Erhärtung und Begründung der menschlichen Tätigkeiten und Kenntnisse trennt, aber diese beiden Dinge manchmal auch vereinigt. Diese Orientierung erreichte, im rational-ideologischen allgemeinen Inhalt, nicht in der gesetzlich-formalen Formulierung, einen hohen Grad von Präzision und Kraft im muʿtazilitischen Prinzip „Der Verstand steht höher als das bloße Hören“. Mit diesem Prinzip werden grundsätzlich alle rechtlichen Formulierungen und ihre Quellen zu besonderen, relativen, möglichen Fällen, die für die Enthüllung ihrer Bedeutung und die genaue Bestimmung ihrer Grenzen sowie ihre Interpretation im Licht der Erfordernisse des sich erneuernden und entwickelnden Lebens auf die Vernunft, den Urgrund des absoluten natürlichen Rechts, angewiesen sind. Als at-Tauḥīdī sagte, dass die Wissenschaft des Fiqh bei der Vernunft Erleuchtung zu erlangen sucht, verkündete er ein Prinzip, das im islamischen Bewusstsein vorherrschte. Auf dieser Basis werden die Rechte nicht nur Lebensnotwendigkeiten, deren Genuss Gegenstand des Auftrags ist, oder menschliche, unbedingte (von Seiten Gottes) Notwendigkeiten, mit denen er die Menschen bedacht hat als Folge des Vertrags zwischen ihm und ihnen als Gegenleistung für den Glauben an ihn, die Anerkennung seiner Einzigkeit und die Unterwerfung unter ihn (die Religion), sondern sie werden womöglich mensch-
Istiḥsān, Prinzip der islamischen Rechtsfindung, das das Wohlergehen der Menschen in den Vordergrund stellt (A. d. Ü.).
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liche Rechte allein aufgrund der Entscheidung der Vernunft. Und diese Möglichkeit enthält in bestimmter Hinsicht die Verneinung der Scharia selbst (ihres göttlichen Charakters). Allerdings wurde diese Forderung, also die nach vernunftgemäßer, menschlicher Basis des Rechts, nicht in den Gesetzen realisiert. Es ist richtig, dass die Gesetzgebung das Ergebnis der Betätigung der Vernunft bei der Kommentierung der Texte und bei der Suche nach ihrer Vernünftigkeit war, auch wenn sie in vielen Fällen die früheren Normen buchstabengetreu respektierte. Aber die Scharia blieb doch ein Recht religiöser Pflichten, die Quelle des Rechts war letzten Endes Gott, nicht der Mensch selbst, und es gibt keine verpflichtende gesetzlich-rechtliche Garantie der Praktizierung und Respektierung dessen, was man Menschenrechte im Islam und die Bestrafung von deren Verletzung nennen könnte. Wir werden sehen, dass die Wichtigkeit der Menschenrechte im Islam nicht auf ihre rechtliche Kraft, sondern auf die jeweilige Kraft ihres sozialen Trägers (einige Gruppen der Stadtbewohner) und ihren Platz in der islamischen Ideologie zurückgeht. Man muss hervorheben, dass die Versuche, das Moment des Fiqh im islamischen Bewusstsein zu schwächen, eine der Grundlagen waren, auf die viele Neuerungen im Islam sich stützten.
Kapitel 7 Scharia und Staat Die Betonung der göttlichen Grundlage der islamischen Scharia heißt nicht, dass sie in ihrer vollständigen Gestalt durch einen wunderbaren Gründungsvorgang in der Herabsendung des Koran kam oder dass sie der Prozess einer fortdauernden, den Verstand übersteigenden Inspiration war. Sie wurde erst im dritten Jahrhundert Hidschra³⁶ ein vollständiges Gebäude, und diese systematische Tätigkeit, das Verstehen und Interpretieren der Texte, bedurfte der ganzen Energie der meisten muslimischen Rechts- und sonstigen Gelehrten während dreier Jahrhunderte. Sie war wohl die kulturelle Errungenschaft, welche die Struktur des islamischen Bewusstseins, die Herausbildung seines ideologischen Inhalts und die Festlegung seiner historischen Grenzen am stärksten prägte. Das Wesen des Islam erforderte, dass sich die Scharia tatsächlich in der Existenz des islamischen Staats verkörperte und dass sie das System der gesetzlichen Grundlagen wurde, die das kollektive und individuelle Verhalten der Muslime regelten. Sie blieb allerdings ein Idealbild, das sich die Muslime herbeiwünschten, und eine religiösideologische Forderung, welche die Hauptbestrebung des Islam und seine Sicht auf die Welt ausdrückte. Nach der Auffassung der Muslime kam in der islamischen Gesellschaft nichts dem gleich, und dies seit der Zeit der rechtgeleiteten Kalifen, auch wenn es die Zustände der frühen Abbasidenzeit widerspiegelte. Die Vervollständigung der Scharia führte zur Entstehung eines Dualismus im Bewusstsein jedes Muslims, denn jeder Muslim fand sich zwischen zwei Ebenen schwankend: einer religionsrechtlichen Ebene, die seine Identität, seine wahre Persönlichkeit und seine soziale Zugehörigkeit ausdrückte und seine Existenz den anderen Kulturen und Gesellschaften gegenüberstellte, und einer realen Ebene, die seine Abhängigkeit vom islamischen Staat und die Bedingungen seines realen Lebens determinierte. Die Haltung zur Scharia ist seit der Zeit der Nahḍa ³⁷ und bis heute eines der größten Probleme, vor die sich die Araber und Muslime gestellt sehen und die den Entwicklungsstand ihres Selbstbewusstseins und ihre historischen Möglichkeiten anzeigen. In der Frühzeit des Islam trat die Unterscheidung zwischen Dogma und Scharia nicht hervor, und der Idschtihad in Rechtsfragen führte nicht zur Her Die Hidschra (ar. hiǧra) ist die Auswanderung Muḥammads und seiner Gefährten von Mekka nach Medina, der Beginn der islamischen Zeitrechnung. Das Wort bezeichnet hier und im Weiteren die islamische Zeitrechnung (A. d. Ü.). Arabische Kulturrenaissance, die man normalerweise in der zweiten Hälfte des 19. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts zeitlich einordnet (A. d. Ü.). https://doi.org/10.1515/9783110701616-008
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ausbildung einander widersprechender Strömungen und Schulen. Man kann die Arbeit an der Errichtung des Gebäudes der Scharia (Rechtsgelehrsamkeit, Rechtsmethodologie) als den Prozess einer langdauernden Konfrontation mit den wechselnden Umständen und großen Ereignissen der islamischen Geschichte bezeichnen, und ebenso auch als eine sich über vier Jahrhunderte hinziehende kumulative islamische Antwort auf die Bewegung der soziopolitischen Realität und ihrer Umschwünge und als einen seit dem elften Jahrhundert einigermaßen stabilen Maßstab für die Einschätzung der künftigen Ereignisse in der Welt des Islam von einem bestimmten historisch-sozialen Standpunkt aus. Die Scharia war also nicht der Anfang der Geschichte, der deren weiteren Verlauf determinierte, sondern eine kontinuierliche ideologische Aktivität, betrieben von sozialen Kräften, die ähnliche Interessen hatten und im Islam und seinem Aufstieg einen Ausdruck ihrer Ziele fanden. Im Vorgriff auf die Ergebnisse der Analyse sage ich, dass die Scharia die Frucht der Blüte der islamischen Stadt und ihrer produktiven sozialen Kräfte war. Man ist sich darüber einig, dass die Normen des Koran und der Sunna an Zahl begrenzt, aber in ihrer Bedeutung reich und vielfältig sind. Sie sind nicht so unveränderlich in ihrer Bedeutung, so determiniert, so zahlreich und so erschöpfend, dass man aus ihnen die verschiedenen genauen Rechtsfestlegungen und angemessenen Lösungen hätte ableiten können, die auf dem Gebiet der Verwaltung, der Politik, der Wirtschaft, der Gesellschaft, der Kultur usw. ständig neu auftauchten. Dieses Problem trat in aller Schärfe nach den Eroberungen, der territorialen Ausweitung des islamischen Staats und der Interaktion der entstehenden islamischen mit höheren Kulturen hervor. Sowohl vor wie nach dem Tod des Gesandten berieten sich die Prophetengefährten und die ihnen unmittelbar folgenden Generationen, besonders die Koranleser unter ihnen, untereinander und trafen in unterschiedlichem Ausmaß selbständige Entscheidungen über ihre Ansichten und die Feststellung und Lösung der vor ihnen stehenden Probleme, und zwar auf eine Weise, die derjenigen in den Stammesräten bis zu einem gewissen Grad ähnelte. Nach der Zeit der Prophetie, die noch von der koranischen Offenbarung, der Heiligkeit und den Taten und Entscheidungen des Propheten erfüllt war, die göttliche Unterstützung und den religiösen Beistand der Prophetengefährten hinter sich hatten, konnte nicht in Betracht gezogen werden oder konnten sich die ersten Muslime nicht vorstellen, dass Gott, seine Führung und sein Segen aus ihrem Leben verschwunden waren, dass seine Verbindung zur Welt abgerissen war. Vielmehr stellten sie sich meist vor, dass die Anordnungen und Beschlüsse der Gefährten von Gott und seinem Gesandten inspiriert und Ausführungen ihrer Befehle waren und dass die Herrschaft der rechtgeleiteten Kalifen die Herrschaft Gottes und des Islam war. Neue Situationen, Regeln und allgemeine schicksal-
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hafte Entscheidungen führten sie auf die Sunna³⁸ des Gesandten Gottes zurück. So bildeten sich die ersten Anfänge dessen heraus, was man dann später Konsens (Beratung der Gefährten) und Analogieschluss nannte (Nachahmung der Sunna des Gesandten Gottes über das Ähnlichkeitsprinzip) – diese waren zwei Grundlagen der Rechtsgelehrsamkeit und der Gesetzgebung. Dass man der rechtsetzenden und politischen Tätigkeit der Kalifen, der Gefährten und der nachfolgenden Generationen religiöse, göttliche Qualität zuschrieb, war eine Folge des Geistes der Zeit und jener menschlichen Zustände, die Religiosität und göttlichen Eingriff in den Lauf der Dinge nötig machen. Obwohl man um die religiöse Heuchelei einiger neuer Muslime, die Macht der vorislamischen Stammesautorität und den Dissens über die Frage des Kalifats wusste, galt doch die Loyalität gegenüber den rechtgeleiteten Kalifen später als Konsens. Ein Orientalist³⁹ hat das Zeitalter der rechtgeleiteten Kalifen mit einiger Übertreibung auf Gleichheit beruhende göttlich-säkulare Herrschaft genannt. Jedenfalls besteht weitgehende Übereinstimmung darüber, dass die Epoche des Prophetentums und der rechtgeleiteten Kalifen dem Modell am nächsten war, das die Scharia gezeichnet hat, bzw. dem religionsrechtlichen Ideal, dessen Züge noch nicht festgelegt waren. Mit der Gründung des omaijadischen erblichen und orientalischen KönigtumKalifats, mit der Vermehrung und Bereicherung des omaijadischen militärischen und tribalen Adels, der es unterstützte, mit der Entstehung einer breiten Schicht von arabischen Grundbesitzern mit dem Kalifen an der Spitze, mit der blutigen Unterdrückung und Enteignung der Feinde und der Geringschätzung der Nichtaraber und der Schutzbefohlenen vollzog sich ein radikaler, vollständiger ideologischer Wandel auf der politischen, rechtlichen und religiös-theologischen Ebene, der einer Erschütterung im Bewusstsein der Muslime gleichkam. Die omaijadische Herrschaft erschien vielen bloß als neue mekkanisch-dschahilitische Aristokratie, welche die Einfachheit des frühen Islam, den Geist der Religiosität und die Frömmigkeit der Gefährten, ihrer Nachfolgegenerationen und der Gläubigen verwarf. Die Muslime sahen bestürzt das Zerbrechen der ursprünglichen noch nicht genau festgelegten Einheit von Scharia (einschließlich des Dogmas) und Staat, Imamat und Kalifat und die Vergrößerung der Kluft zwischen der religiös-rechtlichen und der irdisch-politischen Institution. Einerseits trat der
Das Wort „Sunna“ bezeichnet wörtlich „Gewohnheit“, häufig im Sinne eines nachahmenswerten, d. h. im islamischen Verständnis normsetzenden Verhaltens, meist desjenigen Muḥammads, manchmal auch jenes seiner Gefährten (A. d. Ü.). Der Autor meint Louis Massignon, der vom frühen islamischen Staat als von einer „egalitären Laientheokratie“ gesprochen hat; vgl. Fritz Steppat, Der Muslim und die Obrigkeit, in: ders., Islam als Partner. Islamkundliche Aufsätze 1944– 1996, 109 – 127, hier 111 (A. d. Ü.).
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quraischitische Prophetengefährte Abū Ḏarr⁴⁰ auf und verkündete einen Standpunkt, der in manchen Augen dem Geist der Scharia näher stand, während auf der anderen Seite die beiden Kalifen ʿUṯmān bin ʿAffān⁴¹ und Muʿāwiya⁴² dem entgegengesetzte Positionen vertraten. Dann trat einerseits der große Nachkomme alḤasan al-Baṣrī (st. 728)⁴³ auf, die religiöse Autorität in Basra, der Hauptstadt des Islam, und andererseits präsidierte der omaijadische Kalif der Welt von Damaskus aus, der Hauptstadt des Staats und dem Zentrum der Macht, des Vermögens und der Armee, über die Angelegenheiten des neuen Reichs. In dieser Situation, in der sich innere Kämpfe ankündigten, begnügten sich die Rechtsgelehrten, die den Omaijaden am nächsten standen, damit, Rat zu geben und neutral zu bleiben. Die Autorität der Macht war zu groß, um von einem lokalen Aufstand oder vorübergehenden Protest bezwungen zu werden. Allerdings war diese krisenhafte Spannung zwischen der religiösen und der politischen Institution einer der wichtigsten Einflussfaktoren bei der Herausbildung der Wesenszüge des Islam und seines weiteren Schicksals. Es scheint, dass die Omaijaden in dem Bestreben, die Einheit des Kalifats und die Beständigkeit ihrer Macht zu sichern, kein dringendes Bedürfnis nach der Unterstützung durch die religiösen Milieus verspürten – sie waren ja auch meist nicht sonderlich religiös. Es kümmerte sie auch kaum, dass sie es nicht schafften, sich die meisten Gefährten, Nachfolger, Asketen, Korankenner usw. gewogen zu machen. Sie begnügten sich damit, für eine äußerliche religiöse Verbrämung ihrer Herrschaft zu sorgen. In dem Maß, in dem sie sich bemühten, die Stützen ihrer despotischen, erblichen Herrschaft zu festigen, mit Glanz, Pracht und Größe zu protzen und es vorzogen, große Summen Geldes der weiteren Verbreitung des Islam zu entziehen und Spenden von den Muslimen und der Fortsetzung der Eroberungspolitik zurückzuhalten, in dem Maß, in dem sie all das taten, verbreiterten und verstärkten sich die entgegengesetzten Bemühungen um die Bildung einer großen Gegenkraft, die aus Vertretern der Stadt bestand, also Händlern, Handwerkern, Rechtsund anderen Gelehrten sowie der persischen Aristokratie und den benachteiligten Teilen der arabischen Aristokratie, den Schutzbefohlenen und den eroberten und
Abū Ḏarr al-Ġifārī, gest. 653, Prophetengefährte, der als besonders fromm und zuverlässig bei der Überlieferung der prophetischen Tradition galt, kritisierte mit religiösen Argumenten die Verschwendungssucht hoher Persönlichkeiten (A. d. Ü.). Der dritte Kalif (reg. 644– 656), rief durch seine Politik heftige Opposition hervor und wurde ermordet. Sein Mord löste den ersten „Bürgerkrieg“ im Islam aus (A. d. Ü.). Muʿāwiya bin Abī Sufyān (reg. 661– 680), Begründer des omaijadischen Kalifats, gilt als Vertreter einer rein pragmatischen Machtpolitik (A. d. Ü.). Al-Ḥasan al-Baṣrī, 642– 728, bedeutender muslimischer Denker, der in Opposition zum omaijadischen Kalifat stand (A. d. Ü.).
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unterdrückten Völkern. Diese Gruppen verbündeten sich unter dem Banner des Islam, der zeigte, dass er die starke und aktive ideologische Waffe war, die allein geeignet war, die Omaijaden zu bekämpfen. Die Beseitigung der omaijadischen Herrschaft war die tiefgreifende Reaktion auf eine starke historische Tendenz der sozialen Entwicklung, die mit der Konsolidierung der Welt des Kalifats und der Umwandlung des Islam in eine Weltreligion kontinuierlich zunahm, deren Züge und Ziele sich mit der Kraft ihrer weiten Verbreitung änderten. Der frühe Islam war am Anfang die Religion des historischen Kompromisses (al-Ḥudaibiya)⁴⁴ auf der Arabischen Halbinsel, und ebenso die der Eroberungen und der Militärdemokratie. Allerdings führte dieser Islam letzten Endes zur Errichtung des ausgedehnten Königreichs der Omaijaden, das viele seiner Werte zu ignorieren schien. Neue soziale, ethnische und zivilisatorische Kräfte begannen zusammenzuwirken und eine tiefe Wandlung in der Welt des Kalifats vorzubereiten. Die Bedeutsamkeit der geistigen Umbrüche in den Milieus der Schutzbefohlenen, die Schärfe des Widerspruchs zwischen der Fortsetzung der Eroberungspolitik, die allmählich zur Last für die Gesellschaft wurde, und der Erfüllung der Forderungen der einfachen Warenproduktion, der Blüte der Stadtwirtschaft (Handwerk und Handel) und die Vernachlässigung grundlegender, wesentlicher und historisch bedeutsamer Elemente im Gebäude des Islam durch die Omaijaden – alles das gab den Kräften, die sich gegen die Omaijaden stellten, enorme Energien und dem Islam eine reale historische Gelegenheit, sich in eine weltweite Ideologie zu verwandeln, die den Erfordernissen der reichen und weiten Welt des Kalifats entsprach. Der Staat der Omaijaden verlor seinen betont arabischen und islamischen Charakter, und die Parole der berechtigten Ansprüche der Prophetenfamilie (ohne Unterschied zwischen Abbasiden und Schiiten) war in der Lage, alle Unzufriedenen, ungerecht Behandelten, Unterdrückten und Opponenten hinter sich zu vereinigen. Die Errichtung der Herrschaft der Abbasiden wurde zur historischen Prüfung der zivilisatorischen Eignung des Islam. Er war nun aufgerufen, die Religion der zivilisatorischen Konsolidierung, des Friedens, der Frömmigkeit, des Zusammenhalts unter den Völkern und Kulturen und der wirtschaftlichen und geistigen Blüte in der orientalischen Welt zu werden, und in erster Linie die Religion der orientalischen Stadt, fähig, ihre Wirtschaft und Kultur zu beleben, die Kulturen höher entwickelter Gesellschaften zu repräsentieren und sie in einer neuen weltumspannenden, fortgeschrittenen Formel zu vereinigen.
Vgl. oben Fußn. 18.
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Es war den Kreisen der muslimischen Rechts- und anderen Gelehrten, die zu Vertretern der städtischen Gesellschaft und besonders der Händler und Handwerker wurden, bestimmt, diesen Veränderungsprozess durch die Schaffung der ideologischen und zivilisatorischen Grundlagen der neuen Gesellschaft zu begleiten, und zwar in der Entwicklung der religionsrechtlichen Aktivität und ihre Verwandlung in eine zivilgesellschaftliche Institution, die von der Macht unabhängig war. Die islamischen Kreise drückten ihre negative Haltung zu den Omaijaden in unterschiedlichen Formen aus: militärisch, politisch-religiös, juristisch, theologisch. Hier ist erwähnenswert, dass die ersten Keime des islamischen Rechts, die in der Zeit des Propheten und der rechtgeleiteten Kalifen auftauchten, eine endgültige Form und eine wohldefinierte zivilisatorische Bedeutung erst kurz vor und nach der Etablierung des abbasidischen Kalifats erhielten, also nachdem es dem Islam bestimmt wurde, die Religion der orientalischen Gesellschaft zu sein, die durch die Hegemonie der feudalistischen asiatischen Beziehungen unter den Auspizien des politischen Zentralismus, die Entwicklung der einfachen Warenproduktion und die wirtschaftliche und kulturelle Blüte der Stadt gekennzeichnet war. Die an die Wirtschaft der Stadt besonders im Irak gebundenen Rechtsgelehrten begannen seit der letzten omaijadischen Zeit ein Idealbild der islamischen Gesellschaft zu zeichnen, und dies angesichts einer politischen Realität oder eines Staats, die vom Geist des Islam und seinen Werten abwichen, und sie äußerten ihr verstärktes Streben nach der Grundlegung eines vortrefflichen Staats, der sich an die Anleitung durch die islamische Scharia hielt. Die Scharia war Juristenrecht, kein Recht eines Staats. Das verringerte ihre praktische gesetzliche Kraft. Darüber hinaus war der Staat nach wie vor nicht an die Scharia gebunden. Aus der seinerzeit herrschenden islamischen Vorstellung wird klar, dass Gott tatsächlich die Gründung dieses großen Staats und seine Herrschaft gewollt hatte – kraft seines Buchs und durch seinen Propheten und dann seine Kalifen, aber die Muslime nahmen immer an, dass dieser göttliche Staat in der islamischen Geschichte nie tatsächlich verwirklicht worden war und dass die bestehenden islamischen Staaten sich in unterschiedlichen Graden im Gegensatz zum idealen Staat der Scharia befanden, von dem die Muslime träumten. Die Muslime verlegten nun ihr Ideal nicht ins Jenseits, sondern wollten einen idealen, irdischen islamischen Staat errichten, keinen himmlisch-jenseitigen. Die weitere Entwicklung machte aus dem Bild dieses idealen Staats in ihrem Bewusstsein einen Maßstab für die Beurteilung des Islam, so wie er tatsächlich war. Und sie machte den Islam weiter zur kulturellen Einigungskraft, welche die Grenzen zwischen den verschiedenen miteinander streitenden politischen Mächten überwand. Allerdings wiederholte sich die feindliche Beziehung zwischen der islamischen Scharia und ihren Vertretern auf der einen und dem des-
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potischen, weltlichen omaijadischen Staat auf der anderen Seite in dieser Schärfe in keiner folgenden Epoche. Als die Abbasiden siegten, verkündeten sie, dass sie mit dem Banner des Islam in der Hand gekommen waren und sich bei der Ausrichtung der Staatsangelegenheiten an die Offenbarung halten würden, und sie verpflichteten die Richter, der Scharia zu folgen. Allerdings beeilten sie sich zwecks Festigung ihrer Macht, ihre Vettern von der Prophetenfamilie anzugreifen, die Schiiten waren und mit ihnen über das Recht auf das Imamat im Streit lagen. Dies brachte viele Rechts- und andere Gelehrte auf den Gedanken, dass die Usurpation der Macht durch die Abbasiden etwas von einer widerrechtlichen Aneignung hatte, obwohl die Beschränkung des Kalifats auf die Prophetenfamilie bzw. die Quraisch seit dem Beginn des Islam ein Streitpunkt war. Dennoch gab es eine merkliche Verbesserung der Beziehung zwischen den Rechts- und anderen Gelehrten und der abbasidischen Macht, und tatsächlich kümmerte die Politik der Abbasiden sich stärker um die religiösen Dinge und die Gelehrten der Muslime, ließ die Schutzbefohlenen und die persische Aristokratie stärker an der Macht teilhaben und förderte die Stadtwirtschaft mehr als die Omaijaden. Die Anhänger des selbständigen Urteils und des Idschtihad (die rationaler, toleranter, freidenkerischer und menschlicher waren als die Traditionarier) hatten viel Gunst und Einfluss bei den ersten abbasidischen Kalifen. Die Traditionarier konnten sich ihnen erst entgegenstellen, nachdem aš-Šāfiʿī⁴⁵ sie im dritten Jahrhundert Hidschra unterstützte. Viele Rechts- und andere Gelehrte des frühen abbasidischen Zeitalters schwankten zwischen der Schia und dem Arrangement mit den Abbasiden. Allerdings bestand die herrschende Tendenz bei den Rechtsgelehrten auf der Unabhängigkeit der rechtsetzenden Institution von Staat, denn es herrschte keine vollständige Übereinstimmung der Interessen der städtischen Gesellschaft mit denen des Zentralstaats. Im dritten Jahrhundert wurden die Quellen des Rechts endgültig als vier festgelegt: Koran, Sunna des Gesandten, Konsens der Gelehrten und Analogieschluss. Dem Konsens kam eine entscheidende und flexible Rolle bei der Regelung der Beziehung der Scharia zum Staat zu. Und im vierten Jahrhundert vollendete sich die Herausbildung der vier Schulen der Rechtsgelehrsamkeit, die offiziell im sunnitischen Islam anerkannt wurden. Zur selben Zeit formierte sich die Richtung der Anhänger der Sunna und des Hadith (ḥadīṯ)⁴⁶ auf der Ebene des Dogmas und begann sich immer weiter auszubreiten. Abū ʿAbdallāh aš-Šāfiʿī, 767– 820, bedeutender muslimischer Rechtsgelehrter, betonte die Bedeutung der Tradition Muḥammads als rechtsbegründendes Prinzip, Gründer der schafiitischen Rechtsschule (A. d. Ü.). Sunna hier: die normsetzende Lehre und Praxis des Propheten Muḥammad, Hadith: der Bericht darüber (A. d. Ü.).
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Alle muslimischen Gelehrten sind sich darüber einig, dass die Scharia sich in einem Staat verkörpern muss. ʿUmar bin al-Ḫaṭṭāb⁴⁷ sagte: „Es gibt keinen Islam ohne Gemeinschaft und Befehlsgewalt und keine Befehlsgewalt ohne Gehorsam.“⁴⁸ Aber die Rechtsgelehrten der Sunna fügten hinzu, dass die Existenz des Staats, selbst eines despotischen, notwendig ist, und dass sie auf jeden Fall besser ist als sein Fehlen. Sie ist, wie wir schon vorher gesagt haben, das kleinere von zwei Übeln, weil dieser Staat die Religion und die Gesellschaft vor Chaos, Bürgerkriegen, den Intrigen der Ungläubigen usw. bewahrt. In diesem Sinn erhält jedes Kalifat einen Grad von Legitimität, ohne dass dies dazu führt, dass die religionsrechtliche Institution ihre Unabhängigkeit vom Staat verliert und in seinen Dienst gezwungen wird. Die Rechtsgelehrten haben diesen Gedanken seit dem zehnten Jahrhundert entwickelt und die Rebellion gegen den despotischen Kalifen oder den ungerechten Herrscher nicht ermutigt, und der Ausspruch von alQurṭubī⁴⁹ „Wer die Gelehrten nicht um Rat fragt, muss abgesetzt werden“⁵⁰ war keine Maxime, der man folgte, wie manche zu belegen suchen. Allerdings wurde die Unabhängigkeit der Rechtsinstitution durch diesen allgemeinen Rechtsstandpunkt nicht in Frage gestellt, der die defensive Funktion dieser ideologischen Institution gegenüber dem islamischen Staat und dem abbasidischen Kalifat klarlegte. Der Kalif oder Sultan war prinzipiell der Scharia unterworfen, aber praktisch hatte die Scharia keine Macht über ihn. Tatsächlich blieb er über der Scharia, zu deren Gehorsam er doch aufgerufen war. Die Schia verkündete, dass jedes Kalifat außer dem der Nachkommen Alis illegitim sei und dass die Muslime es durch Kampf beseitigen müssten. Die Schia fügte der Sunna des Gesandten die Sunna der Imame hinzu, die wie er mit göttlichem Beistand handelten, lehnte den sunnitischen Konsens ab und akzeptierte das Prinzip des Konsenses erst, als ihre Verbindung zum Imam mit der „großen Abwesenheit“ im Jahr 940 abgerissen war. Die Schia strich den Widerspruch zwischen dem despotischen Kalifat und dem gerechten, von Gottes Rechtleitung geführten Imamat extrem heraus, denn Gott könne seine Gemeinschaft nicht vernachlässigen. Der Gesandte habe Ali als seinen Nachfolger benannt, und das Imamat solle nach ihm seinen Abkömmlingen gehören, wie auch die Imame von göttlichem Beistand unterstützt würden. Als der Imam verschwand, nahm der Mudschtahid⁵¹ seinen Platz ein, und ihm wurde die
ʿUmar bin al-Ḫaṭṭāb (reg. 634– 644), der zweite Kalif (A. d. Ü.). Zit. nach ʿAbdallāh ad-Dārimī, Musnad ad-Dārimī, Riad: Dār al-Muġnī 2000, Bd. 1, 315. Abū ʿAbdallāh al Qurṭubī, st. 1273, muslimischer Gelehrter, bekannt u. a. durch seinen Korankommentar (A. d. Ü.). Abū ʿAbdallāh Muḥammad bin Aḥmad al-Qurtubī, al-Ǧāmiʿ li-aḥkām al-Qurʾān, Kairo: Dār alKutub al miṣriyya 1964, Bd. 4, 249. Muǧtahid, ein Rechtsgelehrter, der Idschtihad betreibt (A. d. Ü.).
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Orientierung der Gläubigen und die rechtliche Regelung ihrer Angelegenheiten anvertraut. Die Rolle des Mudschtahid wurde in den letzten Jahrhunderten außerordentlich aufgewertet. Die schiitische Rechtsinstitution war eine konfrontative, dem despotischen Staat feindliche Kraft. Durch den wiederholten politischen Misserfolg bei der Opposition gegen die politische Macht und die heftige Unterdrückung wurde der rein rechtliche Aspekt des schiitischen Islam allerdings geschwächt, was zur verstärkten Aufmerksamkeit für den Gedanken der jenseitigen Erlösung führte, in dem sich die Geschichte der göttlichen Qual mit der menschlichen Trauer mischte. Damit die Qualen der Prophetenfamilie für die Erniedrigten Bedeutung bekamen, mussten sie mit Umfassendheit, das heißt mit göttlichem Charakter ausgezeichnet sein. Die Rechtsgelehrten der Sunna hielten an der Notwendigkeit der Unabhängigkeit der gesetzgeberischen Institution von der politischen Macht und dem Staat fest und akzeptierten nicht, dass der Staat oder seine Beschlüsse religiöse Unantastbarkeit erhielten und als Quelle der Gesetzgebung angesehen wurden. Der Erfolg der Rechtsgelehrten bei der Errichtung dieser unabhängigen Institution beruhte auf der Art der Stadtwirtschaft und der einfachen Warenproduktion. Allerdings war diese Institution nicht vollkommen stabil und in ihrer Struktur und ihren Zügen nicht genau definiert. Das ließ manche ganz richtig sagen, dass von der Konzeption des Gesetzes und des Rechts im Islam kaum die Rede sein könne, und zwar weil das Religionsgesetz keine von jeder anderen Erwägung unabhängige rechtlich-gesetzliche Qualität gewonnen habe, was die deutliche Herausbildung des Begriffs der Verantwortung des Einzelnen, der gesetzlichen Persönlichkeit, des Verfassungsstaatsrechts, des allgemeinen Strafrechts und des Gedankens des Verbrechens im strafrechtlichen Sinn nicht fördere. Die besondere, unabhängige Tätigkeit der religionsrechtlichen Institution vollzog sich im Rahmen ihres Bestrebens nach sozialer und politischer Stabilität und ihrer Abwehr von inneren Kämpfen und Chaos unter den Auspizien des Islam und nicht so sehr im Rahmen ihres Bestrebens nach Festigung ihrer rechtlichen Begriffe und ihrer Ausstattung mit vollziehender Kompetenz. Darum blieben ihre kritischen Inhalte und ihre Opposition gegen manche Praktiken des Staats ohne genaue Präzisierung, und jedenfalls hoben sie ihre wichtige ideologische Funktion der Apologie der islamischen Gesellschaft und des islamischen Staats nicht auf. Die ideologisch-religiöse Absegnung der bestehenden sozialen und politischen Verhältnisse war ein grundlegender Aspekt der Tätigkeit der religionsrechtlichen Institution. Sie geschah meist über das Prinzip des Konsenses, der als eine der Rechtsquellen eine Verkörperung der Gottheit und des göttlichen Gesetzes wurde. Von Anfang an trugen manche Formulierungen wie „Die Hand Gottes ist mit der
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Gemeinschaft“ und „Meine Gemeinde einigt sich nicht auf einen Irrtum“⁵² die besondere herrschende und akzeptierte islamische Sicht auf die göttliche Wahrheit und das Übernatürliche in sich. Es gab ein Gefühl der Nähe und der Entsprechung zwischen Gott und der Gesellschaft, welches das islamische Bewusstsein beherrschte. Die religionsrechtliche Institution verkürzte den Begriff der Gemeinschaft auf den des religiösen Konsenses der Gelehrten, was ihm die Qualität der göttlichen, heiligen Unfehlbarkeit gab. Mit den Attributen der Überheblichkeit und der absoluten Despotie, die den Zentralstaat auszeichneten, lässt sich auch die religionsrechtliche Institution in ihrem Verhältnis zur Masse der Muslime beschreiben. In beiden Fällen trifft sich das höhere Interesse der Gemeinschaft mit dem Religionsrecht und dem göttlichen Gesetz. Die religionsrechtliche Verkörperung der Hegemonie der religiösen Ideologie in der Gesellschaft wurde dank dem von ihr präsentierten Idealbild der gerechten islamischen Gesellschaft und dank ihrer Leistung auf dem Gebiet der Kultur, der geistigen Anpassung, der Absegnung der politischen und sozialen Institutionen und der Regelung des Lebens der Gesellschaft und des Staats – diese Verkörperung wurde also die erste Institution im Islam, die eine entscheidende Rolle dabei spielte, die zentrale politische Macht religiös zu legitimieren. Gleichzeitig vertrat sie auch die Interessen der islamischen Stadt und ihrer Blüte und realisierte das Gleichgewicht zwischen dem Staat und der Stadt oder zwischen dem Staat und der Scharia, die nicht in der Lage war, die tatsächliche politische Praxis des Staats zu lenken. Dennoch bedeutete die Schwächung dieser Institution die Zerstörung des Islam selbst als Quelle der Legitimität der Herrscher, und weiter bedeutete sie die Verstopfung der wichtigsten Quelle des metaphysischen religiösen Bewusstseins im Islam. Trotz aller strukturellen Unterschiede zwischen der Gesellschaft des Kalifats und der mittelalterlichen europäischen Gesellschaft kann man sagen, dass die Institution der Scharia im Islam der christlichen Kirche seinerzeit ähnelte, wenn sie auch viel weniger organisiert und einflussreich war als diese. In diesem Sinn muss man die Forderung Ibn Rušds⁵³ nach der Schwächung der rechtlich-theologischen Institution verstehen, die zwischen dem Staat und den Muslimen, zwischen Gott und dem Menschen vermittelt. Diese Forderung spiegelt theoretisch einen bestimmten Entwicklungsstand der islamischen Zivilisation wider: die Möglichkeit der Errichtung eines aufklärerischen islamischen Staats mit säkularen Zielen, in dem die feudalen Verhältnisse, welche die Entwicklung der städtischen Wirtschaft und Kultur behindern, keine herrschende oder ab-
Dies ist ein Muḥammad zugeschriebener Ausspruch (A. d. Ü.). Abū-l-Walīd bin Rušd, 1126 – 1198, andalusischer Philosoph, Rechtsgelehrter und Arzt, bekannt für seine Kommentare von Aristoteles und seine Verteidigung der Philosophie (A. d. Ü.).
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segnende Rolle spielen. Diese Forderung bedeutet auch, angewendet auf die westliche Zivilisation, die Zerstörung der weltlichen Macht der Kirche und die Grundlegung des Säkularismus. Die Analyse dieses Punkts wird uns vielleicht helfen, die Natur der Beziehung zwischen der Stadtwirtschaft und der islamischen rechtlich-religiösen Institution genau zu erkennen, denn Ibn Rušd sieht in den Rechtsgelehrten keine Vertreter der Händler und Handwerker, sondern solche der Feudalherren, die auch in der Stadt wohnten. Die Kirche konnte selbst die über die Gesellschaft herrschende Macht sein und sich alle politischen und intellektuellen Institutionen unterwerfen. Die islamische religionsrechtliche sunnitische Institution (die Gemeinschaft der Rechts- und anderen Gelehrten) war aber unter den Auspizien des politischen Zentralismus des Staats, der historischen Besonderheiten der orientalischen Gesellschaft und ihrer günstigen Bedingungen für die Blüte der Stadtwirtschaft nicht in der Lage, in ihrer Unabhängigkeit vom Kalifatsstaat oder ihrer Opposition gegen manche seiner Praktiken und Übergriffe so weit zu gehen, dass sie sich gegen den Staat auflehnte, ihm Widerstand entgegensetzte oder versuchte, ihm ihren Willen aufzuzwingen. Trotz der Nichtübereinstimmung zwischen der Institution der Scharia und den Forderungen der Staatsmacht und trotz des Nutzens, den die Scharia aus ihrer Unabhängigkeit von der politischen Macht (oder ihrer Distanzierung von ihr) zog, konnte doch keine der beiden auf die jeweils andere verzichten oder den Bruch zwischen beiden herbeiführen. Die sunnitische Rechtsinstitution konnte dem abbasidischen Kalifen die religiöse Legitimität nicht nehmen, denn die Idee der Prophetenfamilie behielt ihren Nimbus der Heiligkeit im islamischen Bewusstsein. Die tragische Auseinandersetzung zwischen Abbasiden und Schiiten wirft ein Licht auf die Realität und die Dimensionen der Macht der Rechtsinstitution. Diese Institution war aus historisch-ideologischen Verhältnissen hervorgegangen, von denen wir einige genannt haben, und in diesem Kontext war sie so stark, dass der Staat sie nicht vernichten konnte. Aber andererseits wäre es übertrieben zu sagen, dass sich die Rechtsinstitution in den Händen der Rechts- und anderen Gelehrten in eine entscheidende politische Oppositionskraft verwandelte. Die Kritik der Rechtsgelehrten richtete sich nicht gegen die Institution des Staats und seine politische Struktur, sondern meist gegen die Erscheinungsformen der Willkür und der Übergriffe, welche die Schwäche des Zentralstaats und seine schlechte Verwaltung verrieten, während das von der Scharia geprägte Bild der islamischen Gesellschaft als Maßstab und Ideal erhalten blieb. Die Geschichte der religionsrechtlichen Institution erlaubt uns zu sagen, dass sie von völliger Unabhängigkeit von der politischen Macht zur relativen Anpassung an sie oder genauer gesagt zur tatsächlichen Verleihung der Legitimität an den islamischen Staat überging, wobei man prinzipiell an der Trennung zwischen
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der Ordnung der Scharia und der Ordnung des Kalifats festhielt. Zweifellos hat die Weigerung, dem Staat einen absoluten religiös-geheiligten Charakter zuzuerkennen, was die ideologische Opposition gegen ihn und jede streng kritische Haltung zu ihm verhindert hätte, die Stellung dieser Institution in der Gesellschaft der Stadt gestärkt. Aber die Entwicklung der Rechtsgelehrsamkeit, die von der Beschränkung auf den Idschtihad der Meinung und das Prinzip des Istihsan zur Absegnung des Konsensprinzips führte, ging in Richtung auf eine unabhängige Rechtsinstitution, die einerseits in partieller Opposition zum Staat stand, sich aber andererseits im Waffenstillstand mit dem Staat befand und als Lieferantin seiner ideologischen Rechtfertigung fungierte. Sie war die Institution des Einklangs, des Gleichgewichts und der Aushandlung zwischen den Forderungen des Staats und denen der Stadt, und sie war meist darauf bedacht, die Hegemonie der lokalen Feudalkräfte zu verhindern, die nach der Schwächung des Zentralismus des Staats und der der Stadtwirtschaft strebten. Aber was im Maschriq⁵⁴ in einer bestimmten Periode galt, konnte zu anderen Zeiten und an anderen Orten anders sein. Es ist sehr wichtig, zwischen dem religionsrechtlichen idealen Bild des islamischen Staats, das der Realität des Kalifats widerspricht, und der tatsächlichen Position der meisten Rechtsgelehrten zu unterscheiden, die zu Mäßigung, Realismus und Einklang neigten. Und wenn viele Rechts- und andere Gelehrte es schafften, aus der Beseitigung der Omaijaden einen Sieg der Bestrebungen des Islam und gleichzeitig der Forderungen der Stadtwirtschaft zu machen, und wenn die religionsrechtliche Institution später auch ihre relative Unabhängigkeit vom Staat konsolidierte, dann darf uns das doch nicht dazu verleiten, die islamische Scharia für den bürgerlichen Gegenpol des feudalistischen, despotischen Staats zu halten, also für eine radikale oppositionelle Ideologie, die exakt die Interessen der Händler und Handwerker in der Stadt vertrat. Tatsächlich entsprach die Institution der Scharia einem allgemeinen ideologischen Bedürfnis der islamischen Gesellschaft und nahm darum den Charakter einer offiziellen herrschenden Ideologie an, und an diesem Charakter änderten auch ihre relative Unabhängigkeit von der politischen Macht und das gelegentliche Auftreten von Formen der Kritik, des Protests und der Opposition bei manchen ihrer Vertreter nichts. Das Problem der Unterscheidung zwischen den Institutionen der islamischen Gesellschaft im Allgemeinen verdient besondere Untersuchung, aber man kann die Form der ideologischen Beziehungen und ihrer Unterscheidung als die bloße Reflexion des Unterschieds zwischen den sozialen Institutionen ansehen.
Mašriq: Osten der arabischen Welt (A d. Ü.).
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Das Idealmodell des legitimen islamischen Staats, von dem die Realität abwich, hat die Rechtsgelehrten nicht davon abgehalten, Positionen der Ausgewogenheit und der ideologischen Rechtfertigung der Zwänge der bestehenden politischen Realität einzunehmen. Das islamische Recht entwickelte sich in der Stadt als ein Ausdruck, der im Allgemeinen mit den Interessen der Händler, Handwerker und Gelehrten im Einklang war, für deren Positionen die Entwicklung der einfachen Warenproduktion die historisch-ökonomische Grundlage war, und es war folglich eine Verteidigung der ökonomischen und kulturellen Blüte der Stadt. Natürlich waren die städtischen Schichten nicht mit der Herrschaft der Militärs der fremden Sultane, der schlechten Verwaltung und der Hegemonie der lokalen Feudalkräfte über die Zentralmacht zufrieden. Aber die Existenz des Zentralstaats selbst war eine Voraussetzung für ökonomische Aktivität, und die Rechtsgelehrten strebten die Verringerung der Distanz zwischen Staat und städtischer Gesellschaft an. Das war eines ihrer wichtigsten Ziele, denn sie waren realistisch nicht in der Lage, die Zentralmacht zu beherrschen, die weitgehend feudalistischen Charakter behielt, und darum strebten sie nach der Begrenzung der absoluten Hegemonie der Staatsmacht und der Beteiligung an ihrer Lenkung. Das war im Einklang mit der Belebung der Stadtwirtschaft, der Schwächung des Einflusses der Kräfte der Auflösung, der Zerstückelung und des feudalistischen Chaos auf den Staat und der Eindämmung der Übergriffe seiner herrschenden Clique sowie ihrer Verletzung der Rechte der Muslime. Die Blüte der Städte war nicht nur nicht im Widerspruch mit der Stärkung des politischen Zentralismus des Staats, sondern sie war auch, und zwar in besonderer Weise, daran interessiert, die Zentralmacht auf ein zivilisatorisches Niveau zu heben, das die Zusammenarbeit der Völker des Kalifats bei der materiellen und geistigen Innovation ermutigte. Was ein Teil der muslimischen Rechtsgelehrten bekämpfte, war die Hegemonie einiger der städtischen zivilisatorischen Blüte feindlichen Schichten über die Zentralmacht (Ausnutzung des bürokratischen Apparats zwecks Einfluss, Herrschaft der fremden militärischen Einheiten, Widerspenstigkeit der lokalen Feudalherren, Neigung der Herrscher zur Einschränkung der Rechte der Muslime in der Stadt usw.). Der religionsrechtliche Ausdruck der Interessen der städtischen Schichten umfasste nicht die Opposition gegen die Zentralmacht als solche, und nicht einmal die Opposition gegen die Feudalherren insgesamt. Denn die religionsrechtliche Institution, auf die Privilegien der Stadt bedacht, rechtfertigte die Ausbeutung der Bauern durch den Staat, die Feudalherren und die Stadt. Aber weil sie an die einfache Warenproduktion gebunden war, war es mit ihren Interessen nicht vereinbar, dass die Agrarwirtschaft so weit herunterkam, dass sich das negativ auf die Stadtwirtschaft auswirkte. Es waren nicht die Feudalverhältnisse als solche, die religionsrechtlich sanktioniert wurden, sondern die schädlichen Praktiken der lokalen Feudalkräfte, die auf die
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Schwächung der Autorität der Zentralmacht und des städtischen Lebens erpicht waren. Es war die gegenüber diesen Praktiken nachgiebige Politik des Staats, nicht der Staat selbst, der die meisten Rechtsgelehrten widerstanden und deren negative Ergebnisse sie dadurch zu korrigieren suchten, dass sie den Staat aufforderten, ausgewogene Beziehungen mit der Stadt herzustellen und sich bei der Festigung ihrer Herrschaft auf die Stadt zu stützen. Man muss auch immer beachten, dass die Feudalherren keine völlig von den Händlern abgeschiedene Gruppe waren, sondern dass sie meist in der Stadt wohnten und an der kommerziellen Tätigkeit teilnahmen. Der Unterschied zwischen den städtischen Gruppen, also Handwerkern, Besitzern, Feudalherren, Gelehrten usw., trat nicht so weit hervor, dass man von deutlich voneinander abgesetzten und manchmal sogar gegensätzlichen Interessen aller dieser Gruppen und von der Schaffung einer Rechtsideologie sprechen könnte, die prinzipiell gegen den Staat opponierte und ihn immer für despotisch hielt. Die Rechtsinstitution war nur dann tatsächlich daran interessiert, der Despotie ernsthaft Widerstand entgegenzusetzen, wenn diese sich gegen die Schichten, die sie vertrat, stärker wandte als gegen andere. Der Eingriff des Staats in die Angelegenheiten der Stadtwirtschaft, die Kontrolle der kommerziellen und handwerklichen Tätigkeit, die Beschlagnahme von Besitztümern und Vermögen und die Zulassung der Zerstückelung und des feudalistischen Chaos – alles das beantworteten die Rechtsgelehrten in der Hauptstadt des abbasidischen Kalifats für mehrere Jahrhunderte mit Kritik und Opposition. Aber man darf diese Position nicht absolut nehmen. An vielen Orten standen die Rechtsgelehrten mit den Feudalherren gegen die Vertreter der Stadtwirtschaft (Handwerker, Händler usw.) und rechtfertigten oder verschwiegen die Übergriffe des Staats, sobald der Zentralstaat seinerseits seine Nachgiebigkeit gegenüber den Feudalherren verstärkte, die meist in der Stadt lebten und von denen ein großer Teil Handel trieb und gute Beziehungen mit den Rechtsgelehrten unterhielt. Um jede Unklarheit zu vermeiden, möchte ich wiederholen, dass es nötig ist, zwischen dem Idealbild der Scharia, das im dritten Jahrhundert Hidschra vollendet wurde, und dem ideologischen Verhalten der Rechtsgelehrten in den verschiedenen Epochen des Islam zu unterscheiden, einem Verhalten, das von vielen Faktoren beeinflusst wurde und das je nach den konkreten sozialen und politischen Umständen unterschiedlich war. Man sollte sich die Beziehung zwischen dem Zentralstaat und der islamischen Scharia in ihrer allgemeinen Form, wie sie am Beginn des vierten Jahrhunderts Hidschra oder des zehnten christlichen Jahrhunderts auftrat, nicht als Vertrag zwischen zwei gleich starken, stabilen und hegemonialen Kräften vorstellen, dergestalt, dass die Scharia dem Staat die theokratische Legitimität verleiht im Austausch gegen den Schutz der Warenproduktion, der Stadtwirtschaft und der Interessen der Händler und Handwerker.
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Ebenso stimmt es auch nicht, dass die Sultane ihre Legitimität aus der Bestallung durch den Kalifen ableiteten und nicht aus ihrer realen Macht. Der Staat war es, der das Feld für die unabhängige Tätigkeit der Rechtsgelehrten öffnete, was normalerweise die Absegnung der bestehenden Macht durch die Rechtsgelehrten zur Folge hatte. Und wenn nicht der Zentralstaat die Stadtwirtschaft ermutigt und unterstützt hätte, wäre das islamische Recht nicht so gewesen, wie es zu jener Zeit war. Trotz der Bedeutung dieser relativ beständigen Züge des Rechts änderte sich doch die ideologische Rolle der Rechtsgelehrten mit der Veränderung des sozialen und politischen Kräfteverhältnisses.
Kapitel 8 Die Rechte Gottes und die Rechte des Menschen. Anfänge einer Säkularisierung Das ideale religionsrechtliche Dasein repräsentiert das tiefe, stabile Wesen des Muslims und seine gesetzliche Persönlichkeit. In ihm tritt er der Realität gegenüber, die im Niedergang begriffen ist und von den Prinzipien des islamischen Rechts abweicht. Dies ist die Realität, die oft als Despotie und Unrecht des Staats bezeichnet wurde. Das religionsrechtliche Dasein manifestiert sich weitgehend in dem, was man die Rechte des Menschen nennt, oder in den Verpflichtungen gegenüber dem Muslim, der in seiner religionsrechtlichen Persönlichkeit als Besitzer gilt, der normalerweise in der Stadt wohnt, denn die religiös begründeten Rechte des Muslims regeln Beziehungen des Besitzes und des Austauschs zwischen besitzenden Individuen (auf der Ebene der einfachen, vorkapitalistischen, auf Austausch ausgerichteten Warenproduktion). Der Vorgang des Austauschs hat zur einzigen Bedingung den rechtmäßigen Gewinn, der nicht von der Anstrengung des Menschen losgelöst werden kann. Das religionsrechtliche Dasein, das in den Rechten des Menschen in Erscheinung tritt, ist, wie erwähnt, eine der beiden Seiten der Dualität im Bewusstsein des muslimischen Individuums. Ihre andere Seite ist seine reale Existenz als Untertan im Staat. Aus dem Gesagten darf man nicht schließen, dass die religionsrechtliche Existenz nur mit den Absichten und Interessen der städtischen Schichten, der Handwerker und Händler, zusammenfällt, also mit dem „bürgerlich-kapitalistischen Sektor“ der Wirtschaft, oder auch nur mit dem Bereich der erwähnten Rechte des Menschen. Die islamische Scharia ist in ihrer vollendeten Form und in letzter Instanz nicht die Ideologie einer bestimmten begrenzten Schicht der Stadtbewohner, welche die Angelegenheiten der anderen Bewohner, die auf dem Land von Landwirtschaft und anderem leben, nicht berührt. Wir können sagen, dass die Scharia die Interessen der Stadtgesellschaft ausdrückte, und dies, weil die Stadt das Zentrum des sozialen Lebens im Islam war und weil die Macht, ihre Bürokraten, Militärs, feudalen Grundherren, Handwerker, Händler, Rechts- und andere Gelehrte usw. alle zu den Stadtbewohnern und zur städtischen Gesellschaft gehörten und es die Stadt war, die in unterschiedlichem Ausmaß das Land und die Bauern ausbeutete. Zwischen ihren Schichten entwickelten sich Widersprüche, selbst im Hinblick auf die Ausbeutung des Landes, die meist aufhörten, wo es einerseits um die Unterwerfung unter die Herrschaft des Staats und andererseits um das Bestreben ging, seine Gunst zu erringen. Tatsächlich behandelte die Scharia die Angelegenheiten und Umstände aller Muslime, wobei sie diese unter dem Blickwinkel der Interessen der Stadthttps://doi.org/10.1515/9783110701616-009
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gesellschaft betrachtet, oft unter Betonung der Bedeutung der Handwerker und Händler, manchmal aber auch ohne diese Betonung. Einige Forscher stellen den totalen Gegensatz zwischen der Scharia, welche die Rechte der Vertreter der einfachen Warenproduktion (Handwerker und Händler) begründet, und dem Staat heraus. Das beruht auf der Überzeugung, dass das Religionsrecht sich mit der Stipulierung der Rechte der besitzenden, freien muslimischen Individuen befasst, die einen rechtlichen Status haben, sowie mit der Festlegung der Verpflichtungen ihnen gegenüber beim Austausch und in anderen Fällen. Hier werden ihre Pflichten nur als Konzession an das religiöse Zeitalter oder als ideologisch erforderlicher Zusatz gesehen. So macht man aus dem Islam eine Religion der islamischen Stadt und aus der Scharia eine Kraft der Opposition gegen den Staat, der sich meist um die Interessen der Stadt nicht kümmerte. Tatsächlich ist aber die islamische Scharia eine Scharia der Pflichten, bevor sie eine Scharia der Rechte ist. Die Bekräftigung der Rechte erfolgt erst durch eine nachfolgende gedankliche und theoretische Anstrengung. Wir dürfen nicht vergessen, dass das Wichtigste an dem idealen, von der Realität verschiedenen rechtlichen Zustand seine Berufung auf das ideale religionsrechtliche Bild von den Rechten Gottes ist, das heißt von dem idealen Staat, den der Schöpfer, der Bewahrer und der Durchführer der Scharia beherrscht. Und wenn es im Bewusstsein des Muslims eine Dualität zwischen seinem rechtlich-idealen Dasein und seinem tatsächlichen Dasein gibt, so gibt es doch auf der Ebene der islamischen politischen Institution keinen großen Abstand zwischen den Rechten Gottes und seines idealen Staats und der Realität des Kalifatsstaats. In beiden Fällen werden die Gläubigen zu Dienern Gottes, Beherrschten, Untertanen, Gefolgsleuten, die ihres rechtlichen Status und ihrer Eigenschaft als Besitzer beraubt sind und einander gleichen im Unterworfensein, gleich auch in den Pflichten, Auflagen und Aufgaben gegenüber dem wahren Herrn, und das ist in mancher Hinsicht Gott und in einer anderen der Kalif oder Sultan. Der Vertrag zwischen Gott und dem Menschen verkörpert sich auf der politischen Ebene in erster Linie in dem Treueid zwischen Herrscher und Beherrschten. Daher rührt auf dem Gebiet der Rechte Gottes auch die Betonung der religiösen Pflichten des Muslims, die mit dem Gottesdienst im engeren Sinn zu tun haben, also der religiösen Grundlegung dieser Rechte. Es ist tatsächlich schwierig, zwischen den idealen Rechten Gottes und den realen Rechten des Staats zu unterscheiden, wobei die Rechtsgelehrten damit betraut waren, dessen Übertretungen und dessen Verletzung der Rechte der Gläubigen und der ökonomischen und kulturellen Aktivität der Stadt im Rahmen ihrer Möglichkeiten im Zaum zu halten. Der Sultan war Gottes Schatten auf der Erde, seine Macht leitete sich von der Macht Gottes ab, allein die Rechte Gottes hatten eine deutliche strafrechtliche Dimension, und dass sie nicht wertgeschätzt und gesetzlich festgelegt wurden, lässt den despotischen
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Charakter des Staats erkennen. Das machte das allgemeine und das Strafrecht so unfähig zur rechtlichen Entwicklung, und selbst wenn wir die verschiedenen Formen der Rechtsverletzungen und Übertretungen ausklammern (schmarotzerische Bereicherung, Überfälle und Raub der Soldaten, Kontrolle der Feudalherren über die Zentralmacht, Beschlagnahme des Besitzes der Händler und anderer usw.), so unterscheidet sich doch das ideale religionsrechtliche Bild des theokratischen Staats kaum von dem realen tyrannischen Staat. Darum kann man sagen, dass die Scharia die ideologisch-religiöse Rechtfertigung und den rechtlich-religiösen Schutzwall des bestehenden Staats lieferte, denn „es ist Pflicht, die Befehlsgewalt zu akzeptieren von Seiten der Religion und als Mittel, Gott näherzukommen“, wie Ibn Taimiyya sagt,⁵⁵ und in diesem Sinn war die Scharia die Ideologie der herrschenden Klassen und Kräfte in der Welt des Kalifats. Der ideologisch-religionsrechtliche Inhalt des metaphysischen religiösen Bewusstseins liegt in der Entsprechung und Übereinstimmung der Rechte Gottes mit denen des Staats. Als der Vertragsschluss von Herrscher und Beherrschtem (der Treueid) vollkommen formal und äußerlich geworden war, wurde die Gewalt zur Quelle der Herrschaft und der Macht erklärt, wie es in der Realität ja tatsächlich der Fall war. In diesem Sinn sagt Marx: „Sie benötigt politisch und ökonomisch (hier) keine schärferen Formen von Abhängigkeitsbeziehungen, als tatsächlich schon vorhanden sind und alle in der Unterwerfung und Abhängigkeit gegenüber dem Staat vereinen, der den Produzenten als Besitzer des Bodens und ehrfurchtgebietender Herr gegenübersteht.“⁵⁶ Das ideologische Moment, welches das metaphysische religiöse Bewusstsein ausdrückt, nimmt die Gestalt der Pflichten gegenüber Gott oder der Rechte Gottes an. Die Idee der Rechte des Menschen ist der Inhalt, der mit Gewalt in die islamische Ideologie eingeführt wurde und den Handlungsspielraum der metaphysischen Verbindung verengte, wenn sie auch eine Idee von Rechten unter dem Schutz Gottes bleibt. Sie ist das dynamische, lebendige Element in ihrer Beziehung zum dritten metaphysischen Element, den göttlichen Ansprüchen, in der einen religiösen Ideologie. Der formale Charakter der Scharia ist nur mittelbarer Ausdruck der Erweiterung des Raums, den die Rechte des Menschen in ihr einnehmen, obwohl allgemeine Prinzipien für festgelegte Strafen im Fall der Verletzung der Rechte des Menschen nicht klar rechtlich spezifiziert wurden. Die Bedeutung vieler Rechtsgelehrter und Theologen geht auf ihr Streben zurück, die Rechte des Menschen und die des Verstandes zu bekräftigen und die Würde des Menschen in seinem rechtlichen Status und in seiner Verstandestätigkeit im
Ibn Taimiyya, Maǧmūʿ al-fatāwā, Bd. 28, 391. Dieses Marx-Zitat konnte nicht identifiziert werden (A. d. Ü.).
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Rahmen der religiösen Ideologie herauszustellen, und dies auf der Grundlage nicht festgelegter religiöser Erwägungen, die Maß und Mitte in den Dingen und den rechtmäßigen Gewinn berücksichtigen, und fast erhielten diese Bemühungen auch eine festgelegte rechtliche und strafrechtliche Formulierung. Aber die Durchsetzung dieses Rechts blieb von der Einschätzung des Richters und des Herrschers abhängig, und darum war die Anerkennung der Rechte des Menschen nicht gesetzlich garantiert, sondern blieb auf der ideologischen Ebene stehen. Praktische Wirksamkeit erlangte sie nur gelegentlich im Rahmen des sozialen und politischen Kampfs. Im zehnten Jahrhundert n.Chr. war die Tätigkeit der Rechtsgelehrten dem Angriff der feudalistisch-militärischen Gruppen ausgesetzt, die den Staat und die Kalifen beherrschten, und der Kalif wurde schwach gegenüber den Militärmachthabern, die wollten, dass die Rechtsgelehrten ihre Rechtsfindung in ihrem Dienst und zur Rechtfertigung ihrer durch Gewalt erlangten Herrschaft und ihres Verhaltens vornahmen. In dieser Situation konnten die am stärksten mit der Stadtwirtschaft verbundenen Rechtsgelehrten die Inbesitznahme der Scharia durch die Militärs und ihre Verwandlung in das Instrument der Gehorsamserzwingung in deren Händen, und damit das Ende ihrer relativen Unabhängigkeit, verhindern, und sie schlossen das Tor des Idschtihad.⁵⁷ Dies geschah, anders als man es sich im ersten Moment vorstellen könnte, um die Scharia vor der Umwandlung in ein ideologisches Spielzeug zu bewahren und sie auf das Niveau einer idealen ideologischen Kraft zu heben, die seit dem elften Jahrhundert Züge von Opposition und Widerstand gegen die Despotie des Staats und der islamischen Mächte trug. Aber die Positionen der Rechtsgelehrten waren nicht deckungsgleich. Manche Rechts- und andere Gelehrte waren weiter als andere von den zentralen Gewalten entfernt, die ihrerseits den Feudalgruppen unterworfen waren, und die Sache ging mit dem Muʿtaziliten Ṯamāma bin al-Ašras so weit, dass er sagte: „Das Haus des Islam ist das Haus der Vielgötterei“.⁵⁸ Einige Rechtsgelehrte nahmen Positionen der Versöhnung und des Ausgleichs mit der
Die „Schließung des Tors des Idschtihad“ bezieht sich auf die verbreitete Vorstellung, die islamischen Rechtsgelehrten hätten sich im 10. Jahrhundert n.Chr. darauf geeinigt, den Idschtihad, also die unabhängige Rechtsfindung, für nicht mehr notwendig zu erklären und nur noch die Nachahmung der Vorgänger, den taqlīd, zu erlauben. Diese Vorstellung ist übertrieben, vgl. Wael B. Hallaq, Was the Gate of Ijtihad Closed?. In: ders. (Hrsg.), Law and Legal Theory in Classical and Medieval Islam, Aldershot: Ashgate 1994; vgl. auch Thomas Bauer, Die Kultur derAmbiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin: Verlag der Weltreligionen 2011, 180 – 181 (A. d. Ü.). Zit. nach ʿAbd al-Qāhir bin Ṭāhir al-Baġdādī, al-Farq bayn al-firaq, Beirut: Dār al-Āfāq alǧadīda 1977, 158.
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Macht ein, und einige andere verbündeten sich mit den Feudalkräften, die von der Schwäche des Zentralstaats profitierten. Seit dem elften Jahrhundert verschärfte sich der Widerstand der Stadt gegen den Staat, und mit den Erscheinungen des kulturellen Verfalls und Niedergangs, des feudalen Chaos, der heftigen Unterdrückung und der verringerten realen Stärke der Muslime verwandelte sich die Scharia in ihrer idealen Gestalt in einen spirituellen Zufluchtsort, der ein wenig für die tatsächliche Bedrückung des Lebens entschädigte, und in einen Traum von Erlösung und Befreiung von der schweren und bedrückenden Last des Lebens. Mit der Ausbreitung der Armut, dem Niedergang der Wirtschaft und der historischen Stagnation begann sich in den Volksmilieus, den niederen Schichten und den Bewohnern der Stadt die islamische Mystik zu verbreiten. Das war einerseits Ausdruck der Schwächlichkeit des partiellen, leichten Protests, den einige Rechtsgelehrte im Namen der „islamischen Scharia“ gegen den despotischen Staat vorbrachten, und der harten Lebensbedingungen, und andererseits Ausdruck des Bedürfnisses der Menschheit nach der Beseitigung der Vermittlung durch die Scharia und nach der stärkeren Annäherung an die Gottheit. Es war auch Ausdruck der Verzweiflung über die Möglichkeit der tatsächlichen Anwendung einiger Prinzipien der Scharia oder des Verlusts der Hoffnung angesichts der Parteinahme einiger Rechtsgelehrter für den Machthaber. Wie dem auch sei, die Mystik verringerte die Macht der Rechtsgelehrten, der Scharia und der religiösen Institution, die damit betraut war, die Verbindung zwischen dem Menschen und dem Übernatürlichen herzustellen, und sie nahm auch den Geboten der Scharia ihre religiöse Bedeutung. Die Mystik wurde zum immer tiefer werdenden Ausdruck des Protests der weitesten Schichten gegen die zermalmende Tyrannei der Macht und gegen die Parteinahme der Rechtsinstitution für den Staat. Nachdem die Osmanen in der Welt des Islam die Macht übernommen und versucht hatten, den osmanischen Sultan zum Kalifen der Muslime zu machen, betrachteten sie die Scharia differenziert. Sie übernahmen die hanafitische Rechtsschule, welche die Lektüre des Koran in anderen Sprachen als dem Arabischen erlaubt, versuchten sie Gebieten aufzuzwingen, die sich nicht an sie gehalten hatten, und setzten die drei anderen Rechtsschulen zurück. Trotz ihrer anfänglichen Ermutigung der religionsrechtlichen Sicht kam es mit ihnen schließlich so weit, dass sie die religionsrechtliche Umfassendheit und die Denkprinzipien der Rechtsgelehrsamkeit schwächten. Andererseits unternahmen sie die Belebung der mystischen Bewegungen. Allerdings bedeutete das keine Übernahme der sufischen Position und ihrer volkstümlichen Ziele, und es zeugt auch nicht unbedingt von der Annäherung der Mystik an die osmanische Herrschaft. Die Position der Osmanen zur Mystik erscheint als Prozess einer ideologischen Verwässerung, die es ermöglichen sollte, dass die islamische Gemeinde, in der die Wertschätzung des Arabischen sehr weit
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ging, die Einsetzung eines nichtarabischen Kalifen über die Muslime akzeptierte, nachdem sich die vorhergehenden Machthaber, und sei es auch noch so formal und symbolisch, auf den abbasidischen Kalifen festgelegt hatten – in der religionsrechtlichen Auffassung die mindeste Voraussetzung der Kalifatswürde. Im achtzehnten Jahrhundert begannen die Bewegungen zur Befreiung vom osmanischen Joch sich vom Islam der Scharia inspirieren zu lassen, der ihnen als Modell der Zustände bei den ersten Muslimen oder dem Islam der Mystik erschien. Seit dem Beginn des neunzehnten Jahrhunderts und mit dem Bewusstsein von den Dimensionen der Rückständigkeit und Schwäche nach der Invasion Napoleons erstarkten die fundamentalistischen, mystischen und die Oppositionsbewegungen, die von vielfältigen vermischten Gedanken beeinflusst waren. Außerdem traten nationalistische und reformerische Bewegungen auf, die sich fragten, ob nicht die Mystik oder die enge Anlehnung des Staats an die Religion, zusätzlich zur Last der osmanischen Herrschaft, der Grund für Schwäche, Rückständigkeit, Elend und Stagnation seien. Das Auftreten solcher Gedanken rief einen allgemeinen Umschwung im islamischen religiösen Bewusstsein hervor. Am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts verschärfte sich der Kampf zwischen den Vertretern der Reform und der Modernisierung, die verkündeten, der Islam sei nur eine Religion und man könne sich bei der Begründung der Politik und der Gesetze des Staats und des zivilen Lebens nicht auf die Prinzipien der Scharia stützen, und denen, die sagten, die Schwäche der Muslime rühre aus der Entfernung von der Scharia und ihrer Nichtanwendung in der Realität von Staat und Gesellschaft her. Aber alle diese Darlegungen litten unter einer historischgedanklichen Begrenztheit, welche die Betrachtung des Islam und der Scharia im Kontext der bestimmten historischen Bedingungen und der Funktion, welche die Scharia oder jedes andere Element der religiösen Ideologie seinerzeit erfüllte, verhinderte. Die analytisch-historische Betrachtung der Rechte Gottes und der Rechte des Menschen indessen bestätigt die Verwurzelung der dynamischmenschlichen, weltlichen, politischen und verstandesmäßigen Elemente im Innersten des islamischen Bewusstseins. Und wenn hier in der religionsrechtlichen Betrachtung das Problem der Auseinandersetzung zwischen der Säkularisierung und der religiösen islamischen Neubelebung gestellt wird, darf man einige kulturell-historische Tatsachen nicht vernachlässigen. Wiederholt ist gesagt worden, dass die Einheit des Heiligen und des Nichtheiligen, der Religion, des Staats und der Gesellschaft der Grund für die Schwäche und die Stärke des Islam sei. Wir können diese Aussage nicht genau begreifen, wenn wir nicht zwischen zwei Dingen unterscheiden: 1. der Ansprache des Islam an die Muslime der Kalifatszeit, und 2. seiner Ansprache an die heutigen Araber und Muslime. Es ist von beträchtlicher Bedeutung, dass diese Einheit im Leben nie verwirklicht wurde,
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sondern dass sie eine ständige, konstante Forderung der islamischen Ideologie war, die ihre wichtigsten Ziele ausdrückte. Die islamische Scharia blieb ein Idealbild, das mit der islamischen Realität wenig zu tun hatte. Aber obwohl die islamischen Staaten in ihrer Struktur und Praxis vom islamischen Ideal abwichen, prägte doch der Islam die Köpfe der Muslime und gebot über ihr Verhalten, ihre Lebensweise und ihr Denken. Die Scharia, die in der sozialen und politischen Realität nur selten verwirklicht wurde, formte die Persönlichkeit und Identität des Muslims, seine Sicht auf das Leben und seine Werte. Und weil das Prinzip der Einheit der Religion mit der Welt, der politischen Lebenskraft und der Realität so großen Einfluss hatte, gewannen formaler Charakter, innere Dynamik, Flexibilität und Bereitschaft zur Annahme menschlicher und rationaler Züge die Oberhand in der islamischen Religion. Das kann als implizite Säkularität im Rahmen des seinerzeit vorwaltenden religiösen Holismus gelten. Die Verbindung von Religion und Welt nimmt die Form des Überschreitens oder der Verschmelzung an, und das führt zu Paradoxa wie der Aussage: „Gott hat euch nicht die Welt zum Erbe gegeben, damit ihr euch mit ihm statt mit ihr beschäftigt.“⁵⁹ Und sogar der große Mystiker Ibn ʿArabī⁶⁰ sagt in den „Mekkanischen Offenbarungen“ über die „Wissenden, die behauptet haben, dass das Sein in ihrer Wahrheit verschwunden ist und sie nur Gott sehen“ – über sie sagt er also: „Ihr unvollständiges Wissen darum, wie es sein sollte, ist in dem Maß, in dem es ihnen fehlt, das Fehlen der Welt für sie, und ihre unvollständige Erkenntnis der Wahrheit entspricht dem Maß, in dem diese sich vor ihnen im Hinblick auf die Welt verhüllt hat.“⁶¹ Es ist hohe Zeit, mit der Denkweise Schluss zu machen, die den Wert des Islam nur nach dem Ausmaß seiner Teilnahme an der Vorbereitung der heutigen Kulturrenaissance (nahḍa) misst und nicht nach seinem Wert für seine Zeit, seine Zivilisation und die Leute, die in ihr gelebt haben, sowie als menschliches Vorbild, das er für sie geschaffen hatte. Hier müssen wir anerkennen: Die schwache Hegemonie der Methode des metaphysischen Bewusstseins, die politische Lebenskraft, der Fortschritt der wissenschaftlichen Erkenntnisse, der wirtschaftliche und kulturelle Aufstieg der Stadt, die Verwurzelung der weltlichen Tendenzen, das Gleichgewicht von Theorie und Praxis und die Unterwerfung der Natur und des Übernatürlichen unter den unbeschränkten rationalen Blick, mit anderen
Die Herkunft dieses Zitats ließ sich nicht ermitteln (A. d. Ü.). Muḥiyyaddīn bin ʿArabī, 1165 – 1240, bedeutender Theoretiker des taṣawwuf (islamische Mystik); vertrat die Auffassung von der Einheit des Seins (waḥdat al-wuǧūd). Das Werk „Mekkanische Offenbarungen“ (al-Futuḥāt al-makkiyya) gilt als Hauptwerk Ibn ʿArabīs (A. d. Ü.). Muḥiyyaddīn bin ʿArabī, al-Futūḥāt al-makkiyya, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿilmiyya o.J., Bd. 6, 82.
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Worten: diese implizite Säkularität war die große Errungenschaft der islamischen Kultur. Sie fand auf dem islamrechtlichen Gebiet Ausdruck in dem, was man die Verpflichtungen gegenüber dem Menschen nennt, gegenüber den Forderungen des Menschen und den Rechten der Muslime in ihrer Eigenschaft als freie Besitzer in einer Gesellschaft, in der die Entwicklung der Produktivkräfte das Niveau der einfachen Warenproduktion, des Austauschs unter Gleichen und des rechtmäßigen Gewinns nicht überstiegen hatte. Ohne Zweifel war die Blüte der Stadtwirtschaft die soziale Grundlage dieses partiellen rechtlichen Fortschritts, der in seiner rechtlichen Eigenschaft nicht von der religiösen Ideologie unabhängig war und keine ausreichende gesetzlich-exekutive Kraft erlangt hatte. In dieser religionsrechtlichen Sicht war beispielsweise der Wucher verboten, der Kollektivgeist stabil und die soziale Solidarität stark. Diese Positionen können wir unter den Auspizien jener historischen Bedingungen auch als einen moralischen Aufschwung betrachten. Allerdings vollzog sich der Fortschritt nicht durch den moralischen Hochstand, sondern durch die Verwandlung des Wucherers in einen Helden und durch den egoistischen Individualismus, seine kühlen Berechnungen und seinen moralischen Bankrott. Und tatsächlich, wenn es um den historischen Übergang von der Welt der einfachen Warenproduktion und des rechtmäßigen Gewinns im Mittelalter zur modernen Industriegesellschaft geht, wo der Mensch über die Natur und den technischen Fortschritt gebietet, dann kann man das Wucherverbot nur als Faktor von Hinderung, Verzögerung, Stagnation und Rückständigkeit betrachten. Wenn wir den Islam nach dem Maßstab vorkapitalistischer Verhältnisse messen, dann war er mit seiner Vereinigung von Religion und Welt, mit seinem formalen Charakter und seiner impliziten Säkularität reicher, vielfältiger und lebendiger als die Welt des christlichen Mittelalters und eine positive und angemessene Voraussetzung für ökonomische, kulturelle, moralische und geistige Blüte im Rahmen des erwähnten Entwicklungsstands der Produktivkräfte. Aber diese positiven zivilisatorischen und menschlichen Bedingungen in den Grenzen der Bedingungen der einfachen Warenproduktion bildeten ein Hindernis für den historischen Fortschritt zum Kapitalismus und zu einem höheren Niveau der Produktivkraftentwicklung und der Geschichte in den Stadien des Übergangs und des Fortschritts und seiner komplizierten Begleiterscheinungen. Der Orient war im Allgemeinen empfänglicher für das Erbe der Alten (Griechen und Römer), und das war ein positiver Aspekt. Allerdings war der Prozess der Verarbeitung und Assimilierung dieses Erbes schwierig und langwierig, was für lange Zeit die Fähigkeit des Orients, sich den Weg zu seiner besonderen historischen Entwicklung zu bahnen, einschränkte und seine historische Bewegung verlangsamte. Dass der Islam implizite Säkularität beinhaltete, verlieh ihm eine Fähigkeit zum Widerstand, zur Standhaftigkeit und zur Festigkeit, die den Einfluss des offenen, vollständigen Säkularismus, der die Wünsche
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eines Teils der orientalischen und arabischen Bourgeoisie nach der Beseitigung der Hinterlassenschaft des Mittelalters ausdrückte, schwächte, ebenso wie gewisse Reformschritte meist die Möglichkeit einer radikalen revolutionären Veränderung in der Gesellschaft zunichtemachten. Ist also das Beharren auf der Forderung nach Säkularismus gefragt, oder erfordern die historischen, sozialen und ideologischen Bedingungen eine andere Formulierung und eine neue Sicht auf die Aufgaben der arabischen Befreiung?
Kapitel 9 Glaube und Vernunft, Gott und die Welt 1. Der Glaube ist ein grundlegendes Moment in jedem religiösen Bewusstsein. Aber die Rolle des Glaubens unterscheidet sich in den verschiedenen Religionen. Trägt der Glaube im Islam schon seine eigene Rechtfertigung in sich? Kann er sich selbst als Wahrheit bekräftigen, die ihre Richtigkeit aus sich selbst bezieht? Oder bedarf er äußerer Beleuchtung, verstandesgemäßer Klärung? Der frühe Islam zeichnete sich durch die Ablehnung des vorhergehenden Kulturerbes und die Art aus, auf die sich diese Ablehnung vollzog. Die Ablehnung des Dogmas der Trinität, der Kreuzigung und des Polytheismus ging mit Beweis, Debatte und einer relativ kritischen Haltung zu den Traditionen einher. Diese rationalistische Sichtweise bei der Ablehnung der dschahilitischen und orientalischen Tradition zeigte sich auch in der Grundlegung und dem Inhalt des islamischen Glaubens. Der Islam spricht Menschen mit Verstand, Geist und Einsicht an, nicht Einfältige und Kinder. Ich glaube nicht, weil es absurd und unvernünftig ist (Tertullian), sondern weil mein Glaube nicht im Widerstreit mit dem Verstand ist und weil ich die Richtigkeit meines Glaubens durch Beweis bekräftigen und durch Demonstration beleuchten kann. Der Glaube ist im Islam nicht unabhängig von vernünftiger Bekräftigung und praktischer Bestätigung. Sogar die Murǧiʾa,⁶² die doch die Praxis aus der Definition des Glaubens heraushält, verwandelt den Glauben nicht in eine Fackel für das innere Leben, die aus sich selbst heraus brennt. Der Glaube fügt nichts hinzu und nimmt nichts weg. Darin liegt eine Erleichterung der Dinge. Der Standpunkt der Murǧiʾa reflektiert die Politik, den Völkern der eroberten Länder die Annahme des Islam zu erleichtern. Die Beschränkung des Glaubens auf die Kenntnis der Glaubensinhalte im Allgemeinen, nicht im Detail, und seine Trennung von den Gehorsamsleistungen bringt uns zurück zum formalen Charakter des Dogmas, der zwischen den festen, allgemeinen Prinzipien und den sich mit den wechselnden Umständen erneuernden Vorschriften, einschließlich der rechtlichen, unterscheidet. Die Trennung des Glaubens von der Praxis bei der Murǧiʾa ist seine Trennung von bestimmten Praktiken (Gehorsamsleistungen), aber sie hilft bei seiner Verbindung mit der positiven islamischen Einstellung zur Welt, zur menschlichen Tätigkeit und zur realen Aktivität allgemein. Es gibt im Islam nichts, was einen Widerspruch zwischen Glauben und Murǧiʾa, eine theologische Richtung im frühen Islam, beginnend schon unter den Omaijaden, welche das Urteil über den Abfall eines Gläubigen vom Islam Gott vorbehielt und die Gehorsamspflicht auch gegenüber einem sündigen Herrscher predigte; vgl. Steppat, Der Muslim, 117 (A. d. Ü.). https://doi.org/10.1515/9783110701616-010
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Vernunft begründen oder in den Glauben wunderbare, widervernünftige Geheimnisse einführen würde. Noch der verborgenste Punkt des Glaubens enthält einen verstandesgemäßen Sinn oder eine vernünftige Ansprache. Die Existenz des einen Gottes wird durch einen Beweis bekräftigt, der auf der Einheit der Vernunft, der Einheit der Welt und der Herrschaft der Ordnung in ihr beruht. Gott existiert, wie die Welt eins, wundervoll und gut ist, eine großartige Ordnung hat und der passende Ort für das Leben des Menschen ist. Die Menschen sind aufgerufen, die Welt zu beherrschen und ihre körperlichen und geistigen Fähigkeiten dabei einzusetzen. Der Glaube im Islam ist Gehorsam und Unterwerfung gegenüber der Allmacht Gottes, aber Gehorsam und Glaube verwandeln sich in etwas Anderes – der Glaube ist nicht reich und selbstzufrieden unter Absehung von den Ereignissen des menschlichen Lebens. Es gibt ein praktisch wie geistig äußeres Moment, das zwischen den Motiven und dem Inhalt des Glaubens vermittelt. Die inneren Verhältnisse im Glauben füllte kein besonderer innerer, spiritueller, geheimer Inhalt, sondern sie erforderten einen Inhalt, der intellektuell, real oder praktisch akzeptiert wurde und der uns vom Schöpfer kam. Dies ist die Wahrheit des formalen Charakters in der Glaubenspraxis, die notwendigerweise Innen und Außen verband. Der innere spirituelle Umschwung, der nicht nach außen getragen wird, sondern nach einer mystischen Verbindung mit der Gottheit strebt, garantiert nicht allein das Heil. Im Islam ist der Vollzug des Glaubens eins mit der Vorzüglichkeit des Glaubens, d. h. mit der realen Praxis, deren Feld die Welt und die Gemeinschaft sind. Dass er der Unabhängigkeit des inneren spirituellen Lebens keinen Wert beimisst, zeigt, dass der Mensch seine aktive Rolle in der Welt und die reale Kontrolle über die Bedingungen seines äußeren Lebens wiedergewonnen hat. Weiter zeigt es eine Befreiung von dem religiösen Elend, das die alte Welt hinterließ: Die Welt ist dem Menschen und der Erfüllung seiner Wünsche angemessen. Die Überwindung der Dualität der inneren und äußeren Welt bringt zwanglos das Wiederaufleben des Rationalismus und der weltlichen Neigung zum Optimismus mit sich. Das wichtige und zwingende Resultat dieses Gedankengangs lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass der naive Glaube, der sich nach innen richtet, auf einer niedrigeren Stufe steht als das Wissen und das Licht des Beweises. Gott erhebt „diejenigen, denen das Wissen gegeben ist, um Grade über diejenigen, die glauben“ (Ibn al-ʿAbbās).⁶³ Der Glaube bedarf der rationalen ʿAbdallāh bin al-ʿAbbās, 619 – 687, Cousin des Propheten, spielte eine gewisse Rolle in den Ereignissen der fitna (wörtl. „Versuchung“, erster Bürgerkrieg im Islam). Die Übersetzung folgt hier dem Text, wie ihn Ballouz zitiert, ohne eine Quelle zu nennen. So, wie er sich im ḥadīṯ findet, muss er folgendermaßen wiedergegeben werden: „Gott erhebt diejenigen der Gläubigen, denen das Wissen gegeben ist, um Grade über jene, denen es nicht gegeben ist.“ Muḥammad bin
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Kapitel 9
Rechtfertigung und der real-irdischen Akzeptierung. Jeder Glaubensinhalt wird als Problem in den Zusammenhang eines diskursiv-logischen Denkvorgangs eingefügt. Das Problem „Gott ist bei uns“ beispielsweise war im frühen Islam keine Bitte um die Präsenz der Gottheit, sondern der Beginn einer logisch-gedanklichen Operation: „Ist er selbst bei uns oder in seinen Eigenschaften?“ Und so löst sich die Beziehung des Glaubens zum Wissen in der Beziehung zwischen dem, was noch nicht alle Zweifel und Unklarheiten ausgeräumt hat, und dem, was durch rationalen Beweis erhärtet ist, auf. Der naive Glaube in seiner völligen Selbständigkeit kommt über die Grenzen der Vermutung nicht hinaus. Er braucht dringend die Beleuchtung durch die Vernunft. Selbst das, was die menschliche Vernunft nicht erfasst, bringt uns nicht zu den Geheimnissen des irrationalen Glaubens, sondern gilt als in einer umfassenderen göttlichen Vernunft erfasst. Daher kommt die rationale Erklärung nicht als zusätzliches Element zum Glauben und seinem Inhalt hinzu, sondern bildet einen wesentlichen Teil des Gebäudes des wahren Glaubens und ein unverzichtbares Moment der islamischen Denkweise.⁶⁴ Das Wissen ist der Grund des Glaubens und der Ort, wo man dazu aufgefordert wird; der Gelehrte steht über dem Anbetenden.Wenn der heilige Anselm fordert, dass wir zuerst glauben und dann erst Vernunft walten lassen, so beginnt
ʿAbdallāh al-Ḥākim, al-Mustadrak ʿalā aṣ-Ṣaḥīḥain, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿilmiyya 1990, Bd. 2, 523 – 524. (A. d. Ü.). Das Schwanken zwischen rationaler Erklärung und Glauben bildet ein grundlegendes Element in der islamischen Denkweise. Taufīq al-Ḥakīm erzählt in seinem Roman „Gefängnis des Lebens“ („Siǧn al-ʿumr“, S. 275 – 276) von seinem Vater. Er sagt: „Er war religiös, verrichtete die Pflichtgebete und fastete im Ramadan. Trotz dieser Religiosität wurde er, kaum dass er über Paradies und Hölle rational und kontrovers nachdachte, derart zu logischer Reflexion und abstraktem Denken hingerissen, dass er an den Rand des Unglaubens kam. Nach meiner Rückkehr aus Europa diskutierte ich einmal mit ihm über dieses Thema. Ich fragte ihn: ‚Gibt es Paradies und Hölle?‘, und er ging hin, beleuchtete das Problem von allen Seiten und studierte es wie einen Rechtsfall, zur Weisheit und zum Grund vorstoßend. Ist die Absicht Anreiz und Abschreckung, oder sind Paradies und Hölle symbolisch gemeint? Er ging dazu über, die Sache ganz rational und frei zu diskutieren, und kam am Schluss zu einem Ergebnis, das beinahe dem Text des Koran widersprach. Plötzlich bemerkte er die Gefahren des Unglaubens, rief ‚Gott steh’ mir bei!‘ und verrichtete das Gebet. Als ich lachend zu ihm sagte: ‚Jetzt betest du, und gerade noch hast du geleugnet, was in Gottes Buch steht!‘, sagte er: ‚Ich habe gar nichts geleugnet, ich habe nur nachgedacht. Das Gebet ist eins; die Gedankensprünge sind etwas Anderes‘.“ Man sollte sich über die hier dargestellte Spannung nicht sorgen oder sie tragisch nehmen – sie ist, wie gesagt, ein normaler Zug des islamischen Denkens (Fußnote von Nayef Ballouz).
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der Muslim mit dem Wissen: „Wir haben das Wissen auch von anderen als Gott eingefordert, aber es weigerte sich, anderen als Gott anzugehören“ (al-Ġazālī).⁶⁵ 2. Das Glaubensbekenntnis war das einzige feste Band für die islamische Gemeinschaft. Im frühen Islam gab es keine kanonisierte, endgültige und für alle verbindliche Formulierung des Glaubensinhalts. Es gab auch keine priesterlichtheologische Autorität mit letztgültiger Entscheidungskompetenz in Glaubensfragen. Dies ist einer der Erklärungsgründe für die Vielfalt der Richtungen hinsichtlich der Gottesvorstellung und der Betonung bestimmter Züge (Gottes) gegenüber anderen (Transzendenz, Präsenz, Fernhalten Gottes von menschlichen Attributen, Anthropomorphisierung, Determinierung des Schicksals, Willensfreiheit usw.). Allerdings blieb die umfassende Allmacht das grundlegende Moment in der Vorstellung von der Gottheit. In ihrer Bedeutung wurde sie meist gleichgesetzt mit dem strengen Monotheismus und der Ablehnung der Vermittlung zwischen Gott und dem Menschen. Gott ist allmächtig, und zwischen ihm und dem Individuum gibt es keine unmittelbare Verbindung oder besondere Vermittlung. In diesem Sinn steht er auf einer sehr fernen Höhe über oder hinter dem Menschen, wobei die Blicke des Menschen sich auf die äußere, sinnlich wahrnehmbare Welt und die Gemeinschaft richten. In diesem Bild des Menschen erkennen wir die weltliche Tendenz und den formalen Charakter der Gehorsamsleistung. Der Mensch entdeckt nicht unmittelbar in seinem tiefsten Inneren das Prinzip des Übernatürlichen, sondern bekräftigt und verkündet seine Demut gegenüber der Gottheit mittelbar durch sein praktisches Verhalten. Das darf man nicht so verstehen, dass es keine persönlichen Züge in der Vorstellung von der Gottheit gibt, denn ohne sie wären Verehrung und individuelle Frömmigkeit nicht möglich. Die anthropomorphen, persönlichen, sinnlichen Züge, die in der Güte, im Offenbarwerden, im Willen, im Sehen, im Hören und im Reden erscheinen und die auf das Eingreifen der Ewigkeit in die Zeit hinweisen, treten hinter der prononcierten Transzendenz, der Gleichheit aller Menschen in der Gemeinschaft und der Demut sowie hinter der Unterwerfung unter die Gottheit zurück. Der Anthropomorphismus, den wir im ehrwürdigen Koran in der Beilegung von Attributen an Gott finden, wurde tatsächlich nicht wörtlich genommen. Seine Auswirkung wurde durch den häufigen Gebrauch von Verben der Hochschätzung und die starke Tendenz zur Erhöhung, zur Vermeidung von Anthropomorphismus und zur rationalen Erklärung abgeschwächt, auch wenn diese Tendenz am Anfang noch nicht vorherrschend war. Das Problem des Anthropomorphismus war
Abū Ḥāmid al-Ġazālī, 1058 – 1111, bedeutender Theologe und Rechtsgelehrter, schrieb die große Summa „Die Wiederbelebung der Wissenschaften der Religion“ (Iḥyāˈ ʿulūm ad-dīn). Die Stelle ist zitiert nach al-Ġazālī, Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn, Beirut: Dār al-Maʿrifa 2004, Bd. 1, 49 (A. d. Ü.).
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Kapitel 9
nicht religiös, sondern historisch-kulturell, d. h. es resultierte nicht aus einem ideologischen Inhalt, sondern aus dem Entwicklungsstand des Denkens. 3. Die Versicherung der göttlichen Allmacht im frühen Islam war Ausdruck einer Ideologie, die sich gegen das Priestertum, das Heidentum, die illusionäre Legendentradition, die soziale Unterdrückung, die Tyrannei der Könige und gegen alle Kräfte richtete, die den Fortschritt und die Ausbreitung des Islam behinderten. Aber wenn diese Allmacht das Individuum und nicht die Gemeinschaft betraf, nahm sie die Form einer Vorherbestimmung, eines göttlichen Schicksals oder eines göttlichen Willens an. In diesem Fall wird die Erlösung eine göttliche Angelegenheit und erfolgt der Lohn ohne Verdienst und die Strafe ohne Sünde. Ohne Zweifel ist die Konzeption der absoluten Allmacht eine religiöse Position, die auf einigen Koranversen beruht. Allerdings erfolgte die Herausstellung dieser Tendenz als Ausdruck der grundlegenden islamischen Vorstellung von der Gottheit erst in einer späten Periode. Nachdem die islamische Gemeinschaft eine politische Kraft mit Vormacht und Herrschaft geworden war, erschien die Allmacht Gottes gegenüber der Gemeinschaft der Gläubigen als göttliche Gnade. Und die göttliche Gnade betrifft die Gemeinschaft. Gott schrieb sich selbst die Gnade zu und schwächte die islamische rechtliche Umfassendheit, indem er nicht die Pflichten des Menschen, sondern die Gottes ihm gegenüber in den Vordergrund stellte. Es besteht kein Widerspruch zwischen seiner Gnade und Weisheit einerseits und seiner Allmacht andererseits. Dieses Problem hängt auch mit der Beziehung des irdischen Lebens zum jenseitigen zusammen. Die Tore des Paradieses öffnen sich vor dem, der der Sache des Islam zum Sieg verholfen hat. Und ob nun die Betonung auf den Sünden lag (bei der Muʿtazila) oder ob das Urteil darüber zurückgestellt wurde (bei der Murǧiʾa), das Wichtigste waren doch immer, anders als im Christentum, die Gläubigen. Manchmal galt das Aussprechen des Glaubensbekenntnisses als ausreichende Heilsgarantie. Die Erleichterung der Erlangung des Heils für die Muslime verringerte den Wert der individuellen Religiosität und Gottesfurcht, und sie verringerte auch die Bedeutung des jenseitigen Trostes. Die im Islam vorherrschende Konzeption ist die der kollektiven, nicht der individuellen Heilsgewissheit. Diese Konzeption bindet das Heil nicht an ein religiöses Verhalten, das die Verbindung des Individuums mit der Gottheit herstellt, sondern an eine religiös-politische Position, an der die Gemeinschaft teilhat. Daher finden wir im Islam nicht das Gefühl der religiösen Besorgnis. Die manchmal fast vollständige Identität von Gerettetem und Muslim verwandelte die Doppelung Natur/Übernatürliches und Paradies/Hölle in die politische Dualität
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Haus des Friedens/Haus des Kriegs⁶⁶ und in die moralisch-soziale Dualität, die zwischen gutem und schlechtem Verhalten unterscheidet. Die verstärkte Kontrolle der Gemeinschaft der Gläubigen über die Dinge ihres Lebens, die Öffnung der Horizonte einer breiten politisch-ökonomischen Entwicklung vor ihr und ein allgemeiner zivilisatorischer Fortschritt – alles das rief die Muslime dazu auf, auf ihre Vernunft zu bauen, auf ihre Kräfte zu vertrauen und den Inhalt des Glaubens und die Vorstellung von der Gottheit stärker rational zu durchdringen. So begann Gottes Allmacht als Wissen, Weisheit und Gerechtigkeit in Erscheinung zu treten. Was den absoluten Willen angeht, so enthält er sich der Lenkung der menschlichen Tätigkeiten und beschränkt sich auf den Akt der Schöpfung, der Schöpfung der Welt als Ganzer. Einige Theologen sollten bis zur Leugnung des göttlichen Willens und zu der Auffassung gehen, er sei nicht absolut, sondern nur für die menschliche Betrachtung ein göttliches Attribut.Was die göttliche Weisheit angeht, so herrscht sie in der Welt und sichert ihr allgemeine Ordnung und Unabhängigkeit. In der islamischen Vorstellung von der Beziehung Gottes zur Welt ist diese Welt kein Übel, das den Menschen durch das Interesse für sie von seiner wahren Bestimmung abhält, sondern ein Feld, das in den Dienst des Menschen gestellt ist, auf dem sich seine Kräfte entfalten und auf dem er seine Ziele verwirklicht. Der Mensch ist der Stellvertreter Gottes auf Erden. Gott hat ihn zum Herrn der Geschöpfe (einschließlich der Engel) gemacht. So wird das irdische Leben kein Ausdruck für den Fall der Seele oder das Eindringen der Sünde in das Innerste des Menschen, sondern eine weltlich-göttliche Einrichtung. Der strenge Monotheismus lässt keinen nennenswerten Raum für die Beziehung des sündigen, übertretenden Menschen zur göttlichen Milde und zur Vergebung. Die Sünde gehört nicht unbedingt zur menschlichen Natur. „Wir haben den Menschen in der besten Gestalt geschaffen“ (Koran 95, 4), und das individuelle Heil ist demgemäß nicht der Angelpunkt des religiösen Interesses. Die Vorbilder der Muslime waren Menschen, die reale, normale, gewöhnliche Dinge praktizierten, die Praxis und Theorie vereinten und sich nicht ausschließlich mit dem Gottesdienst beschäftigten und sich damit vom islamischen Ideal zurückzogen. Der Muslim ging von der Auffassung, die Welt sei eine Auswirkung Gottes, zur Beschäftigung mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen der Antike und der unmittelbaren Naturbeobachtung über. So wurde in der Welt des Islam die positive Beziehung des Denkens zur äußeren Welt teilweise wiedergewonnen, und durch ihre Wiedergewinnung fanden das rationale theoretische Denken und die
In der traditionellen islamischen Vorstellung ist das „Haus des Friedens“ der Herrschaftsbereich des Islam, das „Haus des Kriegs“ die ganze übrige Welt. Das erste soll auf Kosten des zweiten wachsen, wenn nötig durch Krieg (A. d. Ü.).
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wissenschaftliche Forschung geeigneten Boden für ihre Entwicklung. Hier erkennen wir die ideologisch-religiöse Voraussetzung für die Entfaltung, die Blüte und den zivilisatorischen und intellektuellen Fortschritt in der Welt des Kalifats. 4. Es gibt eine deutliche Übereinstimmung zwischen der positiven Beziehung des Denkens zur Welt einerseits und dem rationalen Herangehen an die Vorstellung von der Gottheit andererseits. Die göttliche Allmacht offenbart sich auf der Ebene des Blicks auf die Welt in der Transzendenz der Gottheit, in ihrem Freihalten von menschlichen Attributen und in der ihr entsprechenden allgemeinen Demut. Diese Allmacht verwirklicht sich in einem relativen Rückzug Gottes aus der Welt und in einem Verzicht auf, ja sogar in der Ablehnung einiger Formen der Offenbarwerdung, die das Christentum kannte und die im Islam als Antastung seiner Kraft und daher seiner Transzendenz sowie als Verstoß gegen den gesunden Verstand galten. Durch die Betonung der Transzendenz und die Vermeidung von Anthropomorphismus näherte sich das Verständnis der göttlichen Macht bis zu einem gewissen Grad dem Verständnis der göttlichen Vernunft und der Notwendigkeit der Rationalität an, wie es die Philosophen vertraten. Diese Tendenz entsprach der Reduzierung des Bereichs der unmittelbaren göttlichen Aktion und ihres Interesses an den Partikularia sowie der Legitimierung der praktischen und intellektuellen menschlichen Tätigkeit (die Wahlfreiheit) und der Grundlegung der wissenschaftlichen Forschung (die sekundären Ursachen). Einer bestimmten Beziehung des Denkens zur äußeren Welt steht zu dieser passend eine andere, ebenso bestimmte Beziehung zwischen Gott und dem Menschen, also eine bestimmte Vorstellung von der Gottheit gegenüber. Immer, wenn die erste Beziehung stark und positiv war, bekam das menschliche Verständnis des Dogmas größere Bedeutung. Gott ist eine einzige, umfassende, transzendente Gottheit. Er bedarf keiner Schleier, sinnlich-konkreter Annäherung oder persönlicher Verkörperung nach dem Muster des göttlich-menschlichen Dramas im Christentum, und er braucht auch keine priesterlich-kirchliche Repräsentation. Die Vorstellung von der Allmacht Gottes ist mit dem strengen Monotheismus und der Abwesenheit von Vermittlern eng verbunden. Die zentrale Rolle der Gemeinschaft der Gläubigen im islamischen religiösen Bewusstsein ist im Einklang mit dieser Vorstellung von der Gottheit. Die göttliche Allmacht ist in der göttlichen Transzendenz und in der dementsprechenden allgemeinen Unterordnung unter die Gottheit repräsentiert. Durch die Festsetzung der Unterordnung mit der entsprechenden Unterwerfung und die Bezeichnung der Gottheit mit den allgemeinen Eigenschaften der göttlichen Existenz (Weisheit, Gerechtigkeit, kosmische Ordnung, Gewohnheit Gottes, Religionsgesetz usw.), also durch die Erhöhung, die Unnahbarkeit und die Abschließung der Gottheit in ihrer transzendenten Allgemeinheit – durch all das konnte der Mensch seine relative Unabhängigkeit und seine besondere Aktivität
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bekräftigen und sich ein geeignetes Feld für den intellektuellen, wissenschaftlichen und menschlichen Fortschritt verschaffen. Daran ändert auch nichts, dass die Vorstellung von der Gottheit mit einigen primitiven Gedanken vermischt wurde, die in den Ländern vorherrschten, in denen sich der Islam ausbreitete. Wir können sagen, dass der allgemeine Glaube an das Übernatürliche der besonderen islamischen Vorstellung von der totalen göttlichen Macht und dem Glauben an sie nicht gleicht. Der Glaube an Gott in seiner islamischen Form ist mehr als bloß ein einfacher Glaube an das Übernatürliche. Er kann zum anthropomorphen Fatalismus und zum extremen Irrationalismus neigen, aber auch zum rationalen Herangehen, zur Transzendenz und zur Vermeidung des Anthropomorphismus. Und diese letztere Vorstellung ist es, die in den blühenden Zeiten der islamischen Zivilisation und den Epochen des Fortschritts und des Wiederaufstiegs vorgeherrscht hat. Diese islamische Vorstellung von der Gottheit (die Transzendenz) harmoniert mit dem formalen Charakter von Glauben, Gehorsam und Dogma. Dieser formale Charakter ist die ideologische Vorbedingung, welche die positive Stellung zur Welt und zum theoretischen Denken ermöglicht. Tatsächlich sind die Transzendenz in der Vorstellung von der Gottheit und der formale Charakter des Glaubens und seines Inhalts zwei Seiten eines Sachverhalts, der das Ausmaß der Einwirkung des rationalen Denkens auf das religiöse Bewusstsein widerspiegelt. Die Transzendenz und der formale Charakter sind das Fundament des Gebäudes des religiösen Denkens im Islam sowie der Erneuerungs- und Entwicklungsfähigkeit des Islam. Diese beiden erklären auch die Behauptung einiger Orientalisten, der Islam sei die rationalste Religion. Der formale Charakter schwächte die Unabhängigkeit und die Vorzugsstellung des theoretisch-religiösen Moments gegenüber den anderen Ebenen des islamischen Bewusstseins. Tatsächlich ist die grundlegende Unterscheidung im Islam nicht die theologisch-religiöse zwischen der Natur und dem Übernatürlichen. Dass es kein im tiefsten Inneren verborgenes übernatürliches Geheimnis gab, und dies ist hier ja die Bedeutung des formalen Charakters, setzte die Unabhängigkeit der theologisch-religiösen Wissenschaft oder ihre innere Kohärenz der ständigen Gefahr der fortgesetzten Angriffe der Vernunft aus. Die Beziehung der Natur zum Übernatürlichen neigte aufgrund dieses formalen Charakters einerseits zu einer Beziehung zwischen richtigen, guten und schlechten, bösen Werken und andererseits zu einer Beziehung zwischen klaren, vernünftigen und hypothetischen, zweifelhaften Gedanken, die der Auslegung und Prüfung unterlagen. Der Glaube ist im Islam eine Spielart des Wissens. In dieser geistigen Atmosphäre verwandelte sich die Philosophie nicht in eine Dienerin der Theologie, wie es im europäischen Mittelalter der Fall war, sondern wurde die Theologie zum Eingangstor für die Philosophie. Die islamischen Häresien gaben nie das islamische Gedankengebäude auf, sondern lehnten nur eine
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bestimmte Art der göttlichen Präsenz, das Religionsgesetz, ab und legten so den religiös-ideologischen Grund für die Bekämpfung des Kalifats in den Zeiten seines Verfalls.
Kapitel 10 Die arabisch-islamische Kultur. Ihr Ort in der Geschichte des Denkens und ihre hauptsächlichen Bestrebungen Wenn wir das geistige und kulturelle Leben des Mittelalters auf die Achse der Entwicklung des menschlichen Denkens legen, finden wir, dass diese Periode auf der Ebene der reinen Theorie im Vergleich mit der klassischen Wissenschaft der griechischen Antike einen Rückschritt darstellt. Ein Denker hat gesagt, dass das Denken selbst in den Momenten der größten Blüte der arabischen Zivilisation nicht das Niveau der griechischen Philosophen oder die geometrische Vorstellungskraft der alexandrinischen Schule erreicht hat. Allerdings ist diese Bemerkung partiell, erfasst nicht die ganze Wahrheit der geistigen Situation und ihrer Dimensionen und ermöglicht uns nicht, die Bedeutung der arabisch-islamischen Kultur sowie ihren Sinn und ihren Ort in der allgemeinen Kulturgeschichte zu erkennen. Darum müssen wir den Zusammenhang zwischen der Entwicklung der materiellen und derjenigen der geistigen Kultur in ihrem ganzen Umfang und ihrer realen Geschichtlichkeit erfassen. Das Mittelalter stellte weltgeschichtlich einen allgemeinen zivilisatorischen Fortschritt gegenüber den ihm vorangehenden Epochen dar. Dieser Fortschritt äußerte sich in einem höheren Niveau der Produktivkräfte und der Technik und in einer weniger harten und grausamen Unterdrückung und Ausbeutung als in der Sklavenhaltergesellschaft sowie einer weniger schlimmen Despotie als in der auf der asiatischen Produktionsweise beruhenden Gesellschaft. Die Diskontinuität in einem Aspekt des geistigen Lebens (nämlich dem theoretischen Niveau) muss in den umfassenderen Kontext der fortschreitenden historischen Kontinuität der sozialen Entwicklung insgesamt gestellt werden. Weil das theoretisch-rationale Denken eine besondere Frucht der antiken griechischen Gesellschaft war, konnte es in der Epoche des Niedergangs der antiken Welt die sozialen Umbrüche und politischen Unruhephasen, die den Untergang der Sklavenhaltergesellschaft begleiteten, nicht verarbeiten und keinen realistischen Ausweg aus ihnen oder eine rationale Erklärung für sie finden. Der enge Klassenhorizont dieses Denkens und seine besondere soziale Einbettung hinderten es auch daran, mit dem geistigen Erwachen mitzugehen, das die niedrigen, unterdrückten Schichten erfasste, und es zu verstehen. Dies sind, kurz gesagt, die wichtigsten Faktoren, die das Schicksal des philosophischen Denkens in der Spätantike bestimmten: Als sich dieses theoretische Denken von seiner sozialen und politischen Grundlage löste, konnte es weder das Erwachen des religiösen Bewusstseins, das in alle Kreise der Gesellschaft einhttps://doi.org/10.1515/9783110701616-011
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drang, verhindern noch einfach vor ihm kapitulieren. Die Herausbildung der Idee der Menschlichkeit und ihr Gehalt – positive Bewertung der körperlichen Arbeit, Zurücktreten der Sklavenhalterideologie, Verbesserung der menschlichen Existenzbedingungen mittels der Ersetzung der Sklavenhalterverhältnisse und der asiatischen Produktionsweise durch die Feudalverhältnisse und die Entwicklung der Technik – alles das führte zu neuen, fortgeschrittenen Bedingungen für das Verhältnis des Menschen zur Welt. Allgemein gesprochen zeugt es auch von einem geistigen Fortschritt. Allerdings wurde es seinerzeit nicht theoretisch durchleuchtet, und es führte nicht zur philosophischen Analyse der Beziehung des sozialen Bewusstseins zur sozialen Realität. Die verelendeten Schichten und die unterdrückten Völker wurden sich stärker ihrer Schwäche, ihres Unterworfenseins und des Werts ihrer Mühen, ihrer Leistungen und ihrer Arbeit bewusst, aber dieses Selbstbewusstsein enthielt noch keine rationale und realistische Antwort auf die sich verschärfenden sozialen Probleme. Diese Antwort war aus mehreren Gründen unmöglich, unter anderem wegen der Blockierung jeder bewussten Suche nach einem realistischen Ausweg aus der sozialen Krise, in welche die antike Welt und das Römische Reich in einer bestimmten Epoche geraten waren, denn es gab keine aufsteigenden sozialen Kräfte oder Klassen, die fähig waren, die historische Übergangsbewegung von der Gesellschaft der asiatischen Produktionsweise oder der Sklavenhaltergesellschaft zur Feudalgesellschaft oder ihrem orientalischen Pendant im Mittelalter zu meistern oder dieser historischen Übergangsbewegung ihren spontanen und willkürlichen Charakter zu nehmen. Der Übergang blieb ein wohlgehütetes Geheimnis und vom Bewusstsein, vom Willen und von der Arbeit des Menschen völlig unabhängig. So erschien die Theorie machtlos gegenüber der Realität. Sie war nicht mehr Verstehen oder Erfassung der Realität, sondern verwandelte sich in eine Scheinerfüllung großer unerfüllbarer Hoffnungen. Die Theorie der Realität selbst wurde zu einer anderen Realität, zu einer himmlischen, göttlichen Welt. Das wirkliche theoretische Denken ging in Rauch auf, und an seine Stelle trat das Streben nach der metaphysischen Verbindung mit dem Übernatürlichen. So trat die Menschheit mit dem Niedergang der antiken Welt in das Stadium der Hegemonie des religiösen Glaubens auf der Ebene der Ideologie und der Institutionen ein. Hier ist von besonderer Bedeutung, dass das geistige Erwachen, das die niederen und mittleren Schichten und die übrigen Produzenten unmittelbar erfasste, ein Niveau erreichte, das sie befähigte, ihre besonderen Gedanken, Ansichten und ideologischen Überzeugungen zu formulieren. Diese geistige Entwicklung begann mit dem elementaren Selbstbewusstsein bei den Unterdrückten in den alten asiatischen Gesellschaften (die Anfänge der Erlösungsreligionen), mit dem Wissen der Bauern um ihre schwere Lage und dem Wissen der Sklaven um ihr Sklaventum in der griechischen und römischen Antike. Dann offenbarte
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sie sich kraftvoll im Mittelalter im Wissen der abhängigen Freien um ihre Abhängigkeit (bei unterschiedlichen Graden der Abhängigkeit). Das Bewusstsein der Abhängigkeit, des Unterworfenseins und der sie begleitenden Ausbeutung und Unterdrückung war wie die früheren Formen des Bewusstseins dazu verurteilt, ein religiöses Bewusstsein zu sein. Das war nicht nur darauf zurückzuführen, dass die bewegende Kraft der Geschichte den Menschen immer noch ein Buch mit sieben Siegeln war, oder etwas, was außerhalb der Welt, der Gesellschaft und der Geschichte niedergelegt war, sondern auch darauf, dass die Realität der Unterwerfung, Abhängigkeit und ökonomischen Ausbeutung, von der man sich nicht befreien konnte, sich im Bewusstsein widerspiegelte und in eine höhere Macht oder einen Auftrag des Himmels zur Lenkung der Welt, der Erde und des menschlichen Lebens verkehrte. Was Europa im Mittelalter betrifft, können wir sagen, dass die Zerstörung der Strukturen der antiken Welt und die Etablierung der unmittelbaren, offenen feudalen Abhängigkeitsbeziehungen und ihrer rechtlichen Folgen die soziale und politische Grundlage für die tyrannische Hegemonie der religiösen Ideologie bildete. Die Leibeigenen wurden durch diese Erkenntnis ihrer Leibeigenschaft, ihrer Schwäche und ihrer schwierigen Lage zu Halbfreien, und die halbe Freiheit öffnete ihnen den Weg zum Himmel. Aber die Geschichte des geistigen Lebens im Mittelalter zeigt, dass die ideologischen Gedanken, welche die Unterdrückten übernahmen oder an deren Formulierung als Ausdruck ihres Bewusstseins von ihrer Schwäche und Leibeigenschaft sie beteiligt waren, eben die Gedanken waren, die in grundlegende Stoffe und Bestandteile bei der Herausbildung der herrschenden feudalen Ideologie umgeformt wurden, deren Aufgabe es war, die real bestehende Leibeigenschaft und Ausbeutungsbeziehung in der Gesellschaft zu rechtfertigen. Es gab also hier einen funktionellen Wandel derselben gedanklichen Materie. Nachdem das frühe Christentum der stärkste Ausdruck der Proteste und Bestrebungen der Unterdrückten, Mühseligen und Beladenen war, verwandelte es sich selbst in eine offizielle, kirchliche feudale Ideologie, die den Ausbeutungsbeziehungen in den Augen der Leute den Anschein von Ewigkeit und Stabilität gab. Das lag, wie gesagt, daran, dass das Christentum das Moment der Negativität und des menschlichen Gehorsams bekräftigte. Die Hegemonie des christlichen religiösen Bewusstseins im Mittelalter zeigte, dass die Methode der metaphysischen Sicht es war, die den allgemeinen Rahmen und den wesentlichen Inhalt des sozialen Bewusstseins festlegte, und das trieb das religiöse Bewusstsein dazu, seine Eignung durch seinen besonderen Nutzen zu bekräftigen. Ich habe schon darauf hingewiesen, dass das religiöse Bewusstsein in seiner ersten unverfälschten Gestalt keine Demonstration und keinen Beweis für die Richtigkeit seiner Überzeugungen anführte und an der Bezweiflung durch die Kraft der Vernunft und des theoretischen Denkens nicht interessiert war.Vielmehr
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ging es von einem älteren, weiterreichenden und tieferen Moment im menschlichen Bewusstsein aus, dem Moment des vollständigen Vertrauens und der absoluten Überzeugung von seinem Inhalt und der Richtigkeit seiner Sicht, die den Menschen mit dem Transzendenten verband. Dieser einfache, elementare Standpunkt kennzeichnete die Methode der metaphysischen Sicht, verurteilte das religiöse Bewusstsein zur Erstarrung und zur Nutzlosigkeit und beraubte das unverfälschte religiöse Leben seiner wirklichen inneren Dynamik. Darum kann man sagen, dass das religiöse Bewusstsein keine besondere, unabhängige Geschichte hat und dass die religiösen Entwicklungen tatsächlich keine sind, sondern das Ergebnis äußerer Einflussfaktoren, die sich ihnen aufdrängen und ihren Inhalt bestimmen. So ist die religiöse Entwicklung ein Wandel im Charakter und in der Bedeutung des Inhalts, der dem Wandel der sozialen Erscheinungen folgt, wobei er den älteren, stabilen Gehalt beibehält, der in der Methode des metaphysischen Denkens verkörpert ist. Dieser unhistorische Charakter des religiösen Bewusstseins ist eine günstige Voraussetzung für das Wirken der äußeren, nichtreligiösen Elemente im Inneren der religiösen Ideologie. Allerdings muss das metaphysische Denken aufgrund seiner Natur selbst diese Elemente außen vor lassen und in Fällen der völligen Negativität und der scharfen Krisen so weit wie möglich den Inhalt des religiösen Bewusstseins kontrollieren. Dann breitet sich aus der tödlichen Verzweiflung heraus die innere Religiosität aus, die sich zu einer Erregung und Intensität steigert, durch die das Absehen des Menschen von der äußeren Welt und ihren Erfordernissen ein Gewinn, ein Erwerb und ein Sieg wird. Die Momente der Offenbarung, der Inspiration, der Heiligkeit, des Gottesdienstes, der Frömmigkeit und der Askese sind nur verschiedene Fälle der intensiven inneren Religiosität, aber diese Entrückung kann nicht ganz und praktisch verwirklicht werden, denn ein Mindestmaß an Erfordernissen der materiellen menschlichen Existenz und der immer neuen Umstände des Lebens kann man nicht ignorieren. Darum gilt diese Entrückung als ein extremer, unrealistischer Idealfall, als unerreichbare religiöse Forderung. Nach dem Niedergang der Sklavenhaltergesellschaft und dem Durchgang durch die ersten Stadien der asiatischen Produktionsweise begannen sich die Widersprüche im Inneren der mittelalterlichen Gesellschaft, die von Feudalbeziehungen geprägt war (oder von anderen Verhältnissen, über deren Benennung bis jetzt keine Einigkeit herrscht, die ich aber als Feudalbeziehungen mit orientalisch-asiatischen Zügen betrachte), zu verschärfen. Besonders im Orient zeigten die objektiv aus jenen sozialen Widersprüchen resultierenden politischen und sozialen Kämpfe in der frühen mittelalterlichen Geschichte große Kraft und Wirkung. Das geht auf die Festigung des politischen Zentralismus, die Standfestigkeit der städtischen Wirtschaft und Kultur sowie die Blüte der Warenproduktion und der Handelstätigkeit zurück.
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Diese sozialen und politischen Kämpfe spiegelten sich ideologisch in der Vielzahl der religiösen Bewegungen und in der Vielfalt des intellektuellen Lebens wider, ohne dass die offizielle religiöse Ideologie ihre generelle Hegemonie verloren hätte. Die herrschende religiöse Ideologie segnete nicht nur die bestehenden Zustände ab und machte ihre religiöse Institution zu einem Teil des Staatsapparats bzw. verwandelte sie in den Staatsapparat, sondern opponierte und kämpfte auch gegen die sozialen Verhältnisse, welche die offizielle religiöse Ideologie absegnete. Das ist kein Zeichen für die Schwäche der religiösen Ideologie, sondern im Gegenteil für ihre völlige Hegemonie, die jeder Form des ideologischen Ausdrucks einen religiösen Stempel aufdrückt. Hinzu kommt noch, dass die Wachsamkeit der getretenen und unterdrückten Schichten und ihre Erkenntnis über den Wert ihrer Aktivität und ihrer Arbeit unter den Bedingungen der Leibeigenschaft, aus der es keine Möglichkeit der Befreiung gibt, ihrerseits das religiöse Bewusstsein und seine Hegemonie verstärken. Diese wichtige geistige Konstellation, in der jeder soziale Kampf den Charakter eines Kampfs zwischen religiösen Richtungen annahm, herrschte allgemein im Westen wie im Osten. Sehr wichtig ist hier die Unterscheidung zwischen der offiziellen religiösen Richtung einerseits und den religiösen Neuerungen und Häresien andererseits, wobei einige offizielle religiöse Richtungen manchmal dieselben Eigenschaften hatten wie die Neuerungen selbst, vor allem in der ersten Zeit ihrer Hegemonie. Die Neuerungen, Häresien und Versuche der religiösen Erneuerung und Reform im Mittelalter konnten in den Zeiten ihrer Blüte starke Bereitschaft und Neigung zur Wiedergewinnung und Nachahmung der Errungenschaften des theoretischen Denkens zeigen, darunter auch der Philosophie, die mit der Zerstörung der antiken Welt und dem Eintritt in das Zeitalter des religiösen Glaubens niedergegangen war. Das wurde zuerst und in besonderer Weise in den gnostischen Richtungen offenbar, welche die passende ideologische Grundlage für die Bewegungen der sozialen und politischen Opposition und für die Belebung des geistigen und kulturellen Lebens lieferten. Die Oppositionsbewegungen zielten also im Zeitalter des religiösen Glaubens (also im Zeitalter der offenen Leibeigenschaft und des spirituellen Erwachens der Elenden) nicht auf die Beseitigung der religiösen Ideologie ab, denn sie brauchten selbst ein religiöses Bewusstsein, das ihr Bedürfnis nach imaginärer Erlösung befriedigte oder, andererseits, den Geist des Widerstands bei ihnen nährte. Die Aufgabe dieser Opposition beschränkte sich darauf, eine Veränderung in die religiöse Sicht auf die Welt einzuführen, die zu einer Veränderung in der Haltung zum Leben, zum Denken und zur Gesellschaft passte oder eine solche Veränderung zur Folge hatte. Die wichtigsten Züge dieser Veränderung waren die irdisch-weltliche Realisierung einiger Ziele und Ideale, die man in die höhere Welt verschoben hatte, oder die Rechtfertigung des Kampfs gegen die bestehenden Institutionen.
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Hier sehen wir uns trotz der Kraft der spirituellen Tendenz und der religiösen Hegemonie den Anfängen einer impliziten Säkularisierung und einer rationalen Sicht gegenüber. Das reflektiert jedenfalls den stärkeren Widerstand gegen die Hegemonie der offiziellen religiösen Institution und die soziale Unterdrückung sowie die Ausweitung der oppositionellen politischen Tätigkeit als Ausdruck der Intensivierung der historischen Dynamik. Es zeugt auch von dem Bedürfnis, die Möglichkeiten und Errungenschaften des rationalen theoretischen Denkens zu Hilfe zu nehmen, die lange Zeit vernachlässigt worden waren. Alles das führte zur partiellen Befreiung der Inhalte des Dogmas von den metaphysischen Motiven, die aus der Situation der allgemeinen Unterwürfigkeit resultierten, wie das beim Christentum der Kirche der Fall war, und zur positiven Aufnahme der Forderungen der Realität und ihrer Verwandlung in religiöse Motive. Daher versteht sich auch das Eingehen der Religion, die doch eigentlich auf die höhere Welt ausgerichtet ist, auf die Wärme der menschlichen Solidarität, den Enthusiasmus des gemeinsamen Kampfs, den Geruch des realen Lebens, die Kraft der irdisch-weltlichen Empfindung, die Lebenskraft der menschlichen Gefühle und Beziehungen und die kühne Verstandestätigkeit. Die transzendente Gottheit, welche die menschliche Realität zu Schwäche und Öde verurteilt hatte, beginnt nun, die realen, lebendigen Forderungen dieser Realität wahrzunehmen und zu ihrer eigenen Sache zu machen. Im Ergebnis wird die metaphysische Verbindung bis zu einem gewissen Grad geschwächt und versiegen die Quellen der Inspiration, der Offenbarung und der Heiligkeit. Aber auch hier bleibt die religiöse Ideologie weiter hegemonisch als gedankliches, umgekehrtes Produkt historischer und sozialer Notwendigkeiten, aber sie verliert etwas von ihrer erregten, demütig flehenden, innerlich brennenden Aufladung und von ihrer unabhängigen metaphysisch-heiligen Kraft. Andererseits setzen sich die Neigung zur Verwirklichung der Ziele des Menschen und des Lebens auf der Erde sowie das Interesse an der Welt, die aktive Haltung zu ihr, das Vertrauen auf den menschlichen Verstand und die Wiederaufnahme der wissenschaftlichen Forschung usw. fort, und zwar sehr intensiv während des gesamten Mittelalters. Das erreichte seinen Höhepunkt im Zeitalter der europäischen Renaissance, was zu einem Bruch mit der kirchlichreligiösen Ideologie des Mittelalters führte. All das zu erwähnen war nötig, um den Rahmen für die genaue Bestimmung des Orts des Islam im Verlauf der historischen Aufwärtsentwicklung zu setzen und zur Kenntnis zu nehmen, wie weit er von den Fesseln entfernt bzw. von ihnen frei war, mit denen die Kirche das menschliche Denken und Handeln eingezwängt hatte. Weiter sollte gezeigt werden, wie sehr der Islam die im Christentum übliche starke Orientierung auf das Jenseits abgeschwächt, sich an die freie theoretische Betätigung angenähert und das klassische philosophische Denken und seine großen politischen Ziele aufgenommen hatte. Allerdings blieb der Islam eine
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religiöse Ideologie mit all den sozialen, historischen, intellektuellen und funktionellen Zügen der bekannten traditionellen Religionen. Diese Feststellung ist nötig, um das Missverständnis zu vermeiden, das entstehen könnte, wenn man den Unterschied zwischen Christentum und Islam zu absolut sieht, ihn übertreibt und sagt, der Islam sei völlig rational und das Christentum irrational. Der Islam enthält alles, was die religiöse Ideologie an irrationalen Elementen braucht. Am wichtigsten sind dabei die Methode der metaphysischen Sicht und ihr besonderer Automatismus in der Praxis. So lange, wie die Beziehungen der Leibeigenschaft bestanden und die Gesetze der sozialen und historischen Entwicklung nicht bekannt waren und es daher keine soziale Kraft gab, die in der Lage gewesen wäre, ihre Position im Geschichtsverlauf zu bestimmen, sich selbst zu erkennen und aus ihrer Erkenntnis einen theoretischen Wegweiser für ihre Aktivität und ihr Verhalten zu machen, oder so lange, wie die Bedingungen der menschlichen Existenz von Ausplünderung und innerer Zerrissenheit bestimmt waren, so lange blieb der religiöse Charakter der herrschenden Ideologie eine historische Notwendigkeit. Das Fortbestehen des religiösen Bewusstseins war nicht das Ergebnis eines bestimmten kognitiven Zustands (also etwa der Ignoranz), und es ging auch nicht so sehr auf die mangelnde Naturbeherrschung des Menschen zurück, sondern viel mehr auf historische Umstände und Widersprüche, die es nötig machten. Das religiöse Bewusstsein erfüllte soziale Funktionen, von denen die wichtigste die Absegnung der ausbeuterischen Gesellschaft war. Wenn man allerdings die islamische Ideologie nicht von ihren historischen Bedingungen, deren Widersprüchen und ihrer grundlegenden Funktion für die Beständigkeit und den Zusammenhalt der Gesellschaft losgelöst betrachten kann, so kann man sie doch auch nicht einfach auf diese Dinge reduzieren, sondern man muss sie auch unabhängig davon ins Auge fassen. In der historisch-sozialen Verankerung selbst liegt etwas, was über die historischen Grenzen hinausgeht. Wenn die Sicht auf den Islam in seiner vollendeten und umfassenden Gestalt den Gedanken der Verbindung und Einheit des Islam mit seiner historisch-sozialen Grundlage nahelegt, so enthüllt doch die Sicht auf ihn im Kontext der Prozesse der ideologischen Veränderungen andere Aspekte. Darum können wir von islamischen Zielen und Idealen sprechen, die über die ideologischen Strömungen, die seiner Entstehung voraufgingen, und über die sozialen und Klasseninteressen, die mit ihnen verbunden waren, hinausgehen, ohne ihnen unbedingt zu widersprechen. Niemand kann heute mit Bestimmtheit sagen, dass das religiöse Bewusstsein gänzlich im ökonomischen Ausgeplündertsein aufgeht. Indessen müssen wir methodologisch von dieser Idee ausgehen. Die dem Islam voraufgehenden religiösen Konfessionen und Strömungen waren nicht in der Lage, die Forderungen der historischen Entwicklung zu erfüllen, denen das Verdienst zukommt, zum Sieg des Islam geführt zu haben. Alle die Faktoren, die bei der
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Entstehung des Islam zusammengewirkt und ineinandergegriffen haben, bildeten eine neue und tiefgreifende historische Tendenz, der die früheren Ideologien und Konfessionen ohnmächtig gegenüberstanden. Hier entdecken wir das Geheimnis der Kraft des Islam und des historischen Horizonts, der sich vor ihm öffnete. Diese Tendenz spiegelte sich in einer Reihe von Prinzipien wider, wie etwa dem strengen Eingottglauben, der göttlichen Allmacht und Transzendenz, dem formalen Charakter, der Gottesfurcht, dem theokratischen Zentralstaat, der durch mentale Flexibilität und praktische Erleichterung gekennzeichneten rechtlichen Umfassendheit usw. Alle diese Prinzipien bereiteten den Eintritt des Menschen in ein höheres Stadium der politischen Wirksamkeit, der realen Lebenskraft, des kämpferischen Geistes, der sozialen Solidarität, der weltlichen Orientierung und der rationalen Bemühung vor, was die Herausbildung einer neuen, unabhängigen religiösen Ideologie nötig machte – des Islam. Was die Entstehung des Islam auszeichnete, war die große Geschwindigkeit, mit der sich der religiöse Umschwung vollzog. Die heidnischen und antiken religiösen Traditionen verloren ihre Heiligkeit, während die neuen islamischen Prinzipien sich noch nicht in geheiligte, gefestigte, völlig abgesegnete und durch die Kraft der langdauernden Vergangenheit geschützte Traditionen verwandelt hatten. Dadurch war das neue islamische Bewusstsein für einen langen Zeitraum frei von den Zwängen der offiziellen, traditionellen Religion und ihren Erfordernissen sowie von der Neigung zur Schaffung einer priesterlichen Institution, die allein mit der Regelung der religiösen Angelegenheiten der Gläubigen und der Vermittlung zwischen ihnen und ihrem Schöpfer betraut war. In diesem relativ langen Zeitraum zeigte der Islam große Lebenskraft im Bereich des religionsrechtlichen und theologischen Denkens sowie im Bereich der intellektuellen und kulturellen Aktivitäten überhaupt. Zur gleichen Zeit, in der der entstehende Islam zum Dialog mit dem vergangenen religiösen und nichtreligiösen Erbe sowie zur Erkenntnis von dessen Irrationalität und Unfähigkeit zur Beseitigung der überkommenen, rückständigen Traditionen und alten, abgenutzten Gewohnheiten tendierte, reagierte er mit Elan auf die Anforderungen der realen politischen Aktion, der nationalen Vereinigung, des Dschihad auf dem Weg Gottes und einer irdisch-göttlichen Organisation der Gemeinde, bevor er in einförmigen, endgültigen Formulierungen erstarrte, die keine Veränderung zuließen. So konnte die Methode des metaphysischen Bewusstseins das geistige und kulturelle Leben und den Inhalt der Ideologie des entstehenden Islam nicht beherrschen und kontrollieren, und das intellektuelle Leben hatte keinen völlig religiösen Charakter mehr. Der strenge Ernst und die starke Gesetztheit, von denen die absolute, überwältigende Überzeugung von der himmlischen Mission Zeugnis gibt, machen Platz für die Notwendigkeiten der Anpassung an die Erfordernisse
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des realen Lebens, der politischen Aktivität und alles dessen, was dazu nötig war: Improvisationsfähigkeit, Flexibilität, geistige Kühnheit, Organisationsfähigkeit, Vertrauen in die Zukunft, Teilnahme an der zivilisatorischen Erneuerung und Anpassung an die Erfordernisse der raschen Ausweitung des geistigen Horizonts, um die zivilisatorische und kulturelle Vielfalt und Aufwärtsentwicklung im Orient verarbeiten zu können. Hier zeigt sich klar das Bedürfnis nach gedanklicher Beleuchtung des Inhalts des neuen religiösen Bewusstseins und nach Überholung der ursprünglichen, irrationalen, absoluten Gewissheit durch sich erneuernde rationale Auslegungen. Über die Beziehung des Islam zum Erbe der Vergangenheit und zu sich selbst hinaus lohnt es sich, etwas bei seiner Beziehung zu der historischen und sozialen Realität seiner Zeit zu verweilen. Der Islam ging sehr schnell darüber hinaus, nur die Ideologie erniedrigter Schichten zu sein, die einer prekären Realität mit einer sozialen und jenseitsgewandten Reaktion gegenübertraten, und erschien dann auch als Ideologie sozialer Kräfte, die auf Autorität, politische Herrschaft und großen Besitz begierig waren. Der Dschihad stand höher als die Buße, und die Gründung des Kalifats trat an die Stelle der Erlösung. Diese Zukunftsorientierung, die mit den Horizonten der historischen Entwicklungsbewegung im Einklang war, erklärt uns, dass der Islam Prinzipien und Werte enthielt, die durch Umfassendheit und Allgemeinheit gekennzeichnet waren und über die bloße Absegnung von überkommenen, bestehenden sozialen Verhältnissen und die Verteidigung der Interessen von sozialen Schichten hinausgingen, die jede Fähigkeit zur sozialen und zivilisatorischen Erneuerung ausgeschöpft hatten und sich ganz der Bewahrung ihrer engen egoistischen Privilegien hingaben. In der Zeitspanne von nicht mehr als einhundert Jahren entwickelten sich die Werte und allgemeinen rechtlichen und dogmatischen Prinzipien des Islam zu einem von der islamischen Herrschaft selbst unabhängigen ideologischen Gebilde, was im Rahmen der Einheit von Religion und Welt einen ideologischen Abstand zwischen diesen beiden schuf. Der Islam bekräftigte seine Fähigkeit zur Anpassung an die sich erneuernden Verhältnisse und zum Ausdruck der Bestrebungen breiter und manchmal unterschiedlicher gesellschaftlicher Schichten. Vor dem Ende der omaijadischen Epoche begann der Islam in zwei grundlegenden, gegensätzlichen Richtungen zu agieren: Absegnung des Kalifats einerseits, Begründung der religiös-islamrechtlichen Opposition gegen es andererseits. Die Spannung zwischen Islam und Herrschaft blieb für die meiste Zeit bestehen. Die Schichten, zu deren ideologischem Ausdruck der Islam geworden war, wurden mit der Gründung der islamischen Herrschaft tatsächlich zu adligen und herrschenden Schichten. Natürlich widersetzten sich diese Schichten der Errichtung des Gebäudes der neuen, ausgedehnten Gesellschaft des Kalifats, der bestehenden Klassengesellschaft, nicht. Aber der Islam erschöpfte sich nicht in diesem Punkt, auf den er sich doch hätte beschränken sollen. Denn der Islam war
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mit einem geistigen Erbe und mit sozialen Kämpfen sowie mit politischen, ökonomischen und kulturellen Umbrüchen derart verbunden, dass er ideologisch in die Lage versetzt wurde, nicht nur etwas Mäßigung in den Ausbeutungs- und Unterdrückungsbeziehungen zu fordern, sondern auch, wenn diese Mäßigung insbesondere bei despotischen Herrschern fehlte, eine Protestkraft zu bilden, die sich auf rechtliche und religiöse Grundlagen stützte. Der Islam kritisierte den Extremismus, protestierte kräftig gegen die starke soziale Unterdrückung, befriedigte leicht oder jedenfalls ohne größere Probleme das Bedürfnis der einfachen Leute nach Glauben und Wissen, proklamierte ihr Recht auf Wohlergehen sowie auf menschliche Aufwärtsentwicklung und Gerechtigkeit und nahm einen positiven Standpunkt zum realen Leben ein. In seinem Rahmen vollzogen sich in progressiver Weise die Ermutigung zur praktischen Tätigkeit, die tatsächliche, ausgewogene Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse, das rationale Denken und das wissenschaftliche Interesse. Er weitete die Feudalbeziehungen aus, soweit das nicht die Autorität des Kalifen schwächte. Dabei wurde das Kalifat beibehalten und seine innere Sicherheit geregelt. Es ging auf dem Weg eines zivilisatorischen Fortschritts weiter, bei dem die Stadt ökonomisch und kulturell florierte. Aus diesem städtischen Leben heraus erließ der Islam einen rationalen Aufruf zur Begrenzung der Despotie der absoluten Herrschaft und zur Bekräftigung der Rechte der Muslime. Dieser Aufruf sollte im Rahmen der vorkapitalistischen Verhältnisse als eine positive Haltung verstanden werden, welche die Ausweitung der einfachen Warenproduktion und die vergrößerte Rolle der Stadt im kulturellen und sozialen Leben ausdrückte. Man kann sagen, dass der frühe Islam kein Moment eines deutlichen Bruchs mit der Erfüllung der Forderungen des allgemeinen Fortschritts kennt. Er war nicht die Ideologie dieses Bruchs und verwandelte sich nicht in eine reaktionäre geistliche Institution, welche die schwer lastenden überkommenen Traditionen geheiligt hätte. Er tat das erst in einer späteren Zeit. Im Verhältnis zur vorhergehenden religiösen Entwicklung trat der frühe Islam als Ausdruck einer Entwicklung auf, in welcher der Mensch bis zu einem gewissen Grad manche der ihm geraubten Kräfte und vorenthaltenen Rechte wiedergewann und sich von jener in der Zeit des Niedergangs herrschenden Ideologie befreite, deren spiritueller Sieg ein Eingeständnis der Schwäche und Unterwerfung des Menschen war. Der religiös-ideologische Ausdruck der Wiedergewinnung einiger seiner geraubten Kräfte durch den Menschen trat im abstrakten, transzendenten Charakter Gottes und im formalen Charakter des Glaubens in Erscheinung. Was die kulturellen Erscheinungsformen dieser Wiedergewinnung angeht, so erschienen sie in der Stärke der weltlichen und rationalen Tendenzen, in der intellektuellen und kulturellen Vielfalt, in der Ermutigung der objektiven wissenschaftlichen Forschung, in der Entwicklung der humanistischen Tendenz, im Bestehen einer impliziten Säku-
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larität, in einer großen Flexibilität bei der Konfrontation mit der kulturellen und konfessionellen Vielfalt, in der Anpassung an die verschiedenen Formen der Interpretation des religiösen Rechts und des Dogmas sowie der Festlegung der Verbindung zwischen Religion und Philosophie. So, wie einige äußere gedankliche Inhalte in den Gehalt der religiösen Ideologie eindringen, ihr neue Bedeutungen verleihen (der formale Charakter) und verhindern, dass das metaphysische Bewusstsein den Inhalt des Dogmas beherrscht, so widersetzen sich auch die kulturellen, technischen, nichtreligiösen Themenbereiche der Herrschaft der religiösen Ideologie über sie. Die arabische Kultur war nicht Bestandteil der religiösen Ideologie, und dieser Charakterzug (die Unabhängigkeit der Kultur von der religiösen Ideologie) betraf nicht nur einen Aspekt des geistigen Lebens in der arabisch-islamischen Zivilisation, sondern war eine allgemeine, gemeinsame Eigenschaft, die in den verschiedenen kulturellen und gedanklichen Aktivitäten in Erscheinung trat, die von Denkern und Religionsgelehrten ausgingen, die unterschiedlichen Schulen und Strömungen angehörten. Die Anpassung des Islam an die weltliche Tendenz, die rationale Sicht, die objektive wissenschaftliche Forschung, die Wertschätzung des irdischen Lebens in dieser Welt, die Vorstellung von den vielfältigen Möglichkeiten der vorzüglichen Gesellschaft – diese Anpassung hat nicht nur dazu geführt, dass die islamische religiöse Ideologie mit nichtreligiösen Inhalten gefüllt wurde, sondern auch dazu, dass die arabisch-islamische Kultur von den religiösen Zielen unabhängig wurde. Wir werden bei einigen islamischen Gedankenmodellen verweilen, um diese großen, grundlegenden Züge der reichen arabisch-islamischen Kultur plausibel zu machen, die in ihrem tiefsten Inneren von jedem metaphysischen Zweck befreit war und sich mit all ihrer Kraft auf die Welt, die Natur, die Gesellschaft, die Realgeschichte, die Politik und das sinnlichweltliche Leben und seine rationale Ordnung richtete. Bekanntlich ist die Geschichte des Kampfs um die Frage des Kalifats lang und verwickelt. Sie war nicht weniger wichtig als die Beziehung des Glaubens zum Wissen im europäischen Mittelalter. Al-Fārābī⁶⁷ zum Beispiel zeichnete in seiner „Vortrefflichen Stadt“ das Bild einer idealen Gesellschaft, die gleichzeitig mit der Scharia und der Philosophie im Einklang ist. Aber sein Versuch, beide zu vereinbaren, war nicht an bestimmte Texte gebunden, sondern er war eine Antwort auf die Bedürfnisse seines Zeitalters und eine Bemühung, die Scharia im Licht der Vernunft zu interpretieren. Indem er die Beziehung der Herrschaft zur uneingeschränkten Vernunft herausstellte, öffnete al-Fārābī das Feld für die vom Glauben
Abū Naṣr al-Fārābī, 870 – 950, einer der wichtigsten Vertreter der arabisch-islamischen Philosophie (A. d. Ü.).
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und vom religiös-rechtlichen Charakter der Macht unabhängige politische und soziale Interpretation. Die Lauteren Brüder⁶⁸ setzten den Versuch der Vereinbarung von Scharia und Philosophie fort. Allerdings betonten sie die Beimengung von Irrtümern in der Scharia und die Aufgabe der Philosophie, am meisten zur politischen Reform beizutragen, denn sie sei die Trägerin der tiefen Wahrheit der Scharia. Ihr Projekt der politischen Reform und der Errichtung der vorzüglichen Gesellschaft drückt die Kraft der religiösen Opposition gegen die offizielle religiöse Ideologie, das Ausmaß ihrer Aufnahme der nichtreligiösen philosophischen Gedanken und die Tiefe des fruchtbaren gedanklichen Kampfs in der Welt des Kalifats aus. Die Reiseliteratur, sehr bedeutend im sozialen Denken bei den Muslimen, diente der gedanklichen Befriedigung des Bedürfnisses der islamischen Kultur nach vielfältigen Alternativen bei den politischen Strukturen und sozialen Systemen und der Widerlegung der Idee, dass es nur ein einziges richtiges Urteil der Gemeinschaft gibt. Al-Māwardī⁶⁹ hat in seinen politischen Ansichten deutlich gemacht, dass das islamische rechtliche Modell der Macht und der politischen Regelung der irdischen Angelegenheiten nicht mehr den Erfordernissen des Zeitalters entsprach und dass man sich daher damit begnügen müsse, das Kalifat zur symbolischen religionsrechtlichen Quelle der politischen Macht und der Einheit der Muslime zu machen. Dieser Versuch al-Māwardīs, Scharia und rationale Aufklärung zu vereinbaren, ging in Wahrheit von der Akzeptierung der Trennung von Religion und Staat und von der Anpassung an die Politik aus, die auf nationalen Bestrebungen beruhte. Er begründete die Moral und daher das Handeln auf einer nichtreligiösen Grundlage. Der Beitrag von al-Māwardī war der Beginn der Herausbildung eines von den Bestimmungen der Scharia unabhängigen politischen, rechtlichen und moralischen Bewusstseins in der islamischen Welt. Ibn Ḫaldūn⁷⁰ wiederum erhob sich in seiner umfassenden philosophischen Sicht und seiner genauen Analyse der gesellschaftlichen, politischen und historischen Probleme auf ein neues, fortgeschrittenes Niveau, das sich durch die realistische, objektive wissenschaftliche Sicht und durch Kreativität auszeichnete.
Die „Lauteren Brüder“ (ar. Iḫwān aṣ-ṣafāˈ) waren eine philosophisch-theologische Schule in der zweiten Hälfte des 10. christlichen Jahrhunderts (A. d. Ü.). Abu-l-Ḥasan al-Māwardī, 974– 1058, muslimischer Rechtsgelehrter, schrieb mit „Die die Herrschaft betreffenden Regeln“ (Al-Aḥkām as-sulṭāniyya) das im sunnitischen Bereich populärste Werk über die islamrechtliche Behandlung von Staat und Politik (A. d. Ü.). ʿAbdarraḥmān bin Ḫaldūn, 1332– 1406, arabischer Historiker und Rechtsgelehrter, äußerte mit der „Muqaddima“ (Vorrede) zu seinem großen Geschichtswerk tiefe Einsichten in die Triebkräfte der geschichtlichen Entwicklung (A. d. Ü.).
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Ibn Ḫaldūn ist ein Beispiel für den großen Freiraum, den die islamische Kultur der realistischen, freien Betrachtung und dem umfassenden wissenschaftlichen, theoretischen Denken auf dem Gebiet der Gesellschaft, der Politik und des Menschen allgemein einräumte. In seiner „Muqaddima“ bemerken wir eine dialektische Einheit im Verständnis des Geschichtsverlaufs, welche die Rolle der Kämpfe, Widersprüche und Umschwünge im gesellschaftlichen Fortgang betont und eine starke wissenschaftliche, realistische Tendenz sowie intellektuelle Wachsamkeit bei der Suche nach objektiver Erklärung beim Studium der sozialen und historischen Erscheinungen erkennen lässt. Ibn Ḫaldūn unterwarf seine Analyse keinem religiösen Zweck, wie das Augustinus getan hatte, sondern bekräftigte die Objektivität der Wissenschaft von der Geschichte und der Gesellschaft und die Bedeutung der Beobachtung und des Studiums der natürlichen Ursachen und der umfassenden Gesetze hinter der Abfolge der Ereignisse, Staaten und Familien. Ibn Ḫaldūn war darauf bedacht, die Realität mit eigenen Augen anzusehen, sogar das Phänomen der Religion, für das er eine wissenschaftliche Erklärung zu geben suchte, in der das Übernatürliche (über der Gewohnheit Stehende) allenfalls ausnahmsweise eine Rolle spielte. Als während des europäischen Mittelalters die augustinische Geschichtsphilosophie herrschte, als mit ihrer Herrschaft die Geschichtsschreibung und -forschung einen großen Rückschlag gegenüber ihrem Zustand im antiken Zeitalter erlebten und sich die Menschheitsgeschichte in ein Anhängsel der Kirchengeschichte verwandelte, sah die Welt des Kalifats einen großen Aufschwung der objektiven, auf wissenschaftliche Genauigkeit bedachten Geschichtsschreibung, die ihren Gipfel in der „Muqaddima“ und dem Geschichtswerk Ibn Ḫaldūns erreichte. Das lag in erster Linie an der Blüte des Lebens der islamischen Stadt, der Lebenskraft ihrer Wirtschaft und der relativen und partiellen Unabhängigkeit des Staats von der offiziellen religiösen Ideologie sowie daran, dass er zeitweise und bis zu einem gewissen Grad einen weltlichen und aufgeklärten Charakter annahm. Die moderne Aufklärung unterscheidet sich von der Geschichtsphilosophie im christlichen Mittelalter (Augustinus) und von der Geschichtsphilosophie in der Antike dadurch, dass sie versichert, dass die grundlegende Qualität der Geschichte ihre progressive, fortschreitende Bewegung ist und dass das richtige Verständnis der Geschichte darauf beruht, dass man ihre bewegenden Kräfte auf die Menschen und ihre Bemühungen zurückführt, dass man die menschliche Befreiung in der Welt verortet und den religiösen Heilsplan, den die göttliche Vorsehung leitet, außer Betracht lässt. Die Menschheit ist aufgrund ihrer besonderen Kräfte selbst in der Lage, für ihr Heil zu sorgen und die menschliche Existenz zu retten. Dieses moderne, aufgeklärte historische Bewusstsein trat in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts in dem Buch „Discours sur l’histoire universelle“ von Bossuet (Jacques Bénigne, 1627– 1704) in der Gestalt
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eines ersten, noch unklaren Anfangs auf. Bossuet glaubte immer noch, die Geschichte stünde im Dienst des Christentums, aber im Gegensatz zu Augustinus begann er anzudeuten, man müsse die genauen Beweggründe der Geschichte klären. Wenn die Geschichte auch in ihrem fernen Ziel unter der Leitung Gottes verlaufe, so bestimmten doch Gründe ihren natürlichen Ablauf, die in früheren Geschichtsepochen entstanden und nicht unmittelbar mit Gott verbunden seien. Mit dem Aufstieg der Bourgeoisie drang durch Voltaire, Rousseau und Vico der Gedanke in die aufklärerische Geschichtsschreibung ein, dass der Mensch seine Geschichte selbst macht. Seinerzeit wurde die Frage nach den Gesetzen gestellt, die über den Verlauf der Geschichte entscheiden. Wenn wir jetzt zum historischen und sozialen Denken in der islamischen Kultur zurückkehren, müssen wir uns darüber klar sein, dass dieses wissenschaftliche historische und soziale Bewusstsein, das seinen Gipfelpunkt im Denken Ibn Ḫaldūns erreichte, früher als Bossuet nach den Anfängen der aufklärerischen Sicht suchte. Es gibt auch gute Gründe, hier von einem überwiegend aufklärerischen Standpunkt und einer relativen Säkularität in einigen Richtungen der islamischen Kultur zu sprechen. Das liegt daran, dass das metaphysische Bewusstsein nicht in der Lage war, die islamische Ideologie zu kontrollieren, und dass demzufolge die islamische religiöse Ideologie auch nicht die islamische Kultur den Zielen ihrer metaphysischen Verbindung unterwerfen und dieser Kultur einen religiösen Charakter geben konnte. Diese Kultur zeichnete sich durch die starke Orientierung auf die freie rationale Sicht, die Hinwendung zum Leben, zur Welt und zur Politik sowie dadurch aus, dass ihre Erscheinungsformen den Geist der objektiven wissenschaftlichen Forschung in sich aufsogen, der eine positive Bewertung dieser Felder als wichtige und des theoretisch-rationalen Denkens würdige Objekte in sich schloss. Die Wiederherstellung der Theorie in ihrer Erkenntnisfunktion als theoretisches Bewusstsein von der äußeren und sozialen Realität wurde in der arabisch-islamischen Kultur als Errungenschaft und grundlegende Orientierung angesehen. Diese Orientierung war eine günstige Voraussetzung für die Befreiung der theoretischen wissenschaftlichen Erkenntnis auf dem Gebiet der Natur, der Gesellschaft, der Politik und der Geschichte von religiösen Forderungen. Sie war auch ein Element einer neuen, umfassenden Sicht auf die Welt, in der die Welt ihren Wert zurückgewann und in der die Augen und Hirne der Menschen sich an der Beschäftigung mit ihren Ereignissen, Zuständen und Schönheiten erfreuten. Ibn Rušd rief dazu auf, mit dem Unruhestiften der Rechtsgelehrten und Theologen und mit ihrer Vermittlung zwischen Gott und dem Menschen Schluss zu machen, und machte aus der höheren, wahren philosophischen Weisheit und aus der wissenschaftlichen Erforschung der Natur einen Gottesdienst. Diese positive Haltung zur Beschäftigung mit der Natur beschränkte sich nicht auf Ibn
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Rušd, sondern war den muslimischen Denkern bei aller Unterschiedlichkeit ihrer schulmäßigen Orientierung gemeinsam – einschließlich der Sufis, für die Gott das einzige Objekt der Aufmerksamkeit war. Ibn ʿArabī sprach für die ganze arabischislamische Kultur, als er in „Die Ringsteine der Göttlichen Weisheit“ sagte: „Wenn ich in dein Denken über die Welt der Ideen eindringe, verbirgt sich dein Sinn vor dem Genuss der Gesänge (al-maġānī), und wenn dein Sinn in die Welt des Gesangs eindringt, verbirgt sich dein Geheimnis nicht vor der Anschauung des Sinns (maʿnā). Das Verweilen bei der sinnlichen Wahrnehmung hat Vorrang im Diesseits und im Jenseits.“⁷¹ Mit ihrer Übernahme der Wissenschaften der Antike und mit ihrer Bemühung um die Versöhnung zwischen den Philosophen des Islam und dem islamischen Glauben durch die Unterscheidung zwischen Glaubens- und Verstandeswahrheit spielte die islamische Kultur nicht nur die Rolle des kulturellen Vermittlers zwischen Griechenland und Europa, sondern auch die des aktiven Faktors, und zwar durch ihre Leistungen auf der Ebene der philosophischen, theologischen, rechtlichen, sozialen, politischen und historischen Erkenntnis, die eine ideologische Waffe bei der Zerstörung der ideologischen und politischen Hegemonie der Kirche darstellte, und das betraf auch die religiöse Geschichtsphilosophie, die dem irdischen Leben jeden unabhängigen Wert absprach. Sie (die islamische Kultur, A.F.) räumte den Weg für die Entwicklung des modernen europäischen wissenschaftlichen Denkens und für die Renaissance des Westens frei. Und hier stellt sich die wichtige Frage: Warum blieb der Orient danach zurück? War der fehlende Bruch mit den Griechen im Orient (die Nachahmung ihrer Errungenschaften und Entwicklung) und damit das fehlende Monopol der religiösen Institution auf Hegemonie, wie sie im Westen bestand, ein Grund dafür, dass der Orient bis zum Beginn der Neuzeit nicht mit den Strukturen des mittelalterlichen Feudalismus brechen konnte, oder lag es daran, dass man sich nicht vom islamischen Recht freimachte? War der vollständige Bruch des Westens mit der Antike (den Griechen) eine Voraussetzung für den Aufschwung des Westens in der Renaissance? Hat das, was die Nachahmung der Antike ermöglichte, den Osten zu langdauernder Stagnation verurteilt? War die Tiefe des Widerspruchs, der zwischen der Vergötterung der Griechen und der Vergötterung der Kirche bestand, der Preis, den der Westen für die heutige Realisierung des Fortschritts und der Vorherrschaft bezahlte? Vielleicht liegen im eben Gesagten erste Orientierungen zur Beantwortung dieser großen Fragen, wenngleich diese noch neue und besondere wissenschaftliche Bemühungen erfordert.
Die Textstelle wurde in einem anderen Werk des Autors gefunden: Muḥiyyaddīn bin ʿArabī, Tanazzul al-amlāk min ʿālam al-arwāḥ ilā ʿālam al-aflāk, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿilmiyya 1971, 135.
Kapitel 11 Der Islam und die heutigen Araber 1. Wenn wir ein wenig in die jüngere Vergangenheit zurückgehen, finden wir, dass die gedankliche Wiederbelebung,⁷² die sich seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts vollzog, Ausdruck einer Bewusstwerdung der Tatsache der Rückständigkeit und ihrer Beziehung mit der feudal-orientalischen Stagnation, mit der Hegemonie der osmanischen Herrschaft und der imperialistischen Interessen sowie mit der religiösen Absegnung der historischen Erstarrung war. Diese Situation spiegelte sich ideologisch in dem Bewusstsein des Widerspruchs zwischen dem frühen und dem heute vorherrschenden Islam wider. Darum nahm diese Wiederbelebung zu Beginn den Charakter einer religiösen Reformbewegung an, in der nach und nach die bürgerlich-rationalistische Tendenz in den Vordergrund rückte. Sie entwickelte sich weitgehend im Rahmen der fundamentalistisch-salafistischen Propaganda und ihrer Sprache, aber in bestimmten Fällen eröffnete sie auch tendenziell die Möglichkeit der aufklärerischen Aktivität und der Herausbildung einer modernistischen und säkularistischen Sicht. Die religiöse Reformbewegung fand eine neue Lösung für unsere Beziehung mit unserem geistigen Erbe, denn sie unterschied den frühen von dem erstarrten späteren Islam in seiner traditionellen, konservativen Gestalt – oder auch in seiner populären, lokalen, negativen Gestalt, die keine aktive innere Kraft hat. Sie verwarf den zweiten und hielt ihn für eine Negation des ersten und einen Verrat an ihm. Diese Unterscheidung war eine der wichtigsten Arten, die Aufgaben der Kulturrenaissance anzupacken und den Grundstein für den Fortschritt auf dem Gebiet der Wirtschaft (der Industrie), der Zivilisation und der Wissenschaft zu legen. Das geschärfte Bewusstsein vom Rückstand und die Notwendigkeit, sich der Stagnation und den neuen Gefahren zu stellen, erzwang diese neue, anspruchsvolle Lesart des Islam und die Rückkehr zu seinem früheren Geist – eine Rückkehr, die der Bewältigung der Gegenwartsaufgaben (Reform, Unabhängigkeit, Industrialisierung usw.) diente. Die wissenschaftsgläubigen Tendenzen, die das traditionelle religiöse Denken völlig ablehnten und zum vollständigen Bruch mit dem Erbe aufriefen, trugen trotz ihrer teilweise erkenntnisgerichteten und aufklärerischen Inhalte wenig zur Lösung dieser Aufgaben bei. Sie standen meist im Ruch des aristokratischen Atheismus und der sklavischen Unterwürfigkeit gegenüber der Macht des Westens. Sie blieben für lange Zeit in ihrer Verachtung
Nayef Ballouz gebraucht hier den Begriff „nahḍa“, der im Folgenden auch mit „Kulturrenaissance“ wiedergegeben wird (A. d. Ü.). https://doi.org/10.1515/9783110701616-012
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der Volksmassen und in ihrer hoffnungslosen, pessimistischen Sicht befangen, die sich manchmal in einen magischen Traum von einer schnellen, vollständigen Überwindung der Welt der Rückständigkeit, der Unwissenheit und des Niedergangs mittels der Vernichtung des Einflusses der Männer der Religion durch die Wissenschaft des Westens, seine Instrumente oder seine Herrschaft verwandelte. Es war dieser Tendenz erst bestimmt, eine wichtige positive Rolle zu spielen, nachdem die nationalistische Bewegung im arabischen Osten die Stelle der religiösen Reform als ihre unmittelbare Nachfolgerin eingenommen hatte und die Forderung nach der Säkularisierung Bestandteil des arabischen nationalistischen Programms geworden war. Man kann ʿAlī ʿAbdarrāziqs⁷³ Buch „Der Islam und die Grundlagen der Macht“ vom Jahr 1925 als den Gipfelpunkt der religiösen Reform und den Beginn des Prozesses der theoretisch-ideologischen Grundlegung des modernen Nationalstaats betrachten. Jedenfalls gingen alle diese Strömungen nicht über den bürgerlichen Horizont hinaus. Nach der Unabhängigkeit stellte sich mit der Gründung der neuen arabischen Staaten und der Entwicklung ihrer politischen sozialen, kulturellen usw. Institutionen die Frage, in welchem Verhältnis das Überlieferte zum (von außen) Übernommenen, die Authentizität zur Modernität und die Araber zu Europa stehen sollten. Und das brachte auch die stolze Präsentation der positiven Werte des Erbes und des Islam mit sich, die sich in einer bestimmten Epoche unserer Geschichte etabliert hatten und nun in der Lage waren, ihre geschichtlichen Grenzen zu überschreiten und ihre Signifikanz und Bedeutung für uns bis heute zu bewahren. Sie (die positiven Werte des Erbes, A.F.) lenkten auch den Blick auf die starren Gedanken und die überkommenen Modelle, die der Lauf der Zeit geheiligt hatte und die zu Hindernissen der Entwicklung und des Fortschritts geworden waren. Viele Diskussionen drehten sich um die Grundlagen, auf die man sich bei der Übernahme der Errungenschaften und Erfahrungen der fortgeschrittenen Länder stützen musste, und um das Maß, bis zu dem man bei diesem Vorgang gehen sollte, und dies im Rahmen des zunehmenden nationalen Bewusstseins und der Akzeptierung der Notwendigkeit, das Erbe wiederzubeleben. Seit den 1960er Jahren wurde das gesellschaftliche Thema wichtiger, und die Kräfte des sozialen Fortschritts in den meisten arabischen Ländern fühlten sich zur Behandlung und zur Aufwerfung der Fragen der sozialen Entwicklung und ihrer neuen Perspektiven aufgerufen. Dies waren Fragen, die auf verschiedene Weise betont werden konnten, denn die Aufgabe der sozialen Erneuerung sollte ʿAlī ʿAbdarrāziq, 1888 – 1966, ägyptischer Rechtsgelehrter, publizierte 1925 das Buch „Der Islam und die Grundlagen der Herrschaft“ (Al-islām wa uṣūl al-ḥukm), in dem er argumentierte, der Islam schreibe keine bestimmte Staatsform vor. Das Buch rief heftige Opposition hervor (A. d. Ü.).
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zu einer grundlegenden Aufgabe von zunehmender Schärfe und Dringlichkeit für breite Volkskräfte werden, die beharrlich auf die Veränderung ihrer alten Lebensweise drangen. Das grundlegende Problem, das nach einer Lösung verlangte, war der Umstand, dass die breiten Volkskräfte, die soziale Erneuerung anstrebten, in ihrer Mehrheit noch gläubig und religiös und daher stark vom traditionellen Denken beeinflusst waren. Die Bedeutung dieses Problems darf man nicht unterschätzen. Denn wenn diejenigen, die am sozialen Fortschritt interessiert sind, in ihrer Mehrzahl gläubig sind, müssen die Intellektuellen, die sich am ehesten in der modernen, progressiven Ideologie wiederfinden, dafür sorgen, dass sich die Massen stärker mit der progressiven Bewegung verbinden. Sie müssen das traditionelle religiöse Denken, das die Gefühle der breiten Volkskräfte bestimmt und ihr Verhalten und ihre Denkweise prägt, mit dem dringenden historischen Bedürfnis, sie nachhaltig an der fortschrittlichen politischen Praxis zu beteiligen, in relative Übereinstimmung bringen, wenn sie die Durchführung der Aufgaben des sozialen Fortschritts nicht irgendeiner Elite überlassen wollten. Hier stellt sich das Problem der Beziehung zwischen dem Kulturerbe und der zeitgenössischen progressiven Ideologie. Man muss zugeben, dass die Träger der zeitgenössischen progressiven Ideologie nicht in der Lage waren, dieses Problem zu bewältigen, und ihm nicht die nötige Aufmerksamkeit schenkten. Die Frage, die hier hätte gestellt werden müssen, lautet: Können manche Elemente des Erbes und des traditionellen religiösen Denkens unter bestimmten Bedingungen ein ideologischer Ausgangspunkt des Antriebs für revolutionäre politische Massenaktivität sein? Und noch genauer: Wie kann der Islam positiv zur Erweiterung und Festigung der politischen Organisation der Massen und zu ihrer Verwandlung in eine politische Kraft beitragen, die einerseits eine breite populäre Basis hat und andererseits ihrer selbst und ihrer strategischen Interessen bewusst und fähig ist, die Zügel ihres historischen Geschicks selbst in die Hand zu nehmen? Diesem Problem stand besonders Ägypten gegenüber, nachdem die politische Führung in den 1960er Jahren radikale progressive soziale Veränderungen durchgeführt hatte und eine breite Massenbewegung entstand, welche der offiziell proklamierten Linie des sozialen Fortschritts entsprach und sie unterstützte. Wir wissen heute genau, dass diese Massenbewegung einen spontanen Charakter behielt und sich nicht in eine solide progressive und populäre politische Kraft verwandelte, die zur Beharrlichkeit in der Lage gewesen wäre, sondern dass sie nach dem Tod von Nasser unter den Schlägen der Sadatschen Reaktion schnell zerfiel. Ich will hier nicht die Umstände jener Situation analysieren, aber es ist doch erwähnenswert, dass sich die progressiven Denker seinerzeit nicht an die wissenschaftliche Untersuchung dieser doch so wesentlichen Problematik und an die theoretisch-kritische Analyse dieser im Islam enthaltenen positiven Möglichkeit machten, sondern gleich zu einer Interpretation der Texte des islamischen
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Erbes übergingen, die mit ihren demokratischen, progressiven, linken und sozialistischen Tendenzen übereinstimmte. Sie fanden es nicht schwierig, die aus dem europäischen Gedankengut übernommenen demokratischen und sozialistischen Ideen aus den Texten des islamischen Erbes herauszulesen, sie aus ihm abzuleiten und sie mit deren Hilfe zu adeln. In den 1970er Jahren verlangsamte sich der Prozess der sozialen Erneuerung in den meisten arabischen Ländern, das reformistische Denken schob sich in den Vordergrund der arabischen intellektuellen Szene, und die Bemühungen um die Sammlung der Energien des Volks und die Vertiefung des progressiven Denkens ließen nach. Zu den wichtigsten inhaltlichen Charakteristika des rechten reformistischen Denkens gehören die Herausstellung der Bedeutung des zivilisatorischen und geistigen Fortschritts auf Kosten des sozialen, ökonomischen und politischen Fortschritts, die Herausbildung einer mechanistischen Sicht auf die Beziehungen zwischen den Zivilisationen und Gesellschaften, welche die Rolle der sozialen und politischen Dynamik vernachlässigt, die von den inneren Widersprüchen in einer einzelnen Gesellschaft hervorgetrieben wird, die Geringschätzung der Rolle der Massen und ihrer politischen Möglichkeiten sowie ihre möglichst weitgehende Entfernung aus dem politischen Leben und schließlich die Entwicklung einer aufklärerisch-elitären Sicht, die auf die Realisierung des Aufschwungs durch gute Ratschläge an die Autoritäten abzielt. Mit diesem reformistischen sozialen Denken ging andererseits auch die Entwicklung einer Orientierung auf religiöse Erneuerung einher, die sie als eine Form des Schritthaltens mit der Zeit und mit der modernistisch-zivilisatorischen Tendenz verstand. Dieses reformistisch-elitäre Denken spiegelte sich in der Behandlung der Probleme des Erbes wider. Dieses Denken untersuchte das Erbe und arbeitete seine positiven demokratischen, menschlichen, kämpferischen und rationalen Inhalte heraus, verband das aber nicht mit der Mobilisierung der Energien der Volksmassen zur Lösung der heute vor ihnen stehenden Probleme, sondern trennte das Bewusstsein des Erbes von den heutigen historischen, politischen und sozialen Gegebenheiten und vom Prozess der Erneuerung, der Aufklärung und der Entwicklung des zeitgenössischen Lebens. So verschwand das Problem der Herstellung einer relativen Übereinstimmung oder eines gesunden Gleichgewichts zwischen dem religiösen Glauben bei den Volksmassen einerseits und der Notwendigkeit ihrer Beteiligung am Kampf um ihre progressiven Interessen andererseits, und zwar, weil sich ein anderes, größeres und gewichtigeres Problem auftat: das Problem der Einschränkung der Aktivität der Massen und ihrer Ausschließung vom Recht auf demokratische politische Praxis. Das Interesse am Erbe wurde benutzt, um die Idee der sozialen und zivilisatorischen Erneuerung zu verdammen, sich vom Prozess der sozialen Radikalisierung abzuwenden, die
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Interessen des Volks außer Acht zu lassen, ihm die eigene Vormundschaft aufzuzwingen und seinen Willen geringzuschätzen. Nachdem wir in den 1960er und 1970er Jahren das Zeitalter der religiösen Reform hinter uns gelassen hatten, das gleichzeitig das der sozialen und politischen Reform gewesen war, stellten sich die Aufgaben der Gründung und Konsolidierung des einheitlichen und unabhängigen Nationalstaats, der Beseitigung der Rückständigkeit, Abhängigkeit und Zersplitterung, des schnellen Vormarschs auf dem Weg der umfassenden Entwicklung, der Beseitigung des Einflusses und der Interessen des Imperialismus und seines Werkzeugs Israel und der Vollendung der progressiven und demokratischen sozialen Revolution. Nachdem diese beiden Jahrzehnte vergangen waren und klar wurde, dass diese Aufgaben nicht erwartungsgemäß gelöst worden waren, fand das islamische religiöse Bewusstsein fruchtbaren Boden für Wachstum und Blüte, und zwar unabhängig von der sozial-fortschrittlichen Bewegung und außerhalb von ihr, und die Aufmerksamkeit für das Erbe gewann neue Dimensionen und Züge. In den 1980er Jahren begannen viele mit erschreckender Deutlichkeit zu erkennen, dass die arabischen und islamischen Länder, die nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Unabhängigkeit erlangt hatten, seit dieser Zeit nichts als bittere Enttäuschung geerntet hatten und dass sie nach mehr als drei Jahrzehnten in eine fatale Sackgasse und eine allgemeine Krise geraten sind, die weiteres Unheil ankündigen. Die Unabhängigkeit blieb eine äußerliche und oberflächliche Erscheinung, und die Länder gerieten durch Prozesse einer unechten, oberflächlichen Modernisierung und eines fehlgeschlagenen, vorgetäuschten Wachstums in immer größere Abhängigkeit. Die Früchte der Arbeit des Volks und die Ressourcen des Landes werden von den Ausländern und den politisch und ökonomisch herrschenden Cliquen geraubt, die durch Prozesse der Modernisierung, des Wachstums und anderes phantastische Reichtümer aufgehäuft haben. Die breiten Schichten des Volks werden ärmer, mittelloser und zahlreicher; sie werden auch machtloser und fühlen sich immer stärker übervorteilt. Die starke soziale Polarisierung erzeugte bei den Schichten des Volks das Gefühl des Fremdseins im eigenen Land gegenüber der steigenden Allmacht des Staats und der Clique der neuen Milliardäre, der Verbreitung des westlichen Lebensstils, dem Konsumgeist, der imperialistischen Kultur, der Korruption, dem Hochmut, der Unterdrückung, dem Verbrechen und der Geringschätzung aller kulturellen, nationalen und menschlichen Werte sowie der kulturellen Identität. Vor dem Hintergrund dieser ungerechten, schrecklichen, elenden und grausamen Welt, die alle aufreibt, war es schwer, eine konkrete partielle Lösung zu finden, welche die drückende Last dieser umfassenden und sich verschärfenden Tragödie erleichtert hätte. Die traditionelle islamische Unterscheidung von erlaubtem und verbotenem Gewinn
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wurde nach dem Gesetz des imperialistischen Dschungels, das keine Verbote kennt, zu einem Märchen aus ferner Vergangenheit. Das Äußerste, was die imperialistischen Zentren uns haben zu Gute kommen lassen: Abhängigkeit und Ausbeutungsbeziehungen, was sie reichlich gegeben haben: enorme Gewinne für ihre Kollaborateure, und was sie verbreitet haben: moralischen Verfall, kulturelle Unfruchtbarkeit und Zerstörung der kulturellen Identität des Volks – alles das stellt die schlimmste Art von Unglauben, Korruption, Tyrannei und Vergehen gegen Gott dar, wenn man es nach dem traditionellen islamischen Bewusstsein beurteilt, das historisch das Niveau der vorkapitalistischen sozialen Beziehungen und ihren geschichtlichen Horizont widerspiegelt. Unter den Auspizien dieser seltsamen Welt, in der die Werte und die Kultur des Islam mit Füßen getreten werden, nachdem an vielen Orten die revolutionären, fortschrittlichen Kräfte hinausgesäubert worden sind, findet der Mensch nur noch in den traditionellen Verhältnissen des Islam, in seinen Werten, in seinen Forderungen an das Leben, in seinem Kollektivgeist und seiner Verurteilung aller übertriebenen Erscheinungsformen von Luxus, Konsum, Hochmut, Egoismus, Prahlerei und Herrschsucht Freude und die Kraft, zu widerstehen, zu ertragen und sich ohne Rücksicht auf die Opfer gewaltsam aufzulehnen. So zieht die islamische Bewegung aus dieser erdrückenden Krise Lebenskraft und enormen Kampfgeist. Hier sollten wir die einfache Wahrheit erwähnen, welche die Forscher oft vergessen, nämlich dass die Wirksamkeit und das gegenwärtige Erwachen des Islam nicht Ergebnis der negativen, schwachen Aspekte seiner Geschichte sind, sondern des Umstands, dass er Werte mit allgemein menschlichem Inhalt in sich birgt, allerdings auf der Basis eines engen, beschränkten Niveaus der Entwicklung der Produktion. Das meinen wir, wenn wir von den Beziehungen der einfachen, austauschorientierten Warenproduktion sprechen, also denen in den vorkapitalistischen Gesellschaften. Unter jenen historischen Bedingungen, als der Mensch noch Ziel und Zweck der Produktion war, erschienen diese Werte höher als die Werte der modernen kapitalistischen Gesellschaft, welche das frühere Verhältnis umgekehrt, die Produktion zum Ziel gemacht und den Menschen in ein bloßes Instrument im Dienst der Produktion verwandelt hatte (Marx). Die vorkapitalistische Welt erscheint in all ihren engen, geschlossenen und begrenzten Verhältnissen höherstehend, vollständiger und weniger zerrissen als die kapitalistische, offene, grenzenlose und umfassende Welt, die unter schreienden Widersprüchen, Beraubung, Zerrissenheit und übertriebenen Ansprüchen leidet. Hier muss man das Geheimnis des islamischen Aufschwungs suchen. In dem Maß, in dem in den zurückgebliebenen islamischen Ländern die negativen Erscheinungsformen der kapitalistischen Verhältnisse überwiegen (wie Abhängigkeit, Schmarotzertum mit wucherischen Zügen, starke Entwicklungs-
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defizite, Unmoral, Verarmung und Unterdrückung der Massen, Geringschätzung der Freiheit und Würde der Völker usw.), in dem Maß, in dem alles das gegenüber den positiven Errungenschaften überwiegt, verkörpert in der Entwicklung der Produktivkräfte und der Wissenschaft sowie in der unabhängigen Entwicklung und im Wachstum der demokratischen Institutionen, und in dem Maß, in dem der Sozialismus seine positiven Seiten nicht herausstellen konnte – in diesem Maß verstärkte sich der romantische Rückgriff auf den Islam, dessen rechtliche, theologische, moralische und dogmatische Gedanken den Verhältnissen auf einem niedrigeren Niveau der historischen Entwicklung entsprechen – der vorkapitalistischen einfachen Warenproduktion. In den Grenzen dieses nicht entwickelten historischen Niveaus beherrscht der Mensch, oder genauer der Mann, sich und seine Identität am besten, ist er am ehesten mit der Welt im Einklang und am wenigsten beraubt, und in diesen Grenzen ist es ihm bestimmt, innere Vervollkommnung, Ruhe und geistigen Reichtum zu genießen. Der Gläubige stellt sich hier vor, dass die Werte des Islam, in denen der Mensch noch nicht zum Produktionsinstrument gemacht worden ist, das Ideal oder der dritte Weg sind, dessen Nachahmung bzw. Verfolgung die Menschheit vor ihren Übeln, ihren Ängsten und ihrer gegenwärtigen Ausweglosigkeit bewahren wird. Der islamische Aufschwung ist die gleichzeitig traditionelle, elende und offensive politische und kulturelle Antwort auf die Krisen der westlichen Modernisierung. Diese Modernisierung ignoriert die einfachsten kulturellen, nationalen und sozialen Erfordernisse und führt zu allgemeiner Verarmung, völligem Zusammenbruch und umfassendem Aufgeriebensein breitester Volksschichten. Das üble und verdammenswerte Bündnis zwischen den herrschenden Oberschichten und dem Imperialismus erscheint im Bewusstsein der muslimischen Massen als Symbol für die Feindseligkeit gegenüber dem Islam und seinem Gesetz sowie für die Verletzung der Rechte Gottes und der Gläubigen. Die verschiedenen neuen islamischen Strömungen haben sich als sehr fähig erwiesen, gegen Kolonialismus und Imperialismus zu kämpfen, die Zentren ihres Einflusses zunichtezumachen, dem „weltweiten Hochmut“⁷⁴ entgegenzutreten und die verschiedenen Formen der materiellen Abhängigkeit sowie der kulturellen und geistigen Unterwürfigkeit gegenüber West oder Ost zurückzuweisen. Allerdings traten bei ihnen auch einige negative Phänomene stark in Erscheinung, darunter blutige Gewalt sowie Nichtbeachtung und Zurückstellung der Frage des sozialen Fortschritts. Hier stellt sich die Frage: Kann die erstarkende
Ar. al-istikbār al-ʿālamī. Istikbār (Hochmut) klingt an die Sprache des Koran an, z. B. Koran 71, 7: „Sooft ich sie rief, damit du ihnen vergeben würdest, steckten sie sich die Finger in die Ohren, zogen ihr Gewand hoch und verharrten in starrem Hochmut“ (A. d. Ü.).
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islamische Bewegung, oder kann wenigstens eine ihrer entwickeltesten Strömungen die Aufgaben der progressiven demokratischen Revolution erledigen, deren Lösung in Angriff zu nehmen Sache der nationalen und linken Kräfte gewesen wäre? Und bei dem Versuch, diese Frage zu beantworten, erhebt sich vor uns eine andere legitime Frage, die bei der Klärung des Problems hilft: Ist nicht dieses enorme Anschwellen der islamischen Strömungen Ausdruck einer Krise der linken und progressiv-nationalistischen Kräfte und also einer Krise der auf Einheit ausgerichteten und progressiven arabischen Revolution insgesamt? Die Behandlung dieser beiden Fragen macht es notwendig, die Unfähigkeit der linken und nationalen Kräfte, beständig an der Führung im Kampf gegen Abhängigkeit und Rückständigkeit und für Fortschritt, Demokratie und Einheit festzuhalten, wissenschaftlich zu analysieren. Aber auch abgesehen davon sagen wir, dass die sozialen Kräfte, die eine führende Rolle in den islamischen Bewegungen und ihren veröffentlichten Programmen einnehmen, es uns im Allgemeinen aufgrund ihrer Interessen nicht gestatten zu sagen: „Es gibt sicherlich Ausnahmen.“ Denn diese Strömungen werden tatsächlich in der Lage sein, an der Erledigung der Aufgaben der progressiv-demokratischen Revolution mitzuwirken, weil ihr Ideal, wie wir gesehen haben, eng mit den vorkapitalistischen Werten und Verhältnissen und mit der vorkapitalistischen Welt verbunden ist. Und wenn es die islamische Bewegung trotz ihrer negativen Seiten an einigen Orten schafft, sich dem Imperialismus und den negativen, schrecklichen Erscheinungen der arabischen Pseudomodernisierung im Rahmen der Abhängigkeit vom Imperialismus entgegenzustellen, so muss sie doch letzten Endes auch beweisen, dass sie ein konstruktives Programm zur Beendigung der Abhängigkeit und Rückständigkeit vorlegen kann. Wird die islamische Bewegung die kapitalistische Entwicklung so ermutigen, dass sie sich bis zur Unkenntlichkeit verändert? Oder wird sie in der Krise des Zögerns und Ablassens vom Prozess der Modernisierung und Entwicklung stolpern und in der Krise der lokal-traditionellen Rückständigkeit und ihrer Begleiterscheinungen wie der falschen Einschätzung der Bedeutung der Ressourcen des Landes und also ihrer Verschwendung und der Verschwendung der Kräfte ihrer Söhne schwanken? Oder wird sie sich unter dem Druck der breiten Volkskräfte, die sich in der Vergangenheit, ihren wirklichen Interessen folgend, um sie geschart hatten, dem Willen zum sozialen Fortschritt beugen und dadurch praktisch erkennen, dass die Grundlagen ihrer ursprünglichen Mission erschüttert sind und dass es nötig ist, ihre Ausgangspunkte kritisch zu prüfen? Die Antwort auf diese Fragen ist schwierig. Aber auf alle Fälle wird diese Bewegung nicht verhindern können, dass sich eine große Kluft zwischen der politischen und sozialen Praxis und dem religiösen Diskurs auftut oder der Kampf der inneren sozialen Interessen
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sich verschärft, der bisher im Namen der Homogenität der islamischen Mission, der Einheit ihrer Ziele und ihrer Umfassendheit verschleiert wurde. 2. Die Strömungen des islamischen Erwachens, welche Abhängigkeit, Imperialismus und Kapitalismus ablehnen, finden sich, wenn sie nicht über sich hinauswachsen und den Weg des historischen Fortschritts einschlagen, auf dem sich eine moderne Entwicklung mit der Initiierung von wissenschaftlichem und technischem Fortschritt sowie von demokratischen, rationalen Formen der Leitung der Produktion und der gesellschaftlichen Institutionen vollzieht, in einem erdrückenden Dilemma. Sie müssen die Kräfte des Volks dazu bringen, die Zügel ihres Lebens frei in die Hand zu nehmen; sie müssen ihnen den Kampf um die Erringung der Volkssouveränität und die demokratische Gestaltung ihres Lebens gestatten und die Glaubensfreiheit und das Recht auf unabhängige politische Tätigkeit in aller Pluralität sowie die Gleichheit von Frau und Mann respektieren. Wenn sie das nicht tun, werden sie auf einen Zustand hinabsinken, der sie bei all ihrem Fundamentalismus und all ihrer Heiligkeit in den Prozess der Festigung der Abhängigkeit und des Schmarotzertums eingliedern wird, aus deren Ablehnung sie doch anfänglich ihre Kraft und ihre weitreichende Autorität bezogen hatten, und sie werden ein Faktor der Zersplitterung, nicht des nationalen Zusammenhalts sein. Es erscheint als seltsam, dass die Warnung vor dieser Gefahr nicht wenigstens einige der am stärksten mit den Volksmassen verbundenen Kräfte des islamischen Erwachens dazu gebracht hat, ihre Vergangenheit, ihre Positionen, ihr Verständnis des Inhalts des Islam und seiner Beziehung zu den neuen Umständen, die sich aus dem heutigen Kampf mit dem Imperialismus und seinen Kollaborateuren ergeben, kritisch zu prüfen. Einige Anhänger der islamischen Bewegungen stellen sich immer mehr dieser kritischen Situation, die sie dazu nötigt, eine klare Festlegung dessen vorzulegen, was sie unter ihrer romantischen, manchmal nur scheinbaren Rückkehr zu den islamischen Werten verstehen, die, und sei es auch nur in ihren Köpfen, in der vorkapitalistischen islamischen Welt herrschten, und Kriterien zu formulieren, anhand deren man zwischen solchen Formen und Erscheinungen der Modernisierung unterscheiden kann, die mit dem wahren Islam im Einklang sind, und solchen, die das nicht sind. Wenn es aus bestimmten Gründen ausnahmsweise möglich ist, die Lösung einiger dieser Aufgaben praktisch aufzuschieben, so ist doch der innere politische Wettstreit zwischen den islamisch-fundamentalistischen und den nichtislamischen Strömungen so kompliziert, dass dies im Prinzip allein ausreicht, sie dazu zu zwingen, den Imperialismus, die Abhängigkeit, die Beziehung zu ihm und alle auf dem internationalen Feld aktiven Kräfte genau und ernsthaft zu analysieren und die Stellung zu ihnen, die Methoden und Pläne zur Konfrontation mit ihnen und praktische Vorkehrungen zum Umgang mit ihnen festzulegen. Dazu waren diese Kräfte nicht
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in der Lage, und zwar wegen ihrer grundsätzlichen geistigen Orientierung, die von der Interessenharmonie aller Muslime ausgeht. Ihre Selbstdarstellung als unabhängige und betont islamische politische Kräfte stellt die Ergreifung der Macht und die Anwendung der islamischen Scharia an die Spitze ihrer Programme. Das zwingt sie dazu, ein umfassendes ökonomisches, soziales, kulturelles und politisches Programm für die Zukunft des Landes vorzulegen, ihr Verständnis der islamischen Gerechtigkeit unter den Bedingungen der heutigen Welt unter politischem, sozialem und rechtlichem Aspekt zu verdeutlichen und ein vollständiges und detailliertes Bild von der angestrebten islamischen Gesellschaft zu erstellen. Das ist in der Praxis bis heute nicht geschehen. Dass man vor solchen schwierigen und meist kritischen Fragen steht, hat eine Veränderung im islamischen Bewusstsein bewirkt, die im Schwanken, in der Spannung oder in der schwierigen Wahlmöglichkeit zwischen zwei Lesarten des Islam ihren Ausdruck fand: einer wörtlichen, engen und einer nichtwörtlichen, freien und offenen, oder besser gesagt, im Übergang von einer Lesart zur anderen – mit Zwischenstufen. Einige haben das so ausgedrückt, dass die islamische Woge ihren Scheitelpunkt erreicht hat und dabei ist, abzuebben. Kein Zweifel besteht daran, dass die negativen, schrecklichen Folgen der brutalen Herrschaft des Imperialismus, die alle Kräfte der Gesellschaft in einigen islamischen Ländern zermalmt hat und die mit den Werten des frühen Islam im Widerspruch steht, die islamische Reaktion hervorgerufen und ihr Kraft, Standfestigkeit und weite Verbreitung verliehen hat. Der islamische Aufschwung brauchte keine lange geistige Vorbereitung. Er hat in den Köpfen das Bild des reinen, einfachen Islam wiederbelebt und die in seinem geistigen Arsenal vorhandenen fertigen Waffen beim Widerstand gegen den Imperialismus, seine Helfer und die von ihm abhängigen lokalen Autoritäten eingesetzt. Allerdings hat sich die Situation verändert, besonders nach der Beseitigung der Freunde und Helfer des Imperialismus. Der erbitterte, lange Kampf der Volkskräfte, die Schwierigkeit, Lösungen für die komplizierten Probleme des Kampfs und des Aufbaus zu finden, das Auftreten tiefer Meinungsverschiedenheiten über den Weg der künftigen sozialen Entwicklung, die aufreibenden Bemühungen, die einfachsten Bedürfnisse des unabhängigen und fortschreitenden nationalen Aufbaus zu befriedigen, und die Wiederaufnahme der aggressiven Politik des Imperialismus in verschiedenen neuen und komplizierten Formen – alles das regt einige islamische Kräfte dazu an, bestimmte Ausgangspunkte des islamischen Aufschwungs kritisch zu überprüfen, die im Licht der sich erneuernden Kompliziertheit der Situation und der Verschärfung der inneren sozialen Probleme als allzu schlicht und als unvereinbar mit dem Geist der Zeit erschienen. Einige gingen so weit, von Auflehnung gegen sich selbst, vom Eintauchen in die tiefsten Inhalte des islamischen Erbes und von der Suche nach dringenden
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Rechtfertigungsgründen für religiöse Reform und Erneuerung und für die Entwicklung der Instrumente der Konfrontation zu sprechen, auch wenn das manchmal erforderte, von den Feinden zu lernen. Ein Forscher riet 1986 seinen muslimischen Brüdern, sich die praktische Einstellung der Amerikaner zu eigen zu machen, und rief dazu auf, von ihnen „etwas von ihrer praktischen und instrumentellen Haltung (zu lernen), um das Leid unseres Menschen zu lindern, dem wir fünf Grundrechte zugestehen, die wir ihm dann tatsächlich aber nicht geben.“ Ganz bestimmt kann der Rückbezug auf den Islam unter den Bedingungen der schwierigen Konfrontation mit dem Imperialismus nicht heißen, dass man sich immer noch eng, wenn auch nur eingebildet, an die Umstände eines vergangenen Lebens klammert, die Schwäche der Muslime mit dem Geist eines engstirnigen Fanatismus zu verdecken versucht, naiv auf eine elende Authentizität vertraut oder eine spirituelle Gelassenheit verbreitet, in welcher der Mensch der Realität der Welt entflieht. Erst recht kann er nicht darin bestehen, dass man sich vor lauter Eifer, ins Paradies einzugehen, selbst aufopfert. Das entschlossene, standhafte, kühne und ausdauernde Anpacken der Aufgaben der Befreiung, des Erwachens, der Beendigung der Abhängigkeit und Rückständigkeit und der radikalen sozialen Veränderung geht über die heutige Situation hinaus und erreicht das Niveau höherer sozialer Organisation und der Präsentation realistischer und rascher Lösungen der brennenden Probleme der Gesellschaft (Hunger, Unwissenheit, Chaos usw.), was in diesem Kontext ein fortgeschrittenes Verständnis des Islam erfordert. Damit der Islam sich unter den Bedingungen des erbitterten Kampfs gegen den Imperialismus und die ihm verbundenen regionalen Kräfte in eine positive, progressive Kraft verwandeln kann, brauchen die islamischen Kräfte mehr als die bloße Rückkehr zur Substanz des Erbes, mehr als die Herbeizitierung der religiösen Texte des Islam durch eine salafistische, buchstabengetreue, starre Lektüre, die der Gegenwart und der Zukunft das ganze Gewicht der Vergangenheit auferlegt, die beim Wortsinn stehenbleibt, ohne kritisch zu prüfen, was ihm in der Gegenwart entsprechen könnte, und in welcher der Leser den Text als ehrfürchtiger Nachahmer behandelt, für den die Vergangenheit zum Herrn der Zukunft und zum Aufbewahrungsort der Wahrheit wird. So werden unsere gegenwärtigen, heiklen, komplizierten Probleme in enge Schablonen gepresst, die dem Geist des Islam fremd sind. Durch einen solchen reaktionären Aufruf zum buchstäblichen Festhalten an besonderen konkreten Umständen, Institutionen und Verhältnissen einer vergangenen Gesellschaft kann der Islam seine Präsenz und seine Wirksamkeit nur beweisen, indem er negativ ablehnt, bevor er aufbaut, und indem er solche imperialistischen Institutionen niederreißt, die ins Auge springen. Von diesem Moment an wird das Festklammern an einer solchen Haltung gefährlich und kann zerstörerische Ergebnisse hervorbringen.
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Hier braucht es ein neues islamisches Selbstbewusstsein, geschaffen durch eine kritische Analyse oder eine erneuerungsorientierte, fortgeschrittene Lektüre, die nicht auf der Nachahmung bestimmter Verhaltensweisen der Vergangenheit oder einer alten Gewohnheit beruht, sondern auf dem Vertrauen in das allgemeine Prinzip, das hinter diesen Verhaltensweisen und dieser Gewohnheit steht. Wenn die Lektüre von der Erzählung zur Erkenntnis übergeht, von einem Text, der nicht der theoretischen Erwägung und dem Idschtihad unterliegt, zu einem Geist, der die Tiefe des Islam und seiner Grundlagen erforscht, dann verfügt der zeitgenössische Muslim über Flexibilität, Lebenskraft, eine umfassende, bewegliche Sicht und eine enorme Fähigkeit zur Anpassung an die sich erneuernden Umstände unseres Lebens und unseres komplizierten Zeitalters. Hier nützt es nichts, die Details zu sammeln und sich vor ihrer Heiligkeit zu verneigen, weil sie Träger des Übernatürlichen sind. Vielmehr erfordert der Sachverhalt eine Behandlung, durch die der Mensch eine allgemeine menschliche Haltung entdeckt, welche der Grund von Aktivität, Taten und freien Entscheidungen über die Zukunft sein kann und die Muslime in die Lage versetzt, über die Umstände ihres Zeitalters und den Weg zu Freiheit und Fortschritt zu bestimmen, soweit es die historischen Bedingungen zulassen. Hier bedarf es eines schöpferischen gedanklichen Prozesses, der aus dem Text der Vergangenheit einen Diskurs für die Zukunft formt, denn wir müssen fähig sein, positiv und aktiv mit den Erfordernissen zweier historischer Perioden umzugehen: der vorkapitalistischen Epoche, in der die islamische Ideologie entstand, und der Epoche der Hegemonie des imperialistischen Kapitalismus und des Widerstands gegen ihn. Eine Lesart des Islam, die sich dem Geist der ersten Epoche nicht entfremdet und die Aufgaben der zweiten anpackt, kann zur Erneuerung und Fortentwicklung unseres Lebens heute beitragen. Während die erste Lesart dadurch gekennzeichnet ist, dass sie die Zeit des alten, einfachen Lebens zurückruft, das auf die Lebensverhältnisse der vorkapitalistischen Welt zurückgeht und meist die Interessen der traditionellen Mittelschichten reflektiert, die nicht mit den Kapitalisten verbunden sind (der Basar usw.), stellt die zweite Lesart die Aufgabe der Reform, der Erneuerung oder sogar der sozialen Revolution auf die Tagesordnung. Sie ist sehr eng mit der Vertretung der Interessen der bürgerlichen Kreise oder der arbeitenden Schichten verbunden. Solange diese zweite, allgemeine, tiefe Lesart nur einigen allgemeinen Prinzipien der Sicht auf die außergewöhnlichen, unbegrenzten Angelegenheiten verpflichtet ist, präsentiert sie uns ein neues, höheres Niveau als bloß die Beziehung des Subjekts zum Objekt. Zweifellos kann eine Lesart des Islam, die sich nicht mit der Ablehnung der schlimmen Folgen der imperialistischen Herrschaft begnügt, sondern die Schaffung einer nachhaltigen und entwicklungsfähigen sozialen Alternative zu den imperialistischen Zuständen anstrebt oder, besser gesagt, sich an dieser Schaf-
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fung beteiligen will, keine sein, die sich der geheiligten, absoluten Unantastbarkeit des Textes und seiner einzigartigen, unerhörten Verbindung zur übersinnlichen Welt unterordnet. Vielmehr muss sie hinter den zufälligen Umständen des Textes seinen Sinn und seine rationale und menschliche Begründung suchen. Eine solche Lesart kann bürgerlich, sozialistisch usw. sein. Und es kann sein, dass sie ihre Verwandtschaft mit dem heutigen weltweiten revolutionären Denken entdeckt, es kann aber auch sein, dass sie das nicht tut. Auf jeden Fall vermehrt sich die Fähigkeit des Islam zum Dialog mit anderen Kulturen und zeitgenössischen Ideen in dem Maß, in dem er die formale Denkstruktur hervorkehrt, welche die Unterscheidung zwischen dem Eindeutigen und dem Mehrdeutigen zum allgemeinen Interpretationsprinzip gemacht hat und die in der Geschichte des Islam deutlich überwogen hat. Mit diesem formalen Charakter gehen wir vom Ereignis des Islam zu seinem Gesetz über, das nicht auf eine Institution, eine besondere Vorkehrung oder eine bestimmte rechtliche Situation beschränkt ist, sondern eine allgemeine Beziehung zum Ausdruck bringt, die zwischen Islam und Welt unterscheidet (je nach Sichtweise, Existenz und Dialog mit dem Leben, der Gesellschaft, der Natur, dem Individuum usw.). Das können wir als das islamische Kulturmodell im Leben, im Denken, in der Aktion, im Genuss usw. bezeichnen. Selbstverständlich strebt die Lesart, die zum Gesetz des Islam durchdringt, nicht die Wiederholung früherer Ereignisse oder bestimmter Fälle an, sondern die Einnahme früher nicht gekannter Haltungen und die schöpferische Entwicklung neuer dementsprechender Lösungen. Wenn der Mensch im Text sein Gesetz entdeckt, das ihn aus seinen besonderen sinnlichen und historischen Umständen befreit und ihn vor die unbegrenzten Möglichkeiten seiner Wünsche stellt, überschreitet er seine historischen Grenzen, dehnt sich über die ganze Geschichte aus und öffnet sich dadurch der Zukunft als Teil der Gesamtgeschichte und Träger umfassender menschlicher Werte, welche das Gefangensein in einer bestimmten, engen historischen Situation verweigern. Wenn die Texte an Bestimmtheit verlieren und an Allgemeinheit gewinnen, lässt der Mensch seine Knechtung durch die Vergangenheit und sein Eingebundensein in begrenzte historische Verhältnisse hinter sich und gewinnt in gewissem Maß die Möglichkeit, sich den Bedingungen seines Lebens und seiner Zeit zu stellen und nach Freiheit und zivilisatorischer Erneuerung zu streben. Aber diese innovatorische, progressive Lesart ergibt sich nicht mit zwingender Notwendigkeit aus dem Text, sondern sie wird durch die Anstrengung des Übergangs von der metaphysischen Heiligkeit des Textes zu dem umfassenden menschlichen Prinzip ermöglicht, das in der allgemein menschlichen Beziehung zwischen dem Menschen und der Welt zutage tritt. Das ist in Wahrheit der Übergang von einem fundamentalistisch-salafistischen Verständnis zur Position der religiösen Erneuerung, sei sie nun reformistisch oder revolutionär.
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Mit dem Vorhergehenden wollte ich kein realistisches und treues Bild des Verhältnisses zwischen der fundamentalistisch-salafistischen und der Strömung der Erneuerung sowie zwischen diesen beiden islamischen Strömungen und den progressiven und säkularistischen Kräften zeichnen oder empirisch den Verlauf der politischen Ereignisse in der heutigen Zeit nachverfolgen. Vielmehr wollte ich ein modellhaftes theoretisches Bild vorstellen, das die Wirkungsweise dieser Beziehungen, den Mechanismus ihrer Entwicklung und ihren Charakter erfasst, und zwar als reine, ideale Beziehungen, die vielleicht in der Realität nicht vorkommen, aber zu ihrem Verständnis beitragen. Darum will ich deutlich machen, dass dieser Übergang, wenn seine Bedingungen real gegeben sind, sich nicht durch die Betätigung des metaphysischen Bewusstseins vollzieht (oder das Offenbarwerden des Übernatürlichen in heiligen Texten und die Entdeckung seiner inneren Widersprüche in der religiösen Ideologie), sondern als Ergebnis der sich erneuernden Bewegung des politischen Lebens und der Lebenskraft der progressiven Volkskräfte, die im Verlauf ihres Aufschwungs und dank ihrer Leistungen und ihres Bewusstseins in der Lage sind, die Gläubigen in ihre soziale Verantwortung zu stellen und ihren Blick auf die Verwurzelung der menschlichen, militanten, weltlichen und rationalen Inhalte im Islam zu lenken. Die eingehende Lektüre, die über das Phänomen hinausgeht und sich auch auf das Gesetz des Islam bezieht, kann den Unterschied zwischen der Ansprache des Islam an die Muslime der Kalifatszeit und derjenigen an die heutigen Muslime herausstellen und aus der ersten Ansprache den Kern einer tieferen und umfassenderen Bedeutung gewinnen, die man dann auf die zweite anwenden kann. Ich möchte noch einmal betonen, dass dieser tiefere, umfassendere menschliche Inhalt, der sich auf das heutige, sich erneuernde Leben erstreckt, keine objektive, notwendige Eigenschaft des Textes ist, sondern die Methode, mit der der Gläubige den religiösen Inhalt sieht und versteht, der durch Allgemeinheit gekennzeichnet ist und genaue Bestimmung bringt. Was die heutigen Gläubigen der Bedeutung ihres religiösen Erbes unter den gegebenen historischen, sozialen und politischen Bedingungen hinzufügen,⁷⁵ öffnet den weitesten Raum für die Herausbildung von offenen Erkenntnissen, die den allgemein-menschlichen Standpunkt und die allgemeinen Prinzipien, mit denen man die Dinge beurteilt, also das Gesetz des Islam, zur Geltung bringen. Wenn einige Kräfte des islamischen Erwachens es tatsächlich schaffen, zwischen den beiden Diskursen des Islam zu unterscheiden und die Besonderheit der sich erneuernden Aufgaben und Umstände zu erkennen, dann stehen wir vor
Hier liegt das Geheimnis der Stärke der religiösen Strömung, die die Verbindung zu Gott bestehen lässt; die „mystische“ Inspiration ist nicht unterbrochen (Fußnote von Nayef Ballouz).
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einer neuen Situation. Denn die Natur dieser Veränderung erfordert neue Beziehungen zwischen diesen islamischen Kräften in ihrem neuen Stadium und den – oder einigen – Kräften der Linken, und sie erfordert auch die Arbeit an vermehrten Möglichkeiten strategischer politischer Bündnisse sowie die Festlegung ihrer Grundlagen und Perspektiven. Man darf auch nicht den Umfang aus dem Blick verlieren, in dem die islamischen Strömungen sich auf die religiöse Erneuerung (also die erneute Lektüre) und die Bewältigung neuer Aufgaben einlassen, die mit mehreren Faktoren zusammenhängen, von denen einer der wichtigsten die verstärkte Rolle des Kampfs der progressiven antiimperialistischen Volkskräfte im Leben des Landes und in der Herbeiführung eines radikalen sozialen Fortschritts ist. Dass die revolutionäre progressive Bewegung (mit anderen Worten: die Bewegung der Kräfte der Linken) sich konsolidiert und ihre Aufgaben übernimmt, wird hier zu einem grundlegenden Faktor der Hinführung einiger islamischer Kräfte auf den Weg der sozialen Erneuerung und ihrer Herausführung aus ihrer krisenhaften Situation. Abgesehen von der realen Situation, dem politischen Kräfteverhältnis und der Frage, ob die islamische Bewegung sich auf dem aufsteigenden oder dem absteigenden Ast befindet, bleiben die Aufgaben der Linken – die Aufgaben der progressiven demokratischen Revolution – Aufgaben, deren Erledigung vom Kampf der Volksmassen und der Schichten, von denen die meisten dem traditionellen religiösen Denken anhängen, abhängig ist, und das Problem, das uns angeht und das wir schon dargestellt haben, bleibt für lange Zeiträume bestehen. Ich meine damit das Problem des richtigen Gleichgewichts zwischen dem traditionellen Denken der Massen oder ihrer Religiosität einerseits und der Notwendigkeit ihrer Einbeziehung, unter welcher politischen Führung auch immer, in einen andauernden Kampf um die Erledigung der Aufgaben der besagten Revolution andererseits. Diese Erledigung soll zur Beseitigung der vorkapitalistischen Verhältnisse führen, deren kulturelle Werte der wichtigste Grund für die Kraft des islamischen Erwachens selbst waren. Und hier stellt sich eine wichtige Frage: Kann die Strömung der religiösen Erneuerung nach der Zerstörung aller vorkapitalistischen Verhältnisse noch eine wichtige progressive Rolle spielen? 3. Das frühe islamische Gedankengebäude war die Grundlage, auf die man sich in der religiösen und politischen Reformbewegung im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert stützte. Hat dieses Gebäude heute, nach dem Vollzug dieser bürgerlichen Reform, seine Bedeutung verloren? Oder kann es immer noch die ideologische Grundlage für die Heranführung der gläubigen Massen an das Streben der Araber nach Freiheit, Einheit und sozialem und kulturellem Fortschritt sein? Und bis zu welchem Grad kann sich der intellektuell und sozial fortschrittliche Prozess im Rahmen einer traditionellen religiösen Ideologie vollziehen?
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Die Besonderheiten, die das Gebäude des frühen islamischen Denkens auszeichnen, vor allem der strenge Monotheismus und der formale Charakter (der, wie gesagt, bedeutet, dass das Dogma keinen bestimmten Inhalt hat und äußerer Inhalte und Gedanken bedarf, die es füllen und beleuchten), sind nicht auf den Islam beschränkt, sondern deuten auf die Wirkung von außen herangetragener menschlicher, nämlich rationaler, irdischer, natürlicher, historischer und sozialer Faktoren im Inneren der religiösen Ideologie selbst hin. Wenn wir diesen Aspekt im Rahmen des religiösen Aufschwungs betrachten, müssen wir auf die Bedeutung einiger geistiger Strömungen wie der Gnosis⁷⁶ als einer spirituellen Bewegung hinweisen, die diesen Aufschwung in verschiedenen Formen begleiteten. Es ist richtig, dass der formale Charakter der gnostische, im engeren Sinn nichtreligiöse Keim jeder religiösen Situation ist. Er stellte die Oppositionskraft gegen die traditionellen, offiziellen Religionen und die herrschende Ideologie dar. Das Wichtigste, was die Gnosis auszeichnet, ist ihr Bewusstsein von der Relativität der traditionellen Religionen und ihre Zurückführung auf einen spirituellen Ursprung, der höher ist als sie selbst. Diese Neigung zum Fernhalten von den bestehenden religiösen Formen, seien sie nun Überzeugungen oder Institutionen oder was auch immer, bekräftigt die Existenz eines gemeinsamen menschlichen, geistigen und göttlichen Elements, das allen Religionen und Konfessionen gemeinsam ist, den absoluten Charakter, den jede Religion für sich beansprucht, zerstört und die Hegemonie jeder offiziellen herrschenden religiösen Ideologie erschüttert. Wenn man im Namen des formalen Charakters dem religiösen Text einen von außen herangetragenen Sinn geben kann, dann verliert die theologischkirchliche Auslegung ihre Heiligkeit, und folglich verlieren die religiösen Prinzipien ihren absoluten Wert. Hier definiert sich die Religion nicht durch das, was sie von einer anderen Religion unterscheidet, sondern durch einen höheren menschlichen, nichtreligiösen Wert, der die besondere religiöse Situation relativiert. Jedes religiöse Bewusstsein in der Gnosis im präzisen Wortsinn gilt als besondere sinnliche Form, die hinter sich einen Ursprung verbirgt, dessen tiefes Verstehen menschliche Auslegung erfordert. Das Menschliche wird zum notwendigen Zeugnis für diesen geistigen Ursprung, was zum Gleichgewicht des wahrhaft Göttlichen und des wahrhaft Menschlichen führt. Diese Relativität hat der Imam Muḥammad ʿAbduh⁷⁷ ausgedrückt, als er sagte: „Der Islam kam, um „Gnosis“ (al-ġunūṣiyya) ist ein griechisches Wort mit der Bedeutung „Wissen“; hier ist das spirituelle Wissen um die höheren göttlichen Geheimnisse aufgrund menschlicher Anstrengung gemeint (Fußnote von Nayef Ballouz). Muḥammad ʿAbduh, 1849 – 1905, ägyptischer Religionsgelehrter, der bedeutendste muslimische Reformer im arabischen Sprachraum (A. d. Ü.).
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den Verstand anzusprechen … und er bewies, dass die Religion Gottes in allen Generationen eins ist. Ihre Absicht liegt in der Reform ihrer (der Menschen, A.F.) Angelegenheiten und der Reinigung ihrer Herzen gleichermaßen.“⁷⁸ Er sagte auch: „Die Religion Gottes war zu allen Zeiten aus dem Mund aller Propheten eins.“⁷⁹ Im selben Sinn sagte der hanafitische Rechtsgelehrte Waliyyallāh adDihlāwī⁸⁰ (18. Jahrhundert): „Der Prophet (Eulogie) wurde mit einer Botschaft gesandt, die eine andere Botschaft enthielt. Die erste war an die Araber gerichtet. … Diese Botschaft besagte, dass die Substanz seines (Gottes, A.F.) Rechts das ist, was sie an Riten und tradierter Gottesverehrung haben … Das Recht ist die Reform dessen, was sie haben, nicht ihre Beauftragung mit dem, was sie gar nicht kennen!“⁸¹ Eine aufgeklärte muslimische Koryphäe aus dem Libanon hat dieses Verständnis des Islam klar und einfach so formuliert: „Ich bin Muslim, aber mein Islam ist nicht der Islam Muhammads, sondern der Islam Abrahams, der alle Propheten und Gesandten einschließt. Gott hat zu den Menschen in aufeinanderfolgenden Zeitepochen gesprochen. Gott ist einer, ein Schöpfer, der zur Menschheit einmal in der Thora, dann im Evangelium und schließlich im Koran gesprochen hat.“ Die Gnosis ist nicht selbst eine Religion, sondern ein spiritueller Idealzustand in Opposition zu den religiösen Institutionen. Sie scheiterte bei jedem Versuch, eine Religion zu werden. Sie tut, was sie tut, durch Einführung des formalen Charakters in das religiöse Gedankengebäude und treibt es damit zu seinen äußersten Möglichkeiten. In diesem Sinn ist die Gnosis nicht nur eine geistige Strömung, sondern eine mutige Haltung des ehrgeizigen menschlichen Denkens unter der Hegemonie der religiösen Ideologie. Sie verkündet, dass die Menschheit immer ihr Schicksal und ihre Rettung in der Hand hat, dass sie durch ihre Bemühung über die heiligen Texte hinausgehen kann, dass sie noch nicht ihr letztes Wort gesprochen hat und dass die Realität offen für die Zukunft ist. Daher rührt ihr tiefer Gegensatz zum religiösen Fundamentalismus, der zwischen der Ursprünglichkeit der Texte und den späteren, in seinen Augen geringerwertigen Auslegungen unterscheidet. Der formale Charakter ist bei den meisten Vertretern der großen religiösen Bewegungen in Erscheinung getreten, von Markion⁸² und Mani⁸³ bis zu Abū
Muḥammad ʿAbduh, Risālat at-tauḥīd, Kairo: Dār aš-Šurūq 1994, 150. Ebd., 145. Šāh Waliyyallāh ad-Dihlāwī, 1703 – 1762, indischer Gelehrter, muslimischer Reformer (A. d. Ü.). Šāh Waliyyallāh ad-Dihlāwī, Ḥuǧǧat Allāh al-bāliġa, Beirut: Dār al-Ǧīl 2005, Bd. 1, 214 f. Marcion (85 – 160 n.Chr.) Frühchristlicher Theologe, lehnte das Alte Testament und seinen Gott als böse ab und ließ nur die Mission Jesu gelten. Seine Lehre wurde von der offiziellen Kirche als Ketzerei verdammt (A. d. Ü.).
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Ḥanīfa,⁸⁴ Ibn ʿArabī, Müntzer, Luther, Karl Barth, Gutierrez usw. Müntzer meinte beispielsweise, der Glaube sei das Erwachen der Vernunft im Menschen, hob so den prinzipiellen Unterschied von Gläubigen und Ungläubigen auf und strebte nach der Errichtung des Gottesreichs auf Erden. Viele Forscher glauben, dass der Protestantismus und der Islam die am stärksten vom formalen Charakter beeinflussten Religionen sind. Karl Barth machte den formalen Charakter zu einem grundlegenden Element seiner dialektischen Theologie. Damit versuchte er, die christliche Religion von den traditionellen religiösen Institutionen und der kirchlichen, mit erdrückenden Kompliziertheiten angefüllten Auslegung zu befreien. Er sagte: „Der Glaube an die Sohnschaft Gottes muss seine Rechtfertigung auf dem menschlichen Feld finden.“ Für ihn war die Religion „nichts als die existentielle Verpflichtung des Menschen vor sich selbst und vor der Welt.“ Diese Religion braucht keine Kirche mit einer Institution oder einem Spezialapparat, sondern ein formelles Glaubenszeugnis, also eine richtige menschliche Haltung zu den sich wandelnden Umständen, aufgrund deren der Mensch wirklich Kind Gottes ist und in der sich Glaube und allgemeine menschliche Verantwortung vermählen. So gibt die Religion ihre traditionelle Legitimationsfunktion auf und wird fähig, die Bestrebungen der Menschen in sich aufzunehmen und als religiöse Triebkräfte zu präsentieren. Der Glaube bekräftigt damit seine Eignung zur irdischen Tätigkeit in der Welt und der realen Geschichte, besonders zur Übernahme politischer Verantwortung. So wird der menschliche Aspekt zum Inhalt der göttlichen Wahrheit, und Grégoire Ḥaddād⁸⁵ ging so weit, zwischen dem Absoluten, das für alle Zeiten und jeden Ort tauglich ist (und das der Messias das Unendliche nennt), und dem Relativen, Besonderen zu unterscheiden, wie dem bestimmten Glauben, der Kirche, dem historischen Messias, den heiligen Büchern usw. Diese scharfe Unterscheidung zwischen dem Absoluten und dem Relativen erinnert uns an die frühislamische Unterscheidung zwischen dem Eindeutigen und dem Unklaren, zwischen den allgemeinen Prinzipien und den besonderen Vorschriften. Ich könnte auch eine ähnliche Initiative erwähnen, die eine große Zahl von muslimischen Denkern in den 60er Jahren unternahm, aber für die Behandlung
Mani (216 – 276), Stifter der manichäischen Religion, einer gnostischen, einen konsequenten Dualismus von Gut und Böse predigenden Religion (A. d. Ü.). Abū Ḥanīfa, 699 – 767, muslimischer Rechtsgelehrter, Gründer der hanafitischen Rechtsschule (A. d. Ü.). Grégoire Ḥaddād, 1924– 2015, griechisch-katholischer libanesischer Priester, zeitweise Erzbischof von Beirut und Byblos, sehr reformfreudig, betrieb die Verständigung mit den Muslimen, tendierte stark zum Sozialismus und zum Säkularismus. Wurde 1975 vom Vatikan aus dem Amt gedrängt (A. d. Ü.).
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dieses Themas genügen einige Bemerkungen nicht; es verdient eine besondere Untersuchung.⁸⁶ Hier kehren wir zu der grundlegenden Fragestellung zurück: Bis zu welchem Grad kann das frühe islamische Gedankengebäude, das auf formalem Charakter, Flexibilität, Einheit und Erhabenheit Gottes und Abwesenheit von Vermittlern beruht, eine positive Rolle in der fortschrittlichen, einheitsorientierten, demokratischen arabischen Revolution spielen? Der formale Charakter, die Anpassung an die Aufgaben des sozialen Fortschritts und die geistige Flexibilität, die heute die Position vieler muslimischer Denker auszeichnen, sind der Realität nicht aufgezwungen, sondern sie sind die Reflexion eines anderen, realen formalen Charakters, der die Denkmethode der breiten gläubigen Massen auszeichnet. Sie streben einerseits nach der Veränderung ihres Lebens und wollen mit allen Formen der Unterdrückung und Ausbeutung brechen. Andererseits können sie ihren religiösen Glauben nicht aufgeben, und darum machen sie sich daran, ihren Bestrebungen einen angemessenen religiösen Ausdruck zu geben. Der formale Charakter ist also keine Forderung und kein Aufruf zu religiöser Erneuerung ohne Basis in der Realität, sondern die Art und Weise, auf die zunehmend breiteren Massen die ererbten traditionellen Vorstellungen und der heutige Sinn, den sie ihnen gegeben haben, bewusst werden. Wenn wir die Bewegung zur sozialen Veränderung in der arabischen Welt heute auch nicht als eine Spielart der religiösen Opposition betrachten können, wie das im Mittelalter der Fall war, so wird doch ohne Zweifel ein Aspekt der Bewegung zur sozialen Erneuerung und des Strebens nach menschlicher Befreiung immer noch im Rahmen des traditionellen islamischen Bewusstseins verwirklicht. Das allein berechtigt uns schon zu sagen, dass es eine reale Grundlage für den Ausdruck des Willens zur Veränderung und zum sozialen Fortschritt mit den Mitteln dieses traditionellen Denkens gibt. Die letzten Jahrzehnte haben gezeigt, dass mit Hilfe des islamischen Gedankengebäudes (formaler Charakter, Transzendenz, Freihalten Gottes von menschlichen Attributen usw.) nicht nur der Ruf nach sozialer Reform gerechtfertigt wird, sondern dass es auch als Ideologie der sozialen Revolution betrachtet werden kann, die auf das Ende des Kapitalismus abzielt. Damit leugnen wir nicht die Tatsache, dass die religiöse Ideologie im Allgemeinen und grundsätzlich die Ideologie herrschender Klassen in auf Ausbeutung und sozialem Gegensatz beruhenden Gesellschaften ist. Wir akzeptieren die Idee nicht, dass der Mensch mit psychischer und logischer Notwendigkeit metaphysisch-religiöse Tiefe und ewige
Diesen Gegenstand hat Nayef Ballouz an anderer Stelle behandelt; vgl. Nayef Balluz, Nichtkapitalistische Entwicklung und Islam, in: Mitteilungen des Instituts für Orientforschung (Berlin), XVI (1970), 521– 540.
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göttliche Werte hat; wir weigern uns, den sozialen Inhalt von der religiösen Form zu trennen und die Idee des Übernatürlichen aus der formalen Struktur des menschlichen Bewusstseins abzuleiten. Aber wir können nicht vernachlässigen, dass muslimische Denker sich heute bemühen, über den traditionellen Inhalt des Glaubens hinauszugehen, ihn von seinem konservativen sozialen Träger zu befreien, den formalen Charakter in seinem Verständnis zu bekräftigen und ihm einen fortschrittlich-menschlichen Charakter zu geben, wobei die Stimme Gottes in ihm gleichbedeutend wird mit der Stimme des Innersten des Menschen, des Lebens und der Revolution. Denn es kommt hier nicht auf den Grad der Richtigkeit des Bewusstseins des religiösen Denkens an sich selbst und seiner selbstgemachten Vorstellungen an, sondern auf den sozialen, politischen und menschlichen Gehalt dieses neuen religiösen Bewusstseins, das in vielen revolutionären sozialen Bewegungen in Erscheinung tritt – christlichen und muslimischen. Wir können hier nicht von einem absoluten, bestimmten Standpunkt und einem einzigen Maßstab ausgehen. Einige Formen der religiösen Erneuerung sind wohl ein Mitgehen mit der Fortschritts- und Befreiungsbewegung und eine Form des sozialen Reformismus. Aber einige andere ihrer Formen können auch Ausdruck einer engen Verbindung mit den Millionen von Unterdrückten und Ausgebeuteten, einer Beeinflussung durch die revolutionäre Bewegung und ein Instrument sein, mit der sie breite Schichten um sich schart. Das zwingt uns dazu, jede Erscheinung einzeln zu analysieren, ihren sozialen und politischen Träger sowie die Struktur und Funktion der vorgeschlagenen Gedanken genau zur Kenntnis zu nehmen und eine gleichzeitig bestimmte und flexible Position dazu einzunehmen. Wir dürfen auch methodologisch nicht vergessen, dass die verschiedenen Formen der religiösen Erneuerung ihre historischen Beschränkungen haben (vorkapitalistisch, tiers-mondistisch usw.) und dass ihre heutige Bedeutung sich aus ihrer modernen Interpretation herleitet, die eine besondere geistige Anstrengung erfordert. Aber wichtiger als alles Gesagte ist die Bekräftigung des bedeutsamen grundlegenden Umstands, dass es sich hier um gläubige Menschen handelt, die ein Interesse an der sozialen Erneuerung haben. Die gläubigen Volksmassen können wegen ihrer historischen und kulturellen Lebensbedingungen noch für eine Zeitlang die Gedanken der fortschrittlichen sozialen Befreiung nur in der Form des traditionellen Denkens annehmen. Ihre Entwicklung zur Übernahme der zeitgenössischen fortschrittlichen oder revolutionären Ideologie kann nicht Ergebnis einer szientistisch-atheistischen Propaganda oder eines Kampfs zwischen Religion und Atheismus sein, sondern nur Frucht eines langen, komplizierten Prozesses, in dem sie durch ihre soziale und politische Erfahrung den Wert dieser zeitgenössischen revolutionären Ideologie bei der Vollendung der progressiven arabischen Revolution erkennen. Mit einem Wort, sie ist Frucht einer
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richtigen Vertiefung und Verallgemeinerung ihrer politischen Erfahrung. Man darf nicht aus dem Blick verlieren, dass die Fähigkeit des religiösen Bewusstseins, sich an die Erfordernisse der Entwicklung des Fortschritts und der Revolution anzupassen, nicht das unmittelbare Ergebnis der Natur des religiösen Bewusstseins ist, also von besonderen Inhalten des religiösen Bewusstseins selbst, sondern sich daraus ergibt, dass dieses Bewusstsein äußere, weltliche, irdische, rationale Einflussfaktoren aufnimmt, die den Grad der Einwirkung von Ereignissen und fortschrittlichen, demokratischen, nichtreligiösen Gedanken im Innersten des religiösen Bewusstseins widerspiegeln. In Wahrheit ist die religiöse Erneuerung nichts als ein Echo des intellektuellen, sozialen und historischen Fortschritts. Daher müssen wir uns unter bestimmten Umständen vergegenwärtigen, dass manche Inhalte des heutigen revolutionären Denkens in religiöser Form erscheinen, sei es nun auf der Ebene der Massen oder derjenigen der Elite. Der reale Kampf erreicht manchmal eine solche Kraft, Fülle und Weite, dass der menschliche, irdische, kämpferische und politische Inhalt im Innersten des religiösen Bewusstseins hervorbricht, dass das radikale revolutionäre Programm selbst religiösen Enthusiasmus erhält – als Aufruf, nach dem Wohlgefallen Gottes zu streben – und dass die Gleichheit zum Schatten Gottes auf Erden wird. Natürlich führt der Einfluss dieses menschlichen Elements im Inneren des religiösen Bewusstseins zur Verstärkung des Widerspruchs zwischen der metaphysischen Sicht und diesem nichtreligiösen, natürlichen, radikalen Inhalt, oder in der Sprache mancher Exponenten der religiösen Erneuerung zwischen dem relativen und dem absoluten Element. Aber genau das ist es, was wir mit dem formalen Charakter meinen (dem Bedürfnis des Dogmas nach einer äußeren Hinzufügung aus dem Leben, die es verdeutlicht). Die Realität des formalen Charakters ist die Nichtbeschränkung auf die offizielle Festlegung des Glaubensinhalts und der ihn überwachenden Institutionen sowie die Kritik der fertigen Formen, die das religiöse Bewusstsein begründen; weiter die Verteidigung des geistigen Zustandes als Frucht eines menschlichen Verdienstes, woraus sich die Schwächung der Dominanz des offiziellen metaphysischen Bewusstseins über den Inhalt der religiösen Ideologie ergibt. Und noch weiter ist sie die verstärkte Tendenz zur Einschließung der menschlichen Inhalte, welche die Bewegung des Lebens und des Denkens mit sich bringt. Da ist es denn auch nicht verwunderlich, dass atheistische oder nichtreligiöse Ideen in Bewegungen religiösen Charakters auftauchen. Und wenn sich der Einfluss verschiedener äußerer Faktoren auf das religiöse Bewusstsein verstärkt, werden die Kämpfe zwischen den verschiedenen religiösen Strömungen zu einer Form des ideologischen Lebens, und es treten verschiedene Formen des Protests, der Neuerungen, der Häresien und der Forderungen nach religiöser Erneuerung usw. auf. Es erscheint auch die Bereitschaft zur Überschreitung oder Abschaffung der Grenzen der alten
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konfessionellen Zugehörigkeit, die auf der offiziellen Aufteilung in Konfessionen beruhte, wie auch demokratische, aufklärerische und militante Tendenzen auftreten und die Hinwendung zur Welt und die praktische Bewältigung des Lebens zunehmen. Hieraus ersehen wir, dass das traditionelle religiöse Denken in der Lage ist, die gläubigen Massen während einer langen Periode in die fortschrittliche und demokratische Richtung zu lenken. Das zeigte sich deutlich im Ägypten der 1960er Jahre. Diese Realität schufen natürlich nicht unmittelbar die fortschrittlichen politischen Kräfte mit ihrem tiefgründigen Bewusstsein und scharfen Intellekt, sondern die Widersprüche und Kämpfe des Lebens selbst. Aus dem Gesagten wird klar, dass der Glaube der Massen wohl in bestimmten Situationen eine vorwärtstreibende revolutionäre Kraft ist. Und noch wichtiger als das ist, dass die Revolution unmöglich ist, wenn wir die Massen, die ein Interesse an ihr haben, abschreiben wollen, bloß weil sie gläubig sind. Jede Vernachlässigung dieser ideologischen Potenz, die das religiöse Denken manchmal mit sich bringt, ist eine Form der intellektualistischen, elitären, aristokratischen und besserwisserischen Tendenz, die ihre Feindseligkeit gegenüber den Volksmassen nicht immer deutlich zeigt, aber darauf besteht, man müsse warten, bis sich die Massen vom fundamentalistischen Denken und der religiösen Illusion befreit hätten, worauf dann das Feld frei wäre für die Erledigung der Aufgaben des bürgerlichen Liberalismus und der Erziehung zur Aufklärung durch die Elite, ohne Einbeziehung der Massen in militante Aktivitäten, ob sie nun national oder antiimperialistisch sind, mit der Überwindung der Abhängigkeit und Rückständigkeit in der Dritten Welt im Zusammenhang stehen oder die Bahnung des Wegs zum sozialen Fortschritt mit sozialistischem Horizont betreffen. Wir können heute mit einer gewissen klassifikatorischen Vereinfachung von vier Möglichkeiten der politischen Praxis sprechen, die sich auf die islamische Religion stützen: Erstens – die reaktionäre, traditionelle, rechte Position, die keinerlei besondere politische Lebenskraft zeigt und sich allen bestehenden Verhältnissen in den islamischen Ländern anpasst, einschließlich der feudalen Überreste, und sie konsekriert. Mit der Verlangsamung der historischen Dynamik besonders in der osmanischen Epoche verstärkte sich die Umwandlung des offiziellen Islam in die Ideologie eines Bruchs mit den Erfordernissen des allgemeinen Fortschritts und der Rechtfertigung der Unterdrückung, der Despotie, der Erstarrung, des feudalen Chaos und der Verdummung. Manche Männer der Religion betonten einige Inhalte der islamischen Religion ungebührlich und veränderten ihren Sinn so, dass damit der Islam in Widerspruch mit den einfachsten Erfordernissen der menschlichen Vernunft geriet, was ihn zu einem Faktor der Unterwerfung, des blinden Gottvertrauens und der passiven Erwartung der letzten Tage machte. Dieses Verständnis des Islam, das einige Orientalisten mit dem Islam im Allge-
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meinen in eins setzten, blieb das objektive geistig-ideologische Rüstzeug im Dienst der sozialen Reaktion, der Feudalherren, ihrer Privilegien und ihres Einflusses sowie im Dienst des parasitären Militäradels. Dieser starre, rückständige, traditionelle Islam, der den kulturellen Fortschritt verhindert, ist es, den die Bewegung der religiösen Reform im modernen Zeitalter, die bürgerlichen Charakter hat, kritisieren und disqualifizieren wollte, wobei sie die Rückkehr zum Islam der Frühzeit ermöglichen wollte. Zweitens – die bürgerlich-reformistische Position, die am Ende des 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts große Bedeutung hatte, beim Übergang der islamischen und besonders einiger arabischer Länder zu Gesellschaften mit der Hegemonie bürgerlicher Verhältnisse und bei der Realisierung einer religiösen und politischen Reform, welche die Bedingungen für die Errichtung eines modernen Staats schuf, der die Instrumente des westlichen Fortschritts akzeptierte, wie er auch die religiös-ideologische Grundlage für die Entstehung der Bewegung des säkularen Nationalismus war. Die religiöse Reform beruhte auf der Rückkehr zur Frühzeit des Islam und der Distanzierung von den folgenden Epochen der Stagnation. Damit kann man sagen, dass sie auch den formalen Charakter des Glaubens zu Hilfe nahm. Allerdings konnte die religiöse Reform nicht mit den Veränderungen Schritt halten, welche die islamischen Länder seit dem Zweiten Weltkrieg durchgemacht hatten, und darum war sie nicht in der Lage, der Öffnungspolitik entgegenzutreten, die Ägypten verfolgte, und die Bestrebungen der Volkskräfte in der gegenwärtigen Etappe zu verwirklichen. Drittens – die fundamentalistische Kampagne, die sich besonders seit den 1970er Jahren ausbreitete und eine heftige Feindschaft sowie größten Eifer beim Kampf gegen die Abhängigkeit von Fremden und gegen ihre imperialistische Politik zeigte, welche die Energien und Fähigkeiten der Völker der Dritten Welt plündert und aussaugt. Diese Kampagne wurde meist als islamisches Erwachen bezeichnet und weckt heute breite Aufmerksamkeit. Allerdings konnte dieses Erwachen den positiven Aspekt des westlichen Fortschritts nicht erfassen und erachtete alles, was aus dem Westen kam, prinzipiell als Verfall, Verderbnis und moralischen Niedergang. Es pries die Rückkehr zu den Werten des Islam, die sich in einer vorkapitalistischen Welt herausgebildet hatten, als dritten Weg an, der die Menschheit von der weltweiten imperialistischen und sozialistischen Hegemonialpolitik⁸⁷ erlöst. Diese Kampagne beruhte, anders als die reformerische Position, auf der buchstäblichen und meist wörtlichen Auslegung der religiösen Texte und blieb daher unfähig, das Programm eines sozialen und kulturellen Fortschritts vorzulegen, das die islamischen Länder zur Überwindung der Abhän-
Ar. istikbār, siehe oben Fußnote 79 (A. d. Ü.).
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gigkeit und Rückständigkeit befähigt hätte. Die Vertreter dieser Kampagne sind von alten, mittelalterlichen Ideen durchdrungen, was in der Realität meist zum Widerspruch zwischen Rede und Tat führte. Diese fundamentalistische Kampagne behält trotz der negativen Erscheinungen große positive Bedeutung, die sich in ihrer unversöhnlich feindlichen Haltung zum Imperialismus und seinen Interessen offenbart, wenn sie auch auf der Ebene der religiösen Reform weniger entwickelt ist als die Nahḍa-Bewegung⁸⁸ und in dieser Strömung kein Raum für die Begriffe Patriotismus, Nationalismus, Demokratie und Fortschritt ist. Viertens – die Position der verschiedenen religiösen Gruppen, die das Streben der arabischen und islamischen Länder nach radikaler sozialer Veränderung begleiten konnten, die den Rahmen der bürgerlichen Verhältnisse überschreitet und im Namen des Islam selbst den Ansatz zu sozialen Entwicklungen sozialistischen Charakters hervorbringt. Diese fortschrittliche islamische Tendenz ist im Ägypten der 1960er Jahre stark in Erscheinung getreten. Sie setzte ihre Meinungsäußerungen in den Schriften vieler gläubiger Denker und in den unabhängigen Aktivitäten fort, die einige religiöse Persönlichkeiten unternahmen, um die Orientierung einiger arabischer Länder auf den Weg des sozialen Fortschritts zu unterstützen. Diese Strömung setzt sich zusammen aus den gläubigen muslimischen Massen, die fortschrittlichen nationalistischen oder marxistischen Organisationen angehören, aus den Volksmassen, die sich nicht politischen Organisationen zuordnen und dennoch, besonders in Zeiten der Mobilisierung des Volks, Partei nehmen für die Kräfte der fortschrittlichen demokratischen Befreiungsrevolution; weiter aus den Kreisen vieler gläubiger Intellektueller, von denen jeder auf seine besondere Weise sich gedanklich-innovatorisch bemüht, Sozialismus und Islam vereinbar zu machen oder den sozialistischen Inhalt im islamischen Erbe hervorzukehren. Die wichtigsten Kennzeichen derjenigen, die diese vierte Position einnehmen, sind ihre Vielfalt, ihre verschiedenen Problemlösungen sowie ihre unterschiedlichen Beziehungen zu den säkularistischen politischen Organisationen. Allerdings stimmen sie alle darin überein, dass sie es ablehnen, einer unabhängigen Bewegung mit offen islamischem Charakter anzugehören. Wir können diese verschiedenen Gruppen kurz als Strömung oder Sektor in der demokratischen, fortschrittlichen Befreiungsbewegung im arabischen Vaterland und der islamischen Welt bezeichnen. Zweifellos repräsentiert diese Strömung die Bewegung einer radikalen religiösen Erneuerung und zeigt ein Verständnis des Islam, das sich von demjenigen der fundamentalistischen Strömung gänzlich und wesentlich unterscheidet und, sozial gesehen, die bürgerlich-
Hier ist die muslimische Reformbewegung am Ende des 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts gemeint (A. d. Ü.).
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reformistische Strömung überwindet hin zu Positionen des sozialen Fortschritts. Diese Strömung zeichnet sich dadurch aus, dass sie freier, tiefer und kenntnisreicher als die bürgerlich-reformistische das islamische Gedankengut benutzt (formaler Charakter, Rationalität, Transzendenz Gottes, implizite oder explizite Säkularisierung, weltliche Orientierung und politische Militanz, verstandesmäßige Flexibilität in der Haltung zum Erbe und zum geistigen Leben allgemein usw.). Diese Strömung zeigt ein innovatorisches Verständnis bei der Erschließung der speziellen Möglichkeiten der religiösen Texte und ihrer Beleuchtung durch neue, umfassendere und mit den Erfordernissen der Aufgaben der fortschrittlichen demokratischen Revolution sowie mit den allgemeinen Prinzipien des Islam besser im Einklang stehende Sinngehalte. Daher können wir sagen, dass diese Strömung authentischer und tiefer in ihrem Durchdrungensein mit dem Geist des Islam und seinen tiefen Bestrebungen ist als die strenge fundamentalistische Strömung in ihrem buchstäblichen, starren Verständnis und ihrem Anspruch auf Alleinvertretung des Islam. Dies, weil sie sich nicht ehrfürchtig dem Wortsinn eines Textes unterwirft, der auf eine bestimmte Situation in der Vergangenheit verweist, und ihren Wert nicht daraus bezieht, dass sie die Realisierung einer metaphysischen Verbindung mit dem Überirdischen ist, sondern über die Texte hinaus zu den Prinzipien vorstößt, die den Blick auf die Dinge leiten (dies ist ein Verständnis, das sich an das Prinzip hält und nicht den Fall imitiert; es orientiert sich am Geist des frühen Islam mit seiner Unterscheidung zwischen dem Eindeutigen und dem Unklaren, seiner Problemlösung qua unabhängiger Meinung und für-gut-Halten usw. und trachtet danach, an die tiefere menschlich-rationale Triebkraft der islamischen Mission anzuknüpfen). Dieser Übergang von einer bestimmten, speziellen Situation zu allen Situationen, zum allgemeinen menschlichen Zustand in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, also zu einer Auslegung, die den Menschen dazu bringt, sich seinem Schicksal und seiner Zukunft zu stellen, kann uns deutlich machen, was die Schritte der Befreiung, der progressiven Veränderungen und der Revolution im Hinblick auf diesen tiefen, menschlichen, umfassenden Inhalt des islamischen Erbes bedeuten. Dies ist die kulturelle Ebene, die den Menschen auszeichnet. Auf ihr ist er kreativ in der Konfrontation mit den Bedingungen seines Lebens und in der Gestaltung seines Schicksals. Hier ist er nicht der Macht des metaphysischen Bewusstseins unterworfen und fügt sich nicht der Heiligkeit der Vergangenheit und ihrer Macht über Gegenwart und Zukunft. Auf dieser Ebene gewinnt die islamische Kultur ihren umfassenden menschlichen Wert und ihre Fähigkeit, zu unserem Zeitalter zu sprechen und die neuen Generationen auf dem Weg des Fortschritts und der menschlichen Befreiung zu orientieren. Das größte Problem dieser Strömung und der ganzen revolutionären progressiven Bewegung ist die Festlegung der richtigen Beziehung zwischen der zeitgenössischen revolutionären Ideologie und der
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progressiven Ideologie islamischen Charakters, deren Träger diese Strömung ist. Die Krise, die diese Strömung durchmacht, ist die Krise der progressiven Bewegung der arabischen Revolution selbst. In der letzten Zeit waren die Vertreter des islamischen Erwachens die größten Nutznießer der Krise der arabischen Revolutionsbewegung. 4. Die Absicht dieser vierfachen Einteilung ist nicht, ein völlig mit der realen heutigen islamischen Situation übereinstimmendes Bild zu geben, und auch nicht eines, welches die Individuen den Kategorien zuordnet. Wie ein Einzelner von einem politischen oder intellektuellen Standpunkt zu einem anderen überwechseln oder auch zwischen ihnen schwanken kann, so gibt es hier im Hinblick auf alle vier Möglichkeiten Fälle des Übergangs, Entwicklungen und Überraschungen. Oft wird ein Fundamentalist zum Reformer oder Progressiven oder ein Progressiver wird zum Reformer oder Fundamentalisten. Ich will auch nicht das tatsächliche Gewicht der Kräfte und die Perspektiven seiner Entwicklung vorstellen, sondern eine einigermaßen realistische modellhafte Klassifizierung, die bei der genauen Bestimmung der großen Formen und der Mechanismen der möglichen Veränderung der Beziehungen zwischen ihnen sowie der Gesetze, die ihre Entwicklung regieren, hilft, und dies auf objektive Weise. Allerdings kann keine Klassifizierung, wie präzis auch immer, die flexible und reiche Realität und ihre Perspektiven erschöpfend behandeln. Tatsächlich gibt es beispielsweise viele Zwischenstationen und Abstufungen zwischen der fundamentalistischen Strömung und derjenigen der religiösen Erneuerung. Es ist klar, dass die vorangegangene Analyse auf einer von außen herangetragenen Sicht auf das religiöse Bewusstsein beruht. Die wissenschaftliche, moderne, revolutionäre und nichtreligiöse Sicht hat im Rahmen des Möglichen das religiöse Phänomen allgemein erklärt, den Islam in Vergangenheit und Gegenwart bewertet und seinen Ort in der Kulturgeschichte, seine heutigen politischen Aktionsmöglichkeiten und seine Fähigkeit, sie auch in Zukunft beizubehalten, bestimmt. Wir konnten nicht erwarten, dass das religiöse Bewusstsein die Erklärung der revolutionären Bewegung übernimmt, auch wenn es Fälle des Übergangs gab, in denen ein Forscher sich einerseits am traditionellen religiösen Denken, andererseits manchmal auch am modernen, wissenschaftlichen, fortschrittlichen Denken orientierte. Allgemein können wir sagen, dass das religiöse Bewusstsein die intellektuellen, historischen und sozialen Probleme der Realität aus sich selbst heraus nicht klar machen kann, wie tief, flexibel und reich es auch sein mag. Die gegenwärtigen Fähigkeiten des Islam sind organisch mit denen der heutigen revolutionären Bewegung verbunden. Wenn die religiöse Ideologie oder eine ihrer positiven politischen Strömungen heute danach trachtet, die Position der Orientierung, intellektuellen Leitung und Führung in unserem politischen und ideologischen Leben sowie in unserem heutigen Kampf zur Überwindung der
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Abhängigkeit und Rückständigkeit und zur Erlangung des Fortschritts und der Freiheit einzunehmen, bedeutet das, dass diese religiöse Ideologie, so positiv und fortschrittlich ihr Inhalt auch erscheinen mag, mit diesem Anspruch und diesem Streben eine konservative oder wenigstens reformistische Neigung ihres sozialen Trägers reflektiert. Viele Erfahrungen haben gezeigt, dass ein solcher Anspruch schädliche Konsequenzen sowie negative und üble Folgen hat. Die Versuche einiger Kreise, die Parole der islamischen Republik im Libanon auszugeben, brachten große Gefahren mit sich. Und nachdem die Kräfte des islamischen Erwachens im Libanon eine wichtige Rolle in der Mobilisierung des Volks gespielt hatten, begannen sie, die Schaffung einer konfessionellen Strömung zu ermutigen, die dem patriotischen, nationalistischen und progressiven Weg entgegengesetzt war. Wir haben gezeigt, dass die religiöse Erneuerung in unserem intellektuellen und politischen Leben eine positive Bedeutung haben kann. Wir müssen dieses Thema weiter verfolgen und ihm das gebührende Interesse zukommen lassen. Aber die zeitgenössische Ideologie der Revolution, der Befreiung und des Sozialismus kann nicht Teil dieser Erneuerung sein, wie sehr sie auch für die religiöse Erneuerung mit progressiven Perspektiven Verständnis zeigen mag. Es gehört nicht zu den Aufgaben der fortschrittlichen demokratischen Kräfte, künstlich, demagogisch und heuchlerisch die Rolle der religiösen Erneuerungsbewegung zu markieren, sondern sie muss respektvoll und ernsthaft mit dieser Bewegung zusammenarbeiten, die sich auf der Grundlage der Interpretation des traditionellen Denkens als politisch wichtige Gegebenheit entwickelt und verschiedene Möglichkeiten beinhaltet. Wir müssen jedenfalls deutlich erkennen, dass die religiöse Ideologie nicht theoretisch oder politisch die Führung der sozialen, progressiven Revolutionsbewegung übernehmen kann. Wenn wir sagen, dass es unmöglich ist, der religiösen Ideologie, wie ehrlich auch immer sie diese soziale Radikalisierung zu ihrer Sache macht, eine führende Rolle in der arabischen demokratischen und progressiven Revolutionsbewegung anzuvertrauen, dann rührt das daher, dass sie als politische Kraft nichts als ein Widerhall dieser Bewegung ist und dass sie historisch in den Bedingungen einer vorkapitalistischen Gesellschaft befangen bleibt. Sie ist ein Objekt, auf das der Lauf der Dinge einwirkt, kein Subjekt, das ihn seinerseits in Gang setzt. Auf der rein theoretischen Ebene ist sie eine Erscheinung, die schwer an der Last des Widerspruchs zwischen ihrem neuen, positiven realen Inhalt und ihrer alten metaphysischen Form trägt. Es ist sehr wichtig zu erkennen, was sie an positiven und negativen Aspekten in sich schließt. Die Anerkennung der positiven Züge im frühen Islam und die Herausstellung der Rolle des islamischen Gedankengebäudes, seiner Flexibilität, seines formalen Charakters und seiner Anpassungsfähigkeit dürfen allerdings nicht dazu führen, dass die arabische revolutionäre Bewegung fordert, die religiöse Ideologie zu
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verbreiten und unserem kulturellen und politischen Leben ihren Stempel aufzudrücken. Diese Feststellung ist nur das Ergebnis einer rein wissenschaftlichen Analyse, und man muss sie als den Versuch sehen, die Erscheinung des islamischen religiösen Bewusstseins, seiner politischen Auswirkung sowie die Entwicklungsmechanismen seiner Strömungen und sozialen Richtungen objektiv zu verstehen, ohne dass irgendwelche vorgefassten subjektiven Ideen dieses Verständnis einschränken. Dieser Versuch stützt sich auf die Anerkennung des dialektischen Charakters der Realität: Sie beinhaltet Kräfte der Bewegung, der Veränderung und der Entwicklung, Altes und Neues. Das Neue kann nicht in jedem Sinn und in jeder Hinsicht etwas völlig Neues sein, das unter allen Aspekten mit dem Alten, Traditionellen im Widerspruch steht. Es gibt nur selten ein von religiösen Elementen völlig freies zeitgenössisches Denken, und es gibt kein gänzlich von zeitgenössischen Ideen freies traditionelles Denken. Die Analyse, in der wir erklärt haben, dass das traditionelle religiöse Denken in einigen seiner Formen und bei Vorliegen einiger günstiger Umstände zur Anpassung an das Streben der Araber nach Fortschritt, Demokratie, Einheit, Freiheit und Sozialismus fähig ist – diese Analyse unternimmt, wie gesagt, ein nicht traditionelles Bewusstsein. Tatsächlich ist dies eine Form der Fähigkeit des modernen revolutionären Denkens, unser kulturelles und politisches Leben zu leiten und zu orientieren, das traditionelle Denken und seine Potentialitäten aufzunehmen, die verschiedenen Aspekte der Realität zu erfassen und die Bedingungen und sozialen Kräfte zu entwickeln, die nötig sind, um sie (die Realität) zu beherrschen und zu orientieren. In diesem Kontext stellt sich die Aufgabe, das richtige Verhältnis zwischen den fortschrittlichen gläubigen Massen und der zeitgenössischen revolutionären Ideologie zu schaffen. Die progressive religiöse Ideologie ist keine Theorie der heutigen sozialen Realität und ihrer Bewegung, und sie kann auch nicht ihre Bewegungskräfte und ihre Widersprüche aufdecken oder die Strategie des Kampfs und des Übergangs zu einer höheren historischen Etappe bereitstellen. Das heißt nicht, dass die bloße Aufdeckung uns schon die Befreiung bringt, aber sie ist heute eine notwendige Voraussetzung dafür. Die religiöse Ideologie kann die Erscheinungen des Zeitalters sowie seine moderne Ideologie und ihre Kapazitäten nicht wissenschaftlich analysieren. Weil das traditionelle religiöse Denken ein Produkt der vorkapitalistischen Verhältnisse bleibt, kann es das moderne Denken nicht verstehen, sei es nun revolutionär oder nicht, wohingegen das moderne und besonders das revolutionäre Denken es unternimmt, das traditionelle religiöse Denken zu erfassen und seine Grenzen festzulegen. Das bekräftigt, dass die religiöse Ideologie kaum ein gedanklicher Antrieb für die gläubigen Massen auf dem Weg der Freiheit, des sozialen Fortschritts und der zivilisatorischen Erneuerung sein kann, und es bekräftigt auch, dass die Anleitung des modernen
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revolutionären Veränderungsprozesses auf dem Weg des sozialen Fortschritts eine umfassende, bewusste, wissenschaftliche Auffassung dieser Veränderung erfordert. Alles das unterstreicht, dass die religiöse Ideologie fortschrittlichen Charakters nicht in der Lage ist, diesen Prozess anzuleiten. Das Bild klärt sich für uns noch weiter, wenn wir das zeitgenössische revolutionäre Verständnis des traditionellen religiösen Denkens mit dem traditionellen Verständnis des revolutionären Denkens vergleichen. Aber wenn die theoretisch führende Rolle im zeitgenössischen revolutionären Prozess an die zeitgenössische revolutionäre Ideologie gebunden ist, bedeutet das doch nicht, dass sie allein dadurch, dass sie sich zu einer zeitgenössischen revolutionären Ideologie erklärt, tatsächlich die Führung innehat. Diese führende Rolle weist ihr die Durchführung von Aufgaben zu und erlegt ihr eine wichtige Pflicht auf: Die Vertreter des zeitgenössischen revolutionären Denkens müssen unabhängig von ihrer politisch-organisatorischen Zugehörigkeit die Bedingungen analysieren, welche die religiösen Bewegungen diese bedeutende Stellung in unserem politischen Leben einnehmen ließen, sie müssen daran arbeiten, die besten Wege und Mittel zur Zusammenarbeit mit ihnen zu finden, und sie müssen die größten Anstrengungen unternehmen, damit das revolutionäre Denken und damit die Linke ihre führende Position in der Massenbewegung einnehmen und den stärksten Einfluss auf sie ausüben, besonders unter diesen speziellen Bedingungen, unter denen das traditionelle religiöse Denken über einen gewichtigen Einfluss verfügt, der sich in den Bewegungen der religiösen Belebung zeigt. Natürlich stellt sich hier die Frage: Was tun? Und wie muss die konkrete Beziehung zwischen Spontaneität und Bewusstheit gestaltet werden? Zwischen der Spontaneität der Ausbreitung der islamischen Bewegungen und der Bewusstheit der Bewegungen der zeitgenössischen revolutionären Ideologie, welche die Mobilisierung der Massen in revolutionären Organisationen anstrebt, in denen sich die Kräfte des Volks sammeln und sich in eine historische Kraft verwandeln, die über das Schicksal des Landes entscheidet? Man muss anerkennen, dass es politische, ökonomische, soziale und kulturelle Gründe für den vermehrten Einfluss des traditionellen religiösen Bewusstseins gibt. Es ist allerdings unstrittig, dass dieses Bewusstsein große Kraft daraus zog, dass die nationalistischen und fortschrittlichen Bewegungen nach der Unabhängigkeit bei der Bewältigung der Aufgaben der arabischen Befreiungsbewegung scheiterten, deren wichtigste die Überwindung der Abhängigkeit und Rückständigkeit sowie die Herstellung der Einheit waren, die den Arabern Kraft, Bewegung, Souveränität und größere Möglichkeiten auf dem Weg des sozialen Fortschritts sichert. Hier stellt sich auch die große Frage: Warum dieses schwere Scheitern? Die Beantwortung dieser Frage erfordert eine detaillierte und tiefschürfende Analyse. Vorläufig lässt sich sagen, dass in der arabischen und isla-
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mischen Welt die Tendenz zur Verbürgerlichung über den Willen zur sozialen Radikalisierung triumphiert hat. Das hat dem Imperialismus enorme Möglichkeiten der Ausbeutung und des Raubs der Reichtümer der arabischen und islamischen Welt, der Vertiefung der Abhängigkeit und der Verwandlung der Modernisierungs- und Entwicklungsprozesse in betrügerische, unechte Erscheinungen gegeben, hinter denen sich umfassende Verarmung, scharfe Unterdrückung, geistige Unterwerfung und starke soziale Polarisierung verbergen. Aus diesen Umständen bezog der traditionelle fundamentalistische Islam enorme Kraft und Fähigkeit zum Kampf und zum Widerstand. Das geschah auf Kosten der linken, nationalistischen und progressiv-religiösen Kräfte. Und wenn es nötig ist, eine entscheidende Veränderung dieses Zustands herbeizuführen, durch welche die linken, nationalistischen und progressiven Kräfte ihren weitreichenden Einfluss bei den gläubigen Volksmassen zurückerhalten, müssen alle Abteilungen der arabischen progressiven revolutionären Bewegung gigantische subjektivgeistige Mühen aufwenden, beharrlich und organisiert ihre Kenntnisse und Erfahrungen austauschen, sie eingehend studieren und Vorschläge für mögliche Formen der Überwindung der gegenwärtigen Zustände ausarbeiten. Das erfordert im Hinblick auf unser Thema auch eine vertiefte Analyse des traditionellen religiösen Denkens, seiner Möglichkeiten und seiner potentiellen positiven und negativen Aspekte. Allerdings darf diese Analyse, bei aller Anerkennung der Fähigkeit des traditionellen religiösen Denkens, manchmal mit der Bewegung des arabischen Aufschwungs mitzugehen, nicht eine grundlegende Aufgabe der heutigen revolutionären Ideologie vernachlässigen, nämlich die Kritik des fundamentalistischen religiösen Denkens und seines reaktionären Inhalts sowie die Befähigung der Volksmassen zur Entdeckung ihrer Kräfte durch die politische und nicht politische Praxis bis hin zur Beendigung aller Erscheinungen der Ausplünderung einschließlich der religiösen Ausplünderung. Aber es ist gefährlich, leichtfertig von der Kritik des fundamentalistischen Denkens zur Geringschätzung der gläubigen Volksmassen sowie zur Nichtrespektierung ihrer Gefühle und revolutionären politischen Fähigkeiten überzugehen, die sich bisweilen auch in der Form einer religiösen Erneuerung mit menschlichem, demokratischem und fortschrittlichem Inhalt äußern. Das Ergebnis, zu dem uns die obige Darstellung geführt hat, kann folgendermaßen zusammengefasst werden: Die islamische Ideologie, die im Rahmen vorkapitalistischer historischer Verhältnisse entstand, bestand fort und breitete sich heute weiter aus, nachdem die islamische Welt durch das vorkapitalistische Stadium hindurchgegangen war, ohne doch das regelrechte kapitalistische Entwicklungsniveau zu erreichen. Das weist deutlich darauf hin, dass es in der islamischen Ideologie etwas gibt, was auch auf die heutigen Bedürfnisse antwortet, die mit dem vergangenen Entwicklungsstadium nichts zu tun haben. Obwohl die
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islamische Ideologie im Allgemeinen eher zum Konservatismus neigt, kann sie doch auch, wie die Geschichte unseres Jahrhunderts gezeigt hat, in unserer heutigen Welt, in welcher der Kapitalismus sein höchstes Entwicklungsstadium erreicht hat und in der sozialistische Revolutionen und Veränderungen globaler Bedeutung stattgefunden haben, eine positive nationale und progressive Rolle spielen. Was die Dritte Welt betrifft, die um die Überwindung von Rückständigkeit und Abhängigkeit kämpft, so erscheint ihre Situation als das natürliche Ergebnis des gegenwärtigen internationalen Kräfteverhältnisses, in dem der Imperialismus immer noch den größten Einfluss auf ihr Schicksal ausübt. In dieser Dritten Welt erfährt der Islam eine enorme Reaktualisierung. Der Islam passte sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts der bürgerlichen Entwicklung an und antwortete seit den 1960er Jahren mit Enthusiasmus auf die progressiven sozialen Umschwünge. Aber seine wirkliche Schlagkraft brach in der Auseinandersetzung mit den schrecklichen negativen Erscheinungen der Herrschaft des Imperialismus über die Dritte Welt in den 1980er Jahren hervor, als die Antwort auf die Ausbreitung der Verhältnisse des konsumorientierten, schmarotzerischen, bürokratischen und unterdrückerischen Kapitalismus, auf die starke Verzweiflung und den Kulturimperialismus, der die kulturelle Identität des Volks zerstören wollte, enorme Massendimensionen erhielt. Nichts hindert den Islam – als religiöse Erneuerungsbewegung oder traditionelles Bewusstsein, nicht als politische Ideologie – daran, sich an der Erledigung der Aufgaben der demokratischen, sozialen und progressiven Erneuerung zu beteiligen. Aber in welchem Ausmaß? Der progressive demokratische Inhalt entwickelt und vervollständigt sich im Inneren des islamischen Kulturerbes nicht organisch, sondern bildet sich aufgrund einer innovatorischen, schöpferischen Lektüre, die uns von dem speziellen Äußeren der Texte zu den Prinzipien führt, die einen umfassenden menschlichen und kämpferischen Inhalt einschließen, das heißt, er (der Inhalt, A.F.) ist die Frucht des Zusammenwirkens des heutigen revolutionären Subjekts, repräsentiert in den Volksmassen und den für ihre Angelegenheiten und ihre tieferen Interessen engagierten Intellektuellen, mit dem positiven, unverfälschten Erbe, das man mit menschlicher, positiver Bedeutung gefüllt hat. Weil der Sieg dieser Lektüre des Erbes einen gedanklichen und politischen Umschwung in der Haltung der gläubigen Massen bedeutet, und weil er nur ein Echo und ein mittelbares Ergebnis der verstärkten Aktivität der Massen und der Tatsache ist, dass die revolutionären Kräfte effektiv und schöpferisch ihre historisch führende Rolle wahrnehmen, hängt das Schicksal des ganzen revolutionären Prozesses davon ab, wie weit diese progressiven revolutionären Kräfte ihre strategischen Aufgaben lösen. Es ist sehr wichtig, diese grundlegende Tatsache anzuerkennen, nämlich dass für lange Zeit alles vom Scheitern oder Erfolg der revolutionären Kräfte bei der Durchführung der Aufgabe abhängt, die ihnen historisch gestellt ist.
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Wie sehr auch immer die religiösen Kräfte ihren Einfluss verstärken und verbreitern mögen, können sie doch nicht den Platz der revolutionären Kräfte bei der Durchführung ihrer historischen Aufgabe einnehmen. Das bedeutet nicht, dass man geringschätzen sollte, was die antiimperialistischen religiösen Strömungen leisten können. Der Sturz des Schahs war ein historischer Faktor, dessen weiterreichende Bedeutung sich in der Zukunft immer mehr zeigen wird. Aber es ist sehr zweifelhaft, ob die iranische Führung den Weg des sozialen Fortschritts beschreitet oder auch nur eine Agrarreform zustande bringt. Die religiöse Strömung im Sudan hat den Imperialismus gegen das Volk unterstützt. Die politische Realität wird auch weiter Dramatik, Komplexität und plötzliche Überraschungen bereithalten. Dennoch bleibt der Ball im Spielfeld der Linken, der revolutionären Kräfte. Dies ist ihre historische Verantwortung. Diese Kräfte müssen sich die spannungsreiche Beziehung von politischem Kampf und religiösem Glauben tief und deutlich bewusst machen. 5. Die Vereinbarung des Glaubens der Volksmassen mit ihrem fortschrittlichen Kampf wird zum Problem des Erbes und seiner Lektüre, denn die bloße Herbeizitierung des Erbes oder sogar die Unterwerfung unter es nach Art der Salafisten deutet nicht gerade auf die Kraft des Denkens der Alten und seine Fähigkeit zum Verstehen der Gegenwart und ihrer Erfordernisse sowie die Herrschaft über sie hin. Vielmehr deutet sie darauf hin, dass einige Gedanken oder bestehende soziale Verhältnisse es nötig machen, sich auf einige Elemente jenes Denkens zu berufen. Man versteht das Erbe immer aus einer heutigen Perspektive, die sich aus dem Blickwinkel der Gegenwart und mittels einer Bewertung der Vergangenheit ergibt, die einem Ruf der Gegenwart oder der Zukunft Folge leistet. Was als Beziehung zwischen dem Erbe des Islam und dem zeitgenössischen revolutionären Bewusstsein erscheint, ist im tiefsten Grund nichts als ein Ausdruck der gegenseitigen Beziehungen von heutigen sozialen und politischen Kräften, nur auf einer anderen Ebene. Die Versuche, ein arabisches historisches Bewusstsein zu schaffen, das Erbe schöpferisch zu verstehen und einen seiner Aspekte (wie etwa den frühen Islam) in seiner Bedeutung für uns zu entdecken, sind letzten Endes Bemühungen, eine geeignete Sprache und die zur Ansprache an das Bewusstsein der Volksmassen und der heutigen Araber allgemein angemessenen Formulierungen zu finden, die in das Innerste ihrer Gefühle, ihrer Kultur und ihrer geistigen Kräfte eindringen sollen, um einen Sprung in der Welt der heutigen oder künftigen Realität vorzubereiten. Damit will ich aber nicht dem negativen kapitulationistischen Standpunkt beistimmen, der die Spontaneität der Volksmassen rühmt, ihre Illusionen und negativen Eigenschaften verharmlost und ihre schwachen Punkte beschönigt. Ein solcher Standpunkt bedeutet nur, dass man ihre historische Rolle implizit geringschätzt, sie betrügt, irreführt und in den Dienst von Interessen treibt, die nicht ihre sind.Wenn die Lektüre des Erbes in das
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Innerste des traditionellen Denkens eindringen soll, das weitgehend das Bewusstsein der Volksmassen bestimmt, muss sie so vorbereitet und durchgeführt werden, dass wir die Gründe für die Kraft, Lebendigkeit und Kreativität bei diesen Massen und im Herzen des Erbes selbst erfassen können. Diese Lektüre erfordert auch, dass wir ihr Leben sowie ihre geistige und kulturelle Geschichte wissenschaftlich, kritisch und ernsthaft erfassen. Das wird ihnen helfen, ein richtiges historisches Bewusstsein und ein kritisches Selbstbewusstsein zu entwickeln, das sich immer stärker von ihrem traditionellen Bewusstsein emanzipiert und ihnen erlaubt, das traditionelle Denken auf den Prüfstein ihrer Lebenserfahrung und ihrer besonderen Kenntnisse zu stellen. Dann können sie es auch aus einer neuen Blickrichtung und Distanz betrachten und ihre Tätigkeit wirksamer und bewusster gestalten. Die Lektüre des Erbes erfordert methodologisch die Betrachtung des Massenbewusstseins, wobei die Massen vom traditionellen Denken als Ergebnis der historischen und kulturellen Entwicklung bzw. als einem vielen Faktoren unterworfenen Gegenstand beeinflusst sind. Wenn dies so ist, dann muss das Ziel dieser Lektüre sein, einige Bedingungen dafür zu schaffen, dass die Massen ihr Verhältnis zu ihrem traditionellen Bewusstsein verändern und bei seiner Interpretation, beim Umgang mit ihm und bei seiner Bereicherung durch neue Sinngebungen freier und fähiger werden. Das wird auch ihre Bereitschaft stärken, ihr Schicksal selbst zu bestimmen und als tätiges Subjekt und Schöpfer der Geschichte zu handeln. Allerdings ist die Umwandlung der Beziehung zwischen den Massen und ihrem traditionellen Denken ein komplizierter und langer Prozess, und ich konnte hier nur einige seiner Aspekte kurz andeuten. Unser Versuch, die Erfahrung der Vergangenheit und das geistige Erbe theoretisch zu erfassen, darf bei der Nachzeichnung der kulturellen und historischen Vergangenheit objektive Zuverlässigkeit und wissenschaftliche Exaktheit nicht vernachlässigen. Er muss alle strengen methodologischen Anforderungen an wissenschaftliche Untersuchungen erfüllen, braucht aber in seiner am Erbe orientierten Sichtweise und seiner ideologischen Zielsetzung kein Hehl daraus zu machen, dass er nach einem verantwortungsbewussten, tiefen historischen Bewusstsein strebt. Dieses Bewusstsein kappt die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart nicht, sondern legt die menschliche, historische Natur unserer Kenntnis des Erbes, seine Bedeutung für die Gegenwart und seine Rolle bei der Einsicht in die soziale Realität, bei ihrer Meisterung und ihrer Orientierung offen. Das Verstehen des Erbes steht im Dienst seiner heutigen Träger und ihrer Bestrebungen und ist nicht bloß neutrale wissenschaftliche Erkenntnis, und wenn die Epoche des frühen Islam hier Gegenstand besonderen Interesses ist, so kommt das daher, dass die Erforschung dieser Epoche, die als der religiöse Gründungsmoment angesehen wird und daher einen besonderen Ort in unserer geistigen und nationalen Geschichte darstellt, tatsächlich die wissenschaftliche
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Analyse des Kerns des traditionellen Denkens liefert und uns in die Lage versetzt, unsere geistige und kulturelle Vergangenheit auf die bestmögliche Weise zu sehen, was Umfassendheit, Objektivität und Wirksamkeit betrifft, und zwar so, dass die Vergangenheit eng mit unserer Gegenwart verbunden erscheint und sie beeinflusst. Die Beziehung zwischen dem traditionellen Denken (dem religiösen Glauben) und dem zeitgenössischen wissenschaftlichen oder revolutionären Bewusstsein ist nicht die Beziehung eines völlig falschen zu einem objektiven, gänzlich richtigen Denken ohne Makel. Was auch immer das traditionelle Denken an Schwächen und veralteten Ideen beinhaltete, und was auch immer die soziale Funktion war, die es in der Vergangenheit hatte, ist es doch auch Ergebnis einer bestimmten historischen und menschlichen Erfahrung, die nicht in weitgehend überholten Kenntnissen aufgeht, sondern auch kulturelle Wert- und Sinnsetzungen, Momente von Kreativität sowie originäre Verhaltens-, Denk- und Vorstellungsweisen umfasst, welche die kulturelle Identität definieren. Sie enthalten Errungenschaften sowie noble und reine menschliche Standpunkte und demokratische, kämpferische und rationale Inhalte von allgemeinem Wert, welche die Grenzen ihrer Zeit überschreiten und auch heute positive Bedeutung haben können, ja die Fähigkeit zum langdauernden Bestehen haben. Diese Errungenschaften und positiven Inhalte bilden die Grundlage für die Möglichkeit der Vereinbarung und der Harmonie des traditionellen religiösen Denkens der Massen mit dem zeitgenössischen fortschrittlichen Denken. Sie sind auch die Grundlage für das Bedürfnis nach der kritischen, differenzierenden Lektüre des Erbes, die seine positiven und negativen Elemente aufdeckt. Wenn es zwischen dem traditionellen und dem zeitgenössischen revolutionären Denken nichts Gemeinsames gäbe, hätte das Interesse am Erbe keinerlei Sinn. Aber das traditionelle Denken (hier betrachtet unter dem Blickwinkel anderer, heutiger Arten des Denkens) kann nicht selbst, aus seinem Inneren, durch innerliche Bewusstwerdung, den Prozess der Aussonderung und gedanklichen Differenzierung unter seinen eigenen Elementen leisten. Unter den Bedingungen des bewussten und unbewussten Aufeinanderwirkens des zeitgenössischen und des traditionellen Denkens ist es falsch zu glauben, dass die Volksmassen vor einer Wahl stehen: entweder das Festhalten am traditionellen Denken und der alten, traditionellen Welt oder ihre Verwerfung. Diese Auffassung verurteilt die historisch von diesem Denken geprägten Massen zur politischen Unfähigkeit, geht dem Problem der Vereinbarkeit ihres Glaubens mit ihrer Kampfbereitschaft aus dem Weg und folgert willkürlich, dass ihre Beeinflussung durch das traditionelle Denken ihnen auch das Festhalten an der traditionellen Welt vorschreibt. Was der oberflächlichen aufklärerischen Sicht fehlt, ist das dialektische historische Verständnis der sozialen und kulturellen Erscheinungen und dessen, was sie an innerer Spannung, unauflöslichen Widersprüchen und kompliziertem Geschichts-
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verlauf in sich tragen. Die religiösen Volksmassen können unter den Bedingungen des Aufschwungs der progressiven Kräfte, der Lebenskraft und Fruchtbarkeit der zeitgenössischen revolutionären Ideologie, aufgrund der Erkenntnis ihrer Interessen und Bedürfnisse sowie ihrer Lektüre des Erbes in deren Licht, den progressiven politischen Kampf aufnehmen, in erster Linie gestützt auf einige Elemente und Motive ihres traditionellen Denkens, ihres Glaubens sowie der ideologischen und kämpferischen Kraft dieser Elemente. Auf dem großen Feld des politischen Kampfs sollten wir keine ganz bestimmte Form der Beziehung zwischen dem traditionellen und dem heutigen fortschrittlichen Denken bei jedem Einzelnen erwarten. Allerdings lässt sich das allgemeine Ergebnis, zu dem wir gekommen sind und das uns völlig richtig erscheint, darin zusammenfassen, dass die Religiosität der Massen in sich selbst kein Hindernis für ihre progressive politische Tätigkeit ist, ja dass sie sogar ein wichtiger treibender Faktor für ihre revolutionäre Kampfbereitschaft sein kann. Es ist sehr wahrscheinlich, dass der andauernde revolutionäre politische Kampf am Ende eine geistige Situation schafft, die den Gläubigen dazu bringt, den Inhalt seines religiösen Bewusstseins zu überdenken, seiner Religiosität eine neue Bedeutung zu geben oder den Glauben sogar ganz aufzugeben. Vielleicht kann man sagen, dass die Befreiung von der religiösen Ausplünderung eine Folge oder ein Erfolg der revolutionären politischen Praxis ist und dass sie durch die Herbeiführung einer sozialen Situation des Menschen realisiert wird, die der Verbreitung der Religiosität nicht dienlich ist. Allerdings hat der revolutionäre Kampf manchmal auch bei einigen Individuen zur Vertiefung des religiösen Glaubens geführt. Aber wie dem auch sei, der Wert des politischen Kampfs beruht nicht auf einem möglichen aufklärerischen oder atheistischen Ergebnis, sondern auf den realen politischen Resultaten, die dieser Kampf herbeiführt. Das Vertrauen in die revolutionären Kampfkräfte der religiösen Massen ist der Gedanke, von dem wir nach Möglichkeit zeigen wollten, dass er eine feste theoretische Grundlage hat. Aber das darf uns nicht die Gefahr der religiösen Reaktion vergessen lassen, die wir hier nicht erforscht haben. Es ist klar, dass dieses Ergebnis sich nicht mit den Auffassungen derjenigen deckt, die der Meinung sind, dass der Weg der Araber zum Zerbrechen der Herrschaft des Imperialismus und zur selbsttätigen, schöpferischen, unabhängigen Entwicklung, der Weg der Freiheit und des Fortschritts, über die Säkularisierung und nur die Säkularisierung führt. Wir müssen mit einiger Präzision die wirklichen Punkte der Meinungsverschiedenheit benennen. Die vorangegangene Analyse betrachtet die Säkularisierung nicht als Gefahr oder als etwas, was man besser vermeidet, um die Unterstützung der gläubigen Massen zu gewinnen und sie in den progressiven politischen Kampf einzubeziehen, sondern sie meint ganz im Gegenteil, dass die Säkularisierung eine günstige Voraussetzung für den Prozess des allgemeinen,
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progressiven politischen Kampfs ist. Das Streben nach der Einbeziehung der gläubigen Massen in den politischen Kampf, der mit ihren tiefen Interessen im Einklang ist, bedeutet nicht, auf all ihre Wünsche und Illusionen einzugehen und ihre Schwachpunkte zu beschönigen. Aber die Aufgabe der Säkularisierung muss sich über die Lösung der Aufgaben der demokratischen, progressiven, einheitsbestrebten arabischen Befreiungsrevolution vollziehen. Diese Analyse besteht darauf, dass die Säkularisierung vor allen Dingen die Frucht einer politischen Praxis und eines fortdauernden politischen Kampfs sein muss, und sie ist nicht einverstanden, wenn man sie zu einem aufklärerischen Prozess an der Stelle dieses Kampfs macht, der die Befreiung von der Religion oder die Trennung der Religion von Staat und Politik zu einer vorgängigen Bedingung für jede politische Arbeit macht. Nach dieser Auffassung muss man also die Befreiung der Massen von ihren religiösen und abergläubischen Illusionen fordern, bevor man sie auf das Feld des allgemeinen politischen Lebens loslässt oder sie dazu bringt, sich auf die Gestaltung ihres Lebens und ihres Schicksals einzulassen, mit anderen Worten, man muss die Aufklärung an die Stelle der Politisierung setzen. Diese Haltung hat schwerwiegende Folgen. Dass wir darauf bestehen, der Politisierung den Vorrang vor der Aufklärung zu geben, bei aller Bedeutung dieser letzteren, ergibt sich aus einer grundlegenden Tatsache, nämlich dem Umstand, dass die Ziele der arabischen Befreiungsbewegung heute die Beendigung der Abhängigkeit, Rückständigkeit und Spaltung und die Gründung des Staats der populären, demokratischen und vereinigten Autorität sind und nicht die Säkularisierung. Die Frage dreht sich um die Bestimmung der Rolle der Säkularisierung bei der Erreichung dieser Ziele. Man darf hier nicht die Forderung nach der kulturellen Hegemonie der Linken über die Rechte schon vor der politischen Machtergreifung der Linken und die Forderung nach der Säkularisierung durcheinanderbringen, denn die Säkularisierung garantiert nicht als solche einen linken Inhalt, wie auch der kulturelle Sieg der Linken nicht notwendig heißt, dass sie einen Krieg gegen den religiösen Glauben beginnt. Wir glauben auch, dass die Verwirklichung der Ziele der arabischen Befreiungsbewegung es teilweise nötig macht, sich von der Haltung der extremistischen Säkularisten abzugrenzen, und dies aus einem sehr einfachen Grund, nämlich dem, dass die Erreichung der radikalen Ziele der zeitgenössischen arabischen Befreiungsbewegung unmöglich ist ohne die Beteiligung der religiösen, nicht für die Säkularisierung eingenommen Massen am politischen Kampf, das heißt ohne die Beiseitelassung der Forderung der Säkularisierung, sei es auch nur vorübergehend und in gewissen Grenzen.Vor jeder eingehenderen Analyse können wir sagen, dass sich das Problem um die Stärkung der Linken auf allen Ebenen dreht und nicht um die Säkularisierung, die völlig rechts sein kann. Eine Parole, die ihren Ort im heutigen Kampf zwischen der
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Rechten und der Linken nicht genau definiert, ist unter den heutigen Bedingungen fragwürdig. Die genannten Urteile haben allerdings allgemeinen strategischen Charakter und können nicht auf die besondere konkrete Frage antworten, die sich beispielsweise auf die tragische, komplizierte Situation des Libanon bezieht. Ich meine die Frage: Ist die Säkularisierung die einzige mögliche Lösung zu seiner Rettung und zur Herstellung des Friedens auf seinem Territorium oder nicht? Es ändert auch nichts an der Bedeutung dieser Urteile, wenn man sagt, dass das Anschwellen der Religiosität tatsächlich zur verstärkten Rolle der reaktionären Kräfte, zu politischer Heuchelei und zu blutigen Praktiken geführt hat, welche die Kräfte des Volks zerrissen haben. Denn das hängt davon ab, was die Ideologie des Islam unter den Bedingungen einer kräftigen Erhebung des Volks oder bei der aktiven und bewussten Tätigkeit der revolutionären Kräfte im Milieu der Volksmassen mit traditionellem Denken präsentieren kann, und es hängt nicht von reinen religiösen Veränderungen unter den Bedingungen der Hegemonie der rückständigen religiösen Ideologie und ihrer konfessionellen und schulmäßigen Derivate ab. Auf diesem allgemeinen, strategischen, theoretischen Niveau kann die Stellung des Problems der Säkularisierung als richtig oder falsch angesehen werden. Und wenn es sich so verhält, dann ist das Problem der Säkularisierung ein sekundäres, abgeleitetes Problem, das seinen Stellenwert aus der Behandlung anderer, wichtigerer Probleme bezieht. Die Stellung des Säkularisierungsproblems kann richtig sein, wenn man es dabei in den Rahmen der Gesamtheit der Ziele der progressiven arabischen Befreiungsbewegung und der verstärkten Rolle der Linken in der Selbstbestimmung und Zukunft der Araber stellt, also wenn die Verhältnisse in der Befreiungsbewegung so weit gereift sind, dass in ihnen die Trennung der Religion vom Staat und die Beschränkung des Glaubens auf den individuellen privaten Bereich zu einer Notwendigkeit der Erfüllung der historischen Aufgaben wird. Sie wird aber falsch, wenn sie als magische Lösung erscheint, welche die Araber durch die bloße Verkündung des „säkularistischen Umschwungs“ in das Zeitalter der fortgeschrittenen Welt bringt, und dies ganz losgelöst von den ererbten kulturellen Bedingungen der arabischen Massen und ihrer komplizierten Erfahrung mit dem Erbe, dem traditionellen Denken und der islamischen Ideologie sowie vom Grad der Bewältigung der historischen Aufgaben der arabischen Befreiungsbewegung und der Rolle der Massen in ihr. Die Quintessenz des Denkens der Säkularisten ist es, die Aufgabe der Verbreitung der modernen Wissenschaft zwecks Beseitigung des Unwissens und des Aberglaubens an die Stelle des langdauernden politischen Kampfs der Massen zu setzen, der letztlich allein die Verbreitung des Wissens auf breiter Front definitiv ermöglichen kann.
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Ich kann nicht sagen, dass die Säkularisierung in der Türkei ein falscher Schritt war. Ich will vielmehr hervorheben, dass die Situation der Türkei oder ihr heutiges Entwicklungsniveau von einer Reihe von Faktoren bestimmt wird, von denen die Säkularisierung einer der weniger wichtigen ist. Die meisten aufklärerischen Säkularisten irren, wenn sie es in der Folge ihrer oberflächlich-mechanistischen Anschauungsweise für leicht halten, die komplizierten Probleme der Beziehung der heutigen Araber zu ihrem Erbe zu verstehen, und es gleichfalls für leicht halten, sie im Griff zu behalten, und wenn sie glauben, dass man mit halb vorgefertigten Beschreibungen einiger Kenntnisse auf dem Gebiet der Naturwissenschaften oder einigen abstrakten aufklärerischen Ankündigungen die Leute von Unwissenheit und Illusion befreien und die Herrschaft der religiösen Ideologie mit einem Schlag beenden kann. Damit verkürzen sie den komplizierten Prozess des sozialen Wandels auf einen gedanklichen Wandel, der sich als Sieg positiver wissenschaftlicher Kenntnisse darstellt. Sie vergessen, dass der wissenschaftlich-technische Fortschritt selbst eine Welt von Illusionen, Legenden, Götzen und zeitgenössischen Irrtümern hervorgebracht hat, der die oberflächliche Aufklärung in Verehrung und Unterwerfung oder in Furcht und Widersetzlichkeit gegenübersteht. Die aufklärerische Propaganda lässt nur das Unvermögen erkennen, die Dialektik von Erbe und Fortschritt zu erfassen, und die hinter müßigem und lächerlichem Hochmut verborgene Unfähigkeit, mit den Kräften, die das geschichtliche Fortschreiten in Gang halten, ernsthaft zusammenzuarbeiten. Noch schwerwiegender als alles das ist der Glaube der aufklärerischen Propagandisten, die Verbreitung einiger auf der Physik und der Biologie beruhenden Kenntnisse sei eher in der Lage, das ideologische Leben der Gesellschaft zu beeinflussen, als der Kampf der Interessen und die beharrliche politische Massenaktivität, wichtiger als die soziale, politische und geistige Erfahrung der Volksmassen und als ihre Aktivierung und ihre klare Beteiligung am sozialen und politischen Leben, so dass sie in die Lage versetzt werden, mit ihrem traditionellen religiösen Bewusstsein zurechtzukommen und es zu überprüfen und zu erneuern. Der schwache Punkt in der extremistisch-säkularistischen Strömung ist nicht die Unterstützung des politischen Massenkampfs durch die Gedanken der Aufklärung – das ist natürlich etwas Positives –, sondern die Ersetzung des Kampfs und der Massen durch die Magie der Aufklärung. Diese Präsentation des Säkularismus ist falsch, denn sie leugnet die Bedeutung des politischen Kampfs der religiösen Massen und bricht in aristokratischer, wohlfeiler und ohnmächtiger Kühle, die keine Moral kennt, mit den Sehnsüchten und wirklichen Bestrebungen der Volksmassen und mit dem, was sie inspiriert, darunter ihrem Erbe, von dem sie stark geprägt sind. Nichts ist für diese abstrakte, aus ihrem historischen Kontext losgelöste säkularistische Präsentation leichter als das Überspringen der gegenwärtigen Auf-
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gaben der Befreiung, die Ignorierung des Vaterlands und des Volks und das bereitwillige Hören auf die Säkularisten von Übersee und die Übereinstimmung mit ihrer Ansicht, dass die tiefste Spaltung in der heutigen Welt die zwischen der jetzigen, aufgeklärten, sehr fortschrittlichen Gesellschaft und der Welt der unwissenden, dummen Völker, in deren Köpfen Wahnvorstellungen, Schwindeleien und Aberglaube hausen. Dann wird jeder geschickte, elegante Militärschlag, den die Säkularisten von Übersee gegen ein rückständiges und im Denken primitives Volk führen, zu einem zivilisatorischen Akt, der nach Bewunderung und nach gemeinsamem Stolz auf die Größe des gebildeten wissenschaftlichen Intellekts ruft. Diese szientistische Sicht führt objektiv zur Verherrlichung des Imperialismus, wie sehr sie sich auch hinter dem Anspruch verstecken mag, man trete ihm mit fortschrittlicher, aufgeklärter Wissenschaft entgegen. Es ist überhaupt nicht schwer, sich hier klarzumachen, dass die aufklärerische, atheistische Ideologie ebenso wie die religiöse Ideologie unter bestimmten historischen Umständen ein unterstützender oder behindernder Faktor der politischen Befreiung und des sozialen Fortschritts sein kann. In rückständigen Ländern wie den arabischen tritt die Gefahr sowohl der religiösen Reaktion wie auch ihres Gegenparts, der atheistischen Aufklärung, stark hervor. Die Bekämpfung der religiösen Reaktion wurde zu einer Aufgabe der arabischen Revolutionsbewegung, aber es ist äußerst wichtig, dass sie sich auch an die Widerlegung der anmaßenden atheistischen Erzählung macht, die von nacktem bürgerlichen Elitebewusstsein, Verachtung des Volks, seiner Fähigkeiten und seines geistigen Lebens sowie von der Ignorierung seiner kollektiven Identität zeugt. Man darf natürlich nicht die Waffe der Kritik und die aufklärerische und erzieherische Tätigkeit geringschätzen, die das kulturelle Lebensniveau des Volks fördern und es von den Übeln der geistigen Knechtschaft befreien kann. Aber das ist es nicht, was die szientistisch-aufklärerische Tendenz mit ihrem Ruf nach der Säkularisierung bezweckt. Sie will nicht das Volk ansprechen. Vielmehr fürchtet sie sich vor seiner Bewegung, seinem revolutionären Aufschwung und seiner enormen Fähigkeit zu geben. Das Volk schöpft aus seiner Kultur, seinem Erbe und seinen Erfahrungen eine inspirierende Kraft, eine Weisheit und eine Entschlossenheit, die es den Himmel erstürmen und Wunder vollbringen lassen. Die Wärme der menschlichen Solidarität, der große Kampfgeist, die Hingabe, die Selbstverleugnung, die freigebig eingesetzten schöpferischen Kräfte und der heilige, brennende revolutionäre Eifer, der die religiös-mystische Liebe entfacht – alles das und noch mehr hat das Volk in Zeiten entscheidender historischer Umschwünge. Genau das ist es, was die aufklärerisch-szientistische Tendenz nicht versteht. An seine Stelle setzt sie den langsamen, kühlen Erziehungsprozess, der unter der Kontrolle der gebildeten Elite bleiben soll. Darum kann sie uns auch nicht erklären, warum in der fortgeschrittenen kapitalistischen Welt die wahren
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Kräfte des Fortschritts, des Sozialismus und der Demokratie, welche die Souveränität des Volks anerkennen, so schwach sind, obwohl doch in ihr aufklärerische und wissenschaftliche Prozesse sowie liberale Freiheiten so reichlich vorhanden sind. Das Problem ist in Wahrheit nicht das der Verteidigung der Religion oder der Religionsfeindschaft, sondern die Frage, ob einige Formen der Religion oder einige Aspekte des traditionellen Denkens in einer bestimmten Lesart oder Interpretation immer noch in der Lage sind, an der Erneuerung des Lebens und dem Prozess des Fortschritts in der arabischen Welt teilzunehmen. Die Bedeutung dieses Problems liegt einfach darin, dass der größere Teil der Volksmassen noch für eine lange Zeit auf traditionelle Weise denken wird und sich nicht am politischen Kampf zur Verwirklichung seiner menschlichen Interessen beteiligen wird, solange er nicht in seinem traditionellen Denken Beweggründe dafür findet. Der Unterschied in den historischen Bedingungen lässt die vollständige Säkularisierung (Trennung der Religion vom Staat) im christlichen Westen eher möglich werden als in der Welt des Islam. Man kann sagen, dass das islamische Gedankengebäude, das sich in einem besonderen historischen Werdegang herausbildete, die radikale religiöse Erneuerung unter den Bedingungen der heutigen sozialen Lage der Araber äußerst schwierig macht. Tatsächlich ist die Erneuerung, welche die Männer der Religion oder die gläubigen Denker unternehmen, nicht Ergebnis einer inneren Lebenskraft in der religiösen Entwicklung, sondern im tieferen Grund die Frucht nichtreligiöser Faktoren und Veränderlichkeiten. Von besonderer Bedeutung sind hier die Überbleibsel der vorkapitalistischen Verhältnisse, die Schwäche der industriellen und wissenschaftlichen Entwicklung, die Besonderheiten der zentralen Autorität, die Rückständigkeit, die ökonomische, technische und kulturelle Abhängigkeit, die Stärke der traditionellen Bindungen sowie die schwache Entwicklung der Institutionen der Zivilgesellschaft. Gleichzeitig spielen die Kräfte der neuen Gesellschaft dabei eine Rolle, die nach Veränderung und sozialer und zivilisatorischer Erneuerung streben. Auf der Ebene des geistigen und kulturellen Lebens ist die Herausbildung einer umfassenden und kritischen wissenschaftlich-historischen Sicht des Erbes sehr wichtig. Aber auf der politischen Ebene liegt die Priorität auf der Herstellung einer Verbindung mit dem Erbe, die jener umfassenden, kritischen, wissenschaftlich-historischen Sicht eine solche Lesart des Erbes hinzufügt, die einige seiner Elemente in eine Kraftquelle und einen treibenden Faktor für die heutigen Araber bei der Eroberung der Souveränität über ihre Lebensumstände und ihrer Hebung auf ein höheres Niveau verwandelt. Der Inhalt des religiösen Erneuerungsprozesses erhält hier einen für die Gegenwart entscheidenden Sinn. Der Prozess der religiösen Reform am Ende des 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts hatte mehr Glück und Erfolg als die heutigen religiösen Er-
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neuerungsbewegungen progressiver Richtung. Der Grund dafür ist, dass der heutige revolutionäre Prozess sich nicht auf den Rahmen der bürgerlichen Verhältnisse beschränkt, sondern einen sozialen Inhalt einschließt, der darüber hinausgeht. In einem solchen Prozess kann die Bewegung der religiösen Erneuerung nicht die Führung übernehmen. Es scheint, dass die Prozesse der radikalen religiösen Erneuerung, die ja die Bewegung des historischen Fortschritts begleiten, nahe daran sind, ihre Möglichkeiten zu erschöpfen, es sei denn, es fände eine so enorme und komplizierte Kraftanstrengung statt, dass sie bis heute fast unmöglich erscheint, mit der die religiöse Erneuerung auf ein fortgeschrittenes Niveau gehoben wird, tiefschürfender als das religiöse Bewusstsein (im präzisen Wortsinn) selbst, ein Niveau, auf dem Transzendenz und Immanenz, Gott und der Mensch im Gleichgewicht sind und die Methode des metaphysischen Bewusstseins, die sich auf die Akzeptierung der Dualität und der Vermittlung gründet, ihre äußerste Schwäche erreicht hat. Zweifellos gibt es Versuche in dieser Richtung in einigen humanistischen oder revolutionären religiösen Milieus. Allerdings ist das kompliziert. Das liegt erstens daran, dass die Bewegung und Aktivität in den gläubigen Schichten selbst stattfinden muss, zweitens daran, dass die Führung dieses Prozesses, jedenfalls was die Theorie angeht, in den Händen nichtreligiöser sozialer Kräfte liegen muss, die sich aber drittens nicht sinnvollerweise als nichtreligiöse Kräfte darstellen können. Alles das macht diese Aufgabe äußerst schwierig. Die Öffnung des historischen Horizonts auf den allmählichen Übergang zu einer Situation, in der die Kräfte der Linken eine führende Rolle übernehmen, ist sehr wichtig, erfordert aber auch die Teilnahme der gläubigen Massen am politischen Kampf. Niemand findet sich damit ab, auf ungesicherte Resultate der elitären Aufklärung zu warten. Allerdings zeigt dieser historische Horizont selbst immer mehr kulturelle, politische und soziale Charakteristika, die keine starke Religiosität nahelegen. Es bleibt wichtig, sich daran zu erinnern, dass die religiöse Situation stärker mit der politischen Praxis zusammenhängt als mit der aufklärerischen Predigt. Darum glauben wir, dass es wichtig ist, die Bedeutung der bewussten, objektiven, wissenschaftlichen und gleichzeitig ideologisch-revolutionären Lesart aufzudecken, und zwar beim Finden des richtigen Gleichgewichts von politischem Kampf und Glauben. Das bedeutet natürlich nicht die Predigt einer progressiven Auslegung der Religion und auch nicht den Aufruf zu einer neuen religiösen Reform. So etwas ist nicht Sache der objektiven Forscher oder der progressiven Kräfte. Das Gesagte dient nur der Versicherung, dass die Religiosität derjenigen, die ein wirkliches Interesse an der progressiven sozialen Veränderung haben, sie nicht daran hindert, an ihrer Realisierung teilzunehmen. Tatsache ist, dass es normalerweise jemanden gibt, der in Momenten des revolutionären Aufschwungs aus den Reihen der Gläubigen hervortritt, aus den Ele-
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menten seines Glaubens ein Werkzeug für seinen Kampf und den von seinesgleichen und seinen Glaubensgenossen formt und sich auf den Prozess einer allgemeinen religiösen und kulturellen Erneuerung einlässt. In den schiitischen und sunnitischen religiösen Kreisen im Libanon begannen Versuche dieser Art zur Bekämpfung der gefährlichen Woge des Konfessionalismus aufzutauchen. Eine Reihe von objektiven Faktoren wirkt auf diese Erscheinung ein. Es ist schwierig, sie genau zu erkennen, aber in der politischen Realität tun sie ihre manchmal unerwartete Wirkung. Religiöse Erneuerung und Reform dürfen nicht unmittelbar Teil der Aktivität der revolutionären Kräfte werden, diese sich nicht an die Erneuerung der Religion machen. Man muss immer betonen, dass der Aufruf zum progressiven politischen Kampf unter dem Banner des Islam und des Glaubens die Sache der Gläubigen selbst bleiben muss, und ebenso der Aufruf zur religiösen Erneuerung. Aber auf der anderen Seite muss man jedem Bürger das Recht sichern, seinen Standpunkt zum Glauben und zur Überzeugung frei zu äußern. Es gibt keinen Zwang in der Religion⁸⁹ – im modernen Sinn des Wortes. Die vorhergehenden Bemerkungen sind eine von außen erfolgte Betrachtung der politischen Potenzen des heutigen Islam; sie wollen den Mechanismus der gegenseitigen Einwirkung der Erscheinungen der progressiven politischen Bewegung und der Entwicklungen der religiösen Situation festhalten. Sie sind kein Aufruf an die Gläubigen oder eine betrügerische Art der Arbeit unter ihnen, sondern in erster Linie ein Versuch, die nationalistischen und progressiven Kräfte anzusprechen, seien sie nun religiös oder nicht, und eine Kritik der Formen, in denen die historische Beziehung zwischen den nationalistischen und progressiven Kräften aufgetreten ist. Mittelbar werden alle diese Kräfte für die Fehler der Vergangenheit verantwortlich gemacht. Ich habe versucht, eine in meinen Augen richtige und förderliche allgemeine Vorstellung davon zu geben, wie man die Beziehung zwischen den nationalistischen und progressiven Kräften der Linken einerseits und den Massen der Gläubigen andererseits, zwischen der heutigen revolutionären Ideologie und den gläubigen Schichten, die ein Interesse an progressiven Veränderungen haben, herstellen kann. Weiter wollte ich damit ein Licht auf den ganzen revolutionären Prozess und seine Besonderheiten unter Bedingungen werfen, unter denen das traditionelle religiöse Denken eine beträchtliche Rolle spielt. Die Notwendigkeit, ein richtiges, kritisches, historisches Bewusstsein des Erbes zu entwickeln, rührt daher, dass wir die Gefahr der elitären Aufklärung, die mit dem Erbe bricht, und gleichzeitig die Gefahr des religiösen Obskurantismus, der mit dem menschlichen und irdischen Fortschritt bricht, erkennen und dass wir weiter begreifen, wie wichtig es ist, dass sich das revolu-
Dies ist eine Anspielung auf Koran 2, 256: „In der Religion gibt es keinen Zwang“ (A. d. Ü.).
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tionäre Bewusstsein in einer breiten, massenhaften und populären Kraft materialisiert, ohne die die Revolution gefährdet ist wie ein Blatt im Sturm.
Anhang Thesen zur Dissertation: Der frühe Islam und seine geisteskulturelle Vorgeschichte 1. Die Steigerung des religiösen Empfindens war der ideologische Ausdruck des Auflösungsprozesses, in dem sich die antike Sklavenhaltergesellschaft befand. Das Verhältnis des Denkens zur Außenwelt wurde weitgehend durch die Beziehung der Einzelseele zum Übernatürlichen, durch die Gottesschau, ersetzt. Das gemeinsame Schicksal der unter der Weltmacht unterdrückten Klassen und Völker begünstigte die weitere Mystifizierung des menschlichen Denkens. Das Christentum war die allgemeine Ideologie der hoffnungslosen Volksmassen und Sklaven. Es drückte phantastisch die Gleichheit der Menschen in Besitzlosigkeit und Ohnmacht aus. Die verschiedenen religiösen Strömungen in der Spätantike und im Mittelalter unterscheiden sich dadurch, wie die mystische Gottesschau vollendet und die Beziehung Gott und Mensch festgelegt wurde. Im Christentum wurde das mystische Moment durch die Veranschaulichung des Glaubensinhalts (Inkarnation, göttliche Sühneopfer, Kreuzigung, konkrete geschichtliche Bestimmtheit) vollendet. Die Kirchenväter versuchten, Kirche und Christentum gleichzusetzen. Das fleischgewordene Wort, die Kreuzigung und die kirchliche Vermittlung, sind untrennbare Elemente der Heilswahrheit, die ausschließlich zum klerikalen Mysterium wurde. Die Gnosis als Ausdruck der Unzufriedenheit der hellenisierten Handelsschichten im Orient verstand das mystische Moment als Beziehung zum transzendenten geistigen Urwesen. Statt der Personifizierung ging eine Vergeistigung des Glaubensinhaltes vor sich. Gottessohnschaft und Kreuzigung wurden allegorisch ausgelegt und damit fast beseitigt. Das Wissen allein war hier selig, heilsam. Die priesterliche Vermittlung erwies sich als überflüssig. Man fasste das Verhältnis Glauben-Wissen formal auf. Die Beziehung des Denkens zur Außenwelt drang allmählich in die Gnosis ein. Die Gottheit ist nicht nur rein Geist, sondern eine Erscheinungsform des Urwesens, dessen andere Erscheinungsform der Makrokosmos, der universale Mensch (Anthroposadamas) ist. Die Erlösung ist ebenfalls ein kosmischer Prozess. Sie galt als Wiederherstellung des Kosmischen, an dem der Mensch Anteil hat. Die Aktivität des Menschen erhielt dadurch eine weltanschauliche Bedeutung. Die Aufhebung der gnädigen Tätigkeit des gekreuzigten Gottessohnes bot innerhalb des Christentums die geistige Grundlage für den Kampf gegen die Staatskirche und die von ihr ausgearbeitete und sanktionierte Dogmatik (Trinitätslehre, Kreationismus, Erbsünde). https://doi.org/10.1515/9783110701616-013
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Im Iran vermochte die Gnosis durch die rationale heterodoxe Verarbeitung des Lichtmythos die sozialpolitische Widerstandsfähigkeit, die Wissenschaft und die Naturbetrachtung zu fördern. Die soziale Basis der geistigen Vielfalt (Manichäismus, Zervanismus, Masdakismus) war die bedeutende Rolle der Kaufmannschaft und ihre Verbundenheit mit der mächtigen Volksbewegung. Die mystische Weltanschauung mündete im extremen Akzent in den Naturalismus und Atheismus. Die christliche Ketzerei im Orient (Arianismus, Nestorianismus und Monophysitismus) war Ausdruck der ökonomisch-politischen Opposition gegen Ostrom und die byzantinische Staatskirche. Sie griff das irrationalste Moment der offiziellen Theologie, die kirchliche Auslegung des Trinitätsdogmas, der Kreuzigung an, die die Heilswahrheit auf die Kirche beschränkt und die Apologetik gewährleistet. Sie fand damit in der Gnosis eine geistige Waffe. Diese Ketzerei bedeutete eine Abschwächung der persönlichen Züge der Gottessohnschaft, der Aufhebung der Vereinigung des Göttlichen und Menschlichen in der Kreuzigung, d. h. eine Abwandlung der in der Trinitätslehre ökumenisch festgelegten Verhältnisse zwischen den drei Hypostasen, wodurch sich die Heilswahrheit von der Kreuzigung trennte, die Kirche ihres göttlichen Herrschaftsauftrages beraubt wurde und eine aktivierende rationale Haltung Platz schaffen konnte. Die iranischen und christlichen Ketzereien fanden am Vorabend des Islam in Mekka Widerhall. 2. Die gesellschaftliche Entwicklung in Arabien war durch das Nebeneinanderbestehen der Sesshaftigkeit und des Nomadentums und durch das steigende Wirken des internationalen Zwischenhandels gekennzeichnet. Das Nomadendasein schwankte zwischen Hirten- und Oasenwirtschaft. Die urgesellschaftlichen Gentilbande blieben außerordentlich fest. Das kollektive Stammesbewusstsein erwies sich deshalb als zählebig. Außerhalb des Stammes galt der Mensch als ein Nichts. Das zur Tradition und Lebensnorm gewordene praktische sinnliche Bewusstsein wurde im Adab niedergelegt, dessen Bewahrer die altarabische Poesie ist. Die genealogische Abstammung als gedachtes Stammeswesen stellte das Hauptmoment im Stammesbewusstsein dar, das einen emotional-anschaulichen, inaktiven Charakter aufweist. Die Zählebigkeit der Gentilverfassung hinderte zugleich die Entfaltung individueller Religiosität und die Heraushebung des individuellen Bewusstseins über die Stammeswelt. Das Denken war noch der poetisch-sinnlichen Erkenntnisstufe verhaftet. Seit dem 5. Jh. u.Z. vollzog sich bei den Halbnomaden ein Feudalisierungsprozess. Die Überschüsse waren aber unbeständig und der Geschichtsprozess ging langsam vor sich. Durch die Handelstätigkeit jedoch erlebten die Produktivkräfte im 6. und 7. Jh. einen Aufschwung. Viele Teile bzw. Stämme Arabiens verbanden sich dem Karawanenwesen. Das Stadtleben blühte. Mekka wurde zum Hauptzentrum für den Binnenhandel und den allgemeinen Umschlag mit dem
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Ausland. Hier in den Städten ging die Auflösung der urgesellschaftlichen Gentilordnung schneller vor sich. Die Klassengesellschaft begann sich herauszubilden. Ansätze der patriarchalischen Sklaverei traten zutage. Die Stammesaristokratie erweiterte ihr Privateigentum an Grund und Boden, an Vieh und Sklaven und vor allem an Handelsprofit. Mekka entwickelte sich zu einem handeltreibenden Sklavenhalterstadtstaat. Die Warenproduktion und die Geldwirtschaft schufen sich großen Raum. Die anderen Teile Arabiens waren den großen Mächten unterworfen. Als der Unsicherheit des menschlichen Daseins die sozialen Gegensätze innerhalb des Stammes zugrunde lagen, verfiel das Stammesbewusstsein. Ein Keim individuellen moralischen Bewusstseins entstand. Man richtete sich gegen den Missbrauch des kollektiven Geistes. Pessimistische Ansichten bildeten sich heraus. Neues Wissen wurde nun gesucht, und zwar außerhalb der Stammestradition. Von Naturbetrachtung kann noch nicht die Rede sein. Die poetisch- und schiedsrichterlichen Tätigkeiten erhielten eine besondere Bedeutung. Die geistige Entwicklung drückte sich im Fortschreiten von der Stammes- zur Weisheitspoesie und folgend zur durchdachten Prosa ethischen Gehalts aus. Die kontemplative Betrachtungsweise ging mit einer moralischen Lösung der sozialen Widersprüche einher und stellte eine Vorstufe der religiösen Anschauungsweise (Gottesschau) dar. 3. Nach der Verlagerung der Handelsstraße vom Roten Meer zum Persischen Golf geriet der Karawanenhandel in Stagnation. Die mekkanische Aristokratie musste ihre Handelsgeschäfte einschränken und sich Wuchergeschäften zuwenden. Das Schicksal der arabischen Stämme wurde der ökonomischen Macht Mekkas unterworfen. Die Schuldknechtschaft erobert sich einen großen Platz. Eine allgemeine Krise griff im 7. Jh. sehr rasch um sich. Die Gesellschaft spaltete sich in zwei entgegengesetzte Klassen: die Großhändler und Wucherer einerseits und andererseits die verarmte Masse sowie die Sklaven. Die freie Mittelschicht in Mekka vermochte einen immer organisierteren Klassenkampf zu führen, der sich später in eine starke Tendenz zur Expansion verwandelte. Der geistige Horizont der Kaufmannschaft ging weit über Arabien hinaus. Die Araber „entdeckten“ am Vorabend des Islam das bereits im Orient errungene Wissen. Zwischen ihrem niedrigen Erkenntnisniveau und dem weit höheren Erkenntnisbedürfnis bestand ein treibender Widerspruch. Das verlangte das Aufnehmen des Ausländischen. Das Wissen wurde somit mit dem Hörübertragen eng verbunden. Unter der mekkanischen Aristokratie hatten sich durch die Verarbeitung und Umprägung der Schicksalvorstellung naturalistische und atheistische Ansichten verbreitet. In die Unterdrückten drang das religiöse Empfinden ein. Das religiöse Bewusstsein erhob sich von der niedrigen Stufe der Vielgötterei (Götzendienst), die mit dem primitiven Verdinglichen des Übernatürlichen und
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der magischen Beeinflussung zusammenhing, zum Monotheismus. Allah, eine lokale Gottheit im Pantheon Mekkas, entwickelte sich zum unsichtbaren Menschund Weltschöpfer, zum Herren der Unterdrückten, die interessiert waren, in eine früher wenig verehrte Gottheit ihre Hoffnung zu setzen. Das Verlangen nach Gleichheit fand im Weiterleben nach dem Tod seinen verzerrten Ausdruck. Das zu Allah gewordene Schicksal trat als himmlische Kraft auf, die absolute Alleinherrschaft beanspruchte. Daraus erwuchs die arabische Prophezeiung, die an die religiöse Evolution im Orient anknüpfte und sich mit der Hervorhebung des nationalen Moments abfand. 4. Der Islam war anfangs ein religiöser Ausdruck des sozialen Protestes. Die Machtlosigkeit des Menschen gegenüber den sozialen Verhältnissen setzte sich in eine gesteigerte Hoffnung auf eine irreale jenseitige Befreiung um. Dies äußerte sich im tiefen Verspüren einer allmächtigen transzendenten Kraft, im Herannahen einer kosmischen Katastrophe, einer göttlichen Vergeltung (die Vernichtung der Welt) und in der Bitte um himmlische Gnade, die durch rechtzeitige Reue erfolgen sollte. Der mekkanische Kaufmann Mohammed sah sich als Wortführer Allahs und als Warner seines irrigen Volkes. Aber bald entwickelte sich die islamische Gemeinde zu einer sozialen, die politische Macht anstrebenden Kraft. Ein Wesensmerkmal des Urislam bestand darin, dass ein Prophet Staatsmann wurde und gesellschaftliche Umgestaltungen durchsetzte. Die politische Lösung vollendete den Ausbruch des religiös-mystischen Empfindens. Somit zogen sich die früher waltenden Vorstellungen zurück. Das Jenseits wurde aufgerufen, die Hinwendung zum diesseitigen verändernden Handeln zu fördern. Als der Islam zur ideologischen Begründung des einheitlichen feudalen Staates, der geschichtlich fortschrittliche Aspekte aufwies, wurde, traten die sozialen Bestrebungen der Unterdrückten in den Hintergrund. Die Politik der sozialen Aussöhnung und das nationale Selbstbewusstsein kamen auf, deren notwendige Folge die Tendenz zur Expansion war. Der Islam ging von einer nationalen zu einer Weltreligion über. Strenger Monotheismus, Brüderlichkeit und Abschaffung der Wucherprofite bildeten die unveränderlichen Grundsätze. Die koranischen Offenbarungen seien unverfälschte Auszüge aus dem Himmlischen Buch, der Uroffenbarung. Die Araber wurden zu Vorkämpfern der göttlichen Wahrheit. Die endgültige Festlegung des Glaubensinhaltes und des Kultus wurde nach der völligen Hinwendung zur politischen Tätigkeit erarbeitet. Staat und Religion bildeten eine Einheit. Der Islam ist im Wesen politisch geprägt. Dies bestimmte die innere Struktur der Lehre, das Verhältnis Gott-Mensch, Glauben-Wissen und Jenseits-Diesseits. 5. Die Geschichte des Korans beweist die gegenseitige Durchdringung zwischen Politik und Religion. Anfangs war Mohammed vom Übernatürlichen völlig besessen. Nach und nach kam ihm selbst die Verwirklichung koranischer Vorschriften und realer Forderungen zu. Die offenbarte Wahrheit musste den ver-
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änderten hinzugekommenen Lebensereignissen folgen, d. h. Aktualität erhalten und sich zugleich als unantastbares unveränderliches Gesetz bewahren. Die Lösung dieser Schwierigkeit führte paradoxe Umstände herbei: Das Prinzip „al Nas’ch“ (al-nasḫ), d. h. die Aufhebung einiger Koranverse wurde proklamiert. Man verwies auf die Tatsache, dass zweideutige unbestimmte Koranverse existieren. Die Entscheidungen Mohammeds als politischer Führer wurden neben den Offenbarungen auf gleiche Stufe gestellt und dabei unterstrich der Prophet, dass er sich irrt. Der Konsensus der Gemeinde wurde der göttlichen Rede gleichgesetzt. Mohammed versuchte, weitgehend der individuellen Religiosität seiner Anhänger Grenzen zu setzen und erklärte, dass die Meinungsverschiedenheit eine Gnade Gottes sei. Unter diesen geistigen Umständen konnte man die Wahrheit nicht nur auf göttlichen Ursprung zurückführen. Der Glaube musste sich auf die einfachsten allgemeinen Grundsätze beschränken. Rechtzeitig entstand die Suche nach dem tieferen Sinn der Offenbarung und stellte sich scharf im Urislam das Problem des Glauben-Wissen Verhältnisses. Der Glaube vermochte nicht, sich als sich bestätigende Wahrheit auszugeben. 6. Der Islam stellte eine Fortsetzung der orientalischen christlichen Ketzerei dar. Er griff wie sie auf das hellenistisch-gnostische Denken zurück: Die Ablehnung der Gottessohnschaft und der Kreuzigung, die Auffassung von der Uroffenbarung und das Hervorheben der Stellung Adams. Der Urislam ist aber nicht nur Weiterführung der orientalischen Ketzerei, sondern ihre reale politische Verwirklichung. Daher ist es auch berechtigt, den Gegensatz zu ihr zu betonen. Die Erlösung aus eigener geistiger Kraft gemäß der Gnosis verwandelte sich im Urislam in eine diesseitige handelnde Einstellung des Gläubigen in der Gemeinschaft, deren Lebensideal die Brüderlichkeit war. 7. Der erste phantastische Widerschein des Waltens der sozialen Verhältnisse war die Allmächtigkeit Gottes. Mit der politischen Vollendung und der Diesseitsorientierung verwandelte sich die Allmacht Allahs in eine juristische Totalität. Das Göttliche setzte sich in einen juristischen Zustand um. Diese juristische Entäußerung des Religiösen bildete ein Wesensmerkmal der islamischen Lehre. Der Islam ist das Gesetz des Lebens und verlangt den ganzen Menschen. Zwischen Glaube, Recht, Staat und Kultus wurde kein Unterschied gemacht. Das alles ist der Gesetzlichkeit unterworfen. Der Totalitätsanspruch stellte sich dem Menschen als Gottesergebenheit in allen Lebenslagen gegenüber. Es kommt aber darauf an, wie man den Gehorsamsakt auslegt. Die göttliche Wahrheit ist also im Wesen als Recht zu definieren und stellt einen Vertrag zwischen Gott und dem Menschen dar. Allah übereignet dem Menschen die Erde als Erbe gegen Ergebung an ihn. Das Glaubensbekenntnis reduziert sich auf eine kurze Formel „Es gibt keinen Gott außer Allah und Mohammed ist sein Gesandter“. Zwischen dieser Zeugnisaussage, dem inneren Glauben und dem Handeln (sowohl religiös als auch
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weltlich), wurde nicht unterschieden. Der innere Glaube erscheint nur als äußerliche Bestätigung als juristische Tat. Die Frömmigkeit besteht in der Verwirklichung des Gesetzes. Sie ist an sich leer, solange sie keinen weltlichen Inhalt hat. Hiermit wendet sich die Totalität der Profanität zu. Das Göttliche wurde verdiesseitigt, politisiert. Alle Menschen stehen dem Gesetz gleich gegenüber. Es gibt keine priesterliche Vermittlung zwischen Allah und der Gemeinde. Der Mensch richtete sich nicht auf die innere mystische Gottesschau, sondern auf die Erfüllung weltlicher Forderungen. Das Herankommen an die Gottheit vollzog sich also durch die Festsetzung der Stellung des Menschen in der Gemeinschaft. Die juristische Totalität schwächte die Gedanken des Heiligen, des Heilsamen und des Sakralen. Mit dem Aufschwung des Lebensprozesses (Handelstätigkeit) erlebt die juristische Spekulation einen bedeutenden Sprung. Das göttliche Recht setzte die Notwendigkeit eines nichtgöttlichen Prinzips voraus. Die Berechtigung der selbständigen Entscheidung nach freiem Ermessen war Ansatz eines Vermittlungsprozesses. Die göttliche Unfehlbarkeit und die Suche nach rationaler Erklärung stellten sich gegenüber. Daraus erwuchsen die Erleichterung des Gesetzes und das Hervorheben der ursprünglichen Zulässigkeit. Mit der Ausarbeitung des Prinzips des menschlichen Gutdünkens (al-istiḥsān) als Quelle der juristischen Tätigkeit wurde das Wissen um den Inhalt des realen Handelns und sein eigenes Nutzen die Grundlage juristischer Begründung. So entstand ein Gegensatz zwischen dem starken Verlangen nach rationaler Rechtfertigung der Handlungen und dem göttlichen Ursprung des Rechtes. Die Transzendenz der Gottheit mündete durch die juristische Entäußerung in einen formalen Gehorsamsakt, dessen Inhalt vom wirklichen Tun erfüllt wurde. Der transzendente Gott verwandelte sich in eine unbestimmte Wesenheit, in eine formale Gegebenheit, die sich vor allem auf das Gemeinwohl bezog. 8. Der Kultus war auch der juristischen Spekulation untergeordnet. Das Erfüllen der kultischen Pflichten, d. h. die Herstellung persönlicher Beziehung zu Gott, galt nicht als Maßstab der Frömmigkeit. Der Glaube allein kann den Kultus nicht erklären, so wurde die direkte Beziehung zwischen beiden aufgehoben und ein vermittelndes weltlich-rationales Moment hervorgerufen. Die kultische Andacht sucht ihren Zweck und Inhalt in rechtschaffenden realen Handlungen. Durch die Betonung der abstrakten Transzendenz, die Abschaffung aller Vermittlung zwischen Gott und Mensch, wurde die Wiederherstellung der religiösen Symbolik erschwert. Die unmittelbare Beziehung des Einzelmenschen zum Übernatürlichen wurde durch die allgemeine unpersönliche Manifestation des Göttlichen verhüllt. Dies bringt den grundlegenden Gegensatz in der urislamischen Lehre, die Gegenüberstellung zwischen der Beziehung der Seele zu Gott und der Hinwendung des Denkens zur Außenwelt, zum Ausdruck. Alle Kultfor-
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men (Gebet, Pilgerfahrt, Fasten…) stellen einen formalen Gehorsamsakt dar. Daraus ergibt sich die Trennung zwischen der Form des Kultes und dem mystischen Inhalt. Die formale Seite des Kultus drängt weiterhin hinter der gewonnenen weltlich-areligiösen Bedeutung zurück. Der Kultus als solcher erwies sich als untergeordnet. Man ist angehalten, die Rationalität im Kultus aufzuzeigen, wenn es auch kein rationales Element geben kann. 9. Der Glaube ist ebenfalls der juristischen Denkweise ausgesetzt. Er enthält in sich nicht seine Rechtfertigung. Der Urislam ist vor allem gekennzeichnet durch das, was er ablehnt und wie er es tut. In der Ablehnung des Trinitätsdogmas, der Kreuzigung und des polytheistischen Götzendienstes greift der Koran auf die Polemik zurück und setzt relativ die Bedeutung der Tradition herab. Die Glaubensprämissen benötigten dementsprechend eine rationale Aufhellung. Die Existenz des einzigen Gottes erforderte eine auf der Diesseitsorientierung beruhende Beweisführung. Gott existiert, weil die Welt gut ist, bewundernswürdige Ordnung aufweist und für das Menschenleben am besten geeignet ist. Die Menschen sind berufen, die Welt zu beherrschen und dabei ihren Verstand zu gebrauchen. Fromm zu sein bedeutet, sich die Welt ohne Missbrauch anzueignen. Der Glaube stellt sich einerseits als Ergebenheit gegenüber der göttlichen Allmacht dar und setzt sich andererseits in weltlich-juristische Spekulation um. Daher rührt sein formaler Charakter. Die inneren Verhältnisse des Glaubens sind an sich inhaltlos, d. h. von dem weltlichen Inhalt bestimmt, und so hat die innerliche Veränderung allein nicht die Erlösung zu sichern. Die Auffassung vom Menschenheil erweist sich als schwach. Der Glaubensakt identifiziert sich mit der dem Diesseits zugewandten Glaubenstugend bzw. dem Gutdünken. Der nach innen gerichtete naive Glaubenszustand steht als etwas Gehörtes, Dunkles unter dem Wissen. Die Bestätigung eines Glaubenssatzes ist also mit seiner weltlichen Rechtfertigung eng verbunden und wird als gedankliche Aussage in einen diskursiven Denkprozess eingebaut. Das Verhältnis Glauben-Wissen reduziert sich auf die Unterscheidung zwischen dem unsicheren Überlieferten und dem rational Geklärten. Ein einfacher Glaube bleibt im Islam im Rahmen des zu Vermutenden. Die Allegorie bildet einen wichtigen Bestandteil der islamischen Denkweise. 10. Die Anerkennung der Zeugnisaussage war die einzige feste Bindung der islamischen Gemeinde. Der Urislam bot sonst keine verpflichtende Entscheidung über den Glaubensinhalt. Es gab keinen Katechismus und keine verbindliche theologisch-priesterliche Autorität. Im Koran schien die Gottesvorstellung widersprüchlich zu sein (Transzendenz-Allgegenwärtigkeit, Prädestination-Willensfreiheit), jedoch wurde die Allmacht Gottes vorwiegend mit der strengen Eingötterei und der Unvermittlung gleichbedeutend. Allah hat zu den Menschen keine unmittelbare Beziehung. Er steht hinter dem Menschen auf einer sehr entfernten Höhe, währenddessen die Blicke des Menschen auf die Außenwelt und
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das weltliche Handeln gerichtet sein müssen. Das bringt zugleich den Formalismus des Gehorsamsaktes und die Diesseitsorientierung zum Ausdruck. Die persönlichen Züge Gottes bzw. die Beziehung des Einzelmenschen zu Gott ist durch Transzendenz, Gleichsetzung aller Menschen vor Gott in der Gemeinschaft, ebenbürtige Ergebung an die Gottheit zurückgedrängt. Der anthropomorphe Hang der Gottesattribute im Koran wurde weitgehend allegorisch aufgefasst. Diese Geisteshaltung entsprach den Bestrebungen der sozialen Kräfte, die mit dem Aufschwung der Stadtwirtschaft verbunden war. Die Orthodoxie, die den Feudalherren und dem kriegerischen arabischen Adel diente, entwickelte später bestimmte Seiten der islamischen Lehre. Bezieht sich die Allmacht Gottes auf das Verhältnis zum Einzelmenschen, so tritt die Fatalität bzw. der absolute Wille Gottes auf: Seligkeit ergibt sich ohne Verdienst und Verdammnis ohne Schuld. Alles hängt vom unerforschlichen Ratschluss Gottes ab. Diese Vorstellung erwuchs aus der ursprünglichen Anschauung des Tages des Jüngsten Gerichtes. Die Prädestination bzw. der göttliche Wille ist die nahestehende jenseitige Vergeltung, die nahestehende Wahrheit der Auferstehung. Diese Grundauffassung ist dem Jenseits zugewandt und bildet die Grundlage der religiösen Apologetik. 11. Die rationale Verarbeitung der Lehre ergab sich aus den ökonomischen und staatlichen Veränderungen, die mit dem Sieg des Islam, der Vereinigung des Orients und dem Aufschwung der Handelstätigkeit und des Stadtlebens zusammenhingen. Unter Berücksichtigung der besonderen Rolle der kollektiven Gemeinschaft vollzog sich im frühen Islam die religiöse Umprägung. Die Betonung der Machtvollkommenheit des einzigen Gottes richtete sich gegen die Geistlichkeit und den sozialen Zwang. Die Gottheit ist universal und transzendent. Sie bedarf keiner Hypostasierung, keiner anschaulichen Annäherung oder besonderen priesterlichen Vertretung. Mit der Umwandlung der Gemeinde in eine politische Kraft verwandelte sich der drohende göttliche Wille in die göttliche Gnade, in die Barmherzigkeit. Die religiöse Umprägung wurde so ausgedrückt, dass Gott gegen sich selbst die Gnade auferlegt. Die Barmherzigkeit Gottes stellte sein Verhältnis zu den Gläubigen dar. Durch den weiteren Aufschwung der Lebenstätigkeit erfuhr das jenseitige Leben eine tiefgreifende Umpolung. Allein das Aussprechen des kurzen Glaubensbekenntnisses macht selig. Die Erleichterung und Billigung des Erlangens der Seligkeit für alle Muslims fällt mit der juristischen Entäußerung des Religiösen zusammen. Die Übereinstimmung von Seligen und Muslims machte einerseits die Teilung in Paradies und Hölle zur politischen Dualität und andererseits reduzierten sich Paradies und Hölle auf die Unterscheidung zwischen Gutdünken und sozialem Missbrauch. Die grundlegende Unterscheidung besteht im frühen Islam nicht vor allem zwischen Natürlichem und Übernatürlichem, sondern zwischen rechtlichen und
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unrechtlichen Handlungen, wobei sich durch das Fehlen des übernatürlichen innerlich verankerten Geheimnisses das Verhältnis des Natürlichen zum Übernatürlichen auf das des rationalen Sicheren zum vermutlichen Hypothetischen reduziert. Die Theologie ist demnach nur als Einleitung zur Philosophie anzusehen. Die islamische Ketzerei besteht darin, zwischen der politischen Macht, dem Staat, und der göttlichen Wahrheit zu trennen. 12. In dieser Geisteshaltung trat die Allmacht Gottes als vernünftiger Wille, als Allwissen, Weisheit und Gerechtigkeit zutage. Der Wille Gottes bezieht sich nicht mehr auf menschliche Handlungen und einzelne konkrete Ereignisse, sondern auf die gesamte Erschaffung der Welt. Die Allmacht Gottes stellte sich im Schöpfungsakt dar. Die Erschaffung der Welt ist zwar kreationistisch (ex nihilo) erklärt, aber diese Erklärung wurde nicht konsequent verfolgt. In der Welt aber herrschte die göttliche Weisheit und Gerechtigkeit, die ihr die Selbständigkeit gewährte. Die Welt ist in den Dienst des Menschen gestellt. Die Sündhaftigkeit der menschlichen Natur wird aufgehoben. Mit der Schwächung des Heilsanspruchs tritt eine der christlichen Theologie entgegengesetzte Auffassung des Denken-Handeln Verhältnisses zutage. Eine relativ rationale Verflechtung mit der Wirklichkeit wird nach dem Untergang der antiken Welt wiedererlangt.Vorbilder des Islam sind weltlich gesinnte arbeitend-wissende Menschen. Der Muslim geht rasch von der Betrachtung der Welt als Gottes Spur zur Beschäftigung mit dem Wissen der antiken Wissenschaft und der unmittelbaren Beobachtung der Natur über. Die theologische Grundlage dafür war die rationalisierende Darlegung der Machtvollkommenheit Gottes (die Uroffenbarung), die mit der Begrenzung des göttlichen Wirkens und der Rechtfertigung der praktischen und geistigen Tätigkeit des Menschen einhergeht. Die menschliche Verantwortung und Willensfreiheit werden betont. Die Rationalisierung des religiösen Gehaltes liegt dem Aufschwung des Lebensprozesses und nicht einer inneren Notwendigkeit der Lehre zugrunde. Die Beziehung des Denkens zur Außenwelt beansprucht weitgehend einen großen Raum in der Bestimmung des Verhältnisses Gott-Mensch. Deshalb gewinnt die spekulativ vorbehaltlose Auslegung des Glaubens eine zentrale Bedeutung. Die Machtvollkommenheit Gottes drückt sich in der allgemeinen schlechthinnigen Abhängigkeit des Menschen gegenüber dem Gott aus. Beschränkt sich diese Abhängigkeit auf die allgemeine Ergebung, auf die schlechthinnige Daseinsweise (Weisheit, Gerechtigkeit, Weltordnung, Recht, Gottesordnung usw.), so kann der Mensch durch die Einklammerung der Gottheit in ihrer abstrakten Allgemeinheit seine relative Unabhängigkeit und Tätigkeit gewinnen und durchsetzen und einen Nährboden für die Säkularisierung gewährleisten.
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Die Transzendenz ist mit ihrem abstrakten Formalismus verhaftet. Die Ursache der Welt, die Triebkraft des Geschichtsprozesses bleibt jenseits der Welt verlagert. Aber indem sich der Glaubensinhalt als rein formaler Glaubensakt ausgibt, kann die Ergebung an die Gottheit eine geschichtlich bedingte weltanschauliche Voraussetzung für eine aktive Hinwendung zur Welt werden.
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Sachregister Abbasiden, abbasidisch 90, 94, 96, 100, 103, 110 Abrogation 68,185 Adab 49, 182 Ägypten 3, 40, 140, 159 – 161 Anthropomorphismus 117, 120 f. Arianer 34, 39 Asiatische Produktionsweise 64, 71, 75, 95, 123 f., 126 Atheismus, atheistisch 34, 138, 157, 172, 176, 182 Aufklärung 34, 134 f., 141, 159, 173, 175 f., 178 f. Berlin
2 f., 7, 9, 108, 156
Dahriyya 54 Damaskus 1 f., 4 f., 8, 93 Dhimmi 76 f. Dritte Welt 159 f., 168 Dschabariten 69 Dschahiliyya 47 – 50, 52, 54, 63 Dschihad 65, 74, 130 f. Dschizya 77 Eindeutige/unklare Koranverse 68 f. Eingottglaube, Monotheismus 55, 65 f., 69, 130 Feudalismus, feudalistisch 11, 32, 47, 61, 64, 71 f., 78, 137 Fiqh 10 – 12, 81, 85, 88 f. Formaler Charakter 11, 13 f., 111, 115, 117, 121, 156, 162, 187 Frühislam 3, 7, 20, 57, 71, 76, 90, 155 Fundamentalistisch 86, 110, 138, 146, 150 f., 159 – 163, 167 Gedankengebäude 27, 121, 152, 154, 156, 164, 177 Ghassaniden 35 Gnosis 8, 33 – 35, 153 f., 181 f., 185
https://doi.org/10.1515/9783110701616-015
Hadith 96 Häresien 34 f., 39, 66 f., 121, 127, 158 Haus des Friedens/Haus des Kriegs 119 Heiligkeit 41, 72, 84, 91, 100, 126, 128, 130, 146, 149 f., 153, 162 Hidschra 90, 96, 103 Hira 35 Ḥudaibiya 65, 94 Idschtihad 86, 90, 96 f., 101, 108, 149 Imamat 92, 96 f. Imperialismus, imperialistisch 142, 144 – 148, 161, 167 – 169, 172, 176 Iran 34, 52, 182 Islamisches Erwachen 160 Istihsan 88, 101 Istikbār 144, 160 Jakobiten 34, 39 Jemen 35, 52, 61 Kalifat 56 f., 59, 64, 71, 74 f., 77 f., 92 – 97, 99, 101 – 103, 107, 120, 122, 131 – 135 Kapitalismus, kapitalistisch 112, 146, 149, 156, 168 Kharadsch 76 Koran 9, 65 – 69, 80, 82, 86 f., 90 f., 96, 109, 116 f., 119, 144, 154, 179, 184, 187 f. Kulturerbe 5 – 7, 11, 43, 51, 54 f., 74, 114, 140, 168 Kulturrenaissance (nahḍa) 90, 111, 138 Lesart 138, 147, 149 f., 177 f. Libanon 1, 4, 6, 154, 164, 174, 179 Manichäismus 33 f., 39, 182 Marxistisch 5 f., 161 Maschriq 101 Mazdakismus 34, 39 Metaphysisches Bewusstsein 41 Mudschtahid 97 f. Murǧi’a 114, 118 Muʿtazila 69, 118
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Sachregister
Nestorianer
34, 39
Omaijaden, omaijadisch 114 Quraisch
Sufi, sufisch 109, 137 Sunna 91 f., 96 – 98 61, 93 – 96, 101,
55, 66, 83, 96
Rationalität 68, 120, 162, 187 Religiöse Reform 139, 142, 148, 160 f., 177 f. Säkularisierung 21 f., 45, 105, 110, 128, 139, 162, 172 – 177, 189 Säkularismus 84, 88, 100, 112 f., 155, 175 Säkularisten 173 – 176 Säkularität 11, 111 f., 133, 136 Salafistisch 85, 138, 148, 150 f. Scharia 9 f., 12, 70, 80 f., 83 – 93, 95 – 97, 99 – 101, 103, 105 – 111, 133 f., 147 Sklavenhaltergesellschaft 28 f., 32, 61, 123 f., 126, 181 Sozialismus, sozialistisch 144, 155, 161, 164 f., 177 Sudan 169
Teilpachtvertrag (muzāraʿa) 77 Transzendenz, transzendent 41, 55, 82, 84, 117, 120 f., 130, 156, 162, 178, 186 – 188, 190 Türkei 175 Übernatürliches 118,121, 181, 183 f., 186, 188 f. Umfassendheit 60, 72, 80 – 83, 86, 98, 109, 118, 130 f., 146, 171 Umma 66, 83 Vorkapitalistisch 60, 105, 112, 132, 143 – 146, 149, 152, 157, 160, 164 f., 167, 177 Yathrib
61
Zakāt 75 f. Zervanismus 34, 182 Zoroastrismus 34
Namensregister Habash, Georges 5 Ḥaddād, Grégoire 155 al-Ḥakīm, Taufīq 116
ʿAbdarrāziq, ʿAlī 139 ʿAbduh, Muḥammad 153 f. Abo Zayd, Fawzi 15 Abū Ḥanīfa 155 Abū Tammām, Ḥabīb 23 al-Assad (Ḥāfiẓ al-Asad) 4, 8
Kügelgen, Anke von
Bambula, Alois 2 Barth, Karl 155 al-Baṣrī, Al-Ḥasan 93 Bauer, Thomas 9 bin al-ʿAbbās, ʿAbdallāh 115 bin ʿArabī, Muḥiyyaddīn 111, 137 bin al-Ašras, Tamāma 108 bin Abī Sufyān, Muʿāwiya 93 bin ʿAffān, ʿUṯmān (der 3. Kalif) 93 bin al-Ḫaṭṭāb, ʿUmar (der 2. Kalif) 97 bin Ḫaldūn, ʿAbdarraḥmān (=Ibn Ḫaldūn) 134 bin Rušd, Abū-l-Walīd (=Ibn Rušd) 99 f., 136 f. bin Taimiyya, Taqiyyaddīn Aḥmad (=Ibn Taimiyya) 85 f., 107 Bossuet (Jacques Bénigne) 135 f. Dhouib, Sarhan 2, 6 f., 15 ad-Dihlāwī, Šāh Waliyyallāh Engels, Friedrich al-Fārābī, Abū Naṣr
15
Lautere Brüder 134 Ley, Hermann 2 Luther, Martin 155 al-Maʿarrī, Abū-l-ʿAlāˈ 23 Mani 154 f. Markion 154 Marx, Karl 9, 107, 143 al-Māwardī, Abu-l-Ḥasan 134 Massignon, Louis 92 Moser, Kata 15 Müntzer, Thomas 155 Muḥammad (der Prophet) 65, 90, 92, 96 f., 99 Muruwwa, Ḥusain 5 f. Nasser (Ǧamāl ʿAbdannāṣir) Neuwirth, Angelika 9 al-Qurṭubī, Abū ʿAbdallāh
3, 140
97
154
8 f.
Sadat (Anwar as-Sādāt) 140 Abū ʿAbdallāh aš-Šāfiʿī 96 aš-Šāṭibī al-Ġarnāṭī, Abū Isḥāq
133
al-Ġazālī, Abū Ḥāmid 117 al-Ġifārī, Abū Ḏarr 93
https://doi.org/10.1515/9783110701616-016
at-Tauḥīdī, Abū Ḥayyān 23, 88 Tizini (aṭ-Ṭayyib Tīzīnī) 2, 5, 8
85